17
»Das Leben ist wirklich herrlich«, sagte Mr. Dempsi und streckte seine Füße bequem zum Kamin aus. »Von den tiefsten Tiefen der Verzweiflung bis zu den höchsten Höhen der Erfüllung eines Herzenswunsches – welch ein Gegensatz!«
»Giuseppe –« begann Diana.
»Wopsy hast du mich früher genannt«, sagte er vorwurfsvoll.
»Also gut, Wopsy, ich habe dir erlaubt, hier zu wohnen, weil ich mich in aller Ruhe mit dir aussprechen wollte.«
»Das Schweigen ist so wundervoll.« Er sah sie mit melancholischen, müden Augen an. »Schweigen und Nachdenken und Frauen!«
Aber Diana hatte ihm etwas zu sagen. Sie hatte sich alles überlegt.
»Vor fünf Jahren hast du mich einmal um meine Hand gebeten. Ich lehnte deinen Antrag ab. Man sagt, daß junge Mädchen keinen Verstand haben. Die Tatsache, daß ich dich damals zurückwies, beweist allerdings das Gegenteil. Was ich vor Jahren fühlte, fühle ich auch heute noch. Mein Herz ruht im Grabe!«
»In meinem Grabe«, sagte er mit einem traurigen, aber selbstgefälligen Lächeln.
»Sei nicht verrückt, du lebst jetzt, das tut mir sehr leid, ich wollte sagen, es würde mir sehr leid tun, wenn es nicht so wäre. Ich habe ein einzigesmal in meinem Leben geliebt, Wopsy« – ihre Stimme zitterte, und sie glaubte Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen –, »aber er ging von hinnen.«
»Ist er dir fortgelaufen?« fragte er und richtete sich auf.
»Wenn ich sage, er ging von hinnen, so meine ich, er ging in das große Jenseits.«
»Er ist gestorben?« Dempsi zuckte die Schultern. »Das kann schließlich passieren. Ich liebte einmal ein Mädchen – o Diana, sie war die Perle aller Mädchen, groß, schlank und göttlich blond, entzückend anzusehen und lieblich in ihren Bewegungen. Auch sie ging von hinnen – in das große Jenseits.«
»Starb sie?« flüsterte Diana.
»Nein, sie ging zur Bühne – nach Amerika. Und so starb sie für mich. Ich habe die Erinnerung an sie aus meinem Herzen gerissen.«
Diana war vollständig ungerührt, aber sie war doch ein wenig entmutigt.
»Meine Liebe werde ich niemals vergessen«, sagte sie fast schluchzend. »Wopsy, siehst du denn nicht, wie unmöglich es ist hast du übrigens das Geld erhalten?«
»Das Geld? Hast du es mir geschickt? Aber Diana, wie töricht!«
»Ich schickte einen Scheck.«
Er sank in seinen Stuhl zurück.
»Nein, das ist doch wirklich zu töricht von meiner kleinen Diana – Geld!« Er lachte grausam. »Wie ihr Angelsachsen doch das Geld anbetet! Für Männer meines Temperaments bedeutet Geld nichts!« Er schnippte mit den Fingern. »Ich vergebe dir, daß du nicht mehr dem großen, hohen Ideal entsprichst, dem ich huldige, und daß du grausam die Erinnerung an frühere glückliche Zeiten zerstörst. Du warst ja noch ein Kind, man konnte nicht von dir erwarten, daß du in Liebe eines Mannes gedenkst, der für dich starb! Aber das gehört alles der Vergangenheit an. Wir aber gehören der Gegenwart – morgen, Montag, Dienstag, werden wir heiraten!«
»Was tun wir denn aber am Mittwoch? Verzeih mir, daß ich noch etwas weiter in die Zukunft blicke!«
Einen Augenblick war er bestürzt, und seine Verwirrung verriet sich deutlich in einem gezwungenen Lachen.
»Meine teure, kleine Diana, wie drollig du doch bist!«
»Nun höre einmal zu, Dempsi, oder Wopsy, du gehst morgen in dein Hotel zurück, und wir werden weder am Montag noch am Dienstag oder Mittwoch heiraten. Du möchtest wissen, warum? Weil ich dich eben nicht heiraten will!«
»Das ist Onkel Arturs Einfluß!« zischte er. »Dieser Teufel! Mein ganzes Leben bin ich durch Tanten und Onkels gehindert worden! Aber er soll sich vor mir verantworten, vor mir, Giuseppe Dempsi!«
Er stieß seinen Stuhl zurück und eilte zur Tür. Aber sie packte ihn verzweifelt am Arm.
»Laß mich gehen!« rief er leidenschaftlich.
»Wenn du dieses Zimmer verläßt, werde ich die Polizei anrufen.«
Er blieb stehen.
»Was – die Polizei willst du auf mich hetzen?«
Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte hysterisch. Seine Schultern zuckten krampfhaft, aber Diana fühlte nicht das geringste Mitleid mit ihm.
»Der Abgott meiner Träume verrät mich! Ich will nicht weiterleben!«
Diana überließ ihn sich selbst, und nach drei Minuten lebte er immer noch.
»Mr. Dempsi, trocknen Sie Ihre Tränen!« sagte er pathetisch zu sich selbst.
»Du kannst heute noch hier wohnen. Dein Schlafzimmer liegt oben an der Treppe. Ich hoffe, daß du gut schlafen wirst. Wenn du irgend etwas nötig hast, kannst du ja klingeln. Aber es wird niemand kommen. Gute Nacht!« Er wandte sich bedrückt zur Tür.
»Das ist nicht mehr meine angebetete Diana!«
Seine Trauer hätte einen Stein erweichen können, aber Diana war hart wie Stahl – selbst eine Bombe wäre an ihr zerschmettert.
Als er in seinem Zimmer war, hörte er zu spät, daß der Schlüssel umgedreht wurde. Bevor er die Tür erreichen konnte, war das Schloß eingeschnappt.
»Wer ist das – wer hat die Tür verschlossen? öffnen Sie sofort!«
»Ich habe es getan«, sagte Diana draußen.
»Aber Diana, das ist doch unerhört!«
»Ich tue es zu deinem eigenen Schutz!« flüsterte sie durch das Schlüsselloch. »Onkel Artur kann dich nicht leiden!«
»Aber das ist doch gefährlich! Wenn Feuer ausbricht –«
»Dann benutzt du den Minimax! Er hängt im Kleiderschrank!«
Sie war müde, alle Glieder schmerzten sie, und sie fühlte sich schrecklich allein. Wie schön wäre es doch, wenn Gordon jetzt hier wäre, oder Eleanor, die sich in diesem Augenblick erregt mit Mrs. Magglesark über das merkwürdige Betragen von Damen im allgemeinen und australischen Damen im besonderen unterhielt.
Aber glücklicherweise war ja Mr. Superbus im Hause.
Schwache Klänge kamen aus der Küche, als sie die Treppe hinunterging. Mr. Superbus blies zart und – beinahe musikalisch auf einer Mundharmonika. Tante Lizzie saß vor dem Küchenfenster und hatte das Kinn in die Hand gestützt. Onkel Artur lehnte am Tisch und schaute den Musikanten düster an. Die Melodie endete plötzlich in einem Mißklang, als Diana die Tür öffnete.
»Na, haben Sie sich hier gut amüsiert?« fragte sie.
»Ich hatte nichts zu essen, außer Käse und Brot«, murrte Gordon. »Ihr kleiner Scherz geht doch etwas zu weit!«
Sie schaute ihn verstört an.
»Wir hatten ja auch kein Abendessen«, sagte sie enttäuscht, dachte aber doch mit einiger Genugtuung daran, daß Dempsi in diesem Augenblick in seinem verschlossenen Zimmer hungern mußte. »Ich hatte nicht einmal Brot und Käse – es ist jetzt Zeit, daß Sie zu Bett gehen!«
»Ich werde zur Ruhe gehen, wenn es mir paßt«, erwiderte Gordon gereizt.
Mr. Superbus schüttelte tadelnd den Kopf.
»Das ist unartig und nichtsnutzig«, schalt er. »Das ist nicht der liebe Onkel Artur. Und er war doch vorhin so ein lieber Junge, Madam. Er hat gesungen wie eine Lerche.«
Gordon wurde rot. »Ich habe nicht gesungen, Sie verrückter Esel!« protestierte er.
»Hat er es nicht getan, Tante Lizzie?«
Heloise zuckte gleichgültig die Schultern.
»Nun, wenn er nicht gesungen hat, so hat er doch wenigstens gesummt«, behauptete Mr. Superbus hartnäckig.
Sein Repertoire auf der Mundharmonika umfaßte auch den Gesang der Eton-Ruderer, und Gordon war ein alter Eton-Schüler. Ganz zweifellos hatte er mitgesummt, denn kein alter Eton-Mann kann dem Rhythmus dieser Melodie widerstehen.
»Jetzt geht es zu Bett«, sagte Diana kurz.
Der Schlüsselbund verlieh ihr beinahe das Aussehen eines Gefängniswärters.
»Das wird Ihnen noch bitter leid tun«, sagte Gordon sehr böse. »Ich kann tausend Leute beibringen, die meine Identität bezeugen können.«
»Und wie viele Zeugen werden die Identität von Tante Lizzie beschwören?« fragte Diana. Gordon sagte nichts mehr.
Sie schloß alle Türen vor seinen Augen, und seine Hoffnung, nachts zu entkommen, wurde immer geringer.
Aber Heloise schwieg nicht.
»Es ist doch nicht schwierig, meine Persönlichkeit festzustellen. Ich bin« Mrs. van Oynne und wohne Clarens Gate Gardens Nr. 71.«
»Sehr gut«, nickte Diana. »Es steht Ihnen frei, mit der Polizei zu telefonieren, um Ihre Persönlichkeit feststellen zu lassen. Ich werde den Beamten sagen, daß ich Sie irrtümlicherweise für die Frau des Doppelgängers gehalten habe – oder soll ich lieber Partnerin oder Gehilfin sagen? Die Polizei wird schon wissen, wie sie die Sache zu behandeln hat.«
Heloise stand auf.
»Mich mit Leuten herumzuärgern war mir stets unangenehm – ich gehe jetzt schlafen«, sagte sie.
Diana ging voraus, Gordon und Heloise kamen hinter ihr, und Superbus bildete die Nachhut. Er blies wieder eine nette Weise auf seinem Instrument. Gordon hätte ihn am liebsten gebeten, als angemessene Begleitung zu diesem feierlichen Marsch »Ases Tod« zu spielen. Er kam sich vor wie ein Missetäter, der zum Schafott geführt wird. Diana erschien ihm wie ein Henker und Folterknecht.
»Gute Nacht«, sagte er mechanisch und blieb an der Tür seines Zimmers stehen.
»O nein, nicht hier hinein!« Sie erklärte das so energisch, daß er ihr ohne weiteres in das obere Geschoß zu dem Zimmer folgte, das sie für das Ehepaar bestimmt hatte, das ihr beim großen Reinemachen helfen sollte. Heloise ging hinein – sie kannte den Raum ja schon.
»Gute Nacht«, sagte sie leise.
»Sie haben aber etwas vergessen«, meinte Diana.
»Wenn Sie glauben, ich küsse ihn, dann irren Sie sich, meine Dame«, gab Heloise kühl zurück und wollte die Tür zuschließen.
»Aber es ist doch Ihr Mann!«
Die Tür wurde zugeschlagen. Diana hörte, wie Heloise einen Stuhl heranzog, und vermutete, daß sie die Lehne unter die Klinke gestellt hatte. Gordons Kehle war trocken.
»Sie haben sich wohl gezankt?« fragte Diana. »Oder vielleicht sind Sie gar nicht …«
»Nein, ich bin nicht!«
Sein Magen knurrte laut. Er hatte nie vermutet, daß eine Reihe so häßlicher Töne aus ihm hervorkommen könnte.
»Dann muß ich also noch einen besonderen Raum für Sie suchen!« Sie legte den Schlüssel an ihre Lippen und überlegte.
»Kommen Sie mit!«
Am äußersten Ende des Ganges lag noch ein kleines Zimmer das Bett war noch nicht bezogen.
»Dort sind die Bettücher!« Diana zeigte auf einen Schrank. »Morgen werde ich auch Decken für Sie suchen. Immerhin ist das Bett viel komfortabler als die Pritsche in einer Polizeizelle!«
Sie schloß die Tür hinter ihm zu.
Das Fenster war offen, aber es gab keine Möglichkeit, dort zu entkommen. Die Wand fiel unter dem Fenster senkrecht acht Meter bis zum Boden des Hofes ab. Gordon entschied sich dafür, vorläufig zu Bett zu gehen.