XV. Die Krähen


Die tönerne Brücke.

In der südwestlichen Ecke von Smaaland liegt eine Harde, die Sunnerbo heißt. Es ist ein ganz flaches und ebenes Land, und wer es im Winter sieht, wenn es mit Schnee bedeckt ist, kann nicht anders denken, als daß unter dem Schnee gepflügte Brachäcker, grüne Roggenfelder und gemähte Kleewiesen liegen, so wie sonst in einer Ebene. Wenn aber allmählich der Schnee in Sunnerbo zu Anfang April wegtaut, zeigt es sich, daß das, was darunter verborgen liegt, nichts ist als unfruchtbare Sandheiden, kahle Felsen und große, flache Moore. Äcker gibt es wohl hier und da, aber sie sind so klein, daß man sie kaum bemerkt, und kleine graue oder rote Bauerhäuser sind da auch, aber sie liegen in der Regel in einem Birkenhain verborgen, fast als seien sie bange, sich zu zeigen.

Wo die Sunnerboer Harde an die Grenze von Halland stößt, liegt eine so ausgedehnte Sandheide, daß wer an dem einen Ende steht, nicht nach der gegenüberliegenden Seite hinübersehen kann. Auf der ganzen Heide wächst nichts weiter als Heidekraut, und es würde auch nicht leicht sein, andere Pflanzen dort zum Wachstum zu bringen. Zu allererst müßte man dann wenigstens das Heidekraut ausroden, denn mit dem ist es so bestellt, daß es, obwohl es nur einen kleinen, verkrüppelten Stamm, kleine, verkrüppelte Zweige und trockene, verkrüppelte Blätter hat, sich dennoch einbildet, ein Baum zu sein. Deswegen benimmt es sich so wie die richtigen Bäume, breitet sich wie Wälder über große Strecken aus, hält getreulich zusammen und bringt alle fremden Pflanzen, die auf seinem Gebiet eindringen wollen, zum Aussterben.

Die einzige Stelle auf der Heide, wo das Heidekraut nicht Alleinherrscher ist, bildet ein niedriger, steiniger Bergrücken, der mitten darüber hingeht. Dort wachsen Wacholderbüsche, Ebereschen und einige große, schöne Birken. Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen umherreiste, lag dort auch ein Haus mit einem kleinen, urbar gemachten Fleckchen Erde rings herum, aber die Leute, die einstmals dort gewohnt hatten, waren aus irgendeinem Grunde weggezogen. Das kleine Haus stand leer, und der Acker lag unbestellt da.

Als die Leute das Haus verließen, hatten sie die Ofenklappe zugemacht, die Fensterhaken befestigt und die Tür verschlossen. Aber sie hatten nicht daran gedacht, daß eine Fensterscheibe zerschlagen und ein alter Lappen in die Öffnung gestopft war. Der Regen von ein paar Sommern hatte den alten Lappen mürbe gemacht, bis er auseinander fiel, und schließlich war es einer Krähe gelungen, ihn herauszuzupfen.

Der Bergrücken auf der Heide war nämlich nicht so verlassen, wie man glauben sollte; er war von einem großen Krähenvolk bewohnt. Die Krähen wohnten natürlich nicht das ganze Jahr hindurch dort. Sie reisten im Winter ins Ausland, im Herbst flogen sie in ganz Götaland von einem Acker zum andern, und pickten Körner auf, im Sommer zerstreuten sie sich über die Gehöfte in der Sunnerboer Harde und lebten von Eiern, Beeren und jungen Vögeln, in jedem Frühling aber, wenn sie Nester bauen und Eier legen wollten, kehrten sie nach der Heide zurück.

Die Krähe, die den alten Lappen aus dem Fenster zupfte, hieß Garm Weißfeder, wurde aber in der Familie nie anders genannt als Drumle oder gar Fumle-Drumle, weil sie zu nichts weiter taugte, als daß man sich lustig über sie machte. Fumle-Drumle war größer und stärker als irgendeine von den andern Krähen, aber das half ihr nicht im geringsten; sie war und blieb nur zum Gespött für die andern. Es nützte ihr auch nicht, daß sie aus ausgezeichneter Familie war. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, so hätte sie eigentlich der Anführer der ganzen Schar sein müssen, denn diese Würde war von alters her der Ältesten aus dem Geschlecht der Weißfeders zuerteilt gewesen. Lange jedoch ehe Fumle-Drumle geboren, war die Macht ihrer Familie entrissen und in die Hände einer wilden und grausamen Krähe namens Wind-Eile übergegangen.

Dieser Herrscherwechsel kam daher, daß die Krähen auf dem Krähenbergrücken Lust bekommen hatten, ihre Lebensweise zu verändern. Es gibt sicher Leute, die glauben, daß alles, was Krähe heißt, auf gleiche Weise lebt, aber das ist ganz verkehrt. Es gibt ganze Krähenvölker, die ein rechtschaffenes Leben führen, das heißt, sie essen nur Frösche, Würmer und Larven und tote Tiere, aber dann gibt es auch andere, die ein vollständiges Räuberleben führen, junge Hasen und kleine Vögel überfallen und jedes Nest ausrauben, das sie nur erblicken.

Die alten Weißfeders waren strenge und einfach gewesen, und solange sie die Schar anführten, hatten sie die Krähen gezwungen, sich so zu benehmen, daß andere Vögel ihnen nichts nachsagen konnten. Aber der Krähen waren viele, und die Armut unter ihnen war groß. Auf die Dauer konnten sie eine so strenge Lebensweise nicht ertragen, sondern empörten sich gegen die Weißfeders und ließen Wind-Eile zur Macht gelangen. Er war der schlimmste Nestplünderer und Räuber, den man sich nur denken konnte, es sei denn, daß seine Frau, Wind-Kaara, noch ärger war. Unter ihrem Regiment hatten die Krähen begonnen, ein solches Leben zu führen, daß sie jetzt gefürchteter waren als Habichte und Bergeulen.

Fumle-Drumle hatte natürlich nichts in der Schar zu sagen. Alle waren sich darin einig, daß er nicht im geringsten nach seinen Vorfahren geartet sei und nicht als Anführer tauge. Niemand würde ihn beachtet haben, falls er nicht beständig neue Dummheiten gemacht hätte. Einige, die sehr klug waren, sagten zuweilen, es sei gewiß ein Glück für Fumle-Drumle, daß er so ein armer Narr war, denn sonst würden Wind-Eile und Wind-Kaara ihn, der dem alten Häuptlingsgeschlecht entstammte, wohl nicht bei der Schar geduldet haben.

Jetzt waren sie dahingegen sehr freundlich gegen ihn und nahmen ihn gern mit auf ihre Jagden. Denn dann konnten alle sehen, wie viel tüchtiger und mutiger sie waren als er.

Keine von den Krähen wußte, daß Fumle-Drumle den alten Lappen aus dem Fenster gezupft hatte, und hätten sie es gewußt, so würden sie grenzenlos erstaunt gewesen sein. Sie hätten ihm einen so großen Mut, sich einer Menschenwohnung zu nähern, nicht zugetraut. Er selbst würde sich schon hüten, die Sache zu verraten; dazu hatte er seine guten Gründe. Eile und Kaara behandelten ihn stets gut am Tage und wenn die andern zugegen waren, aber in einer sehr dunklen Nacht, als ihre Kameraden schon auf der Schlafstange saßen, wurde er von ein paar Krähen überfallen und fast zu Tode gehackt. Seit jener Zeit entfernte er sich jeden Abend, wenn es dunkel geworden war, von seinem gewöhnlichen Schlafplatz und nahm Zuflucht in dem leeren Hause.

Nun geschah es eines Nachmittags, als die Krähen schon ihre Nester auf dem Krähenberge instand gesetzt hatten, daß sie einen merkwürdigen Fund machten. Wind-Eile, Fumle-Drumle und ein paar andere waren in eine große Vertiefung hinabgeflogen, die sich in einer Ecke der Heide befand. Die Vertiefung war nichts weiter als eine Kiesgrube, aber die Krähen konnten sich nicht bei einer so einfachen Erklärung beruhigen. Sie flogen wieder und wieder da hinunter und drehten und wendeten jedes Sandkörnchen um, denn sie wollten erforschen, warum die Menschen diese Vertiefung gegraben hatten. Während nun die Krähen hiermit beschäftigt waren, stürzte eine ganze Menge Kies von der einen Seite herab. Sie eilten dorthin und hatten das Glück, zwischen herabgestürzten Steinen und Erdhügeln eine ziemlich große Tonkruke zu finden, die mit einem hölzernen Deckel verschlossen war. Sie waren natürlich begierig zu sehen, ob etwas darin sei, und sie versuchten, sowohl ein Loch in die Kruke zu hacken, wie auch den Deckel aufzubrechen. Aber keins von beiden wollte ihnen gelingen.

Ganz ratlos standen sie da und betrachteten die Brücke, als sie jemand sagen hörten: »Soll ich herunterkommen und euch helfen, ihr Krähen?« Sie sahen auf. Am Rande der Kiesgrube saß ein Fuchs und guckte zu ihnen hinab. Er war der schönste Fuchs, den sie jemals gesehen hatten, sowohl was die Farbe als auch den Bau betraf. Der einzige Fehler an ihm daß er nur ein Ohr hatte.

»Hast du Lust, uns einen Dienst zu leisten,« sagte Wind-Eile, »so sagen wir nicht nein.« Und im selben Augenblick flogen er und die anderen aus der Grube heraus. Statt dessen sprang der Fuchs hinein, biß in die Kruke und zerrte an dem Deckel, aber auch er konnte sie nicht aufbekommen.

»Kannst du begreifen, was da drin ist?« sagte Wind-Eile. Der Fuchs rollte die Kruke hin und her und horchte. »Es kann nichts anderes sein als Silbergeld,« sagte er.

Das war mehr, als die Krähen sich hatten träumen lassen. »Glaubst du, daß es Silber sein kann?« fragten sie, und ihre Augen waren nahe daran, ihnen aus dem Kopf zu springen vor lauter Gier, denn so sonderbar es klingen mag, es gibt nichts auf der Welt, was die Krähen so lieben wie Silbergeld.

»Hört doch, wie es rasselt!« sagte der Fuchs und rollte die Kruke noch einmal hin und her. »Ich weiß nur nicht, wie wir dazu gelangen sollen.« – »Nein, das ist wohl unmöglich,« meinten die Krähen. Der Fuchs stand da und kraute sich mit dem linken Bein hinters Ohr und überlegte. Vielleicht konnte er jetzt mit Hilfe der Krähen des Jungen habhaft werden, der ihm immer entkam. »Ich wüßte wohl jemand, der euch die Kruke aufmachen könnte,« sagte der Fuchs. – »Ach sag uns, wer es ist, sag uns, wer es ist!« riefen die Krähen und waren so eifrig, daß sie in den Graben hinabflatterten. – »Ja, das will ich tun, vorher müßt ihr mir aber versprechen, daß ihr auf meine Bedingungen eingehen wollt,« sagte er.

Der Fuchs erzählte den Krähen nun von Däumling und sagte ihnen, wenn sie es fertig brächten, ihn auf die Heide hinauszulocken, würde er ihnen sicher die Kruke aufmachen können. Als Belohnung für diesen Rat verlangte er aber, daß sie ihm Däumling ausliefern sollten, sobald er ihnen das Silbergeld verschafft hatte. Die Krähen hatten keinen Grund, Däumling zu schonen, und so schlugen sie denn sofort ein.

Über dies alles wurde man schnell einig, schwerer aber war es, zu ergründen, wo sich Däumling und die wilden Gänse aufhielten.

Wind-Eile flog mit fünfzig Krähen davon und sagte, er würde bald wieder zurück sein. Aber ein Tag nach dem andern verging, ohne daß die Krähen auf dem Krähenberg auch nur eine Feder von ihm gesehen hätten.

Der Krähenraub.

Mittwoch, den 13. April.

Die wilden Gänse waren bei Tagesgrauen auf, um Zeit zum Einsammeln von etwas Nahrung zu haben, ehe sie die Reise durch Ostgotland antraten. Der Werder im Gänsefjord, wo sie geschlafen hatten, war klein und kahl, aber im Wasser rings umher wuchsen Pflanzen, an denen sie sich satt essen konnten. Schlimmer war es für den Jungen. Er konnte gar nichts Eßbares finden.

Wie er dort bei Tagesanbruch hungrig und verfroren stand und sich nach allen Seiten umsah, fiel sein Blick auf einige Eichhörnchen, die auf einer waldbewachsenen Landzunge, dem Felsenwerder gerade gegenüber, spielten. Da dachte er, daß diese Eichhörnchen vielleicht noch etwas von ihren Wintervorräten übrig haben möchten, und er bat den weißen Gänserich, ihn zu der Landzunge hinüberzutragen, damit er ein paar Nüsse von ihnen erbetteln könne.

Der große Weiße schwamm sofort mit ihm über den Fjord, aber das Unglück wollte, daß die beiden Eichhörnchen ein so lustiges Spiel miteinander spielten, indem sie sich von Baum zu Baum jagten, daß sie keinen Gedanken für den Jungen hatten. Er lief hinter ihnen drein, und der Gänserich, der am Strande liegen blieb, verlor ihn bald aus den Augen.

Der Junge watete zwischen weißen Anemonen, die so hoch waren, daß sie ihm ganz bis an das Kinn reichten, als er gewahrte, daß jemand ihn von hinten packte und versuchte, ihn in die Höhe zu heben. Er wandte sich um und sah, daß eine Krähe ihre Krallen in seinen Hemdbund geschlagen hatte. Er suchte sich loszureißen, ehe ihm das aber gelungen war, kam noch eine Krähe hinzu, biß sich in einen seiner Strümpfe fest und riß ihn um.

Hätte Niels Holgersen nun gleich um Hilfe gerufen, so würde der weiße Gänserich ihn sicher haben retten können, aber der Junge meinte wohl, daß er mit ein paar Krähen auf eigene Faust fertig werden könne. Er stieß mit den Füßen und schlug, aber die Krähen ließen ihn nicht los, und es gelang ihnen, sich mit ihm in die Luft emporzuschwingen. Sie waren aber so unvorsichtig dabei, daß sein Kopf gegen einen Zweig stieß. Er bekam einen harten Schlag gerade über den Schädel, es wurde ihm schwarz vor Augen, und er verlor das Bewußtsein.

Als er die Augen wieder aufschlug, war er hoch oben über der Erde. Sein Bewußtsein kehrte langsam zurück, und anfangs wußte er weder, wo er war, noch was er sah. Wenn er den Blick hinabwandte, sah es so aus, als breite sich da tief unter ihm ein ungeheurer, wollener Teppich aus, der aus Grün und Braun in großen, unregelmäßigen Mustern gewebt war. Der Teppich war dick und schön, aber er fand, es war ein Jammer, daß man damit so schlecht hausgehalten hatte. Er war geradezu zerfetzt, lange Risse liefen quer darüber hin, und an einigen Stellen waren große Stücke davon abgerissen. Das Merkwürdigste aber war, daß es so aussah, als sei er über einen Spiegelfußboden gebreitet, denn durch die Löcher und die Risse im Teppich schimmerte blankes, glitzerndes Glas.

Das Nächste, was dem Jungen auffiel, war, daß die Sonne nach dem Himmel hinaufgerollt kam. Sofort begann das Spiegelglas unter den Löchern und Rissen im Teppich in Rot und Gold zu schimmern. Es sah wunderschön aus, und der Junge freute sich über die schönen Farbentöne, obwohl er nicht recht verstehen konnte, was er eigentlich sah. Aber jetzt schwebten die Krähen hinab, und plötzlich wurde es ihm klar, daß der große Teppich unter ihm die Erde war, die mit grünem Nadelwald und braunem, kahlem Laubwald bedeckt war, und daß die Löcher und Risse blitzende Fjorde und kleine Seen waren.

Er mußte daran denken, daß er das erstemal, als er durch die Luft flog, gefunden hatte, das schonensche Land sähe aus wie ein gewürfeltes Tuch. Aber dies, das einem zerlumpten Teppich glich, was für ein Land konnte dies nur sein?

Er fragte sich selbst nach einer Menge von Dingen. Warum saß er nicht auf dem Rücken des weißen Gänserichs? Warum umflatterte ihn ein großer Krähenschwarm? Und warum wurde an ihm gezerrt und gerissen, so daß seine Glieder fast aus den Gelenken gerieten?

Plötzlich wurde ihm alles klar. Er war von ein paar Krähen entführt worden. Der weiße Gänserich lag noch am Strande und wartete, und die wilden Gänse wollten heute durch Ostgotland gen Norden ziehen. Er selbst wurde nach Südwesten getragen, das konnte er daran erkennen, daß er die Sonnenscheibe hinter sich hatte. Und der große Waldteppich, der unter ihm lag, das war sicher Smaaland.

»Wie wird es nun dem weißen Gänserich ergehen, wenn ich nicht für ihn sorgen kann?« dachte der Junge und rief im selben Augenblick den Krähen zu, sie sollten ihn sofort zu den wilden Gänsen zurückbringen. Für seine eigene Person war er gar nicht bange. Er glaubte, sie hätten ihn aus reinem Übermut entführt.

Die Krähen kehrten sich nicht im geringsten an sein Verlangen, sondern flogen weiter, so schnell sie nur konnten. Als sie eine Weile geflogen waren, klatschte eine von ihnen mit den Flügeln auf eine Weise, die bedeutete: »Gebt acht! Gefahr!« Gleich darauf tauchten sie in einen Tannenwald unter, drangen durch die dichten Zweige bis auf den Waldboden hinab und setzten den Jungen unter eine große Tanne, wo er so gut verborgen war, daß nicht einmal ein Falk ihn hätte erspähen können.

Fünfzig Krähen bildeten einen Kreis um den Jungen, die Schnäbel auf ihn gerichtet, um ihn zu bewachen. »Nun, ihr Krähen, jetzt kann ich am Ende erfahren, was ihr mit meiner Entführung beabsichtigt?« sagte er. Aber kaum hatte er ausgeredet, als eine Krähe ihn anfauchte: »Schweig still, sage ich dir! Sonst hacke ich dir die Augen aus!«

Die Krähe meinte offenbar, was sie sagte, und es blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als zu gehorchen. So saß er denn da und starrte die Krähen an, und die Krähen starrten ihn an.

Je länger er sie ansah, je weniger gefielen sie ihm. Es war schrecklich, wie staubig und übel zugerichtet ihre Federkleider waren, ganz als kennten sie weder Bäder noch Einreibungen. Die Zehen und Krallen waren schmutzig von steifgetrocknetem Ton und ihre Mundwinkel saßen voll von Speiseresten. Das ist wirklich eine andere Art von Vögeln als die wilden Gänse, dachte er. Er fand, daß sie einen grausamen, gierigen, spähenden und frechen Ausdruck hatten, ganz wie Schurken und Landstreicher.

»Es ist scheinbar ein richtiges Räubergesindel, in das ich hineingeraten bin,« dachte er. Im selben Augenblick hörte er den Lockruf der wilden Gänse über sich: »Wo bist du? Hier bin ich. Wo bist du? Hier bin ich.«

Er begriff, daß Akka und die anderen ausgeflogen waren, um nach ihm zu suchen, aber ehe er noch antworten konnte, fauchte die große Krähe, die so aussah, als sei sie der Anführer der Bande: »Denk an deine Augen!« Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schweigen.

Die wilden Gänse wußten offenbar nicht, daß er ihnen so nahe war, sie waren wohl nur durch einen Zufall über den Wald hin geflogen. Er hörte ihren Ruf noch ein paarmal, dann erstarb er. »Ja, nun mußt du sehen, wie du auf eigene Hand fertig wirst, Niels Holgersen,« sagte er zu sich selbst. »Jetzt wird es sich zeigen, ob du in diesen Wochen in der Wildnis etwas gelernt hast.«

Nach einer Weile machten die Krähen Miene aufzubrechen, und da sie scheinbar die Absicht hatten, ihn auch jetzt auf die Weise mit sich fortzuführen, daß ihn eine am Hemdbund, eine andere aber am Strumpf hielt, sagte der Junge: »Ist denn keine von euch Krähen so stark, daß sie mich auf ihrem Rücken tragen kann? Ihr habt mich schon so übel zugerichtet, daß mir zumute ist, als sei ich inwendig zerbrochen. Laßt mich doch reiten! Ich werde nicht von eurem Krähenrücken herunterstürzen, das will ich euch wohl versprechen!«

»Du glaubst doch nicht etwa, daß wir uns daran kehren, wie du dich befindest?« sagte der Anführer, aber nun trat die größte der Krähen, eine zerzauste, schwerfällige, mit einer weißen Feder im Flügel, vor und sagte: »Uns allen ist doch am besten damit gedient, wenn wir einen ganzen Däumling mit nach Hause bringen statt eines halben; ich will gern versuchen, ihn auf dem Rücken zu tragen.« – »Ja, wenn du das kannst, Fumle-Drumle, so habe ich nichts dagegen,« sagte Wind-Eile. »Laß ihn aber nicht fallen.«

Hiermit war schon viel gewonnen, und dem Jungen war wieder wohl zumute. »Es kann nicht nützen, daß ich mir die Laune verderben lasse, weil mich die Krähen gestohlen haben,« dachte er. »Mit den Tröpfen kann ich doch wohl fertig werden!«

Die Krähen flogen über Smaaland dahin, in südwestlicher Richtung. Es war ein schöner Morgen, sonnenwarm und still, und die Vögel unten auf der Erde waren eifrig damit beschäftigt, ihre Freiermelodien zu singen. In einem dunklen, hochstämmigen Walde saß ein Drosselmännchen mit hängenden Flügeln und schwellender Kehle oben in einem Tannenwipfel und schlug einen hellen Triller: »Wie bist du schön! Wie bist du schön! Wie bist du schön!« sang es. »Keine ist so schön! Keine ist so schön! Keine ist so schön!« Und sobald der Vogel das Lied zu Ende gesungen hatte, begann er wieder von vorne.

Der Junge aber flog gerade über den Wald hin, und als er die Melodie ein paarmal gehört hatte und merkte, daß die Drossel keine andere singen konnte, hielt er die Hände wie ein Horn vor den Mund und rief hinab: »Das haben wir schon oft gehört! Das haben wir schon oft gehört!« – »Wer ist das? Wer ist das? Wer ist das? Wer macht sich lustig über mich?« fragte die Drossel und versuchte den zu entdecken, der da rief. – »Das ist der Krähenraub, der sich lustig über dein Lied macht,« erwiderte der Junge. Im selben Augenblick wandte der Krähenhäuptling den Kopf herum und sagte: »Gib acht auf deine Augen, Däumling!« Der Junge aber dachte: »Ach, daraus mache ich mir nichts. Ich will dir wohl zeigen, daß ich nicht bange vor dir bin!«

Sie flogen tiefer und tiefer ins Land hinein, und überall waren da Wälder und Seen. In einem Birkenwäldchen saß die Waldtaube auf einem kahlen Zweig und vor ihr stand der Täuberich. Er plusterte seine Federn auf, krümmte den Nacken, hob und senkte den Körper, so daß die Brustfedern gegen den Zweig brausten. Und fortwährend gurrte er: »Du, du, du bist die Schönste im Walde. Keine im Walde ist so schön wie du, du, du!«

Aber oben in der Luft flog der Junge vorüber, und als er den Täuberich hörte, konnte er nicht an sich halten: »Glaub‘ ihm nicht! Glaub‘ ihm nicht!« rief er.

»Wer, wer, wer ist das, der mich verleumdet?« gurrte der Täuberich und strengte sich an, um den zu entdecken, der ihm etwas zurief. – »Das ist der Krähenraub, der dich belügt,« antwortete der Junge. Wieder wandte Wind-Eile den Kopf nach dem Jungen um und befahl ihm zu schweigen, Fumle-Drumle aber, der ihn trug, sagte: »Laß ihn nur reden, dann glauben die kleinen Vögel, daß wir kluge und witzige Vögel geworden sind!« – »So dumm werden sie wohl nicht sein,« sagte Wind-Eile, aber es war zu merken, daß ihm der Gedanke wohl gefiel, denn von nun an ließ er den Jungen reden, soviel er wollte.

Es war fast alles Wald oder Gesträuch, über das sie hinflogen, aber da waren natürlich auch Kirchen und Dörfer und kleine Hütten am Waldesrand. An einer Stelle sahen sie einen traulichen alten Herrenhof. Der lag da mit einem Wald hinter sich und einem See vor sich, hatte rote Mauern und zackige Giebel, mächtige Ahornbäume umstanden den Hofplatz, und große, dichte Stachelbeerbüsche wuchsen im Garten. Ganz oben auf der Wetterfahne saß der Star und sang, so daß jeder einzelne Ton zu dem Weibchen hinunterschallte, das im Starenkasten im Birnbaum auf den Eiern saß. »Wir haben vier kleine, schöne Eier,« sang der Star. »Wir haben vier kleine, schöne, runde Eier! Wir haben das ganze Nest voll schöner Eier!«

Als der Star dies Lied zum tausendstenmal sang, flog der Junge über den Hof hin. Er hielt die Hände wie ein Rohr vor den Mund und rief: »Die Elstern holen sie! Die Elstern holen sie!«

»Wer will mich da bange machen?« fragte der Star und flatterte unruhig mit den Flügeln. – »Der Krähengefangene macht dich bange!« sagte der Junge. Diesmal hieß der Krähenhäuptling den Jungen nicht schweigen. Im Gegenteil, er wie die ganze Schar fanden es so belustigend, daß sie vor Vergnügen laut krächzten.

Je weiter sie ins Land hineinkamen, um so größer wurden die Seen und um so reicher wurden sie an Inseln und Werdern. Und am Ufer eines Sees stand der Wildenterich und machte der Wildente Komplimente: »Ich will dir mein ganzes Leben treu sein! Ich will dir mein ganzes Leben treu sein!« sagte der Enterich. »Währt nicht, bis der Sommer zu Ende ist!« rief der Junge, der vorüberflog. – »Was für einer bist denn du?« rief der Enterich. – »Ich heiße Krähengestohlen,« schrie der Junge.

Zur Mittagszeit ließen sich die Krähen auf einer Wiese nieder. Sie flogen umher und suchten sich Futter, keine von ihnen dachte aber daran, dem Jungen etwas zu geben. Da kam Fumle-Drumle mit einem wilden Rosenzweig, an dem einige Hagebutten saßen, zum Häuptling geflogen. »Hier ist etwas für dich, Wind-Eile,« sagte er. »Das ist ein köstliches Essen, das dir gut tun wird.« Wind-Eile schnob verächtlich. »Glaubst du, daß ich alte, trockene Hagebutten esse?« sagte er. – »Und ich hatte geglaubt, du würdest dich so darüber freuen!« sagte Fumle-Drumle und warf den Hagebuttenzweig weg wie im Ärger. Aber er fiel gerade vor die Füße des Jungen, und der war nicht faul, er fing ihn auf und aß sich satt daran.

Als die Krähen gegessen hatten, begannen sie miteinander zu plaudern. »Woran denkst du, Wind-Eile? Du bist heute so still,« sagte eine von ihnen zum Anführer. – »Ach, ich denke daran, daß hier in der Gegend einstmals ein Huhn war, das seine Herrin so sehr liebte, und um ihr ein rechtes Vergnügen zu machen, ging es hin und legte ein Nest voll Eier und versteckte sie unter dem Fußboden des Stalles. Während der ganzen Zeit, daß die Glucke brütete, lag sie da und freute sich bei dem Gedanken, wie froh ihre Herrin über alle die Küchlein sein würde. Die Frau konnte gar nicht begreifen, wo das Huhn die ganze Zeit nur sein mochte. Sie suchte nach ihm, konnte es aber nicht finden. Kannst du raten, Langschnabel, wer das Huhn und die Eier fand?«

»Es ist nicht unmöglich, daß ich es erraten kann, Wind-Eile, aber wenn du es erzählst, will ich auch etwas erzählen. Erinnert ihr euch noch der großen, schwarzen Katze im Hinneryder Pfarrhaus? Sie war böse auf die Familie, weil sie ihr immer die neugeborenen Kätzchen wegnahmen und sie ertränkten. Nur ein einziges Mal gelang es ihr, sie zu verstecken, nämlich als sie sie in eine Strohmiete draußen auf dem Felde gelegt hatte. Sie war so glücklich über ihre Kätzchen, aber ich glaube, ich bekam mehr Freude von ihnen als sie.«

Nun wurden sie alle so eifrig, daß sie bunt durcheinander schwatzten. »Soll das eine Kunst sein, Eier und junge Kätzchen zu stehlen?« sagte eine von ihnen. »Ich habe einmal einen jungen Hasen gejagt, der beinahe ausgewachsen war. Ich mußte von einem Busch zum andern hinter ihm drein fliegen.« Weiter kam sie nicht, denn eine andere fiel ihr in die Rede: »Das mag ja ganz gut sein, Hühner und Katzen zu foppen, aber ich finde es doch noch merkwürdiger, daß eine Krähe einem Menschen Schaden zufügen kann. Ich habe einmal einen silbernen Löffel gestohlen.«

Der Junge fand aber nachgerade, daß er doch zu gut sei, um solch ein Gewäsch mit anzuhören. »Nein, hört einmal, ihr Krähen,« sagte er, »schämen solltet ihr euch, statt alle eure dummen Streiche zu erzählen. Ich habe nun drei Wochen unter den wilden Gänsen gelebt, und von denen habe ich nichts als Gutes gehört und gesehen. Ihr müßt einen schlechten Häuptling haben, daß er euch erlaubt, so zu rauben und zu morden. Ihr solltet euch vornehmen, auf andere Weise zu leben, denn ich kann euch erzählen, die Menschen haben eure Bosheit so satt, daß sie sich mit allen Kräften bemühen, euch auszurotten. Und es wird noch ein Ende mit Schrecken nehmen.«

Als Wind-Eile und die anderen Krähen das hörten, wurden sie so erzürnt, daß sie sich über den Jungen stürzen und ihn zerreißen wollten. Fumle-Drumle aber lachte und krächzte und stellte sich vor ihn hin. »Nein, nein, nein!« sagte er und tat so, als erschrecke er sehr. »Was meint ihr, wird Wind-Kaara sagen, wenn wir Däumling zerreißen, ehe er uns das Silbergeld geschafft hat?« – »Also du bist bange vor Weibsleuten, Fumle-Drumle?« sagte Eile, aber er und die andern lachten und ließen Däumling in Ruhe.

Bald darauf zogen die Krähen weiter. Bisher hatte der Junge im stillen gedacht, Smaaland sei doch kein so armseliges Land, wie er immer gehört hatte. Es war freilich sehr bewaldet und voll von Bergabhängen, aber an den Flüssen und Seen entlang lagen bestellte Felder und wirkliche Einöden hatte er noch nicht angetroffen. Aber je tiefer sie ins Land hineinkamen, um so spärlicher wurden die Dörfer und Häuser. Schließlich erschien es ihm wie ein ganzes Wüstenland, über das er hinflog, wo er nichts weiter sah als Moore und Heiden und Wacholderhügel.

Die Sonne war untergegangen, aber es war noch heller Tag, als die Krähen die große Heide erreichten. Wind-Eile sandte eine Krähe voraus, um zu melden, daß er siegreich heimkehre, und als dies verlautete, zog Wind-Kaara mit vielen Hunderten von Krähen vom Krähenhügel den Heimkehrenden entgegen. Mitten unter dem ohrenbetäubenden Krächzen, das die Krähen anstimmten, als sie sich wiedersahen, sagte Fumle-Drumle zu dem Jungen: »Du bist während der ganzen Reise so munter und fröhlich gewesen, daß ich dich gern leiden mag. Sobald wir uns niederlassen, werden sie dich bitten, eine Arbeit zu verrichten, die dir vielleicht sehr leicht erscheinen wird. Hüte dich aber, sie auszuführen!«

Gleich darauf setzte Fumle-Drumle Niels Holgersen auf den Boden einer Sandgrube nieder. Der Junge warf sich hin und blieb liegen, als käme er um vor Müdigkeit. Es flatterten so viele Krähen um ihn herum, daß es in der Luft brauste wie ein Sturm, aber er sah nicht in die Höhe.

»Däumling,« sagte Wind-Eile, »steh jetzt auf! Du sollst uns bei etwas behilflich sein, was sehr leicht für dich ist.«

Aber der Junge rührte sich nicht, er tat so, als schliefe er. Da packte Wind-Eile ihn beim Arm und schleppte ihn durch den Sand zu einer Tonkruke von altmodischer Form, die mitten in der Grube stand. »Steh auf, Däumling!« sagte er, »und mach‘ uns diese Kruke auf!« – »Warum wollt ihr mich nicht schlafen lassen?« sagte der Junge. »Ich bin zu müde, um es heute abend noch zu tun. Wartet doch bis morgen!«

»Du machst sofort die Kruke auf!« befahl Wind-Eile und rüttelte ihn. Da erhob sich der Junge und musterte die Kruke. »Wie glaubt ihr nur, daß ich armes Kind eine solche Kruke öffnen kann? Die ist ja ebenso groß wie ich.« – »Mach‘ sie auf!« kommandierte Wind-Eile noch einmal. »Sonst ergeht es dir schlecht.« Der Junge erhob sich, schwankte nach der Kruke, befühlte den Deckel und ließ die Arme sinken. »Ich habe sonst keine schwachen Kräfte,« sagte er. »Wenn ihr mich nur bis morgen schlafen lassen wollt, glaube ich wohl, daß ich mit dem Deckel fertig werden kann.«

Aber Wind-Eile war ungeduldig und flog hin und zwickte den Jungen ins Bein. Das wollte sich der Junge jedoch nicht von einer Krähe gefallen lassen. Er riß sich schnell los, trat ein paar Schritte zurück, zog sein Messer aus der Scheide und hielt es ausgestreckt vor sich hin. »Nimm dich in acht!« rief er Wind-Eile zu.

Der aber war so empört, daß er sich nicht von der Gefahr zurückschrecken ließ. Blind vor Wut stürzte er auf den Jungen los und fuhr gerade gegen das Messer, so daß es ihm durch das Auge ins Gehirn eindrang. Der Junge zog schnell das Messer zurück, Wind-Eile schlug aber nur noch mit den Flügeln, dann sank er um und war tot.

»Wind-Eile ist tot! Der Fremde hat unsern Häuptling, Wind-Eile, getötet!« riefen die Krähen, die zunächst standen, und dann entstand ein entsetzlicher Spektakel. Einige jammerten, andere riefen nach Rache. Alle liefen oder flatterten sie auf den Jungen zu, mit Fumle-Drumle an der Spitze. Aber der tat wieder, als sei er ganz töricht. Er flatterte nur mit ausgebreiteten Flügeln über dem Jungen und hinderte die anderen, ihre Schnäbel in ihn zu bohren.

Der Knabe hatte ein Gefühl, als befinde er sich in einer schlimmen Lage. Er konnte den Krähen nicht entkommen, und da war kein Ort, wo er sich hatte verbergen können. Aber dann fiel ihm die tönerne Kruke ein. Er zog kräftig an dem Deckel und riß ihn herunter. Dann sprang er in die Kruke hinein, um sich darin zu verstecken. Aber es war ein schlechtes Versteck, denn die Kruke war fast bis an den Rand mit dünnen Silbermünzen angefüllt. Der Junge konnte nicht tief genug hineinkommen. Da bückte er sich herab und fing an, die Silbermünzen herauszuwerfen.

Während der ganzen Zeit hatten die Krähen ihn in einem dichten Schwarm umflattert und nach ihm gehackt, sobald er aber anfing, das Silbergeld herauszuwerfen, vergaßen sie augenblicklich ihre Rachsucht und beeilten sich, es aufzufangen. Der Junge schleuderte das Geld mit vollen Händen heraus, und alle Krähen, ja, selbst Wind-Kaara, liefen danach. Und sobald eine so glücklich war, eine Münze zu ergattern, flog sie so schnell wie möglich nach ihrem Nest, um sie dort zu verstecken.

Als der Junge alles Silbergeld aus der Kruke herausgeworfen hatte, sah er auf. Da war nur noch eine einzige Krähe im Sandgraben zurückgeblieben, nämlich sein Freund Fumle-Drumle mit der weißen Feder im Flügel, die ihn getragen hatte. »Du hast mir einen größeren Dienst erwiesen, als du selber ahnst, Däumling,« sagte die Krähe mit einer ganz anderen Stimme und einem ganz andern Tonfall als bisher. »Ich will dir das Leben retten. Setze dich auf meinen Rücken, dann will ich dich nach einem Versteck bringen, wo du die Nacht in Sicherheit zubringen kannst. Morgen werde ich schon dafür sorgen, daß du zu den wilden Gänsen zurückkommst.«

Die Hütte.

Donnerstag, den 14. April.

Als der Junge am nächsten Morgen erwachte, lag er auf einem Bett. Sobald er sah, daß er sich zwischen Türen, mit vier Wänden um sich her und mit einem Dach über dem Kopf befand, glaubte er, daß er zu Hause sei. »Nun kommt Mutter wohl bald mit Kaffee,« murmelte er noch halb im Schlaf. Aber dann entsann er sich, daß er in einer leeren Hütte auf dem Krähenhügel war, und daß Fumle-Drumle mit der weißen Feder ihn am vorhergehenden Abend dahin gebracht hatte.

Der ganze Körper schmerzte dem Jungen nach der gestern zurückgelegten Reise, und er fand, es war angenehm, so still da zu liegen, während er auf Fumle-Drumle wartete, der versprochen hatte, zu kommen und ihn zu holen.

Vor dem Bett waren Gardinen von gewürfeltem Baumwollstoff, und er schob sie zur Seite, um sich in der Stube umzusehen. Er war sich gleich klar darüber, daß er ein Haus wie dieses noch nie im Leben gesehen hatte. Die Wände bestanden nur aus ein paar Reihen Balken, dann begann schon das Dach. Da war keine Decke, und er konnte ganz bis zum Dachrücken hinaufsehen. Das ganze Haus war so klein, daß es eigentlich aussah, als wenn es eher für Wesen seiner Art gebaut sei, als für richtige Menschen, und doch waren der Feuerherd und die Mauer da herum so groß gemacht, daß er fand, er habe sie nie größer gesehen. Die Eingangstür lag an der einen Giebelwand neben dem Feuerherd und war so schmal, daß sie fast einer Luke ähnelte. An der andern Giebelwand sah er ein niedriges, breites Fenster mit vielen kleinen Fensterscheiben. Da waren fast keine beweglichen Möbel in der Stube. Die Bank an der einen Längsseite und der Tisch unter dem Fenster waren an den Wänden befestigt, ebenso das große Bett, in dem er lag, und der Wandschrank mit den bunten Blumen.

Der Knabe konnte es nicht lassen, darüber nachzusinnen, wem wohl dies Haus gehörte, und warum es leer stand. Es sah eigentlich so aus, als wenn die Leute, die da gewohnt hatten, beabsichtigt hätten, zurückzukehren. Der Kaffeekessel und der Grütztopf standen noch auf dem Herd, und im Ofenwinkel lag ein wenig Brennholz. Der Feuerhaken und die Backschaufel standen in einer Ecke, der Spinnrocken war auf eine Bank gestellt, auf dem Wandbrett über dem Fenster lagen Hede und Flachs, ein paar Fitzen Garn, ein Talglicht und ein Bund Streichhölzer.

Ja, es sah wirklich so aus, als wenn die, denen das Haus gehörte, die Absicht gehabt hätten, wieder zurückzukehren. In der Bettstelle lagen Betten, und an der Wand saßen noch lange Zeugstreifen, auf die drei Männer zu Pferd gemalt waren, die Kaspar, Melchior und Balthasar hießen. Dieselben Pferde und dieselben Reiter waren viele Male abgebildet. Sie ritten die ganze Stube herum und setzten ihren Ritt ganz bis zu den Dachbalken fort.

Plötzlich aber erblickte der Junge etwas oben an der Decke, das ihn mit einem Satz auf die Beine brachte. Es waren zwei trockene Flachbrote, die an einer Stange hingen. Sie sahen ja freilich ein wenig alt und schimmelig aus, aber Brot war es doch. Er schlug mit der Backschaufel danach, so daß ein Stück herabfiel. Er aß und stopfte seinen Sack voll. Es war doch erstaunlich, wie gut Brot schmeckte!

Er sah sich noch einmal in der Hütte um, denn er wollte sehen, ob da nicht noch etwas anderes war, was sich des Mitnehmens verlohnte. »Ich darf doch nehmen, was ich nötig habe, wenn sonst niemand sich etwas daraus macht,« dachte er. Aber das meiste war zu schwer und zu groß. Das einzige, was er mitnehmen konnte, waren vielleicht ein paar Streichhölzer.

Er kletterte auf den Tisch hinauf und schwang sich mit Hilfe der Gardinen auf das Brett über dem Fenster hinauf. Während er da stand und die Streichhölzer in seinen Sack stopfte, kam die Krähe mit der weißen Feder zum Fenster herein.

»Ja, hier bin ich,« sagte Fumle-Drumle und ließ sich auf dem Tisch nieder. »Ich konnte nicht früher kommen, weil die Krähen heute einen neuen Häuptling an Wind-Eiles Stelle gewählt haben.« – »Wen habt ihr denn gewählt?« fragte der Junge. – »Ach, wir haben einen gewählt, der keine Räuberei und Ungerechtigkeit dulden will. Wir haben Garm Weißfeder gewählt, der ehemals Fumle-Drumle genannt wurde,« erwiderte er und richtete sich stolz auf, so daß er ganz majestätisch aussah. – »Das war eine gute Wahl!« sagte der Junge und beglückwünschte ihn. – »Ja, du kannst mir wohl Glück wünschen,« sagte Garm und erzählte dem Jungen von allem, was er von Wind-Eile und Kaara hatte erdulden müssen.

Mitten während dieser Unterhaltung hörte der Junge draußen vor dem Fenster eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. »Ist er hier?« fragte Reineke Fuchs. – »Ja, hier ist er versteckt,« antwortete eine Krähenstimme. – »Nimm dich in acht, Däumling!« rief Garm. »Wind-Kaara steht draußen mit dem Fuchs, der dich fressen will.« Weiter kam er nicht, als Reineke schon gegen das Fenster sprang. Die alten, morschen Fenstersprossen gaben nach, und im nächsten Augenblick stand Reineke auf dem Tisch unter dem Fenster. Garm Weißfeder, der keine Zeit hatte zu entfliehen, wurde auf der Stelle totgebissen. Dann sprang Reineke auf den Fußboden und sah sich nach dem Jungen um.

Der versuchte, sich hinter einem großen Büschel Hede zu verstecken, Reineke hatte ihn aber schon gesehen und krümmte sich bereits zum Sprung. Und die Stube war so klein und so niedrig, daß sich der Junge klar darüber war, der Fuchs könne seiner ohne jegliche Schwierigkeit habhaft werden. Aber in diesem Augenblick war der Junge nicht ohne Verteidigungswaffe. Schnell strich er ein Streichholz an, hielt es an die Hede und warf die auf Reineke herab. Als der Fuchs das Feuer über sich bekam, ergriff ihn eine wahnsinnige Angst. Er vergaß den Jungen und stürzte ganz von Sinnen aus der Hütte heraus.

Aber es sah fast so aus, als sei der Junge nur einer Gefahr entronnen, um sich in eine noch größere zu stürzen. Von dem Büschel Hede, das er Reineke auf den Kopf geworfen hatte, griff das Feuer nach dem Bettvorhang hinüber. Er sprang hinunter und versuchte, es zu ersticken, aber es hatte schon zu weit um sich gegriffen. Die Stube füllte sich schnell mit Rauch, und Reineke Fuchs, der draußen vor dem Fenster stand, merkte bald, wie es da drinnen aussah. »Nun Däumling,« rief er, »was ziehst du jetzt vor, – dich braten zu lassen oder zu mir herauszukommen? Ich hätte ja am meisten Lust, dich zu fressen, aber ich will mich freuen, auf welche Weise auch der Tod deiner habhaft werden mag.«

Der Junge konnte nicht anders glauben, als daß der Fuchs Recht bekommen würde, denn das Feuer griff mit schrecklicher Geschwindigkeit um sich. Das ganze Bett stand schon in Flammen, der Rauch stieg aus dem Fußboden auf, und an den bemalten Zeugstreifen kroch das Feuer von einem Reiter zum andern. Der Junge war auf den Herd herausgekrochen und bemühte sich, die Tür zum Backofen zu öffnen, als er hörte, wie ein Schlüssel in das Schloß gesteckt und langsam herumgedreht wurde. Das mußten Menschen sein, die kamen, und in seiner großen Not wurde er nicht bange, sondern freute sich nur. Er stand schon auf der Türschwelle, als die Tür sich schließlich auftat. Vor ihm standen ein paar Kinder, aber was für Gesichter sie machten, als sie die ganze Stube in hellen Flammen sahen, das zu beachten ließ er sich keine Zeit, sondern stürzte an ihnen vorüber, ins Freie hinaus.

Er wagte nicht weit zu laufen. Er war überzeugt, daß Reineke Fuchs auf der Lauer lag, und er sah ein, daß er sich in der Nähe der Kinder halten müsse. Er wandte sich um, denn er wollte sehen, was für Leute es waren, aber er hatte sie noch keine Sekunde angesehen, als er auf sie zustürzte und rief: »Ei, guten Tag, Gänsemädchen Aase! Guten Tag, kleiner Mads!«

Als der Junge die Kinder sah, vergaß er ganz, wo er war. Die Krähen und das brennende Haus und die Tiere, die sprechen konnten, schwanden aus seinem Bewußtsein. Er ging auf einem Stoppelfeld in West-Bemmenhög und hütete eine Schar Gänse, und auf dem danebenliegenden Felde gingen die beiden Kinder aus Smaaland mit ihren Gänsen. Und sobald er sie sah, sprang er auf die steinerne Umzäunung und rief: »Ei, guten Tag Gänsemädchen Aase, guten Tag, kleiner Mads!«

Aber als die beiden Kinder den kleinen Wicht mit ausgestreckter Hand auf sich zukommen sahen, faßten sie sich bei den Händen, gingen ein paar Schritt rückwärts und sahen so aus, als seien sie in Todesangst.

Der Junge sah ihren Schrecken, kam zu sich und entsann sich, wer er war. Und da meinte er, es sei das Ärgste, was ihm widerfahren könne, daß gerade diese Kinder sehen sollten, daß er verhext war. Er war ganz überwältigt vor Kummer und Schrecken, weil er kein Mensch mehr war. Er wandte sich ab und entfloh. Wohin, das wußte er selbst nicht.

Aber als der Junge auf die Heide hinauskam, hatte er eine glückliche Begegnung. Denn mitten im Heidekraut sah er etwas Weißes, und niemand anderes als der weiße Gänserich in Gesellschaft von Daunenfein kam auf ihn zu. Als der Weiße den Jungen in einer solchen Eile laufen sah, glaubte er, daß ihm Feinde auf den Fersen seien. Er warf ihn schnell auf seinen Rücken und flog mit ihm davon.

XVI. Die alte Bauerfrau

Donnerstag, den 14. April.

Drei müde Wanderer waren in der späten Abendstunde ausgezogen, um ein Nachtlager zu suchen. Sie zogen durch einen ärmlichen und schwachbebauten Teil des nördlichen Smaaland, aber daß sie einen Ruheplatz, wie sie ihn sich wünschten, finden könnten, hätte man doch meinen sollen, denn sie waren keine verwöhnten Leute, die weiche Betten und feine Stuben verlangten. »Hätte nur einer dieser langen Bergrücken einen Gipfel, so steil und hoch, daß kein Fuchs an einer der Seiten hinaufklettern kann, so hätten wir einen guten Schlafplatz,« sagte einer von ihnen. – »Wäre da nur kein Eis auf einem der großen Moore, und wäre es nur so sumpfig und naß, daß sich kein Fuchs da hinauf wagte, so wäre das auch ein gutes Nachtquartier,« sagte der zweite. – »Hätte sich nur das Eis auf einem der großen Seen, an denen wir vorüberreisen, vom Lande losgelöst, so daß ein Fuchs nicht da hinauf könnte, so hätten wir gefunden, was wir suchen,« sagte der dritte.

Das schlimmste war, daß, sobald die Sonne erst untergegangen war, zwei von den Wanderern so müde wurden, daß sie jeden Augenblick nahe daran waren, umzustürzen. Der dritte, der sich wohl noch halten konnte, wurde immer unruhiger, je näher die Nacht heranrückte. »Es ist doch ein Unglück,« dachte er, »daß wir in ein Land gekommen sind, wo die Seen und Sümpfe zugefroren sind, so daß der Fuchs überall hinkommen kann. An andern Stellen ist das Eis ja schon aufgetaut, aber jetzt sind wir scheinbar oben in dem allerkältesten Smaaland, wohin der Frühling noch nicht gekommen ist. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, um einen guten Schlafplatz zu entdecken. Wenn ich keine Stelle finde, die gut beschützt ist, so haben wir Reineke Fuchs morgen hier.«

Er sah sich nach allen Seiten um, aber er sah keinen Ort, wo sie einkehren konnten. Und es war ein dunkler, naßkalter Abend mit Wind und Sprühregen. Mit jedem Augenblick, der verging, wurde es unheimlicher und scheußlicher um ihn her.

Es mag wunderlich erscheinen, aber die Reisenden hatten gar keine Lust, auf einem Gehöft um Unterkunft zu bitten. Sie waren schon an vielen Dörfern vorübergekommen, ohne an eine einzige Tür anzuklopfen. Nicht einmal mit den kleinen Hütten am Waldesrande, die arme Wanderer so gern antreffen mögen, wollten sie etwas zu schaffen haben.

Man könnte sich fast versucht fühlen, zu sagen, es schadete ihnen gar nicht, daß es ihnen so schlecht erging, wenn sie nicht um Hilfe bitten wollten, wo Hilfe zu erlangen war.

Aber schließlich, als es so dunkel geworden war, daß der helle Streif am Horizont fast verschwand, und die beiden, die des Schlafes bedurften, sich wie im Halbschlaf bewegten, kamen sie an einen Bauernhof, der ganz allein, weit entfernt von allen Nachbarn lag. Und nicht genug damit, daß er so einsam lag, er sah auch so aus, als sei er ganz unbewohnt. Kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf, kein Licht drang durch die Fenster hinaus, kein Mensch war auf dem Hofplatz zu sehen. Als derjenige von den dreien, der sich noch halten konnte, das Haus sah, dachte er: »Jetzt muß es gehen, wie es will, wir müssen versuchen, hier auf dem Gehöft unter Dach zu kommen. Etwas Besseres finden wir gewiß nicht.«

Gleich darauf standen sie alle drei auf dem Hof. Die beiden fielen im selben Augenblick, als sie standen, in Schlaf, der dritte aber sah eifrig um sich, um zu entdecken, wo er unter Dach kommen konnte. Es war keineswegs ein kleines Gehöft. Außer Wohnhaus, Pferdestall und Kuhhaus waren da lange Seitenflügel mit Scheuern und Tennen und Vorratskammern und Geräteschuppen. Aber es sah alles schrecklich heruntergekommen und verfallen aus. Die Mauern waren grau und moosbewachsen und machten den Eindruck, als wenn sie einstürzen wollten. In dem Dach waren klaffende Löcher, und die Türen hingen schief auf zerbrochenen Hängen. Es war offenbar lange her, seit jemand dort auf dem Hofe dran gedacht hatte, auch nur einen Nagel in eine Wand zu schlagen.

Indessen hatte der, der wach war, ausfindig gemacht, welches von den Häusern der Kuhstall war. Er rüttelte seine Reisekameraden auf und führte sie an die Stalltür. Die war glücklicherweise nur mit einer Krampe geschlossen, die er mit einem Stock leicht in die Höhe heben konnte. Er atmete schon erleichtert auf bei dem Gedanken, daß sie bald in Sicherheit sein würden. Aber als die Stalltür mit einem lauten Kreischen aufsprang, hörte er eine Kuh brüllen. »Kommt meine Herrin endlich?« sagte die Kuh. »Ich glaubte nicht, daß ihr noch die Absicht hättet, mir heute abend Futter zu geben!«

Der Wache blieb erschreckt an der Tür stehen, als er merkte, daß der Kuhstall nicht leer war. Aber er sah bald, daß da nur eine einzige Kuh war und drei, vier Hühner, und da faßte er wieder Mut. »Wir sind drei arme Reisende, die gern über Nacht eine Unterkunft finden wollen, wo uns kein Fuchs überfallen und keine Menschen uns fangen können,« sagte er. »Wir möchten gern wissen, ob sich dieser Ort für uns eignen könnte.«– »Ich kann es mir nicht anders denken,« antwortete die Kuh. »Die Wände sind ja freilich schadhaft, aber noch kann der Fuchs nicht da hindurch, und hier wohnt niemand als eine alte Frau, die wahrhaftig keine Kräfte hat, um jemand gefangen zu nehmen. Aber wer seid ihr denn?« fuhr sie fort, indem sie sich in ihrem Stand umdrehte, um die Neuangekommenen zu sehen. – »Ich bin Niels Holgersen aus West-Bemmenhög; ich bin in einen Kobold verwandelt,« erwiderte der erste der Eintretenden. »Und ich habe eine zahme Gans bei mir, auf der ich zu reiten pflege, und eine Graugans.« – »So seltener Besuch ist noch nie über meine Schwelle gekommen,« sagte die Kuh, »und ihr sollt willkommen sein, wenn ich auch lieber gesehen hätte, daß es meine Herrin gewesen wäre, die käme, um mir mein Abendbrot zu geben.«

Der Junge half nun den Gänsen in den Kuhstall hinein, der ziemlich groß war und stellte sie in einen leeren Stand, wo sie augenblicklich einschliefen. Sich selbst machte er ein kleines Bett aus Stroh und hoffte, daß er bald ihrem Beispiel folgen würde.

Aber daraus wurde nun nichts, denn die arme Kuh, die ihr Abendbrot nicht bekommen hatte, konnte keinen Augenblick ruhig sein. Sie rüttelte an der Halskette, bewegte sich in dem Stand hin und her und klagte, daß sie so hungrig sei. Der Junge vermochte kein Auge zu schließen, er lag da und nahm in Gedanken alles durch, was ihm in den letzten Tagen begegnet war.

Er dachte an das Gänsemädchen Aase und an den kleinen Mads, denen er so unverhofft begegnet war, und er ward sich klar darüber, daß das kleine Haus, das er unversehens in Brand gesteckt hatte, ihr altes Heim in Smaaland sein müßte.

Er konnte sich ja auch entsinnen, daß sie ihm von genau so einem Hause und von der großen Heide rings umher erzählt hatten. Nun waren sie daher gewandert, um ihr Heim wiederzusehen, und als sie es erreicht hatten, stand es in hellen Flammen! Es war ja ein großer Kummer, den er ihnen bereitet hatte, und es tat ihm sehr leid. Wenn er jemals wieder ein Mensch wurde, mußte er versuchen, ihnen das Leid und den Schmerz zu vergüten.

Dann wanderten seine Gedanken zu den Krähen, und als er an Fumle-Drumle dachte, der ihm das Leben gerettet hatte und der so bald, nachdem er zum Häuptling gewählt war, den Tod erleiden mußte, wurde er so traurig, daß ihm Tränen in die Augen traten.

Die letzten Tage waren hart für ihn gewesen, aber ein großes Glück war es doch, daß der Gänserich und Daunenfein ihn aufgespürt hatten.

Der Gänserich erzählte, daß, sobald die wilden Gänse sein Verschwinden bemerkt hatten, sie alle die kleinen Tiere im Walde nach ihm ausfragten. So erfuhren sie denn bald, daß er von einer Schar wilder Krähen aus Smaaland entführt worden war. Aber die Krähen waren schon außer Sicht, und niemand konnte sagen, welchen Kurs sie genommen hatten. Um den Jungen so schnell wie möglich zu finden, hatte Akka alsdann den wilden Gänsen befohlen, immer zu zweien nach verschiedenen Seiten auszufliegen, um nach ihm zu suchen. Aber, sie mochten ihn nun gefunden haben oder nicht, nachdem sie zwei Tage gesucht, sollten sie alle im nordwestlichen Smaaland auf einem hohen Berggipfel zusammentreffen, der einem stumpfen Turm glich, und der Taberg hieß. Und nachdem Akka sie die besten Wegezeichen gelehrt und ihnen genau beschrieben hatte, wie sie den Taberg finden würden, trennten sie sich.

Der weiße Gänserich hatte Daunenfein zur Reisegefährtin erwählt, und sie flogen in großer Angst um Däumling von einem Ort zum andern. Wählend sie so umherstreiften, hörten sie eine Drossel, die in einem Baumwipfel saß, schelten und schmähen, daß einer, der Krähenraub hieß, sich über sie lustig gemacht hatte. Sie hatten sich mit der Drossel in eine Unterhaltung eingelassen, und sie hatte ihnen gezeigt, nach welcher Seite dieser Krähenraub geflogen war. Nach einer Weile trafen sie einen Täuberich, einen Star und eine Stockente, die sich alle über einen boshaften Wicht beklagten, der sie in ihrem Gesang gestört hatte, und der Krähenraub, Krähengestohlen und Krähendiebstahl hieß. Auf die Weise konnten sie Däumlings Spur bis hinab nach der Heide in der Sunnerboer Harde verfolgen.

Sobald der Gänserich und Daunenfein Däumling gefunden hatten, zogen sie gen Norden weiter, um nach dem Taberge zu kommen. Aber es war ein langer Weg, und die Dunkelheit überraschte sie, ehe der Berggipfel in Sicht kam. »Wenn wir nur morgen dahingelangen, hat alle Sorge ein Ende,« dachte der Junge und bohrte sich tief ins Stroh hinein, um wärmer zu liegen.

Die Kuh hatte während der ganzen Zeit in ihrem Stand rumort. Jetzt begann sie plötzlich mit dem Jungen zu reden: »Ich meine, einer von denen, die hier hereinkamen, sagte, er sei ein Kobold. Verhält sich das so, dann muß er sich wohl darauf verstehen, eine Kuh zu besorgen.« – »Was fehlt dir denn?« fragte der Junge. – »Mir fehlt alles mögliche,« sagte die Kuh. »Ich bin weder gemolken noch ordentlich besorgt. Ich habe kein Nachtfutter in meine Krippe bekommen, und es ist nicht unter mir ausgemistet worden. In der Dämmerstunde kam die Hausfrau hier herein wie gewöhnlich, um alles bei mir in Ordnung zu bringen, aber sie war so krank, daß sie gleich wieder gehen mußte, und sie ist nicht wiedergekommen.« – »Es ist traurig, daß ich so klein bin und keine Kräfte habe,« sagte der Junge. »Ich glaube nicht, daß ich imstande bin, dir zu helfen.« – »Du brauchst mir nicht einzubilden, daß du keine Kräfte hast, weil du klein bist,« sagte die Kuh. »Alle Kobolde, von denen ich habe erzählen hören, sind so stark gewesen, daß sie ein ganzes Fuder Heu ziehen und eine Kuh mit einem Schlag ihrer geballten Faust töten konnten.« Der Junge konnte es nicht lassen, darüber zu lachen. »Das waren wohl Kobolde anderer Art als ich,« sagte er. »Aber ich will deine Halskette losmachen und dir die Tür öffnen, dann kannst du hinausgehen und aus einer der Wasserpfützen draußen auf dem Hof trinken, und dann will ich versuchen, auf den Heuboden hinaufzuklettern und dir etwas Heu in die Krippe hinabzuwerfen.« – »Hm, das ist ja immer eine Hilfe,« meinte die Kuh.

Der Junge tat, wie er gesagt hatte, und als die Kuh mit der vollen Krippe vor sich dastand, dachte er, daß er nun wohl endlich schlafen dürfe. Aber kaum war er wieder ins Bett gekrochen, als sie von neuem mit ihm zu reden begann:

»Du wirst gewiß ganz ärgerlich auf mich, wenn ich dich nun noch um etwas bitte,« sagte die Kuh. – »Nein, wenn es nur etwas ist, was ich kann,« erwiderte der Junge. – »Dann möchte ich dich bitten, ob du nicht in das Haus hier gerade gegenüber hineingehen und dich danach umsehen wolltest, wie es meiner Herrin geht. Ich fürchte, daß ihr ein Unglück zugestoßen ist.« – »Nein, das kann ich nicht,« sagte der Junge. »Ich kann keinem Menschen vor Augen kommen.« – »Du wirst dich doch nicht vor einer alten kranken Frau fürchten?« sagte die Kuh. »Du brauchst auch gar nicht ins Haus hineinzugehen. Stelle dich nur draußen vor die Tür und guck durch den Türspalt!« – »Wenn du nichts weiter von mir verlangst, so muß ich es wohl tun,« sagte der Junge.

Damit öffnete er die Stalltür und ging auf den Hof hinaus. Es war eine schreckliche Nacht, in die er hinauskam. Da waren weder Mond noch Sterne am Himmel. Der Sturm heulte und der Regen strömte hernieder, Das schlimmste aber war, daß da sieben große Eulen in einer Reihe auf dem Dachrücken des Wohnhauses saßen. Es war schrecklich, sie nur anzuhören, wie sie da so saßen und über das Wetter heulten, noch schlimmer aber war es, daran zu denken, daß, wenn nur eine einzige ihn erblickte, es mit ihm aus war.

»Der Ärmste, der so klein ist!« dachte der Junge, als er auf den Hofplatz hinauslief. Und er hatte wohl Grund, das zu sagen. Zweimal wurde er umgeweht, ehe er nach dem Wohnhause hinüberkam, und einmal fegte ihn der Wind in eine Wasserpfütze hinein, die so tief war, daß er fast ertrunken wäre. Aber er kam doch hinüber.

Er kletterte ein paar Stufen hinauf, kroch über eine Türschwelle und gelangte auf eine Diele. Die Stubentür war geschlossen, aber unten in der einen Ecke war ein großes Stück herausgenommen, damit die Katze aus und ein gehen konnte. Es war also leicht genug für den Jungen, nachzusehen, wie es da drinnen stand.

Kaum hatte er einen Blick in die Stube geworfen, als er zusammenzuckte und den Kopf zurückzog. Auf dem Fußboden lag eine alte, grauhaarige Frau lang ausgestreckt. Sie rührte sich nicht und stöhnte auch nicht, und ihr Gesicht schimmerte wunderlich weiß. Es sah so aus, als wenn ein unsichtbarer Mond sein Licht darauf werfe.

Der Junge mußte daran denken, daß, als sein Großvater gestorben war, dessen Gesicht auch so wunderlich weiß gewesen war. Und er begriff, daß die alte Frau, die da in der Stube auf dem Fußboden lag, tot war. Der Tod hatte sie offenbar überrascht, so daß sie sich nicht einmal auf ihr Bett hatte legen können.

Er wurde so schrecklich bange, als es ihm klar geworden war, daß er sich mitten in der Nacht allein mit einer Leiche befand. Über Hals und Kopf stürzte er die Treppe hinab und wieder in den Kuhstall hinein.

Als er der Kuh erzählte, was er in der Stube gesehen hatte, hielt sie mit dem Fressen inne. »Ja, dann ist meine Herrin tot,« sagte sie. »Dann ist es wohl auch mit mir bald vorbei.« – »Es wird sich wohl jemand finden, der sich deiner annimmt,« sagte der Junge tröstend. – »Ach, du weißt ja nicht,« sagte die Kuh, »daß ich schon doppelt so alt bin, wie eine Kuh zu sein pflegt, ehe sie auf die Schlachtbank kommt. Aber ich mache mir auch nichts mehr daraus zu leben, wenn die da drinnen nicht mehr kommen und für mich sorgen kann.«

Dann schwieg sie eine Weile, aber der Junge konnte wohl merken, daß sie weder schlief noch aß. Es währte denn auch nicht lange, bis sie wieder zu sprechen begann: »Liegt sie an der Erde?« fragte sie. – »Ja, das tut sie,« antwortete der Junge. – »Sie hatte die Gewohnheit, hierher in den Kuhstall zu kommen und mit mir über alles zu reden, was sie bekümmerte. Ich verstand, was sie sagte, wenn ich ihr auch nicht antworten konnte. In den letzten Tagen ging sie umher und sprach davon, daß sie befürchte, es würde niemand bei ihr sein, wenn sie stürbe. Sie ängstigte sich, daß niemand ihr die Augen zudrücken und ihr die Hände kreuzweise über die Brust legen würde, wenn sie tot sei. Du würdest wohl nicht hineingehen und das tun?« Der Junge besann sich. Er erinnerte sich noch sehr wohl, wie sein Großvater gestorben war; da hatte seine Mutter ihn mit großer Sorgfalt zur Ruhe gebettet. Er wußte, daß dies etwas war, was geschehen mußte. Aber auf der andern Seite wußte er auch, daß er nicht den Mut hatte, in dieser schrecklichen Nacht zu der Toten hineinzugehen. Er sagte nicht nein, rührte sich aber auch nicht vom Fleck.

Die alte Kuh schwieg eine Weile, als warte sie auf Antwort. Als der Knabe aber nichts sagte, wiederholte sie ihre Bitte nicht. Sie begann im Gegenteil, mit ihm von ihrer Herrin zu sprechen.

Darüber war viel zu sagen. Zuerst erzählte sie ihm von allen den Kindern, die sie großgemacht hatte. Die kamen ja jeden Tag in den Stall, und im Sommer hüteten sie die Kühe auf dem Moor und auf den Wiesen, so daß die alte Kuh gut von ihnen Bescheid wußte. Es waren alles ausgezeichnete Kinder, fleißig und fröhlich. Eine Kuh wußte recht gut, wie ihre Hüter beschaffen sind.

Und auch von dem Gehöft war viel zu erzählen. Das war nicht immer so verfallen gewesen wie jetzt. Es gehörte viel Land dazu, wenn auch der größte Teil sumpfig und steinig war. Kornfelder waren da nicht viele, dahingegen war da überall ausgezeichnetes Weideland, Es gab Zeiten, wo in jedem Stand im Kuhstall eine Kuh angekettet war, und wo der Ochsenstall, der jetzt ganz leer stand, voller Ochsen gewesen. Und damals herrschte Freude und Frohsinn in Stube und Stall. Wenn die Hausfrau die Stalltür öffnete, sang und trällerte sie, und alle Kühe brüllten vor Freude, wenn sie sie kommen hörten.

Aber der Hausherr starb, als die Kinder noch so klein waren, daß sie noch keinen Nutzen schaffen konnten, und die Hausfrau mußte alle Arbeit und Fürsorge übernehmen. Sie war stark wie ein Mann und sie pflügte und erntete. Am Abend, wenn sie in den Stall kam, um zu melken, war sie manchmal so müde, daß sie weinte. Aber wenn sie an ihre Kinder dachte, wurde sie wieder fröhlich. Dann trocknete sie die Tränen und sagte: »Es macht nichts, ich werde schon wieder gute Tage bekommen, wenn meine Kinder erst erwachsen sind. Ja, wenn die erst erwachsen sind!«

Aber sobald die Kinder erwachsen waren, befiel diese eine wunderliche Sehnsucht. Sie hatten keine Ruhe mehr daheim, sie reisten nach fremden Ländern. Ihre Mutter bekam niemals Hilfe von ihnen. Ein paar von den Kindern waren schon verheiratet, als sie fortreisten, und sie ließen ihre kleinen Kinder in dem alten Heim zurück. Und nun liefen diese Kinder mit der Hausfrau in den Kuhstall, genau so, wie es ihre eigenen getan hatten. Sie hüteten die Kühe und es waren gute und tüchtige Kinder. Und am Abend, wenn die Großmutter so müde war, daß sie mitten beim Melken einschlief, konnte sie sich mit dem Gedanken an sie ermuntern und neuen Mut schaffen: »Ich werde schon gute Tage bekommen,« sagte sie und schüttelte den Schlaf ab, »wenn nur die Kinder erst erwachsen sind!«

Als aber diese Kinder erwachsen waren, reisten sie zu den Eltern hinüber in das fremde Land. Keines kehrte zurück, keines blieb in der Heimat. Die alte Frau war schließlich ganz allein auf dem Gehöft.

Sie bat sie auch gar nicht, bei ihr zu bleiben. »Du findest doch nicht, Rödlinna, daß ich sie bitten sollte, hier bei mir zu bleiben, wenn sie in die Welt hinausreisen und es gut haben können?« sagte sie oft, wenn sie im Stall bei der alten Kuh stand. »Hier in Smaaland harrt ihrer ja nichts als Armut.«

Aber als das letzte Enkelkind gereist war, konnte die alte Frau nicht mehr. Mit einemmal wurde sie grauhaarig und gebeugt, ihr Gang wurde wackelnd, es sah so aus, als habe sie keine Kraft mehr, sich zu rühren. Und sie hörte auf zu arbeiten. Sie mochte sich nicht mehr um das Gehöft bekümmern, sondern ließ alles verfallen. Sie setzte die Gebäude nicht mehr instand und sie verkaufte sowohl Kühe als auch Ochsen. Nur die alte Kuh, mit der Däumling jetzt sprach, behielt sie. Die ließ sie leben, weil alle Kinder mit ihr draußen auf dem Felde gewesen waren.

Sie hätte ja Mägde und Knechte in ihren Dienst nehmen können, um sich bei der Arbeit helfen zu lassen, aber sie konnte es nicht ertragen, Fremde um sich zu sehen, jetzt, wo ihre Angehörigen sie verlassen hatten. Und vielleicht sah sie es auch am liebsten, daß das Gehöft verfiel, wenn keins von den Kindern kam, um es zu übernehmen. Sie machte sich nichts daraus, daß sie selber arm wurde, weil sie nicht für das sorgte, was ihr gehörte. Aber sie fürchtete, daß zu den Kindern Kunde davon dringen könne, wie schlecht es ihr erging. »Wenn nur die Kinder es nicht erfahren! Wenn nur die Kinder es nicht erfahren!« seufzte sie, wenn sie im Stall umherschwankte.

Die Kinder schrieben ihr beständig und baten sie, zu ihnen hinüberzukommen, aber sie wollte nicht. Sie wollte das Land nicht sehen, das ihr die Kinder genommen hatte. Sie war böse darauf. »Es ist sicher dumm von mir, daß ich das Land nicht leiden kann, das so gut gegen sie gewesen ist,« sagte sie. »Aber ich will es nicht sehen!«

Sie dachte nie an etwas anderes als an die Kinder, und daß sie weggereist waren. Wenn es Sommer wurde, zog sie die Kuh heraus, so daß sie auf dem großen Moor weiden konnte. Sie selbst saß den ganzen Tag am Moor, die Hände im Schoß, und wenn sie nach Hause ging, sagte sie: »Sieh, Rödlinna, wären hier große, fette Äcker gewesen statt dieser unfruchtbaren Moore, so hätten sie nicht fortzureisen brauchen.«

Sie konnte sich förmlich wütend sehen an dem Moor, das sich so groß und weit ausbreitete und keinen Nutzen schaffte. Und sie konnte dasitzen und davon reden, daß das Moor schuld daran sei, daß die Kinder von ihr gegangen waren.

An diesem letzten Abend war sie elender und zitteriger gewesen denn je zuvor. Sie hatte nicht einmal das Melken mehr besorgen können. Sie hatte dagestanden und sich auf den Stand gestützt und erzählt, es seien zwei Bauern bei ihr gewesen, die hätten gefragt, ob sie das Moor nicht verkaufen wolle. »Denk‘ dir, Rödlinna,« sagte sie, »denk‘ dir, sie sagten, auf dem Moor könne Roggen wachsen! Nun schreibe ich an die Kinder, daß sie nach Hause kommen sollen. Nun brauchen sie nicht mehr fort zu bleiben, nun können sie Brot hier in der Heimat bekommen!«

Das war der Brief, den sie hatte schreiben wollen, als sie in die Stube gegangen war.

*

Der Junge hörte nichts mehr davon, was die alte Kuh erzählte. Er machte die Stalltür auf und ging in die Stube hinein zu der Toten, vor der er noch vor kurzem so bange gewesen war.

Erst stand er einen Augenblick still und sah sich um.

Die Stube sah nicht so ärmlich aus, wie er es sich gedacht hatte. Sie war reichlich versehen mit solchen Gegenständen, wie man sie bei Leuten anzutreffen pflegt, die Verwandte in Amerika haben. In einer Ecke stand ein amerikanischer Schaukelstuhl, auf dem Tisch am Fenster lag eine bunte Plüschtischdecke, über das Bett war eine hübsche Decke gebreitet, an den Wänden hingen die Photographien der abwesenden Kinder und Kindeskinder in zierlichen, geschnitzten Rahmen, auf der Truhe standen hohe Vasen und ein paar Leuchter mit dicken, gewundenen Kerzen.

Der Junge fand eine Schachtel mit Streichhölzern und zündete die Kerzen an, nicht weil er das Bedürfnis hatte, besser zu sehen als bisher, sondern weil er glaubte, der Verstorbenen auf diese Weise Ehre zu erweisen.

Dann ging er zu ihr hin, drückte ihr die Augen zu, legte ihr die Hände kreuzweise über die Brust und strich ihr das dünne, graue Haar aus dem Gesicht.

Es kam ihm gar nicht mehr in den Sinn, bange vor ihr zu sein. Er war so von Herzen traurig, daß sie ihr Alter so in Einsamkeit und Sehnsucht hatte verleben müssen. Jetzt wollte er wenigstens diese Nacht bei ihrem entseelten Körper wachen.

Er suchte nach dem Gesangbuch, und als er es fand, setzte er sich hin und las ein paar Gesänge halblaut. Aber mitten im Lesen hielt er inne, weil er an seine eigenen Eltern denken mußte.

Ach, daß sich Eltern so nach ihren Kindern sehnen können! Das hatte er nie geahnt. Ob die daheim sich auch wohl nach ihm sehnten, so wie sich die alte Frau gesehnt hatte?

Der Gedanke machte ihn froh, aber er wagte nicht, daran zu glauben. Er war nicht so gewesen, daß sich jemand nach ihm sehnen konnte.

Aber was er nicht gewesen war, konnte er werden.

Rings um sich her sah er die Bilder der Fortgereisten. Es waren große, starke Männer und Frauen mit ernsten Gesichtern. Da waren Bräute mit langen Schleiern und Herren mit feinen Kleidern, und da waren Kinder, die lockiges Haar hatten und schöne, weiße Kleider. Und er fand, daß sie alle zusammen blind in die Luft hinausstarrten und nicht sehen wollten.

»Ihr Ärmsten!« sagte der Junge zu den Bildern. »Eure Mutter ist tot. Ihr könnt es nicht wieder gutmachen, daß ihr von ihr gereist seid. Aber meine Mutter lebt.«

Hier hielt er inne und nickte und lächelte vor sich hin. »Meine Mutter lebt!« sagte er. »Mein Vater und meine Mutter leben beide!«

XVII. Vom Taberg bis Husquarna

Freitag, den 15. April.

Der Junge wachte fast die ganze Nacht, aber gegen Morgen schlief er ein, und da träumte er von seinem Vater und seiner Mutter. Er konnte sie kaum erkennen. Sie hatten beide graues Haar bekommen und alte, runzelige Gesichter. Er fragte, woher das komme, und sie antworteten, sie seien so alt geworden, weil sie sich nach ihm gesehnt hatten. Er wurde gerührt und verwundert zugleich, denn er hatte immer gedacht, sie würden froh sein, daß sie ihn los waren.

Als der Junge erwachte, war der Morgen mit schönem, hellen Wetter angebrochen. Erst aß er selbst ein Stück Brot, das er in der Stube fand, dann gab er den Gänsen und der Kuh ihr Morgenfutter und öffnete die Stalltür, so daß die Kuh nach dem nächsten Gehöft hinübergehen konnte. Wenn sie allein gegangen kam, würden die Nachbarn schon verstehen, daß der alten Frau etwas zugestoßen sein müsse. Sie würden nach dem einsamen Gehöft eilen, um zu sehen, was die Alte machte, und wenn sie dann ihren entseelten Körper fanden, würden sie sie begraben.

Kaum waren der Junge und die wilden Gänse in die Luft hinaufgekommen, als sie einen hohen Berg mit fast lotrechten Wänden und einem jäh abgeschnittenen Gipfel erblickten, und sie begriffen, daß dies der Taberg sein müsse. Und oben auf dem Taberge stand Akka mit Aksi und Kaksi, Kolme und Neljä, Biisi und Kuusi und allen sechs Gösseln und wartete auf sie. Das war eine Freude und ein Schnattern und ein Flügelschlagen und Schreien, wie es nicht zu beschreiben ist, als sie sahen, daß es dem Gänserich und Daunenfein gelungen war, Däumling zu finden.

Ziemlich hoch auf den Taberg hinauf wuchs Wald, aber der oberste Gipfel war kahl, und von dort aus konnte man weit umher nach allen Seiten sehen. Sah man nach Osten, nach Süden oder Westen, so war da fast nichts weiter zu sehen, als ein armseliges Hochland mit dunklen Tannenwäldern, braunen Mooren, eisbedeckten Seen und blauenden Bergabhängen. Der Junge mußte zugeben, daß es nicht so aussah, als wenn derjenige, der dies erschaffen hatte, sich besondere Mühe bei seiner Arbeit gegeben hätte, er hatte es nur in aller Eile grob herausgehauen. Sah man dahingegen nach Norden, so war es eine ganz andere Sache. Hier sah das Land so aus, als sei es mit der größten Liebe geformt. Auf der einen Seite sah man lauter schöne Berge, sanfte Täler und silberblanke Flüsse, bis ganz hinab nach dem großen Wetternsee, der eisfrei und glänzend klar dalag und schimmerte, als sei er nicht mit Wasser, sondern mit blauem Licht angefüllt.

Gerade der Wetternsee machte den Blick nach Norden so schön, weil er aussah, als sei ein blauer Schimmer von dem See aufgestiegen und habe sich über das Land verbreitet. Haine und Hügel und die Dächer und die Kirchtürme in Jönköping, die an dem Ufer des Wetternsees hervorlugten, lagen gleichsam eingehüllt in einen blauen Schimmer, der das Auge erfreute. Wenn es im Himmel Länder gab, so mußten sie auch gewiß so blau sein, dachte der Junge und meinte, er habe nun eine kleine Ahnung davon, wie es im Paradiese aussah.

Als die Gänse späterhin am Tage auf ihrem Zuge weiterzogen, flogen sie das blaue Tal hinauf. Sie waren in allerbester Laune, schrien und lärmten, so daß niemand, der Ohren hatte, umhin konnte, sie zu bemerken.

Es traf sich so, daß es der erste wirklich schöne Frühlingstag dort in der Gegend war. Bisher hatte der Lenz seine Arbeit in Regen und Sturm verrichtet, und als nun plötzlich schönes Wetter geworden war, erfaßte die Menschen da unten auf der Erde eine solche Sehnsucht nach Sommer, Wärme und grünen Wäldern, daß es ihnen schwer wurde, bei ihrer Arbeit zu bleiben. Und als die wilden Gänse vorüberzogen, frei und fröhlich, hoch oben über der Erde, war da auch nicht ein einziger, der nicht die Arbeit, mit der er beschäftigt war, einen Augenblick ruhen lieh, um ihnen nachzusehen.

Die ersten, die eines Tages die wilden Gänse sahen, waren die Grubenarbeiter auf dem Taberge, die ganz oben an der Oberfläche des Berges Erz brachen. Als sie sie gackern hörten, hielten sie inne mit dem Bohren ihrer Sprenglöcher, und einer von ihnen rief den Vögeln zu: »Wo reist ihr hin?« Die Gänse verstanden nicht, was er sagte, der Junge aber beugte sich über den Gänserücken und antwortete für sie: »Dahin, wo weder Hacke noch Schlägel ist!« Als die Grubenarbeiter die Worte hörten, dachten sie, ihr Sehnen habe gewiß bewirkt, daß das Gackern der Gänse wie Menschenrede geklungen habe. »Wir wollen mit! Wir wollen mit!« riefen sie. – »Dies Jahr nicht!« schrie der Junge. »Dies Jahr nicht!«

Die wilden Gänse flogen in der Richtung des Tabergflusses nach dem Mönchsee hinab, und beständig machten sie denselben Lärm. Hier auf dem schmalen Landstreif zwischen dem Mönchsee und dem Wetternsee lag Jönköping mit seinen großen Fabrikanlagen. Zuerst flogen die wilden Gänse über die Munkeseer Papierfabrik. Die Mittagspause war gerade beendet und die großen Arbeiterscharen strömten auf das Fabriktor zu. Als sie die wilden Gänse hörten, standen sie einen Augenblick still, um ihnen zu lauschen. »Wo reist ihr hin? Wo reist ihr hin?« rief ein Arbeiter. Die wilden Gänse verstanden nicht, was er sagte, der Junge aber antwortete für sie: »Dahin, wo es weder Maschinen noch Dampfkessel gibt.« Als die Arbeiter die Antwort hörten, glaubten sie, ihr eigenes Sehnen habe bewirkt, daß das Gänsegeschnatter so klinge wie Menschenrede. »Wir wollen mit! Wir wollen mit!« riefen eine ganze Menge von ihnen. »Dies Jahr nicht!« antwortete der Junge. »Dies Jahr nicht!«

Dann flogen die Gänse über die weltberühmte Streichhölzerfabrik, die am Ufer des Wetternsees liegt, so groß wie eine Festung, und deren hohe Schornsteine zum Himmel aufragen. Auf den Höfen rührte sich kein Mensch, aber in einem großen Saal saßen junge Arbeiterinnen und füllten Streichholzschachteln. Sie hatten ein Fenster geöffnet, weil das Wetter so schön war, und der Ruf der wilden Gänse bis zu ihnen hineindrang. Diejenige, die dem Fenster zunächst saß, lehnte sich mit einer Streichholzschachtel in der Hand hinaus und rief: »Wo reist ihr hin? Wo reist ihr hin?« – »Nach dem Lande, wo man weder Licht noch Streichhölzer nötig hat,« sagte der Junge. Das junge Mädchen glaubte ja, daß das, was sie gehört hatte, nichts gewesen sei als Gänsegeschnatter, da sie aber doch meinte, ein paar Worte unterscheiden zu können, rief sie als Antwort: »Ich will mit! Ich will mit!« – »Nicht dies Jahr!« antwortete der Junge. »Nicht dies Jahr!«

Östlich von den Fabriken erhebt sich Jönköping auf dem schönsten Fleck, den sich eine Stadt wünschen kann. Der schmale Wetternsee hat hohe, steile Südabhänge an dem östlichen und an dem westlichen Ufer, aber gerade nach Süden zu sind die Sandmauern niedergebrochen, wie um einem großen Tor Platz zu machen, durch das man an den See hinausgelangt. Und mitten in dem Tor, mit Bergen zur Rechten und Bergen zur Linken, mit dem Mönchsee hinter sich und dem Wetternsee vor sich, liegt Jönköping.

Die Gänse flogen über die lange, schmale Stadt hin und machten hier ebensoviel Lärm wie draußen auf dem Lande. Aber in der Stadt antwortete ihnen niemand. Es war nicht zu erwarten, daß die Leute in der Stadt auf der Straße stehenbleiben und den wilden Gänsen etwas zurufen sollten.

Weiter ging die Reise am Ufer des Wetternsees, und nach Verlauf einiger Zeit kamen die Gänse nach dem Krankenheim Sanna. Einige von den Kranken waren auf die Veranda hinausgegangen, um die Frühlingsluft zu genießen und hörten von hier aus das Schnattern der Gänse. »Wo reist ihr hin? Wo reist ihr hin?« fragte einer von ihnen mit so schwacher Stimme, daß es kaum zu hören war. »Nach dem Lande, wo es weder Kummer noch Krankheit gibt,« antwortete der Junge. »Wir wollen mit!« sagte der Kranke. – »Nicht dies Jahr!« antwortete der Junge. »Nicht dies Jahr!«

Als sie noch eine Strecke geflogen waren, kamen sie nach Husquarna. Das lag in einem Tal. Rings umher standen Berge, steil und schön geformt. Ein Bach kam von den Höhen in langen, schmalen Wasserfällen herabgestürzt. Große Werkstätten und Fabriken lagen unter den Bergwänden; der Talboden war übersät mit Arbeiterwohnungen, umgeben von kleinen Gärten, und mitten im Tal lag die Schule. Gerade als die Gänse geflogen kamen, ertönte eine Glocke, und eine Menge Kinder kamen in einer langen Reihe herausmarschiert. Es waren so viele, daß sie den ganzen Schulhof füllten. »Wo reist ihr hin? Wo reist ihr hin?« riefen die Kinder, als sie die wilden Gänse hörten. – »Dahin, wo es weder Bücher noch Schulaufgaben gibt!« antwortete der Junge. – »Nehmt uns mit!« riefen die Kinder. »Nehmt uns mit!« – »Dies Jahr nicht, aber übers Jahr,« rief der Junge. »Dies Jahr nicht, aber übers Jahr!«

XVIII. Der große Vogelsee


Die Stockente Jarro.

An dem östlichen Ufer des Wetternsees liegt Omberg, östlich von Omberg liegt Daysmosen, östlich von Daysmosen liegt der See Tåkern. Rings um den Tåkern breitet sich die große, flache, ostgotländische Ebene aus.

Der Tåkernsee ist ein ziemlich großes Gewässer, und in alten Zeiten soll er noch größer gewesen sein. Aber dann fanden die Menschen, daß er einen zu großen Teil der fruchtbaren Ebene einnahm, und sie versuchten, das Wasser abzuleiten, um auf dem Boden des Sees säen und ernten zu können. Es gelang ihnen jedoch nicht, den ganzen See trocken zu legen, was wohl die Absicht gewesen war; er bedeckt noch immer eine ganze Menge Land. Aber nach dem Trockenlegen ist der See so seicht geworden, daß er fast nirgends mehr als anderthalb Ellen tief ist. Die Ufer sind zu tiefliegenden und sumpfigen Wiesen geworden, und überall draußen im See ragen kleine Schlamminseln aus dem Wasser auf.

Nun gibt es Pflanzen, die es lieben, mit den Füßen im Wasser zu stehen, wenn sie nur den Leib und den Kopf oben in der Luft haben können, nämlich die Binsen. Die können keinen besseren Fleck zum Wachsen finden als die langen, flachen Ufer des Tåkernsees und die kleinen Schlamminseln. Sie gedeihen dort so gut, daß sie mehr als Manneshöhe erreichen, und sie stehen so dicht, daß es fast unmöglich ist, ein Boot da hindurchzustängeln. Sie bilden eine breite, grüne Umfriedigung rings um den See, so daß er nur an einzelnen Stellen zugänglich ist, dort, wo die Menschen das Röhricht abgeschlagen haben.

Schließen aber die Binsen die Menschen aus, so gewähren sie dafür einer Menge anderer Wesen Unterkunft und Schutz. Da drinnen zwischen den Binsen gibt es unzählige kleine Teiche und Kanäle mit stillstehendem, grünem Wasser, wo Entengrün und andere Pflanzen in Hülle und Fülle wachsen, und wo Mückenlarven, Kaulquappen und Fischbrut in zahllosen Mengen ausgebrütet wird. Und an den Ufern dieser kleinen Teiche und Kanäle gibt es Massen von guten Schlupfwinkeln, wo die Seevögel ihre Eier legen und ihre Jungen großziehen, ohne von Feinden oder von Nahrungssorgen gestört zu werden.

In dem Röhricht am Tåkernsee wohnen auch eine Menge Vögel, und Jahr für Jahr kommen mehr hinzu, je bekannter es wird, was für ein herrlicher Aufenthaltsort es ist. Die ersten, die sich dort ansiedelten, waren die Stockenten, und die wohnen dort noch zu Tausenden. Ihnen gehört jedoch nicht mehr der ganze See, sie haben sich gezwungen gesehen, den Platz mit Schwänen, Haubentauchern, Bläßhühnern, Lummen, Löffelenten und einer Menge anderer Vögel zu teilen.

Der Tåkernsee ist sicher der größte und beste Vogelsee im ganzen Lande, und die Vögel können sich glücklich preisen, so lange sie eine solche Zufluchtsstätte haben. Aber niemand weiß, wie lange sie die Herrschaft über die Binsenwälder und Schlammufer behalten dürfen, denn die Menschen können nicht vergessen, daß der See eine Menge guten und fruchtbaren Bodens bedeckt, und einmal über das andere tauchen Pläne unter ihnen auf, ihn trocken zu legen. Und wenn diese Pläne zur Ausführung gelangten, würden alle diese vielen Taufende von Wasservögeln gezwungen sein, dort aus der Gegend fortzuziehen.

Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen reiste, lebte am Tåkernsee ein Stockenterich, der Jarro hieß. Er war ein junger Vogel und hatte nicht mehr als einen Sommer, einen Herbst und einen Winter gelebt. Es war nun sein erster Frühling. Er war kürzlich aus Nordafrika heimgekehrt und hatte den Tåkernsee so rechtzeitig erreicht, daß da noch Eis auf dem Wasser war.

Eines Abends, als er und die anderen Enteriche sich damit ergötzten, über dem See hin und her zu fliegen, schoß ein Jäger ein paar Schüsse auf sie ab, und Jarro wurde in die Brust getroffen. Er glaubte, er müsse sterben, um aber dem, der ihn geschossen hatte, nicht in die Hände zu fallen, fuhr er fort zu fliegen, so lange er konnte. Er dachte nicht daran, wohin er seinen Kurs nahm, sondern strengte sich an, so weit wie möglich zu kommen. Als ihn die Kräfte verließen, so daß er nicht mehr fliegen konnte, befand er sich nicht mehr über dem See. Er war eine Strecke landeinwärts geflogen und sank jetzt vor einem der großen Bauerngehöfte nieder, die am Ufer des Tåkernsees liegen.

Bald darauf ging ein junger Knecht über den Hof. Er erblickte Jarro und ging hin und nahm ihn auf. Aber Jarro, der nichts weiter wünschte, als in Frieden zu sterben, sammelte seine letzten Kräfte und biß den Knecht scharf in den Finger, damit der ihn loslassen sollte.

Es gelang Jarro nicht, sich zu befreien, aber der Angriff hatte doch das Gute, daß der Knecht merkte, es war noch Leben in dem Vogel. Er trug ihn vorsichtig in die Stube und zeigte ihn seiner Herrin, einer jungen Frau mit einem sanften Gesicht. Sie nahm dem Knecht gleich Jarro aus der Hand, strich ihm über den Rücken, und trocknete das Blut ab, das zwischen den Halsfedern hervorsickerte. Sie betrachtete ihn genau, und als sie sah, wie schön er war mit seinem dunkelgrünen, metallschimmernden Kopf, seinem weißen Halsband, seinem rotbraunen Rücken und dem blauen Spiegel auf den Flügeln, fand sie wohl, es sei ein Jammer, daß er sterben sollte. Sie machte schnell einen Korb zurecht, und da hinein legte sie den Vogel.

Jarro hatte fortwährend mit den Flügeln geschlagen und gekämpft, um loszukommen, als er nun aber begriff, daß die Menschen nicht die Absicht hatten, ihn zu töten, legte er sich mit einem Gefühl des Wohlbehagens im Korbe zurecht. Erst jetzt merkte er, wie ermattet er war infolge des Schmerzes und des Blutverlustes. Die Bäuerin trug den Korb in das andere Ende der Stube und stellte ihn in die Ofenecke, aber noch ehe sie ihn niedergesetzt, hatte Jarro schon die Augen geschlossen und war eingeschlafen.

Nach einer Weile erwachte Jarro dadurch, daß jemand ihn leise stieß. Als er die Augen aufschlug, erschrak er so, daß er fast seinen Verstand verloren hatte. Jetzt war es also aus mit ihm, denn da stand einer, der schlimmer war als Menschen und Raubvögel. Es war kein geringerer als Cäsar, der langhaarige Jagdhund, der ihn beschnüffelte.

Wie jammervoll bange war Jarro nicht im vorigen Sommer gewesen, als er noch ein kleines, gelbes Entlein war, sobald es über den Binsenwald hinschallte: »Da ist Cäsar! Da ist Cäsar!« Wenn er den braun und weiß gefleckten Hund mit dem Maul voll scharfer Zähne durch das Röhricht heranwaten sah, war es ihm, als sähe er den Tod selber.

Er hatte immer gehofft, daß er nie die Stunde erleben würde, wo er Cäsar von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

Aber er hatte offenbar das Unglück gehabt, gerade auf das Gehöft zu kommen, wo Cäsar beheimatet war, denn nun stand der da über ihn gebeugt. »Was für einer bist denn du?« brummte er. »Wie bist du hierher in die Stube gekommen? Gehörst du nicht in den Binsenwald?«

Jarro hatte kaum den Mut zu antworten. »Du mußt nicht böse auf mich sein, Cäsar, weil ich hierher in die Stube gekommen bin!« sagte er. »Es ist nicht meine Schuld. Ich bin angeschossen. Die Menschen haben mich selbst in den Korb hier gelegt.«

»Ach so, die Menschen haben dich selbst hier hineingelegt,« sagte Cäsar. »Dann wollen sie dich wohl wieder gesund machen. Ich für mein Teil finde ja freilich, es würde vernünftiger sein, dich zu verzehren, jetzt, wo du in ihrer Gewalt bist. Aber hier in der Stube bist du gefeit. Du brauchst nicht so erschreckt auszusehen. Wir sind jetzt nicht auf dem Tåkernsee.«

Damit ging Cäsar und legte sich vor dem flammenden Herdfeuer schlafen. Sobald Jarro sich klar darüber war, daß diese fürchterliche Gefahr überstanden war, befiel ihn die große Mattigkeit von neuem, und er schlief wieder ein.

Als er das nächstemal erwachte, sah er, daß eine Schüssel mit Grütze und Wasser vor ihm stand. Er fühlte sich zwar noch sehr elend, aber er war doch hungrig und begann zu fressen. Als die Bäuerin sah, daß er fraß, ging sie hin und streichelte ihn und sah erfreut aus. Und dann schlief Jarro wieder ein. Mehrere Tage lang tat er nichts weiter, als fressen und schlafen.

Eines Morgens fühlte Jarro sich so wohl, daß er aus seinem Korb aufstand und durch die Stube ging. Aber er war noch nicht weit gekommen, als er umfiel und liegen blieb. Da kam Cäsar, öffnete sein großes Maul und packte ihn. Jarro glaubte natürlich, daß der Hund ihn totbeißen wollte, Cäsar aber trug ihn wieder nach dem Korb zurück, ohne ihm ein Leid zu tun. Dadurch gewann Jarro so großes Vertrauen zu Cäsar, daß er bei seinem nächsten Ausflug ins Zimmer hinaus zu dem Hund hinging und sich neben ihn legte. Und infolgedessen wurden Cäsar und er gute Freunde, und Jarro lag jetzt jeden Tag mehrere Stunden zwischen Cäsars Pfoten und schlief.

Aber noch größere Liebe als für Cäsar empfand Jarro für die Bäuerin. Vor der war er gar nicht bange, er strich seinen Kopf gegen ihre Hand, wenn sie kam und ihm Fressen brachte. Ging sie aus der Stube, so seufzte er vor Kummer, und kam sie wieder herein, so rief er ihr auf seine eigene Sprache Willkommen entgegen.

Jarro vergaß ganz, wie bange er früher vor Menschen und Hunden gewesen war. Er fand, sie waren sanft und gut, und er liebte sie. Er hatte nur den einen Wunsch, wieder gesund zu sein, dann wollte er nach dem Tåkernsee hinabfliegen und den Stockenten erzählen, daß ihre alten Feinde nicht gefährlich seien, und daß sie gar nicht vor ihnen bange zu sein brauchten.

Er hatte beobachtet, daß sowohl die Menschen als auch Cäsar ruhige Augen hatten, in die hineinzusehen gut tat. Die einzige in der Stube, deren Blick er nicht gern begegnete, war Klorina, die Hauskatze. Sie tat ihm nichts zuleide, aber er konnte nicht recht Vertrauen zu ihr fassen. Außerdem foppte sie ihn immer damit, daß er die Menschen liebte. »Du glaubst wohl, daß sie dich pflegen, weil sie dich gern haben,« sagte Klorina. »Warte du nur, bis du hinreichend fett bist! Dann drehen sie dir den Hals um. Ich kenne sie, das kannst du mir glauben!«

Jarro hatte ein zärtliches und liebevolles Herz, wie es die Vögel in der Regel haben, und er ward unsagbar traurig, als er das hörte. Er konnte sich nicht denken, daß ihm die Bäuerin den Hals umdrehen würde, und er glaubte so etwas auch nicht von ihrem Sohn, dem kleinen Jungen, der stundenlang an seinem Korb sitzen und mit ihm plaudern konnte. Er meinte merken zu können, daß sie ihn ebenso lieb hatten wie er sie.

Eines Tages, als Jarro und Cäsar auf ihrem gewohnten Platz vor dem Feuer lagen, saß Klorina oben auf dem Herd und belustigte sich damit, den Enterich zu foppen.

»Ich möchte wohl wissen, was ihr Stockenten im nächsten Jahr anfangen wollt, wenn der See trockengelegt und in Ackerland verwandelt wird,« sagte Klorina. – »Was sagst du da, Klorina?« rief Jarro und fuhr ganz entsetzt in die Höhe. – »Ich vergesse immer, Jarro, daß du die Sprache der Menschen nicht so verstehen kannst wie Cäsar und ich,« erwiderte die Katze. »Sonst hättest du ja hören müssen, daß die Männer, die gestern hier in der Stube waren, erzählten, daß alles Wasser aus dem Tåkernsee abgelassen werden soll, so daß der Boden des Sees im nächsten Jahr so trocken daliegt wie der Fußboden in einer Stube. Und nun möchte ich nur wissen, was ihr Grasenten dann anfangen wollt!« – Als Jarro diese Worte hörte, wurde er so wütend, daß er fauchte wie eine Natter: »Du bist gerade so boshaft wie ein Bläßhuhn,« schrie er Klorina an. »Du willst mich nur gegen die Menschen aufreizen. Ich glaube nicht, daß sie so etwas tun werden. Sie wissen sehr wohl, daß der Tåkernsee den Stockenten gehört. Warum sollten sie wohl so viele Vögel heimatlos und unglücklich machen? Das hast du dir nur ausgedacht, um mich bange zu machen. Ich will dir wünschen, daß dich der Adler Gorgo in Stücke zerreißt! Ich will dir wünschen, daß unsere Herrin dir den Schnurrbart abschneidet!«

Jarro vermochte jedoch Klorina nicht zum Schweigen zu bringen. »So, du glaubst also, daß ich lüge,« sagte sie. »Du kannst ja Cäsar einmal fragen! Er war gestern abend auch in der Stube. Cäsar lügt nie.«

»Cäsar,« sagte Jarro, »du verstehst die Sprache der Menschen viel besser als Klorina. Sag‘ du, daß sie nicht richtig gehört hat. Bedenke doch, wie es werden würde, wenn die Menschen den Tåkernsee austrockneten und seine Ufer zu Ackerland machten! Dann gäbe es kein Entengrün mehr für die heranwachsenden jungen Enten und keine Fischbrut und keine Kaulquappen und keine Mückenlarven für die jungen Entlein. Dann würden auch die Binsenwälder verschwinden, in denen sich die kleinen Entlein jetzt verstecken können, bis sie flügge sind. Alle Enten müssen von hier fortziehen und sich eine andere Wohnung suchen. Aber wo sollen sie eine Zufluchtsstätte, wie den Tåkernsee, finden? Cäsar, sage du, daß Klorina nicht richtig gehört hat!«

Es war eigentümlich, zu beobachten, wie Cäsar sich bei dieser Unterhaltung aufführte. Er war während der ganzen übrigen Zeit völlig wach gewesen, als sich aber Jarro an ihn wandte, gähnte er, legte seine lange Schnauze auf die Vorderpfoten und verfiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.

Die Katze sah mit einem listigen Lächeln auf Cäsar hinab. »Ich glaube, Cäsar hat keine Lust, dir zu antworten,« sagte sie zu Jarro. »Ihm geht es so wie allen Hunden: Sie wollen niemals zugeben, daß die Menschen unrichtig handeln. Aber du kannst dich trotzdem auf mein Wort verlassen. Ich will dir sagen, warum die Menschen den See gerade jetzt trockenlegen wollen. Solange die Stockenten die Herrschaft über den Tåkernsee hatten, wollten sie ihn nicht trockenlegen, denn von euch hatten sie doch einigen Nutzen. Aber nun haben sich ja die Haubentaucher und die Bläßhühner und viele andere Vögel, die nicht eßbar sind, fast aller Binsenwälder bemächtigt, und die Menschen finden es nicht notwendig, um ihretwillen den See zu bewahren.«

Jarro hatte keine Lust, Klorina zu antworten, er erhob nur den Kopf und rief Cäsar ins Ohr: »Cäsar! Du weißt doch, daß da auf dem Tåkernsee so viele Enten sind, daß es aussehen kann wie Wolken am Himmel. Sag‘ du doch, daß es nicht wahr ist, daß die Menschen die alle heimatlos machen wollen!«

Da fuhr Cäsar auf und unternahm einen gewaltigen Ausfall gegen Klorina, so daß diese auf ein Wandbrett hinauf flüchten mußte. »Ich will dich lehren zu schwatzen, wenn ich schlafen will!« brüllte Cäsar. »Ich weiß sehr wohl, daß die Rede davon ist, in diesem Jahr den See trockenzulegen. Aber davon ist schon so oft geredet, ohne daß etwas daraus geworden ist. Und dies Trockenlegen ist eine Sache, die ich nicht billige. Denn was sollte wohl aus der Jagd werden, wenn der Tåkernsee trockengelegt würde? Du bist ein Rindvieh, daß du dich über so etwas freuen kannst. Womit sollen du und ich uns belustigen, wenn es keine Vögel mehr auf dem Tåkernsee gibt?«

Der Lockvogel.

Sonntag, den 17. April.

Ein paar Tage später war Jarro so munter, daß er durch die ganze Stube fliegen konnte. Und da verhätschelte ihn die Bäuerin, und der kleine Junge lief auf den Hof hinaus und pflückte ihm die ersten Grashalme, die aufgesproßt waren. Wenn ihn die Bäuerin streichelte, dachte Jarro, daß, obwohl er jetzt gesund genug war, um nach dem Tåkernsee hinabzufliegen, wenn es ihm beliebte, er sich nicht von den Menschen trennen wollte. Er hatte nichts dagegen, sein ganzes Leben bei ihnen zu bleiben.

Aber eines Morgens in aller Frühe legte die Bäuerin eine Schlinge um Jarro, so daß er seine Flügel nicht gebrauchen konnte, und übergab ihn dann dem Knecht, der ihn draußen auf dem Hof gefunden hatte. Der steckte ihn unter den einen Arm und ging mit ihm an den Tåkernsee hinab.

Das Eis war geschmolzen, während Jarro krank war. Die alten, trockenen Binsenhalme vom vergangenen Jahr standen noch am Ufer und rings um die kleinen Inseln herum, aber alle Wasserpflanzen hatten schon begonnen, in der Tiefe frische Schüsse zu treiben, und die grünen Spitzen reichten bis an den Wasserspiegel hinauf. Und nun waren fast alle Zugvögel heimgekehrt. Die krummen Schnäbel der Brachvögel guckten aus dem Röhricht hervor. Die Haubentaucher segelten mit einem neuen Federkragen um den Hals umher. Und die Bekassinen waren damit beschäftigt, Strohhalme für ihre Nester zusammenzutragen.

Der Knecht stieg in einen Kahn, legte Jarro auf den Boden und stängelte auf den See hinaus. Jarro, der sich nun daran gewöhnt hatte, nichts anderes als Gutes von den Menschen zu erwarten, sagte zu Cäsar, der auch mit dabei war, er sei dem Knecht sehr dankbar, daß er ihn mit auf den See hinausgenommen habe. Aber der Knecht brauche ihn nicht so fest gebunden zu halten, denn er habe keineswegs die Absicht, davonzufliegen. Darauf erwiderte Cäsar nichts. Er war sehr wortkarg in dieser Morgenstunde.

Das einzige, was Jarro ein wenig merkwürdig fand, war, daß der Knecht seine Flinte mitgenommen hatte. Er konnte sich nicht denken, daß einer von den guten Menschen im Bauernhofe Vögel schießen würde. Außerdem hatte ihm Cäsar gesagt, um diese Jahreszeit jagten die Menschen nicht. »Es ist Schonzeit!« sagte Cäsar, »aber das gilt natürlich nicht für mich.«

Währenddessen ruderte der Knecht nach einer der kleinen, schilfumkränzten Schlamminseln hinaus. Dort stieg er aus dem Boot, sammelte altes Röhricht zu einem großen Haufen zusammen und legte sich dahinter. Die Schlinge um die Flügel, und mit einer langen Schnur an das Boot befestigt, durfte Jarro nun draußen auf dem Erdboden umherspazieren.

Plötzlich gewahrte Jarro einige von den jungen Enterichen, in deren Gesellschaft er in alten Zeiten über den See hin und her geflogen war. Sie waren weit weg, aber Jarro rief sie mit einigen lauten Rufen zu sich heran. Sie beantworteten die Rufe, und ein großes, schönes Schaf näherte sich. Noch ehe sie ganz herangekommen waren, begann Jarro, ihnen von seiner wunderbaren Rettung durch die Güte der Menschen zu erzählen. Im selben Augenblick knallten zwei Schüsse hinter ihm. Drei Enten sanken tot in das Röhricht und Cäsar plumpste hinaus und fing sie ein.

Da ging Jarro ein Licht auf. Die Menschen hatten ihn gerettet, um ihn als Lockvogel zu gebrauchen! Und es war ihnen gelungen. Er war schuld daran, daß drei Enten tot waren. Er war nahe daran, vor Scham zu vergehen. Selbst sein Freund Cäsar, fand er, sah ihn voller Verachtung an, und als sie nach Hause in die Stube kamen, wagte er nicht, sich zum Schlafen neben den Hund zu legen.

Am nächsten Morgen wurde Jarro wieder auf den Werder hinausgeführt. Auch diesmal erblickte er bald einige Enten. Aber als er sah, daß sie auf ihn zugeflogen kamen, rief er ihnen entgegen: »Weg mit euch, weg! Nehmt euch in acht! Fliegt anderswo hin! Hinter dem Binsenhaufen liegt ein Jäger verborgen. Ich bin nur ein Lockvogel!« Und es gelang ihm wirklich, sie daran zu hindern, in Schußweite zu kommen.

Jarro hatte kaum Zeit, ein paar Grashalme zu kosten, so in Anspruch genommen war er vom Wache-Halten. Er rief seine Warnung, sobald sich ein Vogel näherte. Er warnte sogar die Haubentaucher, die er sonst nicht ausstehen konnte, weil sie die Enten aus ihren besten Verstecken verdrängten. Aber er konnte es nicht übers Herz bringen, schuld daran zu sein, daß ein Vogel in Unglück geriet. Und dank Jarros Aufmerksamkeit mußte der Knecht nach Hause zurückrudern, ohne auch nur einen Schuß abgeschossen zu haben.

Aber trotzdem sah Cäsar weniger mürrisch aus als am vorhergehenden Tage, und als der Abend kam, nahm er Jarro in sein Maul und trug ihn an den Herd und ließ ihn zwischen seinen Vorderpfoten schlafen.

Aber Jarro fühlte sich nicht mehr wohl in der Stube; er war sehr unglücklich. Es quälte sein Herz, wenn er daran dachte, daß die Menschen ihn nie geliebt hatten. Wenn die Bäuerin oder der kleine Junge kamen und ihn streichelten, steckte er den Kopf unter den Flügel und tat so, als schlafe er.

Mehrere Tage hatte Jarro auf seiner traurigen Wacht aushalten müssen, und er war schon am ganzen Tåkernsee bekannt. Da geschah es eines Morgens, während er wie gewöhnlich rief: »Nehmt euch in acht, Vögel! Kommt mir nicht zu nahe! Ich bin nur ein Lockvogel,« daß ein Haubentauchernest auf den Werder zugeschwommen kam, wo er angebunden war. Das war nun an und für sich nichts Merkwürdiges. Es war ein Nest vom vorigen Jahr, und da die Haubentauchernester so gebaut sind, daß sie wie ein Boot auf dem Wasser schwimmen können, geschieht es oft, daß sie ins Treiben geraten. Aber Jarro blieb doch stehen und sah nach dem Nest, weil es so geradeswegs auf die kleine Insel zusteuerte, daß es so aussah, als lenke jemand seinen Kurs über das Wasser.

Als das Nest naher kam, sah Jarro, daß ein kleiner Mensch, der kleinste, den er jemals gesehen hatte, im Nest saß und es mit ein paar Stäben ruderte. Und dies Menschlein rief ihm zu: »Gehe so dicht ans Wasser heran, wie du kannst, Jarro, und halte dich zum Fliegen bereit! Du wirst bald befreit sein!«

Einen Augenblick später lag das Nest am Ufer, aber der kleine Ruderer ging nicht von Bord, er saß ganz still da, zwischen Zweigen und Schilfhalmen verborgen, Jarro stand auch fast regungslos da. Er war vollständig gelähmt vor Angst, daß sein Retter entdeckt werden könne.

Das nächste, was geschah, war, daß eine Schar wilder Gänse geflogen kam. Da kam Jarro wieder zur Besinnung und warnte sie mit lauten Rufen. Aber dessenungeachtet flogen sie mehrmals über der kleinen Insel hin und her. Sie hielten sich so hoch, daß sie außer Schußweite waren, aber der Knecht ließ sich doch verleiten, ein paar Schüsse auf sie abzugeben. Kaum waren diese Schüsse abgefeuert, als der kleine Wicht an Land sprang, ein kleines Messer aus der Scheide zog und Jarros Schlinge mit ein paar schnellen Schnitten durchschnitt. »Flieg‘ nun davon, Jarro, ehe der Knecht wieder geladen hat!« rief er, indem er selbst in das Nest zurücksprang und vom Ufer abstieß.

Der Jäger hatte den Blick auf die Gänse gerichtet und nicht bemerkt, daß Jarro befreit worden war. Cäsar aber hatte besser verfolgt, was vor sich ging, und im selben Augenblick, als Jarro die Flügel hob, stürzte er auf ihn zu und packte ihn im Nacken.

Jarro schrie jammervoll, aber der Wicht, der ihn befreit hatte, sagte mit der größten Ruhe zu Cäsar: »Wenn du so rechtschaffen bist, wie du aussiehst, wirst du doch wohl einen ehrlichen Vogel nicht zwingen, hier zu sitzen und andere ins Unglück zu locken.«

Als Cäsar diese Worte hörte, verzog er die Oberlippe spöttisch, im nächsten Augenblick aber ließ er Jarro los. »Flieg‘, Jarro!« sagte er. »Du bist wahrlich zu gut, um als Lockvogel zu dienen! Deswegen wollte ich dich auch nicht zurückhalten, sondern nur, weil die Stube ohne dich so leer sein wird.«

Die Trockenlegung des Sees.

Mittwoch, den 20. April.

Es war wirklich sehr leer in der Bauernstube ohne Jarro. Dem Hund und der Katze wurde die Zeit lang, jetzt, wo sie niemand hatten, über den sie sich zanken konnten, und die Hausfrau vermißte das fröhliche Schnattern, das jedesmal ertönte, wenn sie in die Stube kam. Am meisten Heimweh nach Jarro aber hatte der kleine Junge, Per Ola. Per Ola war erst drei Jahre alt und das einzige Kind, und nie im Leben hatte er so einen Spielkameraden gehabt wie Jarro. Als Per Ola hörte, daß Jarro nach dem Tåkernsee zu den Enten zurückgekehrt sei, konnte er sich gar nicht dabei beruhigen; beständig dachte er darüber nach, wie er ihn wiederbekommen könne.

Per Ola hatte viel mit Jarro geplaudert, als der still in seinem Korb lag, und er war überzeugt, daß der Enterich ihn verstand. Er bat seine Mutter, mit ihm an den See hinabzugehen, damit er Jarro finden und ihn überreden könne, wieder zu ihnen zu kommen. Das wollte die Mutter nicht, Per Ola aber gab doch sein Vorhaben nicht auf.

Am Tage, nachdem Jarro verschwunden war, lief Per Ola draußen auf dem Hof umher. Er spielte, wie gewöhnlich, ganz allein, aber Cäsar lag auf der Treppe, und als die Mutter den Kleinen hinausließ, sagte sie: »Gib acht auf Per Ola, Cäsar!«

Wäre nun alles so gewesen wie sonst, hätte Cäsar auf den Befehl gehorcht und es wäre so gut acht auf Per Ola gegeben worden, daß ihm nichts hätte zustoßen können. Aber Cäsar war in diesen Tagen ganz aus dem Gleichgewicht. Er wußte, daß die Bauern, die um den Tåkernsee herum wohnten, häufig Versammlungen wegen der Trockenlegung des Sees abhielten, und daß die Sache beinahe beschlossen war. Die Enten würden fortziehen und Cäsar konnte nie mehr ehrlich Jagd auf sie machen. Er war so von dem Gedanken an dies Unglück erfüllt, daß er vergaß, auf Per Ola achtzugeben.

Und kaum war der Kleine draußen auf dem Hof sich selbst überlassen, als er begriff, daß jetzt der Augenblick gekommen sei, an den Tåkernsee hinabzugehen und mit Jarro zu reden. Er öffnete eine Pforte und ging auf dem schmalen Pfad, der über die Wiesen führte, nach dem See hinab. So lange man ihn vom Hause aus sehen konnte, ging er langsam, aber dann fing er an zu laufen. Er war sehr bange, daß seine Mutter oder sonst jemand ihm zurufen würde, daß er nicht da hinabgehen dürfe. Er wollte ja nichts Böses tun, sondern nur Jarro überreden, wieder zu ihnen zu kommen, aber er hatte ein Gefühl, daß die daheim sein Vorhaben nicht billigen würden.

Als Per Ola an den See hinabkam, rief er Jarro mehrmals. Dann stand er lange da und wartete, aber es kam kein Jarro. Er sah verschiedene Vögel, die ihm glichen, aber sie flogen vorüber, ohne ihn zu beachten, und daraus schloß er, daß keiner von ihnen der Rechte war.

Als Jarro nicht kam, dachte der kleine Junge, es würde gewiß leichter sein, ihn zu finden, wenn er sich auf den See hinausbegab. Es lagen mehrere gute Boote am Ufer, aber sie waren alle festgebunden. Das einzige, das da los und ledig lag, war ein alter, lecker Prahm, so schlecht, daß es niemand einfiel, ihn zu benutzen. Aber Per Ola kletterte da hinein, ohne sich daran zu kehren, daß der ganze Boden unter Wasser stand. Die Ruder konnte er nicht handhaben, statt dessen aber setzte er sich hin und wippte und schaukelte in dem Prahm. Einem erwachsenen Menschen wäre es wahrscheinlich niemals gelungen, einen Kahn auf diese Weise auf den Tåkernsee hinauszubringen, aber wenn der Wasserstand hoch ist und das Unglück es will, haben kleine Kinder eine merkwürdige Fähigkeit, aufs Wasser zu kommen. Per Ola trieb bald auf dem Tåkernsee herum und rief nach Jarro.

Als der alte Prahm so auf dem See schaukelte, wurden die Ritzen, die er hatte, noch größer, und das Wasser strömte förmlich herein. Aber daran kehrte sich Per Ola nicht im geringsten. Er saß auf der kleinen Bank am vorderen Ende, rief jeden Vogel an, den er sah, und wunderte sich, daß Jarro nicht kam.

Schließlich gewahrte Jarro wirklich Per Ola. Er hörte, daß ihn jemand mit dem Namen rief, den er bei den Menschen gehabt hatte, und er begriff, daß sich der Junge auf den Tåkernsee hinausgewagt hatte, um ihn zu suchen. Jarro freute sich unsagbar, als er sah, daß einer von den Menschen ihm wirklich liebte. Wie ein Pfeil schoß er zu Per Ola hinab, setzte sich neben ihn und ließ sich streicheln. Sie waren beide sehr glücklich über das Wiedersehen.

Aber plötzlich merkte Jarro, wie es mit dem Prahm beschaffen war. Er war halb voll Wasser und kurz davor zu versinken. Jarro versuchte, Per Ola begreiflich zu machen, daß er, der weder fliegen noch schwimmen könne, versuchen müsse, an Land zu kommen. Aber Per Ola verstand ihn nicht. Da besann sich Jarro keinen Augenblick, sondern eilte von dannen, um Hilfe zu holen.

Nach einer Weile kehrte er zurück und trug auf seinem Rücken einen kleinen Wicht, der viel kleiner war als Per Ola. Hätte er nicht sprechen und sich bewegen können, so würde Per Ola geglaubt haben, es sei eine Puppe. Und dieser kleine Wicht befahl Per Ola sofort, eine lange Stange zu nehmen, die auf dem Boden des Prahms lag, und zu versuchen, das Boot nach einer der kleinen Schilfinseln hinüberzustängeln. Per Ola gehorchte, und er und der Wicht halfen einander, den Prahm vorwärtszutreiben. Mit ein paar Stößen erreichten sie eine kleine schilfumkränzte Insel, und nun erhielt Per Ola den Befehl, an Land zu gehen. Im selben Augenblick, als er den Fuß an Land setzte, lief der Prahm voll Wasser und versank.

Als Per Ola dies sah, wurde es ihm klar, daß sein Vater und seine Mutter sehr böse auf ihn sein würden. Hätte er nicht gleich etwas anderes zu denken gehabt, so würde er sicher geweint haben. Aber da kam eine Schar großer, grauer Vögel und ließ sich auf der Insel nieder, und der kleine Wicht nahm ihn zu ihnen hin und erzählte ihm, wie sie hießen und was sie sagten. Und das war so lustig, daß Per Ola alles andere vergaß.

Indessen hatten die Leute auf dem Bauernhofe entdeckt, daß der Junge verschwunden war und hatten angefangen, nach ihm zu suchen. Sie suchten in den Wirtschaftsgebäuden, guckten in den Brunnen hinab und sahen im Keller nach. Dann gingen sie auf Wege und Stege hinaus, eilten auch nach dem Nachbargehöft und fragten, ob er sich nicht dahin verirrt habe; sie spähten auch unten am Tåkernsee nach ihm aus. Aber soviel sie auch suchten, er war nicht zu finden.

Cäsar, der Hund, verstand sehr wohl, daß sein Herr und die Hausfrau Per Ola suchten, aber tat nichts, um ihnen auf die richtige Spur zu helfen. Er blieb im Gegenteil ganz ruhig liegen, als gehe ihn das ganze nichts an.

Späterhin am Tage fanden sie Per Olas Fußstapfen unten am Landungsplatz, Und dann fiel es ihnen auf, daß der alte, lecke Prahm nicht mehr am Ufer lag. Da wurde ihnen der ganze Zusammenhang plötzlich klar.

Der Bauer und seine Knechte schoben sogleich die Boote in den See und ruderten hinaus, um den Kleinen zu suchen. Sie ruderten bis spät am Abend umher, ohne die geringste Spur von ihm zu entdecken. Sie konnten nicht anders glauben, als daß das alte Boot gesunken sei und das Kind tot auf dem Grunde des Sees liege.

Am Abend wanderte Per Olas Mutter am Ufer des Sees umher. Alle anderen waren überzeugt, daß der Kleine ertrunken sei, nur sie konnte es nicht glauben und fuhr fort zu suchen. Sie suchte zwischen Röhricht und Binsen, sie ging an dem sumpfigen Ufer hin und her, ohne darauf zu achten, wie tief sie einsank, oder wie naß sie schon war. Sie war unsagbar verzweifelt. Es stach und nagte in ihrem Herzen. Sie weinte nicht, aber sie rang die Hände und rief mit lauter, klagender Stimme nach ihrem Kinde.

Rings umher hörte sie Schwäne und Enten und Brachvögel schreien. Es war ihr, als folgten sie hinter ihr drein, und als klagten und jammerten auch sie. »Sie haben auch wohl Kummer, da sie so klagen,« dachte sie. Aber dann besann sie sich. Es waren ja nur Vögel, die sie hörte. Die hatten wohl keinen Kummer.

Es war merkwürdig, daß sie nicht verstummten, jetzt, wo die Sonne untergegangen war. Sie hörte, wie alle diese zahllosen Vogelscharen, die am Tåkernsee lebten, einen Schrei nach dem andern ausstießen. Mehrere von ihnen folgten ihr auf Schritt und Tritt, andere kamen mit hastigem Flügelschlag vorbeigesaust. Die ganze Luft war angefüllt von Klage und Jammer.

Aber die Angst, die sie selber empfand, öffnete ihr das Herz. Sie fand, daß sie allen den anderen lebenden Wesen gar nicht so fern stand, wie dies sonst bei den Menschen der Fall ist. Sie verstand viel besser als je zuvor, wie den Vögeln zumute war. Sie hatten ihre ständigen Sorgen für Haus und Kinder, ganz so wie sie. Es war wohl kein so großer Unterschied zwischen ihnen und ihr, wie sie bisher geglaubt hatte.

Da mußte sie daran denken, daß es so gut wie beschlossen war, daß alle die Tausende von Schwänen, Enten und Lummen ihre Heimat hier am Tåkernsee verlieren sollten. »Das wird schwer genug für sie,« dachte sie. »Wo sollen sie dann ihre Jungen aufziehen?«

Sie blieb stehen und verfiel in Sinnen. Es konnte so aussehen, als sei es ein gutes und wohlgefälliges Werk, einen See in Äcker und Wiesen zu verwandeln, aber das mußte wohl ein anderer See als der Tåkern sein, ein See, der nicht so vielen Tausenden von Tieren zur Heimat diente.

Sie dachte daran, daß am nächsten Tage die Trockenlegung des Sees endgültig beschlossen werden sollte, und sie fragte sich, ob wohl deswegen ihr kleiner Junge gerade heute verschwunden war. Ob es vielleicht Gottes Absicht sei, gerade heute ihr Herz der Barmherzigkeit zu erschließen, ehe es zu spät war, die grausame Handlung zu verhindern?

Sie kehrte schnell auf den Hof zurück und sprach mit ihrem Mann über dies alles. Sie sprach von dem See und von den Vögeln und sagte ihm, sie glaube, Per Olas Tod sei eine Strafe, die Gott über sie beide verhängt habe. Und sie merkte bald, daß ihr Mann derselben Ansicht war wie sie.

Das Gehöft, das sie besaßen, war schon vorher groß, kam aber die Trockenlegung des Sees zustande, so würde ihnen ein so großes Stück von dem Seegrunde zufallen, daß sich ihr Besitz ungefähr verdoppelte. Weshalb waren sie auch eifriger für das Unternehmen gewesen als irgendein anderer der Grundbesitzer. Die andern hatten die Ausgaben gescheut und befürchtet, das Trockenlegen werde nicht besser gelingen als das letztemal. Per Olas Vater wußte sehr wohl, daß er sie schließlich zu dem Unternehmen beredet hatte. Er hatte seine ganze Überredungskunst angewendet, um seinem Sohn ein Gehöft hinterlassen zu können, das doppelt so groß war wie das von seinem Vater ererbte.

Er stand nun da und dachte darüber nach, ob Gott wohl einen Zweck damit gehabt habe, daß ihm der Tåkernsee seinen Sohn genommen hatte, gerade an dem Tage, bevor er die Urkunde zu der Trockenlegung des Sees unterschreiben wollte. Seine Frau brauchte nicht viele Worte zu ihm zu sagen, als er schon antwortete: »Vielleicht ist es Gottes Wille, daß wir nicht in seine Ordnung eingreifen sollen. Morgen will ich mit den anderen darüber reden, und ich denke, wir beschließen, daß alles so bleibt wie es ist.«

Während Mann und Frau miteinander sprachen, lag Cäsar vor dem Herd. Er hob den Kopf und hörte genau zu. Als er seiner Sache sicher zu sein glaubte, ging er zu seiner Herrin, packte sie beim Kleid und zog sie nach der Tür. »Aber Cäsar!« sagte sie und wollte sich frei machen. »Weißt du, wo Per Ola ist?« rief sie dann aus. Cäsar bellte lustig und lief nach der Tür. Sie öffnete, und Cäsar stürzte an den Tåkernsee hinab. Seine Herrin war so sicher, daß er wußte, wo Per Ola war, daß sie gleich hinter ihm drein lief. Und kaum waren sie an den Strand gekommen, als sie draußen auf dem See Kinderweinen hörten.

Per Ola hatte nie im Leben einen so vergnüglichen Tag verbracht wie den heutigen mit Däumling und den Vögeln, aber nun hatte er angefangen zu weinen, weil er hungrig war und sich vor der Dunkelheit fürchtete. Und er war sehr froh, als Vater und Mutter und Cäsar kamen, um ihn zu holen.

I. Der Junge


Der Kobold.

Sonntag, den 20. März.

Es war einmal ein Junge. Er mochte wohl vierzehn Jahre alt sein, war lang aufgeschossen und hatte flachsgelbes Haar. Er war zu nichts recht zu gebrauchen. Am liebsten mochte er schlafen und essen, sein größtes Vergnügen aber war, dumme Streiche zu machen.

Es war an einem Sonntagmorgen. Die Eltern des Jungen waren im Begriff, sich zum Kirchgang anzukleiden. Der Junge selbst saß in Hemdärmeln auf dem Tisch und dachte, wie schön es sei, daß Vater und Mutter beide fortgingen, so daß er ein paar Stunden lang sein eigener Herr sein konnte. »Jetzt kann ich doch Vaters Flinte herunternehmen und ein wenig damit schießen, ohne daß sich gleich jemand dahineinmischt,« sagte er zu sich selbst.

Aber es war fast, als habe der Vater die Gedanken des Knaben erraten, denn gerade als er in der Tür stand und gehen wollte, blieb er stehen und wandte sich nach ihm um.

»Wenn du nicht mit Mutter und mir in die Kirche willst,« sagte er, »so finde ich, du solltest auf alle Fälle eine Predigt hier zu Hause lesen. Willst du mir das versprechen?«

»Ja,« sagte der Junge, »das kann ich gerne tun.« Und er dachte natürlich, daß er nicht mehr lesen würde, als er Lust hatte.

Der Junge meinte, er habe seine Mutter sich noch nie so schnell bewegen sehen. In einem Nu war sie bei dem Wandgesims, nahm Luthers Postille herunter und legte sie auf den Tisch am Fenster, die Predigt des Tages aufgeschlagen. Sie schlug auch im Evangelienbuch auf und legte es neben die Postille. Schließlich zog sie den großen Lehnstuhl an den Tisch heran, der im vorigen Jahr auf der Auktion im Vemmenhöger Pfarrhaus gekauft war, und in dem sonst niemand als der Vater sitzen durfte.

Der Junge saß da und dachte bei sich, die Mutter mache sich doch gar zu viele Mühe mit den Vorbereitungen, denn er hatte gar nicht die Absicht, mehr als eine Seite hier und da zu lesen. Aber nun war es zum zweitenmal gerade so, als wenn der Vater ganz durch ihn hindurchsehen könne, denn er sagte strenge: »Sieh nur zu, daß du ordentlich liest! Denn wenn wir nach Hause kommen, überhöre ich dir jede Seite, und hast du eine Seite übersprungen, so kannst du mir glauben, ich werd dich lehren!«

»Die Predigt ist vierzehn und eine halbe Seite lang,« sagte die Mutter, wie um das Maß voll zu machen. »Du mußt dich wohl gleich hinsetzen und lesen, wenn du hindurchkommen willst,«

Und dann gingen sie endlich, und als der Junge in der Tür stand und ihnen nachsah, fand er, daß sie ihn in einer Falle gefangen hatten. »Die gehen nun dahin und sind stolz darauf, daß sie es so gut gemacht haben und ich hier nun, während der ganzen Zeit, daß sie fort sind, über der Predigt brüten muß,« dachte er bei sich.

Aber sein Vater und seine Mutter waren weit davon entfernt, stolz über irgend etwas zu sein; sie waren im Gegenteil ziemlich betrübt. Sie waren arme Häuslerleute und hatten nicht viel mehr Boden als einen Gartenfleck. In der ersten Zeit, als sie das Haus hatten, konnten sie nur ein Schwein und ein paar Hühner halten, aber sie waren selten strebsame und tüchtige Leute, und jetzt hatten sie sowohl Kühe als auch Gänse. Es war vorzüglich vorwärts gegangen mit ihnen, und hätten sie nicht an den Sohn denken müssen, so wären sie an diesem schönen Sonntagmorgen froh und vergnügt zur Kirche gegangen. Der Vater klagte darüber, daß er faul und nachlässig sei, in der Schule hatte er nichts getan, und er war so untüchtig, daß er ihn nur mit Not und Mühe die Gänse hüten lassen konnte. Und die Mutter bestritt keineswegs, daß das wahr sei, aber sie war am meisten betrübt darüber, daß er ein so wilder und arger Bube war, hart gegen Tiere und boshaft gegen Menschen, »Wenn doch Gott ihn beugen und ihm einen andern Sinn geben wollte,« sagte die Mutter. »Sonst wird er ein Unglück für sich selbst und für uns.«

Der Junge stand lange da und überlegte, ob er die Predigt lesen solle oder nicht. Aber dann wurde er mit sich selbst einig, daß es diesmal am besten sein würde, wenn er gehorchte. Er setzte sich in den Pfarrhauslehnstuhl und fing an zu lesen. Als er aber eine Weile die Wörter halblaut hergeplappert hatte, war er nahe daran, über sein eigenes Gemurmel einzuschlafen, und er merkte, daß er anfing einzunicken.

Draußen war das schönste Frühlingswetter. Man war zwar nicht weiter im Jahr als am zwanzigsten März, aber der Junge wohnte im West-Vemmenhöger Kirchspiel, weit unten im südlichen Schonen, und da war der Frühling schon im vollen Gange. Es war noch nicht grün, aber es war frisch und im Begriff, Knospen zu treiben. Da war Wasser in allen Gräben, und der Huflattich stand an den Grabenrändern in Blüte. All das kleine Krautwerk, das auf den Steinwällen wuchs, war braun und blank. Die Buchenwälder in der Ferne standen gleichsam da und schwollen und wurden mit jedem Augenblick dichter. Der Himmel war hoch und hellblau. Die Haustür stand angelehnt, so daß man in der Stube hören konnte, wie die Lerche sang. Die Hühner und Gänse gingen draußen im Hofe, und die Kühe, die die Frühlingsluft bis ganz in ihre Stände hinein spürten, gaben von Zeit zu Zeit ein Brüllen von sich.

Der Junge las und nickte und kämpfte mit dem Schlaf. »Nein, ich will nicht einschlafen,« dachte er, »denn dann komme ich heute vormittag nicht durch dies hier hindurch.«

Aber wie es nun kommen mochte, er schlief dennoch ein.

Er wußte nicht, ob er eine kurze oder eine lange Zeit geschlafen hatte, aber er erwachte davon, daß er ein schwaches Geräusch hinter sich hörte.

Auf der Fensterbank, gerade vor dem Jungen, stand ein kleiner Spiegel, und darin konnte man beinahe die ganze Stube sehen. In demselben Augenblick, als nun der Junge den Kopf erhob, fiel sein Blick in den Spiegel, und da sah er, daß der Deckel von der Mutter Truhe geöffnet war.

Die Mutter hatte nämlich eine große, schwere, eisenbeschlagene eichene Truhe, die niemand außer ihr selber öffnen durfte. Dort bewahrte sie all das auf, was sie von ihrer Mutter geerbt hatte, und womit sie am allereigensten war. Da lagen ein paar alte Bauerntrachten aus rotem Tuch mit kurzem Leibchen und Faltenrock und perlengesticktem Brusttuch. Da waren gesteifte weiße Kopftücher und schwere silberne Spangen und silberne Ketten. Heutzutage wollten die Leute nicht mit dergleichen Sachen gehen, und die Mutter hatte oft daran gedacht, sich von dem alten Kram zu trennen, aber dann hatte sie es doch nicht übers Herz bringen können.

Nun sah der Junge ganz deutlich im Spiegel, daß der Deckel der Truhe offenstand. Er konnte nicht begreifen, wie das zugegangen war, denn die Mutter hatte die Truhe geschlossen, ehe sie fortging. Es sah der Mutter wahrlich nicht ähnlich, sie offenstehen zu lassen, wenn er allein zu Hause war.

Ihm wurde ganz unheimlich zumute. Er war bange, daß sich ein Dieb ins Haus geschlichen hatte. Er wagte nicht, sich zu rühren, sondern saß ganz still da und starrte in den Spiegel hinein.

Während er so dasaß und wartete, daß sich der Dieb zeigen würde, grübelte er darüber nach, was für ein schwarzer Schatten das wohl sein könne, der über den Rand der Truhe fiel. Er sah und sah und wollte seinen eigenen Augen nicht trauen. Aber das, was zu Anfang wie ein Schatten aussah, wurde immer deutlicher, und er entdeckte bald, daß es etwas Wirkliches war. Es war weder mehr noch weniger als ein Kobold, der rittlings auf dem Rande der Truhe saß.

Der Junge hatte freilich von Kobolden reden hören, aber er hatte sich nie gedacht, daß sie so klein seien. Der, der da auf der Truhe saß, war nicht höher als eine Handbreit. Sein Gesicht war alt und runzelig und bartlos, und er hatte einen langen schwarzen Rock und Kniehosen an und einen breitkrempigen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er war sehr fein und zierlich, mit weißen Spitzen am Halse und am Handgelenk, Spangen an den Schuhen und Strumpfbändern mit Rosetten. Er hatte ein gesticktes Brusttuch aus der Truhe genommen und saß nun da und betrachtete die altmodische Arbeit mit so großer Andacht, daß er das Erwachen des Jungen nicht bemerkt hatte.

Der Junge war sehr erstaunt, den Kobold zu sehen, aber bange wurde er eigentlich nicht. Man konnte nicht bange vor einem werden, der so klein war. Und da nun der Kobold so von dem in Anspruch genommen war, was er vorhatte, daß er weder sah noch hörte, so dachte der Junge, es würde ein Spaß sein, ihm einen Streich zu spielen, ihn in die Kiste hinunterzustoßen und den Deckel zuzuschlagen oder etwas Ähnliches.

Aber der Junge war doch nicht so mutig, daß er den Kobold mit den Händen zu berühren wagte, und er sah sich deswegen in der Stube nach etwas um, womit er ihn hinunterstoßen könne. Seine Augen wanderten von der Bettbank nach dem Klapptisch und von dem Klapptisch nach dem Feuerherd. Er sah nach den Kochtöpfen und dem Kaffeekessel, die auf einem Gesims neben dem Feuerherd standen, nach dem Wassereimer an der Tür hinüber und nach den Kellen und Messern und Gabeln und Schüsseln und Tellern, die er durch die halbgeöffnete Schranktür sehen konnte. Er guckte zu des Vaters Flinte hinauf, die an der Wand neben den Bildern der dänischen Königsfamilie hing, und zu den Pelargonien und Fuchsien hinüber, die im Fenster blühten. Schließlich fiel sein Blick auf einen alten Fliegenfänger, der im Fensterrahmen hing.

Kaum hatte er den Fliegenfänger erblickt, als er ihn ergriff und hinlief und ihn am Rande der Truhe entlangschwenkte. Und er war selbst erstaunt über sein Glück. Er begriff kaum, wie es zugegangen war, aber er hatte den Kobold wirklich gefangen. Der Ärmste lag auf dem Grunde des tiefen Fliegenfängers, den Kopf nach unten und konnte nicht in die Höhe kommen.

Im ersten Augenblick wußte der Junge gar nicht, was er mit seinem Fang machen sollte. Er sorgte nur dafür, den Fliegenfänger hin und her zu schwingen, damit der Kobold keine Gelegenheit fand, hinaufzuklettern.

Der Kobold begann zu sprechen und bat so flehentlich, in Freiheit gesetzt zu werden. Er sagte, er habe ihnen seit vielen Jahren Gutes getan und verdiene eine bessere Behandlung. Wenn der Junge ihn nun freiließ, wollte er ihm einen alten Speziestaler, einen silbernen Löffel und ein Geldstück schenken, das so groß sei wie der Deckel von seines Vaters silberner Uhr.

Der Junge fand ja gerade nicht, daß dies ein großes Anerbieten war, aber seit er den Kobold in seiner Macht hatte, war er bange vor ihm geworden. Er merkte, daß er sich auf etwas eingelassen hatte, was fremd und unheimlich war und daher nicht zu seiner Welt gehörte, und er freute sich nur, ihn loszuwerden.

Deswegen schlug er sofort ein und hielt den Fliegenfänger still, damit der Kobold herauskommen konnte. Aber als der Kobold beinahe oben war, fiel dem Jungen ein, daß er sich größere Reichtümer und alle möglichen Herrlichkeiten hätte ausbedingen sollen. Zum mindesten hätte er die Bedingung stellen sollen, daß ihm der Kobold die Predigt in den Kopf hineingehext hätte. »Wie dumm war ich, daß ich ihn losließ,« dachte er und fing an, den Fliegenfänger zu schütteln, damit der Kobold wieder hinunterfallen sollte.

Aber im selben Augenblick, als der Junge das tat, bekam er eine so gewaltige Ohrfeige, daß er glaubte, sein Kopf müßte zerspringen. Er flog erst nach der einen Wand hinüber und dann nach der andern, schließlich fiel er auf dem Fußboden um, und dort blieb er besinnungslos liegen.

Als er wieder erwachte, war er allein in der Stube. Von dem Kobold war keine Spur zu sehen. Der Deckel der Truhe war geschlossen, und der Fliegenfänger hing an seinem gewohnten Platz am Fenster. Hätte er nicht gefühlt, wie seine rechte Wange infolge der Ohrfeige brannte, so hätte er versucht sein können zu glauben, daß das Ganze ein Traum gewesen. »Aber Vater und Mutter werden doch behaupten, daß es nichts weiter gewesen ist,« dachte er. »Die ziehen aus Rücksicht auf den Kobold gewiß nichts ab. Es wird wohl am besten sein, wenn ich mich wieder hinsetze und lese.«

Aber als er an den Tisch herantrat, entdeckte er etwas Wunderliches. Es war doch unmöglich, daß die Stube größer geworden war. Woher konnte es denn aber nur kommen, daß er viel mehr Schritte machen mußte als sonst, um an den Tisch zu gelangen? Und was war denn in den Stuhl gefahren? Er sah nicht aus, als wenn er größer wäre als früher, aber er mußte erst auf die Sprosse zwischen den Stuhlbeinen steigen und dann klettern, um auf den Sitz zu gelangen. Und ebenso war es mit dem Tisch. Er konnte nicht über die Tischplatte sehen, ohne auf die Stuhllehne zu klettern.

»Was in aller Welt ist das nur?« sagte der Junge. »Der Kobold wird doch nicht den Lehnstuhl und den Tisch und auch das ganze Haus verhext haben!«

Die Postille lag auf dem Tisch, und sie sah so aus wie früher, aber auch damit mußte etwas nicht in der Ordnung sein, denn er konnte nicht dazu kommen, ein Wort zu lesen, ohne daß er geradezu mitten auf dem Buch stand.

Er las einige Zeilen, aber dann sah er zufällig auf. Dabei fiel sein Auge in den Spiegel, und da rief er plötzlich ganz laut: »Aber da ist ja noch einer!«

Denn im Spiegel sah er ganz deutlich einen winzig kleinen Burschen in Zipfelmütze und Lederhose.

»Der ist ja genau so gekleidet wie ich,« sagte der Junge und schlug die Hände vor Erstaunen zusammen. Aber da sah er, daß der kleine Bursche im Spiegel dasselbe tat.

Da zupfte er sich selber im Haar und kniff sich in den Arm und drehte sich rund herum, und augenblicklich machte der im Spiegel es ihm nach.

Der Junge lief ein paarmal rund um den Spiegel herum, um zu sehen, ob sich ein Männlein dahinter versteckt hielt. Aber da war keins, und da begann er vor Angst zu zittern. Denn nun begriff er, daß der Kobold ihn verhext hatte, und daß der kleine Bursche, dessen Bild er im Spiegel sah, er selber war.

Die wilden Gänse

Der Junge konnte sich nun gar nicht bequemen, zu glauben, daß er in einen Kobold verwandelt war. »Es ist wohl nichts weiter als Traum und Einbildung,« dachte er. »Wenn ich nur ein wenig warte, werde ich wohl wieder ein Mensch.«

Er stellte sich vor den Spiegel und schloß die Augen. Er öffnete sie erst wieder, nachdem ein paar Minuten vergangen waren, und erwartete dann, daß es vorübergegangen sei. Aber das war es nicht; er war und blieb gleich klein. Sonst glich er sich selbst, er war ganz so wie früher. Das flachsgelbe Haar und die Sommersprossen über der Nase und die Flicken an der Hose und die Stopfstelle an dem Strumpf, das war alles genau so, wie es zu sein pflegte, nur daß alles kleiner geworden war.

Nein, es konnte nichts nützen, stillzustehen und zu warten, das merkte er wohl. Er mußte etwas anderes versuchen. Und er fand, das klügste, was er tun konnte, war, daß er versuchte, den Kobold zu finden und Frieden mit ihm zu schließen.

Er sprang an die Erde herab und machte sich daran, zu suchen. Er guckte hinter Stühle und Schränke, und unter die Bettbank und hinter den Herd. Er kroch sogar in ein paar Mauselöcher hinein, aber es war ihm nicht möglich, den Kobold zu finden.

Die ganze Zeit, während er suchte, weinte er und betete und gelobte alle möglichen Dinge. Er wollte nie wieder jemand das Wort brechen, er wollte nie wieder boshaft sein, er wollte nie wieder bei der Predigt einschlafen. Wenn er nur wieder ein Mensch werden könne, dann wollte er auch tüchtig sein und ein guter und gehorsamer Junge. Aber was er auch versprach, es half nicht im geringsten.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er die Mutter hatte sagen hören, die Kobolde hielten sich mit Vorliebe im Kuhstall auf, und er beschloß, gleich da hinauszugehen und zu sehen, ob er den Kobold nicht finden könne. Zum Glück stand die Tür nur angelehnt, denn er hätte das Schloß nicht erreichen und sie öffnen können, aber nun gelangte er ohne Schwierigkeit hindurch.

Als er auf den Flur hinauskam, sah er sich nach seinen Holzschuhen um, denn drinnen in der Stube ging er natürlich auf Socken. Er überlegte gerade, was er mit den großen, klotzigen Holzschuhen anfangen sollte, aber im selben Augenblick sah er ein Paar kleine Schuhe auf der Türschwelle stehen. Als er sah, daß der Kobold auch die Holzschuhe verwandelt hatte, wurde ihm noch beklommener zumute. Es sah ja so aus, als wenn dies Elend lange währen sollte.

Auf der alten Eichenplanke, die vor der Haustür lag, hüpfte ein Spatz. Kaum hatte der den Jungen erblickt, als er »Tit, tit! Tit, tit!« rief. »Nein, seht doch nur den Gänsejungen Niels! Seht den Däumling! Seht den Däumling Niels Holgersen!«

Sogleich wandten sowohl die Gänse als auch die Hühner die Köpfe herum und es entstand ein schreckliches Gegacker. »Kickerikih!« krähte der Hahn, »das ist gut genug für ihn; Kickerikih, er hat mich an meinem Kamm gezupft.« – »Gut, gut, gut, gut, das ist gut genug für ihn!« riefen die Hühner, und so blieben sie dabei bis ins unendliche. Die Gänse flogen in einem dichten Haufen zusammen, steckten die Köpfe zusammen und fragten: »Wer kann das doch nur getan haben? Wer kann das doch nur getan haben?«

Aber das Sonderbarste bei dem Ganzen war, daß der Junge verstand, was sie sagten. Er war so erstaunt, daß er still auf der Treppenstufe stehen blieb und lauschte. »Das muß daher kommen, weil ich in einen Kobold verwandelt bin,« sagte er. »Darum kann ich die Sprache der Vögel verstehen.«

Er fand, es war unleidlich, daß die Vögel nicht aufhören wollten zu sagen, daß es gut genug für ihn sei. Er warf einen Stein nach ihnen und rief: »So schweigt doch still, ihr Lumpengesindel!«

Aber er hatte vergessen, daß er nicht so groß war, daß die Hühner bange vor ihm zu sein brauchten. Die ganze Hühnerschar fuhr auf ihn los und stellte sich rund um ihn herum auf und schrie: »Gut, gut, gut, das ist gut genug für dich!«

Der Junge versuchte zu entkommen, aber die Hühner liefen ihm nach und schrien, so daß die Ohren ihm beinahe abgefallen wären. Er wäre ihnen wohl nie entronnen, wenn nicht die Hauskatze des Weges gekommen wäre. Sobald die Hühner die Katze sahen, schwiegen sie still und taten so, als dächten sie an nichts weiter, als nach Würmern in der Erde zu scharren.

Der Junge lief schnell zu der Katze hin. »Liebe kleine Miez,« sagte er »du kennst ja alle Winkel und Schlupflöcher hier auf dem Hofe? Willst du mir nicht erzählen, wo ich den Kobold finden kann?«

Die Katze antwortete nicht sogleich. Sie setzte sich hin, legte den Schwanz hübsch in einen Kranz vor ihre Pfoten und starrte den Jungen an. Es war eine große, schwarze Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust. Ihr Haar war glatt und glänzend im Sonnenschein. Die Krallen hatte sie eingezogen, und die Augen waren ganz grau bis auf einen kleinen schmalen Spalt in der Mitte. Die Katze sah aus wie die personifizierte Frömmigkeit.

»Ich weiß recht gut, wo der Kobold wohnt,« sagte sie mit sanfter Stimme, »aber darum ist es nicht gesagt, daß ich es dir erzählen will.«

»Liebe Miez, du mußt mir wirklich helfen,« sagte der Junge. »Siehst du denn nicht, daß er mich verhext hat?«

Die Katze öffnete die Augen ein wenig weiter, so daß die grüne Bosheit herauszulugen begann. Sie spann und schnurrte vor Wohlbehagen, ehe sie antwortete: »Soll ich dir vielleicht helfen, weil du mich so oft am Schwanz gezogen hast,« sagte sie schließlich.

Da wurde der Junge wütend und vergaß ganz, wie klein und machtlos er war. »Ich kann dich noch einmal am Schwanz ziehen!« sagte er und fuhr auf die Katze los.

Im selben Augenblick war die Katze so verändert, daß der Junge kaum glauben konnte, es sei dasselbe Tier. Jedes Haar auf ihrem Leibe sträubte sich. Der Rücken krümmte sich, die Beine streckten sich, die Krallen kratzten in der Erde, der Schwanz wurde kurz und dick, die Ohren legten sich zurück, der Mund fauchte, die Augen standen weit offen und funkelten wie glühende Kohlen.

Der Junge wollte sich nicht von einer Katze bange machen lassen, sondern ging noch einen Schritt vor. Aber da fuhr die Katze mit einem Sprung gerade auf den Jungen los, warf ihn um und stellte sich über ihn, die Vorderpfoten auf seiner Brust und den Rachen über seiner Kehle.

Der Junge fühlte, daß die Krallen ihm durch die Weste und das Hemd in die Haut drangen, während die scharfen Eckzähne seine Kehle kitzelten. Er schrie aus Leibeskräften um Hilfe.

Aber es kam niemand, und er glaubte bestimmt, daß seine letzte Stunde geschlagen habe. Da merkte er, daß die Katze die Krallen einzog und seine Kehle freigab.

»So,« sagte sie, »jetzt mag es genug sein. Diesmal will ich dich um meiner Hausmutter willen loslassen. Ich wollte nur, daß du wissen solltest, wer von uns beiden jetzt der Stärkere ist.«

Damit ging die Katze ihrer Wege und sah ebenso glatt und fromm aus wie vorher, als sie kam. Der Junge war so verlegen, daß er kein Wort sagte, sondern sich nur beeilte, in den Kuhstall hineinzukommen, um nach dem Kobold zu suchen.

Da waren nicht mehr als drei Kühe. Aber als der Knabe in den Stall hineinkam, entstand ein Brüllen und Lärmen, so daß man gern hätte glauben können, da wären wenigstens dreißig.

»Muh, muh, muh!« brüllte Mairose. »Es ist nur gut, daß es noch Gerechtigkeit in der Welt gibt!«

»Muh, muh, muh!« stimmten sie alle drei ein. Er konnte nicht hören, was sie sagten, so riefen sie durcheinander.

Der Junge wollte nach dem Kobold fragen, aber er konnte sich kein Gehör verschaffen, weil die Kühe so loslegten. Sie benahmen sich so, wie sie zu tun pflegten, wenn er einen fremden Hund zu ihnen einließ. Sie schlugen mit den Hinterbeinen aus, rissen und zerrten an ihren Halsketten, drehten die Köpfe nach außen und stießen mit den Hörnern nach ihm.

»Komm du bloß heran!« sagte Mairose, »dann will ich dir einen Stoß versetzen, den du so bald nicht wieder vergißt!«

»Komm hierher,« sagte Goldlilie, »dann sollst du Erlaubnis haben, auf meinen Hörnern zu tanzen!«

»Komm nur her, dann sollst du fühlen, wie es schmeckte, wenn du mit deinen Holzschuhen nach mir warfst, wie du es diesen Sommer so oft getan hast!« brüllte Stern.

»Komm nur her, dann will ich dir die Bremse heimzahlen, die du mir ins Ohr gesetzt hast,« schrie Goldlilie.

Mairose war die älteste und klügste von ihnen, und sie war die allerzornigste, »Komm nur her,« sagte sie, »dann will ich dir alle die Male heimzahlen, wo du deiner Mutter den Milchhuker weggezogen hast, und alle die Male, wo du ihr ein Bein gestellt hast, wenn sie mit dem Milcheimer geschleppt kam, und alle Tränen, die sie hier um dich vergossen hat.«

Der Junge wollte ihnen sagen, er bereue, daß er schlecht gegen sie gewesen war, und daß er so etwas nie wieder tun wolle, wenn sie ihm nur sagen wollten, wo der Kobold sei. Aber die Kühe hörten nicht nach ihm hin. Sie wurden so erregt, daß er bange wurde, eine von ihnen könne sich losreißen, und er hielt es für das beste, sich aus dem Kuhstall herauszuschleichen.

Als er wieder draußen war, befiel ihn eine große Verzagtheit. Er sah ein, daß niemand auf dem Hofe ihm helfen wollte, den Kobold zu finden. Und es würde wohl auch nicht viel helfen, wenn er ihn fand.

Er kroch auf den breiten Steinwall hinauf, der das Grundstück umgab und der mit Dornen und Brombeerranken bewachsen war. Da setzte er sich hin, um darüber nachzudenken, wie es werden sollte, wenn er nie wieder ein Mensch würde. Wenn nun der Vater und die Mutter aus der Kirche nach Hause kämen, würde große Verwunderung herrschen. Ja, im ganzen Lande würde man sich verwundern, und aus Ost-Vemmenhög und aus Torp und aus Skurup würden Leute kommen; aus der ganzen Vemmenhöger Heide würde man kommen, um ihn zu sehen. Und vielleicht würden der Vater und die Mutter ihn nach dem Kiriker Markt mitnehmen und ihn für Geld sehen lassen.

Nein, das war schrecklich zu denken. Er wollte nur wünschen, daß ihn nie ein Mensch mehr zu sehen bekam.

Es war schrecklich, wie unglücklich er war. Niemand in der ganzen Welt war so unglücklich wie er. Er war kein Mensch mehr, sondern ein Ungetüm.

Nach und nach ward es ihm klar, was es hieß, daß er kein Mensch mehr war. Jetzt war er von allem getrennt: er konnte nicht mit andern Knaben spielen, er konnte das Haus nicht nach den Eltern übernehmen, und er konnte nun gar kein Mädchen bekommen, um sich mit ihr zu verheiraten.

Er saß da und betrachtete sein Heim. Es war ein kleines, weißgetünchtes Fachwerkhaus, das unter dem hohen, schrägen Strohdach wie in die Erde hineingedrückt dalag. Die Nebengebäude waren ebenfalls klein, und die Felder waren so schmal, daß ein Pferd nur mit genauer Not darauf umwenden konnte. Aber wie klein und ärmlich das Haus auch war, jetzt war es doch zu gut für ihn. Er konnte kein anderes Haus verlangen, als ein Loch unter dem Fußboden im Stall.

Das Wetter war so wunderbar schön. Es sickerte und es sproßte und es zwitscherte rings um ihn her. Er aber saß in tiefem Kummer da. Er konnte sich nie wieder über irgend etwas freuen.

Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Wege gen Norden. Da waren sicher viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen.

Es waren schon mehrere Scharen von wilden Gänsen vorübergeflogen. Sie flogen hoch oben, aber er konnte sie doch rufen hören: »Jetzt geht’s in die Berge! Jetzt geht’s in die Berge!«

Als die wilden Gänse die zahmen Gänse sahen, die auf dem Hofe herumwatschelten, senkten sie sich zur Erde herab und riefen: Kommt mit! Kommt mit!

Die zahmen Gänse konnten sich nicht enthalten, einen langen Hals zu machen und zu horchen. Aber sie antworteten ganz vernünftig: »Wir haben es gut, so wie wir es haben. Wir haben es gut, so wie wir es haben.«

Es war, wie gesagt, ein wunderbar schöner Tag mit einer Luft, in der zu fliegen eine wahre Freude sein mußte, so frisch und so leicht. Und mit jeder neuen Schar von wilden Gänsen, die vorüberflog, wurden die zahmen Gänse mehr und mehr unruhig. Ein paarmal schlugen sie mit den Flügeln, als hätten sie Lust, mitzufliegen. Aber dann sagte immer eine alte Gänsemutter: »Seid doch nicht verrückt! Die da oben werden noch frieren und hungern.«

Einen jungen Gänserich erfaßte eine heftige Reiselust bei all dem Rufen. »Wenn noch eine Schar kommt, fliege ich mit,« sagte er.

Und dann kam eine neue Schar, die ebenso rief wie die andere. Da schrie der junge Gänserich: »Wartet! Wartet! ich komme.«

Er breitete die Flügel aus und schwang sich in die Luft hinauf, aber das Fliegen war ihm etwas so ungewohntes, daß er wieder auf die Erde zurücksank.

Die wilden Gänse mußten seinen Ruf aber doch gehört haben. Sie kehrten um und flogen langsam zurück, um zu sehen, ob er kam.

»Wartet! Wartet!« rief er und machte einen neuen Versuch.

Dies alles hörte der Junge, während er da auf dem Steinwall lag. »Es würde wirklich schlimm sein,« dachte er, »wenn der große Gänserich davonfliegt. Vater und Mutter würden sehr ärgerlich darüber sein, falls er weg wäre, wenn sie aus der Kirche kommen.«

Während er so dachte, vergaß er abermals ganz, daß er klein und ohnmächtig war. Er sprang von dem Steinwall mitten in die Gänseschar hinein und schlang den Arm um den Gänserich. »Du sollst es schon lassen, fortzufliegen!« sagte er.

Aber gerade im selben Augenblick hatte der Gänserich entdeckt, wie er es anfangen mußte, um sich von der Erde emporzuheben. Er hatte keine Zeit, den Jungen abzuschütteln, der mußte mit ihm in die Luft hinauf.

Es ging so schnell aufwärts, daß dem Jungen die Luft wegblieb. Ehe es ihm klar wurde, daß er den Hals des Gänserichs freigeben mußte, war er so hoch oben, daß er sich totgefallen hätte, wenn er heruntergestürzt wäre.

Das einzige, was er tun konnte, um seine Lage ein wenig zu verbessern, war ein Versuch, auf den Rücken des Gänserichs hinaufzukommen. Er arbeitete sich wirklich da hinauf, wenn auch nicht ohne Mühe. Und es war auch keine leichte Sache, auf dem platten Rücken zwischen den beiden schwingenden Flügeln festzusitzen. Er mußte mit beiden Händen einen tiefen Griff in Federn und Flaumen hineinmachen, um nicht abzufallen.

Das gewürfelte Tuch.

Dem Jungen ward es so schwindelig, daß er lange nicht wußte, wie ihm war. Die Luft sauste und pfiff ihm entgegen, die Flügel bewegten sich, und es brauste in den Federn wie ein wahrer Sturm. Dreizehn Gänse flogen um ihn herum, und alle schlugen sie mit den Flügeln und schnatterten. Es flimmerte ihm vor den Augen, und es sauste ihm in den Ohren. Er wußte nicht, ob sie hoch oder niedrig flogen, oder wohin es mit ihnen ging.

Endlich kam er so weit zu sich, daß er begriff, er müsse sich klar darüber werden, wohin die Gänse mit ihm flogen. Aber das war nicht so leicht, denn er wußte nicht, woher er den Mut nehmen sollte, hinabzusehen. Er war fest überzeugt, daß ihn schwindeln würde, wenn er es versuchte.

Die wilden Gänse flogen nicht so sehr hoch, da der neue Reisekamerad nicht in der allerdünnsten Luft atmen konnte. Um seinetwillen flogen sie auch ein wenig langsamer als sonst.

Schließlich zwang der Junge sich doch, einen Blick auf die Erde hinabzuwerfen. Und es schien ihm, als liege unter ihm ein großes Tuch ausgebreitet, das in eine unglaubliche Menge kleiner und großer Würfel eingeteilt war.

»Wo in aller Welt bin ich nur hingekommen,« dachte er.

Er sah nichts anderes als Würfel an Würfel. Einige waren schief und einige waren länglich, aber überall waren da Ecken und gerade Seiten. Nichts war rund und nichts war gekrümmt.

»Was ist das doch für ein großes, gewürfeltes Tuch, das ich da unten sehe?« sagte der Knabe zu sich selbst, ohne eine Antwort von irgend jemand zu erwarten. Aber die wilden Gänse, die rings um ihn herumflogen, riefen sogleich: »Äcker und Wiesen. Äcker und Wiesen.«

Da begriff er, daß das große, gewürfelte Tuch das flache schonensche Land war, über das er hinflog. Und es ward ihm nach und nach klar, woher es so vielfarbig und gewürfelt aussah. Die hellgrünen Würfel erkannte er zuerst, das waren die Roggenfelder, die im Herbst besät waren und sich grün unterm Schnee gehalten hatten. Die gelblichgrauen Würfel waren Stoppelfelder, auf denen im letzten Sommer Korn gewachsen war, die bräunlichen waren Kleewiesen, und die schwarzen waren leere Rübenäcker oder umgepflügte Brachfelder. Die braunen Würfel mit den gelben Rändern waren wohl Buchenwälder, denn in denen sind die großen Bäume, die mitten im Walde stehen, im Winter kahl, die kleinen Buchen aber, die am Waldrande wachsen, behalten die trockenen, gelben Blätter bis ganz in den Frühling hinein. Da waren auch dunkle Würfel mit Grau in der Mitte: das waren die großen, zusammengebauten Gehöfte mit den dunklen Strohdächern und den gepflasterten Höfen. Und dann waren da Würfel, die in der Mitte grün schimmerten und eine Kante von Braun hatten; das waren die Gärten, in denen die Rasenplätze schon zu grünen anfingen, obwohl die Büsche und die Bäume rings um sie herum noch mit der kahlen, braunen Rinde dastanden.

Der Junge konnte sich eines Lachens nicht enthalten, als er sah, wie gewürfelt alles war.

Aber als die wilden Gänse hörten, daß er lachte, riefen sie gleichsam tadelnd: »Fruchtbares, gutes Land. Fruchtbares, gutes Land.«

Der Junge war schon wieder ernsthaft geworden. »Daß du lachen kannst!« dachte er, »du, dem das Allerschrecklichste widerfahren ist, was einem Menschen widerfahren kann!«

Er hielt sich eine Weile ernsthaft, bald mußte er aber wieder lachen.

Allmählich, als er sich an den Sitz und die Fahrt gewöhnt hatte, so daß er an etwas anderes denken konnte, als nur daran, wie er sich auf dem Rücken des Gänserichs festhalten sollte, fiel es ihm auf, wie voll die Luft von Vogelscharen war, die nordwärts flogen. Und da war ein Schreien und Rufen von einem Schwarm zum andern. »Also ihr seid heute auch übers Wasser gekommen,« riefen einige. – »Ja, das sind wir,« antworteten die Gänse. »Wie denkt ihr, daß es mit dem Frühling steht?« – Nicht ein Blatt an den Bäumen und kaltes Wasser in den Seen,« lautete die Antwort.

Wenn die Gänse über einen Ort dahinflogen, wo zahmes Federvieh draußen war, riefen sie: »Wie heißt der Hof? Wie heißt der Hof?« Und der Hahn machte einen langen Hals und antwortete: der Hof heißt Kleinhof, heut wie vorm Jahr, heut wie vorm Jahr.«

Die meisten Häuser hatten ja ihren Namen nach dem Besitzer, wie das in Schonen Sitte und Gebrauch ist, aber statt zu antworten, daß es Per Matssons oder Ola Bossons Haus sei, gaben ihnen die Hühner andere Namen, die sie passend fanden. Hähne, die auf ärmliche Anwesen der Häuslereien gehörten, riefen: »Dieser Hof heißt Grützlos.« Und andere, die zu den allerärmsten Hütten gehörten, riefen: »Dies Haus heißt: Kauewenig, Kauewenig, Kauewenig.«

Die großen, wohlhabenden Bauernhöfe bekamen seine Namen von den Hühnern, wie Glücksfeld, Eierberg und Geldheim.

Aber die Hähne auf den Rittergütern waren viel zu hochmütig, um sich etwas Amüsantes auszudenken. Einer von ihnen krähte und schrie mit einer Kraft, als wolle er, daß man ihn ganz bis zur Sonne hinauf hören sollte: »Dies ist das Rittergut Dybeck. Heut wie vorm Jahr. Heut wie vorm Jahr.«

Und ein wenig weiter hin stand einer und rief: »Dies ist Svaneholm. Das muß doch Gott und alle Welt wissen.«

Der Junge beobachtete, daß die Gänse nicht geradeaus flogen. Sie schwebten hierhin und dorthin über die ganze schonensche Ebene, als freuten sie sich, wieder da zu sein und hätten die größte Lust, jedes einzelne Gehöft zu besuchen.

Sie kamen an eine Stelle, wo einige mächtige Gebäude mit hohen Schornsteinen und rings um sie herum eine Menge kleinerer Häuser lagen. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik,« riefen die Hähne. »Das ist die Jordberger Zuckerfabrik.«

Der Junge schrak zusammen. Den Ort sollte er doch wohl kennen. Der lag nicht weit von seinem Heim, und im letzten Jahr hatte er dort als Hirtenbube gedient. Aber es schien, als wenn nichts sich so recht gleich sah, wenn man es so von oben betrachtete.

Aber nein, aber nein! Das Gänsemädchen Aase und der kleine Mads, die im vorigen Jahr seine Kameraden waren. Der Junge hätte gern gewußt, ob sie noch dort waren. Was würden sie wohl sagen, wenn sie ahnten, daß er hoch oben über ihrem Kopf dahinflog?

Dann verloren sie Jordberga aus den Augen und flogen auf Svedala und Skabersjö zu und zurück über das Börringer Kloster und Häkkeberga. Der Junge bekam an dem einen Tage mehr von Schonen zusehen, als während aller der Jahre, die er gelebt hatte.

Wenn die wilden Gänse zahme Gänse antrafen, amüsierten sie sich am allerbesten. Dann flogen sie ganz langsam und riefen hinab: »Jetzt geht es in die Berge. Wollt ihr mit? Wollt ihr mit?«

Aber die zahmen Gänse antworteten: »Es ist noch Winter. Ihr seid zu früh draußen. Kehrt um! Kehrt um!«

Die wilden Gänse flogen tiefer hinab, so daß man sie besser hören konnte, und riefen: »Kommt mit, dann wollen wir euch fliegen und schwimmen lehren.«

Dann wurden die zahmen Gänse böse und antworteten nicht mehr mit einem einzigen »Gack«.

Aber die wilden Gänse flogen noch tiefer hinab, so daß sie fast den Boden streiften, und dann stiegen sie wieder langsam, als seien sie sehr bange geworden. »Uha, uha!« riefen sie. »Das waren gar keine Gänse. Das waren nur Schafe. Das waren nur Schafe.«

Die Gänse auf dem Felde gerieten ganz außer sich und schrien: »Möchtet ihr erschossen werden, alle miteinander, alle miteinander!«

Wenn der Junge alle diese Scherze hörte, lachte er. Aber dann mußte er daran denken, welch ein Unglück er über sich selbst gebracht hatte, und dann weinte er. Aber nach einer Weile lachte er wieder.

Nie zuvor hatte er sich mit einer solchen Geschwindigkeit vorwärts bewegt, und er hatte doch immer so gern schnell und wild reiten mögen. Und er hatte natürlich nie geahnt, daß es da oben in der Luft so frisch sein konnte, wie es war, und daß ein so herrlicher Geruch von fetter Erde und Harz vom Erdboden aufstieg. Und er hatte auch gar nicht darüber nachgedacht, wie es wohl sein müßte, wenn man sich so hoch oben in der Luft bewegte. Aber es war, als flöge man fort von allem Leid und allen Sorgen und Verdrießlichkeiten, die man sich nur denken konnte.

X. Die Reise nach Öland

Sonntag, den 3. April.

Am nächsten Morgen flogen die wilden Gänse auf eine Schäreninsel hinaus, um zu weiden. Dort trafen sie mit einigen grauen Gänsen zusammen, die erstaunt waren, sie zu sehen, denn sie wußten sehr wohl, daß ihre Verwandten, die wilden Gänse, es vorziehen, über das Innere des Landes dahinzufliegen. Als sie schwiegen, sagte eine graue Gans, die so aussah, als wenn sie ebenso alt und ebenso klug sei wie Akka selber: »Es war ein großes Unglück für euch, daß der Fuchs in seinem eigenen Lande für friedlos erklärt wurde. Er hält sicher Wort und verfolgt euch bis ganz nach Lappland hinauf. Wäre ich an eurer Stelle, würde ich nicht nordwärts über Smaaland reisen, sondern lieber den Seeweg über Öland nehmen, damit er die Spur ganz verliert. Um ihn so recht auf falsche Fährte zu bringen, solltet ihr ein paar Tage auf der Südspitze von Öland bleiben. Da ist Weide genug und Gesellschaft genug. Ich glaube, ihr werdet es nicht bereuen, wenn ihr dahinüber reist.«

Das war nun wirklich ein kluger Rat, und die wilden Gänse beschlossen, ihn zu befolgen. Sobald sie sich gehörig satt gefressen hatten, machten sie sich auf den Weg nach Öland. Keine von ihnen war jemals dort gewesen, aber die graue Gans hatte ihnen Anweisung auf gute Wegweiser gegeben. Sie sollten nur in gerader südlicher Richtung weiter fliegen, bis sie dem großen Vogelzug begegneten, der an der Küste von Bleking entlang flog. Alle Vögel, die ihre Wohnung an der Nordsee hatten und sich nun auf dem Wege nach Finnland und Rußland befanden, flogen den Weg, und sie pflegten sich alle im Vorüberfahren auf Öland niederzulassen, um auszuruhen. Den wilden Gänsen würde es nicht an Wegweisern fehlen.

An diesem Tage war es ganz warm und still wie an einem Sommertage, das beste Wetter für eine Seereise, das man sich denken konnte. Das einzige Bedenkliche war, daß es nicht ganz klar war, denn der Himmel war grau und bedeckt. Hier und da standen mächtige Wolkenmassen, die ganz bis zur Meeresfläche herabhingen und die Aussicht verdeckten.

Als die Reisenden über die Schären hinausgekommen waren, lag das Meer so glatt und spiegelklar ausgebreitet da, daß der Junge, der zufällig hinabsah, glaubte, das Wasser sei verschwunden. Es war keine Erde mehr unter ihm. Er hatte nichts als Wolken und Himmel um sich. Es schwindelte ihn, und er klammerte sich ängstlicher an den Gänserücken an, als da er zum erstenmal dort saß. Es war, als könne er unmöglich dort sitzen bleiben, als müsse er nach der einen oder der andern Seite herunterfallen.

Noch schlimmer wurde es, als sie die großen Vogelzüge trafen, von denen die graue Gans geredet hatte. Es kam wirklich eine Schar nach der andern ganz in derselben Richtung. Sie folgten gleichsam einem abgesteckten Weg. Da waren wilde Enten und graue Gänse, Sammetenten und Lummen, Eisenten, Fischenten und Krickenten, Haubentaucher und Strandläufer. Als sich nun aber der Junge vornüberbeugte und nach der Richtung hinsah, wo das Meer liegen sollte, sah er den ganzen Vogelzug sich im Wasser widerspiegeln. Aber er war so umnebelt, daß er nicht begreifen konnte, wie das zuging; es schien ihm, als fliege die ganze Vogelschar mit dem Bauch nach oben. Er wunderte sich jedoch nicht so sehr hierüber, denn er wußte selber nicht, was oben und was unten war.

Die Vögel waren ermattet und ungeduldig, über das Wasser zu gelangen. Keiner von ihnen schrie oder sagte ein vergnügliches Wort, und das bewirkte, daß alles gleichsam so sonderbar unwirklich war.

»Wenn wir nun von der Erde weggeflogen sind!« sagte er zu sich selbst. »Wenn wir uns nun auf dem Wege nach dem Himmel hinauf befinden!«

Er sah nichts als Wolken und Vögel nach allen Seiten und allmählich fand er es ganz natürlich, daß sie nach dem Himmel hinaufflogen. Er freute sich und beschäftigte sich mit dem Gedanken, was er wohl da oben zu sehen bekommen würde. Der Schwindel war auf einmal wie weggeblasen. Er war so froh bei dem Gedanken, daß er zum Himmel hinauffuhr und der Erde entrann.

Im selben Augenblick hörte er ein paar Schüsse knallen und sah ein paar kleine, weiße Rauchsäulen aufsteigen.

Bewegung und Angst breitete sich unter den Vögeln aus: »Jäger! Jäger! Jäger in Booten!« riefen sie. »Fliegt hoch! Fliegt fort von ihnen!«

Da sah denn der Junge endlich, daß sie noch immer über der Meeresfläche flogen und keineswegs im Himmel waren. Auf dem Wasser lag eine lange Reihe kleiner Boote voll von Jägern, die einen Schuß nach dem andern abfeuerten. Die ersten Vogelscharen hatten sie nicht rechtzeitig bemerkt. Sie waren zu niedrig geflogen. Mehrere dunkle Vogelkörper sanken auf das Meer hinab, und für jeden, der fiel, stießen die Überlebenden laute Klagerufe aus.

Es war wunderlich für jemand, der eben noch geglaubt hatte, daß er im Himmel sei, zu einer solchen Not und Angst zu erwachen. Akka schoß in die Höhe, so schnell sie konnte, und dann flog die Schar mit der größtmöglichen Geschwindigkeit dahin. Die wilden Gänse entkamen auch unbeschädigt, aber der Junge konnte sich nicht von seiner Verwunderung erholen. Daß die Menschen es übers Herz bringen konnten, auf Wesen wie Akka und Yksi und Katsi und den Gänserich und die andern zu schießen! Die Menschen wußten wirklich nicht, was sie taten!

Und dann zogen sie wieder weiter in der stillen Luft und alles war stumm wie zuvor, nur daß einige ermattete Vögel hin und wieder riefen: »Sind wir noch nicht bald da? Seid ihr auch sicher, daß wir den richtigen Kurs innehalten?« Hierauf antworteten diejenigen, die an der Spitze flogen: »Wir steuern gerade auf Öland zu, gerade auf Öland zu!«

Die Stockenten waren müde, und die Lummen flogen an ihnen vorüber. »Beeilt euch nicht zu sehr!« riefen dann die Enten. »Ihr freßt uns alles Essen weg.« – »Da ist genug für euch und für uns,« antworteten die Lummen. Ehe sie noch so weit gekommen waren, daß sie Öland sehen konnten, bekamen sie ganz schwachen widrigen Wind. Der führte etwas mit sich, das gewaltigen Massen weißen Rauches glich, ganz so, als wenn irgendwo eine große Feuersbrunst sei.

Als die Vögel die ersten weißen Rauchwirbel angetrieben kommen sahen, wurden sie ängstlich und mäßigten ihre Eile. Aber das, was Rauch glich, wurde dichter und schließlich hüllte es sie ganz ein. Es war kein Geruch zu spüren, und der Rauch war nicht dunkel und trocken, sondern weiß und feucht. Bald wurde es dem Jungen klar, daß es nichts weiter war als Nebel.

Als der Nebel so dicht wurde, daß man nicht eine Gänselänge vor sich sehen konnte, benahmen sich die Vögel wie wilde, ausgelassene Buben. Sie, die bisher in der schönsten Ordnung geflogen waren, fingen an, Haschen zu spielen. Sie flogen die Kreuz und die Quer, um sich irre zu leiten. »Hütet euch!« riefen sie. »Ihr fliegt ja nur im Kreise! So kehrt doch um! Glaubt nicht, daß ihr auf diese Weise nach Öland kommt!«

Sie wußten alle recht gut, wo die Insel lag, aber sie taten ihr Bestes, um einander irre zu leiten. »Seht doch die Eisenten!« ertönte es aus dem Nebel. »Die fliegen nach der Nordsee zurück.« – »Nehmt euch in acht, ihr grauen Gänse!« wurde von einer andern Seite gerufen. »Wenn ihr so weiter fliegt, kommt ihr ganz nach Rügen hin!«

Es herrschte, wie gesagt, keine Gefahr, daß die Vögel, die gewohnt waren, diesen Weg zu ziehen, sich anderwärts hinlocken lassen sollten. Schwer aber war es für die wilden Gänse. Die Spektakelmacher merkten, daß sie des Weges nicht sicher waren, und taten alles, was sie konnten, um sie zu verwirren.

»Wo wollt ihr hin, ihr guten Leute?« rief ein Schwan. Er flog dicht an Akka heran und sah ernsthaft und teilnehmend aus.

»Wir wollen nach Öland, aber wir sind nie zuvor da gewesen,« sagte Akka. Sie meinte, er sei ein Vogel, dem sie trauen dürfe.

»Das ist schlimm!« sagte der Schwan. »Sie haben euch ja irre geleitet. Ihr seid auf dem Wege nach Bleking. Kommt jetzt mit mir, ich will euch den Weg zeigen.«

Und dann fuhr er mit ihnen von dannen, und als er sie so weit von der großen Heerstraße weggelockt hatte, daß sie keinen Ruf mehr hörten, verschwand er im Nebel.

Jetzt flogen sie eine Weile aufs Geratewohl umher. Kaum war es ihnen geglückt, wieder zu den Vögeln zurückzufinden, als eine wilde Ente auf sie zu kam. »Ihr tut am besten, wenn ihr euch auf das Wasser niederlegt, bis sich der Nebel verzogen hat,« sagte die Ente. »Man kann gleich merken, daß ihr nicht daran gewöhnt seid, euch auf Reisen zu behelfen!«

Fast wäre es den Spaßmachern gelungen, Akka ganz verwirrt zu machen. Soweit der Junge es beurteilen konnte, flogen die wilden Gänse eine lange Zeit im Kreise herum.

»Nehmt euch in acht! Seht ihr denn nicht, daß ihr auf und nieder fliegt?« rief eine Lumme, indem sie vorüberbrauste. Der Junge umfaßte unwillkürlich den Hals des Gänserichs fester. Davor war er schon lange bange gewesen.

Es ist unmöglich, zu sagen, wann sie Öland erreicht haben würden, wenn nicht in weiter Ferne ein dumpfer, dröhnender Schuß ertönt wäre.

Da streckte Akka den Hals aus, schlug hart mit den Flügeln und setzte sich in volle Fahrt, Jetzt hatte sie etwas, wonach sie sich richten konnte. Die graue Gans hatte ihr nämlich gesagt, sie solle sich nicht auf der äußersten Südspitze von Öland niederlassen, denn dort stünde eine Kanone, mit der die Menschen auf den Nebel zu schießen pflegten. Jetzt kannte sie die Richtung, und jetzt sollte niemand in der Welt sie mehr irreführen.

XI. Die Südspitze von Öland

Den 3. bis 6. April.

Auf dem südlichen Teil von Öland liegt ein altes Krongut, das Ottenby heißt. Es ist ein ziemlich großes Gut, das sich quer über die Insel erstreckt, von einer Küste zur andern, und es zeichnet sich dadurch aus, daß es immer der Aufenthaltsort von großen Tierscharen gewesen ist. Im siebzehnten Jahrhundert, als die Könige nach Öland zogen, um zu jagen, war das ganze Besitztum nur ein einziger großer Tiergarten. Im achtzehnten Jahrhundert war hier ein Gestüt, in dem edle Rassepferde gezüchtet wurden, und eine Schäferei von mehreren Hundert Schafen. Heutzutage gibt es weder Vollblutpferde noch Schafe bei Ottenby. Statt dessen sind dort große Scharen von jungen Pferden, die in den schwedischen Kavallerieregimentern benutzt werden.

Es gibt wohl kein Gut im ganzen Lande, das ein besserer Aufenthaltsort für Tiere wäre. An der Ostküste entlang liegt die alte Schäferwiese, die über eine Viertelmeile lang ist, die größte Wiese auf ganz Öland, wo die Tiere grasen und sich so frei tummeln können wie in der Wildnis. Und da ist der berühmte Ottenbyer Hain mit den hundertjährigen Eichen, die Schatten gegen die Sonne spenden und Schutz gegen den scharfen Ostwind. Und dann darf man nicht die lange Ottenbyer Mauer vergessen, die von einer Küste zur andern geht und Ottenby von dem übrigen Teil der Insel trennt, so daß die Tiere wissen können, wie weit das alte Königsbesitztum sich erstreckt, und sich hüten, andern Boden zu betreten, wo sie nicht so geschützt sind.

Aber nicht nur an zahmen Tieren herrscht Überfluß auf Ottenby. Man sollte fast glauben, daß auch die wilden Tiere ein Gefühl davon hätten, daß auf einem alten Krongut sowohl wilde als zahme Tiere Frieden und gute Tage gewärtigen dürfen, und daß sie sich deswegen in so großen Scharen dahin wagen. Nicht nur findet man dort noch Hirsche von dem alten Stamm, und nicht nur lieben Hasen und graue Enten und Rebhühner es, dort zu leben, sondern im Frühling und im Herbst ist es auch ein Ruheplatz für viele Tausende von Zugvögeln. Namentlich lassen sich die Zugvögel gern auf dem sumpfigen Oststrand unterhalb der Schäferwiese nieder, um dort zu weiden und zu ruhen.

Als die wilden Gänse und Niels Holgersen endlich den Weg nach Öland gefunden hatten, flogen sie wie alle die andern auf den Strand unterhalb der Schäferwiese nieder. Der Nebel lag dicht über der Insel wie vorher über dem Meere. Und doch staunte der Junge über alle die Vögel, die er nur auf dem kleinen Stück des Strandes, das er übersehen konnte, entdeckte.

Es war ein flaches Sandufer mit Steinen und Wasserlachen und einer Menge angespültem Tang. Hätte der Junge wählen können, wäre es ihm wohl kaum eingefallen, sich dort niederzulassen, aber die Vögel hielten es offenbar für ein wahres Paradies. Enten und graue Gänse gingen dort auf der Wiese und weideten, näher dem Wasser liefen Schnepfen und andere Strandvögel. Die Lummen lagen im Wasser und fischten, aber am meisten Leben und Bewegung herrschte auf den langen Tangbänken draußen im Wasser. Dort standen die Vögel dicht nebeneinander und pickten Würmer auf; deren gab es hier offenbar eine zahllose Menge, denn es schien nicht, als ertöne jemals Klage über Mangel an Nahrung.

Die allermeisten Vögel wollten weiter und hatten sich nur niedergelassen, um auszuruhen, und sobald der Anführer einer Schar der Ansicht war, daß er und seine Kameraden sich hinreichend erquickt hatten, sagte er: »Seid ihr jetzt fertig, so daß wir weiterkommen können?«

»Nein, warte, warte! Wir sind lange noch nicht satt!« sagten seine Begleiter.

»Bildet ihr euch ein, daß ich euch so viel fressen lassen will, bis ihr euch nicht mehr rühren könnt?« sagte der Anführer, schlug mit den Flügeln und machte sich davon. Aber es geschah mehr als einmal, daß er umkehren mußte, weil er die andern nicht mitbekommen konnte.

Vor den äußersten Tangbrücken lag eine Schar von Schwänen. Die machten sich nichts daraus, an Land zu gehen, sondern ruhten sich aus, indem sie auf dem Wasser lagen und sich wiegten. Hin und wieder tauchten sie mit dem Halse unter und holten sich Nahrung vom Meeresgrunde herauf. Wenn sie etwas richtig Gutes ergattert hatten, stießen sie einen lauten Ruf aus, der fast wie ein Trompetenstoß klang.

Als der Junge hörte, daß am Meeressaum Schwäne lagen, eilte er auf die Tangbrücke hinaus. Er hatte nie zuvor wilde Schwäne aus einer solchen Nähe gesehen. Das Glück war ihm hold, so daß er ganz zu ihnen herankam.

Der Junge war nicht der einzige, der die Schwäne gehört hatte. Sowohl die wilden Gänse als auch die grauen Gänse und die Enten und die Lummen schwammen zwischen die Bänke hinaus, legten sich rund im Kreis um die Schwäne und starrten sie an. Die Schwäne brausten mit den Federn, schlugen die Flügel auseinander wie Segel und streckten die Hälse hoch in die Luft empor. Hin und wieder schwamm einer von ihnen zu einer Gans oder einer Lumme oder einer Tauchente hin und sagte ein paar Worte. Und da war es, als fühle sich die Angeredete so beehrt, daß sie kaum wagte, den Schnabel zu einer Antwort zu öffnen.

Aber dann war da eine kleine Lumme, so ein richtiger kleiner, boshafter Galgenstrick, der alle diese Feierlichkeit nicht aushalten konnte. Sie tauchte plötzlich unter und verschwand unter der Meeresfläche, nach einer Weile stieß einer der Schwäne einen Schrei aus und schwamm so schnell von dannen, daß das Wasser schäumte. Dann hielt er inne und begann wieder majestätisch auszusehen. Aber gleich darauf schrie ein anderer und gebärdete sich genau auf dieselbe Weise, und dann schrie noch ein dritter ebenso.

Jetzt konnte die kleine Lumme sich nicht länger unter Wasser halten; sie tauchte auf und lag nun da auf den Wellen, klein und schwarz und boshaft. Die Schwäne stürzten sich auf sie, als sie aber sahen, was für ein kleines, jammervolles Ding es war, kehrten sie plötzlich um, als hielten sie sich zu gut, mit so einer zu zanken. Aber die kleine Lumme tauchte wieder nieder und schnappte nach ihren Füßen. Das tat ihnen schrecklich weh, aber das schlimmste war, daß es ihrer Würde Abbruch tat. Plötzlich aber machten sie dem Spiel ein Ende. Sie begannen, die Luft mit den Flügeln zu peitschen, so daß ein Getöse entstand, fuhren eine weite Strecke über das Wasser hin, gleichsam springend, bekamen endlich Luft unter die Flügel und schwangen sich hoch empor.

Es wurde so sonderbar leer, als sie weg waren, und diejenigen, die sich am allermeisten über den Einfall der kleinen Lumme belustigt hatten, schalten sie jetzt wegen ihrer Unverschämtheit aus.

Der Junge ging nun wieder an Land. Dort stellte er sich hin und sah dem Spiel der Schnepfen zu. Sie glichen winzig kleinen Kranichen, hatten wie diese einen kleinen Körper, hohe Beine, einen langen Hals und leichte, schwebende Bewegungen, nur waren sie nicht grau, sondern braun. Sie standen in einer langen Reihe am Strande, gerade da, wo die Wellen heraufspülten. Sobald eine Welle gerollt kam, lief die ganze Reihe rückwärts. Sobald sie wieder hinausgesogen wurde, folgten sie ihr. Und das setzten sie stundenlang fort.

Die hübschesten von allen Vögeln waren aber doch die Brandenten. Sie waren gewiß mit den zahmen Enten verwandt, denn sie hatten wie diese einen schwerfälligen, breiten Körper, einen flachen Schnabel und Schwimmfüße, aber sie waren viel prachtvoller ausgestattet. Das Federkleid selbst war weiß, aber um den Hals hatten sie ein breites, gelbes Band und an den Flügeln einen Spiegel, der in Grün, Rot und Schwarz schimmerte, die Flügelspitzen waren schwarz, und der Kopf war schwarzgrün und metallschimmernd.

Sobald einige von ihnen sich am Strande blicken ließen, sagten die andern Vögel: »Nein, seht die doch an! Die verstehen es weiß Gott, sich zu putzen!« – »Wären sie nicht so ausstaffiert, brauchten sie sich wohl nicht in die Erde hineinzugraben, sondern könnten unter offenem Himmel wohnen, wie unsereins,« sagte eine braune Grasente. – »Sie können sich anstrengen, so viel sie wollen, mit der Nase, die sie haben, werden sie doch niemals Staat machen,« sagte eine graue Gans. Und das verhielt sich wirklich so. Die Brandenten hatten einen großen Buckel auf der Nase, der ihr ganzes Gesicht entstellte.

Am Uferrande entlang fuhren Möwen und Seeschwalben über dem Wasser hin und her und fischten. – »Was für Fische fangt ihr denn da?« fragte eine wilde Gans. – »Das sind Stichlinge. Das sind öländische Stichlinge. Das ist der beste Fisch in der ganzen Welt!« sagte eine Möwe. »Willst du einmal kosten?« Und sie flog auf die Gans zu, den ganzen Mund voll von den kleinen Fischen und wollte sie ihr geben. – »Pfui! Huh! Glaubst du, daß ich solch Jux essen mag?« sagte die wilde Gans.

Am nächsten Morgen war es noch immer ebenso nebelig. Die wilden Gänse gingen auf der Wiese und weideten, aber der Junge war an den Strand hinab gegangen, um Muscheln zu sammeln. Es waren genug davon da, und da ihm einfiel, daß er vielleicht morgen irgendwo hinkommen würde, wo er gar kein Essen bekommen konnte, beschloß er, sich einen kleinen Beutel zu machen, den er mit Muscheln füllen konnte. Am Ufer stand eine ganze Menge welken Röhrichts, das steif und zäh war, und nun machte er sich daran, einen Ranzen daraus zu flechten. Die Arbeit nahm mehrere Stunden in Anspruch, aber er war auch sehr zufrieden damit, als sie beendet war.

Um die Mittagszeit kamen alle wilden Gänse zu ihm gelaufen und fragten, ob er nichts von dem weißen Gänserich gesehen habe. »Nein, er ist nicht hier bei mir gewesen,« sagte der Junge. – »Er ist noch ganz kürzlich mit uns zusammen gewesen,« sagte Akka, »aber jetzt wissen wir nicht, wo er geblieben ist.«

Der Junge erschrak heftig. Er fragte, ob sich ein Fuchs oder ein Adler habe blicken lassen, oder ob irgendein Mensch in der Nähe gewesen sei. Aber niemand hatte etwas Gefährliches bemerkt. Der Gänserich hatte sich nur im Nebel verirrt.

Aber für den Jungen war das Unglück gleichgroß, auf welche Weise er auch weggekommen sein mochte, und er machte sich sofort auf den Weg, um nach ihm zu suchen. Der Nebel beschützte ihn, so daß er laufen konnte, wohin er wollte, ohne gesehen zu werden, aber er hinderte ihn auch, selbst zu sehen. Er lief in südlicher Richtung an der Küste entlang, ganz hinab bis an den Leuchtturm und die Nebelkanone auf der Südspitze der Insel. Überall war ein Gewimmel von Vögeln, aber kein Gänserich. Er wagte sich ganz hinab bis zum Ottenbyer Schloß, und er durchsuchte jede einzelne von den alten, hohlen Eichen, fand aber keine Spur von dem Gänserich.

Er suchte, bis es anfing dunkel zu werden. Da mußte er sich an den östlichen Strand zurückbegeben. Er ging mit schweren Schritten und fühlte sich sehr bedrückt. Er begriff nicht, was aus ihm werden sollte, wenn er den Gänserich nicht fand. Niemand in der Welt konnte er schlechter entbehren als ihn.

Aber als er über die Schäferwiese wanderte, was war wohl das große Weiße, was ihm da entgegen kam? Niemand anderes als der Gänserich. Er war ganz unbeschädigt und sehr froh, sich zu den anderen zurückgefunden zu haben. Der Nebel habe ihn so wirr im Kopf gemacht, sagte er, daß er den ganzen Tag auf der großen Wiese rund herumgegangen sei. Der Junge schlang in seiner Freude beide Arme um den Hals des Gänserichs und bat ihn so herzlich, acht zu geben, und sich nicht von den andern zu entfernen. Er versprach denn auch ganz fest, daß er das nie wieder tun wolle. Nein, nie wieder!

Aber am nächsten Morgen, als der Junge an den Strand hinabging, um Muscheln zu suchen, kamen die Gänse gelaufen und fragten, ob er den Gänserich nicht gesehen habe.

Nein, er habe ihn nicht gesehen. Ja, jetzt sei der Gänserich wieder weg. Er habe sich wohl wieder im Nebel verlaufen, wie am Tage vorher.

Der Junge lief in großer Angst davon und begann zu suchen. Er fand eine Stelle, wo die Ottenbyer Mauer eingestürzt war, so daß er hinüberklettern konnte. Dann ging er unten an den Strand hinab, der sich allmählich erweiterte und so groß wurde, daß da Platz für Felder und Wiesen und Bauernhöfe war. Auch auf das flache Hochland oben auf der Insel ging er, wo keine anderen Gebäude waren als Windmühlen, und wo der Graswuchs so dünne war, daß der weiße Kalkfelsen hindurchschien.

Aber den Gänserich fand er nicht, und als es anfing, dunkel zu werden, so daß er ohne Ergebnis an den Strand zurückkehren mußte, war er fest überzeugt, daß sein Reisekamerad verschwunden sei. Er war so mutlos, daß er nicht wußte, wozu er greifen solle.

Er war eben über die Mauer geklettert, als er dicht neben sich einen Stein herunterrasseln hörte. Als er sich umwandte, um zu sehen, was es sei, war es ihm, als könne er etwas sehen, das sich in einem Steinhaufen hart an der Mauer bewegte. Er schlich sich näher heran und sah, wie der Weiße Gänserich mit großer Mühe den Steinhaufen hinaufkletterte; er hatte den Schnabel voller Wurzelfasern. Der Gänserich sah den Jungen nicht, und dieser rief ihn nicht an; er fand, daß es das vernünftigste war, sich erst klar darüber zu werden, warum der Gänserich so einmal über das andere verschwand.

Bald entdeckte er auch den Grund. Oben im Steinhaufen lag eine junge graue Gans, die vor Freude schrie, als der Gänserich kam. Der Junge schlich noch näher heran, um zu hören, was sie sagten, und so erfuhr er denn, daß die graue Gans ihren einen Flügel beschädigt hatte, so daß sie nicht fliegen konnte, und daß ihre Gefährten ihr weggeflogen waren, so daß sie einsam und verlassen dalag. Sie war dem Verhungern nahe gewesen, als der weiße Gänserich am vorhergehenden Tage ihr Schreien gehört und sie aufgesucht hatte. Seitdem hatte er ihr beständig Futter gebracht. Sie hatten beide gehofft, daß sie gesund werden könne, bis er die Insel verlassen mußte, aber noch konnte sie weder gehen noch fliegen. Sie war sehr betrübt darüber, aber er tröstete sie, daß er fürs erste nicht abreisen würde. Schließlich sagte er ihr Gutenacht und versprach, am nächsten Tage wiederzukommen.

Der Junge ließ den Gänserich gehen, aber kaum war er fort, als er auf den Steinhaufen hinaufschlich. Er war erzürnt darüber, daß der Gänserich ihn hinters Licht geführt hatte, und nun wollte er der grauen Gans wissen lassen, daß der Gänserich ihm gehörte. Er sollte ihn nach Lappland hinauftragen, und es sei keine Rede davon, daß er um ihretwillen zurückbleiben könne. Aber als er die junge Gans näher ansah, verstand er, warum der Gänserich ihr zwei Tage Futter gebracht hatte, und warum er nicht hatte erzählen wollen, daß er ihr behilflich war. Sie hatte das feinste kleine Köpfchen, das man sich denken konnte, das Federkleid war wie die weichste Seide, und die Augen waren sanft und flehend.

Als sie den Jungen erblickte, wollte sie davonlaufen. Aber der linke Flügel war aus dem Gelenk und schleppte an der Erde hin, so daß er sie in allen ihren Bewegungen hinderte.

»Du brauchst nicht bange vor mir zu sein,« sagte der Junge und sah gar nicht so böse aus, wie es seine Absicht gewesen war. »Ich bin Däumling, der Reisekamerad des Gänserichs Martin.« Und dann blieb er stehen und wußte nicht, was er weiter sagen sollte.

Es kann zuweilen in dem Ausdruck von Tieren etwas sein, das einen zu der Frage veranlaßt, was für Wesen sind sie eigentlich. Man hat ein Gefühl, daß sie verwandelte Menschen sein könnten. So etwas war da an der kleinen grauen Gans. Sobald Däumling sagte, wer er sei, verneigte sie sich mit dem Halse auf das niedlichste und sagte mit einer so schönen Stimme, daß der Junge unmöglich glauben konnte, daß es eine Gans war, die sprach: »Ich freue mich sehr, daß du hergekommen bist, um mir zu helfen. Der weiße Gänserich hat mir erzählt, daß niemand in der Welt so klug und gut ist wie du.«

Sie sagte das mit einer solchen Anmut und Würde, daß der Junge ganz verlegen wurde. »Das kann nie und nimmer eine richtige Gans sein,« dachte er. »Das ist sicher eine verzauberte Prinzessin.«

Er bekam große Lust, ihr zu helfen und schob die eine Hand unter die Federn und befühlte den Flügelknochen. Der war nicht gebrochen, aber er mußte aus dem Gelenk geraten sein, denn sein Finger geriet in eine leere Gelenkhöhle. »Gib jetzt acht!« sagte er, umfaßte den Knochen fest und preßte ihn da hinein, wo er sitzen sollte. Er machte das außerordentlich schnell und geschickt, wenn man bedenkt, daß es das erstemal war, daß er sich damit abgab, Doktor zu sein, aber es mußte sehr weh getan haben, denn die arme kleine Gans stieß einen einzigen wilden Schrei aus und sank zwischen den Steinen nieder, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben.

Der Junge erschrak sehr. Er hatte ihr helfen wollen, und nun war sie tot. Er eilte schleunigst von dem Steinhaufen herunter und machte sich, so schnell er konnte, aus dem Staube. Er hatte ein Gefühl, als habe er einen Menschen getötet.

Am nächsten Morgen hatte sich der Nebel verzogen, und Akka sagte, daß sie jetzt ihre Reise fortsetzen wollten. Alle die andern waren gleich bereit, nur der weiße Gänserich erhob Einwendungen. Der Junge verstand sehr wohl, daß er seine Freundin, die graue Gans, nicht verlassen wollte. Aber Akka wollte nicht auf ihn hören, und die Schar begab sich von dannen.

Der Junge sprang auf den Rücken des Gänserichs, und dieser folgte der Schar, wenn auch langsam und unwillig. Der Junge dahingegen war froh, von der Insel fortzukommen. Er hatte Gewissensbisse wegen der grauen Gans und hatte nicht gewagt, dem Gänserich zu erzählen, wie es zugegangen war, als er sie hatte kurieren wollen. Es war am besten, daß der Gänserich Martin nie etwas davon erfuhr, dachte er. Trotzdem wunderte er sich, daß der Gänserich es übers Herz bringen konnte, von ihr fortzureisen.

Aber plötzlich machte er kehrt. Er konnte seine kleine Freundin nicht vergessen. Mit der Reise nach Lappland mußte es gehen, wie es wollte, er aber konnte nicht von dannen fliegen, wenn er wußte, daß sie krank und verlassen dalag und verhungern mußte.

Mit ein paar Flügelschlägen war er bei dem Steinhaufen. Aber da lag keine graue Gans zwischen den Steinen. »Daunenfein! Daunenfein! Wo bist du?« schrie der Gänserich.

»Der Fuchs hat sie wohl gefunden und aufgefressen,« dachte der Junge. Im selben Augenblick aber hörte er eine weiche Stimme antworten: »Ich bin hier, Martin! ich bin hier! Ich war nur hinunter, um ein Morgenbad zu nehmen!« Und aus dem Wasser heraus kam die schöne, kleine Gans frisch und gesund und erzählte, wie Däumling ihren Flügel wieder eingerenkt habe, und daß sie nun ganz gesund sei und bereit, die Reise mit anzutreten.

Die Wassertropfen lagen gleich Perlen auf ihren seidenweichen Federn und Däumling dachte abermals, daß sie doch sicher eine richtige Prinzessin sei.

XII. Die kleine Karlsinsel


Der Sturm.

Freitag, den 8. April.

Die wilden Gänse hatten auf der Nordspitze von Öland übernachtet und waren nun auf dem Wege nach dem Festland. Über den Sund von Kalmar blies ein ziemlich starker Ostwind, so daß sie nach Norden zu getrieben waren. Trotzdem arbeiteten sie sich mit guter Geschwindigkeit nach dem Land hinüber. Als sie sich aber den ersten Schären näherten, hörten sie ein mächtiges Dröhnen, als wenn eine Menge flügelstarker Vögel dahergebraust käme, und das Wasser unter ihnen wurde auf einmal ganz schwarz. Akka hemmte ihren Flügelschlag so plötzlich, daß sie fast in der Luft still stehen blieb. Dann schwebte sie nieder, um auf die Meeresfläche hinabzukommen. Aber ehe die Gänse noch das Wasser erreicht hatten, holte der Weststurm sie ein. Schon jagte er Staubwolken, Salzschaum und kleine Vögel vor sich her; jetzt riß er auch die wilden Gänse mit fort, kehrte sie um und um und trieb sie nach dem Meer hinaus.

Es wurde ein unheimlicher Sturm. Wieder und wieder versuchten die wilden Gänse umzukehren, aber sie hatten keine Kraft dazu, sie wurden nach der Ostsee hinaus getrieben. Der Sturm hatte sie schon über Öland hingejagt, und nun lag das große, leere Meer vor ihnen. Da war nichts Weiteres zu tun als vor dem Wind zu lenzen, so gut sie konnten.

Als Akka merkte, daß sie nicht imstande waren, umzukehren, hielt sie es für notwendig, sich von dem Sturm über die ganze Ostsee treiben zu lassen. Sie schwebte deswegen auf das Wasser hinab. Der Seegang war schon sehr heftig, und er nahm mit jedem Augenblick zu. Dunkelgrün, mit siedendem Schaum auf dem Kamm kamen die Wellen dahergerollt. Eine erhob sich noch höher als die andere, es war, als wetteiferten sie, wer am höchsten komme, wer am wildesten schäumen konnte. Aber vor dem Wellengang waren die wilden Gänse nicht bange. Der war ihnen im Gegenteil ein großes Vergnügen. Sie strengten sich nicht mit Schwimmen an, sondern ließen sich auf den Wellenrücken hinauf und in das Wellental hinabspülen und belustigten sich dabei so gut wie Kinder in einer Schaukel. Ihre einzige Furcht war, daß die Schar zersplittert werden könne. Die armen Landvögel, die oben im Sturm vorbeitrieben, riefen neidisch: »Ja, ihr könnt wohl lachen, ihr könnt ja schwimmen!«

Aber deswegen waren die wilden Gänse wahrlich nicht aller Gefahr überhoben. Erstens machte dies Schaukeln sie so unwiderstehlich schläfrig. Jeden Augenblick überkam sie das Verlangen, den Kopf nach hinten zu legen und den Schnabel unter den Flügel zu stecken und zu schlafen. Es ist aber nichts so gefährlich, als unter solchen Umständen einzuschlafen, und Akka rief unaufhörlich: »Schlaft nicht ein, ihr wilden Gänse! Wer einschläft, wird von der Schar getrennt. Wer von der Schar getrennt wird, ist verloren!«

Trotz allen Bemühens zu widerstehen, schlief eine nach der andern ein, und selbst Mutter Akka war nicht weit davon entfernt, zu entschlummern, als sie plötzlich einen dunklen, runden Gegenstand sich aus dem Wasser emporheben sah. »Seehunde! Seehunde! Seehunde!« rief Mutter Akka mit starker und gellender Stimme und schwang sich mit klatschendem Flügelschlag in die Luft empor. Es war die höchste Zeit. Ehe die letzte wilde Gans dem Wasser entflohen war, hatten die Seehunde sich so weit genähert, daß sie nach ihren Füßen schnappten.

Dann waren die wilden Gänse wieder oben im Sturm, der sie vor sich her auf das Meer hinaustrieb. Er gönnte weder sich noch ihnen Ruhe. Und kein Land sahen sie, nur, nur Meer.

Sobald sie es wagen durften, ließen sie sich wieder auf das Wasser nieder. Aber als sie eine Weile auf den Wellen geschaukelt hatten, wurden sie wieder schläfrig. Und sobald sie einschliefen, kamen die Seehunde geschwommen. Wäre nicht die alte Akka so wachsam gewesen, so würde wohl kaum eine einzige von ihnen entkommen sein.

Der Sturm tobte den ganzen Tag, und er hauste entsetzlich zwischen den Scharen von Möwen und Zugvögeln, die um diese Zeit des Jahres auf der Wanderschaft begriffen sind. Einige wurden aus ihrem Kurs nach fernen Ländern verschlagen, wo sie verhungern mußten, andere waren schließlich so ermattet, daß sie ins Meer sanken und ertranken. Viele zerschellten an den Felswänden, und viele wurden ein Raub der Seehunde.

Den ganzen Tag währte der Sturm, und schließlich befiel Akka ein Zweifel, ob sie und ihre Schar wohl lebendig davonkommen würden. Sie waren todmüde, und nirgends erblickte sie einen Fleck, wo sie ruhen konnten. Gegen Abend wagte sie nicht mehr, sich auf dem Meer niederzulegen, weil dies jetzt auf einmal mit Eisschollen angefüllt war, die gegeneinander anprallten, und sie fürchtete, daß sie zwischen ihnen erdrückt werden könnten. Ein paarmal versuchten die wilden Gänse, sich auf die Eisschollen zu stellen. Aber einmal fegte der wilde Sturm sie in das Wasser hinein. Ein anderes Mal kamen die unbarmherzigen Seehunde auf das Eis gekrochen.

Bei Sonnenuntergang waren die Gänse noch einmal oben in der Luft. Sie flogen vorwärts, ängstlich vor der Nacht. Es war ihnen, als komme die Dunkelheit an diesem Abend, der so voller Gefahren war, allzu schnell über sie.

Es war entsetzlich, daß sie noch kein Land sahen. Wie sollte es ihnen ergehen, wenn sie gezwungen waren, die ganze Nacht draußen auf dem Meer zu verbringen. Entweder würden sie von den Eisschollen zermalmt, oder von den Seehunden gefressen, oder vom Sturm zerstreut werden.

Der Himmel war von Wolken verhüllt, der Mond versteckte sich dahinter, und die Dunkelheit brach früh herein. Als sie eintrat, war die ganze Natur von einem Grauen und einer Unheimlichkeit erfüllt, die selbst die mutigsten Herzen erbeben machten. Den ganzen Tag hatte man Schreie von Zugvögeln in Not über das Meer hinschallen hören, aber jetzt, wo man nicht mehr sehen konnte, woher die Schreie kamen, klangen sie unheimlich und furchteinflößend. Unten auf dem Meer stießen die Eisschollen mit mächtigem Krachen zusammen. Die Seehunde stimmten ihre wilden Jagdgesänge an. Es war, als sollten Himmel und Erde zusammenstürzen.

Die Schafe.

Der Junge hatte eine Weile dagesessen und in das Meer hinabgesehen. Plötzlich war es ihm, als werde das Brausen stärker als bisher. Er sah auf. Gerade vor ihm, nur drei oder vier Ellen entfernt, ragte eine kahle und rauhe Bergwand auf. An ihrem Fuß zerschellten die Wellen zu dem wildesten Schaumgischt. Die wilden Gänse flogen gerade auf die Klippe zu und der Junge konnte es sich nicht anders denken, als daß sie dagegen zerschmettert werden müßten.

Aber als er sich eben noch verwunderte, daß Akka diese Gefahr nicht beizeiten gesehen hatte, erreichten sie den Berg. Da entdeckte er auch gerade vor ihnen die halbrunde Öffnung zu einer Grotte. Dort hinein steuerten die Gänse, und im nächsten Augenblick befanden sie sich in Sicherheit.

Das erste, woran die Reisenden dachten, ehe sie sich Zeit ließen, sich ihrer Rettung zu freuen, war, daß sie nachsahen, ob auch alle ihre Kameraden in Sicherheit waren. Da waren Akka, Yksi, Kolme, Neljä, Biisi, Kuusi und alle sechs Gössel, der Gänserich, Daunenfein und Däumling, aber Kaksi aus Nuolja, die erste Gans auf dem linken Flügel, war verschwunden, und niemand wußte etwas über ihr Schicksal.

Als die Wildgänse entdeckten, daß keine andere als Kaksi von der Schar getrennt war, beruhigten sie sich. Kaksi war alt und klug. Sie kannte alle ihre Wege und Gewohnheiten, und sie würde schon zu ihnen zurückfinden.

Dann begannen die wilden Gänse, sich in der Höhle umzusehen. Es kam noch so viel Licht in die Öffnung hinein, daß sie sehen konnten, wie tief und breit die Grotte war. Sie freuten sich, ein so prächtiges Nachtquartier gefunden zu haben, als eine von ihnen plötzlich ein paar schimmernde, grüne Punkte entdeckte, die ihnen aus einem dunklen Winkel entgegenleuchteten. »Das sind Augen!« rief Akka; »hier drinnen sind große Tiere!« Sie stürzten auf den Ausgang zu, aber Däumling, der in der Dunkelheit besser sah als die wilden Gänse, rief ihnen zu: »Da ist kein Grund, bange zu sein. Es sind nur einige Schafe, die dort an der Wand der Grotte entlang liegen.«

Als sich die wilden Gänse an das Halbdunkel der Grotte gewöhnt hatten, konnten auch sie die Schafe deutlich erkennen. Die ausgewachsenen Schafe mochten ihnen wohl an Zahl gleich sein, aber außerdem waren noch einige kleine Lämmer da. Ein großer Widder mit langen, gewundenen Hörnern schien der vornehmste in der Schar zu sein. Die wilden Gänse traten vor ihn hin und verneigten sich tief. »Willkommen in der Wildnis!« grüßten sie, der Widder aber lag still und sagte kein Wort zur Bewillkommnung.

Die wilden Gänse glaubten nun, daß die Schafe ungehalten darüber seien, daß sie in ihre Grotte eingekehrt waren. »Es ist vielleicht nicht ganz angebracht, daß wir hier in der Grotte Unterkunft genommen haben?« fragte Akka. »Aber wir können nichts dazu tun, der Wind ist schuld daran. Der Sturm hat uns den ganzen Tag herumgepeitscht, und wir würden sehr dankbar sein, wenn wir die Nacht hierbleiben dürften.« Es währte sehr lange, bis eins der Schafe ein Wort erwiderte, aber man konnte deutlich hören, daß einige von ihnen tief seufzten. Akka wußte sehr wohl, daß Schafe immer sonderbare, scheue Tiere sind, aber es schien wirklich, als wenn diese nicht den geringsten Begriff von einem gebildeten Benehmen hätten. Endlich antwortete ein altes Mutterschaf mit langem und betrübtem Gesicht in klagendem Ton: Von uns wird euch niemand verbieten, hier zu bleiben, aber das Haus, in das ihr hineingekommen seid, ist ein Haus der Trauer, und wir können Gäste nicht wie in alten Zeiten empfangen.« – »Deswegen sollt ihr euch nicht grämen,« erwiderte Akka. »Wüßtet ihr, was wir im Laufe des Tages haben durchmachen müssen, so würdet ihr verstehen, daß wir zufrieden sind, wenn wir nur einen sicheren Fleck haben, wo wir schlafen können.«

Als Akka das gesagt hatte, erhob sich das alte Schaf. »Ich glaube, es würde besser für euch sein, in dem ärgsten Sturm zu fliegen, als hier zu bleiben. Aber jetzt sollt ihr doch nicht von hier fortgehen, ehe wir euch die Bewirtung geboten haben, die das Haus zu geben vermag.«

Dann führte sie sie an ein Loch in der Erde, das voll Wasser war. Daneben lag ein Haufen Streu und altes Stroh, und damit bat sie sie, fürlieb zu nehmen. »Wir haben in diesem Jahr einen strengen Schneewinter hier auf der Insel gehabt,« sagte sie. »Die Bauern, denen wir gehören, kamen mit Heu und Stroh hier hinaus zu uns, damit wir nicht tothungern sollten. Und das ist alles, was wir noch übrig haben.«

Die Gänse stürzten sich sofort über das Fressen. Sie fanden, daß sie großes Glück gehabt hatten und gerieten in beste Laune. Sie bemerkten wohl, daß die Schafe bedrückt waren, aber sie wußten ja, daß Schafe gar leicht bange werden, und sie glaubten nicht, daß irgendwelche Gefahr vorliege. Sobald sie gegessen hatten, wollten sie sich wie gewöhnlich zum Schlafen hinsetzen. Aber da erhob sich der große Widder und kam zu ihnen hin. Die Gänse meinten, sie hätten nie im Leben einen Widder mit so langen und dicken Hörnern gesehen. Auch in anderer Beziehung war er merkwürdig. Er hatte eine große, knorrige Stirn, kluge Augen und hielt sich so aufrecht, als sei er ein stolzes und mutiges Tier.

»Ich kann es nicht verantworten, euch hier schlafen zu lassen, ohne euch zu erzählen, wie unsicher es hier ist,« sagte er. »Wir können in jetziger Zeit keine Nachtgäste aufnehmen.« Erst jetzt wurde es Akka klar, daß es Ernst war. »Wir werden schon wieder abreisen, wenn ihr es so bestimmt wünschet,« sagte sie. »Wollt ihr uns nicht aber erst erzählen, was euch quält? Wir wissen nichts, und wir wissen nicht einmal, wie dieser Ort heißt.« – »Er heißt die kleine Karlsinsel,« entgegnete der Widder. »Die Insel liegt in der Nähe von Gulland, und hier wohnen nur Schafe und Wasservögel.« – »Ihr seid vielleicht wilde Schafe?« fragte Akka. – »Davon sind wir gar nicht weit entfernt,« erwiderte der Widder. »Wir haben nicht viel mit Menschen zu schaffen. Es ist eine alte Übereinkunft zwischen uns und den Bauern auf einem Gehöft drüben auf Gulland, daß sie uns mit Futter versorgen sollen, wenn ein Schneewinter eintritt, und dafür haben sie die Erlaubnis, diejenigen von uns zu nehmen, die überzählig sind. Die Insel ist klein, so daß sie nicht viele Schafe ernähren kann. Im übrigen aber sorgen wir das ganze Jahr allein für uns, und wir wohnen nicht in Häusern mit Türen und Schlössern, sondern wir haben unsern Unterschlupf in Grotten wie diese hier.«

»Bleibt ihr auch im Winter hier draußen?« fragte Akka erstaunt. – »Freilich tun wir das,« antwortete der Widder. »Wir haben das ganze Jahr hindurch gute Weide hier oben auf dem Berge.« – »Ich sollte meinen, ihr habt es besser als andere Schafe,« sagte Akka. »Aber was für ein Unglück ist denn nur über euch gekommen?« – »In diesem Winter herrschte eine schreckliche Kälte. Das Meer fror zu, und da kamen drei Füchse hierher über das Eis gewandert, und die sind seither hier geblieben. Sonst gibt es auf der ganzen Insel kein lebensgefährliches Tier.« – »Ach, macht sich denn der Fuchs auch an so jemand wie ihr heran?« – »Nein, nicht am Tage, da kann ich mich und die Meinen schon verteidigen,« sagte der Widder und schüttelte die Hörner. »Aber sie schleichen sich des Nachts, wenn wir drinnen in der Grotte schlafen, an uns heran. Wir tun, was wir können, um uns wach zu halten, aber hin und wieder muß man ja schlafen, und dann überfallen sie uns. Sie haben schon die sämtlichen Schafe in den anderen Grotten getötet, und da waren Herden, die ebenso groß waren wie die meine.«

»Es ist nicht angenehm zu erzählen, wie hilflos wir sind,« sagte das alte Mutterschaf. »Wir sind nicht besser gestellt, als wenn wir zahme Schafe wären.« – »Glaubt ihr, daß die Füchse auch über Nacht kommen werden?« fragte Akka. – »Es ist wohl anzunehmen,« erwiderte das alte Schaf. »Vorige Nacht waren sie hier und stahlen uns ein Lamm. Sie kommen sicher wieder, so lange noch eins von uns am Leben ist. Das haben sie in den andern Grotten getan.« – »Aber wenn es so weiter geht, werdet ihr ja ganz vernichtet,« sagte Akka. – »Ja, es währt wohl nicht mehr lange, bis es mit allen Schafen auf der kleinen Karlsinsel vorbei ist,« sagte das Schaf.

Akka ging sehr mit sich zu Rat. Es war nicht erfreulich, wieder in den Sturm hinaus zu müssen, aber es war auch nicht gut, in einem Haus zu bleiben, wo solche Gäste zu erwarten waren. Als sie eine Weile über die Sache nachgedacht hatte, wandte sie sich an Däumling. »Ob du, der du uns schon so oft geholfen hast, uns nicht auch jetzt helfen willst?« fragte sie. Ja, das wollte der Junge gern. »Es tut mir ja sehr leid für dich, daß du nicht schlafen kannst,« sagte die wilde Gans. »Glaubst du aber nicht, daß du dich wach halten könntest, bis der Fuchs kommt, um uns dann zu wecken, so daß wir fortfliegen können?« Der Knabe war ja nicht sonderlich erfreut über diesen Vorschlag, aber alles war noch besser als wieder in den Sturm hinaus zu müssen, so versprach er denn, sich wach zu halten.

Als er eine Weile dort gesessen hatte, war es, als flaue der Sturm ab. Der Himmel wurde klar, und der Mondschein spielte auf den Wellen. Der Junge ging dicht an die Öffnung, um hinauszusehen. Die Grotte lag hoch oben auf dem Berge. Ein schmaler, steiler Pfad führte da hinauf, auf dem würde er die Füchse wohl erwarten können.

Lange sah er nichts weiter als das Meer und die Klippen, die Kobolden und Wassermännern glichen, so daß man bange vor ihnen werden mußte. Aber plötzlich hörte er eine Kralle gegen einen Stein kratzen, und da vergaß er die Furcht vor den Kobolden. Es fiel ihm ein, daß es unrecht sei, die Gänse zu wecken und die Schafe ihrem Schicksal zu überlassen; ob er nicht etwas Besseres ersinnen konnte?

Schnell lief er in die Grotte hinein, packte den Widder bei den Hörnern und rüttelte ihn wach, und dann setzte er sich auf seinen Rücken. »Steht auf, Vater!« sagte der Junge, »dann wollen wir versuchen, ob wir den Füchsen nicht einen kleinen Schrecken einjagen können.«

Er hatte sich Mühe gegeben, so still wie möglich zu sein, aber die Füchse mußten doch etwas gehört haben. Als sie an den Eingang der Grotte kamen, blieben sie stehen und besannen sich. »Da hat sich ganz gewiß einer von ihnen da drinnen gerührt,« sagte der eine. »Ob sie wach sein sollten?« – »Ach, geh du nur hinein!« sagte der andere; »sie können uns ja doch nichts tun.«

Als sie weiter in die Grotte hineingekommen waren, blieben sie stehen und schnüffelten. »Wen sollen wir heute abend nehmen?« flüsterte der Fuchs, der voranging. – »Heut abend wollen wir den großen Widder nehmen,« sagte der hinterste, »dann haben wir leichtes Spiel mit den anderen.«

Der Junge saß auf dem Rücken des alten Widders und sah sie heranschleichen. »Stoß jetzt nur zu, geradeaus!« flüsterte der Junge. Der Widder stieß zu, und der vorderste von den Füchsen bekam einen Stoß, daß er einen Purzelbaum hintenüber schlug und auf den Ausgang zu rollte. »Stoß jetzt nach links zu!« sagte der Junge und drehte den Kopf des Widders in der Richtung herum. Der Widder stieß aus Leibeskräften und traf den zweiten Fuchs in die Seite. Der rollte mehrmals rund herum, ehe er wieder auf die Beine kam und entfliehen konnte. Der Junge wünschte nur, daß auch der dritte Fuchs einen Stoß bekommen hätte, aber der hatte sich schon aus dem Staube gemacht.

»Jetzt, denke ich, haben sie genug für über Nacht bekommen,« sagte der Junge. – »Das denke ich auch,« sagte der große Widder. »Leg dich jetzt auf meinen Rücken und krieche in die Wolle hinein! Du hast es wohl verdient, gut und warm zu liegen nach all dem Sturm, in dem du draußen warst.«

Das Höllenloch.

Sonnabend, den 9. April.

Am nächsten Tage ging der alte Widder mit dem Jungen auf dem Rücken umher und zeigte ihm die Insel. Sie bestand aus einem einzigen mächtigen Klippenblock. Sie war wie ein schwarzes Haus mit lotrechten Wänden und flachem Dach. Der Widder ging erst auf das flache Dach hinauf und zeigte dem Jungen die guten Grasweiden dort, und der Junge mußte einräumen, daß die Insel wie für Schafe geschaffen war. Dort oben wuchs nicht viel weiter als Schafschwingel und solche kleine, trockene, würzige Kräuter, wie sie die Schafe lieben.

Aber da war wahrlich anderes zu sehen als Schaffutter für den, der ein klein wenig höher hinauf gekommen war. Da sah man erstens das ganze Meer, das jetzt blau und sonnenbeschienen dalag und in blanken Dünungen rollte; nur hier und da an einer Klippenspitze spritzte der Schaum in die Luft hinauf. Gerade gegenüber lag Gulland mit seiner langen und geraden Küste, und im Südwesten lag die große Karlsinsel, die ganz so gebaut war wie die kleine Karlsinsel. Als der Widder hart an den Rand des Klippendaches ging, so daß der Junge an den Felswänden herabsehen konnte, entdeckte er, daß sie ganz voll von Vogelnestern waren, und in dem blauen Meer unter ihm lagen Krickenten und Sammetenten und Eidervögel und Lummen und Alken still und friedlich und belustigten sich damit, Heringe zu fischen.

»Das ist doch ein herrliches Land hier,« sagte der Junge. »Ihr wohnt wirklich hübsch, ihr Schafe.« – »Ja, schön ist es hier,« sagte der alte Widder. Es war, als hätte er noch mehr sagen wollen, aber er seufzte nur. »Wenn du hier aber alleine gehst, mußt du dich vor allen den Spalten in acht nehmen, die durch den Berg gehen,« fügte er nach einer Weile hinzu. Die Warnung kam gerade zur rechten Zeit, denn da waren an mehreren Stellen tiefe und breite Spalte. Der größte davon hieß das Höllenloch. Es war viele Klafter tief und fast einen Klafter breit. »Fällt man da hinab, so ist es gleich mit einem aus,« sagte der Widder. Dem Jungen wollte es scheinen, als bezwecke er etwas mit den Worten.

Dann führte er den Jungen an den Strand hinab. Nun bekam er die Kobolde, vor denen er in der Nacht so bange gewesen war, aus nächster Nähe zu sehen; sie waren nichts weiter als große Klippenblöcke. Der Junge konnte sich nicht satt daran sehen; er dachte, wenn es jemals Kobolde gegeben hatte, die in Stein verwandelt worden waren, so müßten sie so ausgesehen haben.

Aber da unten am Strande war noch etwas anderes, was noch unheimlicher war. Überall lagen dort tote Schafe. Es schien so, als wenn die Füchse hier ihre Mahlzeit abgehalten hätten. Er sah Skelette, die ganz abgeschält waren, aber auch Schafleiber, die nur halb verzehrt waren und andere, von denen sie kaum gekostet, und die sie dann hatten liegen lassen. Es war geradezu herzzerreißend, zu sehen, wie sich die Raubtiere nur der Belustigung halber, nur um zu jagen und zu zerreißen, über die Lämmer gestürzt hatten.

Der Widder ging still an toten Schafen vorüber, der Junge aber konnte nicht umhin, all das Traurige zu sehen.

Jetzt klomm der Widder wieder die Felsenhöhe hinan, als er aber ganz hinaufgekommen war, blieb er stehen und sagte: »Wenn jemand, der klug und tapfer ist, all das Elend sehen könnte, das hier herrscht, würde er sicher keine Ruhe finden, bis die Füchse ihre verdiente Strafe erhalten hatten.« – »Die Füchse müssen wohl auch leben,« sagte der Junge. – »Ja,« erwiderte der Widder, »alle, die nicht mehr Tiere töten, als sie zu ihrem Unterhalt gebrauchen, dürften am Leben bleiben. Aber solche Missetäter!« – »Könnten die Bauern, denen die Insel gehört, denn nicht herüberkommen und euch helfen?« fragte der Junge. – »Sie sind mehrmals hier gewesen,« antwortete der Widder, »aber die Füchse verstecken sich in Höhlen und Spalten, so daß sie nicht dazu kommen können, sie zu erschießen.« – »Du denkst doch wohl nicht, daß so ein armer kleiner Wicht wie ich, den Tieren den Garaus machen kann, mit denen weder ihr noch die Bauern fertig werden könnt?« – »Ein kleiner und verwegener Kerl ist besser als ein großer und träger,« sagte der alte Widder.

Dann sprachen sie nicht mehr über die Sache, aber der Junge lief hin und setzte sich zu den wilden Gänsen, die dort weideten. Obwohl er es den Widder nicht sehen lassen wollte, war er doch sehr betrübt um der armen Schafe willen und wünschte von Herzen, daß er ihnen helfen könne. »Ich will mit Akka und dem Gänserich Martin darüber reden,« dachte er, »vielleicht können die einen guten Rat ersinnen.«

Nach einer Weile nahm der weiße Gänserich den Jungen auf den Rücken und ging über die Ebene auf das Höllenloch zu.

Er ging ganz sorglos über die offene Hochebene dahin, und es schien gar nicht, als denke er daran, wie weit und wie groß sie war. Er versteckte sich nicht hinter Erdhügeln oder Steinen, sondern ging geradeaus. Es war merkwürdig, daß er nicht vorsichtiger war. denn offenbar war er doch in dem Sturm am Tage zuvor zu Schaden gekommen; er hinkte auf dem rechten Bein und schleppte den linken Flügel hinter sich her, als sei er geknickt.

Er ging, als herrsche Friede und keine Gefahr, biß hier einen Grashalm ab und dort einen andern, und sah weder nach rechts noch nach links. Der Junge lag bequem hingegossen auf seinem Rücken und sah in den blauen Himmel hinauf. Er war nun so daran gewöhnt, zu reiten, daß er auf dem Gänserücken sowohl stehen als auch liegen konnte.

Da der Junge und der Gänserich beide so unbekümmert waren, merkten sie gar nicht, daß die drei Füchse aus dem Felsenspalt hervorgekommen waren.

Und die Füchse, die wußten, daß es fast unmöglich war, einer Gans auf offenem Felde zu Leibe zu kommen, dachten im Anfang gar nicht daran, hinter dem Gänserich drein zu jagen. Da sie aber nichts weiter zu tun hatten, versteckten sie sich doch schließlich bald in den einen, bald in den anderen Felsenspalt, um dem Gänserich aufzulauern, der sie offenbar gar nicht bemerkt hatte.

Als der Gänserich ziemlich nahe an den Spalt herangekommen war, in dem sie saßen, machte er einen Versuch, sich in die Luft emporzuschwingen. Er schlug mit den Flügeln, aber er konnte nicht in die Höhe gelangen. Nun konnten die Füchse sehen, daß er nicht imstande war, zu fliegen und deswegen schlichen sie jetzt mit noch größerem Eifer an ihn heran. Sie hielten sich nicht länger in den Felsspalten versteckt, sondern kamen auf die offene Hochebene hinaus. Sie verbargen sich, so gut sie konnten, hinter Erderhöhungen und Steinen und kamen dem Gänserich immer näher, ohne daß der jedoch zu bemerken schien, daß jemand hinter ihm drein war. Schließlich waren die Füchse so nahe gekommen, daß sie den Sprung wagen konnten. Sie warfen sich alle auf einmal mit einem mächtigen Satz über den Gänserich.

Im letzten Augenblick mußte der jedoch bemerkt haben, daß da irgend etwas vor sich ging, denn er sprang zur Seite, so daß die Füchse ihren Sprung verfehlten. Dem Gänserich half das nun freilich nicht viel, denn er hatte ja nur einen kleinen Vorsprung vor ihnen, und außerdem hinkte er ja auch. Der Ärmste stürzte davon, so gut er konnte. Und Gänse können ja schrecklich schnell laufen, so daß es sogar einem Fuchs schwer werden kann, sie einzuholen.

Der Junge ritt rücklings auf dem Gänserücken und schrie den Füchsen zu: »Ihr habt euch viel zu dick am Hammelfleisch gefressen! Ihr könnt nicht einmal eine Gans mehr einholen!« Er neckte sie, so daß sie ganz rasend vor Wut wurden und an nichts weiter dachten, als ihm nachzustürzen.

Der weiße Gänserich lief gerade auf die große Schlucht zu. Als er dahin gelangt war, machte er einen Schlag mit den Flügeln, so daß er auf die andere Seite hinübergelangte. Da waren ihm die Füchse dicht auf den Fersen.

Der Gänserich rannte in unverminderter Hast weiter, auch nachdem er auf der anderen Seite der Höllenschlucht angelangt war. Als er aber ungefähr zehn Ellen gelaufen war, klopfte der Junge ihn auf den Hals und sagte: »Jetzt kannst du gern stehen bleiben, Martin.«

Im selben Augenblick hörten sie hinter sich ein wildes Geheul, ein heftiges Kratzen von Krallen und einige schwere, aufklatschende Laute. Von den Füchsen aber sahen sie nichts.

Am nächsten Morgen fand der Leuchtturmwärter auf der großen Karlsinsel ein Stück Baumrinde, das unter die Tür geschoben und worauf mit schiefen, unbeholfenen Buchstaben gekratzt war: »Die Füchse auf der kleinen Karlsinsel sind in das Teufelsloch gefallen. Sieh dich nach ihnen um!«

Und das tat der Leuchtturmwärter.

XIII. Zwei Städte


Auf Meeresgrund.

Sonnabend, den 9. April.

Es wurde eine stille, klare Nacht. Die wilden Gänse machten sich nichts daraus, Unterschlupf in einer der Grotten zu suchen, sie standen und schliefen oben auf der Klippenfläche, und der Junge hatte sich in das kurze, trockene Gras neben die Gänse gelegt.

Es war heller Mondschein in jener Nacht, so hell, daß es dem Jungen schwer wurde, einzuschlafen. Er lag da und dachte darüber nach, wie lange er von Hause fort gewesen war, und er rechnete aus, daß drei Wochen verflossen waren, seit die Reise begann. Gleichzeitig fiel ihm ein, daß heute der Abend vor Ostern war.

»Über Nacht kommen also die Hexen von Blaakulla heim,« dachte er und lachte im stillen. Denn vor Kobolden und Nixen war er ein wenig bange, aber an Hexen und Zauberer glaubte er gar nicht.

Wären an jenem Abend Hexen in der Luft gewesen, hätte er sie sicher sehen müssen. Der Himmel war so hell und klar, daß auch nicht der kleinste schwarze Punkt sich in der Luft bewegen konnte, ohne daß er ihn entdeckte.

Während er so dalag, die Nase in die Luft, und über das alles nachdachte, gewahrte er etwas Hübsches. Die Mondscheibe stand ganz und rund hoch oben, und davor kam ein großer Vogel geflogen. Er flog nicht an dem Mond vorbei, aber es sah so aus, als ob er aus ihm herausgeflogen käme. Gegen den hellen Himmel nahm sich der Vogel kohlschwarz aus, und die Flügel reichten von dem einen Rande der Mondscheibe bis zu der andern. Er hielt die Richtung so genau inne, daß es für den Jungen so aussah, als sei er auf die Mondscheibe gezeichnet. Der Körper war klein, der Hals lang und dünn, und ein Paar lange, dünne Beine hatte er nach hinten ausgestreckt. Der Junge sah sofort, daß es ein Storch sein müsse.

Einen Augenblick später ließ sich Herr Langbein, der Storch, neben ihm nieder. Er beugte sich über den Jungen und stieß ihn mit dem Schnabel, um ihn wach zu bekommen.

Der Junge richtete sich sofort auf. »Ich schlafe nicht, Herr Langbein,« sagte er. »Wie kommt es, daß Sie mitten in der Nacht ausgeflogen sind? Und wie sieht es auf Glimminghaus aus? Wollen Sie mit Mutter Akka sprechen?«

»Es ist zu hell, um über Nacht zu schlafen,« antwortete Herr Langbein, »Deswegen beschloß ich, hierher nach der Karlsinsel hinüber zu reisen und dich, mein Freund Däumling, aufzusuchen. Von einer Fischmöwe erfuhr ich, daß du über Nacht hier seiest. Ich bin noch nicht nach Glimminghaus gezogen; ich wohne noch in Pommern.«

Der Junge freute sich ungeheuer, daß Herr Langbein gekommen war, um ihn zu sehen. Sie redeten über alles mögliche miteinander wie alte Freunde. Schließlich fragte der Storch, ob der Junge nicht Lust habe, einen kleinen Ritt in dem schönen Mondschein zu machen.

Ja, das wollte der Junge für sein Leben gern, wenn der Storch nur dafür sorgen wollte, daß er vor Sonnenaufgang zu den wilden Gänsen zurückkam. Das versprach der Storch, und dann ging es von dannen.

Herr Langbein flog wieder gerade nach dem Mond hinauf. Sie stiegen und stiegen, das Meer sank tief hinab, aber der Flug ging so wunderbar leicht, es war fast, als lägen sie still in der Luft.

Der Junge fand, die Reise habe eine unnatürlich kurze Zeit gewährt, als sie sich wieder zu der Erde hinabsenkten.

Sie landeten an einem einsamen Strande, der mit feinem, weißem Sand bedeckt war. An der Küste entlang lief eine Reihe von Flugsanddünen mit Riedgras auf dem Gipfel. Sonderlich hoch waren sie nicht, aber sie hinderten doch den Jungen, das Land zu übersehen.

Herr Langbein stellte sich auf eine Sandbank, zog das eine Bein unter sich in die Höhe und bog den Hals zurück, um den Kopf unter den Schnabel zu stecken. »Jetzt kannst du hier am Strande ein wenig umherspazieren,« sagte er zu Däumling, »während ich mich ausruhe. Gehe aber nicht weiter weg, als daß du dich zu mir zurückfinden kannst.«

Der Junge wollte nun erst auf eine der Dünen hinaufklettern, um zu sehen, wie es dahinter aussah. Als er aber ein paar Schritte gegangen war, hörte er etwas gegen seinen Holzschuh klirren. Er beugte sich hinab und sah, daß im Sande eine kleine Kupfermünze lag, die so von Grünspan verzehrt war, daß sie fast durchsichtig erschien. Sie war so klein und schlecht, daß er nicht einmal Lust hatte, sie aufzunehmen, sondern sie mit dem Fuße wegstieß.

Als er sich aber wieder aufrichtete, erschrak er, denn kaum zwei Schritt von ihm ragte eine hohe Mauer mit einem Torweg mit Türmen darüber auf.

Eben noch, als sich der Junge niederbeugte, hatte das Meer dortgelegen, blank und glitzernd, und jetzt war es durch eine lange Mauer mit Zinnen und Türmen seinen Blicken entzogen. Und gerade vor ihm, wo eben noch ein Haufen Tang gelegen, gähnte nun das große Tor.

Der Junge begriff, daß dies eine Art Spuk sein müsse. Aber davor brauchte er ja nicht bange zu werden, fand er. Da waren keine Kobolde oder anderer Teufelskram von der Art, dem in der Nacht zu begegnen er sich immer scheute. Die Mauern wie auch der Torweg waren so prächtig, daß er große Lust empfand, zu sehen, was dahinter sein könne. »Ich muß wirklich untersuchen, wie dies hier zusammenhängt,« dachte er und begab sich in das Tor hinein.

In der tiefen Torwölbung saß die Wachtmannschaft in bunten Gewändern mit großen Puffärmeln und mit langschaftigen Hellebarden an der Seite; sie spielten Würfel und dachten nur an das Spiel und beachteten den Jungen nicht, der an ihnen vorübereilte.

Jenseits des Tors kam er auf einen freien, mit großen, glatten steinernen Fliesen belegten Platz. Ringsum standen hohe, prächtige Häuser, und lange, schmale Straßen gingen von dort aus.

Auf diesem Platz wimmelte es von Menschen. Die Männer trugen lange, pelzgefütterte Mäntel über kostbaren Unterkleidern aus Seide, Baretts mit Straußenfedern saßen ihnen schief auf dem Kopf und über der Brust hingen breite goldene Ketten. Sie waren alle so prachtvoll gekleidet, als könnten sie Könige sein.

Die Frauen hatten hohe, spitze Hauben auf dem Kopfe und lange Kleider mit engen Ärmeln. Auch sie waren prächtig gekleidet, jedoch längst nicht so kostbar wie die Männer.

Es war ja ganz so wie in dem alten Märchenbuch, das seine Mutter zuweilen aus der Truhe nahm und ihm zeigte. Der Junge wollte seinen Augen nicht trauen.

Aber noch merkwürdiger als die Männer und die Frauen, war die Stadt selber. Jedes einzelne Haus war so gebaut, daß es den Giebel nach der Straße kehrte, und diese Giebel waren so verziert, daß man glauben sollte, sie wollten miteinander wetteifern, welcher von ihnen der feinste sei.

Wer auf einmal so viel Neues zu sehen hat, kann es nicht alles in seinem Gedächtnis bewahren. Aber der Junge konnte sich trotzdem später erinnern, daß er zackige Giebel gesehen hatte, wo auf jedem Absatz Bilder von Christus und seinen Aposteln standen, Giebel, wo eine Nische neben der andern lag, bis zur Spitze hinauf, alle mit geschnitzten Figuren darin, Giebel, die mit bunten Glasstücken eingelegt waren, und Giebel aus weißem und schwarzem Marmor, gestreift und gewürfelt.

Während der Junge umherging und dies alles bewunderte, befiel ihn auf einmal eine fürchterliche Eile. »So was hab‘ ich mein Lebtag nicht gesehen, und so was bekomme ich auch nie wieder zu sehen,« sagte er zu sich selber. Und dann begann er, die ganze Stadt zu durchlaufen, Straße auf und Straße ab.

Die Straßen waren eng, aber nicht dunkel und leer wie in den Städten, durch die er auf seiner Reise gekommen war. Überall wimmelte es von Menschen. Alte Frauen saßen vor ihren Türen und spannen, ohne Spinnrocken, nur mit einer Spindel. Die Läden der Kaufleute waren wie Marktbuden nach der Straße zu offen. Alle Handwerker standen mit ihrer Arbeit unter offenem Himmel. An einer Stelle wurde Tran gekocht, an einer andern Stelle wurden Häute gegerbt, an einer dritten Stelle befand sich eine lange Reiferbahn.

Hätte der Junge nur Zeit gehabt, so hätte er alle möglichen Handwerke erlernen können. Hier sah er, wie der Maschinenschmied es machte, wenn er einen Brustharnisch aushämmerte, wie der Goldschmied edle Steine in Ringe und Armbänder faßte, wie der Drechsler seine Eisen führte, wie der Schuhmacher seine feinen, roten Schuhe versohlte, wie der Goldzieher güldene Fäden zwirnte, wie die Weber Einschläge von Gold und Silber in ihr Gewebe webten.

Aber der Junge hatte keine Zeit, stillzustehen. Er stürzte dahin, um soviel wie möglich zu sehen, ehe es alles wieder verschwand.

Die hohe Mauer lief rings um die ganze Stadt und schloß sie ab, wie ein Zaun ein Feld abschließt. Am Ende jeder Straße sah er sie mit ihren Türmen und Zinnen. Oben auf der Mauer gingen Kriegsknechte mit blitzenden Helmen und Harnischen.

Als er quer durch die ganze Stadt gelaufen war, kam er an ein anderes Tor in der Mauer. Davor lagen das Meer und der Hafen. Der Junge sah altmodische Schiffe mit Ruderbänken quer darüber und mit hohen Überbauten vorne und achtern. Einige lagen da und nahmen Lasten ein, andere warfen gerade die Anker aus. Lastträger und Kaufleute bewegten sich durcheinander. Überall herrschte Leben und Geschäftigkeit.

Aber auch hier, fand er, habe er keine Zeit zum Verweilen. Er eilte wieder in die Stadt zurück und kam nun zu dem großen Marktplatz. Da lag der Dom mit drei hohen Türmen und einem tiefen, gewölbten Toreingang. Die Wände waren so mit Bildhauerarbeit geschmückt, daß da auch nicht ein Stein war, der nicht seinen Zierat gehabt hätte. Und welche Pracht sah man nicht durch das offene Portal schimmern: goldene Kreuze und goldbeschlagene Altäre und Priester in goldenem Ornat! Der Kirche gerade gegenüber lag ein Haus mit Zinnen und einem einzigen wolkenragenden Turm. Das war wohl das Rathaus.

Und zwischen der Kirche und dem Rathaus, um den ganzen Marktplatz herum, standen die schönen Giebelhäuser mit den mannigfaltigsten Ausschmückungen.

Der Junge hatte sich warm und müde gelaufen. Er meinte, daß er nun das Bemerkenswerteste gesehen hatte, und begann deswegen, langsamer zu gehen. Die Straße, in die er jetzt eingebogen war, mußte wohl die sein, in der die Stadtbewohner ihre prächtigen Kleider kauften. Überall vor den kleinen Buden wimmelte es von Leuten, während die Verkäufer steife, geblümte Seidenstoffe, dicken Goldbrokat, bunten Sammet, leichte Florschals und Spitzen wie Spinnengewebe über den Ladentisch ausbreiteten.

Vorhin, während der Junge durch die Straßen lief, hatte ihn niemand beachtet. Die Menschen hatten gewiß geglaubt, daß es nur eine kleine, graue Maus sei, die an ihnen vorüberhuschte. Aber jetzt, wo er langsam die Straße hinaufging, erblickte ihn einer der Kaufleute und winkte ihm zu.

Der Junge wurde anfänglich bange und wollte vorüberlaufen, aber der Kaufmann winkte und lächelte und breitete ein herrliches Stück Seidendamast auf dem Ladentisch aus, um ihn zu locken.

Der Junge schüttelte den Kopf: »Ich werde nie so reich, daß ich auch nur eine Elle von dem Stoff kaufen kann,« dachte er.

Aber nun hatten sie ihn in jeder einzelnen Bude die ganze Straße entlang erblickt. Wohin er auch den Kopf wendete, stand da ein Krämer und winkte ihm zu. Sie ließen ihre reichen Kunden stehen und dachten nur an ihn. Er sah, wie sie in die fernsten Winkel der Läden liefen, um das Beste hervorzuholen, was sie zu verkaufen hatten, und daß ihre Hände förmlich vor Eifer zitterten, während sie es auf dem Ladentisch auslegten.

Als der Junge immer weiter ging, sprang einer von den Kaufleuten über den Ladentisch, lief ihm nach und breitete ein Stück Silberbrokat und eine gewebte Tapete, die von Farben strahlte, vor ihm aus. Der Junge konnte es nicht lassen, über ihn zu lachen; der Krämer mußte doch begreifen, daß so ein armer Wicht wie er nicht solche Sachen kaufen konnte. Er stand still und streckte seine beiden leeren Hände aus, damit sie sehen sollten, daß er nichts besaß, und ihn dann in Ruhe ließen.

Aber der Kaufmann hob einen Finger in die Höhe, nickte und schob ihm den ganzen Haufen von schönen Waren hin.

»Ob es wohl seine Absicht ist, das alles für ein Goldstück zu verkaufen?« dachte der Junge.

Der Kaufmann holte eine kleine, abgegriffene und schlechte Münze hervor, die elendeste, die man sehen konnte, und zeigte sie ihm. Und er war so darauf erpicht, zu verkaufen, daß er noch ein paar schwere silberne Becher auf den Haufen legte.

Da fing der Junge an, in seinen Taschen zu wühlen. Er wußte ja freilich, daß er nicht einen roten Heller besaß, aber er konnte es doch nicht lassen, nachzufühlen.

Alle die anderen Kaufleute standen rings um ihn her, um zu sehen, was aus dem Handel wurde, und als sie sahen, daß der Junge in seinen Taschen wühlte, liefen sie sämtlich an ihre Ladentische, nahmen die Hände voll von silbernen und goldenen Geschmeiden und boten sie ihm an. Und alle machten sie ihm begreiflich, daß sie keine andere Bezahlung verlangten, als einen einzigen kleinen Schilling.

Aber der Junge wendete sowohl seine Jackentaschen wie auch seine Hosentaschen um, damit sie sehen sollten, daß er nichts besaß. Da füllten sich die Augen aller dieser vornehmen Kaufleute, die so viel reicher waren als er, mit Tränen. Er war schließlich ganz gerührt, als er sie so bekümmert sah, und er grübelte darüber nach, ob er ihnen nicht auf irgendeine Weise helfen könne. Da fiel ihm die kleine grünspanige Münze ein, die er vorhin am Strande hatte liegen sehen.

Er kehrte um und lief aus Leibeskräften die Straße hinab, und das Glück war ihm hold, denn er kam zu demselben Tor hinaus, in das er hineingekommen war. Er stürzte hindurch und machte sich daran, nach der kleinen grünspanigen Kupfermünze zu suchen, die vor einer halben Stunde am Strande gelegen hatte.

Er fand sie auch wirklich, aber als er sie aufgenommen hatte und nach der Stadt zurücklaufen wollte, sah er nichts als das Meer vor sich. Keine Mauer, keinen Torweg, keine Wächter, keine Straßen, keine Häuser, nichts weiter als das bloße Meer.

Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. Zuerst hatte er geglaubt, daß das, was er sah, nichts als Augenverblendung sei, aber das hatte er wieder vergessen. Er hatte nur daran gedacht, wie schön das alles war. Er trauerte förmlich darüber, daß die Stadt verschwunden war.

Im selben Augenblick erwachte Herr Langbein und kam zu ihm hin. Aber er hörte ihn nicht. Der Storch mußte ihn mit dem Schnabel puffen, um sich bemerkbar zu machen. »Du stehst hier auch wohl und schläfst,« sagte Herr Langbein.

»Lieber Herr Langbein!« sagte der Junge. »Was für eine Stadt war denn das, die eben noch hier lag?«

»Hast du eine Stadt gesehen?« sagte der Storch. »Du hast geschlafen und geträumt, glaub‘ mir nur!«

»Nein, ich habe nicht geträumt,« sagte Däumling, und er erzählte dem Storch alles, was er erlebt hatte.

Da sagte Herr Langbein: »Ich glaube nun doch, daß du hier am Strande eingeschlafen bist, Däumling. und das alles geträumt hast. Aber ich will dir doch nicht verhehlen, daß Bataki, der Rabe, der der gelehrteste Vogel der Welt ist, mir einmal erzählt hat, daß hier an der Küste in alten Zeiten eine Stadt gelegen hat, die Vineta hieß. Sie war so reich und glücklich, daß es niemals eine prächtigere Stadt gegeben hat, aber ihre Einwohner frönten leider dem Stolz und der Prunksucht. Zur Strafe dafür, sagt Bataki, wurde die Stadt Vineta von einer Sturmflut überschwemmt und versank ins Meer. Aber die Einwohner können nicht sterben, und ihre Stadt geht auch nicht zugrunde. Und in einer Nacht alle hundert Jahre steigt sie in aller ihrer Herrlichkeit aus dem Meere auf und liegt genau eine Stunde auf der Oberfläche der Erde.«

»Ja, das muß richtig sein,« sagte Däumling, »denn das hab‘ ich gesehen.«

»Ist aber die Stunde vergangen, so versinkt sie wieder ins Meer, wenn nicht ein Kaufmann in Vineta während dieser Zeit etwas an ein lebendes Wesen verkauft hat. Hättest du, Däumling, nur die allergeringste Kupfermünze gehabt, um sie dem Kaufmann zu geben, so läge Vineta noch hier an der Küste, und die Menschen könnten dort leben und sterben wie andere Menschen.«

»Herr Langbein,« sagte der Junge, »jetzt kann ich verstehen, warum Sie in der Nacht kamen und mich holten. Das taten Sie, weil Sie glaubten, daß ich die alte Stadt erlösen könnte. Ich bin so betrübt, daß es nicht so ging, wie Sie wollten, Herr Langbein!«

Er hielt sich die Hände vor die Augen und weinte.

Es war nicht leicht zu entscheiden, wer trauriger aussah, der Junge oder Herr Langbein.

Die lebende Stadt.

Montag, den 11. April.

Den zweiten Ostertag am Nachmittag waren die wilden Gänse und Däumling wieder auf der Reise. Sie flogen über Gulland hin.

Die große Insel lag eben und flach unter ihnen. Die Erde war gewürfelt, genau so wie in Schonen, überall lagen Kirchen und Gehöfte. Der Unterschied aber war, daß zwischen den Feldern hier mehrere Haine standen, und dann waren die Gehöfte nicht zusammengebaut. Und da waren keine großen Schlösser mit Türmen und mit weitgedehnten Parks.

Die wilden Gänse hatten Däumlings wegen den Weg über Gulland eingeschlagen. Zwei Tage war er jetzt ganz wie verwandelt gewesen und hatte kaum den Mund aufgetan. Das kam daher, weil er an nichts weiter denken konnte als an die Stadt, die sich ihm auf eine so wunderbare Weise gezeigt hatte. Er hatte nie etwas so Schönes und Prächtiges gesehen, und er konnte sich nicht darüber beruhigen, daß es ihm nicht vergönnt gewesen war, sie zu erretten. Er war sonst gar nicht sentimental veranlagt, aber er trauerte geradezu über die schönen Gebäude und die großen, stolzen Menschen.

Sowohl Akka wie auch der Gänserich hatten Däumling zu überzeugen gesucht, daß es ein Traum oder Augenverblendung gewesen war, der Junge wollte aber nicht mit sich reden lassen. Er war überzeugt, was er gesehen hatte, das hatte er gesehen, und diese Überzeugung konnte niemand erschüttern. Er ging so betrübt umher, daß seine Reisekameraden seinetwegen besorgt wurden.

Gerade als der Junge am allerniedergeschlagensten war, kehrte die alte Kaksi zu der Schar zurück. Der Sturm hatte sie nach Gulland verschlagen, und sie war um die ganze Insel rund herum gewesen, ehe sie von einigen Krähen gehört hatte, daß sich ihre Reisegefährten auf der kleinen Karlsinsel befanden. Als Kaksi hörte, was sich mit Däumling zugetragen hatte, sagte sie plötzlich:

»Wenn es eine alte Stadt ist, über die Däumling trauert, so wollen wir ihn gar bald trösten. Kommt nur mit, dann will ich euch an einen Ort führen, den ich gestern gesehen habe! Er soll bald wieder ganz fröhlich werden!«

Dann nahmen die Gänse Abschied von den Schafen, und nun befanden sie sich auf dem Wege nach dem Ort, den Kaksi Däumling zeigen wollte. So betrübt er auch war, konnte er es doch nicht lassen, wie gewöhnlich auf das Land hinabzusehen, über das er dahinflog.

Vor seinen Augen sah es so aus, als wenn die ganze Insel von Anfang an eine hohe, steile Klippe gewesen war, so wie die Karlsinsel, nur natürlich viel größer. Aber dann war sie auf irgendeine Weise flach gemacht. Jemand hatte eine große Kuchenrolle genommen und damit darüber hingerollt, als sei sie ein Stück Teig. Nicht so zu verstehen, daß sie eben geworden wäre wie ein Stück Flachbrot, das war sie nicht. Als sie an der Küste entlang flogen, hatte er an mehreren Stellen hohe, weiße Kalkwände mit Grotten und Felssäulen gesehen, aber an den meisten Stellen waren sie mit der Erde gleich gemacht, und die Küste fiel leise abschrägend nach dem Meere zu ab.

Auf Gulland hatten sie einen schönen und friedlichen Sonntagnachmittag. Es war mildes Frühlingswetter, die Bäume hatten große Knospen, Frühlingsblumen bedeckten die Wiesen, die langen, dünnen, herabhängenden Zweige der Pappeln wehten, und in den kleinen Gärten, die vor jedem einzelnen Hause lagen, standen die Stachelbeerbüsche ganz grün.

Die Wärme und das fruchtbare Wetter hatten die Leute auf die Wege und die Hofplätze hinausgelockt, und wo mehrere versammelt waren, wurde gespielt. Und nicht nur die Kinder spielten, sondern auch die Erwachsenen. Sie warfen mit Steinen nach einem Ziel und schickten ihre Bälle mit einem gewaltigen Schwung in die Luft hinauf, daß sie nahe daran waren, die wilden Gänse zu treffen. Es sah lustig und munter aus, daß die Erwachsenen also spielten, und der Junge würde sich auch darüber gefreut haben, wenn er seinen Kummer darüber, daß er die Stadt nicht hatte erretten können, hätte vergessen können.

Aber er mußte ja zugeben, daß es eine schöne Fahrt war. Es lag so ein Sang und Klang in der Luft. Die kleinen Kinder spielten Ringelreihen und sangen dazu. Und die Heilsarmee war auch unterwegs. Er sah eine Menge Menschen in schwarzen und roten Anzügen auf einem Waldhügel sitzen und Gitarre und Messinginstrumente spielen. Auf einem der Wege kam eine große Schar Menschen daher. Es waren Good-Templer, die einen Ausflug gemacht hatten. Er konnte sie an den großen Fahnen mit den goldenen Inschriften erkennen, die über ihnen wehten. Und sie sangen ein Lied nach dem andern, so lange er sie hören konnte.

Der Junge konnte später niemals den Namen Gulland hören, ohne sofort an Spiel und Gesang zu denken.

Lange hatte er so gesessen und hinabgesehen, aber nun erhob er zufällig die Augen. Es ist nicht zu sagen, wie sehr er staunte. Ohne daß er es bemerkt, hatten die Gänse das Innere der Insel verlassen und waren westwärts nach der Küste zugeflogen. Jetzt lag das offene, blaue Meer vor ihm. Doch nicht das Meer war so merkwürdig, sondern eine Stadt, die an der Küste aufragte.

Der Junge kam von Osten, und die Sonne stand schon niedrig im Westen. Als er sich der Stadt näherte, hoben sich ihre Mauern und Türme und die hohen Giebelhäuser und Kirchen ganz schwarz von dem hellen Abendhimmel ab. Daher konnte er nicht sehen, wie es eigentlich mit ihnen zusammenhing, und einige Augenblicke glaubte er, daß die Stadt ebenso prächtig sei wie die, die er in der Osternacht gesehen hatte.

Als er ganz nahe herankam, sah er, daß sie der Stadt auf dem Grunde des Meeres glich und doch wieder nicht glich. Es war derselbe Unterschied, als wenn man den einen Tag einen Mann in Purpur und köstlichem Leinen gekleidet sieht, und den andern Tag in Lumpen.

Aber die Stadt hatte wohl einmal so ausgesehen wie die, an die er denken mußte. Sie war ebenfalls von einer Mauer mit Türmen und Toren umgeben. Aber die Türme in dieser Stadt, die über der Erde stehen geblieben war, standen ohne Dach, hohl und leer da. Die Tore waren ohne Türflügel, Wächter und Kriegsknechte waren verschwunden. All die strahlende Pracht war dahin. Nur das nackte, graue Steinskelett war übrig geblieben.

Als der Junge weiter über die Stadt hinflog, sah er, daß sie zum größten Teil aus kleinen, niedrigen Häusern bestand, aber hier und da waren einige hohe Giebelhäuser und einige Kirchen aus der alten Zeit erhalten. Die Mauern der Giebelhäuser waren weiß getüncht und ohne den geringsten Schmuck, da aber der Junge erst so kürzlich die versunkene Stadt gesehen hatte, konnte er sich denken, wie sie ausgeschmückt gewesen waren: einige mit Bildsäulen und andere mit schwarzem und weißem Marmor. Und ebenso war es mit den alten Kirchen. Die meisten von ihnen waren ohne Dach, und ihr Inneres war kahl und leer. Die Fensteröffnungen waren ohne Scheiben, die Fußböden waren mit Gras bewachsen, und an den Wänden kletterte der Efeu hinauf. Aber nun wußte er, wie sie einstmals ausgesehen hatten, daß sie mit Bildsäulen und Gemälden bedeckt gewesen waren, daß sich im Chor ein reichgeschmückter Altar und goldene Kreuze erhoben hatten, und daß Priester in goldenem Ornat darin umhergewandelt waren.

Der Junge sah auch die schmalen Gassen, die an so einem Sonntagnachmittag fast leer waren. Aber er wußte, was für ein Strom von schönen, stolzen Menschen dort einstmals hin und her gewogt war. Er wußte, daß die Straßen wie große Werkstätten mit allerhand Arbeitern ganz angefüllt gewesen waren.

Niels Holgersen sah aber nicht, daß die Stadt noch heutigen Tages sowohl merkwürdig als auch schön war. Er sah weder die traulichen Häuschen in den Hinterstraßen mit den schwarzen Mauern, weißgemalten Balkenenden und roten Pelargonien hinter den blanken Fensterscheiben, noch die vielen schönen Gärten und Alleen oder die Schönheit der efeubekleideten Ruinen. Seine Augen waren so voll von der Herrlichkeit des Entschwundenen, daß er nichts Gutes in dem erblicken konnte, was war.

Die wilden Gänse flogen ein paarmal über der Stadt hin und her, damit Däumling alles richtig sehen sollte. Schließlich ließen sie sich auf dem grasüberwucherten Boden einer Ruinenkirche nieder, um dort die Nacht zu bleiben.

Sie hatten sich schon zum Schlafen gesetzt, aber Däumling war noch wach und sah durch die zertrümmerten Gewölbe zu dem blaßroten Abendhimmel empor. Als er eine Weile so gesessen hatte, dachte er, nun wollte er ein Ende machen mit seiner Trauer darüber, daß er die versunkene Stadt nicht hatte erretten können.

Ja, das wollte er tun, seit er nun diese Stadt gesehen hatte. Wäre die Stadt, die er gesehen hatte, nicht auf den Grund des Meeres gesunken, so wäre sie vielleicht binnen kurzem ebenso verfallen wie diese. Sie hätte am Ende der Zeit und der Vergänglichkeit nicht widerstehen können, sondern hätte bald mit Kirchen ohne Dach und Häusern ohne Schmuck und öden, leeren Straßen dagestanden, so wie diese. Dann war es doch besser, daß sie in all ihrer Herrlichkeit unten im Verborgenen bewahrt worden war.

»Es ist gut, daß es kam, wie es kam,« dachte er. »Hätte ich die Macht, die Stadt zu erlösen, ich glaube, ich würde es nicht tun.« Und dann trauerte er nicht mehr darüber.

Und da sind gewiß viele unter den jungen Leuten, die so denken. Aber wenn man alt wird und sich hat gewöhnen müssen, mit wenigem zufrieden zu sein, da freut man sich mehr über das Visby, das da ist, als über ein schönes Vineta auf dem Grunde des Meeres.

Basilius Mummelpelz und Hieronymus Kragenpeter

Der Bär Basilius Mummelpelz stand vor der Wohnung seines Vetters, des Kragenbären.

»Hieronymus Kragenpeter, bist du zu Hause?« fragte er und klopfte mit der Tatze an die Höhlenwandung.

Drinnen regte sich nichts. Nur ein schwaches Brummen war hörbar. Basilius Mummelpelz klopfte energischer. »Kragenpeter, bist du zu Hause? Hi-e-ronymus!« »Nein, ich bin nicht zu Hause«, sagte Hieronymus Kragenpeter aus der Tiefe der Höhle und grunzte unwillig, »du weißt doch, daß ich mich nach Tisch immer hinlege.«

»Hieronymus«, sagte Basilius Mummelpelz, »wenn ich dir sage, warum ich gekommen bin, wirst du gleich zu Hause sein.« Hieronymus Kragenpeter erschien in der Höhlenöffnung und verneigte sich viele Male. Das tun die Kragenbären, und es sieht sehr verbindlich aus. Hieronymus war aber gar nicht verbindlich; denn er murmelte was über die Störung und rieb sich mit den Tatzen den Schlaf aus den Augen. »Du – Hieronymus, ich habe ein Honignest entdeckt, ein süßes, heimliches Honignest.«

»Wo?« sagte Hieronymus Kragenpeter und trottete auf allen vieren los.

»Warte, warte, ich zeige es dir«, sagte Basilius Mummelpelz und beeilte sich nachzukommen. »Du läufst ja in die falsche Richtung. Du mußt woanders hinlaufen!« »Wo?« sagte Hieronymus Kragenpeter und kehrte eiligst wieder um.

»Du könntest statt ›Wo‹ auch mal ›Danke‹ sagen«, meinte Basilius Mummelpelz.«Siehst du, wie du zu Hause gewesen bist!« Basilius Mummelpelz und Hieronymus Kragenpeter trotteten nebeneinander her, emsig und mit einwärts gekehrten Füßen, wie fette Herren, die gern zu Tisch gehen.

Das Honignest war in einem hohlen Baum, der zwei kleine Astlöcher hatte. Es duftete ungemein lieblich darin. Basilius Mummelpelz grunzte vor Vergnügen. Hieronymus Kragenpeter gurgelte vor Wonne.

»Hier sind die beiden Löcher. Dies hier scheint größer zu sein«, sagte Basilius Mummelpelz.

»Wo?« sagte Hieronymus Kragenpeter und versuchte den Kopf hindurchzustecken. »Es geht nicht. Das Loch ist zu eng. Ich habe Kragenweite 113. Basilius, du mußt es versuchen. Aber iß den Honig nicht allein auf!«

Basilius Mummelpelz schüttelte den Kopf und brummte. »Ich habe Kragenweite 119«, sagte er ergeben.

Hieronymus Kragenpeter krabbelte mit der Tatze im Loch herum.

»Auch das geht nicht«, sagte er enttäuscht. »Ich habe Tatzennummer 14. Basilius, du mußt es versuchen.« »Ich habe Tatzennummer 16«, sagte Basilius Mummelpelz und sah erbost auf seine großen Pfoten.

»Basilius, man wird die Nase hineinstecken müssen«, sagte Hieronymus Kragenpeter. »Aber du mußt es zuerst versuchen. Du bist der Ältere.«

Basilius Mummelpelz stopfte seine Nase tief in das Astloch. Es duftete ungemein lieblich.

»Basilius«, sagte Hieronymus Kragenpeter, »was machst du für ein Gesicht? Du siehst nicht aus, als ob du Honig lecktest.«

Er bekam keine Antwort. Wie ein Geschoß fuhr die Nase des Basilius aus dem Astloch heraus. Ein Schwarm von wütenden Bienen umkreiste die beiden Vettern.

»Mein schöner Kragen«, jammerte Hieronymus Kragenpeter und schlug verzweifelt mit den Tatzen um sich. Basilius Mummelpelz nieste buchstäblich Bienen. Es war ungeheuer störend. Denn eine Biene im Nasenloch ist kein Gegenstand der Ruhe.

Zu Hause leckte Hieronymus Kragenpeter seinen Kragen und kämmte ihn mit den Krallen.

»Nun kann ich heute abend nicht zum Rendezvous gehen«, sagte er. »Die Sonne muß erst meinen Kragen bügeln. Meine Kleine gibt so viel auf gute Toilette.«

Basilius Mummelpelz kühlte seine Nase unaufhörlich in einer Wasserpfütze. Es waren zwingende innere Gründe dafür vorhanden.

»Ich wollte heute in den Biologischen Verein für Höhlenbärenforschung«, sagte er böse.

Beide ärgerten sich sehr. Einer ärgerte sich über den anderen.

Astlöcher sind nicht für fette Herren«, sagte Basilius Mummelpelz und sah Hieronymus Kragenpeter hämisch an. »Für die süßen heimlichen Honignester darf man keine plumpen Tatzen haben. Sonst geht’s einem an den Kragen. Meinst du das nicht auch, Hieronymus?«

Andern geht es noch viel schlimmer«, sagte Hieronymus Kragenpeter. »Mancher steckt bloß die Nase in den Honig – und schon niest er Bienen!«