47. Wormser Wahrzeichen

47. Wormser Wahrzeichen

Am westlichen Portal des uralten Domes Unserer Lieben Frauen zu Worms ist als ein steinern Bildwerk ein Weib mit einer Mauerkrone zu erblicken, reitend auf einem seltsamen vierfüßigen Tiere – das wird eines der Wahrzeichen der Stadt Worms genannt und ist vielfach ausgedeutet worden. Manche meinen, das Frauenbild stelle dar die Babylonierin der Apokalypse, andere die triumphierende christliche Kirche; noch andere meinten, es sei Brunhild, die Gemahlin des Austrasierkönigs Siegberth, über welche, nachdem sie bereits achtzig Jahre alt geworden, ein furchtbares Strafgericht ihrer Herrschsucht wegen gehalten ward. Drei Tage lang wurde Brunhild gemartert, alsdann auf ein Kameel gesetzt und allem Volke zur Verspottung darauf umhergeführt, endlich an eines wilden Hengstes Schweif gebunden und dahingeschleift über Stock und Steine. Ein anderes Wahrzeichen findet sich am Dome außerhalb als seltsames Steingebilde, das stellt den Teufel dar mit seiner Großmutter, und zwar sucht das liebholde Enkelchen etwas, was man nicht gerne nennt, vom Kopf der Großmutter zu entfernen.

Weiter zeigt sich auf freier Straße westlich vom Dom nach St. Andreaspforte zu ein Felsstück, das warf vom Rosengarten, einer Insel im Rhein, welche berühmt ist durch das alte Heldenbuch, ein Recke bis herein in die Stadt. Ohnweit davon ward eine Stange aufbewahrt, so auch lange zu sehen, war groß wie ein Weberbaum, war spitz und dreiundzwanzig Werkschuh lang. Das soll, wie die Sage geht, der Weberbaum gewesen sein, mit welchem der hörnene Siegfried den Drachen erschlug, wie im Volksbuche zu lesen. Eine andere Riesenstange, sechsundsechzig Werkschuh lang, ward vordessen im Dome aufbewahrt, auch hat man lange Jahre hindurch bis zum großen Brande zu Worms des hörnen Siegfrieds Grab gezeigt.

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479. Der Wittgenstein

479. Der Wittgenstein

Im Talgrund des Ruhlawassers zwischen den Dörfern Schönau und Farrenrode hängt eine Felswand, die heißt der Wittgenstein. Darauf stand vorzeiten ein Schloß, und darin lebte eine Prinzessin, und die wohnt jetzt im Wittgenstein. Alle sieben Jahre einmal tritt sie heraus aus dem Felsen; wer sie erblickt und nicht erschrickt und vor ihr sich fürchtet, dem gibt sie wohl eine gute Gabe, wer aber vor ihr flieht, hat Schlimmes zu gewärtigen. Rühler Choradjuvanten, die nachts am Wittgenstein vorüberzogen und ihr das Neujahr ansangen, fanden mitten im Schnee einen Haufen Knochen, aber nur einer von ihnen nahm ein paar davon, in Willens, sich ein paar Messerschalen davon zu machen, denn in Ruhla wohnen neben den Tabakskopf- und Pfeifenfabrikanten Messermacher in großer Zahl. Andern Tages fand er in seiner Tasche zwei dicke Goldstangen. Als er das seinen Gefährten erzählte, rannten sie alle wie besessen nach dem Wittgenstein – aber da lag nur der Schnee und von Knochen kein Splitter mehr da. Jener Glückliche wurde reich durch das Gold. Andere – Musikanten – empfingen grüne Zweige, die sie wegwarfen. Nur einer steckte den Zweig auf seinen Hut, der wurde zu Gold, und nun kam derselbige Mann erst recht auf einen grünen Zweig. Der Farrenröder Hirte fand bei seiner Herde oft eine schöne fremde Kuh, wußte nicht, woher sie kam, noch wohin sie ging. Früh war sie da, abends war sie hinweg. Endlich ging er ihr nach, und siehe, sie verschwand unter Erlen und Weidengebüsch und ging in eine Kluft des Wittgenstein. Der Hirte ging ihr nach und auch hinein, da kam er an eine Türe und klopfte an. Gleich stand die Jungfrau da und fragte: Was willst du? –

Ich wollte um das Hutgeld gebeten haben für die Kuh, die Ihr alle Tage zur Herde schickt, antwortete kecklich der Hirte. Darauf hat ihm die Prinzessin einen alten Silbertaler gereicht und gesprochen: So – habe deinen Lohn dahin! Hättest du ihn nicht geheischt, wäre er dir reichlicher zuteil geworden. – Die schöne Kuh kam nie wieder heraus und auf des Hirten Weide.

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480. Das Löttöpfchen

480. Das Löttöpfchen

In das Tal, darinne der Wittgenstein liegt, blickt ein niederer grauer Turm herab, der ist der Überrest des ehemaligen Schlosses Scharfenberg und heißt bei den Umwohnern wegen seiner Form das Löttöpfchen. Es spukt dort, manchmal walzt ein brennendes Faß vom Berge nieder, und am Bergesfuße, nahe beim Dorfe Thal, ist auch eine verrufene Stelle. Ein Stein steht dort, auf dem sind zwei Messer eingegraben. Dort haben zwei Brüder einander erstochen. Zur Zeit Landgraf Friedrich des Ernsten, welcher der Sohn Friedrich des Gebissenen war, ging es um den Scharfenberg bunt und noch mehr blutig her. Der Landgraf fehdete mit dem Grafen von Henneberg, die hatten Scharfenberg besetzt und plagten das Thüringer Land nach Eisenach und bis Gotha hinein: sein Gegner aber hatte Salzungen und die Herrschaften Frankenstein und Altenstein an sich gebracht und plagte das Henneberger Land im Werratal und nach Buchen zu; nun verband sich der Landgraf mit den Erfurtern, nahm viel Volk aus den thüringischen Städten und schloß den Scharfenberg ein. Der Graf von Henneberg aber fuhr mit einem großen Heer aus Franken über den Wald daher und schlug mit seinem Volk greulich auf die Thüringer los. Dem Landgrafen ging es hart an den Kragen, er wäre unfehlbar selbst erschlagen worden, denn es blieb viel Volks, wenn er nicht als ein gemeiner Wappner ohne Auszeichnung und Helmkleinod geritten wäre und nicht ein gewaltig tapferer Bürger, Hans von Frymar genannt (Friemar ist ein gothaisches Dorf), der hager und starkknochig war, auch ein solches Pferd ritt, ihm stets zur Seite geblieben wäre und mit der Wucht seiner Streitaxt jeden niedergeschmettert hätte, der dem Landgrafen feindlich zu nahe kam. Der Landgraf aber mußte dennoch endlich mit großem Verlust das Feld räumen, und die Besatzung des Scharfenberges ließ freudig vom Löttöpfchen die Siegesfahne hoch über die grünen Wälder wehen.

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481. Das Backofenloch

481. Das Backofenloch

In der Gegend der Burgruine Scharfenberg hebt sich ein hoher Berg empor, der heißt der Wartberg oder auch Martberg; das ist gar ein eigentümlicher sagenumklungner Hochgipfel, von dem sein Nachbar, der Hörseelenberg, sich wunderkräftig ausnimmt. Da ist, recht dem Hörseelenloche gegenüber, auch eine Höhle, die heißt das Backofenloch, darinnen hat viel Goldsand gelegen, den die Venetianer hinweggetragen haben, und sonst sind noch um den Berg her viele alte versetzte Schachte und Stollen, denn da steckt noch edlen Metalles genug, wer es zu finden versteht. Da blühen am Trinitatissonntage, am Sommersonnenwendetag und am Johannistag die Wunderblumen, da öffnet ihrem Finder sich die Unterwelt und ist bereit, ihn reich zu machen ohne Verlust an seiner Seele. Vielen schon ist das geglückt. Das Backofenloch, das kann jeder finden und kann auch hineinkriechen, so tief er mag, aber Gold findet er nicht darin. Der alte Oberförster König hat das Folgende nicht nur erzählt, sondern es ist auch von ihm in das Ruhlaer Forstarchiv eingetragen worden. Als junger Bursche und Jägerlehrling beging König häufig das ausgedehnte Ruhlaer Forstrevier. Einmal auf dem Heimwege begegnet ihm ein fremder Mann und fragt nach dem Backofenloch. König geleitet den Fremden, der ein Venetianer war, zu der gewünschten Stelle, dieser kriecht in das Loch, holt einen Sack voll des gelbgrauen Sandes, der darin befindlich ist, und gibt dann seinem Führer ein in Papier befindliches Pulver, indem er ihm sagt: In dieser Berghöhle liegen große Schätze. Suche nur darin nach braunen und schwarzen Körnern, wirf sie dann in einen Schmelztiegel und setze etwas von diesem Pulver dazu. Damit ging der Fremde von König hinweg; der aber, als ein junger Bursche, achtete nicht sonderlich dieser Rede, noch des Pulvers, sondern steckte es ein und warf es daheim in seine Lade. Jahre vergingen, und er dachte gar nicht mehr daran. Da traf er eines Tags abermals einen Walen im Revier, der nach dem Backofenloch fragte. Auch diesen geleitete König hin, und auch dieser sprach wieder vom Reichtum der Höhle und erwähnte der schwarzen braunen Körner. Dadurch aufs neue aufmerksam gemacht, gedachte König doch einen Versuch zu machen, ging in die Höhle, suchte und fand auch von den beschriebenen Körnern, nahm sie mit und suchte daheim das Pulver. Nach langem Suchen fand er das Papier, das war aber mürb und zerrieben und das Pulver größtenteils herausgefallen, so daß nur noch ein kleiner Rest vorhanden war. Dies nahm er, warf’s mit den Körnern in einen Tiegel, glühte ihn und schmolz ein großes Goldkorn. Später habe er nur mit Mühe einige Körner gefunden und auch in diesen, ohne das Pulver, ein winzig Körnlein Gold gefunden.

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482. Das Geißbeinsloch

482. Das Geißbeinsloch

In des Backofenlochs Nähe am großen Wartberge ist auch das von den Venetianern versetzte (verzauberte) Geißbeinsloch, voller Schätze, doch nimmer zu finden. Es ist mit dem Hinterbein einer Geiß versetzt und unsichtbar gemacht, deswegen heißt es das Geißbeinsloch. Nur alle vier Jahre ist es an zweien Tagen offen, das ist der Walpurgistag und der Johannistag, da kann hineingehen, wer es sieht. Noch in neuerer Zeit hat der Oberförster König das Loch bei einem Jagen offen gesehen und den Erzstock darin funkeln sehen, von dem ein Zentner dreißig Pfund Gold und fünfundvierzig Pfund Silber ausgibt. Der Oberförster war ganz allein, verwunderte sich, so plötzlich einen Höhleneingang an einem Ort zu finden, über den er, der das ganze Revier kannte wie seinen Handschuh, schon unzählige Male gegangen war, rief daher seinen Kreisern und ging, da sie ihn nicht hörten, ein Stück Weges zurück, bis sie zu ihm stießen, da er ihnen nun geschwind seine Entdeckung zeigen wollte. Aber da war das Glück im Geißbeinsloch selbst auf die Hinterbeine getreten, und Fels und Höhle waren verschwunden wie ein Nebelbild.

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483. Schlangensuppe

483. Schlangensuppe

Am Wartberg entspringt auch ein Brunnen, der heißt der Silberborn, an dem rastete an einem goldnen Sonntag (Trinitatissonntag) der Hirte von Schmerbach, da sah er aus dem Walde heraus einen Mann mit allerlei Gerät und in fremdländischer Tracht auf die maigrüne sonnige Bergestrift treten und sah auch gleich an einem Felsen nahebei eine früher nie daran wahrgenommene Öffnung. Der fremde Mann grüßte den Hirten, packte seinen Kram ab, winkte den Hirten zu sich und bat ihn, ihm behülflich zu sein, es solle sein Schade nicht sein, hieß ihn ein Feuerchen anmachen und schnitt sich von einem Haselnußstrauch eine Gabelgerte ab. Dann breitete er ein Tuch auf den Rasenteppich, zog drei Kreise mit einem weißen Stabe, den er in der Hand trug, und langte ein Pfeifchen hervor, darauf pfiff er in seltsamer Weise. Da kamen Schlangen und Würme in großer Zahl aus den Felsenklüften und Büschen und endlich auch ein großer Lindwurm, der setzte sich gerade vor den Beschwörer hin und riß den Rachen auf, und alle andern zischten greulich und ringelten sich in einem weg, und der Venetianer, denn ein solcher war der Schlangenbeschwörer, zitterte. Endlich erschien auf einer hohen Ulme eine ganz silberweiße Schlange mit einer goldnen Krone, die schlängelte sich von ihrem Baume herab, kroch über die Trift und auf das Tuch, da sprang der Beschwörer schnell hinzu, schlug das Tuch zusammen, nahm die Krone und barg sie und tötete den Lindwurm, den er festspießte, dann pfiff er wieder, und die Schlangen krochen von dannen. Die gefangene Otterkönigin tötete hierauf der Venetianer, zerstückte und kochte davon in seinem Kesselchen eine kräftige Suppe, dann setzte er sich hin, gemütlich seine Schlangenmahlzeit zu halten, zu der er den Hirten gastlich einlud. Dieser weigerte sich beharrlich, bis er sich endlich zureden ließ, mit vieler Überwindung einen Löffel voll zu genießen, doch als es nun ging wie bei jenem Kinde auf dem Thüringer Walde, zu dem der Hausunk kam und mit von seiner Milchsuppe aß, aber nur die Milch, und das Kind zu ihm sagte: Eß nett nu Nü, eß a Nocke! (Iß nicht nur Brühe, iß auch Brocken), und der Venetianer dem Hirten auch zuredete, von den Schlangenbrocken zu essen, da verweigerte das der Hirte durchaus. Gleichwohl wurden ihm schon von der guten Suppe, die viele Schlangenfettaugen hatte, die eignen Augen hell; er sah alles rings im überirdischen Glänze und in der Berghöhle, die sich aufgetan, alles voll Gold und Silber, das ist auch das Geißbeinsloch gewesen. Beide gingen nun und nahmen davon, und dann verschwand alles, wie hinweggeblasen. Hättest du von der Schlange selbst gegessen, sagte, als er fortging, der Venetianer, so hättest du immerfort die Höhle offen gesehen und immer wieder hineingehen und holen können, so aber nicht. Lebe wohl und besuche mich einmal in Venedig. Hier hast du ein Wünschtüchlein, das bindest du dir um den Kopf. Da hat sich hernach der Hirte bald da, bald dorthin gewünscht, und einmal auch nach Venedig; da kam er in einen Marmorpalast, vor welchem eine Wache stand, und da fand er in einem reichen Nobile seinen Schlangensuppenkoch wieder, der ihn gastlich empfing und herrlich beschenkte.

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484. Die Reifsteigshalde

484. Die Reifsteigshalde

Über dem Marktflecken Ruhla liegt am Reifsteig eine große Waldwiese, die Reifsteigshalde. Diese kann man an gewissen Tagen nicht finden. So ging es dem alten Oberförster König in der Ruhl, der noch in aller Andenken lebt. Eines Tages im Spätherbst ging derselbe am Reifsteig hin, um ein feistes Stück Wild bei einer auf der Reifsteigshalde angelegten Salzlecke zu schießen. Im Walde war ein Schneisengang befindlich, und wenn man diesem folgte, konnte man nicht fehlen. Oben ging dann der Weg über eine Wiese hinweg, die man mußte rechts liegen lassen, dann wieder in das Holz hinein. Früh neun Uhr ging Oberförster König in Ruhl aus, ging anfangs in Gedanken, stand plötzlich mitten im Bergwald, glaubt zu weit links gegangen zu sein, geht zurück bis nahe an die Halde, sieht sie nicht, verirrt sich wieder zu weit rechts, geht noch mehr zurück, achtet auf die Schneis, kommt aber immer nicht zum Salz, und ob er gleich der kundigste Berggänger seines Wohnortes und diesen Weg mehr denn als fünfhundertmal gegangen, so ist er doch von früh neun Uhr bis nachmittags um drei Uhr im Walde umhergeirrt und diesen Tag doch nicht zum Salz gekommen. Am andern Tag hat er es, wie er oft selbst erzählt hat, ohne einen Schritt irre zu gehen gefunden.

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470. Das Mysterium

470. Das Mysterium

Da wieder Friede und Freude seit langen Jahren im Thüringerlande war und vornehmlich auch zu Eisenach, wo es vorher gar unfroh gewesen und das Gras auf dem Markt eine halbe Elle hoch gewachsen war, da führten alldort die Predigermönche nach der Zeit Gewohnheit am Abend vor dem Sonntage Misericordias ein Mysterium auf, das war ein geistlich Schau- und Singspiel, und war der Schauplatz auf der Rolle zwischen dem Barfüßerkloster und Sankt Georgen; da waren der Landgraf Friedrich der Freudige und der ganze Hof Zuschauer und die angesehensten Bürger zu Eisenach. Die Schaubühne teilte sich in den Vordergrund und einen erhöhten Hintergrund, auf letzterem erschienen und handelten zunächst die himmlischen Personen, Christus, Maria, Engel und der Engelchor, und die Reden in rezitativischer Weise wie die Chöre waren teils in lateinischer, teils in deutscher Sprache abgefaßt. Die Chorgesänge bestanden zumeist aus den in den Kirchen gebräuchlichen Antiphonen und Responsorien. Christus erschien, Engel mit der Einladung entsendend zu seiner »groczen wertschaft.« Die zehn Jungfrauen traten im Vorgrund auf, und die Engel vollbrachten an sie die göttliche Ladung mit dem Geheiß, daß sie sollten »bornte lampeln tragen czu eime rechten bekeyntnisse,« und zogen sich zurück. Die Jungfrauen sonderten sich in die fünf klugen und die fünf törichten ab und stellten Betrachtungen an, die klugen fromme, die törichten Weltlust atmende, dann wandten sich die letztern freudevoll und tanzend ab. Während nun eine der klugen Jungfrauen ihren Schwestern erbaulich Tröstliches vortrug, fiel ein Nebenvorhang, und die Bühne zeigte die törichten bei einem Mahle entschlummert. Eine von ihnen ermunterte jedoch zur Wachsamkeit, während die klugen ihre Lampen mit Öl füllten und anzündeten. Darauf schritten die unklugen wieder zur Mitte und flehten die klugen Schwestern um Öl an. Die Antwort, welche sie erhielten, war der gute Rat, zu gehen und zuzusehen, wo sie Öl bekämen. Nun hoben die unklugen schmerzliche Klage an, indem sie, Öl zu kaufen suchend, die Bühne umwandelten. Engelstimmen geboten Schweigen, und der himmlische Chor erklang: Ecce sponsus venit! Als dieser geendet hatte, erschien der Heiland in der Glorie seiner Herrlichkeit, von seiner Mutter geleitet, und der kluge Jungfrauenchor begrüßte beide mit Feierliedern. Maria neigete sich zu ihnen und bekränzte die Jungfrauen mit himmlischen Kronen und redete sie mit den Worten an:

Sit willekom ir vzerwelten kinder myn! usw.

Da brachen die Jungfrauen in den Jubelchor aus: Sanctus, sanctus, sanctus!, und die Engel stimmten an: Gloria et honor – daß das Haus von Schauern der Andacht erfüllt ward. Christus hielt nun sein heiliges Mahl, zu welchem die klugen Jungfrauen mit ihren brennenden Ampeln emporwandelten, die unklugen aber blieben auf der Bühne und flehten Christus jammernd an, durch seinen bittern Tod ihn bittend:

Vns hat vorsumit unse tumpheyt,
nu laz vns genize dyner grozen barmeherczigkeyt
vmme Mariam, die liben mutir dyn,
vn laz vns armen ezu dynir wertschaft in!

Christus verneinte mit Strenge, sich lateinischer Bibelsprüche bedienend und diese deutsch erläuternd, so unter andern: Amen amen dico vobis nescio vos!

Ich enweiz niht, wy ir sit. –

Da warfen die fünf Jungfrauen mit ihren lichtlosen Lampen sich auf den Boden nieder und richteten nun zur heiligen Jungfrau die flehendste Bitte, daß doch sie, die niemand ihre Barmherzigkeit versage, von ihrem Sohn Vergebung ihnen erflehen wolle. Aber Maria erwiderte, wenn sie nur früher ihr oder ihrem Kinde etwas zuliebe getan hätten – nun fürchte sie, daß ihre vereinten Bitten erfolglos sein würden, doch wolle sie versuchen, bei ihrem Kinde Gnade zu finden. Und nun wandte sich Maria mit Knieebeugen zu dem göttlichen Sohne und sang: Miserere, miserere, miserere populo tuo – daß es allen Hörern erschütternd durch die Herzen drang, und dann sprach sie zu dem Erlöser, er möge aller Not und aller Schmerzen gedenken, die sie um ihn gehabt und erlitten, und ihr dieselben jetzt dadurch lohnen, daß er diesen Armen vergebe. Aber wie ein Donnerwort scholl es aus dem Munde des strengen Richters: Coelum et terra transibunt, verbum autem meum in aeternum permanet! Wie darob alle Hörer erzitterten – da traten drunten den unklugen Jungfrauen gegenüber zwei entsetzliche Teufelsgestalten, Beelzebub und Luzifer, auf und begehrten die Schar der Verfluchten in die Hölle zu führen; auf ihren teuflischen Rat, sagten sie, hätten jene sich versäumt, und Christus rief:

Recht gerichte sal gesche.
Die vorvluchten muzzen von my ge
in dy tifen helle
vn werde der tufele geselle. –

Da heulte jubelnd das Höllenchor aller Teufel und Verdammten laut auf:

Prelle here prelle!

das hieß: Verwirf sie, Herr, verwirf sie! (vom Worte prellen, zurückfahren, abprallen), und kaltes Entsetzen ergoß sich über den Zuschauerraum. Der Landgraf erseufzete tief. – Wieder beugte Maria ihre Kniee vor Christus und wiederholte noch wortreicher ihre Fürbitte. Da sprach Christus sanft zur heiligen Mutter: Swigit vrowe mutir myn – und verneinte abermals, und zu den Jungfrauen strafend sich wendend, verstieß er sie mit den heftigsten Worten in das ewige Feuer, während die Teufel eine große Kette herbeischleppten und damit die Jungfrauen umschlangen, sie vom Boden wieder emporreißend, deren erste nun in die jämmerlichste markerschütternde Wehklage ausbrach. Sie verwünschte ihre Mutter, daß sie sie geboren, daß sie sie nicht erschlagen; sie beklagte, daß sie nicht, statt eine Christin zu werden, ein Hund geworden, daß man sie nicht vor der Taufe erhenkt, dann würde ihr jetzt nicht so weh sein. Sie verwünschte ihren Vater, daß er sie mit zärtlicher Liebe erzogen, sie habe nun keinen andern Wunsch, als eine Kröte zu sein, aller Welt ein Scheusal, so könne sie jetzt doch in einen unreinen Pfuhl kriechen und der Hölle entfliehn. Schreiend in heller Verzweiflung unterbrach sie eine ihrer Schwestern, und in einem Strom entsetzlicher Reden, das Haar sich raufend, verfluchte diese nun die Hoffart und alle andern Laster. Da hub eine dritte an und rief den Tod, warum er sie nicht ertöte; das allerjämmerlichste Sterben wäre ihr willkommner als die drohende gnadenlose Pein. Die vierte wandte sich an die Zuschauer und rief ihnen zu, daß sie, die Törichten, ihnen zu einem Spiegel gegeben seien, zu einer furchtbaren Warnung. Endlich die fünfte fluchte diesem Tage und warf die trostlose Frage auf, an welchen Vormund sie sich denn wenden sollten, wenn selbst Marias Fürbitte nichts nütze sei, wie jene Weltgerichtshymne, das Dies irae, fragt: Quem patronum rogaturus? – Der Landgraf, nun schon ein bejahrter Mann, schüttelte sein Haupt und murmelte in sich hinein: Misericordias! Misericordias! – Mittlerweile war viel Volk auf die Bühne getreten, an dieses wandten sich jetzt die törichten Jungfrauen, jammernd auf die Brust sich schlagend, mit grauenvoller Heftigkeit, und eine nach der andern sagte aufs neue ihre Wehklage, und das Volkschor antwortete einförmig im schmerzlichen Tone: O we vn o we! – und nichts weiter. Sie mahnten das Volk zu Buße und Reue, warnten vor Sünden und gingen dabei mit rednerischer Kunst von den bisherigen Reimpaaren ab, in einen epischen Rhythmus fallend, so unter andern:

Nu clagit armen alle, daz vnser je wart gedacht.
Vns haben vnse sunde in groz herczeleit gebracht.
Wy muzzen in der helle grozen kummer dol(dulden)
yr vrowen weynet vnse vngevelle und hutit vch, so tut ir wol.

So ging es lange kläglich fort, während Christus, Maria, die Engel und die klugen Jungfrauen durch den emporrollenden Vorhang der Hinterbühne den Blicken entzogen wurden, der mutmaßlich nun ein Bild der flammenden Hölle zeigte, und als die letzte Jungfrau noch die Schlußworte rief, in denen sich die volle Verzweiflung darüber ausdrückte, daß keine Fürbitte, kein Meßopfer ihnen helfen könne:

Eyn tot baz hulfe dem eyn selgerete?
Wy verdinent gotis czorn!

da schrieen die Schwestern und alles Volk, und da jauchzten die Teufel frohlockend in den Chor:

Des sint wy / syt ir ewigklichen vorlorn!

Und da hörte man einen Aufschrei von einer Mannsstimme und gleich darauf einen schweren Fall. Der Landgraf war ohnmächtig von seinem Sessel gestürzt – der Schlag hatte ihn gerührt. Allzu machtvoll hatte dieses erschütternde Spiel, dargestellt mit allem glühenden Eifer des Fanatismus, ihn ergriffen, wirre Gedanken hatten sein Gehirn durchfiebert, was es denn sei, wenn nicht Reue, nicht Buße, nicht Andacht und Flehen, selbst nicht die Fürbitte Marias den Sündern Vergebung erflehen könne bei dem, der doch, wie die Schrift lehrte, für die Sünder gestorben war. Zwar erholte sich der Landgraf, er lebte noch eine gute Zeit, aber die freudige Kraft war gebrochen, sein früher so frischlebendiger Geist blieb trüb umwölkt, und die Pfaffen mit ihrem mit entsetzlicher Kunst dargestellten gotteslästerlichen Spiel hatten ihn auf ihrer Seele.

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471. Junker Jörg

471. Junker Jörg

Nach der Zeit ward ein Mann abends auf die Wartburg gebracht; da wohnten schon keine Landgrafen mehr droben, sondern ein Hauptmann und Amtmann, der hieß Hans von Berlepsch, und der mit ihm den gefangenen Mann brachte, hieß Burkhard Hund von Wengkheim, der hatte seinen Burgsitz auf dem Altenstein jenseit des Thüringer Waldes, war aber des Kurfürsten zu Sachsen Amtmann zu Gotha. Die hatten Befehl von ihrem gemeinschaftlichen Herrn, dem Kurfürsten, erhalten, einen Mann, der von Möhra her über den Wald beim Altenstein die Straße nach Sachsen ziehen werde, mitten im Walde aufzuheben, um ihn wohlbewacht, doch ungefährdet auf die Wartburg zu bringen und denselben dort gut zu halten und zu pflegen, auch statt des mönchischen Gewandes, das selbiger Mann trug, ihm ein ritterlich Gewand und ein Schwert zu geben. Und sollte der gefangene Mann sich nennen Junker Jörg, weil er ritterlich stritt gegen den Drachen der Pfaffenverblendung, welche den Menschen so vielen Mißtrost gaben, wie jener Papst Urban dem armen Ritter Tannhäuser und jene Predigermönche zu Eisenach dem freudigen Landgrafen. Und tat Junker Jörg droben auf der Wartburg die größte Rittertat des Geistes, die je (außer Christus) ein Mann getan, er übertrug das Wort Gottes, das alleinige Wort des Heils, die Bibel, in die deutsche Sprache. Solche Arbeit ärgerte und verdroß den Teufel gewaltiglich, und er umsumsete und umbrumsete den gelahrten Ritter und Doktor gar arg und wollte ihn irre machen, ließ ihm auch des Nachts keine Ruhe, sondern rasselte und rappelte in den Nüssen, die der Doktor in einem Sack unterm Bette hatte, polterte auch auf dem Boden und auf dem schmalen Gang im Ritterhause, vor der Zelle, herum, aber der Doktor sprach bloß: Bist du’s, so sei es! – Aber endlich hat doch einmal der Doktor aus Zorn, als er wieder recht eifrig arbeitete und der Teufel in Gestalt einer Hummel oder Hurnauspe recht eifrig um ihn herumsumsete, das Tintenfaß genommen und es nach ihm geworfen, daß ein großer Tintenfleck an der Wand worden, und von da ab hat ihn der Teufel auf Wartburg in Ruhe gelassen. Der Fleck ist aber zum Andenken geblieben, und wenn die Wand überstrichen worden, ist er wieder zum Vorschein gekommen, und endlich hat jeder, der’s gesehen, davon ein Bröcklein zum Wahrzeichen mit sich davontragen wollen, da hat es freilich verschwinden müssen, und ist jetzt eher ein Loch in der Wand als ein Fleck.

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472. Mönch und Nonne

472. Mönch und Nonne

Angesichts der Wartburg und ganz nahe der Trümmerstätte der zerstörten Dynastenburg Mittelstein, jetzt Mädelstein geheißen, stehen zwei Steinfelsen, die sind so zueinander geneigt, daß sie sich zu Häupten fast berühren, und heißen Mönch und Nonne. Da es in Eisenach noch Klöster gab, waren drunten in einem ein Mönch, im andern eine Nonne, die liebten einander und verabredeten auf dieser Höhe ein Stelldichein, auf einer Stelle, wo man von der Stadt aus nicht gesehen werden konnte. Sie herzten sich und küßten sich und verwünschten den Klosterzwang, der sie für ewig trennte, und wünschten, wie Liebende tun, sich ewig nahe sein, sich ewig küssen zu können. Und da sie dies so beweglich wünschten, so ward der Wunsch erfüllt, sie wurden zu hohen Steinfelsen, die von weitem gesehen immer noch menschliche Gestalt zu haben und einander zu küssen scheinen.

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