525. Die Totenschauerin

525. Die Totenschauerin

Auf dem Schlosse zu Rudolstadt lebte einst eine Prinzessin, die hat eine gar traurige Begabung gehabt. Wenn in dem fürstlichen Hause ein Sterbefall eintrat, so sahe sie statt der wirklichen Leiche auf dem Paradebette jedesmal die nächstfolgende. Und obschon dieses zweite Gesicht die Prinzessin gar traurig machte, weil ihr Herz stets den Schmerz um zwei Glieder der Familie empfand, so konnte sie doch nicht unterlassen, jedesmal in den Sarg zu blicken, doch behielt sie, was sie schaute, stets als tiefes Geheimnis in ihrer Brust verschlossen, aber ihr Leben ging dabei trübe und traurig hin. Zu einer Zeit aber setzte sie ihren letzten Willen auf, ordnete ihr Begräbnis an und entschlummerte bald darauf sanft – sie hatte sich selbst im letzten Sarge erblickt – und nahm diese dunkle Gabe mit in das Grab.

In der gewölbten Torhalle des Rudolstädter Schlosses ist eine eiserne fest verschlossene Türe, durch diese tritt, ohne daß eine Angel sich regt, zu gewissen Zeiten zur Mitternachtstunde eine weiße Gestalt mit marmorbleichem Antlitz, schreitet die Stufen herab, wandelt über den Schloßhof und verschwindet dann wieder. Diese Erscheinung soll der Geist jener totenschauenden Prinzessin sein und jedesmal dann erblickt werden, wenn dem fürstlichen Hause ein Trauerfall bevorsteht.

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526. Das Frühmahl

526. Das Frühmahl

Auf dem Schlosse zu Rudolstadt herrschte die verwitwete Katharina von Schwarzburg, eine geborene Fürstgräfin von Henneberg, als der niederländische Krieg durch die Lande wütete. Sie hatte für das Land ihrer unmündigen Söhne einen kaiserlichen Schutzbrief erwirkt, denn es nahten ihm des blutgierigen Herzogs Alba räuberische Scharen. Der Herzog kam in Rudolstadt an und lud sich auf ein Frühstück bei der Gräfin auf dem Schlosse ein, und diese Einladung konnte nicht abgelehnt werden. Während der Herzog mit seinen Begleitern und Gefolge sich’s wohlschmecken ließ, taten die spanischen Soldaten nach ihrer Gewohnheit, trieben den Bauern das Vieh weg, plünderten und erpreßten Geld. Klage auf Klage traf ein, und die Gräfin hieß ihren ganzen männlichen Hofstaat und alle Schloßdienerschaft sich bis an die Zähne bewaffnen, dann trat sie in den Speisesaal zum Herzog Alba und schilderte ihm die Ungebühr seiner Soldateska, indem sie ihm des Kaisers Freibrief zeigte. Alba aber sagte: Krieg ist Krieg! – Da sprach die Gräfin: Schreibt einen Brief, Herr Herzog, an Euer Volk, daß sie meinen Untertanen alles wiedergeben, was sie raubten, und auf der Stelle ihrer Zügellosigkeit Einhalt tun. – Wie, Frau Gräfin? fragte unmutig der Herzog und zeigte keine Neigung, der Aufforderung Folge zu leisten, da rief die Gräfin ganz entrüstet: Ihr wollt nicht? Nun, bei Gott, Fürstenblut für Ochsenblut! – Ein Handwink der mutvollen und entschlossenen Frau, und durch alle Türen drängte sich, Mann an Mann, eine Schar Geharnischter mit bloßen Schwertern und spitzen, scharfen Partisanen. Der Herzog wurde blaß und flüsterte mit dem Herzog von Braunschweig, der mit ihm war. Dann schrieb er die Ordre. Der Herzog von Braunschweig lachte und lobte, äußerlich im Scherz, innerlich im Ernst, die herrliche deutsche Frau, die nun gar demütig dankte und die Bewaffneten entließ. Alba schwieg und ging und mag lange an das Rudolstädter Frühmahl gedacht haben. Diese wackere Gräfin ruht in der Kirche zu Rudolstadt, und über ihrer Gruft ist ein schönes metallenes Denkmal mit nachrühmender Schrift zu lesen. Sie war eine große Beschützerin verfolgter protestantischer Geistlichen, so namentlich des Kaspar Aquila und Justus Jonas.

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527. Die Hangeeiche

527. Die Hangeeiche

Überm Saalstrom drüben zwischen Rudolstadt und Saalfeld ist ein Bergzug, dessen höchster Gipfel der Kulm heißt, von dem auch manche Sage geht, da war einst ein schöner Eichenwald, und in demselben stand eine besonders große uralte Eiche. Es geschah zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, daß eine Abteilung Kriegsvolk im Dorfe Reichenbach am Fuß des Waldberges im Quartier lag, sich dort gütlich tat und dann weiterzog. Am Tag darauf sollte das heilige Abendmahl im Gotteshause den Frommen dargereicht und dem Herrn für den Abzug der Soldateska gedankt werden, siehe, da fehlte der goldene Altarkelch, den in uralter Zeit ein frommer Mann der Kirche geschenkt hatte, und alle Anzeichen ließen vermuten, daß der Kelch von den Soldaten gestohlen worden sei. Da erbot sich der alte Schultheiß, ein bejahrter Mann, den Kriegern zu folgen und von dem Hauptmann den geraubten Kirchenpokal zurückzufordern, wie sehr er dabei auch sein Leben der Gefahr aussetzte. Er ereilte den Soldatenhaufen auf der mittlern Heide, und unter jenem mächtigen Eichbaum hingestreckt fand er den Hauptmann und brachte seine Klage vor. Mit strengem Blick hörte der Hauptmann die Beschuldigung, daß einer seiner Leute den Kelch geraubt, und befahl sofort, wenn der Schuldige unter ihnen sei, solle er den Becher herausgeben. Keine Hand rührte, kein Schuldiger meldete sich. Nun wohlan! rief jetzt der Hauptmann dem Schulzen zu, suche euren Kelch! Bei welchem du ihn findest, der soll auf der Stelle an dieser Eiche henken, findest du ihn aber nicht, so henkst du, dafür, daß du meine Leute solcher Tat geziehen!

Erschreckt bis zum Tode begann der Schultheiß sein Suchen und fand nichts. Schon glaubte er sein Leben dem Tode verfallen, da blinkt etwas hell aus dem Schatten eines Busches, da liegt ein schlafender Soldat, den Kopf auf dem Tornister ruhen lassend, und aus dem Tornister blinkt der Altarkelch. Gefunden! ruft laut der Schulze und zieht den Kelch hervor. Verwünschungen der Kameraden und Fußtritte wecken den Schlafenden, der ganz betäubt die Klage hört, und da tritt auch schon der Profoß heran mit dem Strick, und nach kurzer Frist bedeutete der Hauptmann ihn, den Dieb zu henken. Endlich hat dieser begriffen, um was es sich handelt, und beteuert laut seine Unschuld, und da alles nichts hilft und er zur Eiche hingedrängt wird, ruft er verzweiflungsvoll: So möge niemals, so wahr ich unschuldig sterbe, ein Eichbaum in diesem Walde grünen und aufkommen! So starb er, und starb unschuldig. Der ihn aufhenkte, war der Dieb, der rasch und heimlich, als er des Hauptmanns Schwur hörte, den Kelch aus seinem Tornister nahm und in den des schlafenden Kameraden steckte. Kaum war nun der Kamerad gehenkt und der Schulze mit dem glücklich gefundenen und zurückerhaltenen Gottestischbecher nach Reichenbach zurückgeeilt, so erwachte die Natter des Gewissens in dem Henker, und er zitterte, wo er eines Eichbaums ansichtig wurde. Nirgend Rast und nirgend Ruhe findend, verließ er seine Fahne, ging zur Eiche zurück, schnitt den armen Kameraden ab, begrub ihn unter tausend bittern Reuetränen und knüpfte sich selbst an einen Ast der Eiche auf. Andere sagen, er habe sein Verbrechen dem Hauptmann eingestanden und dieser ihn alsbald am selben Baum sein Recht widerfahren lassen.

Auf der Heide aber starben bis auf die Hangeeiche alle Eichbäume ab, das machte die Verwünschung des unschuldig Gemordeten, und der Wald trägt keine mehr, selbst die Hangeeiche dorrte endlich ab oder ward vom Sturme gefällt.

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528. Der Wassermann

528. Der Wassermann

Zu Unter-Preilipp, einem Dorfe unterm hohen Kulm, das bis hinab zum Saalufer reicht, allwo ein uralt Kirchlein mit köstlichen Schnitzbildern und einem Handörgelein, das Herzog Ernst der Fromme selbst gespielt haben soll, ward nachts an die Türe der Wehmutter gepocht, und draußen hat ein kleiner Mann gestanden und sie gerufen; da sie nun herunterkam, ist er hinunter ins Unterdorf gegangen nach der Saale zu und hat ihr drunten eine Binde über die Augen geworfen und darauf mit einer Gerte auf das Wasser geschlagen, und da hat sich das Wasser auseinandergetan und sind die zwei auf Stufen tief hinuntergeschritten und zuletzt in eine kleine Stube gekommen, wo der kleine Mann der Frau das Tuch abnahm und sie eine kleine Frau in einem kleinen Bettchen liegen sah, die ihrer Hülfe dringend bedurfte, worauf der Mann die Stube verließ. Da nun die Wehmutter alle ihre Sachen mit gutem Glück verrichtet hatte, sprach die kleine Frau: Ich bin eine Christin getauft wie du, aber der greuliche Wassermann hat mich ausgetauscht, da ich noch ein Sechswochenkind war, der frißt meine Kindlein alle am dritten Tage. Er wird gleich wiederkommen und dir viel Geld bieten, nimm aber ja nicht mehr, als andere dir geben, ich weiß, eure Art nimmt gern so viel als möglich, nimm auch keinen Weck mit und trinke keinen Wein, wenn er dir es anbietet, sonst dreht er dir hinterdrein den Hals um. Die Wehmutter befolgte diese Lehren genau und ward glücklich und ohne Gefährde zurückgeleitet; beim Abschied grölzte noch der Wassermann: Du hast klug getan, nicht mehr zu nehmen, als dir gebührte – und da hat hernachmals die Hebamme auch nicht mehr bei den Leuten geschleckt und sich füttern lassen und auch noch mit nach Hause genommen und keine großen Taler gefordert von armen Leuten.

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52. St. Katharinens Handschuh

52. St. Katharinens Handschuh

Gar eine schöne Schildsage hatten die edlen Herren von Handschuchsheim, deren letzter im Jahre 1600 des Todes verblich, indem ihn Friedrich von Hirschhorn zu Heidelberg auf offnem Markt zur Nachtzeit auf den Tod verwundet hatte, und mit deren erstem sich das Folgende soll begeben haben. Er war ein frommer junger Ritter, der ging fleißig zur Kirche, und es geschah, daß er im Gebet vor dem Altare der heiligen Jungfrau und Märtyrerin Katharina einstmals entschlummerte. Da sah er drei überirdisch schöne Jungfrauen vor sich stehen, doch die mittelste war die schönste von den dreien, die sprach: Wir kommen, dich anzuschauen, und deine Augen sind geschlossen; siehe uns an, und willst du dir ein Gemahl erkiesen, so wähle eine von uns dreien. Da sah der junge Rittersmann an der Palme und am Zackenrad, welches Flammen umweberten, daß St. Katharina selbst es war, die zu ihm gesprochen, und gelobte sich ihr mit allen Freuden. Sie aber setzte ihm einen Rosenkranz auf das Haupt, des Rosen dufteten wie Blüten des himmlischen Paradieses, und verschwand. Der Ritter, als er von seinem Traumgesicht erwachte, fand wirklich den Rosenkranz und bewahrte ihn heilig und fand, daß dessen Rosen nicht welkten. Nun drangen aber seine Verwandten in ihn, daß er sich vermähle, hatten ihm auch schon eine sehr tugendsame adelige Jungfrau auserkoren, und er konnte sich der Heirat nicht entschlagen, fuhr aber doch fort, seiner himmlischen Verlobten in Andacht zu dienen. Seine Hausfrau nahm indes bald wahr, daß der junge Gemahl sie nicht selten verließ, absonderlich des Morgens, wo er nach der Kirche ging, und argwöhnte Schlimmes, fragte auch ihre Kammermagd, wohin ihr Herr wohl immer gehe. Diese nährte nur den Verdacht der Frau, indem sie sprach, es dünke ihr, daß er zu des Pfaffen Schwester schleiche. Da ward die Frau unsäglich betrübt und weinte sehr, und als ihr Gemahl sie fragte, warum sie weine, so sagte sie ihm ihren Verdacht und ihren Kummer an. – Du bist töricht, antwortete ihr der Ritter, die, so ich inniglich minne, ist des Pfaffen Schwester nicht, ist eine viel Höhere und Schönere – und wandte sich hinweg von seiner Frau. Dieser brach solche Antwort fast das Herz, zumal sie gesegneten Leibes sich befand, und in Unsinnigkeit der Eifersucht ergriff sie ein Messer und stach sich’s in den Hals.

Da der Ritter nach Hause kam vom Gebet und das Unheil sah, erschrak er, daß ihm das Herz kalt ward, und fiel in Ohnmacht, und als er wieder zu sich kam, raufte er sein Haar und klagte aller Schuld sich an und rief unter tausend Tränen seine Heilige um Schutz und Beistand. Da erschien ihm die heilige Katharine abermals sichtbarlich mit ihren beiden Jungfrauen und sprach: Auf dein Gebet und meine Fürbitte ist deine Frau wieder lebendig geworden und hat ein Töchterlein geboren! – und neigte sich über ihn und wischte mit ihrer Hand über seine tränenquillenden Augen, daß die Hand ganz davon überfeuchtet wurde, und siehe, da ward aus dem Tränennaß ein Handschuh, so weiß und zart wie das Häutchen im Ei, und St. Katharina streifte ihn sanft ab und entschwand mit ihren Begleiterinnen, und der Ritter fand den Handschuh in seiner Hand liegen. Indem so kam ein Bote, der ihn suchte, und rief: Herr! dein Gemahl lebt und hat ein Töchterlein geboren. – Da ging der Ritter freudenvoll heim, umarmte und küßte Weib und Kind, und beide lobten Gott und die heilige Katharine. Die Frau ließ ein Kloster bauen, und der Ritter tat eine Bußfahrt in das Heilige Land, und als er zurückkam, ließ er jenen Rosenkranz und den Handschuh, den er auf seinen Helm gebunden mit sich geführt und der in allen Gefahren ihn wunderbarlich geschirmt hatte, in der Kirche zum Gedächtnis aufbewahren, nahm auch den Handschuh auf in sein Wappenschild und nannte sein Geschlecht und seinen Sitz Handschuchsheim.

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518. Die Kirchensäulen und der Teufel

518. Die Kirchensäulen und der Teufel

Der Steinmetz, welcher den Plan zur Paulinzeller Kirche angab, faßte den Gedanken, die Kirche von beiden Seiten auf Säulen aus einem einzigen Steine zu stützen. Alle, die das hörten, wunderten sich über das kühne Unternehmen, und um es ausführen zu sehen, boten sich viele Maurermeister zu Gehülfen an. Paulina betete auf Bitten des Baumeisters allemal, wann eine Säule im Steinbruch gehoben wurde, für das Gelingen, und so waren alle Säulen bis auf zwei glücklich aufgerichtet. Als aber die zwei letzten gehoben werden sollten, wurde Paulina durch ein Gespenst im Gebete unterbrochen, und augenblicklich entstand eine Erderschütterung, welche die zwei Säulen zusammenneigte, so daß von jeder ein Stück abgeschlagen wurde. Aber der Steinmetz fügte die Stücke wieder so geschickt und so fest zusammen, daß sich männiglich über dessen Kunst und über die Macht des Gebetes der Gräfin verwunderte.

Der Baumeister hatte mit dem Teufel einen Bund geschlossen, daß ihm derselbe dabei helfe, und zum Lohne die erste Seele versprochen, welche die Kirche betrete. Da nun die Kirche fertig war und eingeweiht werden sollte, schob man zuerst ein Schwein durch die Türe, welches der Teufel aus Zorn und Scham über seine Überlistung wütend packte und mit ihm durch die Decke fuhr. Dabei hinterließ er nach seiner Art einen greulichen Gestank, der kaum den Düften des Weihrauches wich, und in der Decke blieb ein Loch, das nimmermehr wieder verschlossen werden konnte.

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51. Jettenbühel und Königsstuhl

51. Jettenbühel und Königsstuhl

Nahe bei Heidelberg liegt ein Hügel, heißt der Jettenbühel, ist ein Teil vom Geißberg, nicht weit vom Königsstuhl, der sich hoch über Stadt und Tal erhebt. Man soll vom Gipfel dieses Berges, des Königsstuhl, den ganzen Rheinstrom abwärts bis nach Köln sehen können. Auf dem Königsstuhl habe schon vor Christi Geburt ein deutscher König regiert, und seine Burg habe Esterburg geheißen. Auf dem Jettenbühel aber habe das alte Heidelberger Schloß gestanden. In einer uralten Kapelle wohnte ein altes Weib, Jetta geheißen, und war eine Wahrsagerin, die sich vor wenig Menschen sehen ließ. Denen, welche kamen, ihre Zukunft von ihr zu erfahren, erteilte sie die Antwort aus dem offenen Fenster. Sie verkündigte, ihr Hügel werde dereinst von königlichen Männern, deren Namen sie singend nannte, bewohnt werden, und drunten das Tal werde von tätigem Volke wimmeln. Eines Tages stieg Jetta zum Fuße des Geißberges hinab, nach Schlierbach zu, wo ein Brunnen quoll, den sie gern besuchte, da lag eine Wölfin am Brunnen, die säugte Junge, zerriß und fraß die Jetta. Der Brunnen heißt noch bis heute der Wolfsbrunnen. Das Schloß auf dem Jettenbühel, die alte Pfalz, wurde am Tage St. Marci 1536 durch einen Blitzstrahl entzündet, wobei ein Pulverfaß in Brand geriet und einen Teil des Schlosses in die Luft sprengte. Kurfürst Friedrich I. von der Pfalz erbaute, da er in des Kaisers Acht gefallen war, einen starken und festen Turm und nannte den Turm Trutz-Kaiser.

Gegenüber dem Kaiserstuhl liegt jenseit des Neckar ein Berg, der heißt Allerheiligen- oder Heiligenberg, darinnen sind viele Höhlengänge und unterirdische Klüfte. Schon zu Römerzeiten soll auf dem Berge ein Tempel gestanden haben, ein Pantheon der Heiden, und die unterirdischen Gänge sollen einem Orakel gedient haben. Sie werden noch die Heidenlöcher genannt und von Erdzwergen bewohnt. Von dem Heidentempel aber hat der Heiligenberg keinesweges seinen Namen, sondern von Kirchen und Klöstern, die man in späterer Zeit dahinauf erbaute. Denn als die Christenreligion in diese Gegenden drang, da schenkte der deutsche König Ludwig III. (regierte 877 – 882) dem nachbarlichen Kloster Lorsch den Berg zum Eigentum, da wurde dem heiligen Michael zu Ehren eine Kirche hinaufgebaut, allein sie ging wieder ein, zwei Benediktinerklöster, eins nach dem andern, und gingen wieder ein, eine Kirche dem heiligen Stephan, ging ein, und noch eine Kirche dem heiligen Laurentius, und ging wieder ein. Es war, als ob die alten Heidengötter auf ihrem Berge unsichtbaren gewaltigen Kampf führten gegen das Christentum und es auf ihrem Sitz nicht duldeten, und jetzt sind die heiligen Stätten wüst und öde, und nur die Heidenlöcher sind noch vorhanden.

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519. Wittekind, der schwarze Ritter

519. Wittekind, der schwarze Ritter

Nicht weit von Paulinzelle erhebt sich in einem felsreichen Waldtale Schloß Schwarzburg stattlich und schön, die auf der Stätte eines der ältesten thüringischen Burgbaue steht. Die Stammsage des Grafengeschlechtes von Schwarzburg kündet, daß einst ein naher Verwandter des großen Sachsenfürsten Wittekind, und den gleichen Namen mit diesem teilend, von Karl dem Großen gefangengenommen worden. Die Tapferkeit, die dieser Sachsenführer und seine Söhne bewiesen, habe Karolo wohl gefallen, und er habe jene zum Christentum bekehrt, habe sie taufen lassen und sei ihr Taufpate geworden. Da habe nun Wittekind, zubenannt der Schwarze, den Namen Ludwig empfangen, seine beiden Söhne aber, die Wittekind und Walperto geheißen, wären Karl und Ludwig genannt worden. Wittekind der Vater habe nun die Schwarzburg erbaut und sie seinem ältern Sohn zum Erbe bestimmt, Ludwig, der jüngere Sohn, sei Erbauer des Schlosses Gleichen geworden. Karl der Große erhob seinen Paten Karolus zu einem Grafen von Schwarzburg und begabte ihn mit einem Strich Landes im Thüringer Walde von zwanzig Meilen im Umkreis. Als der große Karl Ludwig den Bärtigen zu einem Grafen von Thüringen erhoben hatte, ordnete er ihm zwölf edle Vasallen zu, darunter waren auch die Grafen von Schwarzburg, die sich in sehr früher Zeit, schon im Jahre 1099, von Gottes Gnaden schrieben. Auch wurden sie später den Viergrafen des Reiches zugezählt. Das feste Haus Swartzinburg, wie die älteste Urkunde, die seiner erwähnt, schreibt, gehörte dem edlen Grafengeschlechte, ehe es noch von der Burg den Namen annahm. Der erste, der sich einen Grafen von Schwarzburg nannte, nannte sich auch zugleich einen Grafen von Thüringen und einen Grafen von Käfernburg. Sein Name war Sizzo, sein Vater hieß Gundar, aus welchem Namen später der erbliche Familienname der Fürsten von Schwarzburg, Günther, gebildet wurde, und lebte zu Ende des eilften und im Beginn des zwölften Jahrhunderts. Graf Sizzo wurde der Gründer des nahe bei Schwarzburg liegenden Dorfes Sitzendorf. Sizzos Söhne wohnten auf den Schlössern Schwarzburg und Käfernburg. Aus dem fürstlichen Hause Schwarzburg gingen in später Zeit hervor ein deutscher Kaiser, zwei Erzbischöfe, ein Großmeister des Deutschen Ordens und mancher heldenmütige Streiter.

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520. Der Greifenstein

520. Der Greifenstein

Ein thüringischer Graf des Namens Heinrich brachte aus einem Kreuzzuge einen Greifen mit, andere sagen einen Falken, der nur auf den Namen Greif gehört. Einst ließ der Graf den Greif nach einem Reiher steigen, er stieg und kam nicht wieder, das war dem Grafen sehr leid, und er gebot seinen Dienern, allüberall zu suchen und zu spähen, ob sie den Greif fänden – es war aber vergebens. Des andern Morgens ging der Graf selbst wiederum aus, den Falken zu suchen, den er sehr ungern mißte. Da erblickte er ihn nach dem Kesselberge zu hoch in der Luft schweben und im Nu auf einen Schwarm Vögel niederstoßen, die sich auf einem nahen Berge niederließen. Eilends bestieg der Graf diese Anhöhe und fand seinen Greif an dem Orte, wo sonst die Burggerichte gehalten wurden, im Gebüsche seine Beute verzehrend, rings umher aber Singvögel, die von ihren Nestern aufflatterten. Ei, ei, du loser Schelm, sagte der Graf scherzend, hab‘ ich dich nicht gehalten wie ein Kind, und doch willst du mich verlassen? Freilich ist’s hier schöner als auf meiner Hand, und du hast dir wahrlich keine üble Residenz erwählt. So sprach der Graf, und seinen Greif auf die Hand nehmend und streichelnd, schaute er sich um, und weil ihm der Platz so wohl gefiel, da man von ihm aus Tal und Gegend weit überschaute, so kam es ihm in den Sinn, hier eine Burg zu erbauen. Noch in demselben Jahre wurde der Grund gelegt; der Bau währte mehrere Jahre, denn es wurde so fest und stark gebaut, wie wenn die Mauern ewig halten sollten; ja, der Mörtel, der noch jetzt mit unverwüstlicher Festigkeit die mürben Sandsteine zusammenhält, soll mit Wein angemengt worden sein, damit er die Steine um so fester kitte. Die Burg aber nannte der Graf zum Andenken seines Greifes, der den Platz erwählt, Greifenstein, das Volk nennt sie nur das alte Schloß und glaubt, sie sei bei einer Belagerung zerstört und verbrannt worden, obgleich diese Meinung der Geschichte zuwiderläuft; in der Geschichte aber heißt sie die Blankenburg, und die Grafen von Schwarzburg hatten sie inne und wohnten auf ihr.

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521. Der Mönch auf Blankenburg

521. Der Mönch auf Blankenburg

Auf dem Burghofe der alten Blankenburg läßt sich in der Dämmerstunde oft ein Mönch mit grauem Haare und Barte sehen, der den Leuten winkt, sie möchten ihm folgen. Das hat aber bis jetzt noch niemand gewagt als ein Schäferknabe, der auf dem mit Gras bewachsenen Hofe seine Lämmer weidete. Den führte der Mann mit langer grauer Kutte, die mit einem Stricke umgürtet war, an ein eisernes Tor. Der Mönch berührte es mit dem Finger, und im Nu sprangen die Flügeltüren auf und eröffneten den Blick in unterirdische Säle, wo das Licht der Lampen, die von der Decke schimmerten, sich in tausend goldenen Geräten spiegelte. Der Saal war mit harten Talern gepflastert, und in den Winkeln lagen Haufen Goldstücke. Obgleich der Mönch winkte, hineinzutreten und zuzulangen, so traute sich doch der Bube nicht, und als er dem vor Staunen fast an die Stelle gebannten Knaben lange zugewinkt, verschwand er plötzlich, und es war keine Spur von Tor und Saal mehr zu sehen.

Das soll der Arzt Freidank sein, welcher den Kaiser Günther, der hier auf dieser Blankenburg geboren wurde, vergiftete und so lange hier umgehen muß, bis ihm, dem treulosen Verräter, ein Mensch Zutrauen geschenkt hat.

Sonst mußte jedes Kind, welches zum ersten Male den Greifenstein besuchte, ein Stücklein Brot mitnehmen, womit es den Mönch begütigen könne, wenn er erschiene. Dabei wurde dem Kinde, das sich aus Furcht vor dem Mönche scheu an die Eltern schmiegte, der tiefe, jetzt leider fast ganz verschüttete Brunnen gezeigt, welcher ehemals so tief gewesen sein soll, daß ihm das Wasser aus der Schwarza zufloß, und aus dem der Storch die kleinen Kinder holt und sie den Müttern, den Geschwistern aber große Zuckertüten mitbringt.

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