Trifels

Rheinsagen

Über dem Annweiler Tale bei Landau erhob sich eine stattliche Kaiserpfalz, Burg Trifels genannt. Es geht die Sage, daß König Richard Löwenherz von England darinnen gefangengehalten worden sei vom Kaiser Heinrich VI. Niemand wußte, wo er hingekommen, und es war große Sehnsucht nach Richards Wiederkehr in seinem Reiche.

Nun hatte Richard einen treuen Dienstmann, der hieß Blondel; der war ein Minnesänger und verstand sich meisterlich auf die Kunst des Gesanges und der Töne. Der machte sich mit einer Schar redlicher Männer auf, seinen König allüberall zu suchen. Reichen Schatz an Gold und Kleinodien, den das Volk geopfert, nahmen sie mit sich zum Lösegeld. Auch König Richard war ein Minnesänger, und Blondel kannte und konnte des Königs Lieder. Vor mancher Burg, darinnen er den König gefangen glaubte, hatte Blondel schon seine Weisen angestimmt, auf welche, wie er sicher voraussetzte, der König, wenn er ihn hörte, singend antworten mußte; aber es war still geblieben hinter den festen Mauern.

Schon war er am Donaustrom auf- und abgezogen und hatte auch rings um den Rhein gesucht und gesungen, da vernahm er, daß in der Nähe der Stadt Landau, allwo man dazumal des deutschen Reiches Kleinodien aufbewahrte, auf dreien Felsenzacken ein gar großes und stattliches Kaiserschloß stehe. Und da Blondel der Meinung war, nur in einem solchen Schloß werde der deutsche Kaiser seinen König und Herrn gefangenhalten, so wandte er sich dorthin mit den Seinen, umschlich spähend die Mauern und stimmte am Fuße der starken und hohen Türme, in deren Tiefen und Verliesen man gewöhnlich die Gefangenen schmachten ließ, jene Weisen an, die nur König Richard kannte. Und – o Freude! – endlich, endlich drang aus dem Gemäuer des Turmes auf Trifels antwortender Gesang in gleicher Weise. Hoch schlug vor Freude Blondels Herz: sein Richard, sein König, war gefunden und bald darauf auch aus seiner Haft befreit.

Chorkönig

Das alte Münster zu Straßburg hatte Chlodwig erbaut, der Frankenkönig. Es war ursprünglich nur ein hölzern Gebäu, und im Jahre 1002 brannte es Hermann, Herzog von Elsaß und Schwaben, der mit Kaiser Heinrich um die Kaiserkrone stritt, fast ganz bis auf den Grund nieder; doch blieb der Chor Karls des Großen stehen. Aber 1007 schlug das Wetter hinein, und der Rest des Baues sank in Trümmer.

Da geschah es, daß Kaiser Heinrich II. im Jahre 1012 gen Straßburg kam. Er beklagte des Münsters Untergang und ließ sich die Regel und Ordnung der Chorherren vorlegen. Die gefiel ihm also wohl, daß er bei sich beschloß, der Bürde seiner Krone zu entsagen und ein Chorherr in »Unser lieben Frauen Münster« zu Straßburg zu werden. Das erschreckte gar sehr alle seine Getreuen; denn das Reich bedurfte seiner, und sie redeten ihm zu, von diesem Vorhaben abzustehen. Kaiser Heinrich aber, den man seines frommen Sinnes und seiner Mildtätigkeit gegen Klöster und Stifte wegen den Heiligen nannte, wollte nicht von seinem Vorsatz lassen.

Nun war zu Straßburg ein Bischof, der hieß Werinhard. Als dieser sah, daß der Kaiser sich nicht abbringen ließe von seinem Vorhaben, nahm er sich vor, ihm die geistlichen Gelübde abzunehmen, vor allem das Gelübde des Gehorsams. Wie der Kaiser das geleistet hatte, befahl er ihm kraft Gottes und in dessen Namen, die Kaiserkrone zu behalten, da das Reich seiner Herrschaft nicht entraten könne. Der Kaiser sah sich überlistet; doch gebot er, so solle fortan an seiner Statt ein anderer Chorherr im Frauenmünster Gott dienen und das Amt versehen und am Altar für ihn singen und beten, der solle der Chorkönig heißen. Er stiftete auch eine reiche Pfründe in das Gotteshaus, das war die Chorkönigspfründe, die hat bestanden weit über 600 Jahre.

Und Bischof Werinhard war es, der hernach im Jahre 1015 den Grundstein zu dem steinernen Münster in Straßburg legte.

Die Münsteruhr

Zu Straßburg im Münster ist ein kostbares und bewunderungswürdiges Uhrwerk, das seinesgleichen in der ganzen Welt nicht hat. Hoch und stolz, ein wundersames, figurenreiches Gebäu, steht es da vor aller Augen.

Am Fuße des Kunstwerks zeigt sich neben einem Himmelsglobus ein Pelikan; darüber erhebt sich ein Kalender, in dessen Mitte die Erdkugel ersichtlich ist. Zu beiden Seiten stehen der Sonnengott und die Mondgöttin, welche mit ihren Pfeilen die Tages- und Nachtstunden zeigen. Schildhalter an den vier Winkeln des Kalendariums lassen Wappen erblicken. Darüber fahren in Wagen, von verschiedenen Tiergespannen gezogen, die sieben Planetengötter als Tagesboten. Jeden Tag zeigt sich, sanft vorrückend, ein anderes Gespann, steht zur Mittagsstunde in der Mitte und gibt dann allmählich dem nachfolgenden Raum. Darüber befindet sich ein großer Viertelstundenzeiger, und zur Seite sieht man vier Gebilde: die Schöpfung, Tal Josaphat, Jüngstes Gericht und Verdammnis. Zur Rechten des Beschauers steht ein freier Treppenturm am Uhrgebäu, zur Linken ein ähnlicher von anderer Form mit Göttergestalten, auf der Spitze ein großer Hahn, welcher die Stunden kräht und mit den Flügeln schlägt. Am Sockel der Türme halten zwei große, aufrechtsitzende Löwen je einer den Helm mit dem Kleinod, der andere das Wappenschild Straßburgs. Rechts in der Mitte ist das riesiggroße, mannigfach verzierte und mit kunstvollem Triebwerk versehene Zifferblatt, umgeben von den Bildern der vier Jahreszeiten; darüber steht: Dominus lux mea, quem timeo28 . Den Zeiger bildet ein geschlängelter Drache, dessen Zungenpfeil auf die Stundenzahl deutet. Über dem Zifferblatte zeigt ein kleinerer Kreis mit der Mondesscheibe genau des Mondes wechselnde Zeiten. Darüber zeigen sich zwischen Schildhaltern und Wappenfiguren wandelnde Gestalten der Menschenalter, welche an die offen hängenden Viertelstundenglocken schlagen; über ihnen hängt die Stundenglocke. Nach jedem Viertelstundenschlage tritt der Tod hervor, die Stunde anzuschlagen; aber da begegnet ihm die Gestalt unsers Heilands und wehrt ihm. Erst wenn die Stunde voll ist, darf der Tod sein Stundenamt üben. Hoch über allem diesem erhebt sich eine gotische Krone mit den freistehenden Gestalten der vier Evangelisten, die Tiere der Offenbarung neben sich, und über diesen stehen zwei musizierende Engel. Dahinter aber birgt sich ein gar schönes, klangvolles Glockenspiel. Auch ist noch manch anderes künstliches Bildwerk an der Münsteruhr zu sehen und manch gedankenvoller Spruch daran zu lesen.

Dieses herrlichen Werkes Meister hieß Jsaak Habrecht; der hatte gar lange gesonnen Tag und Nacht und unermüdlich gearbeitet, bis er es vollendet und bis es durch seinen lebendigen Gang alle Welt zum Erstaunen hinriß. Da es nun vollbracht war, gedachte der Meister auch anderswo seine unvergleichliche Kunst zu üben. Da blies der böse Feind dem Rate der Stadt Straßburg schlimmen Neid in das Herz; denn es sollte ihre Stadt solch Wunderwerk nur einzig und allein haben. Und weil die Herren im Rate glaubten, wenn sie dem Meister Habrecht auch verböten, der Stadt Weichbild zu verlassen, werde er Straßburg dennoch den Rücken kehren, so wurden sie miteinander eins, ihn des Augenlichts zu berauben. Das ward dem Meister angesagt, und wie er es vernahm, schauderte ihn, und er sprach: »Nur einmal noch muß ich mein Uhrwerk sehen! Ich möchte noch etwas daran verbessern, da ich’s später nicht mehr vermag, wenn ich nicht mehr sehend bin.« Das wurde ihm vergönnt, und so stieg der Meister zu seinem künstlichen Bau hinauf und trat hinein und schaffte was darin, eine kurze Weile. Und hernach haben sie auf dem Rathause den Meister des Augenlichts beraubt. Aber siehe – da stockte mit einem Male das Uhrwerk. Christus und der Tod und die Gestalten der Menschenalter wandelten nicht mehr, das Glockenspiel verstummte, der Hahn krähte nicht, die Uhrglocken tönten nicht, der Zeigerdrache zeigte nicht, die Götter fuhren nicht mehr – alles stand. Bald aber nach der grausamen Tat wurden Meister Habrechts geblendete Augen aufgetan zum ewigen Licht.

Vergebens sandte der Rat nach Künstlern umher, die das Uhrwerk wieder in Gang bringen sollten. Viele kamen, viele probten und pösselten daran und darin herum, aber keiner bracht’s in Gang, von alter Zeit zu neuer Zeit. Erst in den Jahren 1839–42 ist es gelungen, das Werk zu erneuern und wieder in Gang zu setzen.

  1. Der Herr ist mein Licht, den ich fürchte.

Straßburger Schießen und Züricher Brei

Im Zeughaus zu Straßburg wird ein eherner Topf gezeigt, den sandte dahin einstmals die Stadt Zürich voller Brei, den sie in Zürich gekocht hatten und der noch warm in Straßburg ankam. Das begab sich also.

Die Straßburger hielten großes Freischießen und luden dazu ein alle Nachbarstädte am Rhein, in der Rheinpfalz, im Elsaß und in der Schweiz. Die kamen auch durch Gesandte in großer Zahl und nahmen teil am Feste. Am weitesten hatten’s freilich die Schützen von Zürich, drei Tagereisen. Da war zu Zürich ein wackerer Kumpan, der hieß Hans im Weerd und sann ein lustig Stücklein aus: »Wir wollen gen Straßburg zu Wasser fahren; da brechen wir kein Rad und fällt keiner vom Roß. Und wir wollen das tun, so Gott will, in einem Tag, und einen heißen Brei, den wir allhier gekocht, den Straßburgern mitbringen.«

Dieser Rat fand großen Beifall. Alles ward vorgerichtet und gerüstet, der Brei wurde in einer Nacht gekocht, kam in einen warmen Topf von Erz, und der Topf wurde in heißen Sand gestellt, und nun ging es schnell zu Schiff, als die Sterne noch glänzten. Vom Schiffe wehten lustig die Wimpel mit Zürichs Farben, weiß und blau, und munter flog es über der Limmat rasche Wellen dahin. Von der Limmat lenkten die fröhlichen Schweizerschützen in die Aar, vorüber an mancher gefährlichen Stelle, und aus der Aar in den Rhein, am Höllenhaken kühn vorbei durch Strudel und Klippen. Da das glückhafte Schifflein gen Rheinfelden kam, wohin schon die Kunde von seiner Fahrt gelangt, ward zur Mauer herab ein Korb voll edlen Weines zum Morgentrunk herabgelassen und unverweilt eingenommen. Als die Basler Glocke zehn schlug, nahte das glückhafte Schiff mit seinen Zürichern schon der Brücke. Da schallte ihnen von aufgestellter Mannschaft und drängendem Volk herzlichfroher Bundesgruß entgegen, und die Geschütze krachten. Aber wie ein Pfeil schoß das Schiff, getrieben von den Ruderschlägen stets sich ablösender kräftiger Ruderer immer rheinabwärts, und vorn im Schiff am Steuer stand lugenden und sorgenden Blickes Hans im Weerd, und mitten im Schiff saß Kaspar Thomann, der Züricher erwählter Obmann und Sprecher beim Schützenfeste. So ging es weiter und immer weiter, an Neuenburg vorbei, an Breisach vorbei, durch die hundert Inseln und Werder und Riede im Rhein. Wohl sank der Abend nieder, wohl tauchte hinter der Vogesen blauer Bergkette das glühende Rad der Sonne unter; aber was leuchtete dort weit, weit her über die unermeßliche Stromtalfläche, eine rote Feuersäule? Im Sonnenscheidekuß flammte Unser Frauen Münsters Turmriese, und der Jubel der Schiffer grüßte das leuchtende ferne Ziel. Aber immer noch liegen Stunden zwischen dem Ziele und dem Schiffe. Der Tag schwindet, die Nacht bricht an, hell und rund steht der Mond am Abendhimmel. Das Münster taucht empor wie ein Geisterschiff; von der Schützenmatte her dringt dumpfer Lärm des Volksgewimmels. Jetzt beginnen auch die im Schiff zu blasen mit hellen Zinken und Posaunen, Pfeifen und Drommeten – jetzt endlich ist Straßburg erreicht, und am Guldenturm legt das Schifflein an.

Rheinsagen

Jubel begrüßt die nimmermüden Stromfahrer, die das nie Dagewesene vollbracht: in einem Tage die unendlichen Strecken gefahren, und der Brei im Topfe noch warm, gerade noch so recht mundrecht. Das war ein gar festliches Begrüßen; mit Musik und Fahnen wurden die werten Züricher Gäste auf die Maurerstube geleitet zum herzlichen Willkommen und frohen Mahle. Von da brachte man die Züricher, nachdem der Brei verzehrt war, in den güldnen Hirsch zur Rast, und am andern Tage beim Schießen wurden sie hoch geehrt vor allen Gästen, und der Topf blieb aufbewahrt für ewige Zeiten.

Sankt Ottilia

Es saß auf Hohenburg ein stolzer Graf, Herr Attich geheißen, dessen Frau gebar ihm ein Mägdlein, und das war blind. Darob ergrimmte Herr Attich und schrie: »Ein blindes Kind will ich nicht; fort mit dem Wurme, und schlagt ihm den Schädel an einem Felsen ein!« und tobte fort. Die Mutter aber sandte alsbald die Amme in Begleitung treuer Knechte mit dem blinden Kinde weit, weit von dannen, gen Palma, das liegt jenseits der Alpenberge in Friaul; dort war ein Frauenmünster, und dorthin ward Herrn Attichs Töchterlein gebracht.

Im Bayerlande aber war ein Bischof mit Namen Erhardus, der hörte im Traume eine Stimme: »Mache dich auf gen Palma in das Stift; dort findest du ein blindes Mägdelein, das sollst du taufen und Ottilia heißen!« Erhardus folgte ohne Weilen der Stimme des Herrn, so er im Traume vernommen, zog gen Palma in das Stift und fand das Kind und taufte es und segnete es. Und siehe, da gingen über der Taufe dem Kinde die Augen auf, und es ward sehend. Und Ottilia blieb im Frauenmünster zu Palma, erwuchs darinnen züchtiglich, erlernte die Orgel schön zu spielen, der Blumen zu pflegen und ihrer Pflichten treulich zu warten.

Herr Attich aber ward vom Himmel heimgesucht, daß er Reue und Leid fühlte ob seines von ihm verstoßenen Kindes, und es trieb ihn zu einer Pilgerfahrt nach Welschland, sein Kind zu suchen. Und da er der Tochter Aufenthalt erfahren, zog er des rechten Weges und hörte nun in Andacht das Wunder, das sich mit ihr begeben, und führte sie zurück nach Hohenburg und an das Herz ihrer Mutter.

Glanz und Reichtum umgab das holde, fromme Kind; aber das alles lockte sie nicht. Und auch als der Ruf ihrer Schönheit und Lieblichkeit sich in der Gegend verbreitete und Freier angezogen kamen, die gern um ihre Hand werben mochten, zeigte sie sich allen abgewendet und wollte allein des Heilands Braut sein. Da nun unter diesen Freiern ein reicher Graf des Gaues war, so gelobte Herr Attich ihm sein Kind zum Ehegenoß und gebot Ottilien, sich nicht länger zu weigern. Das erschreckte die fromme Jungfrau gar sehr. Sie suchte Trost und Rettung im Gebet und fand endlich keinen andern Ratschluß, als schnelle Flucht.

Da nun der Bräutigam am Morgen angeritten kam, war die Braut abhanden und nirgend zu finden. Boten ritten und liefen wohl im Vogesengebirge umher und auf und ab all um den Rhein, und keiner fand Herrn Attichs Tochter, bis nach dreien Tagen endlich die Kunde kam, Ottilia sei in einem Schifflein über den Rhein gefahren, mutterseelenallein, und mochte wohl ein Engel ihr Ferge gewesen sein. Da forschten nun ihr Vater und der Graf gar fleißig nach ihr und waren weit aus und kamen bis gen Freiburg im Breisgau. Und als sie dort im Tale ritten, sahen sie auf einmal auf einer Bergeshöhe die Jungfrau wandeln, und sie sprengten eilend hinan.

Wie nun Ottilia ihre ihr schon nahen Verfolger erkannte, erschrak sie heftig, und sie rief den Himmel um seinen Schutz an. Und da sie an eine Felswand kam, die ihre Schritte gänzlich hemmte, da tat vor ihr die Wand sich auf und schloß sich wieder hinter ihr zu. Aus dem Felsen aber rieselte alsbald ein klarer Wasserquell, und die Verfolger standen davor und wußten nicht, wie ihnen geschehen war.

Nun begann Herr Attich aufs neue in sich zu gehen, seufzte nach der Tochter, blieb an der Quelle und rief dem starren Fels das Gelübde zu, wenn Ottilia wieder zu ihm komme, so wolle er an diesen Ort eine Kapelle bauen und aus seiner Burg ein Kloster machen und das mit reichem Gut begaben. Solches alles geschah, und der Brunnen aus dem Fels ward der Ottilienbrunnen geheißen und übte wundersame Kraft an kranken Augen. Ottilia aber wurde Äbtissin des neuen Klosters, pflegte und heilte Kranke, ward ein Schutzengel des ganzen Gaues und ließ an den Bergesfuß noch ein Kloster, Niedermünster, bauen. Und als sie endlich sanft und selig verschieden, ist sie heilig gesprochen worden, und sie ward die Patronin der Augen und von Augenleidenden insonderheit angerufen.

Federzeichnungen von Otto Ubbelohde (1867 – 1922)


Rheinsagen

Hermann Schaffstein Verlag in Köln
1945
(Erstauflage 1912)

Dreiundzwanzigstes der Blauen Bändchen

Federzeichnungen von Otto Ubbelohde (1867 – 1922)

Rheinsagen

Vom deutschen Rheinstrom

Heilige Wasser rinnen von Himmelsbergen – singt die Edda, das uralte Götterlied. So auch der Rhein, des deutschen Vaterlandes heiliger Strom, rinnt vom Gottesberge (St. Gotthard), aus dem Schoße der Alpen, nieder als Strom des Segens. Durch Hohenrhätiens Alpentalschluchten stürzt er sich mit jugendlichem Ungestüm, frei und ungebunden, umwohnt von einem freien Bergvolke, das in Vorzeittagen hartlastende, schwerdrückende Fesseln brach.

Einst zwang ein Kastellan auf der Bärenburg die Bauern, mit den Schweinen aus einem Troge zu essen; ein anderer in Fardün trieb ihnen weidende Herden in die Saat; andere übten noch andere Frevel. Da traten Hohenrhätiens Männer zusammen, Alte mit grauen Bärten, und hielten Rat im Nachtgrauen unter den grauen Alpen. Auf einer felsenumwallten Wiese ohnfern Tavanasa will man noch Nägel in den Felsenritzen erblicken, an welche die Grauen, die Dorfältesten, ihre Brotsäcke hingen. Und dann tagten sie in Bruns vor der St. Annenkapelle unter freiem Himmel, nach der Väter Sitte, und beschwuren den Bund, der dem alten Lande den neuen Namen gab, den Namen Graubünden, und daß der Bund bestehen solle, solange Grund und Grat steht. Davon gehen im Bündnerlande noch alte Lieder.

Herzog Bernhard hält sein Wort

Im Dreißigjährigen Kriege kämpfte der Sachsenherzog Bernhard von Weimar in den Gefilden des Oberrheins. Da belagerte er das Städtchen Neuenburg zwischen Basel und Breisach, das noch gut kaiserlich war und sich tapfer hielt. Der langen Belagerung und des hartnäckigen Widerstandes der Neuenburger äußerst müde, ergrimmte der Sachsenherzog und verschwur sich hoch und teuer bei. Himmel und Hölle: »Komme ich in das Nest hinein, so soll weder Hund noch Katze mit dem Leben davonkommen!«

Bald darauf mußten sich die tapferen Neuenburger, da sie die Belagerung nicht länger aushalten konnten, ergeben, und die Soldaten wollten schon ihr Mütlein im Blute der Bürgerschaft kühlen und alles ermorden. Da gereute den Herzog seines vermessenen Eides und des vielen edeln, auch zum Teil unschuldigen Blutes, das hier vergossen werden sollte, und er sprach: »Nur was ich schwur, wird gehalten, und nicht mehr und nicht minder! Schont nicht Hunde, nicht Katzen; aber bei Leib und Leben gebiet‘ ich, daß der Menschen geschont werde!« Und also geschah es.

Herzog Bernhard, der große Kriegesheld, hat auch Breisach belagert und erobert, Freiburg eingenommen und bei Rheinfelden das Heer der Kaiserlichen geschlagen. Große Hoffnungen baute auf ihn das deutsche Volk, auch das im Elsaß, und jubelte ihm zu. Es begrüßte ihn überall als einen Retter und als einen Schirmvogt gegen das treulose Nachbarland. Aber er sprach ahnungsvoll: »Ich werde des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf Schicksal teilen: sobald das Volk ihn mehr ehrte als Gott, mußte er sterben.« Und ein Jahr nach Neuenburgs Einnahme starb er alldort, wo er so menschlich gewaltet, der Sage nach an Gift. Die Zeichen dieser Tat aber deuten nach Frankreich hinüber.

Das Riesenspielzeug

21

An einem wilden Wasserfall in der Nähe des Breuschtales im Elsaß liegen die Trümmer einer alten Riesenburg, Schloß Nideck geheißen. Von der Burg herab ging einstmals ein Riesenfräulein bis schier gen Haslach; das war des Burgherrn Tochter, die hatte noch niemals Menschen gesehen. Da gewahrte sie unversehens einen Ackersmann, der mit zwei Pferden pflügte. Das dünkte ihr etwas sehr Spaßiges, das kleine Zeug. Sie kauerte sich zum Boden nieder, breitete ihre Schürze aus und raffte mit der Hand Bauer, Pflug und Pferde hinein. Dann schlug sie die Schürze zusammen, hielt’s mit der Hand recht fest und lief, was sie nur laufen konnte, den Berg hinauf. Mit wenigen Schritten war sie oben und trat jubelnd vor ihren Vater, der gerade beim Tische saß und sich am vollen Humpen labte.

Als er die Tochter so mit freudestrahlendem Gesicht eintreten sah, fragte er: »Nu, min Kind, was hesch22 so Zwaselichs23 in di Furti24 ? Krom’s us, krom’s us25 !« – »O, min Vater!« rief die Riesentochter, »gar ze nettes Spieldings ha i funden!« Und da kramte sie aus ihrem Fürtuch aus, Bauer und Pferde und Pflug, und stellt’s auf den Tisch und hatte ihre Herzensfreude daran, daß das Spielzeug lebendig war, sich bewegte und zappelte. »Ja, min Kind,« sprach der alte Riese, »do hest de ebs26 Schöns gemacht! Dies is jo ken Spieldings nitt; dies is jo e Bur! Trog alles widder fort und stell’s widder hin ans nämlich Plätzli, wo du’s genommen hast!«

Das hörte das Riesenfräulein gar nicht gern, daß sie ihren Fund wieder forttragen sollte, und sie greinte. Der Riese aber ward zornig und schalt: »Potz tusig27 Daß de mir nett murrst! E Bur is nitt e Spieldings! Wenn die Burn nett ackern, so müssen die Riesen verhungern!« – Da mußte das Riesenfräulein seinen vermeintlichen Spielkram alsbald wieder forttragen, und sie stellte alles wieder an seinen Ort.

  1. vgl. dieselbe Sage von Grimm in Bl. 162 u. das gleichnamige Gedicht von Chamisso in Bl. 154
  2. hast
  3. Zappeliges
  4. Fürtuch, Schürze
  5. kram’s aus
  6. etwas
  7. Potz tausend!

Die Schlangenjungfrau im Heidenloch bei Augst

Zwischen Basel und Rheinfelden liegt ein uralter Ort, der heißt Augst, vom römischen Wort Augusta. Römerkaiser hatten dort ihren Hofhalt und bauten eine schöne Wasserleitung. An dieser ist ein Schlaufloch19 und unterirdischer Gang, der sich weit in die Erde hineinzieht. Niemand hat noch dessen Ende gesehen, und er heißt im Volke das Heidenloch.

Da war im Jahre 1520 ein Schneider zu Basel, der hieß Leonhard, der war auch eines Schneiders Sohn und fast ein Simpel20 . Er stammelte, statt zu reden, und war zu gar wenigen Dingen zu gebrauchen. Den trieb eines Tages die Neugier, doch zu versuchen, wie weit der hohle Gang eigentlich in die Erde hineingehe. Da nahm er eine Wachskerze, zündete sie an und ging in das Schlaufgewölbe hinein.

Leonhard kam an eine eiserne Pforte, die tat sich vor ihm auf. Und da kam er durch mehr als ein hohes und weites Gewölbe, endlich gar in einen Lustgarten, darinnen standen viele schöne Blumen und Bäume, und in der Mitte des Gartens stand ein wohlerbauter Palast. Alles umher aber war still und menschenleer. Die Türe zu dem stattlichen Lusthaus stand offen; da ging Leonhard hinein und trat in einen Saal. Darin erblickte er eine schöne Jungfrau, die trug auf ihrem Haupt ein goldig Krönlein und hatte fliegende Haare. Aber – o Scheuel und Greuel! – von des Leibes Mitte abwärts war sie eine häßliche Schlange mit langem Ringelschweif. Hinter der Jungfrau stand ein eiserner Kasten, darauf lagen zwei schwarze Hunde, die sahen aus wie Teufel und knurrten wie grimmige Löwen.

Die Jungfrau grüßte Leonhard sittiglich, nahm von ihrem Hals einen Schlüsselbund und sprach: »Siehe, ich bin von königlichem Stamme und Geschlecht, aber durch böse Macht also verwünscht und zur Hälfte in ein greulich Ungetüm verwandelt. Doch kann ich wohl erlöset werden. Wenn ein reiner Junggeselle mich trotz meiner Ungestalt dreimal auf den Mund küsset, dann erlange ich meine vorige Menschengestalt wieder, und mein ganzer Schatz ist sein.« Und da machte sie sich zu dem Kasten, stillete die murrenden Hunde, schloß den mittlern Deckel mit einem ihrer Schlüssel auf und zeigte Leonhard, welch ein großes Gut an Gold und Kleinodien darinnen enthalten sei. Sie nahm auch etliche goldne und silberne Münzen heraus und gab sie Leonhard und blickte ihn seufzend und gar inniglich an.

Leonhard hatte in seinem Leben noch keine Maid geküßt; es ward ihm jetzt warm ums Herz, und er wagte es, der Schlangenjungfrau einen Kuß auf ihren schönen Mund zu geben. Da erglühten ihre Wangen und erfunkelten ihre Augen; ihr Antlitz strahlte vor Freude, und sie lachte vor Lust und Hoffnung der Erlösung. Und da geschah der zweite Kuß, und dabei ringelte sich der Schlangenschweif um ihn. Da schauderte ihn, und er riß sich mit Gewalt los, nahm seine noch brennende Kerze und entwich. Die Jungfrau stieß hinter ihm ein wehklagendes Geschrei aus, das ihm durch Mark und Bein drang, und er kam aus dem Gang und Loch heraus, er wußte gar nicht wie.

Seitdem empfand der Jüngling eine brennende Sehnsucht nach der Schlangenjungfrau. Immerdar trieb es ihn zurück zu ihr, um das Werk der Erlösung zu vollbringen. Aber nun vermocht‘ er nimmer den Eingang zur Schlangenhöhle wiederzufinden, und es soll auch nach ihm keinem wieder geglückt sein.

  1. Schlüpfloch
  2. einfältiger Mensch