53. Kapitel Wieder ein Rückblick


53. Kapitel Wieder ein Rückblick

Ich muß wieder eine Pause machen. In dem Gedränge der Gestalten in meiner Erinnerung steht ruhig und still mein kindisches Frauchen und sagt in ihrer lieblichen unschuldsvollen Schönheit: »Bleib stehen und denk an mich! ? Sieh herab auf die kleine Blüte, wie sie zu Boden flattert.«

Alles andere verblaßt und verschwindet. Ich bin wieder mit Dora in unserm Landhäuschen. Ich weiß nicht, wie lange sie krank gewesen ist. Ich bin so daran gewöhnt, daß ich die Tage nicht mehr zählen kann. Nach Wochen und Monaten ist es nicht lang, aber in meinem Leben steht es da wie eine lange trübe Zeit.

Sie sagen mir nicht mehr, ich sollte mich nur einige Tage gedulden. Ich trage mich bereits mit der bestimmten Furcht, daß der Tag nie kommen wird, wo mein kindisches Frauchen wieder im Sonnenschein mit ihrem alten Freund Jip herumspringen wird.

Er ist wie mit einem Schlage sehr alt geworden. Vielleicht vermißt er in seiner Herrin das, was ihn belebte und verjüngte; aber er ist träge, sieht schlecht und ist schwach. Und meiner Tante tut es leid, daß er sie nicht mehr anbellt, sondern an sie herankriecht und liebkosend ihr die Hand leckt, wenn er bei Dora liegt und sie neben dem Bette sitzt.

Dora liegt still und lächelt uns an; sie ist so schön und spricht nie ein heftiges oder ungeduldiges Wort. Sie sagt, wir wären alle so gut gegen sie, – ihr lieber, alter, sorgsamer Junge plage sich ihretwegen halb zu Tode, sie wisse es wohl, und meine Tante schlafe gar nicht, sondern wache immer, sei tätig und gütig. Manchmal kommen die beiden kleinen vogelartigen Damen zu Besuch, und wir sprechen von unserm Hochzeitstag und der ganzen glücklichen Zeit.

Was für eine seltsame Pause scheint in meinem innern und äußern Leben einzutreten, wenn ich in dem ruhigen verdunkelten Zimmer sitze, während die blauen Augen meines kindischen Frauchens auf mir ruhen und ihre zarten Finger meine Hände erfassen! Manche Stunde sitze ich so, aber von allen Zeitpunkten leben drei am frischesten in meiner Seele.

 

Es ist früh am Morgen, und Dora, von meiner Tante frisiert, zeigt mir, wie ihr schönes Haar sich immer noch auf dem Kissen kräuseln will und wie lang und glänzend es ist.

»Nicht, daß ich jetzt eitel darauf bin, du mokanter Junge«, sagt sie, als ich lächle, »sondern weil du immer sagtest, du fändest es so schön, und weil ich immer in den Spiegel schauen mußte, als ich anfing, an dich zu denken, und gerne gewußt hätte, ob du wohl eine Locke davon haben möchtest. O, wie närrisch du dich gebärdetest, Doady, als ich dir eine gab.«

»Das war an dem Tag, als du die Blumen maltest, die ich dir mitgebracht hatte, und ich dir sagte, wie sehr ich dich liebte.«

»Ach, aber ich wollte dir damals nicht sagen, wie sehr ich über ihnen geweint hatte, weil ich dir glaubte. Wenn ich wieder herumspringen kann wie früher, Doady, wollen wir wieder einmal die Orte besuchen, wo wir so närrisch verliebt waren, und manche von den alten Spaziergängen wieder aufsuchen, nicht wahr? Und des armen Papas Grab nicht vergessen.«

»Ja, das wollen wir tun und so viel glückliche Tage noch erleben! Darum mußt du schnell gesund werden, liebes Herz.«

»O, das werde ich bald sein. Es geht mir viel besser.«

 

Es ist Abend, und ich sitze auf demselben Stuhl an demselben Bette, und dasselbe Gesicht blickt mich an. Wir haben längere Zeit geschwiegen, und ein Lächeln liegt auf ihrem Antlitz. Ich trage nicht mehr die leichte Last die Treppe auf und ab. Dora liegt den ganzen Tag hier.

»Doady!«

»Liebste Dora?«

»Du wirst doch nicht etwa das, was ich sagen will, für unverständig halten, nach dem, was du mir vor kurzem von Mr. Wickfields Krankheit gesagt hast? Ich möchte mit Agnes sprechen. Ich möchte sie sehr gerne sehen.«

»Ich will ihr schreiben, liebes Herz.«

»Willst du?«

»Sogleich.«

»Was du für ein lieber guter Junge bist. Doady, nimm mich in deine Arme. Es ist keine bloße Laune von mir. Kein törichter Einfall. Es liegt mir wirklich sehr, sehr viel daran, sie zu sprechen.«

»Davon bin ich überzeugt. Ich brauche ihr nur zu schreiben, und sie kommt gewiß.«

»Du fühlst dich sehr einsam, wenn du unten bist, nicht wahr?« flüstert mir Dora zu, den Arm um meinen Hals geschlungen,

»Wie kann es anders sein, mein liebes Herz, wenn ich deinen leeren Sessel sehe.«

»Meinen leeren Sessel!« Sie ruht eine kleine Weile stumm an meiner Brust. »Und du vermissest mich wirklich, Doady?« Und sie blickt auf und lächelt mich freundlich an. »Mich armes, leichtsinniges, dummes Ding?«

»Mein lieber Mann! Ich bin so froh und doch so traurig«, und sie drängt sich dichter an mich und umschlingt mich mit ihren Armen. Sie lacht und schluchzt und ist dann ruhig und ganz glücklich.

»Ganz glücklich!« sagt sie. »Ich lasse Agnes zärtlichst grüßen und ihr sagen, daß mir sehr viel daran liegt, sie zu sprechen, und weiter will ich nichts mehr.«

»Außer wieder gesund werden, Dora.«

»Ach Doady! Manchmal glaube ich – du weißt, ich war von jeher ein einfältiges Ding –, daß das nie geschehen wird.«

»Sag das nicht, Dora, denke nicht an so etwas, Herzensschatz.«

»Gewiß nicht, wenn ich kann, Doady! Aber ich bin sehr glücklich, wenn du dich auch so einsam fühlst vor dem leeren Sessel deines kindischen Frauchens.«

 

Es ist Nacht, und ich bin noch bei ihr. Agnes ist angekommen und einen ganzen Tag und einen Abend bei uns gewesen. Sie, meine Tante und ich haben Dora seit dem Morgen Gesellschaft geleistet. Wir haben nicht viel geredet, aber Dora war immer zufrieden und heiter. Wir sind jetzt allein.

Weiß ich jetzt, daß mein kindisches Frauchen mich verlassen wird? Man hat mir gesagt, was meinen Gedanken nicht neu war, aber ich bin im Herzen nicht von der Wahrheit überzeugt. Ich kann es nicht glauben. Ich bin viele Male des Tages still weggegangen und habe allein geweint. Ich habe an Ihn gedacht, der darüber weinte, daß der Tod die Menschen scheidet. Ich habe an die ganze schöne und barmherzige Legende gedacht. Ich habe versucht, mich in das Schicksal zu fügen und mich zu trösten, und es ist mir, wenn auch unvollkommen, gelungen; aber immer noch will die Überzeugung in mir nicht festen Fuß fassen, daß das Ende da ist. Ich halte ihre Hand in meiner, ich halte ihr Herz in meinem. Ich sehe ihre Liebe zu mir in aller ihrer Kraft. Ich kann einen letzten schwachen Schimmer vom Glauben, sie sei noch zu retten, nicht ausschließen.

»Ich will dir etwas sagen, Doady, ich will dir etwas sagen, woran ich in der letzten Zeit gedacht habe. Wirst du nicht böse darüber sein?« fragt sie mit einem bittenden Blick.

»Böse sein? Liebling!«

»Weil ich nicht weiß, was du davon denken wirst oder was du manchmal gedacht haben magst. Vielleicht hast du oft dasselbe gedacht. – Doady, ich fürchte, ich war zu jung.«

Ich lege mein Gesicht auf das Kissen neben sie, und sie blickt mir in die Augen und spricht sehr leise. Allmählich, wie sie weiterredet, fühle ich mit blutendem Herzen, daß sie von sich wie von einer Verstorbenen spricht.

»Ich fürchte, Liebling, ich war zu jung. Ich meine nicht bloß an Jahren, sondern auch an Erfahrung und an allem. Ich war ein junges kindisches Geschöpf. Ich fürchte, es wäre besser gewesen, wenn wir uns nur wie Kinder geliebt und einander wieder vergessen hätten. Ich kann mich nicht von dem Gedanken trennen, daß ich noch nicht reif war, deine Gattin zu werden.«

Ich versuche meine Tränen zurückzudrängen und antworte:

»Ach, liebe Dora, so reif wie ich war, ein Ehemann zu werden.«

»Das weiß ich nicht«, sagt sie mit ihrer alten Gewohnheit, die Locken zu schütteln. »Vielleicht! Aber wenn ich besser gepaßt hätte zum Heiraten, so hätte ich dich auch geeigneter dazu machen können. Dann bist du auch sehr gescheit, und ich war es nie.«

»Wir waren sehr glücklich miteinander, meine süße Dora.«

»Sehr, sehr glücklich. Aber im Lauf der Jahre würde mein lieber Junge seines kindischen Frauchens überdrüssig geworden sein. Sie hätte immer weniger und weniger zu seiner Lebensgefährtin gepaßt. Er hätte immer mehr und mehr empfunden, was ihm zu Hause fehlte. Sie würde nie anders geworden sein. Es ist besser so, wie es ist.«

»Ach liebste, liebste Dora, sprich nicht so zu mir. Jedes Wort klingt wie ein Vorwurf.«

»Nein, keine Silbe«, gibt sie zur Antwort und küßt mich. »Ach mein Liebling, du verdientest nie einen Vorwurf, und ich liebte dich zu sehr, als daß ich dir je im Ernst hätte einen machen können. Das war mein einziges Verdienst außer, daß ich hübsch war; wenigstens hieltest du mich dafür. Ist es einsam unten?«

»Sehr, sehr.«

»Weine nicht! Steht noch mein Sessel dort?«

»Auf seiner alten Stelle.«

»O, wie mein armer Junge weint! Still, still! Nun versprich mir noch eins. Ich möchte mit Agnes reden. Wenn du hinuntergehst, schicke sie zu mir herauf und, während ich mit ihr spreche, laß niemand herein – nicht einmal die Tante. Ich will mit Agnes allein reden.«

Ich verspreche ihr, es sofort zu tun, aber ich kann mich in meinem Schmerz nicht von ihr losreißen.

»Ich sagte, es ist besser, wie es ist«, flüstert sie in meinen Armen. »Ach Doady, in einigen Jahren hättest du dein kindisches Frauchen nicht mehr so lieb haben können wie jetzt, und sie hätte deine Geduld und Liebe so hart auf die Probe gestellt, daß du sie nicht mehr hättest halb so lieben können. Ich weiß, ich war zu jung und kindisch. Es ist viel besser so, wie es ist.«

Agnes ist unten, als ich in die Wohnstube trete, und ich richte den Auftrag aus. Sie geht hinauf und läßt mich allein mit Jip. Seine chinesische Pagode steht neben dem Kamin, und er liegt auf seiner Flanelldecke und sucht winselnd einzuschlafen. Der Vollmond scheint hell und klar. Wie ich in die Nacht hinausblicke, da fließen meine Tränen, und mein ungeschultes Herz wird schwer, schwer geprüft.

Ich setze mich ans Feuer und denke mit Reue an alle jene heimlichen Gefühle, die ich während meiner Ehe empfunden habe. Ich denke an jede Kleinigkeit, die zwischen mir und Dora vorgefallen ist, und fühle die Wahrheit, daß Kleinigkeiten die Summe des Lebens ausmachen. Und immer steigt aus dem Meer meiner Erinnerungen das Bild des lieblichen Kindes auf, wie ich sie zuerst kennenlernte; verschönt durch unsere jugendliche Liebe, – mit all den Reizen geschmückt, an denen eine solche Liebe so reich ist. Würde es in der Tat nicht besser gewesen sein, wenn wir wie Kinder einander geliebt und wieder vergessen hätten?

Wie die Zeit dahingeht, weiß ich nicht, bis mich der alte Gefährte meines kindischen Frauchens aus meinen Gedanken aufschreckt. Ruheloser noch als vorhin kriecht er aus seiner Hütte heraus und schleppt sich nach der Tür und winselt und will hinaufgelassen werden.

»Heute Nacht nicht, Jip. Heute nicht.«

Er schleicht langsam zu mir zurück, leckt mir die Hand und sieht mich mit seinen glanzlosen Augen an. »O Jip! Vielleicht nie, nie wieder.«

Er legt sich zu meinen Füßen nieder, streckt sich aus wie zum Schlafen und ist mit einem Winseln – tot.

»Ach Agnes! Sieh, sieh hier!«

Und ihr Gesicht! So voll Mitleid und Gram, von Tränen überströmt, der stumme schreckliche Blick und die feierlich nach oben deutende Hand!

»Agnes?«

»Es ist vorbei!«

 

Es wird Nacht vor meinen Augen, und für eine Zeitlang ist alles aus meinem Gedächtnis ausgelöscht.

54. Kapitel Mr. Micawbers Geschäfte


54. Kapitel Mr. Micawbers Geschäfte

Ich will nicht auf die Schilderung meines Gemütszustandes während der Last meines Kummers eingehen. Ich kam zu einem Punkt, wo ich glaubte, jedes künftige Glück sei mir verschlossen, die Energie und Tätigkeit meines Lebens seien zu Ende und mir bliebe kein anderer Zufluchtsort mehr übrig als das Grab. So dachte ich freilich nicht in den ersten erschütternden Augenblicken meines Schmerzes. Diese Gedanken wuchsen erst allmählich heran. Wenn die Ereignisse, die ich jetzt erzählen will, sich nicht in der Weise verdichtet hätten, daß sie zuerst meinen Schmerz verwirrten, um ihn dann noch zu steigern, so hätte ich möglicherweise sofort in diesen Zustand verfallen können. Aber so trat eine Zwischenzeit ein, ehe ich mir meines Schmerzes vollständig bewußt wurde; eine Zwischenzeit, in der ich sogar glaubte, das schlimmste Weh sei vorüber, und wo es für mich ein Trost war, in Gedanken bei all dem Unschuldigen und Schönen in der zärtlichen Geschichte, die jetzt für immer zu Ende war, zu verweilen.

Wann zuerst der Vorschlag auftauchte, ich sollte Wiederherstellung meines Seelenfriedens in Ortsveränderung und Abwechslung suchen oder eine große Reise machen, weiß ich nicht mehr genau. Agnes‘ Geist durchdrang so sehr alles, was wir dachten, sagten, taten, in jener Zeit des Kummers, daß ich wohl recht haben werde, wenn ich den Plan ihrem Einflüsse zuschreibe.

In der ganzen Schmerzenszeit waltete sie wie eine Heilige in dem verödeten Haus. Als der Engel des Todes damals herniederstieg, da schlummerte mein kindisches Frauchen lächelnd an ihrer Brust ein. Aus meiner Ohnmacht erwachte ich zu einem Bewußtsein ihrer teilnehmenden Tränen, ihrer Worte der Hoffnung und des Friedens, ihres sanften Antlitzes, das sich wie aus einer reinern und dem Himmel nähern Region über mein ungeschultes Herz beugte und seinen Schmerz linderte.

 

Ich sollte auf den Kontinent reisen. Das schien allgemeiner Beschluß zu sein. Nachdem die Erde die sterblichen Überreste meiner hingegangenen Gattin bedeckte, wartete ich nur noch auf das, was Mr. Micawber die endliche »Pulverisierung Heeps« nannte, und auf die Abfahrt der Auswanderer.

Auf Traddles Ersuchen, der sich in dieser Zeit als der beste und aufopferndste Freund bewährte, kehrten wir nach Canterbury zurück: nämlich meine Tante, Agnes und ich. Wie vorher festgesetzt, begaben wir uns unmittelbar nach Mr. Micawbers Wohnung, denn dort und in Mr. Wickfields Haus hatte mein Freund seit der großen Explosion ununterbrochen gearbeitet. Als Mrs. Micawber mich in Trauerkleidern eintreten sah, war sie sichtlich ergriffen.

»Nun, Mr. und Mrs. Micawber«, nahm meine Tante sogleich das Wort, als wir uns gesetzt hatten, »haben Sie sich meinen Vorschlag wegen des Auswanderns überlegt?«

»Verehrteste Maam«, entgegnete Mr. Micawber, »ich kann den Beschluß, zu dem Mrs. Micawber, Ihr ergebenster Diener und unsere Kinder, alle für einen und einer für alle, gekommen sind, nicht besser ausdrücken als mit den Worten eines berühmten Dichters: Es harret das Boot am Strande, und das Schiff schwankt auf dem Meer.«

»Das ist recht«, sagte meine Tante. »Ich verspreche mir das denkbar Beste von Ihrem vernünftigen Entschluß.«

»Maam, Sie erweisen uns außerordentlich viel Ehre.« Er nahm ein Blatt Papier zur Hand. »Was den pekuniären Beistand betrifft, der uns instand setzen soll, unsern gebrechlichen Nachen in die See der Unternehmung stechen zu lassen, so habe ich diesen wichtigen Geschäftspunkt in reichliche Erwägung gezogen und möchte Solawechsel mit achtzehn, vierundzwanzig und dreißig Monaten Ziel vorschlagen. Meine ursprüngliche Proposition war zwölf, achtzehn und vierundzwanzig Monate Ziel, aber ich bin nicht ohne Besorgnis, ob ein solches Arrangement genügend Zeit gibt, bis zum Augenblick, wo sich etwas findet. Es wäre wohl möglich«, sagte Mr. Micawber mit einem Blick, als habe er einige hundert Acker trefflich angebauten Landes um sich, »daß zur Verfallzeit des ersten Papieres die Ernte noch nicht gut ausgefallen oder unter Dach und Fach ist. Wenn ich nicht irre, sind Arbeiter in dem Teil unserer Kolonien, den das Geschick uns vorschreibt, dem üppigen Boden die Frucht zu entwinden, manchmal schwierig zu erlangen.«

»Richten Sie es sich ganz ein, wie Sie wollen, Sir«, sagte meine Tante.

»Maam! Mrs. Micawber und ich empfinden aufs tiefste die außerordentliche Güte unserer Freunde und Gönner. Ich wünsche vor allen Dingen als Geschäftsmann hinsichtlich Pünktlichkeit makellos dazustehen. Da wir jetzt ein ganz neues Blatt im Leben umzuwenden im Begriffe stehen und zurückgetreten sind, um einen Anlauf von nicht unbedeutender Länge zu nehmen, so gebieten mir das Gefühl der Selbstachtung und außerdem das Bestreben, meinem Sohne ein Beispiel zu geben, daß dieses Arrangement getroffen werde, wie es Männern geziemt.«

Ich weiß nicht, ob Mr. Micawber eine besondere Bedeutung auf diese letzte Phrase legte, aber sie schien ihm außerordentlich zu gefallen, und er wiederholte mit bedeutungsvollem Räuspern: »wie es Männern geziemt.«

»Ich schlage also Wechsel vor – eine Einrichtung der merkantilen Welt, die wir, wenn ich nicht irre, ursprünglich den Juden verdanken, die seitdem verteufelt viel mit diesen Dingen zu tun gehabt zu haben scheinen, – weil Wechsel begebbar sind. Aber wenn ein Dokument anderer Art vorgezogen werden sollte, so würde ich mich glücklich schätzen, ein solches auszustellen. Wie es Männern geziemt.«

Meine Tante bemerkte, daß in einem Falle, wo beide Parteien sich so gut verstünden, ein Punkt wie dieser keine Schwierigkeiten machen könnte. Mr. Micawber war ganz ihrer Meinung.

»Was unsere häuslichen Vorbereitungen, Maam, betrifft«, sagte er mit einigem Stolz, »so bitte ich dieselben auseinandersetzen zu dürfen. Meine älteste Tochter besucht um fünf Uhr jeden Morgen ein benachbartes Etablissement, um die Kunst des Melkens zu erlernen. Meine jüngern Kinder haben den Umständen angemessen die Lebensgewohnheiten der in den ärmern Teilen der Stadt gehaltenen Schweine und Hühner zu beobachten, eine Beschäftigung, von der sie zu zwei verschiedenen Malen nach Hause gelangten, indem sie nur mit knapper Not dem Tode durch Überfahrenwerden entrannen.

Ich selbst habe seit voriger Woche meine Aufmerksamkeit der Bäckerei zugewendet, und mein Sohn Wilkins ist mit einem Knüppel ausgezogen, um Vieh zu treiben, soweit seine freiwilligen Dienste von den wettergebräunten Mietlingen, unter deren Aufsicht das Vieh steht, angenommen wurden, was, wie ich leider nicht zum Lobe der menschlichen Natur sagen kann, nicht oft geschah ? kurz, sie gaben ihm unter Flüchen zu verstehen, er solle sich packen.«

»Das ist ja alles vortrefflich«, sagte meine Tante ermutigend, »und Mrs. Micawber ist gewiß auch tätig gewesen?«

»Verehrteste Maam«, entgegnete Mrs. Micawber mit ihrer Geschäftsmiene, »ich erlaube mir, zu gestehen, daß ich mich nicht mit den Fächern beschäftigt habe, die mit Ackerbau und Viehzucht unmittelbar in Verbindung stehen, obgleich ich recht gut weiß, daß sie meine Kräfte an dem fernen Strande in Anspruch nehmen werden. Die Zeit, die ich von meinen häuslichen Verpflichtungen erübrigen konnte, habe ich benützt, um mit meiner Familie in ausgedehntesten Briefverkehr zu treten. Denn ich muß gestehen, daß die Zeit gekommen ist, wo das Geschehene begraben werden muß, wo meine Familie Mr. Micawber und er ihr die Hand reichen sollte; wo der Löwe sich friedlich niederlegt neben das Lamm.«

Ich stimmte ihr bei.

»In diesem Lichte wenigstens sehe ich die Sache, mein lieber Mr. Copperfield«, fuhr sie fort. »Als ich noch zu Hause bei Papa und Mama war, fragte Papa stets, wenn im häuslichen Kreise irgend etwas besprochen wurde: In welchem Lichte betrachtet Emma die Sache?

Daß mein Papa zu parteiisch war, weiß ich, aber doch mußte ich mir über einen Punkt, der die eingetretene Schroffheit zwischen Mr. Micawber und meiner Familie betrifft, notwendigerweise eine Meinung, und mag sie auch falsch sein, bilden.«

»Sicherlich. Das setze ich voraus«, sagte meine Tante.

»So verhält es sich auch«, stimmte Mrs. Micawber bei. »Mögen nun auch meine Schlußfolgerungen falsch sein, meine persönliche Meinung geht dahin, daß die Kluft sich aus der Besorgnis meiner Familie herleitet, Mr. Micawber könne pekuniäre Unterstützung verlangen. Ich kann nicht umhin, zu befürchten«, fuhr Mrs. Micawber mit einer Miene tiefer Weisheit fort, »daß gewisse Mitglieder meiner Familie immerwährend in der Besorgnis schweben, Mr. Micawber könnte sie um ihren Namen angehen. Ich meine nicht zu dem Zwecke, sie unsern Kindern bei der Taufe mitzugeben, sondern vielmehr, um sie unter Schuldverschreibungen zu setzen.«

Der außerordentlich scharfsinnige Blick, mit dem Mrs. Micawber diese Entdeckung hervorbrachte, als ob noch kein Mensch je an dergleichen gedacht hätte, schien meine Tante einigermaßen in Erstaunen zu setzen, und sie antwortete kurz: »Freilich, Maam, im Grunde genommen sollte es mich nicht wundern, wenn Ihre Vermutung richtig wäre.«

»Da Mr. Micawber nun am Vorabend seiner Befreiung von pekuniären Verbindlichkeiten steht, die ihn so lange gefesselt haben, und im Begriffe ist, einen neuen Lebensweg in einem Lande einzuschlagen, wo für seine Fähigkeiten die Bahn frei ist, so scheint es mir, daß meine Familie die Gelegenheit benutzen sollte, den ersten Schritt zu tun. Mein Wunsch wäre, eine Zusammenkunft zwischen Mr. Micawber und meiner Familie, bei einem Festmahl auf Kosten meiner Familie, zu bewerkstelligen. Es wäre ihm hierbei Gelegenheit geboten, nach einem Toaste, den ein angesehenes Mitglied meiner Familie auf seine Gesundheit und Wohlfahrt auszubringen hätte, seine Ansichten zu entwickeln.«

»Meine Liebe«, unterbrach Mr. Micawber ein wenig hitzig, »es dürfte besser sein, wenn ich mich sofort deutlich dahin erkläre, daß meine Ansichten, wenn ich sie der versammelten Familie verkünden sollte, wahrscheinlich beleidigender Natur sein würden; denn meiner Meinung nach besteht deine Familie im allgemeinen aus impertinenten Snobs und im einzelnen aus unverschämten Flegeln.«

»Micawber! Nein! Du hast sie und sie haben dich nie verstanden.«

Mr. Micawber hustete.

»Sie haben dich nie verstanden, Micawber! Sie mögen dessen nicht fähig sein. Dann ist das aber ein Unglück für sie, und ich kann ihr Unglück nur beklagen.«

»Es tut mir von Herzen leid, meine liebe Emma«, bekannte Mr. Micawber reuig, »daß ich mich zu Äußerungen habe hinreißen lassen, die den Anschein starker Ausdrücke tragen mögen. Ich wollte weiter nichts sagen, als daß ich England verlassen kann ohne von der Gunst deiner Familie beglückt zu werden, – kurz, daß ich vorziehe, auf eigne Kraft meine Wege zu gehen. Sollten sie sich dennoch herablassen, auf unsere Zuschriften zu antworten, was unsere gemeinschaftliche Erfahrung sehr unwahrscheinlich macht, so sei es ferne von mir, deinen Wünschen irgendwie Hemmnisse in den Weg zu legen.«

Da diese Angelegenheit damit in Frieden beigelegt war, reichte er seiner Gattin den Arm und äußerte mit einem Blick auf einen Berg von Papieren, der vor Traddles auf dem Tische lag, daß sie uns jetzt verlassen wollten.

 

»Lieber Copperfield«, begann Traddles, als sie fort waren, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mich mit einem Mitgefühl an, das seine Augenlider rötete und sein Haar nach allen Richtungen zu Berge stehen machte, »ich entschuldige mich nicht bei dir, wenn ich dir mit Geschäftsangelegenheiten komme, da ich weiß, wie sehr die Sache zu deiner Zerstreuung dienen wird. Lieber Freund, ich hoffe, du bist nicht zu abgespannt?«

»Nein«, sagte ich nach einer Pause. »Wir haben mehr Ursache, an meine Tante zu denken als an jeden andern. Du weißt, wieviel sie getan hat.«

»Gewiß, gewiß! Wer könnte das vergessen.«

»Aber das ist noch nicht alles. Während der letzten vierzehn Tage hat irgendein neuer Kummer sie heimgesucht, und täglich war sie in London und manchmal ging sie sehr früh aus und kam erst abends wieder. Gestern, Traddles, kam sie trotz der bevorstehenden Reise hierher erst kurz vor Mitternacht nach Hause. Du weißt, wieviel Rücksichten sie immer auf andere nimmt. Sie will mir die Ursache ihres Kummers nicht sagen.«

Meine Tante, sehr blaß und mit tiefen Gramesfurchen im Gesicht, saß unbeweglich da, bis ich fertig war. Dann rollten Tränen über ihre Wangen, und sie legte ihre Hand auf meine.

»Es ist nichts, Trot, es ist nichts. Es ist vorbei. Ich werde dir bald alles erzählen. Jetzt, liebe Agnes, wollen wir uns an die Geschäfte machen.«

»Ich muß Mr. Micawber die Gerechtigkeit widerfahren lassen«, fing Traddles an, »daß er der unermüdlichste Arbeiter ist, wenn es gilt, für andere tätig zu sein. Ein solcher Mensch ist mir noch nie vorgekommen. Wenn er es immer so getrieben hat, müßte er, nach dem Maße der geleisteten Arbeit zu schließen, gegen zweihundert Jahre alt sein. Die Aufregung, in die er sich immer versetzt hat, die alles andere vergessende und leidenschaftliche Weise, mit der er Tag und Nacht Akten und Bücher durchstöberte, die Unzahl Briefe, die er mir aus Mr. Wickfields Expedition geschickt oder über den Tisch gereicht hat, während er mir viel leichter alles hätte mündlich sagen können, sind wunderbar.«

»Ja, die Briefe!« rief meine Tante. »Ich glaube, er träumt sogar in Briefen!«

»Auch Mr. Dick hat Wunderbares geleistet«, fuhr Traddles fort. »Von dem Augenblicke an, wo er Uriah Heep, den er in einer so scharfen Aufsicht hielt, wie wohl noch nie ein Mensch jemanden, nicht mehr zu bewachen brauchte, widmete er sich ganz Mr. Wickfield, und sein rastloses Streben, uns bei unsern Nachforschungen von Nutzen zu sein, die großen Dienste, die er uns mit Auszügemachen, Abschreiben, Herbeiholen und Forttragen von Akten geleistet hat, waren für uns ein wahrer Sporn.«

»Dick ist ein höchst bemerkenswerter Mensch!« rief meine Tante aus. »Ich habe das immer gesagt, Trot, du weißt es.«

»Und Ihnen, Miss Wickfield, freut es mich sagen zu können«, fuhr Traddles mit größtem Taktgefühl und Ernst fort, »daß sich das Befinden Mr. Wickfields in Ihrer Abwesenheit bedeutend gebessert hat. Befreit von dem Alpdruck und den schrecklichen Besorgnissen, die ihn nicht verlassen wollten, ist er kaum mehr zu erkennen. Zuweilen stellt sich sogar seine sehr geschwächte Gedächtniskraft wieder ein, sowie die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf gewisse Punkte in geschäftlichen Angelegenheiten konzentrieren zu können. So sah er sich in Stand gesetzt, bei der Aufklärung einer Sache mitzuwirken, die wir ohne seinen Beistand wohl kaum hätten ins reine bringen können. Doch genug von alledem, sonst werde ich nie fertig. Wir wollen einmal sehen«, sagte er und kramte in den Papieren auf dem Tisch. »Nachdem wir die vorhandenen Kapitalien und eine Unmasse unabsichtlicher Verwirrungen und ebensoviel absichtlicher Irrtümer und Verfälschungen in Ordnung gebracht haben, können wir als ausgemacht annehmen, daß Mr. Wickfield sein Geschäft ohne Defizit zu liquidieren imstande ist.«

»Gott sei gepriesen!« rief Agnes voll Innigkeit aus.

»Aber«, fuhr Traddles fort, »der zu seinem Lebensunterhalt unentbehrliche Überschuß, selbst den Erlös aus dem Hausbesitz mit eingerechnet, wäre so unbedeutend, wahrscheinlich kaum ein paar hundert Pfund, daß man bedenken muß, Miss Wickfield, ob er nicht lieber die Verwaltung der Grundstücke, die er so lange innehatte, behalten sollte. Seine Freunde könnten ihm jetzt, wo er frei ist, mit Rat zur Seite stehen. Sie selbst, Miss Wickfield, – Copperfield, – ich –«

»Ich habe es mir überlegt, Trotwood«, sagte Agnes und sah mich an, »und fühle, daß es besser nicht sein sollte, ja, nicht sein darf, selbst nicht auf die Empfehlung eines Freundes hin, dem ich soviel verdanke.«

»Ich will nicht sagen, daß ich es empfehle«, bemerkte Traddles. »Ich hielt es nur für meine Pflicht, es zu erwähnen. Weiter nichts.«

»Es freut mich, daß das auch Ihre Ansicht ist«, entgegnete Agnes ruhig, »denn es gibt mir die Hoffnung, ja, fast die Versicherung, daß wir ganz gleich über die Sache denken. Lieber Mr. Traddles und lieber Trotwood, da mein Papa jetzt in Ehren frei ist, was könnte ich noch weiter wünschen. Meine Sehnsucht war, ihm, wenn er nur erst einmal aus der Verstrickung befreit sein würde, einen kleinen Teil der Liebe und Sorgfalt, die ich ihm schulde, abstatten zu können und ihm mein Leben zu weihen. Viele Jahre lang war das das Ziel meiner Hoffnungen. Unsere Zukunft ganz auf mich zu nehmen, wird mein höchstes Glück sein.«

»Hast du schon darüber nachgedacht, wie du es anfangen willst, Agnes?«

»Oft! Ich habe deswegen keine Sorge, lieber Trotwood. Ich bin meines Erfolges sicher. So viel Leute kennen mich hier und sind mir freundlich gesinnt, daß mir darum nicht bangt. Vertraue mir ruhig. Unsere Bedürfnisse sind nicht groß. Wenn ich das liebe alte Haus als Schule einrichte, werde ich beschäftigt und glücklich sein.«

Die ruhige Innigkeit ihrer klaren Stimme erinnerte mich so lebhaft an das alte liebe Haus und meine einsam gewordene Wohnung, daß ich kein Wort sprechen konnte. Traddles tat, als ob er unter den Papieren herumkrame:

»Jetzt, Miss Trotwood, kommt Ihr Vermögen an die Reihe.«

»Gut, gut«, seufzte meine Tante. »Ich habe weiter nichts darüber zu sagen, als, daß ich es ertragen kann, wenn es verloren ist, und mich freuen würde, wenn es nicht so ist.«

»Ursprünglich waren es achttausend Pfund, glaube ich?«

»Stimmt.«

»Ich kann nicht mehr als fünf finden.« Traddles machte eine nachdenkliche Miene.

»– tausend?« fragte meine Tante mit ungewöhlichem Gleichmut, »oder nur Pfund?«

»Fünftausend Pfund.«

»Mehr waren es auch nicht. Dreitausend Pfund Konsols verkaufte ich nämlich selbst. Eintausend, um deinen Lehrbrief zu bezahlen, Trot, die beiden andern habe ich noch. Als ich den Rest verlor, hielt ich es für klug, von dieser Summe nichts zu sagen und sie insgeheim, falls böse Zeiten kommen sollten, aufzusparen. Ich wollte sehen, wie du die Prüfung bestehen würdest, Trot; und du hast sie wacker bestanden, voll Ausdauer und Selbstverleugnung! Auch Dick! Sprecht nicht mit mir, denn meine Nerven sind etwas angegriffen.«

Niemand würde ihr das geglaubt haben, wer sie in so aufrechter Haltung und die Arme verschränkt dasitzen gesehen hätte; sie besaß eine wunderbare Selbstbeherrschung.

»Dann haben wir also das ganze Geld beisammen«, rief Traddles mit strahlendem Gesicht.

»Ich will nicht, daß mir jemand gratuliert«, rief meine Tante.

»Sie glaubten wohl, Mr. Wickfield hätte es unrechtmäßigerweise für sich verwendet?« fragte Traddles.

»Natürlich. Deswegen schwieg ich doch. Agnes! sprich kein Wort!«

»Tatsächlich wurden die Papiere kraft Ihrer Vollmacht verkauft, aber ich brauche nicht zu sagen, von wem und wer dazu die Unterschrift hergab. Der Schurke spiegelte Mr. Wickfield später vor, er habe mit dem Geld alle möglichen Ausfälle abgedeckt. Da Mr. Wickfield in seinen Händen schwach und hilflos war und Ihnen später die Zinsen von dem angeblichen Kapital, das nach seiner Ansicht nicht mehr vorhanden war, bezahlte, machte er sich insofern leider zum Mitschuldigen.«

»Und nahm zuletzt alle Schuld auf sich allein«, setzte meine Tante hinzu, »schrieb mir einen verrückten Brief, in dem er sich des Diebstahls und unerhörtesten Unrechts zieh. Hierdurch veranlaßt, besuchte ich ihn eines Morgens zeitig früh, ließ eine Kerze kommen, verbrannte den Brief und sagte ihm, er solle die Sache gefälligst schon seiner Tochter wegen geheimhalten. – Wenn irgend jemand von euch ein Wort zu mir spricht, gehe ich auf der Stelle fort.«

Wir alle schwiegen, und Agnes bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

»Also, lieber Freund Traddles«, fuhr meine Tante nach einer Pause fort, »haben Sie dem Heep wirklich das Geld entwunden?«

»Die Sache ist die: Mr. Micawber hatte ihn so vollständig an die Wand gedrückt und war immer mit so viel neuen Beweisstücken bei der Hand, wenn ein schon vorhandenes nicht ausreichte, daß er uns nicht entrinnen konnte. Einen merkwürdigen Umstand muß ich übrigens erwähnen. Er hatte sich nämlich der Summe nicht nur aus Habsucht sondern auch aus Haß gegen Copperfield bemächtigt. Er sagte es mir geradeheraus. Er äußerte, er hätte ebensoviel zum Fenster herausgeworfen, wenn er damit Copperfield einen Schaden hätte zufügen können.«

»Ha!« sagte meine Tante, gedankenvoll die Stirn runzelnd und einen Blick auf Agnes werfend. »Und was ist aus ihm geworden?«

»Ich weiß es nicht. Er hat mit seiner Mutter, die die ganze Zeit über winselte, flehte und alles mögliche verriet, die Stadt verlassen. Sie sind mit der Londoner Nachtkutsche abgereist. Und weiter weiß ich nichts von ihnen; höchstens, daß seine Bösartigkeit gegen mich beim Abschied alles Maß überstieg. Er schien der Meinung zu sein, daß er mir kaum weniger Rache schulde als Mr. Micawber, – was ich für ein wahres Kompliment halte, wie ich ihm auch sagte.«

»Nimmst du an, daß er noch Geld hat?« fragte ich.

»Mein Gott, ja, wahrscheinlich«, entgegnete Traddles und wiegte mit ernster Miene den Kopf. »Auf eine oder die andere Art muß er wohl manches in die Tasche gesteckt haben. Aber ich glaube, du würdest finden, Copperfield, wenn du Gelegenheit hättest, seinen Lebenslauf zu verfolgen, daß diesen Menschen Geld nicht vor Mißgeschick schützen wird. Er ist ein so eingefleischter Heuchler, daß er alles, was er verfolgt, auf krummen Wegen verfolgen muß. Das ist sein Lohn für den Zwang, den er sich auferlegte. Da er immer auf dem Boden kriecht, wenn er das eine oder andere kleine Ziel verfolgt, so muß ihm unterwegs alles vergrößert erscheinen, und er wird daher jeden hassen und im Verdacht haben, der in der unschuldigsten Weise zwischen ihn und sein Ziel tritt. So werden notwendigerweise seine Wege immer krummer und krummer werden beim geringsten Anlaß.«

»Er ist ein Ungeheuer an Niederträchtigkeit«, bemerkte meine Tante.

»Das weiß ich nicht so genau«, meinte Traddles gedankenvoll. »Viele Leute können sehr niederträchtig sein, wenn sie sich solchen Angewohnheiten einmal hingegeben haben.«

»Und was wird mit Mr. Micawber geschehen?« fragte meine Tante.

»Ich muß wirklich Mr. Micawber mit hohem Lobe bedenken«, sagte Traddles heiter. »Ohne seine große Geduld und Ausdauer hätten wir nichts Nennenswertes erreichen können. Ich glaube, wir sollten nicht außer acht lassen, daß Mr. Micawber Gutes um des Guten willen tat, denn wir müssen bedenken, wie teuer er sich sein Schweigen von Uriah Heep hätte erkaufen lassen können.«

»Das ist auch meine Meinung«, sagte ich.

»Wieviel wollen wir ihm also geben?« fragte meine Tante.

»O, ehe wir dazu kommen«, sagte Traddles, ein wenig aus der Fassung gebracht, »dürfen leider bei der Schlichtung dieser schwierigen Angelegenheit zwei Punkte nicht außer acht gelassen werden. Die Schuldverschreibungen, die Mr. Micawber für erhaltene Vorschüsse ausgestellt hat –«

»Müssen natürlich bezahlt werden«, fiel meine Tante ein.

»Ich weiß nun aber nicht, wann sie fällig sind oder wer sie in der Hand hat, und ich fürchte, Mr. Micawber wird bis zu seiner Abreise beständig in Wechselhaft genommen werden.«

»Dann müssen wir ihn eben in einem fort wieder auslösen. Wieviel macht der ganze Betrag?«

»Mr. Micawber hat die Geschäfte – er nennt sie nämlich Geschäfte – sorgfältig in ein Buch eingetragen«, gab Traddles lächelnd zur Antwort, »und sie machen zusammen hundertdrei Pfund drei Schilling aus.«

»Nun, was wollen wir ihm mit Einschluß dieser Summe geben?« fragte meine Tante. »Liebe Agnes, wir können später ja besprechen, wie wir die Summe unter uns teilen wollen. Wieviel also? Fünfhundert Pfund?«

Traddles und ich stimmten diesem Vorschlage sofort bei. Die Familie sollte demgemäß, schlugen wir vor, Überfahrt und Ausrüstung frei und außerdem noch hundert Pfund bar erhalten. Mr. Micawbers Vorschläge hinsichtlich der Rückzahlung sollten ganz ernst genommen werden, da es wahrscheinlich für ihn gut sei, wenn er an das Vorhandensein dieser Verpflichtungen glaubte. Außerdem schlug ich vor, Mr. Peggotty, auf den man sich vollständig verlassen könnte, über Mr. Micawbers Charaktereigentümlichkeit einige Winke zu geben und ihm Vollmacht zu erteilen, unter Umständen Mr. Micawber nochmals hundert Pfund vorzuschießen. Mr. Micawber wollten wir von Mr. Peggottys Geschichte nur soviel erzählen, als uns angezeigt zu sein schien.

Da Traddles jetzt wieder einen besorgten Blick auf meine Tante warf, erinnerte ich ihn an den zweiten und letzten der von ihm erwähnten Punkte.

»Deine Tante und du müssen mich entschuldigen, Copperfield, wenn ich jetzt ein voraussichtlich peinliches Thema berühre«, sagte er mit Zögern, »aber ich muß es wohl tun. Wie du dich erinnern wirst, ließ Uriah eine drohende Anspielung auf den Gatten deiner Tante fallen.«

Meine Tante, die ihre steife Haltung und ihre Fassung vollkommen beibehielt, nickte beistimmend.

»Vielleicht war es nur eine bedeutungslose Impertinenz, Miss Trotwood?«

»Nein.«

»Sie verzeihen, – es gibt also wirklich eine solche Person und sie ist in seiner Macht?«

»Ja, mein Freund.«

Traddles machte ein langes Gesicht und setzte uns auseinander, daß er nicht in der Lage gewesen sei, diese Angelegenheit ins Auge zu fassen, und Uriah Heep, über den wir keine Gewalt mehr hätten, würde uns wo er könnte natürlich schaden.

Meine Tante schwieg, und wieder liefen Tränen über ihre Wangen.

»Sie haben ganz recht«, sagte sie. »Es war sehr umsichtig von Ihnen gehandelt, daß Sie es zur Sprache brachten.«

»Kann ich – oder Copperfield etwas tun?«

»Nichts. Ich danke Ihnen vielmals. Lieber Trot, es ist eine ungefährliche Drohung. Lassen Sie Mrs. und Mr. Micawber wieder herein. Und es soll jetzt niemand mit mir sprechen.«

Damit strich sie ihr Kleid glatt und saß in aufrechter Haltung in ihrem Stuhl, die Augen auf die Türe geheftet.

»Nun, Mr. und Mrs. Micawber«, begann sie, »wir haben Ihre Auswanderung besprochen und müssen Sie vielmals um Verzeihung bitten, daß wir Sie so lange haben warten lassen. Wir wollen Ihnen jetzt eröffnen, welche Arrangements wir Ihnen vorschlagen.«

In Gegenwart der vollzählig anwesenden Familie setzte sie ihm zu deren unbegrenzter Befriedigung alles auseinander und trug damit soviel zur Erweckung seines Pünktlichkeitsgefühls, was das Anfangsstadium seiner Wechselgeschäfte betraf, bei, daß er sich nicht abhalten ließ, sofort in fröhlichster Erregung hinauszustürzen, um für seine Solawechsel die Stempel zu kaufen. Aber seine Freude erfuhr eine rasche Niederlage, denn ehe fünf Minuten vergangen waren, kehrte er in Gewahrsam eines Sheriffbeamten zurück und erklärte uns mit einer Flut von Tränen, daß alles verloren sei. Da wir auf dieses Ereignis, das wir natürlich Uriah Heep verdankten, vollkommen gefaßt waren, bezahlten wir das Geld und, ehe noch weitere fünf Minuten vergingen, saß Mr. Micawber am Tisch und füllte die Stempelbogen mit einem Ausdruck unbeeinträchtigter Freude aus, den von allen Beschäftigungen nur noch das Punschbrauen hätte hervorbringen können. Es war ordentlich ein Genuß, zu sehen, wie er mit der Befriedigung eines Künstlers die Formulare ausfüllte, sie wie ein Gemälde kritisch vor sich hinhielt und mit ernstem Gesicht Notizen über Datum und Betrag in sein Taschenbuch schrieb.

»Wenn es erlaubt ist, so möchte ich Ihnen den Rat geben, Sir«, sagte meine Tante, die ihm stillschweigend zugesehen hatte, »einer Beschäftigung wie diese für ewig abzuschwören.«

»Maam, meine Absicht ist bereits, ein solches Gelübde auf die jungfräuliche Anfangsseite des Buchs der Zukunft einzutragen. Mrs. Micawber wird desgleichen tun. Ich hoffe zuversichtlich«, sagte er feierlich, »daß mein Sohn Wilkins nie vergessen wird, wie unendlich viel besser es ist, die Hände ins Feuer zu halten als die Schlangen anzugreifen, die das Herzblut seines unglücklichen Vaters vergiftet haben.« Tief ergriffen und im Handumdrehen in ein Bild der Verzweiflung verwandelt, betrachtete Mr. Micawber die soeben fertig gewordenen Schlangen mit einem Blick düstern Grauens, faltete sie zusammen und steckte sie in die Tasche.

So schloß der Abend. Ermüdet von Sorge und Aufregung gedachten meine Tante und ich am andern Morgen nach London zurückzukehren. Wir hatten besprochen, daß die Micawbers nach Verkauf ihrer Sachen nachkommen und Mr. Wickfields Geschäfte so schnell wie möglich unter Traddles Leitung abgewickelt werden sollten, während Agnes bis zur Liquidation mit uns nach London ginge.

Wir brachten die Nacht in dem alten Hause zu, das von der Anwesenheit Heeps befreit wie von der Pest gereinigt erschien; und ich schlief in meinem alten Zimmer gleich einem schiffbrüchigen Wanderer, der glücklich heimgekehrt ist.

Den Tag darauf begaben wir uns nach dem Landhäuschen meiner Tante, und als sie und ich vor dem Schlafengehen wie früher allein beisammensaßen, sagte sie:

»Trot, willst du wirklich wissen, was mich in der letzten Zeit so bedrückt hat?«

»Gewiß, Tante! Wenn es jemals eine Zeit gab, wo du Kummer und Sorgen mit mir hättest teilen sollen, so ist es jetzt der Fall.«

»Du hast genug Kummer gehabt«, sagte meine Tante liebreich, »und brauchtest nicht auch noch meine kleinen Schmerzen mitzutragen. Das waren die Gründe, Trot, weshalb ich sie dir geheimhielt.«

»Das weiß ich wohl! Aber sage es mir jetzt.«

»Willst du morgen früh ein kleines Stück mit mir fahren?«

»Natürlich.«

»Um neun Uhr also! Dann sollst du alles erfahren, Trot.«

 

Um neun Uhr stiegen wir also in eine Droschke und fuhren durch London, bis wir an eins der größeren Hospitäler gelangten. Vor der Tür stand ein einfacher Leichenwagen. Der Kutscher erkannte meine Tante und fuhr, ihrem Winke aus dem Droschkenfenster gehorsam, im Schritt voraus; wir folgten.

»Errätst du es jetzt, Trot? Er ist tot!«

»Im Hospital gestorben?«

»Ja.«

Sie saß unbeweglich neben mir, und wieder sah ich Tränen ihr über die Wangen laufen.

»Er war schon einmal dort. Er kränkelte seit langer Zeit und war schon seit vielen Jahren ein gebrochener Mann. Als er erfuhr, daß keine Hoffnung mehr wäre, verlangte er nach mir. Er bereute sein früheres Leben. Und sehr.«

»Du gingst, Tante, ich weiß.«

»Ich ging. Ich war seit der Zeit viel bei ihm.«

»Er starb am Abend vor unserer Reise nach Canterbury?«

Meine Tante nickte. »Niemand kann ihm mehr schaden. Es war eine leere Drohung.«

Wir ließen die Stadt hinter uns und fuhren nach dem Kirchhof Hornsey.

»Besser hier als mitten in den Straßen«, sagte meine Tante. »Er ist hier geboren.«

Wir stiegen aus und folgten dem einfachen Sarg in eine Ecke, wo er eingesegnet und in die Gruft gesenkt wurde.

»Heute sinds sechsunddreißig Jahre, lieber Trot«, sagte meine Tante auf dem Rückweg nach dem Wagen, »daß ich getraut wurde.«

Wir nahmen schweigend unsere Sitze wieder ein und saßen so lange Zeit nebeneinander, und sie hielt meine Hand in der ihrigen.

Plötzlich brach sie in Tränen aus und sagte:

»Er war ein schöner Mann, als ich ihn heiratete, – und hat sich sehr, sehr verändert.«

Ihre Ergriffenheit dauerte nicht lange. Die Tränen schienen sie erleichtert und fast heiter gemacht zu haben. Ihre Nerven seien etwas angegriffen, sagte sie, sonst hätte sie sich nicht so schwach gezeigt.

So kehrten wir zurück in ihr Häuschen in Highgate, wo wir folgenden kurzen Brief vorfanden, der mit der Morgenpost von Mr. Micawber eingetroffen war.

Canterbury, Freitag

Verehrteste Maam und lieber Copperfield!
Das schöne Land der Verheißung, das sich noch vor kurzem am Horizonte zeigte, ist wieder in undurchdringliche Nebel eingehüllt und für immer den Augen eines schiffbrüchigen Unglücklichen entrückt, dessen Schicksal besiegelt ist.

Ein neuer Haftbefehl ist in Sr. Majestät hohem Gerichtshof zu Kingsbench in Westminster in einer zweiten Sache Heep kontra Micawber erlassen worden, und der Beklagte in dieser Sache ist die Beute des in diesem Gerichtsbezirk amtierenden Sheriffs.

     »Gekommen die Stunde, gekommen der Tag«,
      »Wo des Feindes Massen dräun«,
     »Edwards stolzer Streiter Reihn«
      »Und der Knechtschaft Schmach.«

Dieser Haft anheimgefallen und einem raschen Ende entgegensehend, kann ich sagen, meine Uhr ist abgelaufen. Der Herr segne, segne Sie. Wenn in spätern Jahren dereinst der neugierige Wanderer das den Schuldnern dieser Stadt zugewiesene Gefängnis durchstreift, so werden vielleicht seine Augen nachdenklich ruhen auf dem mit einem verrosteten Nagel in die Wand gekratzten bescheidenen Anfangsbuchstaben.

W. M.

P. S. Ich mache den Brief wieder auf, um Ihnen mitzuteilen, daß unser gemeinsamer Freund Mr. Thomas Traddles, der uns noch nicht verlassen hat und sich dem Anscheine nach außerordentlich wohl befindet, die Schuld samt Kosten im Namen der edlen Miss Trotwood bezahlt hat, und daß ich und meine Familie auf dem Gipfel irdischer Seligkeit schweben.

         W. M.

55. Kapitel Sturm


55. Kapitel Sturm

Ich komme jetzt zu einem Ereignis in meinem Leben, das so unauslöschlich, so erschütternd und auf so vielerlei Weise mit all dem verbunden ist, was diesen Seiten vorangegangen, daß ich es vom Anfang meiner Erzählung größer und größer werden und seinen Schatten schon in meinen Kinderjahren auf die Ereignisse fallen sah.

Jahre nach seinem Geschehen habe ich noch oft davon geträumt. Oft bin ich aus dem Schlaf aufgefahren, so lebhaft beherrscht von seinem Eindruck, daß ich die Wut des Sturms in der stillen Nacht noch in meinem Ohr brausen zu hören glaubte.

Als die Zeit der Abfahrt des Auswandererschiffs nahte, kam meine gute alte Kindsfrau, die bei unserm ersten Zusammentreffen wegen meines Unglücks fast vor Schmerz aufgelöst war, nach London.

Ich war beständig mit ihr, ihrem Bruder und den Micawbers, die ihnen sehr anhingen, beisammen. Aber Emly bekam ich niemals zu Gesicht.

Eines Abends war ich mit Peggotty und ihrem Bruder allein. Wir sprachen von Ham. Sie erzählte, wie liebevoll er von ihr Abschied genommen und wie ruhig und männlich er alles ertragen hätte, und besonders in der letzten Zeit, wo er nach ihrer Meinung am härtesten geprüft worden sei. Es war dies ein Thema, von dem die gute Seele nie müde wurde zu erzählen.

Meine Tante und ich räumten damals die beiden Landhäuser in Highgate, denn ich wollte ins Ausland reisen und sie ihr Haus in Dover wieder beziehen. Vorläufig logierten wir in einer Wohnung in Covent Garden. Als ich nach dem Gespräch an diesem Abend nach Hause ging und an Hams letzte Worte in Yarmouth dachte, wurde ich irr an meinem ursprünglichen Vorsatz, einen Brief für Emly zurückzulassen, wenn ich auf dem Schiffe Abschied von ihrem Onkel nehmen würde, und entschloß mich, lieber gleich an sie zu schreiben. Vielleicht, überlegte ich, wünscht sie nach Empfang meines Briefes ihrem unglücklichen ehemaligen Bräutigam ein Wort des Abschieds durch mich zuzuschicken. Diese Gelegenheit wollte ich ihr geben.

Ich setzte mich daher vor dem Schlafengehen hin und wiederholte getreulich, wozu Ham mich beauftragt hatte.

Ich legte den Brief auf den Tisch, damit er am nächsten Morgen abgeschickt werde, fügte ein paar Zeilen an Mr. Peggotty hinzu und ging mit Tagesanbruch zu Bett.

 

Ich war angegriffener, als ich glaubte, und wachte nach einem unruhigen Schlummer erst spät am Vormittag auf.

Die schweigende Anwesenheit meiner Tante am Bett weckte mich. Ich fühlte sie im Schlaf.

»Lieber Trot«, sagte sie, als ich die Augen aufschlug, »ich konnte es nicht über mich bringen, dich zu stören. Mr. Peggotty ist da. Kann er heraufkommen?«

Ich bejahte, und bald darauf trat er ein.

»Masr Davy«, sagte er, als wir uns die Hände geschüttelt, »ich habe Emly Ihren Brief übergeben, und sie hat das hier geschrieben und mich gebeten, Sie möchten es lesen und, wenn nichts Verletzendes drin stünde, so gut sein und es überbringen.«

»Haben Sie es gelesen?« fragte ich.

Er nickte mit bekümmerter Miene.

Ich öffnete den Brief.

»Ich habe Deine Botschaft erhalten. Ach, was kann ich schreiben, um Dir für Deine unendliche Güte zu danken!

Ich habe die Worte fest in mein Herz geprägt und werde sie dort bewahren bis zu meinem Tod. Es sind scharfe Dornen für mich, aber sie bringen mir auch Trost. Ich habe über ihnen gebetet, ach, so viel gebetet.

Wenn ich sehe, wie Du bist, und wie der Onkel ist, kann ich mir denken, was Gott sein muß, und kann zu ihm rufen.

Leb wohl auf immer, mein geliebter Freund. Leb wohl für immer in dieser Welt. In einer andern, wenn mir vergeben wird, wache ich vielleicht auf als Kind und komme zu Dir. Dank, tausendmal Dank und Segen! Leb wohl auf ewig.«

 

Diese Worte, halb von Tränen verwischt, standen in dem Brief.

»Kann ich sagen, daß Sie nichts Verletzendes darin finden und so gut sein wollen, die Besorgung zu übernehmen, Masr Davy?«

»Ganz gewiß! Aber ich denke eben –«

»Nun, Masr Davy?«

»Ich denke eben, daß ich mich selbst nach Yarmouth begeben sollte. Es ist noch Zeit genug, bis Ihr Schiff abfährt. Meine Gedanken sind so oft bei Ham in seiner Einsamkeit, und wenn ich Ihnen sagen kann im Augenblick des Scheidens, daß ich ihm den Brief übergeben habe, wird das für sie beide eine Wohltat sein. Eine Reise ist wenig mehr als eine Kleinigkeit für mich. Ich bin ruhelos, und es ist besser für mich, wenn ich äußerlich beschäftigt bin. Ich fahre noch heute abend.«

Obgleich er sich eifrig bemühte, mir meine Absicht auszureden, so sah ich doch, daß er meiner Meinung war, und wenn noch etwas mich hätte in meinem Vorhaben bestärken können, so würde diese Wahrnehmung genügt haben. Er ging auf meine Bitte nach dem Bureau und bestellte für mich einen Vordersitz. Abends fuhr ich in der Postkutsche den Weg entlang, den ich schon unter so vielen Schicksalswechseln gereist war.

 

»Kommt Ihnen der Himmel nicht sonderbar vor?« fragte ich den Kutscher auf der ersten Station hinter London. »Ich kann mich nicht entsinnen, ihn je so merkwürdig gesehen zu haben.«

»Ich auch nicht, Sir. Das bedeutet Sturm, Sir. Es wird Unglück auf See geben, ehe viel Zeit vergeht.«

Ein trübes, hie und da von Flecken, die wie der Rauch von feuchtem Holz aussahen, unterbrochenes Wirrwarr dahineilender Wolken war in den seltsamsten Formen übereinandergetürmt, so daß man sich in dem Gewölk größere Höhen vorstellen mußte, als die Tiefe zwischen der Erde und den niedrigsten Wolken betrug. Kopfüber schien sich der Mond herabstürzen zu wollen, als ob er in diesem greulichen Wirrwarr der Naturgesetze angsterfüllt den Weg verloren hätte. Es hatte den ganzen Tag über Wind geherrscht, und jetzt schwoll er immer mehr und mehr mit ungewöhnlich starkem Brausen an. Nach Verlauf einer weitern Stunde war er noch bedeutend angewachsen, der Himmel sah noch trüber aus, und es wehte scharf.

Wie die Nacht weiter vorrückte und die Wolken allmählich ganz dicht den dunkeln Himmel verhüllten, wurde der Sturm immer heftiger. Er nahm so zu, daß unsere Pferde sich kaum gegen ihn behaupten konnten. Manchmal in der Finsternis kehrten die Vorderpferde um oder hielten plötzlich an, und oft schwebte die Kutsche in der größten Gefahr, umgeweht zu werden. Der Sturm trieb Wassergüsse vor sich her, die uns so schneidend trafen wie ein Regen von Stahl, und zuweilen mußten wir hinter Bäumen oder Mauern Schutz suchen, weil es rein unmöglich war, ununterbrochen gegen das Unwetter anzukämpfen.

Als der Tag anbrach, schien der Sturm immer noch im Wachsen zu sein. Ich war in Yarmouth gewesen, als die Schiffer sagten, es wehe Kanonenkugeln. Aber ich hatte nie so etwas Ähnliches erlebt. Wir erreichten Ipswich – es war schon sehr spät, denn wir mußten jeden Zoll Straße dem Sturme abringen – und fanden auf dem Marktplatz einen Haufen Leute stehen, die aus Besorgnis, die Schornsteine könnten einstürzen, mitten in der Nacht aufgestanden waren. Einige erzählten uns, während auf dem Hofe die Pferde gewechselt wurden, ein Teil des bleiernen Dachs sei von dem hohen Kirchturm herabgerissen und in eine Nebenstraße geworfen worden, die er jetzt versperrte. Andere hatten von Bauern aus benachbarten Dörfern gehört, er habe große Bäume aus der Erde gerissen und ganze Schober von Getreide über Straßen und Felder gestreut. Und immer noch war der Sturm im Wachsen.

Als wir dem Meere, von dem aus gewaltige Böen direkt auf die Küste wehten, näher kamen, wurde seine Gewalt immer schrecklicher. Lange, ehe wir die See erblickten, schmeckten wir den Schaum auf unsern Lippen wie einen gesalzenen Regen. Das Wasser war viele Meilen weit über die Dünen Yarmouths getreten, und jeder Teich und jede Pfütze trieben uns kleine brandende Wellen entgegen. Als wir das Meer zu Gesicht bekamen, erschienen uns die Wellen am Horizont, von dem wir zuweilen über dem wogenden Abgrund einen flüchtigen Blick erhaschen konnten, wie eine jenseitige Küste mit Türmen und Gebäuden. Wie wir endlich in die Stadt einfuhren, traten die Leute an ihre Türen mit flatterndem Haar, gegen den Wind gestemmt und verwundert, daß die Post in einer solchen Unwetternacht gekommen war.

Ich stieg in dem alten Gasthaus ab und wollte zur Küste eilen. Wankend kämpfte ich mich durch die mit Sand und Tang und Schaumflocken übersäte Straße, immer in Besorgnis, von niederstürzenden Ziegeln und Schieferplatten getroffen zu werden, und war genötigt, mich bei besonders stürmischen Ecken an entgegenkommenden Leuten festzuhalten. Als ich mich dem Strande näherte, sah ich, daß nicht nur die Seeleute, sondern vielleicht die Hälfte aller Bewohner der Stadt hinter Häusern lauerten; manche, die sich das Meer ansehen wollten, wurden aus ihrer Bahn geworfen, wenn sie den Versuch machten, im Zickzack das schützende Versteck wieder zu gewinnen.

Unter diesen Gruppen fand ich jammernde Frauen, deren Männer in Herings– und Austernbooten auf dem Meere waren und nur zu leicht untergegangen sein mochten, ehe sie einen sichern Hafen hatten anlaufen können. Ergraute alte Schiffer standen unter ihnen und schüttelten den Kopf, wie sie von dem Wasser nach den Wolken blickten, und sprachen leise miteinander; aufgeregte und besorgte Schiffseigner, Kinder, sich angstvoll zusammendrängend und gespannt in die Gesichter der Erwachsenen blickend, – selbst handfeste Seeleute waren unruhig und voller Sorge und lugten aus ihren Verstecken mit ihren Fernrohren hervor, als ob sie einen Feind beobachteten.

Als ich mich von der Verwirrung, in die mich der die Augen blendende Wind, der herumfliegende Sand und die Steine und das schreckliche Getöse versetzt hatten, soweit erholen konnte, daß ich einen Blick auf das Meer werfen konnte, da entsetzte mich seine Wut. Wenn die hohen Wasserwände herankamen und auf ihrem höchsten Punkte angelangt in Schaum zerschellten, da sah es aus, als vermöchte die kleinste der Wogen die ganze Stadt zu verschlingen. Wenn eine zurückweichende Welle mit dumpfem Brüllen wieder meerwärts rollte, grub sie am Strande tiefe Höhlen, als wollte sie die Erde unterwühlen.

Wogen mit weißen Mähnen kamen herangedonnert und zerschellten, ehe sie den Strand erreichten, und jeder Teil des zerstückten Ganzen schien dessen volle gewaltige Wucht anzunehmen und eilte dahin, um der Teil eines neuen Ungeheuers zu werden. Wogende Hügel wurden zu Tälern, durch die zuweilen ein einsamer Sturmvogel strich. Wogende Täler bäumten sich zu Hügeln auf; Wassermassen erschütterten das Ufer mit dumpfem Getöse; jede Gestalt rollte, kaum gebildet, in wildem Tumulte weiter, Form und Platz verändernd und andere verdrängend. Das phantastische Ufer am Horizont mit seinen Türmen und Gebäuden stieg und sank, und dicht und schnell flog das Gewühl der Wolken dahin. Es kam mir vor, als bäume sich die ganze Natur auf.

Da ich Ham nicht unter den Leuten an der Küste fand, ging ich nach seinem Hause. Es war verschlossen, und da niemand auf mein Klopfen antwortete, suchte ich die Werft auf, wo er arbeitete. Es hieß, er wäre nach Lowestoft gegangen, um eine plötzlich notwendig gewordne Arbeit zu übernehmen, und werde morgen beizeiten zurück sein.

Ich verfügte mich wieder in das Gasthaus und versuchte zu schlafen, aber vergebens. Dann wusch ich mich und zog mich an, und es wurde fünf Uhr nachmittags. Ich hatte kaum einige Minuten im Kaffeezimmer am Kamin gesessen, als der Kellner hereintrat und mit der Ausrede, er wolle das Feuer schüren, mir erzählte, zwei Kohlenschiffe wären mit voller Bemannung wenige Meilen vom Ufer untergegangen, und einige andere Schiffe seien in ihrem Fahrwasser zu sehen und kämpften hart und in großer Not, sich von den Klippen fernzuhalten. »Gnade Gott ihnen und den armen Schiffern«, sagte er, »wenn noch eine Nacht kommt wie die letzte.«

Ich war in sehr gedrückter Stimmung, fühlte mich sehr vereinsamt und wurde wegen Hams Abwesenheit von einer Sorge gequält, die recht grundlos schien. Die letzten Ereignisse hatten mich mehr, als ich glauben wollte, angegriffen, und ich war von dem langen Kampf mit dem heftigen Sturm ganz verwirrt. In meinen Gedanken und Erinnerungen herrschte ein Durcheinander, das mich den klaren Überblick über Zeit und Distanz verlieren ließ. Ich würde mich kaum gewundert haben, wenn ich auf einem Gange durch die Stadt jemand getroffen hätte, von dem ich gewiß wußte, daß er in London sein mußte. Trotz aller Erinnerungen, die die Ortschaft in meinem Geist erweckte, war ich sozusagen mit einer merkwürdigen Unaufmerksamkeit behaftet.

In diesem Gemütszustand verknüpften sich die schlimmen Nachrichten von den Schiffen ganz unwillkürlich mit meinen Besorgnissen um Ham. Ich bildete mir ein, er würde zu Wasser von Lowestoft zurückkehren und dabei ertrinken. So lebhaft war diese Einbildung in mir, daß ich noch vor dem Essen nach der Werft zu gehen beschloß, um den Werkmeister zu fragen, ob er Hams Rückkehr zu Wasser für wahrscheinlich halte. Wenn er mir den mindesten Grund dafür gäbe, wollte ich sofort nach Lowestoft fahren und Ham mit mir zurückbringen.

Ich bestellte hastig das Essen und ging nach der Werft. Ich kam gerade noch zurecht, denn der Bootsbauer, eine Laterne in der Hand, schloß eben die Türe zu. Er lachte mir fast ins Gesicht, als ich ihm die Frage vorlegte, und sagte, kein Mann bei Sinnen werde bei solchem Sturm in See gehen, am wenigsten Ham Peggotty, der von Kindheit an Schiffer gewesen. Die Richtigkeit dieser Bemerkung, die ich schon vorher so vollkommen gefühlt, einsehend, schämte ich mich ordentlich gefragt zu haben und ging nach dem Gasthof zurück. Fast schien es, als ob der Sturm noch stärker würde. Das Geheul und Gebrüll, das Klappern und Rasseln der Türen und Fenster, das Rumoren in den Schornsteinen, das Gefühl, als wanke das Haus, dessen Dach mich schützte, und das fürchterliche Tosen des Meeres waren noch schreckenerregender als am Morgen. Außerdem hing große Dunkelheit ringsum, und das verlieh dem Sturm neue wirkliche und eingebildete Schrecken.

Ich konnte nicht essen, ich konnte nicht still sitzen und nicht ruhig bei irgendeiner Beschäftigung bleiben. Ein Etwas in mir, das leise dem Sturme draußen entsprach, stieg aus dem Abgrund meiner Erinnerung empor und machte mich unruhig.

Aber bei all dem Wirrwarr meiner Gedanken stand meine Sorge um Ham immer im Vordergrund.

Ich ließ das Essen fast unberührt und versuchte mich mit ein paar Gläsern Wein zu stärken. Vergebens. Ich verfiel vor dem Feuer in einen Halbschlummer, in dem ich weder das Bewußtsein des Aufruhrs draußen noch des Ortes, an dem ich mich befand, verlor. Über all dem lag ein unbestimmter fremdartiger Schrecken, und als ich den Starrkrampf abschüttelte, der mich auf meinem Stuhle festhielt, da zitterte mein ganzer Körper vor gegenstandsloser, unerklärlicher Furcht.

Ich ging auf und ab, versuchte einen Band alter Zeitschriften zu lesen, lauschte dem schrecklichen Tosen draußen und sah Gesichter, Landschaften und Gestalten im Feuer. Das regelmäßige Ticken der unbeirrbar gehenden Uhr an der Wand quälte mich dermaßen, daß ich beschloß, zu Bett zu gehen.

Es war ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, daß einige Leute von der Bedienung im Gasthaus beschlossen hatten, bis zum Morgen aufzubleiben. Außerordentlich müde und abgespannt legte ich mich nieder, und sofort war dieser Zustand verschwunden; ich war vollkommen wach, und jeder Sinn schien doppelt empfänglich geworden.

Zwei Stunden lang lag ich da und hörte dem Brausen des Sturmes und des Meeres zu. Jetzt bildete ich mir ein, ich hörte auf der See draußen Jammergeschrei, dann wieder, ich vernähme deutlich das Donnern der Signalkanonen und dann wieder das Zusammenstürzen von Häusern in der Stadt. Ich stand mehrere Male auf und schaute hinaus und konnte nichts sehen als in den Fensterscheiben das Spiegelbild der matten Kerze, die ich brennen gelassen, und meines eignen erschrockenen Gesichts, das mir aus der schwarzen Nacht heraus entgegenstarrte.

Endlich wuchs meine Ruhelosigkeit dermaßen, daß ich mich hastig in die Kleider warf und hinunterging. In der großen Küche, wo ich an der dunkeln Decke Speckseiten und Zwiebelzöpfe von den Balken herabhängen sah, hatten sich die Wachgebliebenen um einen Tisch gedrängt, den man aus Furcht, der Kamin könne herunterkommen, in die Nähe der Türe gerückt hatte. Ein hübsches Mädchen, das sich mit der Schürze die Ohren zugestopft und die Augen auf den Eingang gerichtet hielt, schrie laut auf, als sie mich erblickte, weil sie mich für einen Geist hielt. Die andern hatten mehr Geistesgegenwart und waren froh, daß ihre Gesellschaft Zuwachs erhielt. Einer fragte mich in bezug auf das Gespräch, das sie eben gehabt hatten, ob ich glaube, daß die Seelen der Besatzung der untergegangenen Kohlenschiffe im Sturme umgingen.

Ich blieb wohl zwei Stunden unten. Der Sand, das Seegras und die Schaumflocken flogen vorbei, und ich mußte Beistand rufen, um das Tor gegen den Wind wieder schließen zu können.

Ein finsteres Düster herrschte in meinem einsamen Zimmer, als ich wieder zurückkehrte; aber ich war jetzt so müde, daß ich, als ich im Bette lag, wie von einem Turm in einen Abgrund hinunter in den tiefsten Schlaf fiel.

Mir ist, als ob auch in meinem Traum, trotzdem ich von ganz andern Orten und Umgebungen träumte, Sturm gewesen wäre. Endlich ging mir auch diese letzte schwache Verbindung mit der Wirklichkeit verloren, und ich stand mit zwei geliebten Freunden – wer sie waren, wußte ich nicht – bei der Belagerung einer Stadt mitten im Brüllen der Geschütze.

Der Kanonendonner dauerte so lang und ununterbrochen fort, daß ich etwas nicht hören konnte, was mir jemand zurief, bis ich eine große Anstrengung machte und aufwachte. Es war hellichter Tag – acht oder neun Uhr –, der Sturm brüllte anstatt der Batterien, und jemand klopfte an meine Tür und rief etwas.

»Was gibt es?« fuhr ich auf.

»Ein Schiff scheitert, dicht bei unserer Küste.«

Ich sprang aus dem Bett und fragte: »Was für ein Schiff?«

»Ein Schoner aus Spanien oder Portugal mit Früchten und Wein. Schnell, Sir, wenn Sies noch sehen wollen. Unten am Strande glauben sie, es werde jeden Augenblick in Trümmer gehen.«

Die aufgeregte Stimme eilte schreiend den Gang entlang, ich warf mich so rasch wie möglich in die Kleider und lief auf die Straße.

Eine Menge Leute rannten in allen Richtungen nach dem Strande. Ich folgte ihnen, überholte viele und bekam bald die rasende See zu Gesicht.

Der Wind hatte ein ganz klein wenig nachgelassen, obgleich man es kaum merkte. Das Meer, von dem Sturm der ganzen vorigen Nacht aufgewühlt, war noch unendlich viel schrecklicher, als ich es zuletzt gesehen.

Alles, was von Wasser zu sehen war, machte den Eindruck, als ob es geschwollen sei. Und die turmhohen Brandungswellen in endlosen Scharen einherjagen, sich überstürzen und auf den Strand losstürmen zu sehen, war grauenerregend.

Die Anstrengung, etwas anderes als das Tosen des Sturmes und der Wellen zu vernehmen, das Menschengewühl und die unsägliche Verwirrung und mein erster, den Atem benehmender Versuch, mich gegen den Sturm zu behaupten, machten, daß ich im Anfang das Wrack nicht erblicken konnte und nur die schaumgekrönten Gipfel der großen Wogen sah. Ein halb angekleideter Schiffer neben mir deutete mit seinem nackten Arm, auf dem ein Pfeil tätowiert war, der in derselben Richtung wies, nach links. Da sah ich es, Gott im Himmel, dicht vor uns.

Der Großmast war sechs oder acht Fuß über Deck glatt abgebrochen und hing über Bord, umstrickt von einem Labyrinth von Segeln und Rahen, und die ganze Masse schlug, wie sich der Schoner mit unbeschreiblicher Heftigkeit in den Wogen wälzte, mit der Seite auf die Wellen, als ob sie sich zerschmettern wollte. Die Besatzung war offenbar bemüht, den gebrochenen Mast zu kappen, denn wie das Schiff, das mit der Breitseite zum Lande zu lag, auf uns zutrieb, erkannte ich deutlich, wie die Mannschaft mit Äxten arbeitete. Besonders ein Mann mit langem Lockenhaar, der sich vor allen hervortat. Dann ertönte ein lauter Schrei durch den Sturm hindurch vom Strande her; eine gewaltige Sturzwelle schoß über das Schiff hinweg und riß Menschen, Spieren, Fässer, Planken, Schanzverkleidungen wie Spreu in die schäumenden Wogen.

Der zweite Mast stand noch unter den Fetzen eines Segels und einem vom Sturm hin und her geworfenen Gewirr zerrissenen Tauwerks. Der Schoner war einmal auf den Grund gestoßen, wie mir der halbnackte Schiffer heiser ins Ohr rief, dann hatten ihn die Wellen wieder gehoben und noch einmal aufgestoßen. Soviel ich den Mann verstand, sagte er, das Wrack müßte in der Mitte auseinanderbrechen, und ich konnte mir das leicht denken, denn es kämpfte und schlingerte so fürchterlich, daß kein Werk von Menschenhand es lange aushalten konnte. Wie er sprach, ertönte wieder ein lauter Schrei des Mitleids vom Strande her, und vier Männer sah man mit dem Wrack aus der Tiefe emportauchen. Sie hatten sich an das Tauwerk des noch übrigen Mastes geklammert; zuoberst erblickten wir die erbittert kämpfende Gestalt mit dem Lockenhaar.

Es war eine Glocke auf dem Schiff, und wie es sich auf den Wogen wälzte wie ein von der Verzweiflung des Wahnsinns gehetztes Geschöpf, bald das Deck in seiner ganzen Länge zeigend, wenn es sich der Küste zuneigte, dann wieder nur den Kiel, wenn es sich überstürzte, da läutete die Glocke, und der Wind trug ihren Schall wie das Totengeläute dieser Unglücklichen zu uns herüber. Wieder verloren wir das Schiff aus den Augen und wieder stieg es empor. Zwei Leute waren verschwunden. Die Aufregung am Strande nahm zu. Männer stöhnten und rangen die Hände; Frauen schrien vor Jammer und wandten ihr Gesicht ab. Einige rannten verzweifelt am Strande auf und ab und riefen um Hilfe, wo es keine gab. Ich war unter ihnen und flehte wie wahnsinnig eine Gruppe mir bekannter Seeleute an, diese zwei Unglücklichen doch nicht vor unsern Augen untergehen zu lassen.

Sie gaben mir in einer aufgeregten Weise zu verstehen – ich weiß nicht wie, aber das Wenige, was ich hören konnte, war unzusammenhängend und kaum verständlich –, daß das Rettungsboot schon vor einer Stunde ausgesetzt worden sei, daß man aber nichts tun könne, da es Wahnsinn wäre, den Versuch zu machen, mit einem Tau auf das Schiff zu gelangen, um eine Verbindung mit der Küste dadurch zu bewerkstelligen. Da bemerkte ich, daß ein neues Bild die Leute am Strande in Bewegung setzte, sah sie Platz machen und Ham hervorstürzen.

Ich lief zu ihm mit der ersten Absicht, meine Bitte um Hilfe zu wiederholen.

So verstört ich aber auch über den mir neuen und schrecklichen Anblick des scheiternden Schiffes war, so erweckten mich doch die Entschlossenheit in seinem Gesicht und sein eigentümlicher Blick auf das Meer hinaus – genau derselbe Blick wie damals am Morgen nach Emlys Flucht – zur Erkenntnis der Gefahr, in die er sich begeben zu wollen schien. Ich hielt ihn mit beiden Armen zurück und bat die Seeleute, mit denen ich eben gesprochen, flehentlich, nicht auf ihn zu hören, keinen Mord zu begehen und ihn nicht vom Strande fortzulassen.

Wieder lief ein Schrei das Ufer entlang, und als wir nach dem Wrack blickten, sahen wir, wie die Rahe den untern der beiden Männer Schlag für Schlag von seinem Halte wegriß und dann wie frohlockend die gewandte erbittert kämpfende Gestalt, die noch allein am Maste festhielt, umflog.

Gegen einen solchen Anblick und eine Entschlossenheit wie die des ruhigen, todesmutigen Menschen, der gewohnt war, in solchen Fällen der Hälfte der Anwesenden zu befehlen, hätte ich mit ebensowenig Hoffnung kämpfen können wie gegen den Sturm. »Masr Davy«, sagte er und ergriff lebhaft meine beiden Hände, »wenn mien Tied kamen, hew ick nix dawider. Der Herr droben segne Sie und alle. Fertig! Stüerlüt! Ick gau.«

Ich wurde freundlich aber energisch beiseite geschoben, und die Leute hielten mich fest und stellten mir vor, soweit ich in meiner Verwirrung begreifen konnte, daß er entschlossen sei, mit oder ohne Unterstützung das Wrack zu erreichen, und daß ich die Sicherheitsmaßregeln gefährden könnte, wenn ich mich jetzt störend einmischte. Ich weiß nicht, was ich antwortete und was sie wieder darauf sagten, aber ich sah, wie die Leute am Strande eilig hin und her liefen und mit starken Tauen von einer dort befindlichen Ankerwinde herbeieilten und in den Kreis der Männer traten, der Ham vor mir verbarg. Und dann sah ich ihn allein stehen in Seemannsjacke und -hosen, ein Tau in der Hand oder um den Arm geschlungen, ein zweites um den Leib befestigt, während verschiedne der besten Leute in geringen Entfernungen es festhielten und er es selbst auf dem Strande an dem Ufer entlang legte.

Das Wrack zerschellte. Das konnte selbst mein ungeschultes Auge deutlich erkennen. Ich sah, wie es in der Mitte auseinanderbarst, und daß das Leben des einzig Übriggebliebenen an einem Faden hing. Immer noch hielt der Mann sich fest. Er hatte eine merkwürdige rote Mütze auf dem Kopf – nicht wie eine Matrosenmütze, sondern von schönerer Farbe –, und wie die wenigen Planken, die noch zwischen ihm und dem Tode aushielten, vor der Gewalt der Wogen erzitterten und sein Totengeläute im voraus erscholl, da sahen wir alle, wie er uns mit der Mütze winkte. Ich sah es und glaubte wahnsinnig zu werden, als seine Bewegung die Erinnerung an einen einst geliebten Freund deutlich in meiner Seele wachrief.

Ham stand allein am Strand. Die Menge hinter ihm hielt den Atem an und er beobachtete die Brandung, bis sich eine große Woge vom Strand zurückwälzte. Dann warf er einen Blick über die Schulter auf die, die das Tau hielten, das um seinen Leib befestigt war, und stürzte der Welle nach. Und einen Augenblick später sah man ihn mit den empörten Wogen ringen; er stieg mit den Kämmen empor und sank in die Täler herab; dann war er im Schaum verschwunden, und sie zogen hastig das Tau an. Er hatte sich verletzt. Ich konnte Blut auf seinem Gesicht sehen, aber er achtete nicht darauf. Er schien den Männern zu sagen, wieviel Spielraum sie lassen müßten, aus den Bewegungen seines Arms zu schließen, und stürzte sich wieder ins Meer.

Und jetzt schwamm er nach dem Wrack, hob sich mit den Hügeln, sank hinunter mit den Tälern, verlor sich im tosenden Schaum, wurde nach dem Strand zurückgeworfen und wieder zum Schiffe zugetrieben und kämpfte angestrengt und erbittert. Die Entfernung war unbedeutend, aber die Gewalt der Wogen und des Sturmes machten es zu einem Todeskampf. Endlich war er dem Wrack ganz nahe gekommen, so nahe, daß er es mit einer kräftigen Armbewegung mehr hätte erreichen können, – da wälzte sich eine hohe grüne Mauer küstenwärts über das Wrack hinweg. Er schien hineinzutauchen mit einer gewaltigen Anstrengung, und alles war verschwunden.

Ein paar einzelne Trümmer sah ich im Meere wirbeln, wie wenn bloß ein Faß zerschellt wäre, als ich nach der Stelle eilte, wo sie das Tau einholten. Bestürzung lag auf jedem Gesicht. Sie zogen ihn vor meinen Füßen heraus – bewußtlos –. Tot.

Sie trugen ihn nach dem nächsten Haus, und da mich jetzt niemand mehr fernhielt, blieb ich bei ihm, bis jedes Mittel, ihn wieder ins Leben zu rufen, versucht war. Aber die große Welle hatte ihn an eine Klippe geschleudert, und sein edles Herz stand still für immer.

Als jede Hoffnung geschwunden und alles versucht war, da rief ein Fischer, der mich schon gekannt hatte, als Emly und ich noch Kinder waren, an der Türe flüsternd meinen Namen.

»Sir«, sagte er, während Tränen über sein wetterhartes Gesicht liefen, das bis in die Lippen leichenblaß war, »wollen Sie einmal herauskommen.«

Die alte Erinnerung, die mir vorhin eingefallen, lag auch in seinem Blick. Entsetzt fragte ich ihn, auf seinen hingehaltenen Arm gestützt:

»Ist eine Leiche angeschwemmt worden?«

»Ja, Sir.«

»Kenne ich sie?«

Er gab keine Antwort und führte mich zum Strande. Auf der Stelle, wo Emly und ich als Kinder Muscheln gesucht hatten, – auf der Stelle, wo ein paar kleine Trümmer des in der vorigen Nacht vom Sturm zerstörten alten Boothauses zerstreut lagen, – unter den Trümmern des Herdes, den er geschändet, sah ich ihn mit dem Kopf auf dem Arme ruhend liegen, wie ich ihn so oft hatte in der Schule schlummern sehen.

56. Kapitel Die neue Wunde und die alte


56. Kapitel Die neue Wunde und die alte

O Steerforth, du hättest bei unserm letzten Zusammensein nicht zu sagen brauchen: Denke an mich immer in der besten Weise. Ich hatte es immer getan, und konnte es jetzt bei diesem Anblick anders werden?!

Sie holten eine Bahre und legten ihn darauf, deckten ihn mit einer Flagge zu und trugen ihn zu den Häusern hin. Die Männer, die ihn trugen, hatten ihn alle als heitern und verwegenen Jüngling gekannt und waren oft mit ihm auf dem Meere gewesen. Sie trugen ihn durch das wilde Getöse, den einzig totenstillen Fleck inmitten des Tumultes, und brachten ihn zu der Hütte, wo der Tote lag.

Aber als sie die Bahre auf der Schwelle niedersetzten, sahen sie einander an und dann mich und flüsterten untereinander. Ich wußte warum. Es war ihnen, als sei es nicht recht, ihn in demselben stillen Zimmer ruhen zu lassen.

Wir gingen in die Stadt und trugen die Leiche nach dem Gasthaus.

Sobald ich meine Gedanken nur einigermaßen sammeln konnte, schickte ich nach Joram und bat ihn, einen Wagen zu bestellen, in dem ich die Leiche noch in der Nacht nach London schaffen könnte. Ich fühlte, daß die schwere Pflicht, seine Mutter auf die Schreckensbotschaft vorzubereiten, mir oblag, und ich wollte sie so getreulich wie möglich erfüllen.

Ich wählte die Nacht zu meiner Reise, um weniger Aufsehen in der Stadt zu erregen. Obgleich es fast Mitternacht war, als ich mit dem Wagen den Hof des Gasthauses verließ, warteten noch viele Leute davor. An einzelnen Stellen, selbst eine Strecke weit auf die Landstraße hinaus, warteten noch andere, aber endlich war ich allein mit der öden Nacht, das offene Land um mich her, und der Asche meiner Jugendfreundschaft.

 

Es war ein warmer Herbsttag gegen Mittag, und welke Blätter bedeckten den Erdboden, – rot, gelb und braun gefärbt standen die Bäume, von der Sonne durchglänzt, da kam ich in Highgate an. Ich ging die letzte Viertelstunde zu Fuß, in Gedanken mit dem beschäftigt, was ich vorhatte, und ließ den Wagen mit der Leiche bis auf weitere Befehle haltmachen.

Als ich das Haus erreichte, sah es aus wie immer. Kein Vorhang war aufgezogen, und nichts regte sich auf dem stillen gepflasterten Hof, von dem aus der gedeckte Gang zur Türe führte. Der Wind hatte sich ganz gelegt und alles war still.

Ich hatte kaum den Mut zu läuten, und als ich es endlich wagte, da war mir, als ob der Ton der Glocke schon meine Botschaft verriete. Das kleine Dienstmädchen kam mit dem Schlüssel in der Hand heraus, sah mich aufmerksam an, während sie aufschloß, und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, sind Sie unwohl?«

»Ich bin in großer Aufregung gewesen und sehr ermüdet.«

»Ist etwas vorgefallen, Sir? – Mr. James –?«

»Still!« sagte ich. »Ja, es ist etwas vorgefallen, auf das ich Mrs. Steerforth vorzubereiten habe. Ist sie zu Hause?«

Das Mädchen gab erschrocken zur Antwort, daß ihre Herrin sehr selten das Haus verlasse, selbst nicht im Wagen, daß sie keine Gesellschaft empfange, mich aber gewiß vorlassen würde. Sie wäre bereits aufgestanden, und Miss Dartle sei bei ihr. Was sie oben ausrichten sollte?

Ich schärfte ihr aufs strengste ein, sich nichts anmerken zu lassen, nur meine Karte abzugeben und zu sagen, ich wartete unten; dann setzte ich mich im Empfangszimmer nieder.

Der frühere angenehme Anstrich von Bewohntsein war aus dem Zimmer verschwunden, und die Laden standen halb zu. Die Harfe war wohl lange, lange nicht berührt worden. Sein Bild als Knabe hing noch da. Der Schrank, in dem seine Mutter seine Briefe aufbewahrte, stand noch in der Ecke. Ich fragte mich, ob sie sie jetzt wohl noch läse, – ob sie sie jemals wieder lesen würde.

So still war es im Haus, daß ich des Mädchens leichten Schritt auf der Treppe hörte. Mrs. Steerforth ließ mir sagen, sie wäre nicht wohl und könnte nicht herunterkommen. Wenn ich mich jedoch in ihr Zimmer bemühen wollte, würde sie sich freuen mich zu sehen. In wenigen Augenblicken stand ich vor ihr.

Sie war in seinem Zimmer und nicht in ihrem. Ich ahnte natürlich, daß sie es wegen der Erinnerung an ihn bezogen hatte, und daß die vielen Zeichen seiner alten Beschäftigungen und Sports, die sie umgaben, aus dem gleichen Grunde unberührt geblieben waren. Aber selbst, als sie mich empfing, murmelte sie die Ausflucht, daß ihr eignes Zimmer für ihren jetzigen Zustand nicht geeignet sei, und wies mit ihrem stolzen Blick auch die leiseste Ahnung der Wahrheit zurück.

Neben ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich Rosa Dartle. In der ersten Sekunde, wo ihre dunkeln Augen auf mir ruhten, erkannte ich, daß sie erriet, ich sei der Überbringer schlimmer Nachrichten. Die Narbe wurde sogleich sichtbar.

Sie trat einen Schritt hinter den Stuhl, um Mrs. Steerforth ihr Gesicht nicht sehen zu lassen, und musterte mich mit einem durchbohrenden Blick, ohne mit den Wimpern zu zucken.

»Ich bedauere sehr, Sie in Trauer zu sehen, Sir«, sagte Mrs. Steerforth.

»Ich bin leider Witwer geworden.«

»Sie sind sehr jung für einen so großen Verlust. Es tut mir von Herzen leid, es zu hören. Wirklich von Herzen leid. Ich hoffe, die Zeit wird Ihre Wunde heilen.«

»Ich hoffe, die Zeit«, sagte ich und sah sie an, »wird unser aller Wunden heilen. Liebe Mrs. Steerforth, wir müssen in unserm schwersten Mißgeschick alle darauf vertrauen!«

Der Ernst meines Wesens und die Tränen in meinen Augen versetzten sie in Unruhe. Der Lauf ihrer Gedanken schien innezuhalten und eine andere Richtung zu nehmen.

Ich versuchte, meine Stimme zu beherrschen, als ich leise seinen Namen aussprach, aber sie zitterte. Sie wiederholte ihn zwei– oder dreimal leise, dann wendete sie sich mit erzwungener Fassung an mich und fragte:

»Mein Sohn ist krank?«

»Sehr krank!«

»Sie haben ihn gesehen?«

»Ja.«

»Haben Sie sich mit ihm ausgesöhnt?«

Ich konnte nicht Ja, ich konnte nicht Nein sagen. Sie wendete den Kopf zur Seite, wo Rosa Dartle noch eben gestanden, und in diesem Augenblick sagte ich mit einer Bewegung meiner Lippen zu Rosa:

»Tot.«

Damit Mrs. Steerforth sich nicht umsähe und alles erriete, suchte ich rasch wieder ihren Blick.

Aber ich hatte gesehen, wie Rosa Dartle die Hände voll Verzweiflung und Entsetzen empor zum Himmel streckte und sich dann das Gesicht damit bedeckte.

Die schöne, alte Dame – o, wie glichen ihre Züge ihm! – sah mich mit einem starren Blick an und legte die Hand an ihre Stirn. Ich bat sie, sich zu fassen und Kraft zu sammeln, um das, was ich ihr zu sagen hätte, anhören zu können; aber ich hätte sie lieber bitten sollen zu weinen, denn sie saß da wie ein Bild von Stein.

»Als ich das letzte Mal hier war«, begann ich mit bebender Stimme, »erzählte mir Miss Dartle, er segle auf dem Meer herum. Vorgestern nachts war ein schreckliches Unwetter. Wenn er in dieser Nacht auf dem Meer war und in der Nähe einer gefährlichen Küste, wie es der Fall gewesen sein soll, und wenn das Schiff, das man gesehen hat, wirklich das Schiff sein sollte, das –«

»Rosa!« sagte Mrs. Steerforth, »komm zu mir!«

Sie kam, aber ohne Teilnahme und Zärtlichkeit. Sie trat vor die Mutter, und ihre Augen flackerten wie Feuer, und sie brach in ein gräßliches Lachen aus.

»Jetzt ist dein Stolz befriedigt, du Wahnsinnige«, schrie sie. »Jetzt hat er es dir gebüßt – mit seinem Leben, hörst du? Mit seinem Leben!«

Mrs. Steerforth fiel regungslos in ihren Stuhl zurück; nur ein leises Stöhnen kam aus ihrem Munde, und sie starrte Miss Dartle mit aufgerißnen Augen an.

»Ja!« rief Rosa und schlug sich leidenschaftlich auf die Brust. »Sieh mich an! Ächze und stöhne und sieh mich an! Sieh her!« Sie berührte die Narbe. »Sieh deines toten Kindes Kunststück!«

Das Stöhnen der Mutter zerriß mir das Herz. Es blieb sich immer gleich. Unartikuliert und dumpf. Es war immer von einer zuckenden Bewegung des Kopfes begleitet, und keine Veränderung zeigte sich in ihrem Gesicht. Es tönte aus einem starren Munde durch die zusammengepreßten Zähne hindurch, als ob die Kinnladen den Krampf hätten und das Gesicht in Schmerz erstarrt wäre.

»Weißt du noch, wann er das tat? Weißt du noch, wie er, auch in seinem Charakter dein Sohn, verzogen von dir in seinem Stolz und seinen Leidenschaften, das tat und mich fürs ganze Leben entstellte? Sieh mich an, gezeichnet bis zu meinem Tode durch seine hohe Ungnade, und ächze und stöhne nur, daß du ihn dazu gemacht hast.«

»Miss Dartle«, bat ich. »Um Gottes willen –«

»Ich will sprechen«, sagte sie und sah mich mit ihren flackernden Augen an. »Schweigen Sie!«

»Sieh mich an, sage ich, du stolze Mutter eines stolzen falschherzigen Sohnes! Stöhne, daß du ihn verdorben hast. Stöhne um deinen Verlust und um den meinen.«

Sie ballte die Faust, und ihre hagere abgezehrte Gestalt zitterte, als ob die Leidenschaft sie zollweise töten wollte.

»Du warst gekränkt über seinen Eigenwillen, du warst durch seinen Stolz verletzt! Du warfst ihm die beiden Eigenschaften vor, die du ihm mitgabst, als er geboren wurde. Du selbst hast bereits in der Wiege verkrüppelt, was er hätte werden können. Bist du jetzt belohnt für die vielen Jahre der Sorge?«

»Miss Dartle, schämen Sie sich! Welche Grausamkeit!«

»Und ich sage Ihnen, ich will zu ihr sprechen! Keine Macht auf Erden soll mich davon abhalten, solange ich hier stehe. Habe ich die ganzen Jahre hindurch geschwiegen und soll jetzt nicht sprechen?« Sie wendete sich leidenschaftlich wieder gegen die Mutter.

»Ich habe ihn heißer geliebt, als du je fähig gewesen bist. Ich hätte ihn lieben können ohne Gegenliebe zu verlangen. Wäre ich seine Frau gewesen, ich hätte für ein Wort der Liebe das ganze Jahr die Sklavin seiner Launen sein können. Ja, ich hätte es können! Wer weiß das besser als ich! Du warst tyrannisch, stolz, pedantisch und selbstsüchtig. Meine Liebe wäre aufopfernd gewesen, – sie hätte den weinerlichen Jammer deiner Liebe mit Füßen getreten.«

Ihre Augen flammten, und sie stampfte auf den Fußboden.

»Sieh her«, schrie sie und schlug sich wild auf die Narbe. »Als er einsehen gelernt, was er getan hatte, da bereute er es. Ich durfte ihm vorsingen und ihn unterhalten; und Teilnahme für alles, was er tat, an den Tag legen und alles das lernen, was ihn am meisten interessierte; ich zog ihn an. Als er am frischesten und wahrhaftigsten war, da liebte er mich. Ja, er liebte mich! Oft, wenn er dich mit einem leichten Wort abfertigte, hat er dann mich an sein Herz geschlossen.«

Sie sagte es mit höhnischem Stolz inmitten ihres Wahnsinns, aber mit einer leidenschaftlichen Erinnerung, in der sich die glimmenden Funken eines zärtlichen Gefühls für den Augenblick entzündeten.

»Ich sank zuletzt – wie ich wohl hätte wissen können, wäre ich nicht von seiner fast noch knabenhaften Liebe berückt gewesen – zu einer Puppe herab, zu einem Spielzeug in müßigen Stunden, das er fallenließ und wieder hernahm, wie die Laune es ihm eingab. Und wie er meiner müde wurde, so wurde auch ich seiner müde. Als die Laune seiner Liebe gestorben war, hätte ich sowenig versucht, die Macht, die ich über ihn besessen, wiederzugewinnen, als ich ihn geheiratet hätte, und wenn man mich dazu gezwungen haben würde. Wir trennten uns, ohne ein Wort zu verlieren. Vielleicht hast du es gesehen, und es tat dir nicht leid. Seit jener Zeit war ich euch beiden ein beschädigtes Stück Hausgerät geworden ohne Augen, Ohren, Empfindungen und Erinnerungen.

Du stöhnst? Stöhne nur, weil du ihn dazu gemacht hast. Und nicht aus Schmerz um seinen Tod! Ich sage dir, es gab eine Zeit, wo ich ihn heißer liebte, als du jemals imstande gewesen wärest.«

Ihre zornfunkelnden Augen begegneten dem verstörten Blick und dem starren Gesicht der Mutter und wurden bei ihrem Stöhnen nicht sanfter, als ob ihr Antlitz ein Bild gewesen wäre.

»Miss Dartle«, sagte ich, »wie können Sie nur so unbarmherzig sein, daß Sie nicht für diese trauernde Mutter fühlen!«

»Wer fühlt für mich?« entgegnete sie heftig. »Sie hat die Saat gepflanzt. Soll sie klagen und jammern über die Ernte!«

»Und wenn seine Fehler –« fing ich an.

»Fehler!« rief sie aus und brach in leidenschaftliche Tränen aus. »Wer wagt ihn zu verleumden. Er hatte eine Seele, die Millionen der Freunde wert war, zu denen er sich herabließ.«

»Niemand kann ihn mehr geliebt haben als ich. Niemand ist er eine teurere Erinnerung als mir«, entgegnete ich. Ich wollte sagen, wenn Sie kein Mitleid mit seiner Mutter haben, oder wenn seine Fehler – Sie selbst haben sich bitter darüber ausgesprochen –«

»Das ist nicht wahr«, schrie sie und raufte sich das schwarze Haar. »Ich habe ihn geliebt.«

»– sich in einer solchen Stunde nicht aus Ihrem Gedächtnis verwischen lassen, so sehen Sie doch diese gebrochene Gestalt hier an und leisten Sie ihr Hilfe.«

Die ganze Zeit über war Mrs. Steerforth starr geblieben, und kein Zug in ihrem Gesicht hatte sich verändert. Regungslos, mit weit offenem verstörtem Blick wie vorhin, dann und wann mit einer hilflosen Bewegung des Kopfes, einen unartikulierten Ton ausstoßend, ohne sonst ein Lebenszeichen von sich zu geben!

Miss Dartle kniete plötzlich vor ihr nieder und fing an, ihr das Kleid zu öffnen.

»Seien Sie verflucht«, sagte sie und sah sich, mit einem Ausdruck von Wut und Schmerz zugleich, nach mir um. »Sie sind in einer bösen Stunde hierher gekommen. Seien Sie verflucht! Gehen Sie!«

Ich wollte das Zimmer verlassen, dann eilte ich zurück, um zu klingeln und die Dienerschaft so rasch wie möglich herbeizurufen. Sie hatte die regungslose Gestalt in ihre Arme geschlossen, weinte vor ihr auf den Knien, küßte sie, rief sie beim Namen und wiegte sie an ihrer Brust wie ein Kind und versuchte jedes zärtliche Mittel, die schlummernden Sinne der Bewußtlosen wieder zu erwecken.

Ich sah, daß ich keine Furcht mehr haben mußte, und kehrte leisen Schrittes wieder um.

Zu einer späteren Stunde kehrte ich zurück, und wir legten den Leichnam in das Zimmer der Mutter. Ihr Zustand war noch immer derselbe, sagte man mir. Miss Dartle verließ sie keinen Augenblick. Ärzte waren herbeigerufen und viele Mittel versucht worden, aber sie lag da wie eine Statue und ließ nur dann und wann einen leisen Klagelaut hören.

Ich schritt durch das Haus der Trauer und zog die Vorhänge vor den Fenstern zu. Die, wo er lag, verhüllte ich zuletzt.

Ich hob die starre Hand empor und drückte sie an mein Herz, und die ganze Welt schien tot und voll von Schweigen zu sein, das nur von dem Stöhnen der Mutter unterbrochen wurde.

45. Kapitel Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante


45. Kapitel Mr. Dick erfüllt die Prophezeiung meiner Tante

Ich hatte meine Stellung bei Doktor Strong schon seit geraumer Zeit aufgegeben. Da ich in seiner Nähe wohnte, sah ich ihn häufig, und wir alle kamen hie und da zum Mittagessen oder zum Tee zu ihm. Der »General« hatte bei dem Doktor seinen beständigen Wohnsitz aufgeschlagen. Sie war noch ganz die alte, und die unsterblichen Schmetterlinge schwebten immer noch über ihrem Hut.

Mrs. Markleham war, wie das oft vorkommt, viel vergnügungsüchtiger als ihre Tochter. Sie beanspruchte viel Zerstreuung und gab als alter, schlauer Soldat vor, sich für ihr Kind aufzuopfern, während sie nur ihren eignen Neigungen frönte. Des Doktors Wunsch, Ännie zu zerstreuen, kam deshalb dieser vortrefflichen Mutter besonders gelegen, und sie stimmte seinen Vorschlägen auf das Entschiedenste bei.

»Lieber Doktor«, sagte sie zu ihm einmal in meiner Gegenwart, »es wäre wirklich etwas langweilig für Ännie, wenn sie immer hier eingesperrt sein müßte.«

Der Doktor nickte wohlwollend mit dem Kopf.

»Wenn sie einmal in den Jahren ist wie ihre Mutter«, sagte Mrs. Markleham mit einem Fächerschlag, »wird es anders sein. Mich könnte man in einen Kerker sperren mit angenehmer Gesellschaft und einer Whistpartie, und ich würde gar nicht daran denken, auszugehen. Aber ich bin nicht Ännie, sehen Sie, und Ännie ist nicht ihre Mutter.«

»Ganz gewiß, ganz gewiß«, stimmte der Doktor bei.

»Sie sind der beste Mensch von der Welt … Nein, ich bitte um Verzeihung!« – Der Doktor machte eine abwehrende Bewegung. – »Ich muß es Ihnen ins Gesicht sagen, wie ich es immer hinter ihrem Rücken tue: Sie sind der beste Mensch von der Welt, aber naturgemäß können Sie nicht auf die Geschmackrichtung und Neigungen Ännies eingehen.«

»Nein«, sagte der Doktor mit bekümmertem Ton.

»Naturgemäß nicht. Nehmen Sie zum Beispiel Ihr Lexikon! Wie nützlich ist so ein Lexikon! Wie notwendig! Die Bedeutung der Worte! Ohne Doktor Johnson oder sonst jemand der Art würden wir heute noch ein Brenneisen eine Bettstelle nennen. Aber wir können nicht erwarten, daß ein Lexikon, besonders wenn es noch nicht fertig ist, Ännie interessiert, nicht wahr?«

Der Doktor nickte.

»Und deshalb billige ich so sehr Ihre kluge Einsicht«, sagte Mrs. Markleham und schlug Dr. Strong mit dem zugemachten Fächer auf die Schulter. »Es beweist, daß Sie nicht, wie so viele bejahrte Leute, alte Gesichter auf jungen Schultern zu sehen wünschen. Sie haben Ännies Charakter studiert und verstehen ihn. Das finde ich so bewunderungswert.«

Selbst das ruhige und geduldige Gesicht Dr. Strongs zeigte sich, wie mir vorkam, peinlich berührt von derartigen Komplimenten.

»Deshalb, lieber Doktor«, fuhr der »General« liebreich fort, »können Sie zu allen Zeiten und bei allen Gelegenheiten über mich verfügen. Ich stehe ganz zu Ihren Diensten. Ich bin bereit, mit Ännie in die Oper, ins Konzert, in die Ausstellung und überall hinzugehen, und nie sollen Sie sehen, daß ich müde bin. Die Pflicht, lieber Doktor, geht allem in der Welt vor.«

Sie hielt Wort. Sie gehörte zu den Leuten, die sehr viel Zerstreuung vertragen können, und ihre Ausdauer in dieser Hinsicht war nicht zu ermüden. Selten legte sie eine Zeitung aus der Hand, ohne etwas zu finden, was Ännie gewiß sehr gerne sehen würde. Vergebens wendete Ännie in solchen Fällen ein, daß sie derlei Dinge satt habe. Immer wieder kam ihre Mutter mit Vorstellungen wie: »Liebe Ännie, du wirst es wohl besser wissen, aber ich muß dir schon sagen, mein Kind, daß du durchaus nicht die gehörige Dankbarkeit für die Güte Dr. Strongs beweisest.«

Das sagte sie immer in der Anwesenheit des Doktors und schien damit ihre Tochter am ehesten zu bewegen, keine Einwendungen mehr zu machen.

 

Es kam jetzt nur selten vor, daß Mr. Maldon Ännie begleitete. Manchmal wurden meine Tante und Dora zu den Spaziergängen eingeladen und nahmen immer an. Manchmal Dora allein. In früherer Zeit wäre mir das nicht ganz recht gewesen, aber näheres Nachdenken über jenen Vorfall in des Doktors Studierzimmer hatte meinem Mißtrauen eine andere Richtung gegeben. Ich glaubte, daß der Doktor recht habe, und hegte keinen Argwohn mehr.

Meine Tante rieb sich manchmal die Nase, wenn wir darüber sprachen, und sagte, sie könnte nicht klug daraus werden; sie möchte den beiden wünschen, sie wären glücklicher, und sie glaube nicht, daß unser militärischer Freund – wie sie immer den »General« nannte ? die Sache besser mache. Wenn Mrs. Markleham nur wenigstens die Schmetterlinge abschneiden und sie den Rauchfangkehrern zum Maifest schenken wollte, würde sie wenigstens den guten Willen, wieder zur Vernunft zurückzukehren, damit zeigen, meinte sie.

Aber ihre feste Zuversicht war und blieb Mr. Dick. Der Mann habe offenbar eine Idee im Kopf, sagte sie, und wenn er sie erst einmal in einer Ecke festfahren könnte, was die Hauptschwierigkeit bei ihm sei, so werde er sich in ganz außerordentlicher Weise auszeichnen.

Ohne etwas von dieser Prophezeiung zu wissen, schien Mr. Dick in seinem alten Verhältnis zu dem Doktor und seiner Gattin weder einen Schritt vorwärts noch rückwärts zu machen. Wie ein Gebäude verharrte er unbeweglich auf seinem ursprünglichen Grund, und ich muß gestehen, mein Glaube, er werde jemals einen Schritt vorwärts machen, war nicht größer, als wenn er wirklich ein Gebäude gewesen wäre.

Eines Abends nun, als meine Tante mit Dora zu den beiden kleinen Vögeln zum Tee gegangen war und ich allein an meinem Schreibtisch saß, steckte Mr. Dick den Kopf zur Tür herein, hustete bedeutsam und fragte:

»Könnte ich mit dir wohl ein Wort sprechen, ohne dich zu stören, Trotwood?«

»Gewiß, Mr. Dick«, sagte ich, »nur herein.«

»Trotwood«, sagte Mr. Dick und legte den Finger an die Nase, nachdem er mir die Hand geschüttelt. »Ehe ich mich setze, möchte ich eine Bemerkung machen. Du kennst deine Tante?«

»Ein wenig.«

»Sie ist die wunderbarste Frau auf der Welt.«

Nach dieser Mitteilung, mit der er herausplatzte, als ob sie ganz neu wäre, setzte er sich mit größerm Ernst als gewöhnlich hin und sah mich an.

»Jetzt, mein Sohn, will ich dir eine Frage vorlegen.«

»Bitte, nur zu.«

»Wofür hältst du mich?« fragte Mr. Dick und verschränkte die Arme.

»Für einen lieben; alten Freund.«

»Ich danke dir, Trotwood«; gab Mr. Dick lachend zur Antwort und reichte mir fröhlich die Hand hin. »Aber ich meine«, sagte er wieder mit seinem vorigen Ernst, »was hältst du von mir in dieser Hinsicht?« und deutete auf seine Stirn.

Ich war verlegen und suchte nach einer Antwort. Aber er half mir mit einem Wort:

»Schwach?«

»Nun ja«, entgegnete ich zögernd, »ein klein wenig.«

»Ganz richtig«, rief Mr. Dick, den meine Antwort ordentlich zu entzücken schien. »Nämlich, Trotwood, als sie einige von den Sorgen aus seinem Kopf – du weißt schon wessen – nahmen und in meinen taten, da entstand eine …« Er drehte seine beiden Hände rasch umeinander, um eine Verwirrung auszudrücken. »Da geschah mir das auf irgendeine Weise, nicht wahr?«

Ich bejahte, und er nickte wieder.

»Kurz, mein Sohn«, und er dämpfte seine Stimme bis zum Flüstern, »ich bin schwachsinnig.«

Ich wollte dagegen Einwendungen erheben, aber er verhinderte mich daran.

»Ja, das bin ich. Sie behauptet auch, ich wäre es nicht. Aber ich weiß, daß ichs bin. Wenn sie mir nicht als Freund beigestanden hätte, so wäre ich heute noch eingesperrt und hätte die langen Jahre hindurch ein schreckliches Leben führen müssen. Aber ich werde für sie sorgen. Ich greife nie das Geld für das Abschreiben an. Ich tue es in eine Sparbüchse. Ich habe ein Testament gemacht und will ihr alles hinterlassen. Sie soll reich werden! – Vornehm!«

Mr. Dick zog sein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. Dann legte er es mit großer Sorgfalt zusammen, strich es glatt und steckte es in die Tasche und schien damit auch das Thema weggesteckt zu haben.

»Du bist ein Gelehrter, Trotwood«, fuhr er dann fort. »Ein bedeutender Gelehrter! Du weißt, was für ein großer hervorragender Mann der Doktor ist. Du weißt, wieviel Ehre er mir immer erwiesen hat. Nie ist er stolz in seiner Weisheit! Bescheiden, bescheiden ? herablassend selbst gegen den armen Dick, der schwachsinnig ist und nichts weiß! Ich habe seinen Namen auf einem Papierzettel an der Schnur entlang hinauf zu dem Drachen geschickt, als er hoch im Himmel war bei den Lerchen. Der Drache hat ihn entgegengenommen, und der Himmel ist lichter davon geworden.«

Er war entzückt, als ich ihm auf das herzlichste versicherte, daß der Doktor unsere größte Achtung verdiene.

»Und seine schöne Frau ist ein Stern. Ein glänzender Stern. Ich habe ihn leuchten sehen. Aber –« er rückte mit dem Stuhle näher und legte mir die Hand aufs Knie »– Wolken, Trot, – Wolken!«

Ich nickte.

»Was sind das für Wolken?« fragte er.

Er sah mir so besorgt fragend ins Gesicht und sah mich so angestrengt nach Verständnis ringend an, daß ich mir die größte Mühe gab, ihm langsam und deutlich alles zu erklären wie einem Kinde.

»Es ist ein unglücklicher Zwiespalt zwischen ihnen entstanden. Irgend etwas, was sie voneinander fernhält. Ein Geheimnis. Es ist vielleicht unzertrennlich von der Verschiedenheit ihres Alters. Es ist vielleicht aus fast nichts entstanden.«

Mr. Dick, der bei jedem Satz gedankenvoll genickt hatte, schwieg, als ich fertig war, und dachte nach, die Augen auf mein Gesicht geheftet und die Hände auf mein Knie gelegt.

»Der Doktor ist ihr nicht bös, Trotwood?« fragte er nach einer Weile.

»Nein, er liebt sie aufs innigste.«

»Dann habe ichs, mein Sohn!«

Die plötzliche Freude, mit der er mir aufs Knie schlug und sich in den Stuhl zurücklehnte, die Augenbrauen so hoch wie nur irgend möglich in die Höhe gezogen, ließ mich glauben, daß er weniger zurechnungsfähig als je sei. Ebenso schnell wurde er wieder ernst, holte das Taschentuch hervor und sagte wieder, als ob er damit das alte Thema hervorgeholt habe:

»Die wunderbarste Frau auf der Welt, Trotwood! Warum hat sie eigentlich nichts getan, um die Sache in Ordnung zu bringen?«

»Es ist ein zu delikater Gegenstand, um sich hineinzumischen.«

»Großer Gelehrter!« sagte Mr. Dick und tupfte mir mit dem Finger auf die Brust. »Warum hast du nichts getan?«

»Aus demselben Grund.«

»Dann hab ichs«, und Mr. Dick stellte sich vor mich hin, noch erfreuter, nickte mit dem Kopf und schlug sich wiederholte Male so stark auf die Brust, als wolle er sich allen Atem aus dem Leibe hämmern.

»Ein armer, halb verrückter Kerl!« sagte er. »Ein Einfaltspinsel, einer, der den Verstand verloren hat … Schau mich an!« und er schlug sich wieder auf die Brust – »kann vollbringen, was wundervolle Leute nicht imstande sind. Ich will sie zusammenbringen, mein Sohn! Ich wills versuchen. Mir kann niemand einen Vorwurf machen! Ich kann keinen Schaden anrichten, wenn ich etwas Unrechtes tue. Ich bin nur Mr. Dick! Dick ist niemand! Hui!« Er spitzte den Mund, als ob er etwas wegblasen wollte.

Es traf sich glücklich, daß er mit seiner Enthüllung so weit gekommen war, denn soeben hielt der Wagen mit meiner Tante und Dora an der Gartentüre.

»Kein Wort, mein Junge«, flüsterte er. »Überlasse alles dem Dick dem schwachsinnigen Dick ? dem verrückten Dick. Ich habe schon seit einiger Zeit gehofft, daß ichs finden würde, und jetzt habe ichs gefunden. Nach dem, was du mir gesagt hast, bin ich gewiß, daß ich es gefunden habe.«

Nicht eine Silbe mehr ließ Mr. Dick über die Sache fallen, benahm sich aber während der nächsten halben Stunde zur größten Beunruhigung meiner Tante wie ein lebendiger Telegraphenzeiger, um mir das unverbrüchlichste Schweigen einzuschärfen.

Zu meiner Verwunderung hörte ich die nächsten paar Wochen nichts wieder davon, obgleich mich die Sache höchlichst interessierte. Endlich fing ich an zu glauben, daß Mr. Dick entweder seinen Plan aufgegeben oder ihn vergessen habe.

 

An einem schönen Abend machten meine Tante und ich, da Dora keine Lust zum Spazierengehen hatte, einen Besuch bei dem Doktor. Es war Herbst, und keine Parlamentsdebatte verdarb die Abendstimmung. Die Blätter dufteten wie einst unser Garten, in Blunderstone, als sie unter unserm Fuße rauschten, und das alte Gefühl der Unbefriedigung lebte wieder in meiner Brust. Es dämmerte, als wir das Landhaus erreichten. Mrs. Strong kam gerade aus dem Garten, und Mr. Dick half dem Gärtner einige Stäbe zuspitzen. Der Doktor war mit jemand in seinem Studierzimmer beschäftigt; aber der Besuch würde gleich gehen, sagte Mrs. Strong und bat uns zu bleiben. Wir traten mit ihr in das Besuchszimmer und setzten uns ans Fenster.

Es waren kaum ein paar Minuten verstrichen, als Mrs. Markleham, die es immer zustande brachte über irgend etwas in Aufregung zu sein, mit der Zeitung in der Hand hastig hereintrat und ganz außer Atem sagte: »Gott im Himmel, Ännie, warum machst du mich nicht darauf aufmerksam, daß jemand im Studierzimmer ist.«

»Liebe Mama«, erwiderte Mrs. Strong ruhig, »wie konnte ich denn wissen, daß du es zu wissen wünschtest.«

»Zu wissen wünschtest!« – Mrs. Markleham sank auf das Sofa. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so erschrocken.«

»Du bist in der Studierstube gewesen, Mama?« fragte Ännie.

»In der Studierstube gewesen? Allerdings, ja. Ich bin dort gewesen! Ich überraschte den vortrefflichen Mann – denken Sie sich meine Empfindungen, Miss Trotwood und David – beim Aufsetzen seines Testamentes!«

Ännie blickte schnell auf.

»Beim Aufsetzen seines letzten Willens«, wiederholte Mrs. Markleham, indem sie die Zeitung auf ihren Schoß wie eine Serviette ausbreitete und mit den Händen draufpatschte. »Nein, die Vorsicht und Liebe des Trefflichen! Ich muß Ihnen erzählen, wie es war, um dem wundervollen Mann Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie wissen vielleicht, Miss Trotwood, daß in diesem Hause nie ein Licht angezündet wird, ehe einem nicht die Augen buchstäblich aus dem Kopfe fallen, von der Anstrengung des Zeitunglesens, und daß kein Stuhl im Hause ist, in dem man eine Zeitung lesen könnte, was ich lesen nenne, außer einem einzigen im Studierzimmer. Das führte mich dorthin, zumal ich Licht drin sah. Ich öffnete die Tür. Bei dem lieben Doktor waren zwei Herren, offenbar Advokaten, und alle drei standen am Tisch ? der gute Doktor mit der Feder in der Hand. ›Damit drücke ich mit einfachen Worten aus‹, sagte er, ›meine Herrn, daß ich das größte Vertrauen in Mrs. Strong setze und ihr hiermit alles bedingungslos verschreibe.‹ Und einer der beiden Herren wiederholte: ›bedingungslos verschreibe.‹

Darauf sagte ich, von meinem mütterlichen Gefühl überwältigt: ›Guter Gott, ich bitte um Entschuldigung‹, stolperte über die Türschwelle und kam hierher durch den kleinen Gang an der Speisekammer vorbei.«

Mrs. Strong öffnete die Glastür, ging auf die Veranda hinaus und lehnte sich an eine Säule.

»Sagen Sie, Miss Trotwood, und Sie, David, ist es nicht eine wahre Herzensstärkung, wenn ein Mann in Dr. Strongs Alter noch so viel Geistesstärke hat, so etwas zu tun?« fragte Mrs. Markleham. »Es beweist wieder, wie recht ich hatte. Ich sagte damals schon zu Ännie, als er um sie anhielt: Liebe Tochter, sagte ich, es läßt sich meiner Meinung nach gar nicht daran zweifeln, wenn wir von einer passenden Versorgung für dich sprechen, daß Dr. Strong noch weit mehr tun wird, als er verspricht.«

Man hörte die Klingel gehen und den Besuch sich entfernen.

»Jetzt ist alles vorüber«, sagte der General. »Der Treffliche hat unterschrieben, und sein Gemüt ist beruhigt. Liebe Ännie, ich gehe jetzt mit der Zeitung in das Studierzimmer, denn ohne Neuigkeiten bin ich ein geschlagenes Geschöpf. Miss Trotwood, David, bitte, kommen Sie mit zum Doktor.«

Ich war mir bewußt, daß Mr. Dick im dunklen Hintergrund des Zimmers stand und sein Messer zuklappte, als wir ihr in das Studierzimmer folgten, auch daß meine Tante unterwegs ihre Nase heftig rieb, um ihrem Ärger über unsern militärischen Freund Luft zu machen. Aber wer zuerst eintrat, oder wie Mrs. Markleham in einem Nu es sich im Lehnstuhl bequem gemacht hatte, oder wie es kam, daß meine Tante und ich an der Tür stehenblieben, das habe ich vergessen, wenn ich es jemals gewußt habe. Das eine weiß ich, daß wir den Doktor, ehe er uns bemerkte, an seinem Tisch unter den Folianten sitzen sahen, die ihm so viel Freude machten, und daß er den Kopf auf die Hand gestützt hatte, und daß in demselben Augenblick Mrs. Strong bleich und zitternd hereintrat. Mr. Dick stützte sie, mit der andern Hand berührte er den Arm des Doktors, so daß dieser mit zerstreuter Miene aufblickte.

Im selben Augenblick war Ännie vor ihrem Gatten auf die Knie gesunken, die Hände flehend emporgehoben und wieder mit dem Ausdruck in den Mienen, den ich nie vergessen hatte. Bei diesem Anblick ließ Mrs. Markleham die Zeitung fallen und sah mit aufgerissenen Augen dem Gallionenbild eines Schiffes »Das große Erstaunen« ähnlicher als irgend etwas anderem.

»Doktor«, sagte Mr. Dick, »woran fehlts hier? Sehen Sie her!«

»Ännie«, rief der Doktor, »steh doch auf, liebe Ännie!«

»Ich bitte Sie alle, bleiben Sie hier! Und du, mein Gatte und Vater, brich endlich dies lange Schweigen. Laß uns beide wissen, was zwischen uns getreten ist.«

Mrs. Markleham, die unterdessen die Sprache wiedergefunden hatte und von Familienstolz und mütterlicher Entrüstung überfloß, rief: »Ännie, sogleich stehe auf und verunehre nicht deine ganze Familie, indem du dich so demütigst, wenn du nicht willst, daß ich auf der Stelle den Verstand verliere.«

»Mama«, entgegnete Ännie, »verschwende keine Worte an mich, denn ich richte meine Bitte an meinen Gatten, und selbst du giltst hier nichts.«

»Nichts!« rief Mrs. Markleham aus. »Ich nichts! Das Kind ist verrückt geworden! Ich bitte um ein Glas Wasser!«

Meine Aufmerksamkeit war zu sehr von dem Doktor und Ännie in Anspruch genommen, als daß ich dem Wunsche Beachtung hätte schenken können. Auf die andern machte es ebenfalls keinen Eindruck, und so blieb Mrs. Markleham nichts übrig als zu pusten, große Augen zu machen und sich Luft zuzufächeln.

»Ännie«, sagte der Doktor und ergriff zärtlich die Hände seiner Gattin, »liebe Ännie! Wenn eine unvermeidliche Veränderung im Verlauf der Zeit in unserm Eheleben eingetreten ist, so trägst du nicht die Schuld daran. Es ist mein Fehler und nur meiner. In meiner Liebe und Bewunderung und in meiner Achtung hat sich nichts geändert. Ich wünsche dich glücklich zu machen. Ich liebe und halte dich hoch von ganzem Herzen. Stehe auf, Ännie, ich bitte dich!«

Aber Mrs. Strong stand nicht auf. Sie blickte ihn eine kleine Weile an, legte ihren Arm auf sein Knie, ließ ihren Kopf darauf sinken und sagte:

»Wenn ich einen Freund hier habe, der ein Wort für mich oder meinen Gatten sprechen oder dem Verdacht, den mir mein Herz zugeflüstert hat, Worte geben kann, – einen Freund, der meinen Gatten schätzt oder jemals auf mich etwas gegeben hat, so möge er sprechen, ich flehe ihn an –, wenn er etwas weiß, was immer es sein möge, was zur Vermittlung zwischen uns helfen kann.«

Eine tiefe Stille folgte. Nach einigen Augenblicken peinlichen Zögerns brach ich das Schweigen.

»Mrs. Strong«, sagte ich, »ich weiß von etwas, was zu verbergen Ihr Gatte mich ernstlich ersucht hat und ich bis jetzt verschwiegen habe, aber ich glaube, die Zeit ist da, wo es ein falsches Zartgefühl wäre, es länger zu verheimlichen, zumal Ihr Wunsch mich meines Wortes entbindet.«

Sie wendete mir einen Augenblick das Gesicht zu, und ich erkannte, daß ich recht hatte.

»Unser zukünftiger Frieden«, sagte sie, »liegt vielleicht in Ihren Händen. Und ich bitte Sie, nichts zu verschweigen. Ich weiß im voraus, daß weder Sie, noch irgend jemand anders etwas sagen kann, was meines Gatten Hochherzigkeit in einem andern Lichte als bisher erscheinen lassen könnte. Kümmern Sie sich nicht darum, ob es mich verletzen mag.«

So ernstlich gebeten, glaubte ich mich nicht erst vom Doktor meines Wortes entbinden lassen zu müssen, sondern erzählte ohne Umschweife, nur die Roheiten Uriah Heeps abschwächend, was an jenem Abend geschehen war. Mrs. Marklehams erstaunte Blicke und die schrillen Ausrufe, mit denen sie mich gelegentlich unterbrach, spotten jeder Beschreibung.

Ännie verblieb einige Augenblicke in ihrer Stellung, dann ergriff sie des Doktors Hand, drückte sie an ihre Brust und küßte sie. Mr. Dick hob sie sanft auf, und sie stützte sich auf ihn, als sie zu ihrem Gatten sprach.

»Alles was ich gedacht und gefühlt habe, seit wir verheiratet waren«, sagte sie mit milder und zärtlicher Stimme, »will ich dir ohne Rückhalt offenbaren. Ich könnte nicht leben und einen Gedanken vor dir verbergen, seit ich weiß, was ich soeben erfahren habe.«

»Nein! Ännie«, sagte der Doktor liebevoll, »ich habe nie an dir gezweifelt, mein Kind! Es bedarf dessen nicht. Es bedarf dessen wirklich nicht, meine Liebe.«

»Doch, doch! Es bedarf dessen sehr wohl! Ich muß mein ganzes Herz auftun vor der edlen und treuen Seele, die ich Jahr um Jahr und Tag für Tag mehr geliebt und verehrt habe, Gott weiß es.«

»Wahrhaftig«, unterbrach Mrs. Markleham, »wenn ich überhaupt Taktgefühl habe ?«

»Sie haben es eben nicht, Sie Störenfried«, verwies sie meine Tante mit einem entrüsteten Flüstern.

»– so möchte ich mir zu bemerken erlauben, daß es wohl nicht notwendig wäre, auf diese Einzelheiten einzugehen.«

»Das kann nur mein Gatte beurteilen, Mama«, sagte Ännie, ohne ihre Augen von seinem Gesicht abzuwenden, »und ich bitte ihn, mich bis zu Ende anzuhören. Wenn ich etwas sage, was dir Schmerz bereitet, Mama, so verzeihe mir. Ich habe den Gram lange mit mir herumgetragen.«

»O Gott!« ächzte Mrs. Markleham.

»Als ich noch ein kleines Kind war«, begann Ännie wieder, »waren schon die ersten Anfänge meiner Erkenntnisse unzertrennlich mit dem geduldigen Freund und Lehrer, dem Freunde meines verstorbenen Vaters, verbunden. Ich kann an nichts denken, was ich weiß, ohne nicht auch an ihn zu denken. Er gab meinem Geist seinen ersten Inhalt.«

»Sie macht ihre Mutter zu einem Nichts!« rief Mrs. Markleham aus.

»Gewiß nicht, Mama«, sagte Ännie; »aber ich mache ihn zu dem, was er war. Ich muß das tun. – Als ich aufwuchs, nahm er noch immer dieselbe Stelle ein. Ich war stolz auf ihn und hing zärtlich und dankbar an ihm. Ich blickte zu ihm auf wie zu einem Vater, zu einem Führer, zu einem, der über jedes Lob erhaben ist, zu einem, auf den ich vertraut haben würde, wenn ich an der ganzen Welt hätte zweifeln müssen. Du weißt, Mama, wie jung und unerfahren ich war, als du ihn mir ganz unerwartet als Bewerber vorstelltest.«

»Das habe ich jedem hier schon mindestens fünfzig Mal erzählt«, sagte Mrs. Markleham.

»Dann halten Sie um Himmelswillen schon endlich den Mund und erwähnen Sie es nicht weiter«, brummte meine Tante.

»Das bedeutete für mich eine so große Umwälzung, einen so großen Verlust im Anfang«, fuhr Ännie fort, »daß ich mich erregt und bekümmert fühlte. Ich war fast noch ein Kind, und als ich eine so große Veränderung in seiner Stellung zu mir eintreten sah, tat es mir fast leid. Aber nichts hätte ihn wieder zu dem machen können, was er mir früher gewesen, und ich war stolz darauf, daß er mich seiner für wert hielt, und wir wurden getraut.«

»In der St.-Alphagius-Kirche in Canterbury«, bemerkte Mrs. Markleham.

»Verwünschtes Frauenzimmer!« murrte meine Tante. »Ob sie nicht endlich den Mund halten kann!«

»Ich habe nie«, fuhr Ännie fort, und ihr Gesicht färbte sich röter, »an einen irdischen Vorteil, als ich heiratete, gedacht. Mein junges Herz hatte in seiner Liebe keinen Platz für einen so armseligen Gedanken. Mama, verzeihe mir, wenn ich sage, daß du es warst, die mich zuerst auf die Vermutung brachte, irgend jemand könne ihn und mich in einem so gemeinen Verdacht haben.«

»Ich!« rief Mrs. Markleham.

»Ja, ja! Natürlich!« brummte meine Tante. »Sie können das nicht wegfächeln, mein militärischer Freund!«

»Das war das erste Leid auf meiner neuen Lebensbahn. Es gab die erste Veranlassung zu jedem unglücklichen Augenblick, den ich gekannt habe. Solcher Augenblicke sind in der letzten Zeit mehr geworden, als ich zählen kann; aber nicht, mein hochherziger Gatte, aus dem Grund, den du annehmen magst, denn in meinem Herzen lebt nicht ein Gedanke, nicht eine Erinnerung oder Hoffnung, die irgendeine Macht jemals von deiner Person trennen könnte!«

Sie faltete die Hände und sah so schön und rein aus wie ein Engelsbild. Der Doktor sah ihr von jetzt an so fest in die Augen, wie sie ihm.

»Mama darf man keinen Vorwurf machen«, fuhr Ännie fort, »daß sie jemals für sich selbst etwas erbeten hätte, und sie ist gewiß nicht anzuklagen, irgend etwas mit Berechnung getan zu haben, aber als ich sah, wieviel zudringliche und unberechtigte Ansprüche in meinem Namen gemacht wurden, wie man dich ausnützte, und wie hochherzig und aufopfernd du dich benahmst, und wie Mr. Wickfield, der dich immer so hoch hielt, aufgebracht darüber war, da beschlich mich die Furcht, man könne den Verdacht hegen, meine Liebe sei dir verkauft worden, – ich könnte gezwungen worden sein, an dieser Schmach teilzunehmen. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß – und auch Mama kann es sich nicht vorstellen –, immer in dieser Befürchtung und Unruhe zu leben und doch im innersten Herzen zu wissen, daß mein Hochzeitstag der Weihe- und Ehrentag für mein Leben war.«

»Solchen Dank erntet man«, rief Mrs. Markleham weinend aus, »wenn einem die Familie am Herzen liegt! Ich wollte, ich wäre ein Türke!«

»Und zwar weit weg in der Türkei!« sagte meine Tante.

»Das war zu jener Zeit, wo meine Mutter so besorgt war um meinen Vetter Maldon. Ich habe ihn sehr gern gehabt«, sagte Ännie leise, aber ohne jedes Stocken. »Wir waren einst als Kinder ein kleines Liebespaar gewesen. Wenn es nicht anders gekommen wäre, hätte ich mir vielleicht eingeredet, ihn wirklich zu lieben, – hätte ihn geheiratet und würde höchst unglücklich geworden sein, denn es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen.«

Mir fielen diese Worte aufs Herz wie etwas, was auch auf mich paßte.

»Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen!«

»Wir haben nichts gemein miteinander, das habe ich längst erkannt. Wenn ich meinem Gatten weiter nichts als diese Erkenntnis zu verdanken hätte, so würde ich ihm dafür dankbar sein, daß er mich vor der ersten mißverstandenen Regung meines unerfahrenen Herzens gerettet hat.«

Sie stand ruhig vor dem Doktor und sprach mit einer Innigkeit, die mir tief in die Seele drang.

»Als mein Vetter Maldon darauf rechnete, durch deine Freigebigkeit versorgt zu werden, die ihm auch um meinetwillen so reichlich zuteil wurde, und ich mich unglücklich fühlte in der habgierigen Rolle, die mir aufgedrungen wurde, da dachte ich, es stünde ihm besser an, wenn er sich durch eigne Kraft emporarbeitete. Ich glaube, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre, würde ich es versucht haben, und hätte es gekostet, was es wollte. Aber bis zum Abend seiner Abreise nach Indien dachte ich nichts Schlimmes von ihm. An diesem Abend erst erfuhr ich, daß er ein falsches und undankbares Herz hat. Ich las damals in Mr. Wickfields forschendem Blick den Verdacht, der mein Leben verfinstern sollte.«

»Verdacht, Ännie!« sagte der Doktor. »Nein, nein, nein!«

»Du hegtest keinen, das weiß ich! Und als ich an jenem Abend zu dir kam, um meine ganze Last von Scham und Schmerz zu deinen Füßen niederzulegen, und fühlte, ich hätte dir zu beichten, daß unter deinem Dach einer meiner eignen Verwandten, dem du mir zuliebe ein Wohltäter gewesen warst, Worte zu mir gesprochen, die nie hätten fallen dürfen, selbst wenn ich das schwache und selbstsüchtige Geschöpf gewesen wäre, für das er mich hielt, – da schauderte ich vor der Befleckung zurück, die mir schon das bloße Erzählen hätte bringen müssen. Es starb auf meinen Lippen, und bis zu dieser Stunde habe ich es verschwiegen.«

Mit einem kurzen Stöhnen lehnte sich Mrs. Markleham in ihren Sessel zurück und flüchtete sich hinter ihren Fächer, als wollte sie nie wieder dahinter hervorkommen.

»Von jener Zeit an habe ich nie wieder ein Wort mit ihm darüber gesprochen. Jahre sind inzwischen vergangen. Alles, was du insgeheim für seine Beförderung tatest und mir dann erzähltest, um mich damit zu überraschen und zu erfreuen, war, das kannst du mir glauben, nur eine neue, schwere Bürde für mich.«

Sie sank zu den Füßen des Doktors hin, obgleich er alles tat, um sie daran zu verhindern, und sagte mit Augen voll Tränen:

»Unterbrich mich noch nicht. Nur noch ein paar Worte. Mag es Recht oder Unrecht gewesen sein, aber wenn es wieder geschehen würde, ich glaube, ich müßte abermals so handeln. Ich kann dir nicht sagen, was es hieß, dich zu lieben und dabei glauben zu müssen, man habe mich im Verdacht, dir meine Liebe verkauft zu haben. Ich war sehr jung und hatte keinen Berater. Zwischen Mama und mir lag in allem, was dich betraf, eine weite Kluft. Wenn ich mich in mich selbst zurückzog und die Geringschätzung, die mir widerfuhr, verbarg, so geschah es nur, weil ich dich so hoch hielt und so sehr wünschte, daß du mich in Ehren hieltest.«

»Ännie, mein reines, treues Herz!« sagte der Doktor. »Mein liebes Kind!«

»Nur ein paar Worte, ein paar Worte noch! Ich dachte oft, es gäbe so viele, die dir weniger Last und Unruhe gebracht und dein Heim zu einem würdigeren hätten machen können. Ich dachte mir manchmal, es wäre vielleicht besser gewesen, ich wäre deine Schülerin und Tochter geblieben. Ich fürchtete manchmal, ich paßte nicht zu deiner Gelehrtheit und zu deinem Wissen. Wenn ich alles über mich ergehen ließ, so tat ich es nur, weil ich dich so hoch hielt und hoffte, daß auch du mich eines Tages erkennen würdest.«

»Dieser Tag ist längst gekommen, Ännie«, sagte der Doktor.

»Ich wollte mit Standhaftigkeit allein die Last tragen, um die Unwürdigkeit eines Menschen zu verwischen, für den du so viel Gutes getan. Und jetzt ein letztes Wort, liebster und bester aller Freunde. Die Ursache der Veränderung, die ich mit so viel Schmerz und Kummer an dir bemerkt habe und die ich manchmal meiner alten Befürchtung zuschrieb und dann wieder Gründen, die der Wahrheit näherkamen, ist heute abends aufgeklärt worden, und durch einen Zufall habe ich auch heute die ganze Größe des hochherzigen Vertrauens, das du selbst in dieser Zeit des Mißverständnisses auf mich setztest, kennengelernt. Und mit dieser neuen Erfahrung kann ich zu diesem geliebten Gesicht emporschauen, das ich verehre als das Antlitz eines Vaters, liebe wie das eines Gatten und das mir heilig war in meiner Kindheit wie das eines Freundes, und feierlich erklären, daß ich, auch mit den leisesten Gedanken nicht, in der Liebe und Treue, die ich dir schulde, gewankt habe.«

Sie hatte ihre Arme um den Nacken des Doktors geschlungen, und er beugte sein Haupt über sie, und sein graues Haar vermischte sich mit ihren dunkelbraunen Flechten! »Drücke mich an dein Herz, mein Gatte, meine Liebe ist auf einen Felsen gebaut und sie dauert ewig.«

 

In dem Schweigen, das hierauf folgte, ging meine Tante ernsthaft und gemessen auf Mr. Dick zu, umarmte ihn und gab ihm einen schallenden Kuß. Es war ein Glück für sein Ansehen, daß sie das tat, denn ich weiß ganz bestimmt, daß er sich in diesem Augenblick gerade anschickte, in seinem Entzücken auf einem Bein zu balancieren.

»Sie sind ein höchst bemerkenswerter Mann, Dick«, sagte meine Tante mit einer Miene unbeschränkter Billigung, »und tun Sie nie, als ob Sie etwas anderes wären, denn ich weiß es besser!«

Damit zupfte sie ihn am Ärmel, nickte mir zu, und wir drei schlichen uns still aus dem Zimmer.

»Das ist jedenfalls eine gesunde Kur für unsern militärischen Freund«, sagte sie auf dem Nachhausewege, »schon deswegen würde ich heute fröhlich schlafen gehen.«

»Ich fürchte, sie war ganz vernichtet und gerührt«, wandte Mr. Dick voll Mitgefühl ein.

»Was! haben Sie jemals ein Krokodil gerührt gesehen?«

»Ich habe überhaupt noch kein Krokodil gesehen«, entschuldigte sich Mr. Dick mit Milde.

»Es wäre überhaupt nie etwas schiefgegangen, wenn nicht dieses alte Biest gewesen wäre«, sagte meine Tante mit starkem Nachdruck. »Es wäre sehr zu wünschen, daß manche Mütter ihre Töchter nach der Heirat in Frieden ließen und nicht so entsetzlich zärtlich gegen sie täten. Sie scheinen zu glauben, sie hätten das Recht, ein unglückliches Mädchen zu Tode peinigen zu dürfen, bloß weil sie es in die Welt gesetzt haben. Woran denkst du, Trot?«

Ich hatte darüber nachgedacht, was alles geschehen war. Die Worte Mrs. Strongs klangen mir noch in den Ohren: »Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in Gefühlen und Bestrebungen und die erste mißverstandne Regung eines unerfahrenen Herzens.«

 

Wir waren zu Hause, und die welken Blätter lagen unter unsern Füßen, und der Herbstwind wehte.

46. Kapitel Nachricht


46. Kapitel Nachricht

Ich muß etwa ein Jahr verheiratet gewesen sein, als ich an einem Abend, von einem Spaziergang zurückgekehrt, über den Roman, den ich damals schrieb, nachdenkend, an Mrs. Steerforths Haus vorüberkam. Da ich in der Nachbarschaft wohnte, war ich zuweilen diesen Weg, wenn auch nie gerne, gegangen.

Ich hatte nie mehr als einen flüchtigen Blick auf dieses Haus geworfen, und immer war es ziemlich düster und still gewesen. Keines der bessern Zimmer ging auf die Straße hinaus, und die kleinen altmodischen Fenster, immer fest zugemacht und mit zugezogenen Gardinen, machten einen unheimlichen Eindruck. Ich wüßte nicht, daß ich jemals ein Licht dahinter gesehen hätte.

An diesem Abend stiegen die Erinnerungen aus der Kinderzeit und den spätem Jahren, die Gespenster halb geborner Hoffnungen, die flüchtigen Schatten kaum gesehener und verstandner Täuschungen wieder vor mir auf. Ich war in tiefes Träumen versunken, als ich weiterging, da machte eine Stimme neben mir mich aufschrecken.

Es war eine Frauenstimme. Ich erkannte bald Mrs. Steerforths kleines Dienstmädchen wieder, das mich ansprach.

»Würden Sie so gut sein, Sir, hereinzukommen, um mit Miss Dartle zu sprechen?«

»Hat Miss Dartle zu mir geschickt?« fragte ich.

»Heute abend nicht, aber es ist ganz gleich. Miss Dartle sah Sie gestern und vorgestern vorbeigehen, und ich sollte Sie gelegentlich hereinrufen.«

Ich kehrte um und fragte meine Begleiterin unterwegs nach Mrs. Steerforths Befinden. Sie sagte, ihre Herrschaft befände sich nicht besonders wohl und hütete meistens das Zimmer.

Als ich in den Garten kam, sah ich Miss Dartle auf einer Bank am Ende einer Art Terrasse, die auf die große Stadt herabsah, sitzen. Es war ein dunkler Abend, und ein fahles Licht lag am Himmel, und wie ich den düstern Horizont ansah, aus dem hie und da ein größeres Gebäude in den unheimlichen Schimmer emporragte, da kam es mir vor, als sei es eine passende Umgebung für dieses leidenschaftliche Weib.

Sie bemerkte mich, als ich auf sie zukam, und stand einen Augenblick auf, um mich zu empfangen. Sie kam mir noch bleicher und hagerer vor als damals, als ich sie zuletzt gesehen, ihre Augen flackerten noch mehr, und die Narbe war noch deutlicher.

Unsere Begrüßung fiel keineswegs herzlich aus. Wir waren das letzte Mal im Zorn voneinander geschieden, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Verachtung, den zu verhehlen sie sich keine Mühe gab.

»Ich höre, Sie wünschten mit mir zu sprechen, Miss Dartle«, sagte ich, die Hände auf eine Stuhllehne gestützt, und lehnte ihre Einladung, mich zu setzen, ab.

»Allerdings, Mr. Copperfield. Sagen Sie, ist das Mädchen gefunden worden?«

»Nein.«

»Und doch ist sie weggelaufen!«

Ich sah, wie ihre schmalen Lippen sich zuckend bewegten, als ob sie danach lechzten, Emily mit Vorwürfen zu überhäufen.

»Weggelaufen?«

»Ja! Von ihm«, sagte Rosa Dartle mit einem kurzen Lachen. »Wenn sie noch nicht gefunden ist, wird man sie vielleicht überhaupt nicht finden. Vielleicht ist sie tot.«

Eine herausfordernde Grausamkeit lag in ihren Augen.

»Ihr den Tod zu wünschen«, sagte ich, »ist vielleicht der freundlichste Wunsch, den ein Wesen ihres eignen Geschlechts aussprechen kann. Es freut mich, daß die Zeit Sie so versöhnlich gestimmt hat.«

Miss Dartle ließ sich zu keiner Antwort herab, lächelte wieder höhnisch und sagte:

»Die Freunde dieser vortrefflichen und schwergekränkten jungen Dame sind ja auch Ihre Freunde; Sie verteidigen sie und verfechten ihre Rechte. Wollen Sie erfahren, was man von ihr weiß?«

»Ja.«

Sie stand mit einem bösen Lächeln auf, ging auf eine Hecke von Immergrün zu, die den Garten von den Gemüsebeeten trennte, und rief: »Herkommen!« – wie wenn sie ein unreines Tier riefe.

»Sie werden sich natürlich jeder demonstrativen Äußerung oder Rache enthalten, Mr. Copperfield?!« sagte sie und sah mich mit demselben höhnischen Ausdruck fragend an.

Ich verbeugte mich, ohne zu verstehen, was sie meinte, und wieder rief sie: »Herkommen!« und kehrte dann auf ihren Platz zurück, gefolgt von dem respektablen Mr. Littimer, der mir mit unverminderter Respektabilität eine Verbeugung machte und sich hinter ihr aufstellte. Die Miene dämonischer Grazie und des Triumphs, in dem, so seltsam es klingt, doch etwas Weibliches und Verführerisches lag, während sie ihren Platz zwischen uns einnahm und mich ansah, wäre einer grausamen Märchenprinzessin würdig gewesen.

»Erzählen Sie Mr. Copperfield von der Flucht«, sagte sie gebieterisch und legte den Finger diesmal eher aus Freude als aus Schmerz auf die alte Narbe.

»Mr. James und ich, Madam –«

»Sprechen Sie nicht zu mir«, unterbrach sie Littimer mit gerunzelter Stirn.

»Mr. James und ich, Sir –«

»Auch nicht zu mir gefälligst!« sagte ich.

Ohne im mindesten aus der Fassung zu kommen, gab Mr. Littimer mit einer leichten Verbeugung zu erkennen, daß alles, was uns genehm, auch ihm angenehm wäre, und fing von neuem an.

»Mr. James und ich waren mit dem Mädchen auf Reisen, seit sie unter Mr. James‘ Schutz Yarmouth verließ. Wir hielten uns an vielen Orten auf und haben vielerlei Länder gesehen. Wir waren in Frankreich, in der Schweiz, in Italien – kurz, fast überall.« Er sah die Stuhllehne an, als ob er zu ihr spräche, und spielte darauf leise mit den Fingern wie auf einem stummen Piano.

»Mr. James hing ganz ungewöhnlich an dem Mädchen und war lange Zeit beständiger, als ich ihn gekannt habe, seit ich in seine Dienste getreten bin. Das Mädchen zeigte sich sehr bildungsfähig und erlernte mehrere Sprachen, und niemand würde in ihr das einfache Fischermädchen wiedererkannt haben. Es fiel mir auf, daß sie überall, wohin wir kamen, sehr bewundert wurde.«

Miss Dartle legte ihre Hand an ihre Seite. Ich sah Littimer einen flüchtigen Blick auf sie werfen und verstohlen lächeln.

»Wirklich, außerordentlich bewundert wurde das Mädchen. War es ihre Toilette oder die sonnige Umgebung oder dies oder das, kurz, ihre Vorzüge erregten die allgemeine Aufmerksamkeit.«

Er machte eine kurze Pause. Miss Dartles Augen wanderten ruhelos über den fernen Horizont, und sie biß sich auf die Unterlippe, als ob sie dadurch die vorlaute Narbe zum Schweigen bringen wollte.

Mr. Littimer wechselte die Hände auf der Stuhllehne und fuhr mit niedergeschlagnen Armen, den respektablen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, fort:

»In dieser Weise lebte das Mädchen einige Zeit dahin, wobei sie dann und wann sehr niedergeschlagen war, bis sie Mr. James, wie ich glaube, durch ihre Gedrücktheit und schlechte Laune zu langweilen begann. Wenigstens stand die Sache nicht mehr so gut zwischen ihnen. Mr. James fing wieder an ruhelos zu werden, und je unruhiger er wurde, desto schlimmer wurde es mit ihr, und was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich wirklich zwischen den beiden ein recht schweres Leben hatte. Aber immer wieder kam die Sache ins Geleise, und die Geschichte dauerte länger, als man hätte erwarten sollen.«

Miss Dartle sah mich jetzt wieder mit ihrer frühern Miene an. Mr. Littimer räusperte sich mit vorgehaltner Hand, stützte sich auf das andre Bein und fuhr fort:

»Endlich, als im ganzen großen ziemlich viel Worte und Vorwürfe zwischen beiden gewechselt worden waren, machte sich Mr. James eines Morgens aus der Nähe von Neapel, wo wir eine Villa hatten ? das Mädchen liebte das Meer sehr –, auf und überließ es, unter dem Vorwand, in einigen Tagen zurückkehren zu wollen, mir, ihr zu eröffnen, er wäre in Berücksichtigung des Wohlseins aller Beteiligten abgereist. Mr. James benahm sich höchst ehrenhaft, denn er ließ dem Mädchen das Anerbieten machen, daß es eine sehr respektable Person heiraten sollte, die bereit war, das Geschehene zu vergessen, und zum mindesten eine ebenso gute Partie war wie irgendeine andere, die das Mädchen im gewöhnlichen Lauf der Dinge hätte erwarten können, denn sie stammte doch von sehr niederer Herkunft.«

Er stützte sich wieder auf das andere Bein und befeuchtete seine Lippen. Ich war überzeugt, daß der Schuft von sich sprach, und ich sah meine Überzeugung auch auf Miss Dartles Gesicht ausgeprägt.

»Dies also war ich beauftragt ihr mitzuteilen. Ich war bereit, alles zu tun, um Mr. James aus einer peinlichen Verlegenheit zu befreien und die Eintracht zwischen ihm und seiner zärtlichen Mutter, die seinetwegen so viel ausgestanden hatte, wiederherzustellen. Deshalb übernahm ich den Auftrag. Die Leidenschaftlichkeit des Mädchens, als ich ihr seine Abreise mitteilte, überstieg alle Erwartungen. Sie gebärdete sich wie wahnsinnig und mußte mit Gewalt festgehalten werden, sonst hätte sie sich den Kopf an dem Marmorfußboden eingeschlagen oder sich auf eine andere Weise getötet.«

In ihrem Sessel zurückgelehnt, schien Miss Dartle mit einem Glanz des Frohlockens in ihren Mienen fast die Töne zu liebkosen, wie sie aus dem Munde dieses Menschen kamen.

»Als ich zu dem zweiten Teil meines Auftrags kam«, sagte Mr. Littimer und rieb sich unruhig die Hände, »den doch jedermann als gut gemeint aufgefaßt hätte, da zeigte sich das Mädchen in ihrem wahren Licht. Eine heftigere Person ist mir noch nie vorgekommen! Ihr Benehmen war über die Maßen schlecht. Sie bewies nicht mehr Dankbarkeit, Gefühl, Geduld oder Verstand als ein Stock oder ein Stein. Wenn ich nicht auf der Hut gewesen wäre, ich bin überzeugt, es hätte mir das Leben gekostet.«

»Um so besser denke ich von ihr«, rief ich entrüstet.

Mr. Littimer senkte den Kopf, als wollte er sagen: »Meinen Sie wirklich? aber Sie sind wirklich noch sehr jung«, und fuhr in seinem Berichte fort. »Kurz, wir mußten eine Zeitlang alles aus ihrer Nähe entfernen, womit sie sich und andere Leute hätte verletzen können, und sie einsperren. Dennoch befreite sie sich eines Nachts, brach einen Fensterladen auf, den ich selbst zugenagelt hatte, ließ sich an einem Rebengeländer hinab, und seitdem hat man, soviel ich weiß, nichts wieder von ihr gehört.«

»Sie ist vielleicht tot«, sagte Miss Dartle mit einem Lächeln, als ob sie am liebsten die Leiche des armen Mädchens mit Füßen getreten hätte.

»Sie hat sich vielleicht ertränkt, Miss«, sagte Mr. Littimer, die Gelegenheit benützend, jemand anzureden. »Das ist sehr leicht möglich. Oder vielleicht haben ihr die Fischer und deren Frauen und Kinder beigestanden. Sie hatte ordinäre Leute gern und unterhielt sich sehr oft mit ihnen am Strande, Miss Dartle, und saß bei ihren Booten. Ich weiß, daß sie das manchmal, wenn Mr. James abwesend war, ganze Tage getan hat. Mr. James wurde sehr böse, als er einmal erfuhr, sie hätte den Kindern erzählt, sie sei eines Fischers Tochter und wäre vor langer, langer Zeit in ihrem Vaterlande wie sie am Strande umhergelaufen. Als es unzweifelhaft erschien, daß nichts mehr getan werden konnte, Miss Dartle –«

»Sagte ich Ihnen nicht, Sie sollten mich nicht anreden!« sagte Miss Dartle verächtlich.

»Sie sprachen zu mir, Miss«, entgegnete Littimer. »Ich bitte um Entschuldigung, aber es ist meine Schuldigkeit zu gehorchen.«

»So tun Sie Ihre Schuldigkeit, erzählen Sie Ihre Geschichte zu Ende und gehen Sie.«

»Als es unzweifelhaft war«, fuhr Littimer mit unsäglicher Respektabilität und einer gehorsamen Verbeugung fort, »daß man sie nicht mehr auffinden konnte, begab ich mich zu Mr. James an den Ort, wohin ich ihm hätte schreiben sollen, und unterrichtete ihn von dem Vorfall. Infolgedessen kam es zu einem Wortwechsel zwischen uns, und ich glaubte es meinem Charakter schuldig zu sein, ihn zu verlassen. Ich konnte viel von Mr. James ertragen, doch er beleidigte mich zu sehr. Er verletzte mich. Da ich von dem unglücklichen Zwiespalt zwischen ihm und seiner Mutter wußte und mir vorstellen konnte, wie groß Mrs. Steerforths Sorge sein mußte, nahm ich mir die Freiheit, nach England zurückzukehren und zu berichten ?«

»Für Geld, das ich ihm bezahlte«, sagte Miss Dartle zu mir.

»Ganz recht, Madam, – und zu erzählen, was ich wußte. Ich glaube nicht«, sagte Mr. Littimer nach kurzem Nachdenken, »daß noch etwas zu berichten wäre. Ich bin augenblicklich ohne Beschäftigung und würde mich glücklich schätzen, eine respektable Stellung zu finden.«

Miss Dartle blickte mich fragend an, ob ich noch etwas zu wissen wünschte. Da mir eine Frage sehr auf dem Herzen lag, sagte ich:

»Ich möchte von dieser Kreatur« – ich konnte kein milderes Wort finden – »wissen, ob man einen Brief, der von ihrer Heimat aus an sie geschrieben wurde, unterschlagen hat, oder ob er angekommen ist.«

Littimer blieb ruhig und stumm stehen, die Augen auf den Boden geheftet, und paßte sorgfältig die Fingerspitzen der rechten Hand auf die seiner linken.

Miss Dartle drehte sich verächtlich nach ihm um.

»Ich bitte um Verzeihung, Miss«, sagte er, wie aus Nachdenken erwachend, »aber so untertänigst ich zu Ihren Diensten stehe, so habe ich doch eine gewisse Position zu wahren, wenn ich auch nur ein Bedienter bin. Mr. Copperfield und Sie, Miss, sind zwei ganz verschiedene Personen, und wenn Mr. Copperfield etwas von mir zu wissen wünscht, so möchte ich mir erlauben, Mr. Copperfield daran zu erinnern, daß er in diesem Fall eine Frage an mich zu richten hat. Ich muß meine Stellung wahren.«

Nach einiger Überwindung sah ich ihn an und sagte: »Sie haben meine Frage gehört. Nehmen Sie an, sie wäre an Sie gerichtet gewesen. Welche Antwort haben Sie darauf zu geben?«

»Sir«, entgegnete er und spielte wieder mit den Fingerspitzen, »meine Antwort kann keine direkte sein, denn es ist zweierlei, Mr. James an seine Mutter oder an Sie zu verraten. Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß Mr. James den Empfang von Briefen, die leicht Niedergeschlagenheit und schlechte Stimmung erzeugt haben würden, begünstigt hätte; aber mehr als das möchte ich nicht gerne sagen.«

»Ist das alles?« fragte mich Miss Dartle.

Ich gab ihr zu verstehen, daß ich nichts weiter zu sagen hätte. Nur noch das eine setzte ich hinzu, als ich bemerkte, daß Littimer fortgehen wollte, nämlich, daß ich ihm bei der leicht zu durchschauenden Rolle, die er bei diesem Schurkenstreich gespielt habe, raten würde, sich nicht zu viel öffentlich blicken zu lassen, da ich dem Ehrenmann, unter dessen Obhut Emly seit Kindheit an gestanden, alles was ich erfahren, mitteilen würde.

Littimer war bei meinen Worten stehengeblieben und hatte mit seiner gewohnten Ruhe zugehört.

»Ich danke Ihnen, Sir, aber Sie werden entschuldigen, wenn ich Ihnen bemerke, Sir, daß es hierzulande weder Sklaven noch Sklavenaufseher gibt und daß es niemand erlaubt ist, sich auf eigene Faust Recht zu verschaffen. Wer es tut, tut es mehr auf seine als auf anderer Leute Kosten glaube ich. Ich kann daher ruhig sagen, daß ich mich durchaus nicht fürchte überall hinzugehen, wohin es mir beliebt.«

Mit diesen Worten machte er mir eine höfliche Verbeugung und eine zweite Miss Dartle und verschwand durch die Öffnung in der grünen Hecke, durch die er eingetreten war.

Miss Dartle und ich sahen einander eine Weile schweigend an; ihr Gesichtsausdruck war unverändert. »Er erzählte noch«, begann sie leicht ihre Lippen verziehend, »daß sein Herr an der spanischen Küste herumsegelt und dieses Schifferleben weiter führen will, bis er es satt hat. Aber das wird Sie wohl nicht interessieren. Zwischen diesen beiden stolzen Personen, Mutter und Sohn, besteht eine tiefere Kluft als je vorher, und es ist wenig Aussicht, daß sie sich je versöhnen werden, denn ihr Charakter ist im Grunde ein und derselbe und die Zeit macht beide nur hartnäckiger und schroffer. Auch das kann Ihnen gleich sein, aber es dient als Einleitung zu dem, was ich Ihnen noch zu sagen habe. Diese Kreatur, aus der Sie einen Engel machen wollen, ich meine das gemeine Mädchen, das er aus dem Schmutz des Strandes aufgelesen hat«, – sie sah mich mit ihren schwarzen Augen fest an – »ist vielleicht noch am Leben, – denn ich glaube, so niedrige Geschöpfe sterben schwer. Wenn sie noch am Leben ist, werden Sie wohl wünschen, diese unschätzbare Perle zu finden und zu beschirmen. Auch wir wünschen das, damit er nicht durch einen Zufall wieder ihre Beute wird. So weit vereinigt uns ein gemeinsames Interesse, und deshalb habe ich nach Ihnen geschickt, um Ihnen zu berichten, was Sie eben gehört haben.«

Ich bemerkte an der veränderten Miene ihres Gesichtes, daß jemand hinter mir stand. Es war Mrs. Steerforth.

Sie reichte mir ihre Hand mit größerer Kälte als früher und mit noch mehr Förmlichkeit, aber immer noch, wie ich zu meiner Rührung merkte, mit einer unauslöschlichen Erinnerung an meine alte Liebe zu ihrem Sohn. Sie hatte sich sehr verändert. Ihre vornehme Gestalt war nicht mehr so aufrecht, in ihrem schönen Gesicht lagen tiefe Furchen, und ihr Haar war fast weiß. Aber als sie Platz genommen hatte, sah sie immer noch schön aus, und ich erkannte das helle Auge mit dem stolzen Blick wieder, das mir schon in meinen Schulträumen ein Licht gewesen war.

»Weiß Mr. Copperfield alles, Rosa?«

»Ja.«

»Und hat er Littimer selbst gehört?«

»Ja, ich habe ihm gesagt, warum du es wünschtest.«

»Das ist schön von dir.«

»Ich habe einige flüchtige Briefe mit Ihrem früheren Freund gewechselt, Sir«, sagte sie jetzt zu mir, »aber er hat sich dadurch nicht bewogen gefühlt, seinen natürlichen Verpflichtungen nachzukommen. Deshalb nehme ich an der Angelegenheit nicht im größeren Maße teil, als Ihnen Rosa bereits gesagt hat. Wenn dadurch mein Sohn vor der Gefahr bewahrt werden kann, wieder in die Schlingen einer schlauen Gegnerin zu fallen, und es gleichzeitig das Herz des rechtschaffenen Mannes, den Sie hierherbrachten und der mir sehr leid tut – mehr kann ich nicht sagen –, erleichtern wird, so ist es gut.«

Sie richtete sich auf und sah gerade vor sich hin in die Ferne.

»Maam«, sagte ich respektvoll, »ich verstehe. Ich versichere Ihnen, daß Sie nicht in Gefahr kommen, Ihre Beweggründe falsch ausgelegt zu sehen. Aber ich, der diese schwergekränkte Familie von Kindheit an gekannt hat, muß hier doch bemerken, wenn Sie glauben, das so grausam betrogene Mädchen sei nicht auf das schmählichste hintergangen worden und würde nicht lieber hundert Mal sterben als jetzt ein Glas Wasser von der Hand Ihres Sohnes annehmen, so täuschen Sie sich entsetzlich.«

»Laß sein, Rosa, laß sein«, wehrte Mrs. Steerforth ab, als sich Miss Dartle hineinmischen wollte. »Es hat nichts zu sagen. Laß sein.«

»Ich höre, Sie sind verheiratet, Sir?«

Ich bejahte.

»Und Sie befinden sich wohl? Ich höre in meinem einsamen Leben wenig, aber ich habe vernommen, daß Sie auf dem besten Wege sind berühmt zu werden.«

»Ich habe sehr viel Glück gehabt und höre meinen Namen mit einigem Lobe nennen.«

»Sie haben keine Mutter mehr?« fragte sie mit milder Stimme.

»Nein.«

»Das ist schade. Sie würde stolz auf Sie sein. Gute Nacht!«

Ich ergriff ihre Hand, die sie mir mit würdevoller, kühler Miene darbot, und sie zitterte so wenig, als ob der stillste Friede in ihrer Brust geherrscht hätte. Die Frau konnte in ihrem Stolze selbst den Schlag ihres Pulses regeln und den Schleier der Ruhe über ihr Antlitz breiten.

Als ich über die Terrasse schritt, fiel mir auf, wie starr die beiden hinaus auf die Aussicht blickten und wie der Horizont immer trüber und dunkler wurde. Hier und da fingen einige Lichter in der fernen Stadt vorzeitig an zu blinken, und am westlichen Himmel erhielt sich immer noch der fahle Schein. Aber aus dem größeren Teil des breiten Tales dazwischen stieg ein Nebel empor gleich einem Meer, der, sich mit der Finsternis vermischend, aussah wie anschwellende Wogen. Ich habe Grund mich daran zu erinnern und denke daran mit Grauen, denn als ich die beiden später wiedersah, hatte sich rings um sie eine stürmische See erhoben.

 

Ich fühlte bald bei näherem Nachdenken, daß ich Mr. Peggotty von dem Erfahrenen Mitteilung machen müßte.

Am nächsten Abend ging ich nach London, um ihn aufzusuchen. Er wanderte immer noch von Ort zu Ort, um seine Nichte wiederzufinden, aber er hielt sich öfter in London als anderswo auf. Zuweilen hatte ich ihn in stiller Nacht durch die Straßen wandern sehen, wo er unter den wenigen Gesichtern, die in so später Stunde noch unterwegs waren, das suchte, was zu finden er sich fürchtete.

Er hatte noch immer seine Wohnung über dem kleinen Wachszieherladen auf dem Hungerford Market inne.

Als ich dort nach ihm fragte, erfuhr ich von den Hausleuten, daß er noch nicht ausgegangen sei und oben in seinem Zimmer säße.

Ich fand ihn mit Lesen beschäftigt an einem Fenster sitzen, vor dem einige Topfpflanzen standen.

Das Zimmer war sehr sauber und ordentlich gehalten. Ich sah im Augenblick, daß er immer zu Emlys Aufnahme bereit war und wohl nie ohne den Gedanken ausging, sie möglicherweise heimbringen zu können.

Er hatte mein Klopfen überhört und blickte erst auf, als ich die Hand auf seine Schulter legte.

»Masr Davy! Danke Ihnen, Sir. Danke Ihnen herzlich für diesen Besuch. Setzen Sie sich. Sie sind willkommen, Sir!«

»Mr. Peggotty«, sagte ich und nahm den Stuhl an, den er mir anbot, »machen Sie sich nicht auf viel gefaßt, aber ich habe Nachricht.«

»Von Emly!«

Er legte die Hand krampfhaft auf den Mund und wurde blaß.

»Sie gibt uns zwar keinen Anhalt über ihren Aufenthaltsort, aber Emly ist nicht mehr – bei ihm.«

Er setzte sich nieder und hörte im tiefsten Schweigen meine Erzählung an. Ich erinnere mich noch gut des Eindrucks von Würde und sogar von Schönheit, den der geduldige Ernst seines Gesichtes auf mich machte, als er vor sich niedersah, die Stirn auf die Hand gestützt. Er unterbrach mich nicht mit einem Wort. Er schien Emlys Gestalt durch meine Erzählung hindurch zu verfolgen und jede andere achtlos vorbeigehen zu lassen. Als ich fertig war, hielt er die Hände vors Gesicht und blieb stumm. Ich sah eine kurze Weile aus dem Fenster und beschäftigte mich mit den Topfpflanzen.

»Was ist Ihre Meinung darüber, Masr Davy?« fragte er endlich.

»Ich glaube, sie ist am Leben.«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht war der erste Schlag zu hart, und in der Verzweiflung ihres Herzens –! Das blaue Meer, von dem sie so oft sprach –! Hat es ihr vielleicht so viele Jahre deswegen im Kopfe gespukt, weil es ihr Grab werden sollte? –«

Er sagte dies nachdenklich mit leiser erschrockener Stimme und ging in dem kleinen Zimmer auf und ab.

»Und doch, Masr Davy, habe ich so bestimmt im Wachen und im Schlaf gewußt, daß ich sie finden werde, und der Gedanke hat mich so aufrechterhalten und gestärkt, daß ich nicht glauben kann, ich hätte mich geirrt. Nein! Emly lebt!«

Er legte die Hand fest auf den Tisch, und sein sonnverbranntes Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.

»Meine Nichte Emly lebt, Sir«, sagte er in bestimmtem Tone. »Ich weiß nicht, woher es kommt oder wie es ist, aber etwas sagt mir jetzt wieder, sie lebt!«

Er sah fast wie ein Inspirierter aus bei diesen Worten. Ich wartete einige Augenblicke, bis er mir ungeteilte Aufmerksamkeit schenken konnte, und dann setzte ich ihm auseinander, welche Vorsichtsmaßregeln wir ergreifen müßten, wenn wir sie aufsuchten. »Zuerst, alter Freund«, fing ich an –

»Ich danke Ihnen so sehr, lieber Herr«, unterbrach er mich und faßte meine Hand.

»– wenn sie nach London kommen sollte, was sehr wahrscheinlich ist – denn wo könnte sie sich besser verbergen als in dieser Ungeheuern Stadt und was sollte sie anders tun, als sich verbergen, wenn sie nicht nach Haus geht –«

»Und sie wird nicht nach Hause gehen«, fiel er ein und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn sie aus eignem freien Willen zurückgekommen wäre, ja, vielleicht; aber so nicht!«

»Wenn sie hierher kommt, so glaube ich, daß eine ganz bestimmte Person sie leichter auffinden kann als jede andere in der Welt. Erinnern Sie sich – hören Sie mich mit Fassung an und denken Sie an Ihr großes Ziel – erinnern Sie sich an Marta?«

»Aus unserer Stadt?«

Ich bedurfte keiner andern Antwort als seines Gesichtsausdruckes.

»Wissen Sie, daß sie in London ist, Mr. Peggotty?«

»Ich habe sie auf der Straße gesehen«, antwortete er mit einem Schauer.

»Aber Sie wissen nicht, daß Emly mit Hams Hilfe ihr eine Wohltat erwies. Auch nicht, daß Marta an der Tür lauschte an jenem Abend, als wir im Gasthaus miteinander sprachen!«

»Masr Davy«, entgegnete er erstaunt. »An jenem Abend, als es so stark schneite?«

»An jenem Abend. Ich habe sie seitdem nicht wiedergesehen. Als Sie gegangen waren, wollte ich sie aufsuchen, aber sie war fort. Ich wollte damals Ihnen gegenüber nichts davon erwähnen und tue es auch heute nicht gern, aber ich glaube, wir sollten uns mit ihr in Verbindung setzen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Nur zu gut, Sir!«

Wir hatten unsere Stimmen fast bis zum Flüstern gedämpft und sprachen leise weiter.

»Sie sagen, Mr. Peggotty, Sie hätten sie gesehen. Glauben Sie wohl, Sie könnten sie auffinden?«

»Ich glaube, ich weiß, wo sie zu suchen ist, Masr Davy.«

»Es ist dunkel. Wollen wir nicht, da wir schon einmal beisammen sind, miteinander fortgehen und den Versuch machen, sie zu finden?«

Er stimmte bei und machte sich fertig, mit mir zu gehen. Ohne es merken zu lassen, beobachtete ich, wie sorgfältig er das Zimmer in Ordnung brachte, das Bett glattstrich und zuletzt aus einem Kasten eins von Emlys Kleidern herausnahm und es nebst andern und einem Hut auf einen Stuhl legte. Er sagte nichts weiter darüber und auch ich nicht. Wohl so manchen Abend mochten sie schon auf Emly gewartet haben, diese Kleider!

»Es gab einmal eine Zeit, Masr Davy«, sagte er, als wir die Treppe hinuntergingen, »wo mir diese Marta wie Schlamm unter meiner Emly Füßen vorkam. Gott verzeih mir, wie anders ist das jetzt!«

Als wir die Straße entlanggingen, fragte ich ihn nach Ham, teils, um ihn im Gespräch zu erhalten, teils aus Bedürfnis. Er sagte mir fast mit denselben Worten, wie einstmals, daß Ham immer noch das gleiche Leben führe.

Ich fragte ihn, ob er wisse, wie Ham über die Urheber seines Unglücks denke und was er wohl tun würde, wenn er jemals mit Steerforth zusammentreffen sollte.

»Das weiß ich nicht, Sir. Ick hew manchmal drüwer nachdacht, awer ick weet dat nich.«

»Entsinnen Sie sich noch«, fragte ich, »wie verstört und aufgeregt er damals an jenem Morgen nach Emlys Flucht auf das Meer hinausblickte und von einem Ende sprach?«

»Gewiß, gewiß, Sir.«

»Was meinen Sie wohl, wollte er damit sagen?«

»Masr Davy, ich habe mich das schon viele Male selber gefragt und keine Antwort darauf gefunden. Er hat nie anders zu mir gesprochen, als wie es sich für einen gehorsamen Sohn gehört, aber wo diese Gedanken in seiner Seele liegen, da ist tiefes Wasser, Sir, und ich kann nicht auf den Grund sehen.«

»Sie haben recht«, sagte ich, »und das hat mich manchmal besorgt gemacht.«

»Auch mich, Masr Davy! Mehr noch als die sonstige Veränderung in seinem Wesen. Ich weiß nicht, ob er ihm etwas antun würde, aber ich hoffe, die beiden werden nie mehr zusammenkommen.«

 

Wir waren in der innern Stadt angelangt. Stumm neben mir herschreitend, gab er sich ganz dem einen Ziel seines Lebens hin und ging seines Wegs mit einer Konzentration seiner Gedanken, die ihn auch mitten im Menschengewühl zum einsamen Wanderer gemacht haben würde. Wir waren nicht weit von der Blackfriars-Brücke entfernt, als er mich ansah und auf eine einsame weibliche Gestalt deutete, die auf der andern Seite langsam die Straße entlangging. Ich erkannte sie sofort als die Gesuchte. Wir gingen über die Straße hinüber auf sie zu, als mir einfiel, daß ihr es vielleicht lieber wäre, wenn wir sie an einem stillen Ort, wo wir weniger beobachtet sein würden, anredeten. Ich riet daher meinem Gefährten, daß wir sie jetzt nicht ansprechen, sondern ihr nachgehen sollten; dabei bestimmte mich zugleich etwas wie ein unklarer Wunsch, zu erfahren, wohin sie wohl ginge.

Wir folgten ihr in einiger Entfernung und trugen Sorge, sie nie aus den Augen zu verlieren, da wir ihr nicht zu nahe kommen durften und sie sich öfters umsah.

Einmal blieb sie stehen, um einer Musikbande zuzuhören. Dann wanderte sie durch viele viele Straßen, aber unermüdlich folgten wir ihr.

Aus der Art ihres Ganges war leicht zu erkennen, daß sie ein bestimmtes Ziel vor sich hatte. Dies, dann der Umstand, daß sie in den belebten Straßen blieb, und vielleicht auch eine seltsame Freude an der geheimnisvollen Weise, mit der wir ihr folgten, ließen mich auf meinem ersten Vorsatz beharren.

Endlich lenkte sie in eine dunkle stille Straße ein, wo weder Lärm noch Gedränge war, und ich sagte: »Hier können wir sie anreden.«

Wir beschleunigten unsere Schritte.

47. Kapitel Marta


47. Kapitel Marta

Wir befanden uns jetzt in Westminster. Wir hatten umkehren müssen, da sie uns entgegengekommen war. Bei der Westminster-Abtei hatte sie das Licht und das Geräusch der Hauptstraßen verlassen. Sie ging so rasch, als sie aus dem Menschenstrom, der von der Brücke kam, heraus war, daß wir sie erst am engen Flußarm bei Millbank erreichten. In diesem Augenblick bog sie über die Straße hinüber, als ob sie vor den Schritten fliehen wollte, die sie so dicht hinter sich hörte, und ging, ohne sich umzusehen, noch schneller.

Durch einen finstern Torweg, in dem einige Frachtwagen standen, konnte ich plötzlich den Fluß sehen, und ich hatte die Empfindung stehenbleiben zu müssen. Ich legte die Hand auf den Arm meines Gefährten, und wir beide hielten uns stumm auf der andern Seite der Straße und im Schatten der Häuser.

Zu jener Zeit stand am Ende dieser tief am Fluß unten liegenden Straße ein halbverfallenes kleines Holzgebäude; wahrscheinlich ein altes Fährhaus. Als sie dort angekommen war, blieb sie stehen, als sei sie am Ziele, und ging langsam am Ufer hin und blickte in die Wellen.

Bis jetzt hatte ich immer geglaubt, sie ginge in eine Wohnung, und die dunkle Hoffnung gehegt, daß das Haus mit der, die wir suchten, in irgendeiner Beziehung stehen könnte. Aber der eine Blick auf den dunkeln Fluß durch den Torweg hindurch hatte mich unwillkürlich darauf vorbereitet, daß Marta nicht weitergehen werde.

Die Umgebung war zu jener Zeit höchst öde, – so unheimlich, traurig und einsam bei Nacht wie irgendeine um London herum. Weder Werften noch Häuser lagen auf dem unheimlich wüsten Weg in der Nähe des großen Gefängnisses. Ein schmutziger Graben lief an der Mauer entlang, schilfartiges Gras und Unkraut überwucherten das sumpfige Land in der Nähe. Auf einer Seite zerfallene Häuserleichen, die, unter ungünstigen Verhältnissen begonnen, nie zu Ende gebaut worden waren, dann wieder der Boden bedeckt mit verrosteten eisernen Ungeheuern von Dampfkesseln, Rädern, Kurbeln, Röhren, Ankern, Taucherglocken. Windmühlflügel und andere fremdartige Gegenstände, von einem Spekulanten hier aufgehäuft, lagen in Schmutz und Staub herum und schienen sich, durch ihr Gewicht halb eingesunken, in dem nassen Boden verstecken zu wollen. Gerassel und die rote Lohe von verschiedenen Schmiedewerken am Ufer störten den nächtlichen Frieden und alles, ausgenommen den schweren dicken Rauch, der sich aus ihren Essen wälzte. Schlüpfrige Gänge und Fußpfade, die sich zwischen alten hölzernen Pfeilern hindurchwanden, an denen widerliche schlammige Gewächse hingen wie grünes Haar, und die Fetzen alter Plakate, die Finderlohn für Ertrunkene aussetzten, führten durch Schlamm und Kot zum Wasserspiegel, wenn Ebbe war. Es ging die Sage, daß eine große Pestgrube sich hier befände, und schon die Nähe derselben schien einen giftigen Hauch über den ganzen Ort zu verbreiten.

Marta ging zögernd hinunter zum Rande des Flusses und stand inmitten dieses Nachtbildes, als wäre sie ein Teil des Auswurfes, den der Strom zu Verfall und Verwesung ans Ufer geschwemmt, einsam und stumm da und schaute auf das Wasser. Einige Boote und Jollen lagen im Schlamm, und ihre Schatten setzten uns instand, ihr auf wenige Schritte nahe zu kommen, ohne gesehen zu werden. Ich gab Peggotty ein Zeichen, stehenzubleiben, und trat hervor, um sie anzureden. Ich näherte mich der einsamen Gestalt nicht ohne ein gewisses Bangen, denn dieses düstere Ziel ihres entschlossenen Ganges und die Art, wie sie dastand, fast eingehüllt in den höhlenartigen Schatten der eisernen Brücke, und auf die in der starken Strömung kraus zitternden Lichter sah, flößten mir Angst ein.

Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Der Schal war von ihren Schultern gefallen, und sie rang und knotete ihn in der Hand in einer sonderbaren verstörten Weise, fast wie eine Nachtwandlerin. Es lag etwas in ihrem Wesen, was mir die Furcht einflößte, sie könnte vor meinen Augen versinken, ehe es mir gelingen würde ihren Arm zu fassen.

In diesem Augenblick rief ich: »Marta!«

Sie stieß einen Schrei des Entsetzens aus und rang mit mir mit solcher Kraft, daß ich kaum glaube, ich hätte sie allein bewältigen können. Aber eine stärkere Hand als die meine faßte sie an der Schulter, und als sie erschrocken aufblickte und sah, wer es war, machte sie nur noch einen schwachen Versuch und sank dann zwischen uns zusammen. Sie weinte und stöhnte, und wir trugen sie weg vom Wasser zu einigen trockenen Steinen hin. Nach einer kleinen Weile setzte sie sich aufrecht und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Ach der Strom!« rief sie leidenschaftlich. »Ach der Strom!«

»Still, still«, sagte ich, »beruhigen Sie sich!«

Aber sie wiederholte immer wieder und wieder die Worte: »Ach der Strom!«

»Ich weiß wohl, er gleicht mir«, rief sie aus. »Ich weiß, daß ich ihm angehöre. Ich weiß, daß er die natürliche Zuflucht von solchen Geschöpfen ist, wie ich bin. Er kommt vom frischen grünen Lande her, wo nichts Schlechtes in ihm war, und jetzt schleicht er durch die dunklen Straßen, besudelt und elend, – und verschwindet wie mein Leben in einem großen Meer, das nie zur Ruhe kommt, – und ich fühle, daß ich mit ihm gehen muß.«

Ich habe nie in Worten eine tiefere Verzweiflung gehört als in diesen.

»Ich kann mich nicht fern von ihm halten, ich muß an ihn denken Tag und Nacht. Er ist das einzige auf der Welt, für das ich passe und das für mich paßt. Ach, der schreckliche Strom!« jammerte sie.

Als ich auf das Gesicht meines Begleiters, das stumm und bewegungslos auf sie herabsah, blickte, hätte ich darin die Geschichte seiner Nichte lesen können, auch wenn ich ein Fremder gewesen wäre. Noch niemals habe ich in einem Antlitz Entsetzen und Mitleid so deutlich ausgeprägt gesehen. Er zitterte, als wollte er zusammenbrechen; sein Aussehen beunruhigte mich, ich faßte seine Hand, und sie war totenkalt.

»Sie ist nicht bei sich!« flüsterte ich ihm zu. »In einer kurzen Weile wird sie anders sprechen.«

Ich weiß nicht, was er mir antworten wollte. Seine Lippen bewegten sich, und er schien zu glauben, er habe gesprochen; aber er hatte nur mit seiner ausgestreckten Hand auf sie gedeutet.

Marta fing wieder heftig zu weinen an und verbarg das Gesicht auf den Steinen und lag vor uns, ein Bild der Erniedrigung und des Elends. Wir standen schweigend neben ihr, bis sie ruhiger wurde. Dann schien sie aufstehen und fortgehen zu wollen, und ich half ihr; aber sie war zu schwach und mußte sich an ein Boot lehnen.

»Wissen Sie, wer mein Begleiter ist?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie mit matter Stimme.

»Wissen Sie, daß wir Ihnen heute abend schon lange nachgegangen sind?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah weder ihn noch mich an, sondern stand demütig vor uns, Hut und Schal in der einen Hand, die andere geballt an die Stirn gedrückt.

»Sind Sie gefaßt genug«, fragte ich, »über den Gegenstand zu sprechen, der Sie an jenem Abend, als es so schneite, so interessierte?«

Sie fing von neuem an zu schluchzen und gab mit einigen unartikulierten Tönen ihrem Dank Ausdruck, daß ich sie damals nicht von der Türe gewiesen hatte.

»Ich will nicht für mich sprechen«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »ich bin verdorben und verloren. Ich habe keine Hoffnung mehr. Aber sagen Sie ihm, Sir«, – sie war scheu vor Mr. Peggotty zurückgewichen »wenn Sie mich nicht zu sehr verachten, daß ich in keiner Weise die Ursache seines Unglücks gewesen bin.«

»Es ist Ihnen nie zugeschrieben worden«, erwiderte ich mit gleichem Ernst wie sie.

»Sie waren es, wenn ich mich nicht irre«, fuhr sie mit gebrochener Stimme fort, »der an jenem Abend, wo sie sich meiner so erbarmte, in die Küche kam, wo sie so freundlich zu mir war und nicht vor mir zurückschreckte wie die übrigen und mich so voll Liebe unterstützte; waren Sie das nicht, Sir?«

»Ja.«

»Ich hätte mich längst in den Fluß gestürzt«, sagte sie mit einem Blick voll Entsetzen auf die Wellen, »wenn ein Unrecht gegen sie mir auf der Seele gelegen hätte.«

»Die Ursache ihrer Flucht ist nur zu gut bekannt«, sagte ich, »Sie tragen nicht die geringste Schuld, das glauben wir und wissen wir.«

»Sie sprach nie ein Wort zu mir, das nicht gut und recht war. Wie hätte ich je versuchen sollen, sie zu meinesgleichen zu machen, wo ich nur zu gut weiß, was ich selbst bin. Als ich alles verlor, was das Leben kostbar macht, da war der grausamste aller meiner Gedanken der, daß ich jetzt auf ewig von ihr getrennt sein müßte.«

Mr. Peggotty, auf den Bord des Bootes gestützt und die Augen niedergeschlagen, bedeckte sein Gesicht.

»Als ich damals von Leuten aus unserer Stadt von dem Unglück erfuhr, da war mein allerbitterster Gedanke der, man würde sich daran erinnern, daß sie einst mit mir verkehrte, und sagen, ich hätte sie verdorben, während ich doch, der Himmel weiß es, gern gestorben wäre, wenn ich ihr damit ihren guten Namen hätte wiedergeben können.«

Der Ausbruch ihrer Reue und ihres Schmerzes war schrecklich anzusehen.

»Zu sterben hätte für mich nicht viel bedeutet – was sage ich – ich wäre leben geblieben. Ich hätte mein Leben zu Ende gelebt in den schmutzigen Straßen, um, von allen gemieden, in der Nacht umherzustreifen und den Tag anbrechen zu sehen über den grauen Dächern und zu denken, daß dieselbe Sonne einst in mein Zimmer schien und mich einst aufweckte; selbst das hätte ich getan, um sie zu retten.«

Wieder zusammengesunken nahm sie ein paar Steine in jede Hand und quetschte sie zusammen, als wollte sie sie zermalmen. Und immer wieder veränderte sie wie in Krämpfen ihre Stellung: Sie streckte die Arme von sich, rang sie vor dem Gesicht, als wollte sie von ihren Augen die wenigen Lichtstrahlen ausschließen, und senkte den Kopf wie unter der Last unerträglicher Erinnerungen.

»Was soll ich nur anfangen«, rief sie, mit ihrer Verzweiflung kämpfend. »Wie kann ich fortleben, wie ich bin, ein Fluch für mich selbst, eine lebende Schmach für jeden, dem ich zu nahe komme!«

Plötzlich wendete sie sich an Mr. Peggotty: »Zertreten Sie mich, erschlagen Sie mich! Als sie Ihr Stolz war, hätten Sie geglaubt, ich besudle sie, wenn ich sie auf der Straße mit meinem Kleide gestreift hätte. Sie können ja keine Silbe glauben, die ich spreche! … Sie können es nicht! Selbst jetzt würden Sie es wie eine brennende Schmach empfinden, wenn sie und ich ein Wort miteinander sprächen. Ich beklage mich nicht! Ich sage nicht, daß sie und ich etwas miteinander gemein haben, – ich weiß, daß ein großer, großer Abstand zwischen uns liegt. Ich sage nur mit der ganzen Last meiner Verkommenheit auf dem Herzen, daß ich ihr dankbar bin von ganzer Seele und sie liebe. O, glauben Sie nicht, daß die Kraft, ein Wesen zu lieben, ganz ausgestorben in mir ist. Stoßen Sie mich von sich, wie es die ganze Welt tut. Erschlagen Sie mich, weil ich so verkommen bin und sie jemals gekannt habe, aber denken Sie das nicht von mir!«

Wie sie so flehentlich bat, sah er sie mit wildem, verstörtem Blick an und hob sie sanft auf, als sie schwieg.

»Marta!« sagte er, »Gott verhüte, daß ich mich zu Ihrem Richter aufwerfen sollte, liebes Kind. Sie wissen nicht zur Hälfte, wie ich im Lauf der Zeit anders geworden bin, wenn Sie das für möglich halten.«

Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: »Sie wissen nicht, warum dieser Herr und ich mit Ihnen sprechen möchten. Sie wissen nicht, was wir damit bezwecken. Hören Sie mich an!«

Sein Einfluß bannte sie vollständig. Sie stand demütig vor ihm und fürchtete sich, ihm in die Augen zu sehen, aber ihr leidenschaftlicher Schmerz hatte sich gelegt, und sie schwieg.

»Wenn Sie an jenem Abend, wo es schneite, etwas von dem gehört haben, was ich Master Davy erzählte, so wissen Sie, daß ich weit, weit weggewesen bin, um meine liebe Nichte zu suchen. Meine liebe Nichte«, wiederholte er mit fester Stimme. »Denn ich liebe sie jetzt mehr, Marta, als je zuvor!«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und sprach kein Wort.

»Ich weiß noch, sie hat von Ihnen erzählt«, sagte Mr. Peggotty, »da Sie von Kindheit an eine Waise gewesen sind und kein Freund sich Ihrer in rauher Seemannsweise annahm. Vielleicht können Sie fühlen, wenn Sie einen Freund gehabt haben würden, daß Sie ihn im Lauf der Zeit lieb gewonnen hätten, und daß meine Nichte mir wie eine Tochter war.«

Wie Marta stumm und zitternd dastand, hüllte er sie sanft in ihren Schal ein, den er zu diesem Zweck aufgehoben hatte.

»Ich weiß«, sagte er, »daß sie bis ans Ende der Welt mit mir ginge, wenn sie mich wiedersehen würde, aber auch bis ans fernste Ende der Welt fliehen würde, um sich vor mir zu verbergen. Wenn sie auch gewiß nicht an mir zweifelt – nein, das tut sie nicht –« wiederholte er mit einem ruhigen Vertrauen, »so mischt sich doch die Scham hinein und hält uns auseinander.«

Ich sah in jedem Worte seiner einfachen eindrucksvollen Rede einen Beweis, wie gründlich und von jedem Gesichtspunkte aus er alles überdacht und sich überlegt hatte.

»Nach Masr Davys und meinem Dafürhalten muß sie einmal ihr einsamer Weg nach London führen. Wir wissen, Masr Davy, ich und wir alle, daß Sie so unschuldig an ihrem Unglück sind wie ein neugebornes Kind. Sie sagten vorhin, daß sie gut und freundlich und herzlich gegen Sie war. Gott segne sie! So war sie! So war sie immer gegen alle. Sie sind ihr dankbar und lieben sie. Helfen Sie uns, sie zu finden, und der Himmel wird es Ihnen lohnen.«

Marta sah ihn hastig an, als ob sie an der Richtigkeit dessen, was sie hörte, zweifle.

»Sie wollen mir vertrauen?« fragte sie mit leiser erstaunter Stimme.

»Ganz und gar«, sagte Mr. Peggotty.

»Ich soll sie anreden, wenn ich sie finden sollte, sie zu mir nehmen, wenn ich selbst ein Obdach habe, und dann, ohne daß sie es erfährt, zu Ihnen kommen und Sie zu ihr führen?« fragte sie hastig.

»Ja«, antworteten wir beide.

Sie erhob die Augen und erklärte feierlich, daß sie sich mit allem Eifer und getreulichst dieser Aufgabe widmen wolle und darin ausharren, solange noch eine Spur von Hoffnung vorhanden sei. Und wenn sie diesem Vorsatz nicht treu bliebe, so möge alle Hilfe, menschliche und göttliche, sie für alle Zeiten verlassen.

Sie hauchte es so leise, daß man es kaum hören konnte, und sprach nicht zu uns, sondern zu dem Nachthimmel empor; dann blieb sie ruhig und stumm stehen und blickte auf das dunkle Wasser hinaus.

Wir hielten es für angezeigt, ihr alles, was wir wußten, ausführlich zu erzählen. Sie hörte mit größter Aufmerksamkeit zu. Ihre Augen füllten sich manchmal mit Tränen, aber sie beherrschte sich. Es schien, als wäre ihr Geist ganz verändert und voll tiefster Ruhe.

Als wir ihr alles erzählt hatten, fragte sie, wohin sie uns Mitteilungen machen könnte, wenn sich Veranlassung dazu ergeben sollte. Unter einer trüben Laterne am Weg schrieb ich unsere beiden Adressen auf ein Blatt meines Taschenbuchs, riß es heraus, und sie steckte es hinter ihr ärmliches Busentuch. Ich fragte sie, wo sie wohne. Nach einer kurzen Pause sagte sie, an keinem Orte lange. Es sei besser für uns, es nicht zu wissen.

Da Mr. Peggotty mir etwas zuflüsterte, was mir selbst auch schon eingefallen war, zog ich meine Börse heraus; aber ich konnte sie nicht bewegen, Geld anzunehmen und ihr auch kein Versprechen abringen, daß sie es ein andermal tun wollte. Ich stellte ihr vor, daß Mr. Peggotty für einen Mann seines Standes nicht arm genannt werden könnte, und daß der Gedanke, ihr diesen Auftrag zu geben, während sie ganz hinsichtlich ihres Erwerbes auf ihre eignen Kräfte angewiesen sei, uns beide verletzte. Sie blieb unerbittlich. In dieser Hinsicht war Mr. Peggottys Einfluß auf sie nicht größer als meiner. Sie dankte ihm herzlich, blieb aber fest.

»Vielleicht bekomme ich Arbeit«, sagte sie. »Ich will es versuchen.«

»Nehmen Sie wenigstens inzwischen eine Hilfe an«, drängte ich.

»Ich könnte das, was ich versprochen habe, nicht um Geld tun! Ich könnte es nicht annehmen, und wenn ich verhungern müßte! Mir Geld geben, hieße mir Ihr Vertrauen entziehen, das Ziel wegnehmen, das Sie mir vorgesteckt haben, den einzigen Halt wegnehmen, der mich noch vor dem Flusse rettet.«

»Im Namen des großen Richters«, sagte ich, »vor dem wir alle einst stehen müssen, geben Sie Ihren entsetzlichen Gedanken auf. Wir alle können Gutes tun, wenn wir wollen.«

Sie zitterte und ihre Lippen bebten und ihr Gesicht wurde noch blässer, als sie antwortete: »Ihnen ist es vielleicht ins Herz gelegt worden, ein unglückliches Geschöpf zu retten, aber ich kann den Gedanken nicht fassen; es kann doch gar nicht sein. Wenn ich noch etwas Gutes tun könnte, dürfte ich wieder hoffen. Von meinen Taten ist bis jetzt nur Unheil gekommen. Das erste Mal wird mir jetzt etwas anvertraut. Ich sage weiter nichts und kann weiter nichts sagen.«

Sie unterdrückte ihre Tränen, streckte ihre zitternde Hand aus und berührte Mr. Peggotty, als ob eine heilende Kraft von ihm ausginge.

Wahrscheinlich war sie lange krank gewesen. Wie ich sie näher ansah, bemerkte ich, daß sie elend und abgemagert war und ihre tief eingesunkenen Augen von Entbehrung und Mangel Zeugnis ablegten.

Wir folgten ihr eine kleine Strecke, denn unser Weg führte uns in derselben Richtung, bis wir in die helleren und belebten Straßen kamen. Ich setzte so unbedingtes Vertrauen in sie, daß ich jetzt Mr. Peggotty fragte, ob es nicht wie Mißtrauen aussähe, wenn wir ihr länger folgten. Er war derselben Meinung, und so ließen wir sie ihres Weges gehen und schlugen die Straße nach Highgate ein. Er begleitete mich eine Strecke, und als wir mit einem Gebet um den Erfolg dieses neuen Versuchs schieden, lag ein Ausdruck gedankenvoller Teilnahme auf seinem Gesicht, den ich mir wohl zu deuten wußte.

 

Es war Mitternacht, als ich zu Hause ankam. Ich stand an meiner Gartentür und horchte auf die tiefen Töne der Glocken der St.-Pauls-Kirche, die lauter als die andern dröhnten, als ich zu meiner Überraschung das Gartentor meiner Tante offenstehen und ein schwaches Licht über den Weg scheinen sah.

Ich glaubte, meine Tante sei vielleicht wieder in Angst wegen einer eingebildeten Feuersbrunst und wollte sie beruhigen gehen. Zu meinem großen Erstaunen sah ich aber einen Mann in ihrem kleinen Garten stehen.

Er hatte ein Glas und eine Flasche in der Hand und trank. Ich hielt mich hinter der dichten Hecke, denn der Mond schien jetzt hinter den Wolken hervor, und ich erkannte den Mann, den ich früher für ein Phantasiegebilde Mr. Dicks gehalten und später mit meiner Tante in den Straßen der City gesehen hatte. Er aß und trank und schien hungrig zu sein. Auch das Landhaus schien seine Neugierde rege zu machen, als ob er es zum ersten Mal sähe. Dann blickte er zu den Fenstern hinauf und sah sich um mit einer scheuen und ungeduldigen Miene, unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte.

Der lichte Schein auf dem Weg verschwand einen Augenblick, und meine Tante trat heraus. Sie war sehr aufgeregt und zählte Geld in seine Hand. Ich hörte es klimpern.

»Was soll ich damit?« fragte er.

»Ich kann nicht mehr entbehren«, entgegnete meine Tante.

»Dann kann ich nicht fort. Hier! Nimm es zurück.«

»Du schlechter Mensch«, antwortete meine Tante in großer Erregung. »Wie kannst du mich so ausnützen! Aber warum frage ich? Weil du weißt, wie schwach ich bin. Brauche ich etwas anderes zu tun, um mich auf immer von deinen Besuchen zu befreien, als dich deinem verdienten Schicksal zu überlassen?«

»Und warum tust du es denn nicht?«

»Du fragst noch, warum? Was für ein Herz du haben mußt!«

Er klimperte unschlüssig und mürrisch mit dem Geld.

»Du willst mir also weiter nichts geben?«

»Es ist alles, was ich dir geben kann. Du weißt, daß mich Verluste betroffen haben und daß ich arm bin. Ich habe es dir bereits gesagt. Warum bereitest du mir den Schmerz, noch einen Augenblick länger ansehen zu müssen, was aus dir geworden ist!«

»Ich sehe genügend herabgekommen aus, wenn du das meinst«, sagte er. »Ich lebe wie eine Eule«.

»Du hast mir den größten Teil alles dessen, was ich besaß, genommen. Du hast für lange Jahre mein Herz gegen die ganze Welt verschlossen. Du hast mich treulos, undankbar und grausam behandelt. Geh und bereue es! Füge nicht noch neues Unrecht zu dem, was du mir bereits angetan hast!«

»Ja«, sagte er, »das ist alles recht schön; – nun, ich muß mich wohl vorderhand einrichten, so gut es geht.«

Gegen seinen Willen schienen ihn die Tränen meiner Tante zu beschämen, und er schlüpfte aus dem Garten. Mit zwei oder drei raschen Schritten, als ob ich eben des Weges käme, begegnete ich ihm in der Türe. Wir sahen uns im Vorbeigehen an und nicht mit freundlichen Blicken.

»Tante«, sagte ich hastig, »schon wieder verfolgt dich dieser Mann? Laß mich mit ihm sprechen.«

Sie faßte mich beim Arm. »Kind, komm herein und rede zehn Minuten lang nicht mit mir.«

Wir setzten uns in dem kleinen Wohnzimmer nieder. Meine Tante zog sich hinter den runden grünen Schirm, der jetzt auf die Lehne eines Stuhls geschraubt war, zurück und wischte sich während einer Viertelstunde von Zeit zu Zeit die Augen. Dann setzte sie sich neben mich.

»Trot«, sagte sie ruhig, »es war mein Mann.«

»Dein Mann, Tante? Ich glaubte, er wäre tot?«

»Für mich ist er tot, aber er lebt.«

Ich saß in stummer Verwunderung da.

»Betsey Trotwood sieht nicht wie der Gegenstand einer zärtlichen Leidenschaft aus«, sagte sie ruhig, »aber es gab eine Zeit, Trot, wo sie an diesen Mann von ganzem Herzen glaubte, Trot. Es gibt keinen Beweis von Zuneigung und Liebe, den sie ihm nicht abgelegt hätte. Dafür dankte er ihr, indem er ihr Vermögen vergeudete und ihr fast das Herz brach. Darum legte sie alle solche Gefühle ein für allemal ins Grab und schüttete es zu.«

»Meine liebe gute Tante!«

»Ich schied großmütig von ihm«, fuhr sie fort und legte ihre Hand in ihrer gewohnten Weise auf die meine. »Nach so langer Zeit, Trot, darf ich wohl sagen, großmütig. Er hatte so schlecht an mir gehandelt, daß ich mich wohl unter leichteren Bedingungen hätte von ihm scheiden lassen können, aber ich tat es nicht. Er vergeudete bald, was ich ihm gegeben, sank immer tiefer und tiefer, heiratete, glaube ich, noch einmal, – wurde ein Abenteurer, ein Spieler und ein Schwindler. Was er jetzt ist, hast du selbst gesehen. Aber als ich ihn heiratete, war er ein schöner Mann«, sagte sie mit einem Widerhall des Stolzes und der Bewunderung alter Zeiten in ihrer Stimme. »Ich glaubte an ihn und hielt ihn in meiner Blindheit für einen vollkommenen Ehrenmann.«

Sie drückte mir die Hand und schüttelte den Kopf.

»Er gilt mir jetzt nichts mehr, Trot, weniger als nichts. Aber ich gebe ihm lieber mehr Geld, als ich entbehren kann, wenn er von Zeit zu Zeit zu mir kommt, als daß ich ihn wegen seiner Vergehen bestraft sehen möchte, – und das würde geschehen, wenn er sich im Lande herumtreibt. Ich war verblendet, als ich ihn heiratete, und bin selbst heute noch so verblendet, daß ich um dessentwillen, was ich einst in ihm sah, diesen Schatten eines nichtigen Jugendtraums vor Schande schützen möchte. Denn ich fühlte es ehrlich, Trot, wenn jemals ein Weib ehrlich gefühlt hat.«

Meine Tante ließ das Thema mit einem tiefen Seufzer fallen und strich sich das Kleid glatt.

»So, liebes Kind«, sagte sie, »jetzt kennst du den Anfang, die Mitte, das Ende und alles, was damit zusammenhängt. Wir wollen nicht weiter von der Sache sprechen. Natürlich wirst du auch nicht zu andern Leuten davon reden. Das ist meine schlimme dumme Geschichte, und wir wollen sie für uns behalten, Trot.«

32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise


32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise

Eine natürliche Empfindung ist nichts Beschämendes, und deshalb scheue ich mich auch nicht zu gestehen, daß ich meine Liebe zu Steerforth niemals stärker empfand als zu der Zeit, wo sich die Banden, die mich an ihn knüpften, lösten. In dem bittern Schmerz der Erkenntnis seiner Unwürdigkeit sah ich seine Eigenschaften in einem glänzenderen Licht als je, ließ seinen Fähigkeiten, die ihn zu einem großen bedeutenden Menschen hätten machen können, mehr Gerechtigkeit widerfahren als damals, wo ich ihm am meisten ergeben gewesen. So tief ich darunter litt, mit an seiner Schuld zu tragen, glaube ich doch, ich hätte ihm ins Gesicht keinen Vorwurf schleudern können. Aber, wie wohl auch er, fühlte ich, daß zwischen uns beiden alles zu Ende war. Wie er an mich zurückdachte, habe ich nie erfahren – wahrscheinlich leicht und oberflächlich genug –, aber ich mußte an ihn denken wie an einen teuern Toten.

Ja, Steerforth, der du längst vom Schauplatze dieser Geschichte abgetreten bist, vielleicht tritt mein Gram dereinst gegen dich vor dem ewigen Gericht als Zeuge auf, aber ein Ankläger will ich dir niemals sein!

 

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich bald durch die Stadt, und am nächsten Morgen hörte ich in den Straßen die Leute vor ihren Türen davon sprechen. Viele ließen sich sehr bitter über sie aus, nur wenige über ihn, aber für ihren zweiten Vater und ihren Bräutigam herrschte bloß ein Gefühl; überall legte man vor ihrem Schmerz eine Achtung voll Zartgefühl und Rücksicht an den Tag. Die Schiffer hielten sich fern, als die beiden am frühen Morgen langsam am Strande auf- und abgingen, standen in Gruppen beisammen und sprachen voll Mitleid miteinander.

Ich fand Mr. Peggotty und Ham an der Küste dicht am Meer. Sie hatten die ganze Nacht über nicht geschlafen und noch bei Tagesanbruch zusammengesessen, wie Peggotty mir sagte, und sahen sehr ermattet aus. Mr. Peggotty schien mir mehr gealtert zu sein in einer Nacht als in den vielen Jahren, seit ich ihn kannte. Aber beide waren so ernst und ruhig wie das Meer, das leise bewegt, als ob es im Schlummer atme, doch ohne Wellenschlag unter dem dunkeln Himmel lag, – der Horizont beleuchtet von einem Sonnenstreifen silberhellen Lichtes.

»Wir haben viel beraten über das, was zunächst zu geschehen hat«, sagte Mr. Peggotty zu mir, nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander hergeschritten waren. »Aber jetzt sehen wir unsern Weg klar vor uns.«

Ich warf heimlich einen Blick auf Ham, der jetzt auf den fernen Sonnenschimmer auf dem Meer hinausblickte, und ein furchtbarer Gedanke beschlich mich – nicht, daß sein Gesicht voll Ingrimm gewesen wäre, – ich konnte nur den Ausdruck finstrer Entschlossenheit darin erkennen – der Gedanke, daß er Steerforth töten würde, wenn er ihm begegnen sollte.

»Mien Flicht is dohn, Sir«, sagte Mr. Peggotty, »ick will mien – « er hielt inne und fuhr dann mit festerer Stimme fort – »ick will sie suchen. Dat is mien Flicht von nun an.«

Er schüttelte den Kopf, als ich ihn fragte, wo er sie suchen wollte und ob er morgen nach London zu reisen gedenke. Ich sagte ihm, ich sei heute noch hiergeblieben, um ihm vielleicht beistehen zu können, aber ich sei bereit zu fahren, sobald er es wünschte.

»Ich werde Sie begleiten, Sir«, erwiderte er, »wenn es Ihnen recht ist, morgen.«

Wieder gingen wir eine Weile stumm nebeneinander her.

»Ham«, fuhr er fort, »wird seinem jetzigen Beruf treu bleiben und mit meiner Schwester zusammenwohnen. Das alte Boot dort – «

»Sie wollen das alte Boot verlassen, Mr. Peggotty?« fragte ich leise.

»Mein Platz ist dort nicht mehr, Mr. Davy, und wenn jemals ein Boot, als die Nacht über der Tiefe schwebte, unterging, ist es dieses. Aber nein, Sir, nein, ich will nicht sagen, daß es verlassen sein soll. Das sei fern von mir.«

Wieder gingen wir stumm eine Strecke zusammen, bis er abermals anfing:

»Mien Wunsch is, Sir, daß es Tag und Nacht, Sommer und Winter so aussehen soll wie damals, als sie es zuerst betrat. Wenn sie jemals zurückkehren sollte, darf das alte Haus nicht aussehen, als ob es für sie verschlossen sei, sondern soll sie locken, immer näher und näher zu kommen und draußen aus Wind und Regen durch das alte Fenster mit einem Gruß nach dem verlassenen Sitz neben dem Feuer zu blicken. Und wenn sie dann niemand drin sieht als Mrs. Gummidge, so faßt sie sich vielleicht ein Herz und tritt zitternd ein und legt sich hin auf ihr altes Bett und läßt ihr Haupt müde ausruhen, wo sie einst so fröhlich war.«

Ich konnte ihm nicht antworten, obgleich ich es versuchte.

»Jede Nacht, so regelmäßig wie die Flut, muß das Licht in dem alten Fenster stehen, damit es ihr winkt: Komm zurück, mein Kind, komm zurück! Wenn es jemals wieder leise an die Tür deiner Tante klopft, Ham, nach Dunkelwerden, so geh du nicht hinaus. Nur sie, nicht dich, darf mein verirrtes Kind sehen.«

Er ging ein wenig voraus und schritt vor uns her. Ich warf einen Blick auf Ham und sah immer noch denselben Ausdruck auf seinem Gesicht. Seine Augen starrten immer noch wie gebannt auf das ferne Licht. Ich faßte seinen Arm.

Zweimal rief ich ihn beim Namen so laut, wie man einen Schlafenden zu wecken sucht, ehe er auf mich achtete. Als ich ihn fragte, womit sich seine Gedanken so eifrig beschäftigten, gab er zur Antwort:

»Mit dem, was vor mir ist, Masr Davy, und dort droben.«

»Mit dem, was vor Ihnen liegt, meinen Sie?« Er hatte mit der Hand aufs Meer hinausgedeutet.

»Woll, Masr Davy. Ich weiß nicht recht, wie es ist, aber von dort drüben scheint es mir zu kommen – das Ende, meine ich«; er sah mich an mit wachen Augen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich nicht.

»Welches Ende?« fragte ich, noch ganz unter dem Eindruck meiner Bestürzung.

»Ich weiß es nicht«, sagte er gedankenvoll; »ich dachte eben darüber nach, daß der Anfang vor allem hier war, – und hier muß auch das Ende sein. Aber jetzt ists fort, Masr Davy,« setzte er hinzu, wohl als Antwort auf meine besorgten Blicke, mit denen ich ihn maß. »Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten, – awer ick bün so wirr im Kopp, – ich bin ganz gefühllos geworden.«

Mr. Peggotty stand jetzt still und wartete auf uns. Die Erinnerung an diese Szene und meine Besorgnisse traten mir in spätern Zeiten immer wieder vor die Seele, bis das unerbittliche Ende kam. Wir gingen auf das alte Boot zu und traten ein. Mrs. Gummidge saß nicht mehr grämlich in ihrer Ecke, sondern machte sich emsig um das Frühstück zu schaffen. Sie nahm Mr. Peggotty den Hut ab, schob ihm seinen Stuhl hin und sprach so sanft und zärtlich zu ihm, daß ich sie kaum wiedererkannte.

»Mein guter Daniel«, sagte sie. »Du mußt essen und trinken und dich aufrecht erhalten, denn sonst kannst du nichts tun. Versuchs nur, liebe, gute Seele. Und wenn ich dich mit meinem Gerede störe, so sags nur, Daniel, und ich schweig schon still.«

Als sie uns alle bedient hatte, setzte sie sich an das Fenster, wo sie sich emsig mit dem Ausbessern der Hemden und Kleider für Mr. Peggotty beschäftigte und alles dann sorgfältig zusammenlegte und in einen alten Sack aus Ölzeug, wie ihn die Matrosen haben, packte. Dabei fuhr sie in derselben ruhigen Weise zu sprechen fort.

»Immer und zu jeder Zeit, Danl, will ich hier sein, und alles soll so eingerichtet werden, wie du es wünschst. Es wird mir sauer werden, aber ich will viele, viele Male an dich schreiben, wenn du fort bist, und meine Briefe an Master Davy schicken. Vielleicht schreibst du auch an mich, Daniel, von Zeit zu Zeit, und schreibst mir von deinen einsamen Reisen.«

»Du wirst dich hier recht verlassen fühlen«, sagte Mr. Peggotty.

»Nein, nein, Danl, gewiß nicht. Sorge dich nicht meinetwegen. Ich werde genug zu tun haben, um das Haus in Ordnung zu halten, bis du zurückkehrst, Danl. Bei schönem Wetter will ich mich vor die Türe setzen wie früher, und kommt jemand in die Nähe, soll er schon von weitem sehen, daß die alte Wittfrau treu hier aushält.«

Wie hatte sich Mrs. Gummidge in der kurzen Zeit verändert! Sie war eine ganz andere geworden. Sie legte so viel Feingefühl an den Tag, wenn sie etwas sagen wollte oder eine Bemerkung vermied, vergaß so sehr sich selbst und zeigte sich so rücksichtsvoll gegen all den Kummer um sich her, daß ich fast mit Verehrung zu ihr aufblickte. Und was sie an diesem Tag alles zustande brachte! So vielerlei Dinge mußten vom Strande herauf in den Schuppen geschafft werden – Ruder, Netze, Segel, Tauwerk, Spieren, Hummerkörbe, Ballastsäcke und anderes, und obgleich helfende Hände genug da waren, denn keiner hätte sich geweigert, für Mr. Peggotty Hand anzulegen, und alle hätten sich mit einem bloßen »danke« für bezahlt gehalten, – so wurde sie doch den ganzen Tag nicht müde, die schwersten Lasten heraufzuschleppen. Sie schien ganz vergessen zu haben, über ihr altes Mißgeschick zu klagen. Die ganze Zeit über bewahrte sie eine sich stets gleichbleibende Ruhe; gewiß eine wunderbare Veränderung bei ihrem Charakter. Bis zur Dämmerung bebte ihre Stimme kein einziges Mal, und keine Träne trat ihr in die Augen; erst als sie und ich und Mr. Peggotty allein beisammen saßen und er aus Erschöpfung eingeschlafen war, da fing sie an, leise zu schluchzen und zu weinen, begleitete mich an die Türe und sagte: »Gott segne Sie, Masr Davy, bleiben Sie dem Armen immer ein Freund!« Dann lief sie hinaus, um sich das Gesicht zu waschen, damit er ihr nichts anmerken sollte, wenn er aufwachte.

Kurz, als ich abends fortging, ließ ich sie als Stütze und Stab für Mr. Peggotty in seinem Schmerz zurück und konnte nicht genug über die Lehre, die ich aus all dem zog, nachdenken.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als ich, in trübem Sinnen durch die Stadt schlendernd, vor Mr. Omers Tür ankam. Der Alte hatte es sich so sehr zu Herzen genommen, wie mir seine Tochter erzählte, daß er den ganzen Tag sehr niedergedrückt gewesen war und sich, ohne seine Pfeife geraucht zu haben, zu Bett gelegt hatte.

»Ein falschherziges, schlechtes Mädchen!« sagte Mrs. Joram. »Es ist nie etwas Gutes an ihr gewesen.«

»Sagen Sie das nicht«, wehrte ich ab. »Sie meinen es nicht so.«

»Ja, ich meine es gewiß so!« rief Mrs. Joram ärgerlich.

»Nein, nein!«

Mrs. Joram warf den Kopf zurück und wollte sehr gereizt werden. Aber sie konnte es nicht übers Herz bringen und fing zu weinen an. Ich war damals freilich noch jung, aber ich dachte in ihrer Weichheit besser von ihr, und es kam mir vor, als ob die Rührung ihr, der tugendhaften Gattin und Mutter, sehr gut stünde.

»Was wird sie nur anfangen?« schluchzte Minnie. »Wie wird es ihr gehen? Was wird aus ihr werden! O, wie konnte sie nur so grausam handeln!«

Ich gedachte der Zeit, wo Minnie ein junges und hübsches Mädchen gewesen, und es freute mich, daß sie sich ebenfalls mit tiefem Gefühl daran erinnerte.

»Meine kleine Minnie ist eben eingeschlafen«, sagte sie. »Selbst im Schlaf schluchzt sie nach Emly. Den ganzen Tag lang hat sie beständig geweint und mich immer und immer wieder gefragt, ob Emly ein schlechtes Mädchen sei. Was kann ich zu ihr sagen, wo doch Emly ihr gestern abend ein Band von ihrem Hals umgebunden und ihren Kopf neben sie auf das Kissen gelegt hat, bis sie einschlief? Meine kleine Minnie hat jetzt noch das Band um. Es sollte vielleicht nicht sein, aber was soll ich tun? Emly ist sehr schlecht, aber sie hatten einander so lieb. Und das Kind versteht es doch nicht!«

Mrs. Joram fühlte sich so unglücklich, daß ihr Mann herauskommen mußte, um sie zu beruhigen. Ich ließ die beiden allein, um zu Peggotty zu gehen, und fühlte mich womöglich noch trauriger als bisher.

Die gute Peggotty war trotz ihres Kummers und der schlaflosen Nächte der letzten Zeit bei ihrem Bruder geblieben, um bei ihm die Nacht zuzubringen. Eine alte Frau, die in den letzten Wochen für sie die Wirtschaft besorgte, war mit mir allein im Hause. Da ich ihrer nicht bedurfte, schickte ich sie zu Bett und setzte mich eine Weile lang vor das Küchenfeuer, um über das Geschehene nachzudenken.

In meine Vorstellungen mischte sich das Sterbebett des seligen Mr. Barkis, und ich trieb mit der Ebbe hinaus in die schimmernde Ferne, auf die heute morgen Ham so seltsam gestarrt hatte, als mich aus meinem Nachsinnen ein Pochen an der Tür weckte. Es hing ein Klopfer an der Tür, aber der Schall ging von einer Hand aus, tief unten am Holz, als ob er von einem Kinde herrühre.

Ich machte überrascht die Türe auf und sah zu meinem Erstaunen anfangs weiter nichts als einen großen Regenschirm, der sich allein fortzubewegen schien. Aber gleich darauf entdeckte ich Miss Mowcher darunter.

Ich hätte das kleine Geschöpf wahrscheinlich nicht sehr freundlich empfangen, wenn sie beim Weglegen ihres Regenschirms, den sie mit der größten Mühe nicht zumachen konnte, noch jenes fidele Gesicht von damals gezeigt hätte. Aber, als ich sie von ihrem Schirm erlöste und sie zu mir aufsah, waren ihre Mienen so ernst, und sie rang die kleinen Hände so betrübt, daß ich mich fast zu ihr hingezogen fühlte.

»Miss Mowcher« sagte ich, nachdem ich auf die leere Straße hinausgesehen, ohne eigentlich zu wissen, warum, »wie kommen Sie hierher? Was gibts?«

Sie winkte mir mit ihrem kurzen Arm, ihr Parapluie zuzumachen, und ging rasch an mir vorbei in die Küche. Ich konnte kaum die Türe schließen, da saß sie schon auf der Ecke des Herdvorsetzers im Schatten der Kochgefäße, schaukelte sich hin und her und rieb sich kummervoll die Hände auf den Knien.

Ganz beunruhigt über den seltsamen Besuch zu solch ungewöhnlicher Stunde rief ich wieder aus: »Ich bitte Sie, Miss Mowcher, was gibt es denn? Sind Sie krank?«

»Mein liebes, gutes Kind«, sie drückte beide Hände auf ihr Herz. »Ich bin hier krank. – Sehr krank. Daran denken zu müssen, daß es so weit kommen mußte, während ich es doch hätte wissen und verhüten können, wenn ich nicht eine so gedankenlose Närrin gewesen wäre!«

Wieder schaukelte sich ihr unverhältnismäßig großer Hut mit ihrem kleinen Körper hin und her, und sein riesenhafter Schatten hielt an der Wand Takt mit ihr.

»Es überrascht mich, Sie in so erregter und ernster Stimmung –« fing ich an.

»Ja. So ists immer«, unterbrach sie mich. »Sie wundern sich alle, diese unüberlegten jungen Leute, die hübsch und groß gewachsen sind, daß ein kleines Ding wie ich noch Gefühl hat. Sie halten mich für ein Spielzeug und lachen über mich, werfen mich weg, wenn sie meiner müde sind, und wundern sich, daß ich mehr Gefühl habe als ein Schaukelpferd oder ein hölzerner Soldat! Ja, ja, so ists. Immer die alte Geschichte!«

»Das mag vielleicht bei andern so sein«, entgegnete ich, »aber bei mir nicht. Ich versichere es Ihnen. Vielleicht dürfte ich mich gar nicht wundern, Sie hier zu sehen. Aber ich kenne Sie doch zu wenig!«

»Was kann ich tun?« Die kleine Frau stand auf und zeigte mit beiden Händen auf sich. »Schauen sie her! So wie ich bin, war mein Vater und sind meine Schwester und mein Bruder noch heute. Für sie habe ich seit vielen Jahren Tag für Tag auf das angestrengteste gearbeitet, Mr. Copperfield. Ich muß doch leben! Ich tue niemand etwas zuleide! Wenn es Menschen gibt, die so leichtsinnig und grausam sind, Scherz mit mir zu treiben, was bleibt mir dann anderes übrig, als mich ihnen gegenüber auch so zu benehmen? Wessen Fehler ist es, wenn ich dies tue. Meiner?«

»Nein, Miss Mowcher, Ihrer gewiß nicht.«

»Wenn ich mich gegen Ihren falschen Freund als sentimentale Zwergin benommen hätte«, fuhr die kleine Person fort und schüttelte mit vorwurfsvollem Ernst den Kopf, »glauben Sie, daß er mir jemals geholfen oder mich empfohlen haben würde? Wenn sich die kleine Mowcher, die, um auf die Welt zu kommen, gewiß keine Hand gerührt haben würde, an ihn oder seinesgleichen in ihrem Unglück gewendet hätte, glauben Sie, daß er auf ihr dünnes Stimmchen gehört haben würde? Die kleine Mowcher müßte auch leben, selbst wenn sie die verbittertste und dümmste aller Zwerginnen wäre, aber sie könnte es nicht. Nein. Sie könnte nach Brot und Butter pfeifen, bis sie verhungerte!«

Miss Mowcher setzte sich wieder auf den Ofenvorsetzer, zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich die Augen.

»Danken Sie Gott für mich, wenn Sie ein so gutes Herz haben, wie ich glaube, daß ich bei meinem Mißgeschick noch heiter alles zu ertragen imstande bin. Ich wenigstens bin dankbar, daß ich meinen schmalen Weg durch die Welt finden kann, ohne jemand verpflichtet zu sein, und daß ich auf alles, was man mich leichtsinnig oder gedankenloserweise leiden läßt, noch mit Narrenpossen zu antworten vermag. Wenn ich über meine Mängel nachdenke, so ist es mir zum Nutzen und niemand zum Schaden. Wenn ich euch Riesen schon zum Spielzeug diene, so gehet wenigstens behutsam mit mir um!«

Miss Mowcher steckte das Taschentuch wieder ein, blickte mich sehr aufmerksam an und fuhr dann fort:

»Ich sah Sie soeben auf der Straße. Sie können sich denken, daß ich mit meinen kurzen Beinen und meinem kurzen Atem Sie nicht einholen konnte, aber ich erriet, woher Sie kamen, und ging Ihnen nach. Ich bin heute schon einmal hier gewesen, aber die gute Alte war nicht zu Hause.«

»Kennen Sie sie?« fragte ich.

»Nicht persönlich, habe aber von Omer & Joram oft von ihr gehört. Ich war heute früh um sieben Uhr dort. Wissen Sie noch, was Steerforth damals, als ich Sie das erste Mal im Gasthof sah, über das unglückliche Mädchen sagte?«

Der große Hut auf Miss Mowchers Kopf und sein noch größerer Schatten an der Wand schwankten wieder hin und her, als sie die Frage stellte.

Ich erinnerte mich recht gut daran, denn es war mir heute schon oft eingefallen.

»Möge der Vater alles Übels ihn verderben!« sagte die kleine Frau und hob mit funkelnden Augen ihren Zeigefinger in die Höhe, »und zehnmal mehr noch seinen schurkischen Bedienten. Ich glaubte damals, Sie hätten sich in sie verliebt.«

»Ich?!«

»Kind, Kind! O über meine Blindheit!« rief Miss Mowcher, rang leidenschaftlich die Hände und ging vor dem Ofenvorsetzer auf und ab. »Warum flossen Sie nur so über von ihrem Lob und wurden so rot und verlegen!«

Allerdings war das der Fall gewesen, aber aus einem ganz andern Grund, als es ihr geschienen hatte.

»Was wußte ich!« Miss Mowcher zog ihr Taschentuch heraus und stampfte jedesmal mit dem Fuß auf den Boden, wenn sie es mit beiden Händen an ihre Augen drückte. »Er schmeichelte Ihnen und beschwatzte Sie, das sah ich wohl, und Sie waren wie weiches Wachs in seinen Händen. Kaum hatte ich das Zimmer eine Minute verlassen, als mir sein Bedienter sagte, daß die ›junge Unschuld,‹ – so nannte er Sie, und Sie können ihn in Zukunft die ›alte Sünde‹ nennen, – sich in sie verliebt hätte, daß sie aber leichtsinnig sei und Steerforth gern habe. Doch sei sein Herr entschlossen, es zu nichts Schlimmem kommen zu lassen – mehr um Ihret- als um des Mädchens willen. Und daß er und sein Herr deshalb in Yarmouth wären. Mußte ich ihm nicht glauben? Ich sah, wie Steerforth sie Ihretwegen lobte. Sie nannten zuerst ihren Namen. Sie gaben zu, früher einer ihrer Bewunderer gewesen zu sein, und wurden abwechselnd rot und blaß, wenn ich nur von ihr sprach. Konnte ich etwas anderes denken, als daß Sie ein junger Lebemann seien, wenn auch ohne Erfahrung, aber bereits in richtigen Händen? O! O! O! – Die beiden befürchteten, ich möchte der Wahrheit auf den Grund kommen!« rief Miss Mowcher aus, streckte die kurzen Arme gen Himmel und ging in tiefem Schmerz in der Küche auf und ab. »Weil ich ein kleines, schlaues Ding bin – muß ich es doch sein, wenn ich überhaupt bestehen will, – und sie führten mich ganz und gar hinters Licht und gaben mir an das arme Mädchen einen Brief mit, der die erste Veranlassung war, daß sie mit Littimer sprach.«

Ich war ganz betäubt bei der Enthüllung solcher Perfidie und konnte bloß Miss Mowcher ansehen, wie sie in der Küche auf und ab ging, bis sie ganz außer Atem war. Dann setzte sie sich wieder auf den Ofenvorsetzer, wischte sich die Augen und schüttelte lange, ohne ein Glied zu rühren, den Kopf, und ohne ein einziges Wort zu sprechen.

»Meine Reisen«, fing sie endlich wieder an, »führten mich vorgestern abend nach Norwich. Was ich dort von dem heimlichen Kommen und Gehen der beiden, ohne daß Sie seltsamerweise dabei waren, erfuhr, ließ mich Schlimmes ahnen. Ich setzte mich vorige Nacht in die Landkutsche und bin heute morgen hier eingetroffen. Ach! Zu spät!«

Der armen kleinen Mowcher war bei all dem Weinen und Klagen so kalt geworden, daß sie sich dem Feuer zudrehte und ihre kleinen, nassen Füße in die Asche steckte, um sie zu wärmen, und still vor dem Herd saß wie eine große Puppe. Ich lehnte an einem Stuhl auf der andern Seite des Ofens, in trübe Gedanken verloren, sah ins Feuer und warf manchmal einen Blick auf sie.

»Ich muß jetzt gehen«, seufzte sie nach einer Weile und stand auf. »Es ist schon spät, nicht wahr? Sie haben doch kein Mißtrauen mehr gegen mich?«

Als ich ihrem durchdringenden Blick begegnete, konnte ich es nicht übers Herz bringen, ganz offen ja zu sagen.

»Schauen Sie«, sagte sie und nahm meine Hand, um über den Ofenvorsetzer steigen zu können, und sah mir betrübt ins Gesicht, »Sie würden mir sicher nicht mißtrauen, wenn ich ein Weib von natürlicher Größe wäre.«

Ich fühlte, wieviel Wahres in ihren Worten lag, und war beschämt.

»Sie sind ein sehr junger Mann. Nehmen Sie einen Rat von mir an, wenn ich auch nur ein Dreikäsehoch bin! Verbinden Sie bei einem Anblick körperlichen Mangels nie damit die Voraussetzung eines geistigen, wenn Sie nicht sehr guten Grund dazu haben!«

Ich ließ sogleich jeden Argwohn fallen. Ich versicherte, daß ich ihr vollständig vertraue und daß wir beide blinde Werkzeuge in arglistigen Händen gewesen wären. Sie dankte mir dafür und sagte, ich sei ein guter Junge.

»Jetzt geben Sie acht!« rief sie aus, indem sie sich auf dem Weg nach der Tür umdrehte und mich mit emporgehaltnem Zeigefinger schlau ansah. »Ich habe Grund anzunehmen – ich habe so etwas gehört, und meine Ohren sind fein –, daß sie ins Ausland gegangen sind. Wenn sie jemals zurückkehren, einzeln oder zusammen, und ich bin noch am Leben, so kann ich, die ich immerwährend unterwegs bin, ihnen eher als irgendein anderer begegnen. Was auch immer ich erfahre, werde ich Sie wissen lassen. Wenn ich jemals irgend etwas für das arme verführte Mädchen tun kann, so werde ich es, so Gott will, getreulich vollbringen. Und für Littimer wäre es besser, ein Bluthund wäre ihm auf den Fersen als die kleine Mowcher!«

Ich schenkte, als ich den Blick bemerkte, mit dem sie diese Worte sprach, ihrer Versicherung unbedingten Glauben.

»Trauen Sie mir nicht mehr, aber auch nicht weniger zu als einer Frau von natürlicher Größe«, sagte sie und erfaßte bittend meine Hand. »Wenn Sie mich jemals wiedersehen und ich mich wieder so benehme wie damals, so denken Sie daran, in welcher Gesellschaft ich mich befinde. Vergessen Sie nicht, daß ich ein hilf- und wehrloses, kleines Geschöpf bin. Stellen Sie sich mich vor mit einem Bruder oder einer Schwester, die gleich mir Zwerge sind und mit denen ich abends nach geschehener Arbeit beisammen bin. Vielleicht werden Sie dann nicht so sehr zweifeln, daß auch ich ernst und bekümmert sein kann. Gute Nacht!«

Ich gab Miss Mowcher mit einer ganz andern Meinung als früher die Hand und öffnete die Tür, um sie hinauszulassen. Es war keine Kleinigkeit, ihr den großen Regenschirm so in die Hand zu geben, daß er das gehörige Gleichgewicht behielt, aber es gelang mir endlich, und ich sah ihn durch den Regen die Straße hinabschwanken, ohne daß man im geringsten merkte, daß jemand darunter ging, außer wenn ein ungewöhnlich starker Guß aus einer Dachrinne ihn auf die Seite drückte und Miss Mowcher in angestrengtem Bemühen, ihn wieder aufzurichten, sehen ließ. Nach ein oder zwei Ausfällen, die ich zu ihrer Unterstützung machte, die aber jedesmal durch das unbeirrte Weiterhüpfen des Regenschirms unnütz erschienen, begab ich mich wieder in das Haus, ging zu Bett und schlief bis zum Morgen.

Früh kamen Mr. Peggotty und meine alte Kindsfrau zu mir, und wir gingen zusammen auf die Station, wo Mrs. Gummidge und Ham zum Abschied auf uns warteten.

»Masr Davy«, flüsterte Ham und zog mich beiseite, während Mr. Peggotty seinen Ölzeugsack verstaute. »Es ist ganz aus mit ihm. Er weiß nicht, wo er hingeht, er weiß nicht, was vor ihm liegt, er tritt eine Wanderung an bis zum Ende seiner Tage, wenn er nicht findet, was er sucht. Ich weiß, Sie werden sein Freund sein, Masr Davy!«

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte ich und schüttelte ihm ernst die Hand.

»Danke, danke, Sir! Nur noch eins! Ich habe gute Arbeit, das wissen Sie ja, Masr Davy, und weiß jetzt nicht, was ich mit meinem Verdienst anfangen soll. Geld ist für mich von keinem Nutzen mehr. Wenn Sie es für ihn anwenden könnten, würde ich mit leichterem Herzen an die Arbeit gehen. Sie dürfen dabei nicht denken, Sir«, – er sprach dies sehr ruhig und gelassen – »daß ich nicht auch sonst immer wie ein Mann nach besten Kräften arbeiten würde.«

Ich sagte ihm, ich sei davon durchdrungen und deutete sogar auf die Möglichkeit hin, daß er doch einmal noch das einsame Leben, an das er jetzt natürlich immer denken müßte, aufgeben werde.

»Nein, Sir!« Er schüttelte den Kopf. »Damit ists vorbei. Niemand kann den Platz ausfüllen, der leer ist. Aber Sie werden das von dem Geld doch nicht vergessen? Es wird immer etwas für ihn zurückgelegt sein.«

Ich machte Ham darauf aufmerksam, daß doch Mr. Peggotty ein sicheres, wenn auch bescheidenes Einkommen aus der Hinterlassenschaft seines verstorbenen Schwagers beziehe, gab ihm aber zu gleicher Zeit das gewünschte Versprechen. Dann nahmen wir Abschied von einander. Selbst jetzt noch kann ich nicht ohne Schmerz zurückdenken, mit welcher Fassung er seinen tiefen Kummer trug.

Es läßt sich kaum schildern, wie Mrs. Gummidge neben dem Wagen herlief und durch die Tränen, die sie zu unterdrücken suchte, nichts als Mr. Peggotty sah und immer mit den Leuten, die des Weges kamen, zusammenrannte. Sie setzte sich schließlich auf die Türstufe eines Bäckerladens nieder, ganz außer Atem, den Hut bis zur Formlosigkeit zerdrückt und nur einen Schuh an; der andere lag in ziemlicher Entfernung auf dem Pflaster.

Als wir unser Reiseziel erreicht hatten, war unser erster Schritt, uns nach einer kleinen Wohnung für Peggotty, wo auch ihr Bruder schlafen könnte, umzusehen. Wir hatten das Glück, bald eine sehr reinliche und billige, nur zwei Straßen weit von mir oberhalb eines Wachszieherladens, zu finden. Dann kaufte ich etwas kaltes Fleisch in einem Eßwarengeschäft und nahm meine Reisegefährten mit nach Haus zum Tee; ein Schritt, der, wie ich zu meinem Bedauern konstatieren mußte, durchaus nicht Mrs. Crupps Billigung fand. Offenbar fühlte sie sich sehr gekränkt, weil Peggotty, bevor sie noch zehn Minuten bei mir war, ihr Witwenkleid aufschürzte und mein Schlafzimmer auszukehren begann. Das betrachtete Mrs. Crupp als eine Freiheit, die sich Peggotty herausnahm, und sie werde nie gestatten, sagte sie, daß sich irgend jemand etwas herausnähme.

Mr. Peggotty hatte mir während der Reise nach London etwas gesagt, was mir nicht ganz unerwartet kam. Er wollte nämlich vor allen Dingen Mrs. Steerforth aufsuchen. Da ich mich verpflichtet fühlte, ihm darin beizustehen und zwischen den beiden zu vermitteln, andererseits Mrs. Steerforths mütterliche Gefühle soviel wie möglich schonen wollte, so schrieb ich noch am Abend an sie. In so milden Ausdrücken wie möglich teilte ich ihr mit, was ihr Sohn getan, und inwieweit ich selbst die Mitschuld trug. Ich schrieb, daß Mr. Peggotty wohl ein Mann von niederem Stande, aber von redlichster und vornehmster Denkungsweise sei und daß ich zu hoffen wagte, sie werde ihm in seinem schweren Leid eine Zusammenkunft nicht versagen. Ich bestimmte zwei Uhr nachmittags als die Stunde unseres Kommens und schickte den Brief mit der ersten Frühpost ab.

Zur bestimmten Stunde standen wir an der Tür – an der Tür des Hauses, wo ich noch vor wenigen Tagen so glücklich gewesen, wo mein junges Herz so warm und vertrauensvoll geschlagen hatte und das, mir von nun für immer verschlossen, eine Ruine und eine Wüste für mich war.

Kein Littimer zeigte sich. Das angenehme Gesicht, das ich statt des seinigen schon bei meinem letzten Besuch erblickt hatte, erschien auf unser Klopfen und führte uns in den Salon. Dort saß Mrs. Steerforth, Rosa Dartle glitt, als wir eintraten, aus einer Zimmerecke zu ihr und stellte sich hinter ihren Stuhl.

Ich sah sogleich an dem Gesicht der Mutter, daß James ihr selbst alles gesagt hatte. Es war sehr blaß und trug die Spuren einer tiefern Bewegung, als mein Brief, der in ihr gewisse Zweifel zugelassen haben würde, hätte erzeugen können. Sie sah ihm ähnlicher als je. Ich fühlte mehr, als ich es sah, daß diese Ähnlichkeit auch meinem Begleiter nicht entging. Sie saß aufrecht in ihrem Lehnstuhl, mit unbeweglichem, leidenschaftslosem Gesicht, als ob sie nichts aus der Fassung bringen könnte. Sie sah Mr. Peggotty, als er vor ihr stand, sehr fest an, und auch er zuckte mit keiner Wimper. Rosa Dartles scharfer Blick ruhte auf uns allen. Einige Augenblicke lang wurde kein Wort gesprochen.

Mrs. Steerforth bot Mr. Peggotty einen Stuhl an. Er sagte mit leiser Stimme: »Ich würde es für unnatürlich halten, Maam, mich hier in diesem Hause niederzusetzen. Ich möchte lieber stehen bleiben.«

Darauf folgte wieder eine Pause, die Mrs. Steerforth mit den Worten unterbrach:

»Ich weiß zu meinem tiefen Bedauern, was Sie hierher führt. Was wünschen Sie von mir? Was soll ich für Sie tun?«

Er nahm den Hut unter den Arm, zog Emlys Brief aus der Tasche, faltete ihn auf und überreichte ihn ihr.

»Bitte, lesen Sie das, Maam. Er ist von meiner Nichte.«

Sie las den Brief in derselben leidenschaftslosen Weise – ungerührt, wie es schien, von seinem Inhalt – und gab ihn zurück.

»Wenn er mich nicht als seine Gattin zurückbringt«, – sagte Mr. Peggotty und wies mit dem Finger auf die Stelle. »Ich will wissen, Maam, ob er sein Wort halten wird.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es ist unmöglich! Er würde sich damit unheilbar kompromittieren. Sie wissen doch, daß sie weit unter seinem Stande ist.«

»So erheben Sie sie!« sagte Mr. Peggotty.

»Sie hat weder Erziehung noch Bildung.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Mr. Peggotty. »Ich glaube es nicht, Maam, aber ich habe kein Urteil in solchen Dingen. Erziehen Sie sie!«

»Da Sie mich schon zwingen, offner zu reden, was ich sehr ungern tue, so muß ich sagen, daß ihre niedrigen verwandtschaftlichen Beziehungen es unmöglich machen.«

»Hören Sie, Maam«, erwiderte Peggotty leise und ruhig. »Sie wissen, was es heißt, sein Kind zu lieben! Ich weiß es auch! Wenn sie hundertmal mein eignes Kind wäre, könnte ich sie nicht mehr lieben. Sie wissen nicht, was es heißt, sein Kind verlieren. Ich weiß es! Alle Reichtümer der Welt wären mir nicht zu viel, sie zurückzukaufen. Aber retten Sie sie vor der Schmach, und wir werden ihr nie zur Schande gereichen. Keiner von all denen, unter denen sie aufgewachsen ist und denen sie so viele Jahre alles war, soll ihr liebes Gesicht wiedersehen. Wir werden zufrieden sein, an sie denken zu können, als ob sie weit weg von uns unter einem andern Himmel und unter einer andern Sonne wäre; wir werden sie mit ihrem Gatten und – vielleicht – der Sorge für ihre Kleinen allein lassen und die Zeit erwarten, wo wir alle gleich sind vor Gott.«

Seine schlichte Beredsamkeit blieb nicht ohne Wirkung. Mrs. Steerforth behielt ihr stolzes Wesen bei, aber in ihrer Stimme lag eine gewisse Milde, als sie antwortete:

»Ich suche nichts zu beschönigen. Ich erhebe keine Gegenanklage, aber es tut mir leid wiederholen zu müssen, es ist unmöglich. Eine solche Heirat würde die Zukunft meines Sohnes und alle seine Aussichten unwiederbringlich vernichten. Nichts ist gewisser, daß sie nie stattfinden kann und nie stattfinden wird. Wenn ich es auf eine andre Art gutmachen kann –«

»Ich sehe das Ebenbild des Gesichtes vor mir«, unterbrach sie Mr. Peggotty, und seine Augen flammten auf, – »das mich angesehen hat in meinem Haus, an meinem Kamin, in meinem Boot – und wo nicht sonst noch –, lächelnd und freundlich, während er auf Verrat sann, – ich könnte bei dem bloßen Gedanken daran wahnsinnig werden. Wenn das Ebenbild dieses Gesichtes nicht zu brennendem Feuer wird bei dem Einfall, mir für die Schande und das Verderben meines Kindes Geld anzubieten, so ist das schlimm genug. Ich weiß nicht, da ich jetzt doch eine Dame vor mir habe, welcher von beiden Fällen der schlimmere ist.«

Mrs. Steerforths Ausdruck veränderte sich im Augenblick.

Eine jähe Röte überflog ihr Gesicht, und sie sagte heftig, die Armlehnen des Stuhles mit den Fingern umklammernd:

»Und welche Entschädigung können Sie mir geben, daß Sie eine solche Kluft geöffnet haben zwischen mir und meinem Sohn? Was ist Ihre Liebe gegen die meine? Was ist Ihr Verlust gegen den unsern?« Miss Dartle legte leise die Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr etwas zu, aber sie wollte nicht hören.

»Nein, Rosa, kein Wort weiter: Soll er hören, was ich ihm zu sagen habe. Mein Sohn, der der einzige Zweck meines Lebens war, dem jeder meiner Gedanken galt, dem ich jeden Wunsch erfüllte von Kindheit an, von dem ich nie getrennt war seit seiner Geburt, läuft jetzt mit einem elenden Mädchen davon und meidet mich. Er lohnt mein Vertrauen mit systematischer Täuschung ihretwegen und verläßt mich ihretwegen. Er wirft eine tolle Laune in die Waagschale und opfert seine Mutter, seine Pflicht, seine Liebe, seine Dankbarkeit – alle meine Ansprüche an ihn, die jeder Tag und jede Stunde seines Lebens zu immer festeren Banden hätte machen müssen. Ist mir damit vielleicht kein Unrecht zugefügt?«

Abermals bemühte sich Rosa Dartle, sie zu besänftigen, doch umsonst.

»Nicht ein Wort, Rosa, sage ich! Wenn James sein Alles auf das geringste Etwas setzen kann, so kann ich mein Alles auf Wichtigeres setzen. Er mag mit den Mitteln, die ihm meine Liebe gegeben hat, gehen, wohin er will. Glaubt er, er werde durch lange Abwesenheit meinen Sinn brechen, dann kennt er seine Mutter sehr schlecht! Wenn er jetzt noch seine Laune fallenläßt, so soll er mir willkommen sein. Tut er es nicht, so soll er nie lebend oder sterbend in meine Nähe kommen, solange ich meine Hand abwehrend bewegen kann. Ehe er sich nicht von ihr für immer losgesagt hat und mich demütig um Verzeihung bittet, soll er nie mehr in meine Nähe kommen. Das ist mein Recht. Das verlange ich von ihm. Das ist die Kluft, die zwischen uns liegt … Und ist mir damit kein Unrecht geschehen?« setzte sie hinzu und sah Mr. Peggotty mit demselben stolzen, unduldsamen Blick an wie vorhin.

Als ich die Mutter diese Worte sprechen hörte, da war mir, als stünde ihr Sohn vor mir. Seine ganze eigenwillige Starrköpfigkeit sah ich in ihr. Alles, was ich von seiner irregeleiteten Energie kannte, sah ich auch jetzt in ihrem Charakter und begriff, daß er in seinen stärksten Eigenheiten derselbe war.

Sie sagte jetzt zu mir, so maßvoll wie vorhin, daß es nutzlos sei, mehr darüber anzuhören oder zu äußern, und daß sie den Besuch beendigt zu sehen wünsche.

Sie stand mit würdevoller Miene auf, um das Zimmer zu verlassen, als Mr. Peggotty ihr bedeutete, das sei unnötig.

»Befürchten Sie nicht, daß ich Ihnen noch länger lästig fallen werde, denn ich habe nichts weiter zu sagen, Maam«, sprach er und ging langsam zur Tür. »Ich kam ohne Hoffnung hierher und nehme keine mit. Ich habe getan, was ich für meine Schuldigkeit hielt, aber nicht auf Erfolg gerechnet. Dieses Haus ist für mich und die Meinigen zu unheilvoll gewesen, als daß ich vernünftigerweise anderes hätte erwarten können.«

Mit diesen Worten schieden wir, und Mrs. Steerforth blieb, ein Bild vornehmen Wesens, neben ihrem Lehnstuhl stehen.

Wir hatten über einen gepflasterten Vorhof mit gläsernen Wänden und gläsernem Dach, von Reben umrankt, zu gehen. Der Tag war schön, und die nach dem Garten führende Glastür stand offen. Als wir schon nahe dem Ausgang waren, trat Rosa Dartle mit geräuschlosem Schritt an mich heran und sprach:

»Ein schöner Einfall, diesen Menschen herzubringen!« Eines so konzentrierten Ausdrucks von Wut und Verachtung, wie er jetzt ihr Gesicht verdunkelte und in ihren jettschwarzen Augen flammte, hätte ich sie nicht für fähig gehalten. Wie immer bei großen Aufregungen trat die alte Narbe von dem Hammerwurf auffällig hervor. Als das Zucken darin jetzt wieder deutlich wurde, erhob sie die Hand und schlug darauf.

»So, der richtige Bursche, um ihn als Fürsprecher mitzubringen! Sie sind mir ein echter Mann«, sagte sie.

»Miss Dartle, Sie können doch nicht so ungerecht sein, mir die Schuld beizumessen!«

»Warum säen Sie Zwietracht zwischen diesen beiden Wahnsinnigen. Sehen Sie denn nicht, daß sie beide vor Eigenwillen und Stolz verrückt sind?«

»Tue ich denn das?«

»Ja, Sie tun es«, antwortete sie. »Warum bringen Sie diesen Menschen her?«

»Es hat ihn ins Herz getroffen, Miss Dartle. Sie wissen es vielleicht nicht.«

»Ich weiß, daß James Steerforth«, sagte sie und legte die Hand auf die Brust, wie um einen Sturm, der darin raste, niederzuhalten, »ein verderbtes Herz hat und ein Verräter ist. Aber was geht mich dieser Mensch da an und seine ordinäre Nichte.«

»Miss Dartle!« sagte ich. »Sie machen das Unrecht nur noch schlimmer. Es ist genug jetzt. Ich will nur noch das eine zum Abschied sagen, daß Sie ihm sehr unrecht tun.«

»Ich tue ihm kein Unrecht. Es ist ein schlechtes, nichtswürdiges Pack. Ich wollte, ich könnte diese Leute auspeitschen lassen.«

Mr. Peggotty ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihr vorüber und zur Türe hinaus.

»Pfui, Miss Dartle, pfui!« sagte ich entrüstet. »Wie können Sie seinen unverdienten Schmerz so mit Füßen treten!«

»Ich möchte sie alle mit Füßen treten. Ich möchte sein Haus niederreißen lassen, und sie möchte ich brandmarken auf der Stirne, sie in Lumpen kleiden und auf die Straße werfen, daß sie verhungert! Wenn ich zu richten hätte, so müßte ich sie so sehen. Ja, mit eigner Hand würde ich es tun. Ich verabscheue sie! Wenn ich ihr jemals ihre Schande vorwerfen könnte, ich würde es tun, wo immer es ist. Wenn ich sie zu Tode hetzen könnte, würde ichs tun. Und wenn ein einziges Wort des Trostes ihr eine Erquickung in ihrer Sterbestunde wäre, und nur ich könnte es sagen, so würde ich es verschweigen, und wenn es mir das Leben kostete.«

Die Worte allein gaben nur ein schwaches Abbild von dem Haß, der sie erfüllte und der sich in ihrer ganzen Gestalt und in ihrer verhaltenen Stimme verriet. Ich habe Leidenschaft in mancherlei Form gesehen, aber niemals mehr als in dieser.

Als ich Mr. Peggotty wieder einholte, ging er langsam und nachdenklich den Hügel hinab. Er wolle noch heute abend, jetzt, wo er alles in London erledigt, was er sich vorgenommen, seine Reise antreten. »Ich will meine Nichte suchen«, sagte er.

Wir gingen in die bescheidne Wohnung über dem Wachszieherladen, und ich sprach mit seiner Schwester über seine Absicht. Sie wußte von seinem Reiseziel nicht mehr als ich und glaubte, er habe bereits einen festen Plan im Sinn.

Ich wollte ihn in seiner Verfassung nicht allein lassen, und wir aßen alle drei zusammen eine Beefsteak-Pastete – eine der vielen guten Dinge, die Peggotty ausgezeichnet zu bereiten verstand. Nach dem Essen saßen wir ein paar Stunden ziemlich wortkarg am Fenster, dann stand Mr. Peggotty auf, holte seinen Reisesack und seinen derben Stock herbei und legte beides auf den Tisch. Er nahm von dem Bargeld seiner Schwester eine kleine Summe als Abschlag auf seine Erbschaft an, so wenig, daß es meines Erachtens kaum auf einen Monat reichen konnte. Er versprach mir zu schreiben, wenn ihm etwas zustieße, hängte sich den Reisesack um, nahm Hut und Stock und sagte uns beiden Lebewohl.

»Und allen Segen auf dein Haupt, meine gute Alte!« sagte er und umarmte Peggotty, »und auf Ihres, Masr Davy«, setzte er hinzu, mir die Hand schüttelnd. »Ich will sie suchen nah und fern. Wenn sie zurückkommen sollte, während ich abwesend bin – es wird wohl nicht der Fall sein –, oder wenn ich sie zurückbringen kann, dann will ich mit ihr leben und sterben, wo niemand ihr Vorwürfe machen darf. Wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren, ›meine unveränderte Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr‹.«

Er sprach die Worte feierlich und mit entblößtem Haupt. Dann setzte er den Hut auf und ging fort. Wir begleiteten ihn bis ans Haustor. Es war ein warmer staubiger Abend und um eine Stunde, wo in der großen Verkehrsstraße, in die das Nebengäßchen mündete, vorübergehend Stille in dem ewigen Geräusch der Schritte auf dem Pflaster eintrat und die Sonne rot und abendlich glänzte. Er bog um die Ecke in ein Lichtmeer, in dem wir ihn bald aus den Augen verloren.

Oft in solchen Abendstunden mußte ich an ihn auf seiner mühevollen Pilgerfahrt und an seine Worte denken: »Ich werde sie suchen, nah und fern, und wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren: ›Meine unwandelbare Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr.‹«

41. Kapitel Doras Tanten


41. Kapitel Doras Tanten

Endlich kam eine Antwort von den beiden alten Damen. Sie empfahlen sich bestens Mr. Copperfield und ließen ihm sagen, daß sie seinen Brief in reiflichste Erwägung gezogen hätten, und zwar mit Rücksicht auf »das Glück beider Teile«.

Der Ausdruck kam mir recht beunruhigend vor, nicht nur, weil sie ihn schon einmal bei ihrer Zwistigkeit mit ihrem Bruder gebraucht, sondern auch, weil bekanntlich herkömmliche Phrasen wie ein Feuerwerk sind, das leicht losgeht und die verschiedensten Gestalten und Formen annimmt, die man seinem ursprünglichen Aussehen nach nie vermutet hätte.

Die beiden Misses Spenlow fügten hinzu, sie müßten sich enthalten, auf »brieflichen Verkehr« hin ein Urteil über den Gegenstand von Mr. Copperfields Mitteilungen auszusprechen, aber daß sie sich glücklich schätzen würden, mit Mr. Copperfield über diesen Punkt persönlich zu sprechen, wenn er ihnen an einem bestimmten Tage, am liebsten in Begleitung eines vertrauenswürdigen Freundes, die Ehre seines Besuches erweisen wollte.

Auf dieses wertgeschätzte Schreiben antwortete Mr. Copperfield sofort mit der größten Ergebenheit, daß er sich die Ehre nehmen werde, an dem bestimmten Tag den Misses Spenlow seine Aufwartung zu machen, und zwar mit ihrer gütigen Erlaubnis in Gesellschaft seines Freundes Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium.

Nach Absendung dieser Botschaft geriet Mr. Copperfield in die größte Gemütserregung und verblieb in derselben, bis der Tag gekommen war.

 

Meine Bedrängnisse wurden nicht wenig dadurch vermehrt, daß ich in dieser Krisis die unschätzbaren Dienste der Miss Mills entbehren mußte. Mr. Mills, der mir immer etwas zum Tort tat – wenigstens schien es mir so –, hatte seinem Benehmen die Krone aufgesetzt und den Entschluß gefaßt nach Ostindien zu reisen. Was wollte er in Indien! Nur mir zum Verdruß fuhr er nach Indien! Allerdings hatte er mit keinem andern Weltteil so viel zu tun wie mit diesem, denn er ging ganz im indischen Handel auf. Ich wußte weiter nichts vom indischen Handel und machte mir so eine phantastische Vorstellung von goldnen Schals und Elefantenzähnen.

Mr. Mills war in seiner Jugend in Kalkutta gewesen und wollte sich jetzt dort als Teilhaber eines Handelshauses niederlassen. Aber was ging das mich an! Julia sollte mit ihm gehen und war über Land gefahren, um von ihren Verwandten Abschied zu nehmen. Das Haus trug förmlich einen Mantel von Anzeigen, auf denen stand, was alles vermietet, verkauft oder versteigert werden sollte (auch der Hausrat, die Mangel mit eingeschlossen!).

So wurde ich abermals das Opfer eines Erdbebens, ehe ich mich noch von den Erschütterungen des ersten erholt hatte.

Ich schwankte, was ich an diesem wichtigen Tage anziehen sollte. Einesteils wollte ich einen möglichst vorteilhaften Eindruck machen, andererseits befürchtete ich etwas anzuziehen, was das Streng-Praktische meines Aussehens in den Augen der beiden Misses Spenlow hätte beeinträchtigen können. Ich bemühte mich, einen glücklichen Mittelweg ausfindig zu machen. Meine Tante billigte den Anzug, und Mr. Dick warf mir der guten Vorbedeutung wegen einen Schuh nach.

Ich kannte Traddles als vortrefflichen Freund und war ihm herzlich zugeneigt. Dennoch hätte ich bei dieser delikaten Gelegenheit gewünscht, daß er sich nie gewöhnt hätte, sein Haar so unglaublich in die Höhe zu bürsten. Es gab ihm ein so verwundertes Aussehen – ich möchte fast sagen, etwas Besenhaftes –, was, wie ich fürchtete, uns zum Unglück ausschlagen könnte.

Ich nahm mir die Freiheit, Traddles auf dem Wege nach Putney darauf aufmerksam zu machen und ihn zu bitten, ob er es nicht nur ein ganz klein wenig glattstreichen wollte.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, indem er den Hut abnahm und sein Haar in allen Richtungen rieb, »nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, aber es will nicht.«

»Es will sich nicht glätten lassen?«

»Nein. Es läßt sich durch nichts dazu bewegen. Und wenn ich den ganzen Weg nach Putney einen halben Zentner drauf trüge, so würde es sich in demselben Augenblick wieder aufrichten, in dem man das Gewicht entfernt. Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie eigenwillig mein Haar ist, Copperfield! Ich sehe immer aus wie ein gereiztes Stachelschwein.«

Ich muß gestehen, ich war ein wenig verdrießlich, obgleich mich seine Gutherzigkeit versöhnte. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte, und daß sein Haar offenbar allen Eigensinn aus seinem Charakter an sich gezogen haben müßte, da er so gar keine Spur davon besitze.

»Ja, das ist eine alte Geschichte mit meinem unglückseligen Haar«, lachte Traddles. »Die Frau meines Onkels konnte es schon nicht ausstehen. Sie sagte, es brächte sie zur Verzweiflung. Auch bei meiner Werbung um Sophie war es mir anfangs sehr hinderlich. Sogar außerordentlich.«

»Hatte sie etwas dagegen?«

»Sie nicht, aber ihre älteste Schwester – die Schönheit – machte sich immer darüber lustig. Alle Schwestern lachen darüber.«

»Recht angenehm!« meinte ich.

»Ja«, bestätigte Traddles mit größter Harmlosigkeit. »Es ist für uns alle ein wahrer Spaß. Sie behaupten, Sophie besäße eine Locke davon in ihrem Schreibtisch und habe an dem Buch ein Schloß anbringen müssen, da es sonst nicht zuginge. Wir scherzen immer darüber.«

»Übrigens, lieber Traddles, vielleicht könnte deine Erfahrung mir von Nutzen sein. Als du dich verlobtest, machtest du da in der Familie einen regelrechten Heiratsantrag? Kam so etwas vor, wie wir zum Beispiel heute vorhaben?« fragte ich nervös.

»Die Wahrheit zu gestehen«, entgegnete Traddles, über dessen aufmerksames Gesicht sich jetzt ein Schatten von Nachdenklichkeit verbreitete, »war es bei mir eine ziemlich unangenehme Geschichte, Copperfield. Siehst du, Sophie ist für die Familie so unentbehrlich, daß niemand sich mit dem Gedanken, sie könne jemals heiraten, vertraut machen wollte. Sie hatten es geradezu unter sich abgemacht, daß sie niemals heiraten dürfte, und nannten sie nur die alte Jungfer. Als ich es daher mit der größten Vorsicht gegen Mrs. Crewler zur Sprache brachte – der Vater ist Reverend Horace Crewler –, schrie sie laut auf und fiel in Ohnmacht. Monatelang durfte ich das Thema nicht wieder berühren.«

»Aber endlich brachtest du es doch wieder zur Sprache?«

»Das tat Seine Ehrwürden selbst. Er ist ein ganz vortrefflicher Mann, musterhaft in jeder Hinsicht und er hielt seiner Gattin vor, daß sie sich als Christin mit dem Gedanken an das Opfer versöhnen müsse – um so mehr, als es ungewiß sei – und kein unchristliches Gefühl gegen mich hegen dürfte. Was mich betrifft, Copperfield, ich gebe dir mein Wort, ich kam mir der Familie gegenüber wie ein Raubvogel vor.«

»Aber die Schwestern nahmen doch deine Partei, hoffe ich, Traddles?«

»Nun, das kann ich gerade nicht sagen. Als wir Mrs. Crewler so halb und halb versöhnlich gestimmt hatten, mußten wir es Sara beibringen. Du weißt wohl noch, – Sara, die am Rückenmark leidet.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie ballte beide Hände«, sagte Traddles, »sah mich zornig an, schloß die Augen, wurde bleifarben, dann ganz steif und genoß zwei Tage lang nichts als teelöffelweise Toast mit Wasser.«

»Was für ein unliebenswürdiges Mädchen, Traddles.«

»O nein. Ich bitte um Entschuldigung, Copperfield. Sie ist ein ganz entzückendes Mädchen und hat nur zu viel Gefühl. Das haben sie überhaupt alle! Sophie gestand mir später, daß die Selbstvorwürfe, die sie sich gemacht, als sie Sara pflegte, unbeschreiblich gewesen seien. Daß sie schmerzlich gewesen sein mußten, verrieten mir meine eignen Empfindungen, Copperfield, die denen eines Verbrechers glichen. Als Sara von dem Schlag wieder genesen war, hatten wir es noch den andern acht beizubringen, und es brachte auf sie die verschiedenartigsten Wirkungen rührendster Art hervor. Die beiden Kleinen, die Sophie erzieht, haben erst vor kurzem aufgehört mich zu verabscheuen.«

»Hoffentlich haben sie sich jetzt vollständig damit ausgesöhnt?«

»J-ja«, gab Traddles zögernd zu. »Im großen ganzen scheinen sie sich darein ergeben zu haben. Wir sprechen weiter nicht von der Sache, und die Ungewißheit meiner Aussichten ist für sie alle ein großer Trost. Wenn wir einmal heiraten, wird es eine klägliche Szene geben. Sie wird einem Leichenbegängnis eher ähnlicher sehen als einer Hochzeit. Und hassen werden sie mich alle, wenn ich sie mit fortnehme.«

Sein ehrliches Gesicht, wie er halb ernst, halb komisch den Kopf schüttelte, macht jetzt in der Erinnerung einen größern Eindruck auf mich als damals in Wirklichkeit, denn ich war in einen Zustand so übermäßiger Angst und Gedankenflucht geraten, daß ich meine Aufmerksamkeit nicht lange auf ein und denselben Gegenstand richten konnte. Als wir in die Nähe der Wohnung der Misses Spenlow kamen, stand es mit meinem Aussehen und meiner Geistesgegenwart so schlimm, daß Traddles ein Glas Ale als sanftes, mutbildendes Mittel in Vorschlag brachte. Nachdem ich einige Schlucke in einem benachbarten Wirtshaus genossen, ging ich, von ihm geleitet, schwankenden Schrittes zu den Misses Spenlow.

Ich hatte die unbestimmte Empfindung beobachtet zu werden, als das Mädchen die Tür öffnete und ich durch eine Vorhalle mit einem Wetterglas in ein stilles kleines Parterrezimmer mit der Aussicht auf einen niedlichen Garten wankte. Es kam mir so vor, als setzte ich mich auf ein Sofa, glaubte Traddles Haar, wie er seinen Hut abnahm, aufschnellen zu sehen gleich einer der gewissen kleinen Schreckfiguren, die aus Schnupftabakzauberdosen hervorspringen. Ich glaube, ich hörte eine altmodische Uhr auf dem Kaminsims ticken, und versuchte, das Geräusch mit meinem Herzklopfen in Takt zu bringen, aber es gelang nicht. Ich sah mich, glaube ich, im Zimmer nach einem Zeichen von Doras Anwesenheit um und erblickte nichts. Mir scheint, Jip bellte einmal in der Ferne und wurde sofort von jemand beschwichtigt.

Zuletzt fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich Traddles rücklings in den Kamin drängte und mich in großer Verwirrung vor zwei vertrockneten ältlichen Damen verbeugte, die, schwarz gekleidet, auch in ihrem übrigen Aussehen lebhaft an den verstorbenen Mr. Spenlow erinnerten.

»Ich bitte«, sagte eine der beiden kleinen Damen, »nehmen Sie Platz.«

Als ich aufgehört hatte, über Traddles zu stolpern, und mich auf etwas gesetzt hatte – es war keine Katze, wie das erste Mal –, hellten sich meine Augen wenigstens so weit auf, um sehen zu können, daß die jüngere der beiden Schwestern, die sechs bis acht Jahre älter als Mr. Spenlow sein mochten, mit der Leitung der Konferenz beauftragt zu sein schien, denn sie hielt meinen Brief in der Hand und betrachtete ihn von Zeit zu Zeit durch ein Augenglas.

Beide waren gleich gekleidet, aber diese Dame trug sich etwas jugendlicher; ein wenig mehr Fransen, eine Brosche oder ein Armband oder andere Kleinigkeiten der Art verliehen ihr ein etwas lebhafteres Aussehen. Beide hielten sich sehr steif, waren zeremoniell, gefaßt und ruhig. Die ältere hatte die Arme verschränkt und saß da wie ein Götzenbild.

»Mr. Copperfield vermute ich«, sagte die Schwester mit dem Brief zu Traddles.

Das war ein schrecklicher Anfang. Traddles mußte auseinandersetzen, daß ich Mr. Copperfield wäre, stellte mich vor, und die Damen hatten sich von ihrer vorgefaßten Meinung, Traddles sei Mr. Copperfield, freizumachen, und alles war in trefflicher Konfusion. Um das Maß vollzumachen, hörte man Jip draußen deutlich bellen und wieder beschwichtigt werden.

»Mr. Copperfield!« wandte sich jetzt die Schwester mit dem Brief an mich.

Ich tat irgend etwas – verbeugte mich vermutlich – und war ganz Ohr, als die andere Dame einfiel:

»Meine Schwester Lavinia, die in Dingen dieser Art bewandert ist, wird klarlegen, was wir zur Förderung des Glückes beider Teile für das Geeignetste erachten.«

Ich entdeckte später, daß Miss Lavinia als Autorität in Herzensangelegenheiten galt, weil früher einmal ein gewisser Mr. Pidger im Hause einen kurzen Whist gespielt und sich angeblich dabei in sie verliebt haben sollte.

Meiner Meinung nach war dies eine willkürliche Annahme gewesen, denn Mr. Pidger hatte niemals ein Wort darüber verlauten lassen. Aber Miss Lavinia und Miss Clarissa lebten in dem Glauben, er sei nur deshalb von einer Liebeserklärung abgehalten worden, weil er durch den Tod in der Blüte seiner Jahre, nämlich im sechzigsten, infolge übermäßigen Trinkens und darauffolgenden massenhaften Genusses der Heilquellen von Bath, der Welt entrissen wurde. Sie hegten den Verdacht, er sei an unterdrückter Liebe gestorben. Sein Porträt im Hause stellte ihn mit einer leuchtendroten Nase dar, und ich vermochte darin nicht das Zeichen heimlicher Liebesleidenschaft zu sehen.

»Wir wollen nicht von der Vergangenheit sprechen«, sagte Miss Lavinia. »Der Tod unseres armen Bruders Francis enthebt uns dessen.«

»Wir standen mit unserm Bruder Francis nicht in häufigem Verkehr«, unterbrach Miss Clarissa, »aber ausgesprochene Uneinigkeit herrschte nie zwischen uns. Francis schlug seinen Weg ein, und wir den unsrigen. Wir erachteten das für das Glück aller Beteiligten als das beste. Und das war es auch.«

Jede der beiden Schwestern bog sich stets ein wenig beim Sprechen vor, nickte dann und saß wieder steif aufrecht, wenn sie schwieg. Miss Clarissa bewegte die Arme nie. Manchmal trommelte sie mit ihren Fingern – Menuette und Märsche, wie es schien.

»Die Lage unserer Nichte oder besser gesagt, ihre vermeintliche Lage, hat sich durch das Ableben unseres Bruders Francis sehr verändert«, sagte Miss Lavinia, »und deshalb erachten wir die Meinung unseres Bruders über ihre Lage ebenfalls für verändert. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, Mr. Copperfield, daß Sie ein junger Gentleman von guten Eigenschaften und ehrenwertem Charakter sind, noch auch, daß Sie eine Neigung – wenigstens Ihrer Überzeugung nach – zu unserer Nichte gefaßt haben.«

Ich erwiderte wie immer, wenn sich Gelegenheit dazu bot, daß noch nie ein Mensch so geliebt habe wie ich. Traddles kam mir mit einem bekräftigenden Gemurmel zu Hilfe.

Miss Lavinia wollte fortfahren, aber Miss Clarissa, immerwährend von dem Verlangen beseelt, über ihren Bruder Francis zu sprechen, fiel ihr ins Wort:

»Wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis festgestellt hätte, daß für die Familie kein Platz am Mittagstisch sei, wäre es für das Glück aller Beteiligten besser gewesen!«

»Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia. »Vielleicht brauchen wir davon jetzt nicht zu sprechen.«

»Liebe Schwester Lavinia, es gehört zur Sache! In den Teil der Angelegenheit, von dem du allein zu sprechen berechtigt bist, nehme ich mir nicht heraus dreinzureden. Aber in dem eben erwähnten habe ich eine Stimme und eine Meinung. – Es wäre besser gewesen für das Wohl aller Beteiligten, wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis ihre Ansicht offen herausgesagt hätte. Wir wären informiert gewesen und hätten gesagt: Bitte, dann ladet uns überhaupt nicht ein, und jede Möglichkeit eines Mißverständnisses wäre unterblieben.«

Als Miss Clarissa mit Kopfnicken fertig war, fing Miss Lavinia wieder an, nachdem sie meinen Brief abermals durch ihr Augenglas betrachtet hatte.

Sie hatten beide kleine, helle, runde, funkelnde Augen und überhaupt ganz das Wesen von lebhaften, putzigen, federschüttelnden Kanarienvögeln.

Miss Lavinia fuhr also fort:

»Sie bitten meine Schwester und mich um Erlaubnis, Mr. Copperfield, als erklärter Bewerber unserer Nichte hier verkehren zu dürfen.«

»Wenn unser Bruder Francis«, fiel Miss Clarissa ein, »sich schon mit einer Atmosphäre von Doctors‘ Commons und nur von Doctors‘ Commons zu umgeben wünschte, wie konnten wir etwas dagegen einwenden? Wir hatten kein Recht dazu und sind immer weit entfernt gewesen, uns jemand aufdrängen zu wollen. Aber warum sagte er es nicht offen heraus? Unser Bruder Francis und seine Gattin sollen sich ihre Gesellschaft ruhig aussuchen. Meine Schwester Lavinia und ich finden unsern Verkehr auch ohne ihn, hoffe ich.«

Da sie sich mit diesen Worten an Traddles und mich zu wenden schien, gaben sowohl er als ich eine Art Antwort. Traddles Worte waren unhörbar. Ich glaube, ich äußerte mich, daß es für alle Teile höchst ehrenvoll sei. Was ich damit sagen wollte, wußte ich selbst nicht.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, die jetzt ihr Herz erleichtert hatte, »bitte weiter.«

Miss Lavinia fuhr fort:

»Mr. Copperfield, meine Schwester Clarissa und ich haben Ihren Brief in sorgfältigste Erwägung gezogen und haben es nicht getan, ohne auch schließlich mit unserer Nichte darüber zu sprechen. Wir bezweifeln nicht, daß Sie sie sehr zu lieben glauben.«

»O, glauben! Maam«, hob ich ganz begeistert an. »O –«

Aber da mir Miss Clarissa einen vogelartigen Blick zuwarf, als wolle sie nicht, daß ich das Orakel unterbräche, so bat ich um Verzeihung.

»Liebe«, sagte Miss Lavinia und ersuchte ihre Schwester mit einem Blick um Beistimmung, die diese auch mit einem Kopfnicken nach jedem Satz erteilte, »Liebe, gereifte Zuneigung, Hingebung, Verehrung sprechen nicht mit lautem Ton! Ihre Stimmen sind leise. Sie sind bescheiden, liegen sozusagen im Hinterhalt und warten und warten. So sind die gereiften Früchte. Manchmal gleitet ein Leben hinweg, und immer noch reifen sie im Schatten.«

Natürlich verstand ich damals noch nicht diese Anspielung auf den unglücklichen Mr. Pidger, aber ich erkannte aus dem Ernst, mit dem Miss Clarissa mit dem Kopf nickte, daß Großes in diesen Worten verborgen lag.

»Die leichten – denn ich nenne sie im Vergleich mit solchen Empfindungen leicht – die leichten Neigungen der ganz jungen Leute«, fuhr Miss Lavinia fort, »sind dagegen wie Staub, verglichen mit Felsen. Weil es nun so schwer ist zu erkennen, ob sie von Dauer sind oder auf echtem Grunde stehen, waren meine Schwester Clarissa und ich lange unentschlossen, Mr. Copperfield, und Mr. –«

»Traddles«, ergänzte mein Freund, als er den Blick der Dame auf sich ruhen fühlte.

»Ich bitte um Entschuldigung. Vom innern Juristenkollegium, glaube ich?« Sagte Miss Clarissa und sah wieder in den Brief.

»So ist es«, bestätigte Traddles und wurde ziemlich rot.

Obwohl ich bisher noch keinerlei Aufmunterung zu hören bekommen hatte, so glaubte ich doch in den beiden kleinen Schwestern und vornehmlich in Miss Lavinia eine große Neigung zu erkennen, dieses neue vielversprechende Thema häuslichen Interesses zu genießen und nach Möglichkeit auszuspinnen, was mir ziemlich viel Hoffnung erweckte. Mir schien es, als ob Miss Lavinia außerordentliche Lust darin fände, zwei junge Liebende wie Dora und mich am Gängelbande zu führen, und es Miss Clarissa nicht weniger Genuß bereitete, diese Leitung mitanzusehen und sich in ihrer Art einzumischen, je nachdem sie der Geist dazu trieb.

Die Wahrnehmung flößte mir den Mut ein auf das lebhafteste zu beteuern, daß ich Dora mehr liebe, als ich sagen könnte; daß alle meine Freunde wüßten, wie sehr es der Fall sei; daß meine Tante, Agnes, Traddles und jeder, der mich kenne, wüßten, wie sehr ich Dora liebte und wie ernst mich diese Liebe gemacht hätte. Zur Bestätigung wandte ich mich immer an Traddles. Und Traddles wurde so lebhaft, als ob er mitten in einer parlamentarischen Debatte stünde, und benahm sich geradezu großartig. Er bestätigte meine Rede in festen, klaren Worten und mit einer einfachen, verständigen Art, die offenbar einen günstigen Eindruck machte.

»Ich spreche wie jemand, der eine gewisse Erfahrung in solchen Dingen hat«, sagte Traddles, »denn ich selbst bin mit einer jungen Dame verlobt – einer von zehn Schwestern unten in Devonshire – und sehe bis jetzt noch keine Möglichkeit, wann unser Brautstand zu einem Abschluß kommen kann.«

»Sie werden also gewiß bestätigen können, Mr. Traddles, was ich vorhin sagte von der Liebe, die bescheiden und zurückhaltend wartet und wartet«, bemerkte Miss Lavinia, meinen Freund mit erneutem Interesse ansehend.

»Vollkommen, Maam!«

Miss Clarissa warf Miss Lavinia einen Blick zu und nickte ernst mit dem Kopf. Miss Lavinia erwiderte den Blick mit Selbstbewußtsein und seufzte leise.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, »nimm mein Riechfläschchen.«

Miss Lavinia belebte sich mit ein paar Zügen an dem Fläschchen, während Traddles und ich mit großer Teilnahme zusahen, und fuhr dann mit etwas schwacher Stimme fort:

»Meine Schwester und ich haben lange geschwankt, Mr. Traddles, was wir angesichts der Neigung – der vielleicht bloß eingebildeten Neigung – von zwei so ganz jungen Leuten, wie Ihr Freund Mr. Copperfield und unsere Nichte sind, tun sollten.«

»Unseres Bruders Francis Kind!« fiel Miss Clarissa wieder ein. »Wenn unseres Bruders Francis Gattin es zu ihren Lebzeiten für passend gefunden hätte – sie konnte doch selbstverständlich ganz nach Belieben handeln –, die Familie zu ihrer Mittagstafel einzuladen, so würden wir unseres Bruders Francis Kind gegenwärtig besser kennen. Liebe Schwester Lavinia, bitte weiter.«

Miss Lavinia drehte meinen Brief um und blickte durch ihr Augenglas auf ein paar Notizen, die sie dort aufgeschrieben hatte.

»Ich glaube, wir tun gut, Mr. Traddles, es auf eine Beobachtungsprobe ankommen zu lassen. Deshalb sind wir geneigt, insoweit auf Mr. Copperfields Vorschlag einzugehen, daß wir seine Besuche hier gestatten.«

»Niemals werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, meine verehrten Damen!« rief ich. Es war mir ein Stein vom Herzen gefallen.

»Aber«, fuhr Miss Lavinia fort, »wir wünschen, daß diese Besuche vorderhand so angesehen werden, Mr. Traddles, als ob sie uns gälten. Wir müssen uns hüten, eine formelle Verlobung zwischen Mr. Copperfield und unserer Nichte anzuerkennen, ehe wir nicht Gelegenheit gehabt haben –«

»Ehe du nicht Gelegenheit gehabt hast, liebe Schwester Lavinia!«

»Sei es«, stimmte Miss Lavinia mit einem Seufzer bei. »Ehe ich nicht Gelegenheit gehabt habe sie zu beobachten.«

»Copperfield«, wandte sich Traddles zu mir, »du siehst gewiß ein, daß nichts verständiger oder billiger sein kann.«

»Nichts!« rief ich aus. »Ich bin unendlich dankbar dafür.«

»Bei dieser Sachlage«, fuhr Miss Lavinia fort und zog weiter ihre Notizen zu Rate, »und da wir seine Besuche unter einer andern Bedingung nicht gestatten können, müssen wir von Mr. Copperfield die bestimmte Zusage auf Ehrenwort verlangen, daß er mit unserer Nichte in keiner andern Weise und ohne unser Wissen in Verkehr tritt, – daß kein Plan, wie beschaffen er auch immer sei, in bezug auf unsere Nichte entworfen wird, ohne daß man ihn zuerst uns unterbreitet.«

»Dir, Schwester Lavinia!«

»Sei es so, Clarissa, –« sagte Miss Lavinia mit Resignation, »– also mir! Wir müssen dies zu einer ausdrücklichen und ernstlichen Bedingung machen, die um keinen Preis verletzt werden darf. Wir wünschten Mr. Copperfield heute mit einem vertrauten Freunde bei uns zu sehen«, – mit einer Verbeugung gegen Traddles, der sie erwiderte, – »damit über diese Sache kein Zweifel oder Mißverständnis entsteht. Wenn Mr. Traddles oder Sie, Mr. Copperfield, den mindesten Anstand nehmen dieses Versprechen zu geben, so bitte ich Sie, sich die Sache erst zu überlegen.«

In höchster Begeisterung rief ich aus, daß keine Sekunde Überlegung nötig sei. Ich legte das verlangte Versprechen in der leidenschaftlichsten Weise ab, rief Traddles zum Zeugen an und nannte mich den verabscheuungswürdigsten Menschen, wenn ich es jemals auch nur im mindesten verletzte.

»Halt!« rief Miss Lavinia und hielt abwehrend die Hand empor. »Ehe wir das Vergnügen hatten die beiden Herren zu empfangen, beschlossen wir, sie zur Erwägung dieses Punktes eine Viertelstunde allein zu lassen. Gestatten Sie, daß wir uns zurückziehen.«

Vergebens beteuerte ich, daß keine Überlegung notwendig sei. Die Damen bestanden darauf, sich auf eine Viertelstunde zu entfernen.

Dann hüpften die beiden kleinen Vögel mit großer Würde hinaus und ließen mich mit Traddles im Zimmer zurück.

Ich nahm die Glückwünsche meines Freundes entgegen und schwebte in einem Gefühl, als wäre ich in die Regionen ewiger Glückseligkeit versetzt. Genau nach Ablauf einer Viertelstunde traten die Damen mit Würde wieder ein. Sie waren fortgerauscht, als ob ihre Kleider aus Herbstblättern bestünden, und rauschten in derselben Weise wieder herein.

Ich verpflichtete mich feierlich von neuem, an den vorgeschriebenen Bedingungen festzuhalten.

»Liebe Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia, »das Übrige ist deine Sache.«

Miss Clarissa löste jetzt zum ersten Mal ihre verschränkten Arme, ergriff den Brief und warf einen Blick auf die Notizen.

»Wir werden uns glücklich schätzen«, sagte sie, »Mr. Copperfield jeden Sonntag zum Essen bei uns zu sehen, wenn es ihm paßt. Wir speisen um drei Uhr.«

Ich verbeugte mich.

»Im Lauf der Woche«, fuhr Miss Clarissa fort, »werden wir uns glücklich schätzen, Mr. Copperfield beim Tee zu sehen. Unsere Stunde ist halb sieben.«

Ich verbeugte mich abermals.

»Zweimal in der Woche als Regel, nicht öfter.«

Ich verbeugte mich wiederum.

»Miss Trotwood, von der in Mr. Copperfields Briefe Erwähnung geschieht, wird uns vielleicht auch besuchen. Wenn Besuche für das Glück aller Beteiligten angezeigt erscheinen, empfangen wir gern Besuche und erwidern sie auch. Wenn es besser ist für das Glück aller Beteiligten, daß keine stattfinden – wie es bei unserm Bruder Francis und seiner Familie der Fall war –, so ist das etwas ganz anderes.«

Ich beteuerte, daß meine Tante sich stolz und glücklich schätzen würde, die Bekanntschaft der Damen zu machen, – obgleich ich nicht ganz sicher war, daß sie gut zusammenpassen würden. Da die Bedingungen jetzt festgestellt waren, sprach ich meinen Dank in der wärmsten Weise aus und ergriff zuerst Miss Clarissas und hierauf Miss Lavinias Hand und drückte sie an die Lippen.

Miss Lavinia stand dann auf, bat Mr. Traddles, uns einen Augenblick zu entschuldigen, und forderte mich auf, ihr zu folgen. Ich gehorchte zitternd vor Aufregung und trat mit ihr in das anstoßende Zimmer. Dort fand ich meinen kleinen Liebling hinter der Tür, sich die Ohren zuhaltend und das liebliche Gesichtchen der Wand zugekehrt, während Jip im Tellerwärmer saß, den Kopf mit einem Handtuch zugebunden.

O, wie schön war sie in ihrem schwarzen Hauskleid! Wie schluchzte sie anfangs und weinte und wollte nicht hinter der Türe hervor. Und wie lieb wir einander hatten, als sie endlich hervorkam, und wie selig ich war, als wir Jip aus dem Tellerwärmer herausholten und ihn, stark niesend, dem Lichte wieder schenkten und dann alle drei beisammen saßen.

»Liebste Dora! Jetzt bist du für immer mein!«

»O, bitte nicht«, flehte Dora, »bitte.«

»Bist du denn nicht für immer mein, Dora?«

»O ja, natürlich! Aber ich bin so erschrocken.«

»Erschrocken, mein Herz?«

»O ja. Ich kann ihn nicht ausstehn. Warum geht er nicht fort.«

»Wer denn, Herzensschatz?«

»Dein Freund. Es geht ihn doch gar nichts an! Wie dumm er sein muß!«

»Aber liebe Dora« – nichts konnte entzückender sein als ihre kindische Art – »er ist das beste Geschöpf von der Welt.«

»Aber wir brauchen keine besten Geschöpfe«, schmollte Dora.

»Du wirst ihn bald besser kennenlernen, Liebling, und er wird dir gefallen. Und meine Tante kommt auch bald her, und auch an ihr wirst du viel Gefallen finden, sobald du sie näher kennst.«

»O, bitte nein, bringe sie nicht her«, sagte Dora, gab mir schnell und erschrocken einen Kuß und faltete die Hände. »O, bitte nicht! Ich weiß, sie ist eine böse, Unheil stiftende, alte Frau. Bringe sie nicht her –, Doady!« was eine Abkürzung für David sein sollte.

Ich sah wohl, Vorstellungen halfen jetzt nichts. So lachte ich und war sehr verliebt und sehr glücklich. Sie zeigte mir Jips neuestes Kunststück, wie er in einer Ecke auf den Hinterbeinen stehen konnte; – er tat es etwa so lange, wie ein Blitz aufleuchtet, und fiel dann wieder zusammen, und ich weiß nicht, wie lange ich dageblieben wäre, ohne an Traddles zu denken, wenn Miss Lavinia mich nicht holen gekommen wäre.

Miss Lavinia hatte Dora sehr gern (sie sähe ganz so aus, wie sie selbst einst in diesem Alter ? Miss Lavinia mußte sich unglaublich verändert haben) und behandelte sie immer wie ein Spielzeug. Ich wollte Dora überreden sich Traddles vorstellen zu lassen, aber kaum brachte ich es heraus, da lief sie fort in ihr Zimmer und schloß sich ein. So begab ich mich wieder zu Traddles ohne sie und ging mit ihm fort wie auf Wolken wandelnd.

 

»Befriedigender konnte es nicht ausfallen«, sagte Traddles. »Es sind wirklich ein paar sehr angenehme alte Damen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn du Jahre vor mir heiratest, Copperfield.«

»Spielt deine Sophie ein Instrument, Traddles?« fragte ich, Stolz im Herzen.

»Sie spielt Piano grade gut genug, um es ihren kleinen Schwestern lehren zu können«, sagte Traddles.

»Singt sie auch?«

»Manchmal singt sie Balladen, um die andern etwas aufzuheitern, wenn sie schlechter Laune sind. Aber sie hat keine geschulte Stimme.«

»Begleitet sie sich mit der Gitarre?« fragte ich.

»O Gott, nein.«

»Malt sie?«

»Auch das nicht.«

Ich versprach Traddles, daß er Dora singen hören und ihre Blumenmalerei sehen sollte. Er sagte, es würde ihm viel Freude machen, und wir gingen in der vortrefflichsten Stimmung Arm in Arm nach Haus. Ich ermunterte ihn, mir von Sophie zu erzählen, und sah, mit welcher Liebe er auf sie vertraute. Ich verglich sie innerlich mit Dora und fühlte mich bei dem Vergleich nicht wenig befriedigt. Aber ich begriff auch, was für ein vortreffliches Mädchen sie für Traddles sein mußte.

Natürlich setzte ich meine Tante sofort von dem erfolgreichen Ausgang der Konferenz mit allen Details in Kenntnis. Sie war froh, mich so glücklich zu sehen, und versprach, unverzüglich Doras Tanten einen Besuch abzustatten. Aber sie machte an diesem Abend einen so langen Spaziergang durch unser Zimmer, während ich an Agnes schrieb, daß es schien, als sollte er bis zum Morgen dauern.

Mein Brief an Agnes war innig und dankbar, und ich erzählte ihr, welche gute Wirkungen ihr Rat für mich gehabt hatte. Sie antwortete umgehend, und ihr Brief war hoffnungsvoll, innig und heiter.

 

Ich hatte jetzt mehr zu tun als je. Mit Rücksicht auf meine täglichen Wanderungen nach Highgate bedeutete Putney einen weiteren Ausflug, und ich wünschte natürlich so oft wie möglich dort zu sein. Da die vorgeschlagnen Teebesuche ganz unausführbar waren, erhielt ich von Miss Lavinia die Erlaubnis, statt dessen jeden Samstagnachmittag einen langen Besuch machen zu dürfen. So wurde mir der Schluß jeder Woche eine köstliche Zeit, und die sehnsüchtige Erwartung half mir über die übrigen Tage hinweg.

Einen großen Trost gewährte es mir, daß meine Tante mit den zwei Damen viel besser auskam, als ich erwartet hatte. Sie stattete ihren versprochenen Besuch wenige Tage nach der Konferenz ab, und nicht lange später besuchten Doras Tanten sie in aller Form. Ähnliche Zusammenkünfte freundschaftlichen Charakters fanden später jedesmal in Zwischenräumen von drei bis vier Wochen statt.

Allerdings entsetzte meine Tante die beiden Damen sehr dadurch, daß sie alle Fiaker verschmähte und zu den ungewöhnlichsten Zeiten nach Putney ging oder ihren Hut so trug, wie es ihr gerade beliebte, ohne sich im geringsten um die Vorurteile der Zivilisation zu bekümmern. Doras Tanten waren sich bald darüber einig, in Miss Trotwood eine exzentrische und etwas männliche, mit einem starken Verstände ausgestattete Dame zu sehen, und wenn sie auch gelegentlich durch ketzerische Meinungsäußerung über verschiedne Punkte der Etikette gekränkt waren, so kam doch immer wieder eine allgemeine Harmonie zustande, da meine Tante aus Liebe zu mir einige ihrer kleinen Eigenheiten aufopferte.

Jip war das einzige Mitglied unserer kleinen Gesellschaft, das sich durchaus den Umständen nicht anpassen wollte. Sooft er meine Tante sah, ließ er sofort jeden Zahn im Maule sehen, zog sich unter einen Stuhl zurück und knurrte rastlos. Nur dann und wann unterbrach er sich mit einem kläglichen Geheul, als ob wirklich seinen Gefühlen zu viel zugemutet würde.

Alles wurde an ihm versucht, Liebkosen, Schelten, Schläge, und einmal brachte man ihn sogar in die Buckingham-Straße, wo er zum Schrecken aller Zusehenden sofort auf die beiden Katzen losfuhr. Aber nie konnte er sich überwinden die Gesellschaft meiner Tante zu ertragen. Manchmal schien es, als habe er seine Abneigung überwunden; dann war er ein paar Minuten ganz liebenswürdig, aber plötzlich schnupperte er mit seinem Stumpfnäschen in die Luft und heulte so jämmerlich, daß nichts übrigblieb, als ihm die Augen zu verbinden und ihn in den Tellerwärmer zu setzen. Später band ihn Dora regelmäßig in ein Tuch ein und steckte ihn in den Tellerwärmer, sooft sie meine Tante von weitem kommen sah.

 

Etwas machte mir große Sorge, als wir so in stillem Glück dahinlebten. Nämlich, daß Dora, wie auf allgemeinen Beschluß, wie ein hübsches Spielzeug behandelt wurde. Meine Tante, mit der sie nach und nach vertraut wurde, nannte sie immer nur »Blümchen«, und Miss Lavinia fand ihr einziges Vergnügen darin, sie zu verhätscheln, ihr das Haar zu locken, Putz für sie zu nähen und sie wie ein Schoßkind zu behandeln. Und die Schwester folgte natürlich Miss Lavinias Beispiel.

Ich nahm mir vor, mit Dora darüber zu sprechen, als wir einmal zusammen spazierengingen. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit die Erlaubnis bekommen, allein auszugehen.

»Mein Liebling«, stellte ich ihr vor, »du bist doch kein kleines Kind!«

»Da haben wirs«, sagte Dora. »Jetzt wirst du wild.«

»Wild, meine Liebe?«

»Sie sind doch so gut gegen mich«, sagte Dora, »und ich fühle mich so glücklich!«

»Das ist herrlich, aber mein Liebling«, sagte ich, »du könntest doch sehr glücklich sein und dabei vernünftig behandelt werden.«

Dora warf mir einen allerliebsten vorwurfsvollen Blick zu, fing dann an zu schluchzen und fragte, warum ich mich denn mit ihr verlobt hätte, wenn ich sie nicht ausstehen könnte.

Was konnte ich anderes tun, als ihr die Tränen wegküssen und ihr beteuern, wie sehr ich sie liebte.

»Ich bin so liebebedürftig«, sagte Dora, »und du solltest nicht so hart gegen mich sein, Doady.«

»Ich hart, Herzensschatz? Als ob ich um eine ganze Welt hart gegen dich sein wollte oder könnte.«

»Dann schilt mich nicht immer aus!« sagte Dora und machte eine Rosenknospe aus ihren Lippen, »und ich will wieder gut sein.«

Es freute mich unendlich, daß sie mich gleich darauf aus freien Stücken bat, ihr das früher erwähnte Kochbuch zu bringen und ihr zu zeigen, wie man Rechnung führte.

Ich brachte bei meinem nächsten Besuch das Buch mit und ließ es vorher hübsch einbinden, damit es einladender aussähe. Und beim Spaziergang zeigte ich ihr ein altes Haushaltungsbuch meiner Tante und schenkte ihr einen Satz Schreibtäfelchen und ein Kästchen Bleistifte, damit sie sich üben könnte.

Aber das Kochbuch machte Dora Kopfweh und die Zahlen brachten sie zum Weinen. Sie gingen nicht zu addieren, sagte sie; deshalb löschte sie sie aus und zeichnete die Täfelchen mit lauter kleinen Sträußchen und Porträts von mir und Jip voll.

Dann versuchte ich wie im Scherz, einen mündlichen Unterricht in Haushaltungssachen zu beginnen. Wenn wir an einem Fleischerladen vorübergingen, fragte ich zum Beispiel: »Denke einmal, Schatz, wir wären verheiratet, und du wolltest zum Mittagessen eine Hammelkeule kaufen. Wie würdest du das wohl machen?« Das Gesicht meiner hübschen, kleinen Dora wurde betrübt, und sie machte wieder eine Rosenknospe aus ihrem Munde.

»Würdest du wissen, wie man sie kauft?« wiederholte ich dann vielleicht, wenn ich besonders unbeugsam gestimmt war.

Dora pflegte in einem solchen Fall ein wenig nachzudenken und triumphierend zu antworten:

»Aber der Fleischer weiß doch, wie er sie zu verkaufen hat, was brauche ich es da zu wissen! O Gott, was bist du für ein närrischer Junge!«

Ein ander Mal, als ich Dora fragte, was sie wohl tun würde, wenn wir verheiratet wären und ich möchte gern ein delikates irisches Ragout, gab sie zur Antwort, sie würde der Köchin auftragen es zu bereiten. Und dann faltete sie ihre kleinen Hände auf meinem Arm und lachte so entzückend, daß sie bezaubernder war als je.

Die Hauptverwendung des Kochbuchs bestand darin, daß Dora es in eine Ecke legte, damit Jip darauf aufwarten könnte. Sie freute sich unendlich, als er das schließlich erlernt hatte und dabei den Bleistift im Maul hielt.

Wir kamen schließlich wieder auf die Gitarre zurück und das Blumenmalen und die Lieder vom unaufhörlichen Tanzen – tarala – und waren so glücklich, wie die Woche lang war. Manchmal wünschte ich, ich könnte mir das Herz fassen, Miss Lavinia zu sagen, sie behandle das Kleinod meines Herzens zu sehr wie ein Spielzeug. Und dann ertappte ich mich immer wieder, daß ich es selber nicht anders gemacht hatte.

42. Kapitel Unheil


42. Kapitel Unheil

Es kommt mir fast unziemlich vor, selbst in diesem nur für mich bestimmten Manuskript niederzuschreiben, wie angestrengt ich mich in meinem Pflichtgefühl Dora und ihren Tanten gegenüber mit der Erlernung der schrecklichen Stenographie abquälte, aber ich kann nur sagen, gerade aus der Ausdauer, die ich dadurch noch stärkte, entsprang die Quelle aller meiner Erfolge im Leben. Ich habe viel Glück in irdischen Dingen gehabt, und andere Menschen, die sich viel mehr anstrengten, haben es nicht halb soweit gebracht.

Alle meine Erfolge verdankte ich nur dem Umstand, daß ich Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß bei jeder Gelegenheit übte. Ich schreibe dies nicht nieder, um mich selbst zu loben. Ich meine einfach, daß ich alles, was ich im Leben zu tun versucht habe, bemüht war mit ganzem Herzen zu vollbringen und daß ich in großen wie in kleinen Dingen stets den gleichen Ernst anwandte.

Ich brauche hier nicht zu wiederholen, wie viel ich in dieser Hinsicht Agnes verdankte.

 

Ich wende mich jetzt mit dankbarer Liebe wieder zu Agnes.

Sie kam auf vierzehn Tage zu Besuch zu Dr. Strong. Mr. Wickfield war ein alter Freund des Doktors, und Dr. Strong hätte gerne mit ihm gesprochen und ihm beigestanden. Agnes und ihr Vater kamen zusammen zu Besuch. Ich war nicht überrascht, als ich von ihr hörte, sie habe in der Nähe eine Wohnung für Mrs. Heep gesucht, deren Rheumatismus eine Luftveränderung erfordere. Ebensowenig wunderte es mich, als schon am nächsten Tage Uriah als liebevoller Sohn seine würdige Mutter begleitete.

»Ja, sehen Sie, Master Copperfield«, sagte er, als er sich mir im Garten des Doktors aufdrängte. »Wenn man liebt, so ist man ein wenig eifersüchtig. Wenigstens hat man gern ein Auge auf der Geliebten.«

»Auf wen sind Sie denn jetzt eifersüchtig?« fragte ich.

»Ihnen zum Dank, Master Copperfield, für jetzt auf niemand Besondern – wenigstens auf keine männliche Person.«

»Vielleicht gar auf eine weibliche?«

Er warf mir aus seinen tückischen roten Augen einen Seitenblick zu und grinste.

»Wahrhaftig, Master Copperfield, ? wollt ich sagen, Mister, ? ich weiß, Sie entschuldigen schon die alte Angewohnheit ?, aber Sie sind so liebenswürdig, daß Sie mich ausholen können wie ein Korkzieher. Nun, ich will Ihnen nur sagen«, fuhr er fort, indem er seine fischkalte Hand auf meine legte, »ich bin im allgemeinen bei Damen nicht beliebt, Sir, und bin es bei Mrs. Strong nie gewesen.«

Seine Augen hatten einen grünen Schimmer, wie sie mich mit schurkischer List beobachteten.

»Was meinen Sie damit?«

»Nun, obgleich ich ein Jurist bin, Master Copperfield«, gab er mit einem leichten Grinsen zur Antwort, »so meine ich doch jetzt, was ich sage.«

»Und was wollen Sie mit Ihrem Blick sagen?« fragte ich ruhig weiter.

»Mit meinem Blick? Gott, nehmen Sie es aber scharf, Copperfield! Was ich mit meinem Blick meine?«

»Ja. Mit Ihrem Blick.«

Das schien ihm ungemein zu gefallen, und er lachte so herzlich, wie es ihm überhaupt möglich war. Er senkte die Augen zu Boden, schabte sich langsam das Kinn mit dem Daumen und sagte:

»Als ich noch ein niedriger Schreiber war, sah sie immer auf mich herab. Meine Agnes mußte immer um sie herum sein, und auch gegen Sie, Master Copperfield, war sie immer freundlich. Aber ich stand viel zu tief unter ihr, um beachtet zu werden.«

»Nun?« sagte ich. »Angenommen. Und weiter?«

»… Und unter ihm auch«, fuhr Uriah sehr deutlich und in nachdenklichem Tone fort, sich immer noch das Kinn schabend.

»Kennen Sie den Doktor nicht besser«, sagte ich, »daß Sie glauben können, er wisse überhaupt etwas von Ihrem Dasein, wenn Sie nicht dicht vor ihm stehen?«

Er sah mich wieder mit seinem alten Seitenblick an und zog sein Gesicht ganz lang, um sich besser schaben zu können, als er fortfuhr:

»Ach Gott, ich spreche nicht vom Doktor. Der Arme! Ich meine Mr. Maldon.«

Mir stockte das Blut in den Adern. Alle meine alten Zweifel und Befürchtungen standen wieder vor mir. Des Doktors Glück und Frieden, die ganze Reihe von Möglichkeiten von Schuld und Unschuld, die ich nicht enträtseln konnte, sah ich im Handumdrehen diesem Menschen preisgegeben.

»Er kam nie in die Kanzlei, ohne mich herumzukommandieren«, sagte Uriah. »Einer von den feinen Gentlemen! Ich war sehr demütig und niedrig und bin es noch. Aber das gefiel mir nicht, und jetzt kann ichs erst recht nicht leiden.«

Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, saugte die Wangen ein, bis sie sich innen zu berühren schienen, und sein Seitenblick haftete immer noch auf mir.

»Sie ist eine von den schönen Frauen«, fuhr er fort, als er seinem Gesicht langsam seine natürliche Form wiedergegeben hatte, »die Leuten, wie ich bin, nicht freundlich gesinnt sind. Sie ist gerade die Person danach, die meiner Agnes Rosinen in den Kopf setzen könnte. Ich bin kein Mann für die Damen, Master Copperfield, aber ich habe Augen im Kopf und schon hübsch lange. Mir niedrigen Leute haben meistens Augen und mir können damit sehen.«

Ich bemühte mich unbefangen zu erscheinen, aber, wie ich an seinem Gesicht sah, mit wenig Erfolg.

»Ich laß mich aber nicht unterkriegen, Copperfield«, fuhr er fort und zog mit tückischem Frohlocken seine haarlosen Augenbrauen in die Höhe, »und ich werde mein möglichstes tun, dieser Freundschaft ein Ende zu machen. Ich billige sie nicht. Ich will Ihnen gar nicht verhehlen, daß ich etwas neidisch bin und alle Eindringlinge fernhalten will. Wenn ich mirs leisten kann, setze ich mich nicht der Gefahr aus, Komplotte gegen mich schmieden zu lassen.«

»Sie schmieden eben immer Komplotte und haben andere im selben Verdacht.«

»Vielleicht, Master Copperfield, aber ich habe einen Beweggrund, wie mein Kompagnon immer sagt, und gehe mit Zähnen und Nägeln ans Werk. Wenn ich auch ein niedriger Mensch bin, so lasse ich mir doch nichts gefallen. Es darf mir niemand im Weg stehen. Sie müssen aus dem Wagen raus.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Wirklich nicht?« sagte Uriah mit einer seiner gewohnten schnellenden Bewegungen. »Das wundert mich, Master Copperfield, da Sie doch sonst so gescheit sind! Das nächste Mal werd ich versuchen, mich deutlicher auszudrücken. Ist das übrigens nicht Mr. Maldon zu Pferd, der dort an der Tür klingelt, Sir?«

»Er sieht beinahe so aus«, entgegnete ich so unbefangen wie möglich.

Uriah blieb stehen, steckte die Hände zwischen seine knorrigen Knie und krümmte sich vor Lachen. Vor ganz lautlosem Lachen. Kein Ton kam aus seinem Munde. Mir war sein Benehmen so zuwider, daß ich mich ohne Umstände von ihm abwandte und ihn in der Mitte des Gartens, halb sitzend wie eine Vogelscheuche, der die Stütze umgefallen ist, zurückließ.

 

An diesem Abend war es nicht, aber wie ich mich wohl erinnere, an dem zweitnächsten, am Samstag, daß ich Agnes mit zu Dora nahm.

Ich hatte den Besuch vorher mit Miss Lavinia verabredet, und Agnes wurde zum Tee erwartet.

Ich war ganz aufgeregt vor Stolz und Besorgnis; stolz auf meine liebe kleine Braut und besorgt, wie sie Agnes gefallen würde. Auf dem ganzen Weg nach Putney, wo Agnes in der Landkutsche saß und ich außen, malte ich mir Dora immerwährend aus. Einmal wünschte ich mir, sie möchte am liebsten so aussehen wie damals, dann wieder wie ein anderes Mal, und litt durch solche Sorgen ordentlich wie unter einem Fieber.

Ich hatte natürlich keinen Zweifel, daß sie sehr hübsch aussehen würde, aber es traf sich, daß sie gerade damals vielleicht am allerschönsten war.

Als ich Agnes ihren Tanten vorstellte, hielt sie sich schüchtern versteckt. Ich wußte jetzt, wo ich sie zu suchen hatte, und fand sie richtig wieder hinter der Tür mit zugehaltnen Ohren.

Anfangs wollte sie gar nicht kommen, und dann bat sie um fünf Minuten Frist. Als sie mir endlich ihren Arm gab, um sich ins Zimmer führen zu lassen, war ihr liebliches Gesichtchen ganz rot und hatte nie so hübsch ausgesehen. Aber als wir in das Zimmer traten und sie blaß wurde, war sie noch zehntausendmal schöner.

Sie fürchtete sich vor Agnes. Sie hatte mir gesagt, sie wüßte schon, Agnes wäre »viel zu gescheit«. Aber als sie das heitere, dabei so ernste, gedankenvolle und doch so gute Gesicht erblickte, ließ sie einen leisen Schrei fröhlicher Überraschung hören, legte ihre Arme zärtlich um Agnes‘ Hals und drückte ihre unschuldige Wange an ihr Gesicht.

Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, noch nie so gefreut wie damals, als ich die beiden so nebeneinander sitzen und meine Geliebte so befreit in diese herzlichen Augen blicken sah. Miss Lavinia und Miss Clarissa teilten in ihrer Weise meine Freude. Es war der angenehmste Teeabend von der Welt. Miss Clarissa führte den Vorsitz. Ich zerschnitt den süßen Aniskuchen und reichte ihn herum – die kleinen Schwestern hatten eine vogelartige Vorliebe für das Picken von Aniskörnern und Zucker –, und Miss Lavinia sah mit wohlwollender Gunst auf uns, als ob alles ihr Werk wäre.

Die sanfte Heiterkeit Agnes‘ gewann alle Herzen. Ihr ruhiges Interesse an allem, was Dora betraf, ihre Art mit Jip Bekanntschaft zu schließen, der es sofort freundlich aufnahm, ihr geschicktes Benehmen, als Dora sich schämte, sich auf ihren gewohnten Platz neben mich zu setzen, ihre bescheidne Anmut, mit der sie eine Menge schüchterner kleiner Vertrauensbeweise von Dora hervorlockte, schien unsern Kreis erst ganz vollkommen zu machen.

»Es freut mich so sehr«, sagte Dora nach dem Tee, »daß Sie mich gern haben. Ich hielt es nicht für möglich und brauche jetzt, wo Julia Mills fort ist, mehr als je eine Freundin.«

Miss Mills war nämlich abgesegelt, und Dora und ich waren an Bord eines großen Ostindienfahrers im Hafen von Gravesend gegangen, um Abschied zu nehmen. Wir hatten eingemachten Ingwer und Guava und andere Delikatessen dieser Art zum Frühstück genossen und Miss Mills, weinend auf einem Feldstuhl auf dem Quarterdeck sitzend, mit einem großen, neuen Tagebuch unter dem Arm, verlassen, in dem die bei der Betrachtung des Ozeans erwachenden Originalgedanken unter Schloß und Riegel gebracht werden sollten.

 

Agnes sagte, ich müßte sie wohl zu schwarz geschildert haben, aber Dora berichtigte dies sogleich.

»O nein«, sagte sie mit einem Blick auf mich und schüttelte ihre Locken. »Ich habe nichts als Lob über Sie gehört. Er hält so viel auf Sie, daß ich mich ordentlich vor Ihnen gefürchtet habe.«

»Meine Zuneigung ist aber kaum des Gewinnens wert«, sagte Agnes lächelnd.

»Aber bitte, schenken Sie sie mir«, sagte Dora in ihrer schmeichelnden Art, »wenn es sein kann.«

Wir scherzten über Doras Wunsch, noch mehr geliebt zu werden, und sie sagte, ich sei eine Gans und sie könne mich überhaupt nicht leiden, und der kurze Abend flog dahin auf Schwingen wie aus Sommerfäden.

Die Stunde rückte heran, wo die Kutsche uns abholen sollte. Ich stand allein vor dem Kamin, als Dora leise hereinschlich, um mir den gewohnten allerliebsten Abschiedskuß zu geben.

»Meinst du nicht, Doady, wenn ich sie schon länger zur Freundin gehabt hätte«, sagte sie, die hellen Augen noch heller glänzend und mit ihrer kleinen Hand an dem Knopfe meines Rockes spielend, »daß ich dann hätte gescheiter sein können?«

»Lieber Schatz, was für ein Unsinn!«

»Meinst du, es sei Unsinn«? fragte Dora, ohne mich anzusehen. »Weißt du das gewiß?«

»Natürlich.«

»Ich habe vergessen, wie nahe Agnes mit dir verwandt ist, du nichtsnutziger Junge«, fuhr Dora fort, immer noch mit dem Knopf beschäftigt.

»Sie ist keine Verwandte von mir, wir wurden nur zusammen erzogen wie Bruder und Schwester.«

»Ich möchte nur wissen, wieso du dich eigentlich dann in mich verliebt hast«, sagte Dora und fing mit einem andern Knopfe an.

»Vielleicht weil ich dich nicht sehen konnte, ohne dich zu lieben, Dora.«

»Aber wenn du mich nun gar nicht gesehen hättest«, sagte Dora und nahm wieder einen andern Knopf.

»Aber wenn wir nun gar nicht geboren worden wären?« sagte ich scherzend.

 

Ich hätte gerne gewußt, worüber sie nachdachte, während ich in stiller Bewunderung die kleine weiche Hand, die an den Knöpfen meines Rockes spielte, das lockige Haar, das an meiner Brust ruhte, und die Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen, die auf die spielenden Finger sahen, betrachtete. Endlich blickte sie auf und stellte sich auf die Zehen, um mich nachdenklicher als gewöhnlich zu küssen – einmal, zweimal, dreimal –, und verließ dann das Zimmer.

Fünf Minuten später traten alle zusammen wieder herein, und Doras ungewöhnliche Nachdenklichkeit war ganz verschwunden. Sie bestand lachend darauf, ehe die Kutsche kam, Jip alle seine Kunststücke vormachen zu lassen. Das beanspruchte einige Zeit; nicht wegen ihrer großen Anzahl, sondern wegen Jips Sträuben, und als wir die Kutsche kommen hörten, waren wir noch lange nicht fertig. Zärtlich nahmen die beiden jungen Damen voneinander Abschied. Dora sollte Agnes schreiben, doch dürfte Agnes es nicht übelnehmen, wenn die Briefe kindisch ausfielen, und sollte jedes Mal antworten. Dann nahmen sie zum zweiten Mal Abschied am Kutschenschlag und zum dritten Mal, als Dora trotz der Vorstellungen Miss Lavinias noch einmal herausgelaufen kam, um Agnes am Kutschenfenster an das Schreiben zu erinnern und gegen mich auf dem Dach die Locken zu schütteln.

Der Wagen sollte uns in der Nähe von Covent Garden absetzen, von wo wir einen andern Weg nach Highgate nehmen wollten.

Ich sehnte mich schon danach, Doras Lob aus Agnes‘ Munde zu hören. Und, o, wie dieses Lob ausfiel! Wie liebreich und innig empfahl sie das anmutige Wesen meiner zärtlichsten Fürsorge. Wie gedankenvoll prägte sie mir mit ihrer ungekünstelten Anspruchslosigkeit ein, wie sehr ich für das verwaiste Kind zu sorgen habe.

Niemals liebte ich Dora so tief und wahr wie an jenem Abend. Als wir ausstiegen und in der sternenhellen Nacht nach dem Hause des Doktors gingen, sagte ich Agnes, daß alles ihr Werk sei.

»Du bist nicht weniger ihr Schutzengel wie der meinige, Agnes!«

»Ein armer Engel«, antwortete sie, »aber treu.«

Der klare Ton ihrer Stimme ging mir so zu Herzen, daß ich fragen mußte:

»Die heitere Ruhe, die dir so eigen ist, Agnes, wie niemand anders, den ich kenne, ist soweit wiederhergestellt, wie ich sehe, daß ich hoffen kann, du bist glücklicher zu Haus?«

»Ich bin innerlich glücklicher«, sagte sie und war ganz heiter und guten Mutes.

»Es ist keine Veränderung zu Hause eingetreten«, fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Keine neue Anspielung auf – ich möchte dich nicht verletzen, Agnes, aber ich muß doch fragen – auf das, wovon wir bei unserm letzten Abschied sprachen?«

»Nein, keine!«

»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.«

»Du mußt nicht soviel daran denken. Vergiß nicht, daß ich mein Vertrauen auf schlichte Liebe und Wahrheit setze.«

»Fürchte nichts um mich, Trotwood«, setzte sie nach einer Pause hinzu, »was du befürchtest, werde ich nie tun.«

Obgleich ich es bei kalter Überlegung niemals für möglich gehalten hatte, so war es doch eine unaussprechliche Beruhigung für mich, die Versicherung von ihren eignen Lippen zu hören. Ich sagte ihr das.

»Und wenn dieser Besuch vorbei ist, denn wir sind jetzt vielleicht zum letzten Mal allein beisammen, wann wirst du dann wieder nach London kommen, liebe Agnes?«

»Wahrscheinlich auf lange nicht. Ich halte es für das beste, um Papas willen zu Hause zu bleiben. In der nächsten Zeit können wir uns wahrscheinlich nicht oft sehen, aber ich will fleißig an Dora schreiben, und auf diesem Wege werden wir viel voneinander hören.«

Wir standen jetzt in dem kleinen Hof vor dem Landhause des Doktors. Es war schon spät. Im Fenster von Mrs. Strongs Zimmer schien ein Licht, und Agnes deutete darauf hin und wünschte mir gute Nacht.

»Mache dir keine Sorgen«, sagte sie und gab mir ihre Hand, »über unser Unglück und über unsre Trübsal! Ich kann über nichts froher sein als über dein Glück. Wenn du mir einmal solltest helfen können, so verlaß dich drauf, daß ich dich darum bitten werde. Und Gottes Segen sei mit dir!«

Bei ihrem strahlenden Lächeln und den letzten Tönen ihrer lieben Stimme war es mir, als sähe und hörte ich wieder meine kleine Dora in ihrer Gesellschaft. Ich blieb eine Weile stehen, sah mit einem Herzen voll Liebe und Dankbarkeit zu den Sternen auf und ging dann langsam fort. Ich hatte ein Bett in einem säubern Wirtshaus in der Nähe bestellt und ging gerade zur Gartenpforte hinaus, als ich, mich zufällig umdrehend, Licht in des Doktors Studierzimmer wahrnahm. Der vorwurfsvolle Gedanke kam mir, daß er ohne meine Beihilfe an dem Wörterbuch arbeiten könnte. Um mich zu überzeugen und jedenfalls um ihm gute Nacht zu sagen, kehrte ich um, ging durch die Vorhalle, öffnete langsam die Tür und sah hinein.

Die erste Person, die ich zu meinem Erstaunen bei dem gedämpften Lichte der Studierlampe erblickte, war Uriah. Er stand dicht neben der Lampe auf den Tisch gestützt, seine andre Totenhand auf den Mund gelegt. Der Doktor saß in seinem Lehnstuhl und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Mr. Wickfield, in großer schmerzlicher Aufregung, beugte sich unentschlossen über ihn und schüttelte ihn am Arm.

Im ersten Augenblick glaubte ich, der Doktor sei krank. Hastig trat ich einen Schritt vor, als ich Uriahs Blick begegnete und begriff, was vorgegangen war. Ich wollte mich zurückziehen, aber der Doktor winkte mir und ich blieb.

»Jedenfalls könnten mir die Tür zumachen«, bemerkte Uriah, sich krümmend. »Mir brauchen es nicht der ganzen Stadt wissen zu lassen.«

Damit ging er auf den Zehen nach der Tür, die ich offengelassen hatte, und schloß sie sorgfältig ab. Dann kehrte er zurück und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

Es lag ein aufdringliches Zurschautragen von mitleidigem Eifer in seiner Stimme und seinem Wesen, das mir noch unleidlicher war als sein früheres Benehmen.

»Ich hab es für meine Pflicht gehalten, Master Copperfield«, sagte er, »Dr. Strong auf das aufmerksam zu machen, was mir schon kürzlich zusammen besprochen haben. Sie schienen mich aber nicht recht zu verstehen.«

Ich warf ihm einen Blick zu, gab aber keine Antwort, trat dann zu meinem guten, alten Lehrer und sprach ein paar Worte des Trostes und der Ermutigung zu ihm. Er legte seine Hand auf meine Schulter, wie er es gewohnt gewesen, als ich noch ein kleiner Junge war, erhob aber sein graues Haupt nicht.

»Da Sie mich damals nicht verstanden, Master Copperfield«, fuhr Uriah in derselben zudringlichen Weise fort, »so derf ich mir wohl die Freiheit nehmen, untertänigst zu bemerken, da mir unter Freunden sind, daß ich Dr. Streng auf das Benehmen seiner Gattin aufmerksam gemacht habe. Es ging mir eigentlich sehr gegen den Strich, Copperfield, mich in so eine unangenehme Sache einzumengen, aber mir können es nun einmal nicht lassen und müssen uns immer in Dinge mischen, die was uns nichts angehen.«

Wenn ich an seinen höhnisch schielenden Blick zurückdenke, wundere ich mich jetzt noch, daß ich ihn nicht an der Gurgel packte und ihm den Atem aus dem Leibe schüttelte.

»Ich glaube wohl, ich drückte mich nicht ganz deutlich aus«, fuhr er fort. »Natürlich waren mir beide bestrebt, ein solches Thema möglichst zu vermeiden. Aber endlich hab ich mich doch entschlossen offen herauszureden, und Dr. Strong erzählt, daß … Haben Sie etwas gesagt, Sir?«

Das galt dem Doktor, der aufstöhnte. Der Schmerzenslaut hätte jedes Herz gerührt, aber auf Uriah brachte er keine Wirkung hervor.

»Ich sagte zu Dr. Strong«, fuhr er fort, »daß jeder sehen müßte, wie Mr. Maldon und die liebenswürdige und gewinnende Dame, was Mrs. Strong ist, zu zärtlich miteinander sind. Die Zeit ist jetzt wahrhaftig gekommen, wo es Dr. Strong gesagt werden muß. Es war doch jedermann klar wie die Sonne, ehe noch Mr. Maldon nach Indien ging, warum er Gründe suchte, wiederzukommen. Als Sie hier eintraten, Master Copperfield, schlug ich meinem Kompagnon grade vor, Dr. Strong auf Wort und Ehre zu sagen, ob er dieser Meinung nicht schon längst war. Kommen Sie, Mr. Wickfield, möchten Sie nicht so gut sein, das zu sagen. Ja oder nein, Sir? Kommen Sie, Kompagnon!«

»Um Gottes willen, lieber Doktor«, sagte Mr. Wickfield, »legen Sie nur nicht zuviel Gewicht auf den Verdacht, den ich vielleicht gehegt habe.«

»Da haben wirs«, rief Uriah. »Welch traurige Bestätigung, was? Er ? so ein alter Freund! Meiner Seel, als ich bloß ein Schreiber bei ihm war, Copperfield, hab ich es mindestens zwanzigmal gesehen, wie er ganz außer sich darüber war ? ganz außer sich, und wie natürlich, ist er doch selbst Vater und konnte er doch nicht zusehen, daß Miss Agnes in die Geschichte noch am Ende verwickelt wird.«

»Mein lieber Strong«, sagte Mr. Wickfield mit bebender Stimme, »mein guter Freund, ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mein Fehler war, immer und bei jedem nach versteckten Motiven zu suchen. Dieser Irrtum mag mir Veranlassung zu meinem Argwohn gegeben haben.«

»Sie haben geargwöhnt, Wickfield!« sagte der Doktor, ohne das Haupt zu erheben. »Sie haben geargwöhnt!«

»Raus mit der Sprache, Kompagnon«, drängte Uriah.

»Ja, damals habe ich geargwöhnt. Ich – Gott verzeih mir – glaubte, auch Sie hegten einen Argwohn.«

»Nein, nein, nein!« rief der Doktor in einem Ton ergreifendsten Schmerzes.

»Ich glaubte einmal, daß Sie Maldon nach Indien zu schicken wünschten, um eine Trennung herbeizuführen.«

»Nein, nein, nein! Ich wollte Ännie eine Freude machen, indem ich für ihren Jugendgespielen sorgte. Weiter nichts!«

»Das wurde mir später klar. Ich konnte nicht daran zweifeln, als Sie mir es sagten, aber ich glaubte, – ich bitte Sie, die Kurzsichtigkeit zu bedenken, die bei meinem engen Horizont mein Hauptfehler gewesen ist – daß in einem Falle, wo eine so große Verschiedenheit im Alter herrscht –«

»Sehen Sie, das ist die rechte Art, es auseinanderzusetzen, Master Copperfield«, fiel Uriah ein mit kriecherischem, grinsend zur Schau getragnem Mitleid.

»– eine Dame von so jugendlicher Schönheit bei aller aufrichtigen Achtung vor Ihnen sich bei einer Heirat weniger vom Gefühl als vom Verstände hätte bewegen lassen können. Die übrigen unzähligen Umstände und Empfindungen, die in die gegenteilige Waagschale hätten fallen müssen, zog ich leider nicht in Betracht. Um Himmels willen, bedenken Sie das!«

»Wie schonend er es auseinandersetzt«, hob Uriah hervor.

»Bei allem, was Ihnen teuer ist, alter Freund«, fuhr Mr. Wickfield fort, »bitte ich Sie das zu erwägen! Ich muß jetzt gestehen, da ich nicht anders kann –«

»Nein, Sie können nicht anders, Mr. Wickfield«, echote Uriah, »wenn es einmal soweit ist.«

»– daß ich ihr allerdings mißtraute und es mir manchmal, wie ich bekennen muß, unangenehm war, Agnes so vertraut mit ihr zu sehen. Ich habe nie mit jemand davon gesprochen und werde nie gegen irgend jemand darüber ein Wort fallenlassen. Es ist schrecklich für Sie, so etwas zu hören«, sagte Mr. Wickfield tief erschüttert, »aber wenn Sie erst wüßten, wie schrecklich es für mich ist, so etwas über die Lippen zu bringen, so würden Sie Mitleid mit mir haben.«

In der unerschöpflichen Güte seines Herzens streckte der Doktor seine Hand aus, und Mr. Wickfield hielt sie eine Weile mit gebeugtem Haupte fest.

»Gewiß ist das für jeden Menschen ein sehr unangenehmes Thema«, mischte sich Uriah ein, der sich während des Schweigens wie ein Aal wand, »aber da mir einmal soweit sind, muß ich mir die Freiheit nehmen zu erwähnen, daß es Copperfield auch gemerkt hat.«

Ich wandte mich zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könnte, sich auf mich zu beziehen.

»O, es ist sehr schön von Ihnen, Copperfield«, entgegnete Uriah, »und mir wissen alle, was für ein liebenswürdiger Charakter Sie sind Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie in dem Augenblick, wo ich neulich abends mit Ihnen davon sprach, gut verstanden, was ich meinte, Copperfield! Sie können es nicht leugnen. Wenn Sie es leugnen, geschieht es gewiß mit der besten Absicht. Aber tun Sie es nicht, Copperfield!«

Das sanfte, milde Auge des Doktors ruhte einen Augenblick auf mir, und ich fühlte, daß das Geständnis meiner alten bösen Ahnungen klar auf meinem Gesicht geschrieben stand. Leugnen half nichts. Ich konnte nichts mehr ändern. Mochte ich sagen, was ich wollte, ich konnte mich nicht verstellen.

Wir verstummten und sprachen kein Wort mehr. Der Doktor stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann lehnte er sich an den Rücken seines Stuhls und sprach, von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die Augen drückend, mit einer schlichten Offenheit, die ihm mehr Ehre machte, als wenn er seinen Schmerz verheimlicht hätte:

»Ich bin schwer zu tadeln. Ich glaube, ich bin sehr schwer zu tadeln. Ich habe ein Wesen, dessen Bild ich voll Liebe im Herzen bewahre, Versuchungen und Verleumdungen ausgesetzt – denn ich nenne sie Verleumdungen, und selbst wenn sie in dem innersten Denken des Betreffenden geblieben sind –, deren Zielscheibe dieses Wesen ohne mich nie hätte werden können.«

Uriah Heep ließ eine Art Näseln hören.

»… Deren Zielscheibe meine Ännie ohne mich«, fuhr der Doktor fort, »nie hätte werden können. Meine Herren, ich bin jetzt alt, das wissen Sie; ich wüßte heute abend nicht, was mir das Leben noch teurer machen sollte. Aber mein Leben für die Treue und Ehrenhaftigkeit der Dame, die der Gegenstand dieses Gesprächs gewesen ist!«

Ich glaube nicht, daß die edelste Verkörperung von Ritterlichkeit, die Verwirklichung der schönsten und romantischsten Gestalt, die je ein Dichter geschaffen hat, dies in ergreifendere und rührendere Worte hätte fassen können, als der schlichte, alte Doktor es tat.

»Ich fühle mich nicht imstande zu leugnen«, fuhr er fort, »und habe nur nie viel darüber nachgedacht, daß ich diese Dame, ganz unwissentlich, vielleicht zu einer unglücklichen Ehe verleitet habe. Ich bin des Beobachtens gänzlich ungewohnt und muß daher glauben, daß in diesem Punkte die Augen anderer Leute schärfer sahen als die meinigen.«

Ich hatte schon oft des Doktors gütige Art seiner jungen Frau gegenüber bewundert, aber die Hochachtung und Zärtlichkeit, mit der er jetzt von ihr sprach, und die ehrerbietige Weise, mit der er auch den leisesten Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit abwies, erhoben ihn in meinen Augen über alle Beschreibung.

»Ich heiratete diese Dame, als sie noch sehr jung war«, fuhr er fort. »Ich nahm sie zur Frau, als ihr Charakter sich kaum gebildet hatte. Soweit er entwickelt war, hatte ich das Glück gehabt, ihn zu formen. Ich kannte ihren Vater gut. Ich kannte sie gut. Ich hatte ihr alles gelehrt, was ich konnte, um ihrer schönen und vortrefflichen Eigenschaften willen. Wenn ich ihr ein Unrecht zugefügt habe – und ich fürchte, es ist der Fall gewesen, indem ich, ohne es zu wissen, ihre Dankbarkeit und freundschaftliche Zuneigung ausnützte –, so bitte ich sie jetzt in meinem Herzen um Verzeihung.«

 

Er ging im Zimmer einmal auf und nieder und faßte dann den Stuhl wieder mit einer Hand, die wie seine niedergehaltene Stimme vor tiefer Bewegung zitterte.

»Ich betrachtete mich als eine Zuflucht für sie vor den Gefahren und Wechselfällen des Lebens, redete mir die Hoffnung ein, daß sie bei aller Ungleichheit an Jahren ruhig und zufrieden mit mir leben würde. Ich ließ die Zeit, wo sie immer noch jung und schön, aber mit gereifterem Urteil wieder frei sein würde, nicht unerwogen. Nein, meine Herren, bei meiner Ehre!«

Seine schlichte Gestalt schien fast zu strahlen von Treue und Hochherzigkeit, und in jedem seiner Worte lag eine tiefe Kraft.

»Ich habe sehr glücklich mit dieser Dame gelebt. Bis heute abend habe ich ununterbrochen Veranlassung gehabt, den Tag zu segnen, an dem ich ihr, wie ich jetzt sehe, so großes Unrecht zufügte.«

Seine Stimme, die während der letzten Worte immer mehr und mehr gezittert hatte, versagte für einige Augenblicke; dann fuhr er fort:

»Einmal aus meinem Traum erwacht – ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein armer Träumer gewesen –, sehe ich jetzt ein, wie natürlich es ist, daß sie nicht ohne Schmerz an ihren alten Gespielen und Altersgenossen denken kann. Daß sie mit einem Bedauern, aber einem schuldlosen, und mit untadeligen Gedanken auf das, was ohne mich hätte werden können, zurücksieht, ist, fürchte ich, nur zu wahr. Manches, was ich wohl bemerkt, aber nicht beachtet habe, ist mir in dieser letzten Prüfungsstunde mit neuer Bedeutung klargeworden. Aber darüber hinaus, meine Herren, darf der Name dieser Dame mit keinem Wort, keinem Hauch eines Zweifels befleckt werden.«

Einen Augenblick flammte sein Auge und seine Stimme war fest. Dann schwieg er wieder eine Weile und fuhr endlich fort:

»Es bleibt mir nur noch übrig, die Erkenntnis des Unglücks, das ich verschuldet habe, so ergeben wie ich kann zu tragen. Sie sollte mir Vorwürfe machen, nicht ich ihr. Sie vor Mißdeutungen, die selbst meine Freunde nicht haben vermeiden können, zu schützen, ist jetzt meine Pflicht. Ich werde sie um so besser erfüllen, je zurückgezogener wir leben. Und wenn die Zeit kommt – möge sie bald kommen – wenn es Seine Barmherzigkeit beschließt –, wo mein Tod sie frei macht, so werden meine brechenden Augen mit unbegrenztem Vertrauen und unwandelbarer Liebe auf ihrem treuen Antlitz ruhen, und sie wird dann ohne Kummer glücklichere und schönere Tage erleben.«

Ich konnte meinen alten Lehrer nicht sehen vor den Tränen, die sein tiefer Ernst und seine Güte und die Schlichtheit seines ganzen Wesens mir in die Augen trieben. Er stand an der Tür, als er hinzusetzte:

»Meine Herren, ich habe Sie in mein Herz blicken lassen. Ich bin überzeugt, Sie werden meinen Schmerz respektieren. Was heute abend gesprochen wurde, muß zwischen uns begraben sein. Wickfield, geben Sie einem alten Freunde den Arm und führen Sie mich hinauf!«

Mr. Wickfield eilte zu ihm. Ohne ein Wort zu wechseln, verließen beide langsam das Zimmer, und Uriah sah ihnen nach.

»Ach Master Copperfield«, sagte er und wendete sich ein wenig bestürzt an mich, »die Sache hat nicht ganz die Wendung genommen, die man hätte erwarten können, denn der alte Gelehrte – so ein vortrefflicher Mann er ist – ist blinder als ein Maulwurf. Aber seine Familie ist wohl, dächte ich, aus dem Wagen draußen.«

Schon der Ton seiner Stimme versetzte mich in eine unbeschreibliche Wut.

»Sie Schuft, Sie!« sagte ich. »Was bezwecken Sie damit, daß Sie mich in Ihre Pläne verwickeln? Wie können Sie sich unterstehen sich auf mich zu berufen, Sie falsche Kanaille, als wenn wir die Sache zusammen besprochen hätten!«

Als wir Auge in Auge einander gegenüberstanden, sah ich nur zu deutlich an seiner Schadenfreude, daß er mir sein Vertrauen aufgedrängt hatte in der Absicht mich zu kränken und mir überhaupt eine Falle zu stellen. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Seine lange hagere Wange lag so einladend vor mir, daß ich zuschlug, und mit solcher Kraft, daß mir die Finger brannten.

Er faßte meine Hand, und wir standen so einander gegenüber und sahen uns an. Wir blieben eine lange Weile so, lange genug, daß ich sehen konnte, wie die weißen Zeichen meiner Finger aus dem tiefen Rot seiner Wange verschwanden und ein noch tieferes Rot hinterließen.

»Copperfield«, sagte er endlich mit atemloser Stimme, »haben Sie den Verstand verloren?«

»Lassen Sie mich«, sagte ich und entrang ihm meine Hand. »Sie Hund! Ich will nichts mehr von Ihnen wissen!«

»Wirklich nicht?« sagte er, von den Schmerzen in der Wange gezwungen, die Hand darauf zu legen. »Vielleicht können Sie doch nicht anders. Das war nicht recht von Ihnen.«

»Ich habe Ihnen oft genug gezeigt, wie ich Sie verabscheue. Ich habe es Ihnen jetzt noch deutlicher gezeigt. Warum sollte ich Sie fürchten, da Sie allen, in deren Nähe Sie kommen, sowieso schon das Schlimmste zufügen.«

Er verstand vollkommen die Anspielung auf die Rücksicht, die mich bisher in Schranken gehalten hatte.

Eine zweite lange Pause folgte. Seine Augen schienen jede Färbung anzunehmen, die überhaupt Augen häßlich machen kann.

»Copperfield«, sagte er und nahm die Hand von der Wange, »Sie sind immer gegen mich gewesen. Ich weiß, bei Mr. Wickfield waren Sie immer gegen mich.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen«, sagte ich immer noch in größter Wut, »und wenn es zufällig nicht wahr ist, so ist das nicht Ihr Verdienst.«

»Und doch hab ich Sie immer gern gehabt, Copperfield!«

Ich würdigte ihn keiner Antwort, nahm meinen Hut und wollte fortgehen, aber er stellte sich zwischen mich und die Türe.

»Copperfield«, sagte er, »es gehören zwei Leute zu einem Zank. Ich will nicht dabeisein!«

»Sie können zum Teufel gehen!«

»Sagen Sie das nicht«, erwiderte er. »Ich weiß, es wird Ihnen später leid tun. Wie können Sie sich so unter mich erniedrigen, indem Sie sich so hinreißen lassen? Aber ich verzeihe Ihnen.«

»Sie mir verzeihen!« erwiderte ich voll Verachtung.

»Ich tue es aber, und Sie können sich dagegen nicht wehren. So etwas! Über mich herzufallen, der ich immer Ihr Freund gewesen bin! Aber zu einem Zanke gehören zwei Leute, und ich will nicht dabeisein. Ich will Ihr Freund bleiben! Ihnen zum Trotz!«

Die Notwendigkeit, das Gespräch wegen der späten Stunde sehr leise zu führen, trug nichts zur Verbesserung meiner Stimmung bei, obgleich sich meine Leidenschaftlichkeit abkühlte. Ich verließ das Haus. Aber Uriah schlief ebenfalls außer Hause, und ehe ich einige hundert Schritt weit weg war, holte er mich ein.

»Sie spüren ganz gut, Copperfield«, sagte er an meiner Seite, denn ich wendete ihm mein Gesicht nicht zu, »daß Sie in eine schiefe Stellung geraten sind!«

Ich fühlte die Wahrheit seiner Worte genau und geriet nur noch mehr in Zorn.

»Sie können die Sache zu keiner Heldentat machen und mir nicht verwehren, daß ich Ihnen verzeihe. Ich werde es weder gegen Mutter noch gegen sonst jemand erwähnen. Ich bin fest entschlossen Ihnen zu verzeihen! Ich muß mich nur wundern, daß Sie Ihre Hand gegen eine so demütige Person, wie ich bin, aufgehoben haben.«

Ich kam mir ordentlich gemein vor. Er kannte mich besser als ich mich selbst. Wenn er zurückgeschlagen hätte oder heftig geworden wäre, es wäre mir ein Genuß und eine Rechtfertigung gewesen; aber er legte mich auf ein langsames Feuer, auf dem ich mich die halbe Nacht herumquälte.

Als ich am nächsten Morgen ausging, läutete die Frühglocke, und er ging mit seiner Mutter auf und ab. Er redete mich an, als ob nichts vorgefallen wäre, und ich konnte einer Antwort nicht ausweichen. Ich hatte ihn so stark geschlagen, daß er offenbar Zahnweh hatte. Jedenfalls war sein Gesicht mit einem schwarzen Seidentuch verbunden, was ihn keineswegs verschönte.

Ich hörte, daß er sich am Montag morgens in London einen Zahn reißen ließ. Hoffentlich war es ein doppelter.

Dr. Strong gab vor, nicht ganz wohl zu sein, und blieb während der ganzen Zeit des Besuchs den größten Teil des Tages über allein.

Agnes und ihr Vater waren schon eine Woche fort, ehe wir unsere gewöhnlichen Arbeiten wiederaufnahmen. Am Tag vor ihrer Abreise übergab mir der Doktor einen verschlossenen Brief. Er bat mich darin mit eindringlichen und liebevollen Worten, niemals auf den Vorfall jenes Abends zurückzukommen. Ich hatte bereits meiner Tante davon erzählt, aber sonst niemand. Es war kein Thema, das ich mit Agnes hätte besprechen können, und sie ahnte sicherlich nicht das geringste von dem Vorfall.

Auch Mrs. Strong nicht, wie ich überzeugt bin.

 

Wochen vergingen, bevor ich die mindeste Veränderung an ihr bemerkte. Aber sie kam langsam wie eine Wolke bei Windstille. Anfangs schien sie sich über das zärtliche Mitleid zu wundern, mit dem der Doktor zu ihr sprach, und über seinen Wunsch, sie möge ihre Mutter zu sich nehmen, um einige Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Oft, während wir arbeiteten und sie bei uns saß, bemerkte ich, wie sie ihre Arbeit hinlegte und ihn wieder mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck von damals ansah. Manchmal verließ sie, die Augen voll Tränen, das Zimmer. Allmählich verbreitete sich ein Schatten von Trauer über ihre Schönheit, der Tag für Tag tiefer wurde. Mrs. Markleham war jetzt in das Landhaus gezogen, aber sie schwatzte und schwatzte und sah nichts.

Als diese Veränderung über Ännie, die früher im Hause der Sonnenschein gewesen war, kam; wurde auch der Doktor in seinem Äußern gebeugter und ernster. Aber die ruhige Herzlichkeit seines Wesens und seine wohlwollend schonende Art, mit der er seine Gattin behandelte, schien womöglich noch zuzunehmen. Einmal, ganz früh am Morgen ihres Geburtstags, als sie sich an das Fenster setzte, faßte er ihren Kopf mit beiden Händen, küßte sie auf die Stirn und verließ eilig das Zimmer, zu gerührt, um zu bleiben. Sie stand da wie eine Bildsäule, dann senkte sie das Haupt, schlug die Hände zusammen und weinte vor unsäglichem Schmerz.

Nach diesem Vorfall kam es mir zuweilen vor, als wollte sie mich anreden, wenn wir allein waren. Aber sie brachte nie ein Wort heraus. Der Doktor machte immer nur Vorschläge, sie möge sich mit ihrer Mutter außer Haus Zerstreuung verschaffen, und Mrs. Markleham, der das sehr paßte, strömte vor Lob über. Aber Ännie ging stets ganz teilnahmslos mit und schien an nichts Freude zu finden.

Ich wußte nicht, was ich mir denken sollte. Ebensowenig meine Tante, die in ihrer Ungewißheit wohl schon hundert Meilen abmarschiert haben mußte. Das Seltsamste aber war, daß der einzig wirkliche Troststrahl, der in das Geheimnis dieses häuslichen Unglücks fiel, von Mr. Dick ausging.

Welche Gedanken er sich über die Sache machte oder wie viel er davon in Erfahrung gebracht, weiß ich nicht. Aber seine Verehrung für den Doktor war von jeher grenzenlos gewesen, und wahre Zuneigung, selbst wenn sie von einem Tiere dem Menschen gegenüber ausgeht, besitzt eine Feinheit der Beobachtung, hinter der der schärfste Verstand zurückbleibt. In diesen Herzenssinn, wenn ich es so nennen darf, fielen bei Mr. Dick einige helle Strahlen der Wahrheit.

Mit Stolz hatte er wieder von seinem alten Vorrecht, in seinen freien Stunden mit dem Doktor im Garten auf- und abzugehen wie damals in Canterbury, Gebrauch gemacht. Aber kaum war die Krisis eingetreten, widmete er seine ganze freie Zeit vom frühesten Morgen an diesen Spaziergängen. Er hatte immer schon vor Freude gestrahlt, wenn ihm der Doktor aus seinem wunderbaren Werke, dem Wörterbuch, vorlas, jetzt aber war er schwer unglücklich, wenn es nicht geschah. Während der Doktor und ich miteinander arbeiteten, hatte er sich jetzt mit Mrs. Strong auf- und abzugehen und ihr bei der Pflege ihrer Lieblingsblumen oder beim Jäten der Beete zu helfen angewöhnt. Er sprach wohl kaum ein Dutzend Worte in der Stunde. Aber seine stille Teilnahme und sein aufmerksames Gesicht fanden Widerhall im Herzen beider. Und so wurde er ein Bindeglied, ein einigendes Band zwischen ihnen, was niemand sonst hätte werden können.

Wenn ich daran denke, wie er mit unsäglich weisem Gesicht neben dem Doktor herschritt, entzückt, mit den schweren Worten des Wörterbuchs beschossen zu werden, hinter Ännie große Gießkannen hertrug, auf den Beeten niederkniete und geduldig mit wahren Tatzen von Handschuhen seine Arbeit unter den kleinen Blättern verrichtete und in allem, was er tat, ein zartes Bestreben an den Tag legte, Mrs. Strongs Freund zu sein, – wie er niemals in seinem Dienste erlahmte, niemals den unglücklichen König Karl mit in den Garten brachte –, immer begreifend, daß etwas nicht in Ordnung sei und wiedergutgemacht werden müßte, – so schäme ich mich fast, ihn für nicht geistig normal gehalten zu haben, wenn ich daran denke, wie wenig ich mit meinem Verstände ausgerichtet habe.

»Niemand als ich kennt diesen Mann, Trot«, sagte meine Tante voll Stolz, wenn wir darüber sprachen. »Dick wird sich noch auszeichnen.«

 

Ehe ich dieses Kapitel schließe, muß ich noch von einem andern Vorfall sprechen. Während der Besuch noch bei Dr. Strong war, bemerkte ich, daß der Postbote jeden Morgen Uriah Heep, der die ganze Zeit über in Highgate geblieben war, zwei oder drei Briefe brachte. Sie waren von Mr. Micawber, der sich jetzt eine ausgeschriebene Kanzlistenhandschrift angewöhnt hatte, adressiert. Ich nahm aus diesen kleinen Zeichen an, daß Mr. Micawber sich wohl befinde, und war um so mehr erstaunt, als ich folgenden Brief von seiner liebenswürdigen Gattin empfing.

Canterbury, Montag abends.

Sie werden sich wahrscheinlich wundern, lieber Mr. Copperfield, einen Brief von mir zu erhalten. Noch mehr werden Sie über seinen Inhalt erstaunt sein. Und mehr noch darüber, daß ich Ihnen unbedingtes Schweigen abverlange. Aber meine Gefühle als Gattin und Mutter bedürfen der Erleichterung, und da ich meine Familie nicht zu Rate ziehen kann, habe ich niemand, den ich darum bitten könnte, als meinen Freund und früheren Mieter.

Sie wissen, lieber Mr. Copperfield, daß zwischen mir und Mr. Micawber, den ich nie verlassen werde, immer gegenseitiges Vertrauen geherrscht hat. Mr. Micawber hat vielleicht manchmal einen Wechsel ausgestellt, ohne mich zu Rate zu ziehen, oder mich hinsichtlich der Verfallzeit getäuscht. Aber im großen ganzen hat er vor dem Altar der Liebe – ich meine damit seine Gattin – keine Geheimnisse gehabt und hat regelmäßig beim Zubettgehen die Ereignisse des Tages mit mir besprochen.

Sie können sich nun denken, lieber Mr. Copperfield, wie tief mein Schmerz sein muß, wenn ich Ihnen anvertraue, daß Mr. Micawber sich ganz und gar verändert hat. Er ist zurückhaltend. Er ist geheimnisvoll. Sein Leben ist ein Rätsel für die Gefährtin seiner Freuden und seines Kummers – ich meine wieder seine Gattin –, und wenn ich Ihnen sage, daß ich so wenig von ihm weiß – außer daß er sich vom Morgen bis zum späten Abend in der Kanzlei befindet –, so wenig von ihm weiß wie von dem Mann im Märchen vom kalten Pflaumenpudding, so deute ich die wirkliche Tatsache nur entfernt an.

Aber das ist noch nicht alles. Mr. Micawber ist mürrisch. Er ist streng. Er ist seinem ältesten Sohn und seiner Tochter entfremdet. Er sieht in seinen Zwillingen nicht mehr den Stolz der Familie, selbst den unschuldigen Neuling, der als letztes Mitglied in unsern Kreis getreten ist, blickt er mit gleichgültigem Auge an. Selbst die allernötigsten pekuniären Mittel zur Bestreitung unserer Ausgaben sind von ihm nur mit größter Schwierigkeit zu erlangen, und unerbittlich verweigert er jede Aufklärung über seine uns zur Verzweiflung bringende Politik des Schweigens.

Es ist kaum zu ertragen! Es ist herzzerbrechend! Wenn Sie in Anbetracht meiner schwachen Kräfte mir einen Rat geben wollen, was am besten in einem so ungewöhnlichen Dilemma zu tun ist, so würden Sie zu den vielen Freundschaftsbeweisen, die Sie mir schon erbrachten, noch einen neuen hinzufügen. Mit einem herzlichen Gruß von den Kindern und einem Freundeslächeln von dem zum Glück noch nichtsahnenden Neuling

verbleibe ich, lieber Mr. Copperfield, Ihre tiefbetrübte
       Emma Micawber.

Ich fühlte mich nicht berechtigt, einer Frau wie Mrs. Micawber einen andern Rat zu geben als den, sie möge versuchen, ihren Gatten durch Geduld und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Jedenfalls aber mußte ich über den Brief lange und oft nachdenken.