60. Kapitel Agnes


60. Kapitel Agnes

Meine Tante und ich unterhielten uns bis spät in die Nacht. Die Auswanderer schrieben, erfuhr ich, nur hoffnungsvolle und gute Dinge nach Hause, Mr. Micawber hatte wirklich bei verschiedenen Gelegenheiten kleine Summen zur Tilgung seiner pekuniären Verpflichtungen, »wie es Männern geziemt«, abgezahlt, und Janet, die wieder bei meiner Tante bei deren Rückkehr nach Dover in Dienst getreten war, hatte ihrer Lossagung vom Männergeschlecht damit die Krone aufgesetzt, daß sie einem aufstrebenden Gastwirt ihre Hand reichte. Meine Tante hatte sie in ihrem Vorhaben bestärkt und die Trauung mit ihrer Anwesenheit beehrt. Dies und vieles andere, was mir zum Teil schon durch Briefe bekannt war, bildete unsere Gesprächsthemen. Mr. Dick wurde natürlich nicht vergessen. Meine Tante erzählte mir, er sei unablässig bemüht, alles mögliche abzuschreiben, um durch den Anschein von Beschäftigung König Karl I. in respektvoller Entfernung zu halten, und es sei eine der Hauptfreuden ihres Lebens, ihn in Freiheit und glücklich zu sehen, und nur sie allein könne wissen, was an diesem Manne sei.

»Und wann, Trot«, sagte sie und streichelte meine Hand wie früher, wenn wir vor dem Feuer saßen, »wann wirst du nach Canterbury gehen?«

»Ich werde mir morgen früh ein Pferd mieten und hinüber reiten. Außer, du wolltest mitfahren.«

»Nein«, sagte meine Tante in ihrer kurz angebundnen Weise. »Ich bleibe, wo ich bin.«

»Dann reite ich also. Wenn ich zu jemand anders als zu dir gereist wäre, hätte ich heute nicht ohne Aufenthalt durch Canterbury fahren können.«

Das freute meine Tante. Sie streichelte wieder sanft meine Hand und antwortete: »Ach was, Trot, meine alten Knochen würden auch noch bis morgen zusammengehalten haben«, während ich gedankenvoll ins Feuer sah.

Gedankenvoll! Konnte ich doch nicht hier so unmittelbar in Agnes‘ Nähe sein, ohne daß nicht die schmerzlichen Gedanken in mir wieder auflebten, die mich so lange beschäftigt hatten. Gemildert mochte der Schmerz sein, der mich lehrte, was ich in früheren Tagen zu lernen versäumt, aber es war trotz alledem Schmerz. »Trot«, hörte ich im Geiste meine Tante wieder sagen und verstand sie jetzt besser, – »blind, blind, blind!«

Wir schwiegen beide einige Minuten lang. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich, daß sie mich unausgesetzt beobachtete. Vielleicht hatte sie meinen Gedankengang verfolgt; war es doch jetzt leicht, ihm nachzugehen, so kraus er früher gewesen sein mochte.

»Du wirst ihren Vater als weißköpfigen Greis wiederfinden«, sagte sie, »obgleich er in anderer Hinsicht ein besserer, ein wiedergewonnener Mensch ist. Du wirst auch nicht mehr hören, daß er alle menschlichen Interessen, Freuden und Schmerzen mit seinem armseligen kleinen Zollstab mißt. Glaube mir, Kind, derlei Dinge müssen sehr einschrumpfen, ehe man sie in dieser Weise messen kann.«

»Sehr richtig«, sagte ich.

»Und Agnes wirst du so gut, so schön, so ernst und selbstlos finden wie immer. Wenn ich ein größeres Lob wüßte, Trot, würde ich es ihr erteilen.«

Es gab kein größeres Lob für sie, keinen größern Vorwurf für mich. O, wie weit hatte ich mich verirrt!

»Wenn es ihr gelingt, die jungen Mädchen, die sie um sich hat, nach ihrem Vorbild zu erziehen«, sagte meine Tante, und Tränen traten ihr in die Augen, »so hat sie ihr Leben gut angewendet, weiß der Himmel. Nützlich und glücklich, wie sie damals sagte.«

»Hat Agnes einen –« dachte ich mehr laut, als ich sagte.

»Was? He? Einen – was?« fragte meine Tante scharf.

»Einen Bewerber?«

»Ein Schock!« rief meine Tante mit einer Art von entrüstetem Stolz. »Sie hätte zwanzigmal heiraten können, mein Lieber, während du fort warst.«

»Ohne Zweifel«, sagte ich. »Ohne Zweifel. Aber hat sie einen Bewerber, der ihrer würdig ist? Um einen andern würde sie sich nicht kümmern.«

Meine Tante saß eine Weile nachdenklich da, das Kinn auf die Hand gestützt, dann blickte sie langsam auf, sah mich fest an und sagte:

»Ich vermute, sie liebt, Trot.«

»Glücklich?«

»Trot«, erwiderte meine Tante mit großem Ernst, »das kann ich dir nicht sagen. Selbst nur soviel zu sagen, habe ich kein Recht. Sie hat es mir nie anvertraut, aber ich vermute es.«

Sie sah mich so aufmerksam und ängstlich an; sie zitterte sogar dabei, und ich fühlte jetzt genau, daß sie vorhin meine Gedanken verfolgt hatte.

Ich nahm alle meine Entschlossenheit, die ich mir in diesen vielen Tagen und Nächten erkämpft, zusammen.

»Wenn es sich so verhält, und ich hoffe, es ist so –«

»Ich weiß es nicht«, unterbrach mich meine Tante kurz. »Du darfst dich nicht durch meine Vermutungen bestimmen lassen. Du mußt sie geheimhalten. Sie sind vielleicht ganz unbegründet. Ich habe kein Recht, darüber zu sprechen.«

»Sollte es der Fall sein«, wiederholte ich, »so wird es mir Agnes mitteilen, wenn die Zeit gekommen ist. Eine Schwester, der ich so viel anvertraut habe, wird gewiß in ihrem Vertrauen zu mir nicht kargen.«

Meine Tante wendete ihre Augen langsam und gedankenvoll von mir ab. Dann legte sie mir die Hand auf die Schulter, und so saßen wir beide schweigend da und blickten in die Vergangenheit zurück, bis die späte Stunde uns trennte.

 

Früh am Morgen ritt ich nach dem Schauplatz meiner Schulzeit. Ich kann nicht sagen, daß ich mich in der Hoffnung, einen großen Sieg über mich zu gewinnen, selbst bei der Aussicht, Agnes in einigen Stunden wiederzusehen, sehr glücklich fühlte.

Die wohlbekannte Gegend war schnell durchritten, und ich kam in die stillen Straßen, wo jeder Stein ein Kinderbuch für mich war. Ich ging zu Fuß nach dem alten Hause und kehrte wieder um, das Herz zu voll, um einzutreten. Ich kam wieder, und als ich im Vorbeigehen durch die niedrigen Fenster des Turmstübchens blickte, wo zuerst Uriah Heep und dann später Mr. Micawber gesessen, bemerkte ich, daß es jetzt ein kleines Wohnzimmer war und keine Kanzlei mehr. Sonst sah das stille alte Haus in seiner Reinlichkeit und Ordnung unverändert aus.

Ich ließ durch das neue Mädchen, das mir öffnete, Miss Wickfield sagen, ein Herr sei im Auftrage eines Freundes im Ausland hier, und sie führte mich die dunkle alte Treppe hinauf und warnte mich vor den mir doch so wohlbekannten Stufen. Die Bücher, die Agnes und ich zusammen gelesen, lagen auf ihren Regalen, und das Pult, an dem ich manchen Abend meine Schularbeiten gemacht, stand noch auf derselben Ecke des Tischs. Alle die kleinen Veränderungen, die sich mit den Heeps eingeschlichen hatten, waren beseitigt. Alles sah so aus wie in den alten glücklichen Zeiten.

Ich blickte über die alte Straße auf die gegenüberliegenden Häuser und mußte an die regnerischen Nachmittage in meiner Jugendzeit denken, wo ich mancherlei Betrachtungen über die Leute, die hinter den Fenstern auftauchten, angestellt und ihnen mit meinen Blicken treppauf, treppab, gefolgt war, während Frauen in Holzschuhen das Pflaster entlangklapperten und in schrägen Strichen der Regen fiel und aus der Wassertraufe in den Rinnstein schoß. Die Empfindungen, mit denen ich die Landstreicher betrachtet hatte, wie sie an solchen Regentagen in der Dämmerung durch die Stadt hinkten, triefende Bündel an Stöcken über der Schulter, kamen wieder über mich wie damals –, unzertrennlich verknüpft mit dem Geruch feuchter Erde, nasser Blätter und Dornsträucher und der Kühle des Windes, der mich auf meiner mühseligen Wanderung angeweht hatte.

Das Aufgehen der kleinen Tür in der getäfelten Wand schreckte mich aus meinem Brüten, und ich wandte mich um. Agnes‘ schöne klare Augen begegneten den meinen. Sie blieb stehen und legte die Hand aufs Herz, und ich schloß sie in meine Arme.

»Agnes, meine liebe Agnes, ich habe dich allzu unvorbereitet überrascht.«

»Nein, nein! Ich bin so froh, dich wiederzusehen, Trotwood.«

»Liebe Agnes, was für ein Glück für mich, dich wieder einmal zu sehen.«

Ich drückte sie an meine Brust, und eine Weile lang schwiegen wir beide. Dann setzten wir uns nebeneinander hin, und ihr Engelsgesicht blickte mich an mit dem Willkommen, von dem ich Jahre wachend und schlafend geträumt.

Sie war so schön, so gut, so offen, – ich schuldete ihr so viel Dank, daß ich keine Worte für meine Empfindungen zu finden vermochte. Ich versuchte ihr zu sagen und zu danken, wie schon so oft in meinen Briefen, welchen Einfluß sie auf mich gehabt habe; aber vergebens. Meine Liebe und meine Freude waren stumm.

Mit der ihr eignen lieblichen Ruhe besänftigte sie meine Aufregung, führte mich zurück zu der Zeit unseres Abschieds, erzählte mir von Emly, die sie vor der Auswanderung im geheimen viele Male besucht hatte, sprach mit zartsinnigem Mitleid von Doras Grab. Mit dem niemals irrenden Instinkt ihres Herzens berührte sie die Saiten in meiner Erinnerung so sanft und harmonisch, daß auch nicht eine einzige verstimmt erklang. Ich konnte der trauervollen fernen Musik zuhören, ohne Schmerz zu empfinden. Wie hätte es auch anders sein können, wo alles von ihr, dem guten Engel meines Lebens, durchdrungen war.

»Und du, Agnes?« fragte ich endlich, »erzähl mir von dir! Du hast mir noch kein Wort gesagt, wie es dir die ganze Zeit über ergangen ist.«

»Was soll ich dir erzählen!« gab sie mit ihrem strahlenden Lächeln zur Antwort. »Papa ist wohl. Du findest uns hier still und friedlich in unserm eignen Hause; unsere Sorgen sind zu Ende, unsere alte Umgebung ist wieder, wie sie war, und wenn du das weißt, lieber Trotwood, dann weißt du alles.«

»Alles Agnes?«

Sie sah mich an mit einer gewissen unruhigen Verwunderung.

»Weiter nichts, Schwester?«

Das Rot in ihren Wangen, das einen Augenblick verschwunden war, kehrte zurück und schwand wieder. Sie lächelte stilltraurig, wie mir schien, und schüttelte den Kopf.

Ich hatte sie auf das bringen wollen, was meine Tante angedeutet; so tief schmerzlich es auch für mich sein mußte, das Geheimnis zu erfahren, so mußte ich doch mein Herz bezwingen und meine Pflicht gegen sie erfüllen. Doch als ich sah, daß sie unruhig wurde, gab ich es auf.

»Du bist sehr beschäftigt, liebe Agnes?«

»Mit meiner Schule?« fragte sie und blickte mich wieder mit ihrer alten heiteren Fassung an.

»Ja. Es ist eine anstrengende Arbeit, nicht wahr?«

»Die Arbeit ist so angenehm, daß es fast undankbar ist, sie eine solche zu nennen.«

»Nichts Gutes ist schwer für dich«, sagte ich.

Abermals wechselte sie die Farbe, und wieder sah ich dasselbe trübe Lächeln, als sie den Kopf neigte.

»Du bleibst jetzt doch hier und wartest auf Papa?« fragte sie heiter, »und wirst den ganzen Tag mit uns verleben; vielleicht in deinem alten Zimmer schlafen. Wir nennen es immer noch dein Zimmer.«

Das ging nicht an, denn ich hatte meiner Tante versprochen, noch abends zurückzukehren. Aber mit Freuden wollte ich den Tag über dableiben.

»Ich habe noch eine kleine Weile zu tun«, sagte sie, »aber hier sind die alten Bücher, Trotwood, und die alten Musikalien.«

»Selbst dieselben Blumen sind noch da, wenn auch nicht die alten.«

»Ich habe während deiner Abwesenheit ein Vergnügen darin gefunden«, gab Agnes lächelnd zur Antwort, »alles so zu erhalten wie in unserer Kinderzeit. Damals waren wir sehr glücklich, nicht wahr?«

»Das weiß Gott.«

»Und jede Kleinigkeit, die mich an meinen Bruder erinnerte«, und ihre herzlichen Augen ruhten fröhlich auf mir, »war mir ein willkommener Gefährte. Selbst dieses«, – sie zeigte auf das Schlüsselkörbchen an ihrer Seite, – »scheint mir eine Art vertraute Melodie zu klimpern.«

Sie lächelte wieder und verließ durch die kleine Tür das Zimmer.

 

Ich empfand es als Pflicht, ihre schwesterliche Liebe mit frommer Sorgfalt zu hüten. Sie war alles, was mir noch blieb, und ein Schatz. Wenn ich ihr ein einziges Mal die Grundlage des geheiligten Vertrauens und der Gewohnheit, kraft deren sie mir geschenkt worden, entzog, so war sie verloren und für immer dahin. Ich stellte mir das klar vor Augen. Je mehr ich Agnes liebte, desto weniger durfte ich das vergessen.

Ich schlenderte durch die Straßen, und als ich meinen alten Gegner, den Metzger, sah, der jetzt Konstabler, wie der Amtsstab in seinem Laden verriet, war, ging ich auch nach dem Platz, wo ich mit ihm geboxt hatte, und dachte dort an Miss Shepherd und die älteste Miss Larkins und all die kindischen Liebeleien und Freundschaften von damals. Nichts schien diese Zeit überlebt zu haben, nur Agnes, und sie, die immer wie ein Stern gewesen war, strahlte heller und höher.

Als ich zurückkam, traf ich Mr. Wickfield zu Hause. Er beschäftigte sich fast täglich in einem Garten außerhalb der Stadt. Ich fand ihn ganz so, wie ihn meine Tante beschrieben hatte. Wir setzten uns mit einem halben Dutzend kleiner Mädchen zu Tisch, und er war wie der Schatten seines schönen Bildes an der Wand.

Der stille Frieden, der von alters her mit diesem Ort in meinem Gedächtnis verbunden ist, lag wieder auf allem. Da Mr. Wickfield nach dem Essen keinen Wein trank, gingen wir sogleich hinauf, wo Agnes und ihre kleinen Schülerinnen sangen, spielten und arbeiteten. Nach dem Tee gingen die Kinder, und wir drei setzten uns zusammen und plauderten von vergangenen Tagen.

»Wenn ich zurückdenke«, sagte Mr. Wickfield und schüttelte das weiße Haupt, »überkommt es mich wie tiefe Reue, lieber Trotwood, aber ich möchte nichts ausstreichen, wenn es auch in meiner Macht stünde.«

Ich glaubte ihm das gerne, wenn ich das Gesicht neben ihm erblickte.

»Ich würde damit so viel Geduld, Hingebung, so viel Treue und Kindesliebe ausstreichen, die ich nicht vergessen darf. Nein, nicht einmal, um mich selbst zu vergessen.«

»Ich verstehe«, sagte ich leise. »Ich verehre sie, – ich habe sie immer verehrt.«

»Aber niemand weiß, wieviel sie getan, wieviel sie gelitten, wie sehr sie gekämpft hat. Gute Agnes!«

Sie legte bittend die Hand auf seinen Arm, damit er schweige, und war ganz blaß geworden.

»Nun, sei es«, sagte er mit einem Seufzer und, wie ich wohl merkte, über etwas hinweggehend, was mit dem von meiner Tante Geäußerten in Verbindung stehen mußte. »Ich habe wohl noch nie etwas von ihrer Mutter erzählt?«

»Niemals, Mr. Wickfield.«

»Es ist nicht viel zu erzählen, – obgleich sie viel zu leiden hatte; sie heiratete mich gegen ihres Vaters Willen, und er verstieß sie. Sie bat ihn, ihr zu verzeihen, ehe Agnes auf die Welt kam. Er war ein sehr harter Mann, und ihre Mutter lag schon lange im Grabe. Er wies sie zurück. Er brach ihr das Herz.«

Agnes lehnte den Kopf an ihres Vaters Schulter und schlang sanft den Arm um seinen Hals.

»Sie hatte ein liebevolles und weiches Herz«, fuhr er fort, »und es brach. Ich wußte wohl, wie zart es war. Niemand konnte es so gut wissen wie ich. Sie liebte mich innig, fühlte sich aber nie ganz glücklich. Sie litt immer im geheimen unter diesem Kummer, und da sie zart war und schwermütig zur Zeit dieser letzten Abweisung – denn es war nicht das erste Mal –, siechte sie hin und starb. Sie hinterließ mir Agnes, zwei Wochen alt, und graues Haar –«

Er küßte Agnes auf die Wange.

»Meine Liebe zu dem teuern Kind war eine krankhafte Liebe, aber mein ganzes Innere war damals krank. Ich will nicht davon sprechen. Ich spreche nicht von mir, Trotwood, sondern von ihrer Mutter und ihr. Wie Agnes ist, brauche ich nicht zu sagen. Ich habe in ihrem Charakter etwas von der Geschichte ihrer armen Mutter gelesen und erzähle es heute abend, wo wir alle drei nach so viel Wechselfällen wieder beisammensitzen. Ich habe alles gesagt.«

Sein gebeugtes Haupt und Agnes‘ Engelsgesicht und ihre Kindesliebe erhielten dadurch für mich eine noch viel rührendere Bedeutung.

Nach einer kurzen Pause stand Agnes auf, ging von ihres Vaters Seite leise zum Klavier und spielte ein paar Melodien, denen wir so oft in diesem Zimmer gelauscht hatten.

»Beabsichtigst du England wieder zu verlassen?« fragte sie mich, als ich dann neben ihr stand.

»Was meinst du darüber?«

»Ich hoffe nicht.«

»Dann beabsichtige ich es auch nicht, Agnes.«

»Ich denke, du solltest es nicht tun, wenn du mich schon fragst«, sagte sie sanft. »Dein wachsender Ruf erschließt dir die Möglichkeit Gutes zu wirken, und wenn ich auch meinen Bruder entbehren könnte«, – ihre Augen ruhten still auf mir – »so könnte es vielleicht unsere jetzige Zeit nicht.«

»Nur du hast mich zu dem gemacht, was ich bin, Agnes. Das weißt du am besten.«

»Ich dich dazu gemacht, Trotwood?«

»Ja, meine liebe Agnes!« sagte ich und beugte mich über sie. Als wir heute beisammensaßen, versuchte ich, dir etwas zu sagen, was mir im Kopf herumging seit Doras Tod. Weißt du noch, als du zu mir in unser kleines Zimmer tratest, wie du aufwärts wiesest, Agnes?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, Trotwood, so liebevoll, vertrauend und so jung war sie! Wie könnte ich das jemals vergessen!«

»So, wie du damals vor mir standest, Schwester, habe ich deiner oft gedenken müssen. Du zeigtest mir immer nach oben, Agnes, und führtest mich zu immer Besserem und Höherem.«

Sie schüttelte nur den Kopf; durch ihre Tränen sah ich wieder das alte trübe Lächeln.

»Und ich bin dir so dankbar dafür, Agnes, daß ich keinen Ausdruck dafür finde. Wenn ich es dir auch nicht sagen kann, wie ich möchte, so will ich, daß du weißt, wie ich mein ganzes Leben lang zu dir aufblicken und mich von dir leiten lassen möchte, wie damals durch die Dunkelheit, die jetzt vorüber ist. Was auch geschehen mag, welche neue Bande du knüpfen wirst, welche Veränderungen zwischen uns treten mögen, immer werde ich zu dir aufblicken und dich lieben wie von jeher. Bis ich sterbe, meine liebe Schwester, werde ich dich immer so vor mir sehen, emporzeigend.«

Sie reichte mir ihre Hand und sagte mir, sie sei stolz auf mich und auf das, was ich eben gesagt, obgleich ich sie weit über ihr Verdienst lobe. Dann spielte sie leise weiter, ohne ihre Augen von mir abzuwenden.

»Weißt du, Agnes, daß das, was ich eben von deinem Vater hörte, seltsamerweise ein Teil des Gefühls zu sein scheint, mit dem ich dich schon betrachtete, als ich dich das erste Mal sah und dann neben dir saß in meinen ungestümen Schuljahren?«

»Du wußtest, daß ich keine Mutter hatte, und fühltest dich zu mir hingezogen.«

»Mehr als das, Agnes. Ich wußte fast, als ob ich diese Geschichte gekannt hätte, daß etwas unerklärlich Mildes dich umgibt, etwas, was bei einer andern traurig gewirkt hätte, nur an dir nicht.«

Sie spielte leise weiter und sah mich immer noch an dabei.

»Du lächelst vielleicht darüber, daß ich solchen Phantasien nachhänge, Agnes?«

»Nein.«

»Oder wenn ich dir sage, daß ich damals schon fühlte, du werdest trotz aller Entmutigungen getreulich ausharren in deiner Liebe und nie damit aufhören bis zum Tod?«

»O nein, o nein!«

Einen Augenblick flog ein kummervoller Schatten über ihr Gesicht, aber noch während des Schreckens, den ich darüber empfand, war er bereits verschwunden.

Als ich in der einsamen Nacht nach Hause ritt und der Wind an mir vorüberstrich wie ein Zug ruheloser Erinnerungen, mußte ich immerwährend daran denken und konnte die Befürchtung nicht loswerden, daß sie sich nicht glücklich fühle. Ich war sicher unglücklich. Aber soweit hatte ich getreulich mit der Vergangenheit abgeschlossen, und wenn ich sie im Geiste aufwärts deuten sah, da war mir, als wiese sie empor wie in eine unenträtselbare Zukunft, wo ich sie doch vielleicht dereinst mit einer auf Erden unbekannten Liebe umfangen und ihr sagen könnte, welchen Kampf ich hier unten durchgerungen.

34. Kapitel Eine große Überraschung


34. Kapitel Eine große Überraschung

Ich schrieb sogleich nach meiner Verlobung an Agnes einen langen Brief, in dem ich ihr begreiflich zu machen suchte, wie glücklich ich sei und welchen Schatz ich in Dora gefunden. Ich bat sie, es ja nicht als eine oberflächliche Leidenschaft zu betrachten, die jemals verfliegen könnte oder nur im mindesten den kindischen Verliebtheiten gliche, wegen deren sie mich immer zu necken pflegte. Ich versicherte ihr, daß die Tiefe unserer Gefühle unergründlich sei, und sprach die Überzeugung aus, daß so etwas noch nie existiert habe.

Zuweilen, wenn ich an Agnes an einem schönen Abend am offnen Fenster schrieb und die Erinnerung an ihr klares, ruhiges Auge und ihr sanftes Antlitz mich beschlich, kam ein solcher Frieden über mich, daß ich weich wurde bis zu Tränen.

Von Steerforth sagte ich nichts. Ich schrieb nur, daß Emlys Flucht in Yarmouth viel schweren Kummer angerichtet habe und daß ich deswegen doppelt litte. Ich wußte, sie würde sofort die Wahrheit erraten und nie seinen Namen zuerst erwähnen.

Auf meinen Brief erhielt ich umgehend Antwort. Als ich ihn las, da war mir, als spräche Agnes zu mir. Er klang in meinen Ohren wie ihre herzgewinnende Stimme. Was kann ich mehr sagen!

Während meiner Abwesenheit hatte Traddles ein paarmal bei mir vorgesprochen. Er hatte Peggotty angetroffen, von ihr gehört, daß sie meine alte Kindsfrau sei, sich mit ihr rasch angefreundet und war dageblieben, um mit ihr ein wenig über mich zu plaudern. So erzählte wenigstens Peggotty, aber ich fürchte sehr, daß das Plaudern nur von ihr allein ausging und gewöhnlich lang dauerte, da es sehr schwer war, ihren Redefluß zu bremsen, wenn es sich um mich drehte.

Das erinnert mich nicht bloß, daß ich Traddles an einem gewissen Nachmittag, den er selbst bestimmt hatte, erwartete, sondern auch daran, daß Mrs. Crupp ihr Amt, wenn auch nicht ihren Lohn, aufgegeben hatte, bis Peggotty nicht mehr ins Haus käme. Nachdem sie eines Tages mit sehr schriller Stimme auf der Treppe offenbar mit einem unsichtbaren Hauskobold, – denn körperlich war sie allein – verschiedene Zwiegespräche über Peggotty gehalten, richtete sie einen Brief an mich, in dem sie ihre Ansichten in Worte faßte. Beginnend mit jenem Ausdruck von universeller Tragweite, der für jedes Ereignis im Leben paßte, nämlich, daß sie selbst Mutter sei, – wies sie darauf hin, daß sie einst ganz andere Tage gesehen, aber zu allen Zeiten ihres Lebens einen stark ausgeprägten Widerwillen gegen Spione, Eindringlinge und Denunzianten empfunden habe. Sie nenne keinen Namen, sagte sie. Wer sich getroffen fühle, der nehme sich selbst beim Ohr, aber Spione, Eindringlinge und Denunzianten, vorzüglich solche in Witwenkleidern (das war unterstrichen), habe sie stets verachtet. Wenn ein Gentleman mit aller Gewalt Spionen, Eindringlingen und Denunzianten – (sie nenne noch immer keine Namen) zum Opfer fallen wolle, so sei das seine Sache, er könne sich das nach Gutdünken einrichten, nur das eine bedinge Mrs. Crupp sich aus, nämlich, daß sie mit solchen Personen nicht in »Kontrakt« gebracht würde. Aus diesem Grunde wolle sie von weitem Dienstleistungen im obern Stockwerk enthoben sein, bis die Dinge wieder wie früher stünden und so, wie sie dieselben wünschte.

Jeden Sonntagmorgen würde ich auf dem Frühstückstisch ihr kleines Verrechnungsbuch vorfinden, und sie bäte um jedesmalige umgehende Bezahlung desselben, damit »allen Teilen Mühe und Unannehmlichkeiten« erspart blieben.

Nach diesem Brief beschränkte sich Mrs. Crupp darauf, auf den Treppen vermittelst Wasserkannen Fallen zu stellen, um Peggotty zu einem Beinbruch zu verhelfen. Ich fand es ein wenig lästig, in einem derartigen Belagerungszustand zu leben, fürchtete mich aber zu sehr vor Mrs. Crupp, um an Abhilfe zu denken.

»Mein lieber Copperfield, wie gehts dir?« sagte Traddles, der allen diesen Hindernissen zum Trotz pünktlich in meiner Tür erschien.

»Lieber Traddles, ich freue mich außerordentlich, dich endlich wiederzusehen, und es tut mir nur leid, daß ich nicht früher mit dir zusammenkommen konnte. Aber ich war so viel in Anspruch genommen –«

»Natürlich«, sagte Traddles, »ich weiß schon. ›Die Deinige‹ lebt in London, glaube ich.«

»Was sagst du da?«

»Sie – entschuldige – Miss D. meine ich«, sagte Traddles und wurde vor lauter Zartgefühl rot, »wohnt in London, glaube ich.«

»Jawohl. In der Nähe von London.«

»Meine«, sagte Traddles mit ernstem Blick, »lebt unten in Devonshire – eine von zehn Schwestern. Demzufolge bin ich nicht soviel in Anspruch genommen als du; – in dieser Hinsicht.«

»Ich begreife nicht, wie du es aushalten kannst, sie so selten zu sehen.«

»Ha«, sagte Traddles gedankenvoll, »es ist auch das reinste Wunder. Wahrscheinlich ertrage ich es, Copperfield, weil ich es nicht ändern kann.«

»Wahrscheinlich«, sagte ich mit einem Lächeln und nicht ohne ein wenig zu erröten, »und weil du so geduldig und beständig bist, Traddles.«

»Mein Gott, komme ich dir wirklich so vor, Copperfield? Ich hätte mir das wirklich nicht zugetraut. Aber sie ist ein so außerordentlich liebes Mädchen, daß sie mich wahrscheinlich mit diesen guten Eigenschaften angesteckt hat. Es sollte mich gar nicht wundern. Ich versichere dir, sie denkt nie an sich und ist immer nur um die andern neun besorgt.«

»Ist sie die Älteste?«

»Ach Gott, nein. Die Älteste ist eine Schönheit.«

Er bemerkte wahrscheinlich, daß ich über die Einfalt seiner Antwort lächeln mußte, und fügte mit freundlicher Miene hinzu:

»Nicht etwa, daß meine Sophie – ein hübscher Name, Copperfield, nicht wahr –«

»Sehr hübsch.«

»Nicht etwa, daß Sophie in meinen Augen nicht auch schön wäre und in jedermanns Augen für eines der liebenswürdigsten Mädchen gelten müßte, aber wenn ich sage, die Älteste ist eine Schönheit, so meine ich, daß sie in Wirklichkeit eine –« er malte mit beiden Händen rings um sich her Wolken in die Luft. »Bezaubernd, du verstehst mich schon«, sagte er mit Energie.

»Gewiß.«

»O, ich versichere dir, wirklich etwas ganz Ungewöhnliches. Da sie aber ganz für die Gesellschaft und zum Bewundertwerden geschaffen ist, wegen der beschränkten Mittel der Familie jedoch wenig davon genießen kann, ist sie natürlich manchmal ein bißchen reizbar und verstimmt. Sophie gibt ihr aber immer ihre gute Laune wieder.«

»Sophie ist die Jüngste?«

»Ach Gott, nein«, sagte Traddles und rieb sich das Kinn. »Die beiden Jüngsten sind erst neun und zehn Jahre. Sophie erzieht sie.«

»Also die zweite Tochter?«

»Nein. Sarah ist die Zweite. Die Ärmste hat irgend etwas mit dem Rückenmark. Es wird allmählich ausheilen, sagen die Ärzte, aber vorläufig muß sie mindestens zwölf Monate im Bett liegen. Sophie pflegt sie. Sophie ist die Vierte.«

»Lebt die Mutter noch?«

»O ja, sie lebt noch. Sie ist eine ganz vorzügliche Frau, aber die feuchte Gegend ist ihrer Gesundheit nicht zuträglich und – kurz, sie ist gelähmt.«

»O Gott!«

»Das ist sehr traurig, nicht wahr«, sagte Traddles, »aber vom Gesichtspunkt einer Haushaltung aus betrachtet ist es nicht gar so schlimm, denn Sophie vertritt ihre Stelle. Sie ist selbst ihr gegenüber Mutter, wie auch den neun andern.«

Ich fühlte die größte Bewunderung für die Tugenden der jungen Dame und fragte dann, mit der besten Absicht, Traddles bei seiner Gutmütigkeit möglichst vor Schaden zu bewahren, wie sich Mr. Micawber befände.

»Er befindet sich ganz wohl, Copperfield, aber ich wohne jetzt nicht mehr bei ihm.«

»Nicht?«

»Nein. Die Sache ist nämlich die«, sagte Traddles geheimnisvoll, »er hat wegen seiner momentanen Geldverlegenheiten den Namen Mortimer angenommen und geht nur nach Dunkelwerden aus und auch dann nur mit Brille. Es gab eine Exekution in unserm Haus der Miete wegen; Mrs. Micawber befand sich in so schlechter Verfassung, daß ich nicht anders konnte, als meinen Namen für den zweiten Wechsel hergeben, von dem neulich gesprochen wurde. Du kannst dir denken, wie angenehm es für mich war, Copperfield, als Mrs. Micawber wieder frischen Mut faßte.«

»Hm«, sagte ich.

»Freilich war ihr Glück nicht von langer Dauer, denn leider kam schon in der nächsten Woche eine zweite Exekution. Das versetzte dem Haushalt den Todesstoß. Ich habe mir seitdem ein möbliertes Zimmer gemietet, und die Mortimers leben ganz zurückgezogen. Du wirst mich gewiß nicht für selbstsüchtig halten, Copperfield, wenn ich dir verrate, daß der Exekutor auch meinen kleinen, runden Tisch mit der Marmorplatte und Sophies Blumentopf mitgenommen hat.«

»Das ist ein Schlag!« rief ich entrüstet.

»Es gab – es gab einen Ruck«, sagte Traddles mit seinem gewohnten Zucken bei diesem Worte. »Ich erwähne es gewiß nicht, um jemand einen Vorwurf damit zu machen, sondern aus einem ganz besondern Grund. Die Sache ist die, Copperfield, ich konnte nämlich damals die Dinge nicht zurückkaufen, erstens, weil der Gläubiger merkte, daß mir viel an ihnen lag, und den Preis entsetzlich in die Höhe trieb, und zweitens, weil ich – kein Geld hatte. Aber ich habe den Laden, in dem die Gegenstände jetzt stehen, nicht aus dem Auge verloren.« – Traddles schwelgte ordentlich im Hochgenuß seines Geheimnisses. – »Er befindet sich am obern Ende der Tottenham Court Road, und heute endlich sind sie zum Verkauf ausgestellt. Ich habe sie bloß von der andern Seite der Straße anzusehen mich getraut, denn wenn der Mann mich erblickte, wäre der Preis unerschwinglich. Da ich nun das Geld habe, ist mir der Gedanke gekommen, dich zu fragen, ob du etwas dagegen hast, wenn deine gute Kindsfrau – ich kann ihr den Laden von weitem zeigen – sie so billig wie möglich für mich zurückkaufen würde.« Die Wonne, mit der mir Traddles diesen Plan auseinandersetzte, und seine Freude über seine unendliche Schlauheit waren unbeschreiblich und stehen mir heute noch deutlich vor Augen.

Ich sagte ihm, daß Peggotty ihm mit größtem Vergnügen beistehen würde und daß wir alle drei das Schlachtfeld besichtigen gehen wollten, aber ich möchte eine Bedingung stellen, und zwar müßte er mir das feierliche Versprechen geben, niemals mehr Mr. Micawber seinen Namen oder irgend etwas sonst zu leihen.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, »das habe ich bereits gelobt, weil ich einzusehen beginne, daß ich nicht nur leichtsinnig, sondern geradezu rücksichtslos gegen Sophie gehandelt habe. Da ich mir bereits selbst das Wort gegeben habe, brauchst du weiter nichts mehr zu befürchten, aber ich gebe es auch dir noch einmal mit größter Bereitwilligkeit. Jenen ersten unglückseligen Wechsel habe ich bereits bezahlt. Ich zweifle keinen Augenblick, daß Mr. Micawber ihn eingelöst haben würde, wenn er gekonnt hätte. Aber er konnte nicht. Übrigens muß ich noch erwähnen, was mir an Mr. Micawber sehr gefällt, Copperfield. Es bezieht sich auf den zweiten Wechsel, der noch nicht fällig ist. Er sagte mir, daß zwar bisher noch keine Deckung dafür vorhanden sei, aber daß sie vorhanden sein werde. Ich finde das wirklich recht offen und ehrlich.«

Ich wollte meines Freundes guten Glauben nicht wanken machen und stimmte ihm daher bei. Sodann gingen wir Peggotty abholen, da Traddles den Abend nicht bei mir zubringen wollte, teils weil er in der lebhaftesten Angst schwebte, ein Fremder könnte ihm die Sachen vor der Nase wegkaufen, teils weil es der Abend der Woche war, an dem er an seine Braut zu schreiben pflegte.

Ich werde nie vergessen, wie er um die Straßenecke herumguckte, während Peggotty um die kostbaren Sachen schacherte, und wie aufgeregt er sich benahm, als sie nach vergeblichem Handeln langsam auf uns zukam, dann aber, von dem Händler zurückgerufen, wieder umkehrte. Das Resultat war, daß sie die Sachen verhältnismäßig billig zurückkaufte und Traddles vor Freude ganz außer sich geriet.

»Ich danke Ihnen wirklich recht sehr, Frau Peggotty«, sagte Traddles, als er vernahm, daß ihm die Gegenstände diesen Abend noch in die Wohnung geschickt werden sollten, »wenn ich aber noch um eins bitten dürfte, – du mußt mich nicht für überspannt halten, Copperfield –«

Ich versicherte ihm schon im voraus das Gegenteil.

»Also wenn es möglich wäre, den Blumentopf – er gehört ja Sophie, Copperfield, – gleich jetzt zu holen, so könnte ich ihn selbst nach Hause tragen.«

Peggotty erfüllte gern seine Bitte, und er überhäufte sie mit Danksagungen und ging dann, den Blumentopf zärtlich im Arm, mit dem freudigsten Gesicht von der Welt heimwärts.

Peggotty und ich kehrten zu meiner Wohnung zurück. Da die Läden immer auf sie einen ganz besondern Reiz ausübten, schlenderte ich gemächlich die Straße entlang und wartete, während sie mit großen Augen in alle Schaufenster guckte.

So brauchten wir eine ziemlich lange Zeit, um nach dem Adelphi zu kommen. Als wir die Treppe hinaufstiegen, fiel nur auf, daß frische Fußspuren sichtbar und Mrs. Crupps sämtliche Fallen verschwunden waren. Zu unserer größten Überraschung stand meine Gangtür offen, und wir hörten drinnen Stimmen. Wir sahen einander erstaunt an, konnten uns nicht erklären, was das zu bedeuten habe, und traten ins Zimmer. Von allen Menschen auf der Welt hätte ich meine Tante und Mr. Dick am wenigsten erwartet.

Meine Tante saß auf einem Haufen Koffer, auf dem Schoß ihre Katze und ihre zwei Vögel daneben, wie ein weiblicher Robinson Crusoe und trank Tee. Mr. Dick lehnte gedankenschwer auf dem großen Drachen, den wir zuweilen hatten steigen lassen, und auch er war von Koffern umgeben.

Wir umarmten uns innig, und Mr. Dick und ich schüttelten einander herzlich die Hände, und Mrs. Crupp, die Tee bereitete und sich vor lauter Aufmerksamkeit gar nicht zu lassen wußte, sagte mit innigem Ton, sie hätte wohl gewußt, wie Mr. Copperfield das Herz überfließen würde, wenn er seine lieben Verwandten sähe.

»Hallo!« rief meine Tante Peggotty zu, die vor ihrem gebieterischen Anblick zurückbebte. »Wie geht es Ihnen?«

»Du erinnerst dich doch meiner Tante, Peggotty«, sagte ich.

»Um aller Liebe und Barmherzigkeit willen, Kind«, rief meine Tante, »nenne die Frau nicht mit diesem Südseeinsulanernamen. Wenn sie verheiratet und ihn los ist, – übrigens das beste, was sie tun konnte warum soll sie daraus keinen Vorteil ziehen? Wie ist Ihr Name jetzt? P…?« fragte meine Tante als Kompromiß für den ihr so verhaßten Namen.

»Barkis, Maam«, antwortete Peggotty mit einem Knix.

»Gut. Wenigstens menschlich. Es klingt wenigstens nicht so, als ob Sie einen Missionär nötig hätten. Wie geht es Ihnen, Barkis? Hoffentlich gut?«

Ermutigt durch diese gnädigen Worte und durch die dargebotene Hand, trat Barkis vor, nahm die Hand und knixte dankend.

»Wir sind beide älter geworden, sehe ich«, sagte meine Tante. »Wir sind einander schon früher einmal begegnet. Das war eine recht nette Geschichte, damals! Trot, Liebling, bitte noch eine Tasse.«

Ich schenkte ihr pflichtschuldig ein; sie saß in ihrer gewöhnlichen steifen Haltung da, und ich wagte Einspruch gegen ihren unbequemen Sitz auf dem Koffer zu erheben.

»Ich will das Sofa herrücken oder den Lehnstuhl, Tante. Du hast es hier sehr unbequem.«

»Ich danke dir, Trot, aber ich ziehe vor auf meinem Eigentum zu sitzen.« Mit diesen Worten blickte meine Tante Mrs. Crupp scharf an und bemerkte: »Wir wollen Sie nicht länger bemühen, Maam.«

»Soll ich nicht vorher noch ein bißchen Tee aufgießen, Maam?« fragte Mrs. Crupp.

»Nein, ich danke Ihnen, Maam.«

»Oder noch ein Stück Butter heraufholen? Wollen Sie vielleicht ein frisches Ei, oder soll ich einen Schnitt Schinken rösten? Kann ich denn gar nichts für Ihre werte Tante tun, Mr. Copperfield?«

»Gar nichts, Maam«, schnitt ihr meine Tante das Wort ab. »Ich werde mir schon so behelfen. Ich danke.«

Mrs. Crupp, die unaufhörlich zum Zeichen ihrer Sanftmütigkeit gelächelt hatte und beständig den Kopf schief hielt, um auf ihre schwache Konstitution hinzuweisen, und sich zum Zeichen unbeirrbarer Dienstwilligkeit die Hände gerieben hatte, lächelte, knixte und schob sich allmählich zur Türe hinaus.

»Dick«, sagte meine Tante. »Wissen Sie noch, was ich Ihnen über Liebedienerei und Geldanbeter gesagt habe?«

Mr. Dick gab mit einem etwas erschreckten Blick, der verriet, daß er es eigentlich vergessen hatte, hastig eine bejahende Antwort.

»Mrs. Crupp gehört zu ihnen. Barkis, vielleicht sind Sie so freundlich und sehen nach dem Tee und schenken mir noch eine Tasse ein. Es war mir unangenehm, mir von der Frau einschenken zu lassen.«

Ich kannte meine Tante hinlänglich, um zu wissen, daß sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte und daß ihre so unerwartete Ankunft mehr bedeutete, als ein Fremder hätte annehmen mögen. Ich sah, wie ihr Blick auf mir ruhte, wenn sie sich unbeobachtet glaubte und wie sie innerlich sonderbar schwankte, während ihr Äußeres seine ganze Steifheit und Fassung bewahrte. Ich fing an nachzudenken, ob ich etwas getan hätte, was sie kränkte, und das Gewissen schlug mir, daß ich ihr noch nichts von Dora gesagt. War es das vielleicht? Ich wußte, sie würde sprechen, wenn sie es für gut finden würde, setzte mich neben sie, streichelte die Vögel und spielte mit der Katze und tat so unbefangen wie möglich. In Wirklichkeit war mir keineswegs danach zumute und hätte es auch nicht sein können, ganz abgesehen davon, daß Mr. Dick, der hinter meiner Tante auf dem großen Drachen lehnte, jede Gelegenheit benützte, um düster den Kopf gegen mich zu schütteln und auf sie zu deuten.

»Trot«, sagte meine Tante endlich, als sie ihren Tee getrunken, sich das Kleid sorgfältig glattgestrichen und den Mund abgewischt hatte, – »Sie brauchen nicht hinauszugehen, Barkis, – Trot, bist du ein fester und selbständiger Charakter geworden?«

»Ich hoffe es, Tante.«

»Wie meinst du das?«

»Nun, ich glaube es, Tante.«

»Also rate einmal« – sie blickte mich ernst an – »warum, meinst du, sitze ich heute abend lieber auf diesem meinem Eigentum?«

Ich schüttelte ratlos den Kopf.

»Weil es alles ist, was ich habe. Weil ich ruiniert bin, mein Liebling.«

Wenn das Haus und wir mit ihm in den Fluß hinabgefallen wären, hätte ich kaum mehr erschrocken sein können.

»Dick weiß es«, sagte meine Tante und legte ihre Hand ruhig auf meine Schulter. »Ich bin ruiniert, lieber Trot. Alles, was ich noch auf der Welt besitze, befindet sich hier in diesem Zimmer, mit Ausnahme des Häuschens, und das sucht Janet zu vermieten. Barkis, ich möchte ein Bett für diesen Herrn haben! Der Ersparnis wegen könnten Sie vielleicht auch für mich hier irgend etwas zurechtmachen. Irgend etwas. Es ist nur für die eine Nacht. Wir werden morgen weiter darüber reden.«

Ich war ganz starr vor Erstaunen und Sorgen um sie und nur um sie und wurde nur dadurch herausgerissen, daß sie mir einen Augenblick lang um den Hals fiel und mir weinend sagte, daß sie bloß meinetwegen bekümmert sei. In der nächsten Minute hatte sie ihre Bewegung wieder unterdrückt und sagte mehr triumphierend als niedergeschlagen:

»Wir müssen Schicksalsschlägen kühn ins Gesicht sehen und dürfen uns nicht einschüchtern lassen, Liebling. Wir müssen lernen, die Komödie zu Ende zu spielen. Wir müssen das Unglück müde machen, Trot.«

61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt


61. Kapitel Zwei interessante Reuige werden vorgeführt

Eine Zeitlang wohnte ich bei meiner Tante in Dover und schrieb dort ungestört und eifrig an meinem Roman an demselben Fenster, von dem aus ich einst auf den Mondschein auf dem Meere draußen geblickt hatte, als dieses Haus mir das erste Mal Obdach gewährte.

Zuweilen besuchte ich London, um mich in dem Gewühl des Lebens ein wenig zu verlieren oder mit Traddles über eine Geschäftsangelegenheit zu beraten. Er hatte meine Angelegenheiten während meiner Abwesenheit mit größter Umsicht verwaltet, und meine Vermögensverhältnisse standen sehr gut. Als mir mein Bekanntwerden als Schriftsteller eine ungeheure Menge Briefe von mir unbekannten Leuten ins Haus brachte, die meist von nichts handelten und sehr schwer zu beantworten waren, – einigte ich mich mit Traddles, an seine Tür auch meinen Namen anschlagen zu lassen.

Dort lieferten die unglücklichen Briefträger dieses Bezirkes ganze Scheffel von Briefen an mich ab, und ich arbeitete mich von Zeit zu Zeit durch die Papiermassen durch wie ein Staatssekretär. Nur ohne Gehalt. Unter diesen Briefen fand sich dann und wann ein Angebot von einem der zahllosen Outsiders, die sich immer in den Commons herumtreiben, mit Benützung meines Namens, da ich jetzt Proktor geworden, zu praktizieren und mit mir den Gewinn zu teilen. Aber ich lehnte jedes Mal ab, da ich die Commons für schlecht genug hielt, um noch etwas dazu beitragen zu müssen.

Die Mädchen waren nach Hause gereist, und der Bursche mit dem pfiffigen Gesicht sah den ganzen Tag aus, als ob er nicht das mindeste von Sophie wüßte, die bei ihrer Arbeit in ihrem Hofzimmer mit der Aussicht auf ein rauchgeschwärztes Streifchen Garten mit einem Ziehbrunnen darin zu sitzen pflegte. Immer fand ich sie dort, immer dieselbe muntere Hausfrau, und oft summte sie ihre Devonshirer Balladen und erquickte damit das Ohr des pfiffigen Burschen.

Im Anfang wunderte ich mich, warum ich sie so oft mit Schreiben beschäftigt fand und warum sie immer, wenn ich kam, ihr Buch zuklappte und es schnell in die Schublade legte. Aber das Geheimnis löste sich bald. Eines Tages nämlich nahm Traddles, als er bei regnerischem Wetter vom Gericht nach Hause kam, ein Papier aus seinem Pult und fragte mich, was ich von der Handschrift hielte.

»Aber laß doch, Tom«, rief Sophie, die seine Hausschuhe am Kamin wärmte.

»Warum nicht, liebe Sophie?« erwiderte Tom ganz entzückt. »Was hältst du von dieser Handschrift, Copperfield?«

»Eine ausgeschriebne Advokatenhand. Ich habe kaum je eine festere gesehen.«

»Keine Damenhand?«

»Eine Damenhand!« wiederholte ich. »Mauersteine und Kalk sehen einer Damenhand ähnlicher.«

Traddles brach in ein entzücktes Lächeln aus und sagte mir, es sei Sophies Schrift. Sie habe sie sich, damit sie einen Schreiber sparen könnten, nach Vorlagen angeeignet. Ich weiß nicht mehr, wieviel Folioseiten in der Stunde sie schreiben konnte. Sie wurde sehr verlegen und meinte, wenn Tom erst einmal Richter wäre, werde er es nicht mehr so bereitwillig ausplaudern. Das leugnete Tom und behauptete, er werde unter allen Verhältnissen gleich stolz darauf sein.

 

»Wie gut und liebenswürdig deine Frau ist, Traddles«, sagte ich, als sie lachend fortgegangen war.

»Lieber Copperfield, sie ist ohne Ausnahme das beste Mädchen von der Welt! Und wie sie wirtschaftet! Ihre Pünktlichkeit, Häuslichkeit, Sparsamkeit und ihr heiterer Sinn, Copperfield!«

»Du hast alle Ursache, sie zu loben«, stimmte ich ein. »Du bist ein glücklicher Mensch. Ich glaube, ihr beide macht euch gegenseitig zu den glücklichsten Menschen auf Erden.«

»Ich bin überzeugt, daß wir es sind. Ich gebe das in jeder Hinsicht zu. Mein Gott, wenn ich sie früh bei Tagesanbruch aufstehen sehe, wie sie alles vorbereitet, auf den Markt geht bei jedem Wetter, ehe die Schreiber in die Inn kommen, die prächtigsten kleinen Mittagessen aus den einfachsten Sachen herstellt, Puddings und Pasteten bereitet, jedes Ding an seinem rechten Platz erhält, auf mich abends wartet, wenn es noch so spät wird, und immer fröhlich und guten Mutes ist und dabei schmuck und hübsch aussieht, kann ich es manchmal kaum glauben, Copperfield.«

Er war selbst gegen die Pantoffel, die sie gewärmt hatte, zärtlich, als er sie anzog und seine Füße vergnügt an das Kamingitter stellte.

»Und dann erst unsere Vergnügungen! Mein Gott, kostspielig sind sie nicht, aber ganz wundervoll. Wenn wir abends zu Hause sitzen, die Außentür zuschließen und die Vorhänge hier, die sie selbst gemacht hat, zuziehen, wo kann es da gemütlicher sein! Wenn wir bei schönem Wetter spazierengehen, bieten sich uns in den Straßen tausenderlei Freuden. Wir schauen in die blitzenden Juwelierläden, und ich zeige Sophie die Schlangen mit den Diamantaugen auf den kleinen Hügeln aus weißem Atlas, die ich ihr schenken würde, wenn ich das Geld dazu hätte, und sie zeigt mir, welche von den goldnen, mit Steinen besetzten Uhren sie mir kaufen möchte, wenn es langte. Wir suchen uns die Löffel und Gabeln, Fischkellen, Buttermesser und Zuckerzangen aus und gehen mit einem Gefühl fort, als ob wir sie schon hätten. Dann, wenn wir auf die freien Plätze und in die breiten Straßen kommen, besprechen wir, wie das oder jenes Haus sich machen würde, wenn ich erst Richter wäre, und teilen es ein: – soviel Zimmer für uns, soviel für die Mädchen und so weiter, bis wir zu unserer Zufriedenheit festgestellt haben, ob es passen würde oder nicht. Manchmal gehen wir bei halben Preisen ins Theater ins Parterre – dessen Geruch schon meiner Meinung nach für das Geld billig ist – und genießen das Stück, von dem Sophie jedes Wort glaubt und ich auch.

Auf dem Nachhausewege kaufen wir vielleicht eine kleine Delikatesse in einer Garküche oder einen kleinen Hummer bei einem Fischhändler und bereiten uns zu Hause ein glänzendes Abendessen, bei dem wir über alles, was wir gesehen, plaudern. Siehst du, wenn ich Lordkanzler wäre, Copperfield, könnte ich das alles nicht tun.«

Du würdest in jeder Stellung etwas Hübsches, Liebenswürdiges tun, Traddles, dachte ich bei mir.

»Übrigens«, sagte ich, »du zeichnest jetzt gewiß keine Gerippe mehr.«

»O doch«, entgegnete Traddles mit Lachen und ein wenig errötend, »ich kann es nicht leugnen, lieber Copperfield. Als ich neulich mit der Feder in der Hand in einer der rückwärtigen Reihen in Kingsbench saß, fiel mir ein, ob ich es noch könnte. Und ich fürchte, es ist jetzt ein Gerippe mit einer Perücke auf dem Rande des Pultes zu sehen.«

Nachdem wir beide herzlich gelacht hatten, schloß Traddles, ins Feuer blickend, in seiner milden, verzeihenden Weise:

»Der alte Creakle!«

»Ich habe einen Brief hier von diesem alten – Halunken«, sagte ich, denn ich dachte weniger versöhnlich.

»Von Creakle, unserm Lehrer?!« rief Traddles. »Nicht möglich!«

»Unter den Personen, die mein Ruf als Schriftsteller anzieht«, sagte ich und blätterte in meinen Briefen, »und die jetzt mit einem Mal entdecken, daß sie mich von jeher geliebt haben, ist dieser selbige Creakle. Er ist jetzt nicht mehr Schuldirektor, Traddles. Er hat sich zurückgezogen. Er ist Gefängnisdirektor in Middlessex.«

Traddles war gar nicht so erstaunt, wie ich erwartet hatte.

»Wie mag er es wohl dazu gebracht haben?« fragte ich.

»Mein Gott, das ist wohl schwer zu beantworten. Vielleicht hat er für jemand seine Stimme abgegeben, jemand Geld geliehen oder auf andere Weise verpflichtet; eine schmutzige Geschichte für jemand auf sich genommen, der dann den Grafschaftsgouverneur veranlaßte, ihn zu ernennen.«

»Im Amt ist er jedenfalls«, sagte ich. »Er schreibt mir hier, er würde sich freuen, mir das einzig wahre System der Gefangenenbehandlung vorführen zu dürfen; die einzig richtige Methode, aufrichtige; dauernde Bekehrung und Reue zu erwecken. Du weißt, durch Einzelhaft. Was meinst du dazu?«

»Zu der Methode?«

»Nein. Ob ich das Anerbieten annehmen soll und ob du mitkommen willst?«

»Ich habe nichts dagegen.«

»Dann will ich ihm schreiben. Du weißt doch noch, wie dieser Creakle seinen Sohn verstieß und seine Frau und Tochter behandelte, von unserer Behandlung gar nicht zu sprechen.«

»Vollkommen.«

»Wenn du jetzt seinen Brief liest; wirst du finden, daß er der allerzärtlichste Mensch gegen Verbrecher ist, die sämtlicher Paragraphen des Kriminalgesetzes überführt sind. Auf keine andere Klasse von Geschöpfen scheint sich seine Liebe zu erstrecken.«

Traddles zuckte nur mit den Schultern und war gar nicht verwundert.

Ich selbst war eigentlich auch nicht darüber erstaunt, hatte ich doch nicht selten ähnliche praktische Satiren in Wirklichkeit mitangesehen.

 

An dem bestimmten Tag begaben wir uns nach dem Gefängnis, wo Mr. Creakle allmächtig war. Es war ein riesiges solides Gebäude, das unendlich viel Geld gekostet hatte. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, wieviel Geschrei wohl im Lande gewesen wäre, würde jemand vorgeschlagen haben, auch nur halb soviel zur Errichtung einer Industrieschule für die Jugend oder einer Stiftung für alte verdiente Bedürftige auszugeben.

In einem Amtszimmer, das geradesogut für das Erdgeschoß des Turms zu Babel gepaßt hätte, so fest war es, wurden wir unserm alten Schulmeister vorgestellt. Inmitten einer Gruppe von zwei oder drei geschäftseifrigen Beamten und einigen Gästen empfing mich Mr. Creakle wie ein Mann, der meinen Geist in früheren Zeiten gebildet und mich immer zärtlich geliebt hätte. Als ich ihm Traddles vorstellte, sprach er sich in ähnlicher Weise, wenn auch gemäßigter aus, daß er immer Traddles‘ Führer und Freund gewesen sei. Er sah viel älter aus als damals, aber keineswegs angenehmer. Sein Gesicht war noch so rot wie früher, die Augen, ebenso klein, schienen noch tiefer zu liegen. Das dünne, feucht aussehende graue Haar war fast ganz verschwunden, und die dicken Adern auf dem kahlen Kopf machten ihn durchaus nicht anziehender.

Nach längerer Unterhaltung mit den verschiednen Herren, nach der ich hätte annehmen müssen, es könne auf der Welt nichts Wichtigeres geben als die höchstmögliche Bequemlichkeit der Gefangenen und koste sie, was sie wolle, begannen wir unsere Besichtigung. Da gerade Essenszeit war, gingen wir zuerst in die große Küche, wo das Essen, für jeden einzelnen Gefangenen besonders, mit der Genauigkeit einer Maschine abgeteilt wurde. Ich sagte halblaut zu Traddles, ob denn niemand der Unterschied zwischen diesen reichlichen Speisen von auserlesener Güte und dem Mittagessen – nicht etwa der Armenhausbewohner –, nein, auch der Soldaten, Matrosen, der großen Masse ehrenwerter Arbeiter, von denen auch nicht einer von fünfhundert nur ein einziges Mal halb so gut speisen könnte, zu denken gäbe. Aber ich erfuhr, daß das »System« gute Kost erfordere, und fand, daß in dieser Hinsicht wie in jeder andern ein »System« allem Zweifel ein Ende macht und alle Anomalien erklärt. Niemand schien die geringste Ahnung zu haben, daß es noch ein anderes »System« geben könnte als dieses hier.

Als wir durch die prächtig gewölbten Gänge schritten, fragte ich Mr. Creakle und seine Freunde, worin denn eigentlich die Hauptvorzüge dieses alles überragenden »Systems« beständen. Die Vorzüge waren: vollständige Isolierung der Gefangenen, so daß keiner das geringste von den andern wüßte, und allmähliche Erziehung zu einem gesunden Gemütszustand, der schließlich zu aufrichtiger Reue führen sollte.

Aber, als wir einzelne Zellen besichtigten und uns erklären ließen, wie die Gefangenen dem Gottesdienst beiwohnten, da kam es mir sehr wahrscheinlich vor, daß sie ziemlich viel voneinander wüßten und ein recht vollständiges System des Gedankenaustausches besäßen.

Inzwischen ist das, glaube ich, nachgewiesen worden. Doch da es plumpe Lästerung des Erziehungssystems bedeutet hätte, wenn ich einen Zweifel auch nur angedeutet haben würde, beschränkte ich mich darauf, mich so fleißig wie möglich nach den Resultaten hinsichtlich der erzielten Reue umzusehen.

Auch hier konnte ich mich des Mißtrauens nicht erwehren. Ich fand in der Form der Buße eine Mode so vorherrschend wie in den Schneiderläden an den Röcken und Westen. Ich sah sehr viel zur Schau getragen von einer Reue, die sich überall verdächtig gleich blieb und sich kaum in den Worten unterschied. Ich fand sehr viel Füchse, denen die Trauben zu sauer waren, und daß diejenigen, die ihre Reue am meisten zur Schau trugen, sich der allergrößten Teilnahme erfreuten.

Ich hörte so oft einen Numero 27 als Mustergefangenen erwähnen, daß ich mein Urteil verschob, bis ich ihn zu Gesicht bekäme.

Numero 28 sei ebenfalls ein besonders heller Stern, hieß es, aber er hatte das Unglück, daß sein Glanz durch Numero 27 verdunkelt wurde. Ich hörte so viel von Nummer 27, seinen frommen Ermahnungen an alle, die in seine Nähe kämen, und von den schönen Briefen, die er rastlos an seine Mutter, die er auf sehr schlechtem Wege zu glauben schien, schriebe, daß ich darauf brannte, ihn kennenzulernen.

Ich mußte meine Ungeduld einige Zeit zügeln, da sein Anblick als Schlußeffekt aufbewahrt war, aber endlich standen wir vor der Tür seiner Zelle, und Mr. Creakle blickte durch ein kleines Loch hinein und berichtete uns in höchster Bewunderung, daß der Gefangene in seinem Gesangbuch läse. So viel Köpfe drängten sich sofort vor, um Numero 27 im Gesangbuch lesen zu sehen, daß das kleine Loch von mindestens sechs Köpfen auf einmal besetzt war. Um diesem Übelstand abzuhelfen und uns Gelegenheit zu geben, mit Numero 27 in seiner ganzen Reinheit sprechen zu können, ließ Mr. Creakle die Zelle aufsperren und den Gefangenen herauskommen. Wen anders erkannten Traddles und ich zu unserm größten Erstaunen in dem bekehrten Numero 27 als – Uriah Heep.

Er bemerkte uns sofort und sagte schon beim Heraustreten mit seiner alten kriecherischen Verrenkung:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Copperfield, und Ihnen, Mr. Traddles?«

Die Erkennungsszene erregte die Bewunderung aller Anwesenden. Mir schien es, als seien alle tief ergriffen darüber, daß er nicht stolz war und uns beachtete.

»Nun 27«, sagte Mr. Creakle mit schwermütiger Teilnahme, »wie befinden Sie sich zur Zeit?«

»Ich bin sehr demütig, Sir.«

»Das sind Sie immer, 27«, bestätigte Mr. Creakle.

Ein Herr fragte angelegentlichst: »Befinden Sie sich wirklich recht wohl hier?«

»Ja, ich danke Ihnen, Sir«, gab Uriah Heep zur Antwort und blickte den Fragenden an. »Ich fühle mich hier viel wohler als jemals draußen. Ich erkenne jetzt meine Fehler, Sir, und das ist so tröstlich.«

Viele der Herren waren tief ergriffen, einer drängte sich vor und forschte gefühlvoll: »Wie finden Sie das Rindfleisch?«

»Ich danke Ihnen, Sir! Es war gestern zäher als wünschenswert, aber es ist meine Pflicht, zu dulden. Ich habe Torheiten begangen, meine Herrn«, sagte Uriah und blickte mit demütigem Lächeln umher, »und muß jetzt die Folgen ohne Murren tragen.«

Mitten in dem Gemurmel, das halb wie Befriedigung klang über 27s engelreinen Seelenzustand, halb wie Entrüstung über den Lieferanten, der Anlaß zur Klage gab – was Mr. Creakle sofort notierte, – stand Numero 27 da, als fühle er sich als schönstes Stück in einem reichhaltigen Museum.

Damit auf uns Laien ein Übermaß von Licht herabstrahle, wurde auch 28 herausgelassen.

Ich war schon so erstaunt, daß ich es nur noch zu einer Art resignierter Verwunderung bringen konnte, als Mr. Littimer heraustrat, in der Hand ein gutes Buch.

»28«, sagte ein Herr mit Brille, »Sie klagten vorige Woche über den Kakao, mein Bester. Wie ist er seitdem gewesen?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer. »Er war besser zubereitet. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, es zu erwähnen, Sir, so glaube ich nicht, daß die Milch, mit der er gekocht wird, ganz echt ist, aber ich weiß recht gut, Sir, daß man sie in London sehr verfälscht und daß dieser Artikel in reinem Zustand nur schwierig zu erlangen ist.«

Der Herr mit der Brille schien seine Nummer 28 gegen Mr. Creakles 27 ausspielen zu wollen, und er wie Creakle wetteiferte darin, seinen Mann vorzureiten.

»Wie ist Ihr Seelenzustand, 28?«

»Ich danke Ihnen, Sir«, entgegnete Mr. Littimer, »ich sehe jetzt meine Torheiten ein, Sir. Es bereitet mir sehr viel Kummer, wenn ich an die Sündhaftigkeit meiner früheren Genossen denke; aber ich hoffe, daß sie Vergebung finden werden.«

»Sie selbst sind ganz glücklich?« fragte der Herr und nickte ermutigend.

»Ich danke Ihnen sehr, Sir. Vollkommen glücklich.«

»Haben Sie irgend etwas auf dem Herzen? Dann sprechen Sie es aus, 28.«

»Sir«, sagte Mr. Littimer, ohne aufzublicken, »wenn mich meine Augen nicht täuschen, so ist ein Gentleman hier, der in meinem früheren Leben mit mir bekannt war. Es kann diesem Herrn vielleicht von Nutzen sein, wenn er erfährt, Sir, daß ich meine früheren Torheiten lediglich dem Umstand zuschreibe, daß ich ein gedankenloses Leben im Dienste junger Leute geführt habe und mich von ihnen zu Schwächen habe hinreißen lassen, denen zu widerstehen ich nicht stark genug war. Ich hoffe, der Gentleman wird das als Warnung annehmen und es mir nicht als Anmaßung auslegen. Es geschieht zu seinem Besten. Ich bin mir meiner früheren Torheit bewußt. Ich hoffe, er wird all die Schlechtigkeit und Sünde bereuen, an der er teilgenommen hat.«

Ich sah, daß mehrere der Herren sich die Hand vor die Augen hielten, als ob sie eben in eine Kirche getreten wären.

»Das macht Ihnen Ehre, 28«, sprach der Herr mit der Brille, »Ich habe es von Ihnen erwartet. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?«

»Sir«, gab Mr. Littimer zur Antwort, ohne aufzusehen, nur die Brauen ein wenig in die Höhe ziehend, »ich kannte ein Mädchen, das auf schlechte Wege geriet und das ich vergeblich zu retten versuchte. Ich bitte diesen Herrn, wenn es in seiner Macht steht, dem Mädchen von mir zu sagen, daß ich ihr ihr schlechtes Betragen gegen mich verzeihe und sie zur Reue ermahne – wenn er so gut sein will.«

»Ich bezweifle nicht, 28«, sagte der Herr mit der Brille, »daß der Gentleman, den Sie meinen, so tief wie wir alle fühlt, was Sie so angemessen ausgedrückt haben. Wir wollen Sie nicht länger aufhalten.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Littimer. »Ich wünsche Ihnen Guten Tag und hoffe, daß Sie und Ihre Familien ebenfalls Ihre Sündhaftigkeit einsehen und sich bessern werden.«

Damit entfernte er sich, nachdem er noch einen Blick mit Uriah gewechselt, als ob sie durchaus nicht so unbekannt miteinander wären; und ein Murmeln ging durch die Gruppe, als die Zellentür sich schloß, daß Numero 28 ein höchst respektabler Mann und ein schöner Fall sei.

»Nun 27?« sagte Mr. Creakle, jetzt mit seinem Prachtexemplar in die Arena tretend. »Kann jemand etwas für Sie tun? Sagen Sie es nur!«

»Ich möchte demütigst um Erlaubnis bitten, Sir«, antwortete Uriah mit einem Zucken in seinem tückischen Gesicht, »Mutter schreiben zu derfen.«

»Das soll Ihnen gewiß gestattet werden«, sagte Mr. Creakle.

»O, ich danke Ihnen, Sir. Ich bin in großer Sorge um Mutter. Ich fürchte, sie ist nicht sicher.«

»Wovor?« fragte jemand unvorsichtigerweise. Ein allgemeines entrüstetes »Still!« verwies den Vorwitzigen zur Ruhe.

»Der ewigen Seligkeit nicht sicher, Sir«, gab Uriah zur Antwort und krümmte sich in der Richtung des Fragers hin. »Ich wollte, Mutter befände sich in meinem Seelenzustand. Ich würde nie so geworden sein, wie ich jetzt bin, wenn ich nicht hierhergekommen wäre. Ich wollte, Mutter wäre hier. Es wäre besser für alle, wenn sie verhaftet und hierher gebracht würde.«

Diese Äußerung erregte unbegrenzte Befriedigung – größere als jede andere bisher.

»Ehe ich hierher kam«, sagte Uriah und warf uns einen Seitenblick zu, als hätte er am liebsten die ganze Außenwelt, zu der wir gehörten, vergiftet, »beging ich Torheiten. Aber jetzt sehe ich sie ein. Es herrscht viel Sünde draußen. Es ist viel Sünde in Mutter. Es ist nichts als Sünde überall außer hier.«

»Sie sind also ganz verändert?« fragte Mr. Creakle.

»Der Himmel weiß es, Sir«, rief der hoffnungsvolle Büßer.

»Sie würden nicht rückfällig werden, wenn Sie hinauskämen?« fragte jemand.

»O Gott im Himmel nein, Sir.«

»Das ist hocherfreulich«, triumphierte Mr. Creakle. »Sie haben vorhin Mr. Copperfield angesprochen, 27. Wünschen Sie ihm noch etwas zu sagen?«

»Sie kannten mich lange Zeit, bevor ich hierher kam und mich änderte, Mr. Copperfield«, sagte Uriah mit seinem allerniederträchtigsten Blick, dessen er fähig war. »Sie kannten mich, als ich demütig war unter denen, die da stolz sind, und sanft unter den Gewalttätigen. Sie selbst waren einmal gewalttätig gegen mich, Mr. Copperfield. Einmal schlugen Sie mich ins Gesicht. Sie wissen doch.«

Allgemeines Mitleid. – Verschiedne unwillige Blicke richteten sich auf mich.

»Aber ich verzeihe Ihnen, Mr. Copperfield. Ich vergebe Ihnen allen. Es würde mir schlecht anstehen, Groll im Herzen zu hegen. Ich vergebe Ihnen aus eignem Antrieb und hoffe, Sie werden in Zukunft Ihre Leidenschaften bezähmen. Ich hoffe, Mr. W. wird bereuen und Miss W. und die ganze sündhafte Rotte. Sie sind von großem Leid heimgesucht worden, und ich hoffe, daß es Ihnen zum Guten gereicht. Aber besser wäre es dennoch, Sie kämen hierher. Und für Mr. W. wäre es ebenfalls besser und auch für Miss W. – Nichts kann ich Ihnen mehr wünschen, Mr. Copperfield, und allen diesen Herren, als daß man Sie hierher brächte. Wenn ich an meine früheren Torheiten zurückdenke und mir meinen gegenwärtigen Zustand vor Augen halte, fühle ich, daß es das Beste für Sie wäre. Ich bemitleide alle, die nicht hierher gebracht werden.«

Unter allgemeinem Beifallsgemurmel schlängelte er sich in seine Zelle zurück, und Traddles und ich fühlten uns sehr erleichtert, als sich die Türe hinter ihm wieder schloß.

 

Es war ein charakteristischer Zug in dieser Besserungsanstalt, daß ich erst nach der Ursache der Gefängnisstrafe der beiden Verbrecher fragen mußte. Wie es schien, war das ein nebensächlicher Punkt, und ich wendete mich an einen der beiden Gefangenenwärter, die, wie ich nach gewissen leisen Andeutungen in ihren Gesichtern merkte, sehr wohl wußten, wie sie mit den Sträflingen dran waren.

»Wissen Sie vielleicht?« fragte ich, als wir den Gang entlangschritten, »aus welchem Verbrechen Numero 27s ›letzte Torheit‹ bestand?«

Die Antwort war, es sei eine Banksache gewesen.

»Ein Betrug gegen die Bank von England?«

»Ja, Sir! Betrug, Fälschung, Komplott. Er und noch ein paar andere. Er war der Anstifter. Es war ein groß angelegter Plan, und es handelte sich um eine bedeutende Summe. Das Urteil lautet auf lebenslängliche Deportation. 27 war der schlauste Vogel von der ganzen Bande und log sich beinah heraus; aber nicht ganz. Die Bank war gerade noch imstande, ihn bei einem Fittich zu erwischen. – Aber nur mit knapper Not.«

»Wissen Sie, was 28 verbrochen hat?«

»28«, sagte der Mann in leisem Ton und mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter, um nicht bei so statutenwidrigen Äußerungen von Creakle und den Übrigen belauscht zu werden: »28 – ebenfalls Deportation – stand bei einem jungen Herrn in Diensten und stahl ihm am Tag vor einer Reise ins Ausland zweihundertfünfzig Pfund in Geld und Pretiosen. Ich erinnere mich deshalb des Falles noch so genau, weil der Verbrecher von einer Zwergin gefaßt wurde.«

»Von wem?«

»Von einer Zwergin. Ich habe den Namen vergessen.«

»Doch nicht Mowcher?«

»Ja, ja, so hieß sie. Er war allen Nachforschungen entgangen und eben im Begriff, sich mit falscher Perücke und Bart und geschickt verkleidet nach Amerika einzuschiffen, als die Zwergin, die sich gerade in Southampton aufhielt, ihn zufällig auf der Straße traf und erkannte, ihm vor die Beine lief, ihn zu Fall brachte und festhielt wie der leibhaftige Tod.«

»Prächtige Miss Mowcher!« rief ich.

»Das hätten Sie erst recht gesagt, Sir, wenn Sie die Zwergin bei der Verhandlung in der Zeugenloge hätten stehen sehen. Er schlug ihr das Gesicht blutig und hämmerte ihr in der gräßlichsten Weise auf dem Kopf herum, als sie ihn gepackt hielt, aber sie ließ nicht einen Augenblick los, bis er die Handschellen bekam. Man konnte sie gar nicht von ihm losreißen, so daß die Polizisten beide zusammen festnehmen mußten. Sie gab ihre Zeugenaussagen in der klarsten und bestimmtesten Weise ab und wurde vom Gerichtshof aufs höchste bekomplimentiert und auf der Straße mit lautem Hurra empfangen. Sie sagte vor Gericht, sie hätte ihn ganz allein festgenommen – wegen irgend etwas, was sie von ihm wußte –, und wenn er der Simson gewesen wäre. Und ich glaube das wirklich.«

Ich glaubte das auch und zollte Miss Mowcher die größte Anerkennung.

 

Wir hatten jetzt alles gesehen. Es wäre vergebliche Mühe gewesen, einem Mann wie dem ehrenwerten Mr. Creakle vorzustellen, daß 27 und 28 noch ganz dasselbe wären wie früher und das ganze »System« nichts als eine faule, hohle Rederei sei.

»Vielleicht ist es gut, Traddles«, sagte ich, als wir nach Hause gingen, »wenn schlechte Steckenpferde gleich zu Anfang scharf geritten werden. Um so eher gehen sie entzwei.«

»Das ist auch meine Hoffnung«, nickte Traddles.

62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg


62. Kapitel Ein Lichtstrahl fällt auf meinen Weg

Weihnachten kam heran, und ich war bereits über zwei Monate in England. Ich hatte Agnes oft gesehen. So laut mich auch die Stimme der Öffentlichkeit in der Schriftstellerei ermutigte und zu immer eifrigeren Anstrengungen anstachelte, das leiseste Wort ihres Lobes ging mir doch über alles.

Wenigstens einmal in der Woche ritt ich nach Canterbury und brachte den Abend bei ihr zu. Meistens kehrte ich nachts zurück und war froh, mir körperliche Bewegung verschaffen zu können, denn das alte Leidgefühl überkam mich noch stärker, wenn ich lange mit Agnes beisammen gewesen war. Mit diesen Ritten verbrachte ich den längsten Teil manch trüber, trauriger Nacht, und die Gedanken, die mich während meines langen Aufenthalts im Auslande beschäftigt hatten, lebten dabei wieder in mir auf.

Sie sprachen zu mir wie aus weiter Ferne, und ich hatte mich in mein Schicksal ergeben. Wenn ich Agnes meinen Roman vorlas, ihre aufmerksame Miene sah, sie zu Lächeln oder Tränen bewegte und ihre liebe Stimme so ernst sprechen hörte über die schemenhaften Ereignisse der phantastischen Welt, in der ich lebte, da dachte ich manchmal, welches Los mir hätte werden können.

Ich wußte, ich hatte kein Recht zu murren, und mußte ruhig tragen, was ich mir selbst geschaffen. Aber ich liebte sie. Es war mir fast wie Trost, mir eine ferne Zukunft auszumalen, wo ich ihr eines Tages ruhig gestehen dürfte: Agnes, so war es, als ich damals heimkam, und jetzt bin ich alt und habe seitdem nie wieder geliebt.

An ihr war nicht die geringste Veränderung zu bemerken. Wie sie von jeher zu mir gewesen, so war sie noch.

Zwischen meiner Tante und mir war seit dem ersten Abend meiner Rückkehr in bezug auf diese Herzensangelegenheit etwas entstanden, was ich nicht ein Vermeiden dieses Themas, sondern eher ein stillschweigendes Einverständnis nennen möchte. Wenn wir nach alter Gewohnheit abends am Kamin saßen, beschäftigten uns diese Gedanken so lebhaft und deutlich, als ob wir uns mit Worten verständigt hätten. Aber wir wahrten beide unser Schweigen. Ich glaubte, daß sie an jenem Abend mir meine Gedanken wenigstens zum Teil von der Stirne gelesen hätte und vollständig begriffe, warum ich sie nicht offen ausspräche.

Als die Weihnachtszeit gekommen war und Agnes mich noch immer nicht ins Vertrauen zog, begannen mich Zweifel zu quälen, ob nicht eine Erkenntnis des wahren Zustandes meines Herzens sie aus Furcht, mir Schmerz zu bereiten, vielleicht davon abhielte. In einem solchen Fall wäre meine einfachste Pflicht unerfüllt geblieben, und alles, was ich hatte vermeiden wollen, beging ich stündlich. Ich beschloß Klarheit zu schaffen, und wenn eine solche Schranke wirklich noch zwischen uns stünde, sie mit entschlossener Hand niederzureißen.

 

Es war ein kalter, strenger Wintertag. Der Schnee, erst vor einigen Stunden gefallen, bedeckte nicht tief, aber hart gefroren den Boden. Draußen auf der See vor meinem Fenster blies der Wind rauh aus Norden.

»Reitest du heute aus, Trot?« fragte meine Tante, den Kopf zur Türe hereinstreckend.

»Ja. Ich will hinüber nach Canterbury. Es ist ein guter Tag für einen Ritt.«

»Hoffentlich wird dein Pferd auch so denken; vorderhand läßt es den Kopf und die Ohren hängen vor der Tür draußen und scheint den Stall vorzuziehen.«

Meine Tante, muß ich bemerken, gestattete wohl meinem Pferd das Betreten des verbotnen Rasenstücks, war aber den Eseln gegenüber durchaus nicht milder geworden.

»Es wird schon munter werden«, sagte ich.

»Jedenfalls wird der Ritt dir guttun«, sagte meine Tante mit einem Blick auf die Papiere auf dem Tisch. »Ach Kind, du bringst viele, viele Stunden hier zu. Ich hätte niemals beim Bücherlesen gedacht, was für eine Mühe es kostet, sie zu schreiben.«

»Manchmal macht es Arbeit genug, sie zu lesen, Tante, und was das Schreiben anbetrifft, so hat das seine eignen Reize.«

»Ach ich verstehe«, sagte meine Tante. »Ehrgeiz, Freude an Beifall, Sympathie und dergleichen, wie? Aber jetzt mache, daß du fortkommst.«

»Weißt du etwas Näheres«, fragte ich und stand gefaßt vor ihr – sie hatte mir auf die Schulter geklopft und sich dann in meinen Stuhl gesetzt – »von Agnes‘ Herzensangelegenheit?«

Sie sah mich eine Weile an, ehe sie antwortete:

»Ich glaube wohl, Trot.«

»Bist du in deiner Meinung noch bestärkt worden?«

»Ich denke ja, Trot.«

Sie sah mich fest an, wie zweifelnd, bedauernd oder ungewiß, so daß ich nur um so fester entschlossen war, ihr eine heitere Miene zu zeigen.

»Und was noch mehr ist, Trot ?«

»Nun?«

»Ich glaube, Agnes wird bald heiraten.«

»Gott segne sie«, sagte ich heiter.

»Gott segne sie«, sagte meine Tante, »und auch ihren Gatten.«

Ich ging rasch die Treppe hinab und ritt davon. Ich hatte jetzt um so mehr Grund, meinen Entschluß auszuführen.

 

Kleine Eisstäubchen riß der Wind von den Grashalmen und trieb sie mir ins Gesicht. Der helle Schall der Hufe meines Pferdes klang wie eine Melodie auf dem Boden; die weiß überzognen sanften Täler und Hügel hoben sich von dem dunklen Himmel ab, wie auf eine Schiefertafel gezeichnet. Ein dampfendes Gespann vor einem Wagen voll Heu hielt Rast auf der Spitze einer Straßenerhebung und schüttelte melodisch die Schellen.

Ich fand Agnes allein. Die kleinen Mädchen waren nach Hause gereist, und sie saß am Kamin und las. Sie legte das Buch hin, als sie mich eintreten sah, und nachdem sie mich wie gewöhnlich begrüßt hatte, nahm sie ihr Arbeitskörbchen, und wir setzten uns in eins der altmodischen Fenster.

Wir sprachen von meinem jetzigen Roman, wann er fertig würde, und von den Fortschritten, die er seit meinem letzten Besuch gemacht. Agnes war sehr heiter und prophezeite mir lachend, ich würde bald viel zu berühmt werden, als daß man über solche Sachen werde sprechen dürfen.

»So benutze ich denn die Gegenwart aufs beste, wie du siehst«, sagte sie, »und rede mit dir davon, solange ich noch darf.«

Sie blickte von ihrer Arbeit auf und bemerkte, daß ich sie forschend ansah.

»Du bist heute sehr nachdenklich, Trotwood.«

»Agnes, soll ich dir sagen, warum? Ich kam mit der Absicht her, es zu tun.«

Sie legte ihre Arbeit weg wie gewöhnlich, wenn wir etwas ernstlich besprachen, und schenkte mir ihre volle Aufmerksamkeit.

»Liebe Agnes, zweifelst du an meiner Aufrichtigkeit gegen dich?«

»Nein«, erwiderte sie mit einem erstaunten Blick.

»Glaubst du, ich sei anders gegen dich als früher?«

»Nein«, antwortete sie wie zuvor.

»Erinnerst du dich, daß ich dir gleich nach meiner Heimkehr auszudrücken versuchte, in welcher Schuld ich bei dir stehe, liebste Agnes, und wie tief ich das fühle?«

»Ich erinnere mich dessen noch recht gut.«

»Du hast ein Geheimnis«, sagte ich. »Laß es mich mit dir teilen, Agnes!«

Sie schlug die Augen nieder und zitterte.

»Es würde mir kaum entgangen sein«, sagte ich, »auch wenn ich es nicht gehört hätte – von andern Lippen als den deinen, Agnes, befremdlicherweise –, daß du jemand dein Herz geschenkt hast. Schließ mich nicht aus von dem, was dein Glück so nahe angeht! Wenn du mir so vertraust, wie ich weiß und wie du sagst, so laß mich dein Freund und Bruder in dieser Sache vor allen andern sein!«

Mit einem flehentlichen, fast vorwurfsvollen Blick stand sie vom Fenster auf, eilte verwirrt in den Hintergrund des Zimmers, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus, daß es mir das Herz zerriß.

Und doch erweckten diese Tränen etwas in mir wie leise Hoffnung. Ohne daß ich mir darüber klarwerden konnte, warum, brachte ich sie mit jenem stillen, trüben Lächeln, das ich so gar nicht vergessen konnte, in Verbindung, und mehr Hoffnung als Besorgnis oder Schmerz durchbebte mich.

»Agnes! Schwester! Liebste Schwester! Was habe ich getan!«

»Laß mich fort, Trotwood. Mir ist nicht wohl. Ich kann nicht klar denken. Ich will später mit dir davon sprechen – ein ander Mal. Ich will dir schreiben. Sprich jetzt nicht mit mir. Bitte, bitte!«

Ich suchte mich ihrer Worte zu entsinnen, als ich mit ihr eines Abends davon gesprochen, daß ihre Liebe keiner Erwiderung bedürfe. Mir war, als müßte ich in einem Augenblick eine ganze Welt durchsuchen.

»Agnes, ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen und zu denken, daß ich die Ursache davon bin. Meine liebste Agnes, du bist mir teurer als irgend etwas im Leben, und wenn du unglücklich bist, so laß mich dein Unglück teilen. Wenn du Hilfe oder Rat bedarfst, so will ich versuchen, dir beizustehen. Wenn du wirklich eine Last auf dem Herzen hast, so laß mich versuchen, sie dir leichter zu machen. Für wen lebe ich jetzt, Agnes, wenn nicht für dich!«

»O, schone mich! Ich kann nicht klar denken. Ein ander Mal –«, weiter konnte ich nichts verstehen.

War es Selbstbetrug, der mich irreführte, oder tat sich eine Hoffnung vor mir auf, an die zu denken ich nicht gewagt hatte?

»Ich muß dir alles sagen, so darfst du mich nicht verlassen!« rief ich. »Um Himmels willen, Agnes, laß kein Mißverständnis zwischen uns treten nach so vielen Jahren. Ich muß offen sprechen. Wenn du noch einen Gedanken hast, daß ich jemand das Glück, das du ihm gibst, neiden, daß ich nicht einem andern, den du liebst, weichen und aus der Ferne Zeuge deines Glücks sein könnte, so vergiß diesen Gedanken, denn ich verdiene ihn nicht. Ich habe nicht umsonst Leid ertragen. Es ist nichts Selbstsüchtiges in dem, was ich für dich fühle.«

Sie war jetzt ruhiger geworden. Nach einer kleinen Pause wandte sie mir ihr blasses Gesicht zu und sagte mit leiser, deutlicher, wenn auch stockender Stimme:

»Ich schulde es deiner reinen Freundschaft, Trotwood, in die ich nicht den geringsten Zweifel setze, – dir zu sagen, daß du dich irrst. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ich manchmal im Lauf der Jahre Hilfe und Rat gebraucht habe, so sind sie mir immer zuteil geworden. Wenn ich manchmal unglücklich gewesen bin, so ist es vorübergegangen. Habe ich jemals eine Last auf dem Herzen gehabt, so ist sie leichter geworden. Wenn ich ein Geheimnis habe, so ist es – kein neues, und ist nicht – was du vermutest. Ich kann es nicht offenbaren oder mit dir teilen. Es ist lange mein gewesen und muß mein bleiben.«

»Agnes! Bleib! Einen Augenblick!«

Sie wollte weggehen, aber ich hielt sie zurück. Ich legte meinen Arm um sie. »Im Lauf der Jahre? – Es ist kein neues?«

Neue Gedanken und Hoffnungen stürmten mir durch die Seele, und alle Farben meines Lebens veränderten sich.

»Liebste Agnes! Die ich dich so verehre und achte, – so innig liebe! Als ich heute hierherkam, glaubte ich, daß mir nichts dieses Bekenntnis entreißen würde. Ich glaubte, ich könnte es in meiner Brust verschlossen halten, bis wir alt sein würden. Aber Agnes, wenn ich wirklich noch zu einer Hoffnung berechtigt bin, dich jemals anders nennen zu dürfen als Schwester! …«

Sie weinte wieder, aber nicht mehr wie vorhin, und ich sah meine Hoffnung heller werden.

»Agnes, du warst stets meine Stütze und mein Halt. Hättest du mehr an dich und weniger an mich gedacht, als wir hier zusammen aufwuchsen, ich glaube, mein achtlos blindes Herz hätte sich nie weg von dir verirrt. Aber du warst soviel besser als ich, mir so unentbehrlich in meinen knabenhaften Hoffnungen und Irrtümern, daß es mir zur zweiten Natur wurde, in allen Dingen dir zu vertrauen und meinen Halt an dir zu finden. Und so wurde die Liebe für jene Zeit in den Hintergrund gedrängt.«

Sie weinte immer noch, aber nicht aus Schmerz, – sondern vor Freude. Ich hielt sie in meinen Armen, wie ich nie gedacht hätte, daß es sein könnte.

»Als ich Dora liebte – herzlich und aufrichtig, wie du weißt –«

»Ja«, sagte Agnes ernst. »Und ich freue mich, es zu wissen.«

»Als ich sie liebte, selbst da wäre meine Liebe unvollständig gewesen – ohne deine Teilnahme. Und als ich Dora verlor, was wäre ich da ohne dich gewesen, Agnes!«

Sie ruhte an meinem Herzen, die zitternden Hände auf meine Schulter gelegt, und ihre lieben Augen glänzten durch Tränen den meinen entgegen.

»Ich verließ die Heimat, Agnes, und liebte dich. Ich war in der Fremde und liebte dich. Ich kehrte zurück und liebte dich.«

Und jetzt versuchte ich ihr den Kampf, den ich ausgestanden, und den Entschluß, mit dem ich zu ihr gekommen war, begreiflich zu machen. Ich versuchte mein Herz offen vor sie hinzulegen.

»Ich bin so glücklich, Trotwood. Mein Herz ist so voll. – Eines muß ich dir noch sagen.«

»Was, Geliebteste?«

Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter und sah mir ruhevoll ins Gesicht:

»Weißt du, was es ist?«

»Ich scheue mich, darüber nachzugrübeln. Sag es mir lieber.«

»Ich habe dich geliebt mein ganzes Leben lang –«

Wie waren wir glücklich! Unsere Tränen galten nicht den Prüfungen – wieviel größer waren die ihren als die meinigen gewesen –, durch die wir hindurchgegangen, sondern dem Entzücken, nie mehr getrennt zu werden.

Wir gingen in den Winterabend hinaus durch die Felder, und die selige Ruhe in uns schien sich der frostigen Luft mitzuteilen. Die Sterne fingen an zu scheinen, und als wir zu ihnen aufsahen, dankten wir Gott, daß er uns zu diesem Frieden geführt.

Wir standen abends beisammen in demselben altmodischen Fenster, und der Mond schien über der Stadt. Lange Meilen Wegs taten sich auf vor meinem Geist, und ich sah einen zerlumpten, vernachlässigten, müden Knaben die Straße wandern.

 

Es war fast Mittagszeit, als wir vor meiner Tante erschienen. Sie sei in meinem Studierzimmer, sagte Peggotty. – Es war nämlich ihr Stolz, es für mich stets selbst in Ordnung zu halten. Sie saß, die Brille auf der Nase, am Kamin.

»Du meine Güte«, rief sie, durch das Dämmerlicht im Zimmer spähend, »wen bringst du da mit nach Hause?«

»Agnes«, sagte ich.

Da wir verabredet hatten, uns anfangs nicht zu verraten, war meine Tante nicht wenig enttäuscht. Sie warf mir einen freudig überraschten Blick zu, als ich sagte: »Agnes«, aber als sie fand, daß ich aussah wie gewöhnlich, nahm sie verzweifelt die Brille ab und rieb sich die Nase damit.

Dennoch begrüßte sie Agnes aufs herzlichste, und wir saßen bald unten in dem erleuchteten Wohnzimmer beim Essen. Meine Tante setzte zwei oder dreimal die Brille auf, um mich forschend anzusehen, nahm sie aber ebenso oft enttäuscht wieder ab und rieb sich die Nase damit; sehr zu Mr. Dicks Unbehagen, der darin ein schlechtes Zeichen sah.

»Übrigens, Tante«, sagte ich nach dem Essen, »ich habe mit Agnes über das gesprochen, was du mir gesagt hast.«

»Da hast du Unrecht getan, Trot«, sagte meine Tante und wurde blutrot, »und hast dein Versprechen nicht gehalten.«

»Du bist doch nicht böse, Tante? Du wirst es gewiß nicht sein, wenn du erfährst, daß Agnes keine unglückliche Liebe hat.«

»Dummes Zeug«, sagte meine Tante.

Da sie sehr verstimmt schien, hielt ich es fürs beste, die Sache abzukürzen. Ich führte Agnes hinter ihren Stuhl, und wir beide beugten uns über sie herab. Die Hände zusammenschlagend und nach einem einzigen Blick durch die Brille bekam sie augenblicklich Lach- und Weinkrämpfe, das erste und einzige Mal in ihrem Leben, soviel ich weiß. Bestürzt kam Peggotty herein. Kaum war meine Tante wieder zu sich gekommen, stürzte sie auf Peggotty los, nannte sie ein einfältiges altes Geschöpf und umarmte sie mit aller Kraft. Dann schloß sie Mr. Dick in die Arme, der sich hochgeehrt fühlte, aber sehr überrascht war, und erklärte ihm den Zusammenhang. Dann waren wir alle sehr glücklich. Ich konnte nicht herausbekommen, ob meine Tante bei unserer letzten kurzen Unterredung einen frommen Betrug begangen oder meinen Herzenszustand wirklich mißverstanden hatte. Es wäre vollständig hinreichend, meinte sie, daß sie mir gesagt habe, Agnes würde bald heiraten. Ich selbst wisse jetzt besser als jeder andere, wie wahr es gewesen sei.

 

In vierzehn Tagen wurden wir getraut. Traddles, Sophie, Doktor und Mrs. Strong waren die einzigen Gäste bei unserer stillen Hochzeit. Wir ließen sie in freudigster Stimmung zurück und fuhren zusammen nach London. In meinen Armen hielt ich den Mittelpunkt meines Selbst, die Triebfeder meines Lebens, mein teures Weib, zu der meine Liebe auf Felsen gebaut war.

»Mein lieber, lieber Gatte«, sagte Agnes, »jetzt, wo ich dir diesen Namen geben darf, habe ich dir noch etwas zu sagen.«

»Was ist es, mein Lieb?«

»Es hängt mit dem Abend zusammen, wo Dora starb. Sie ließ mich durch dich rufen.«

»Ja.«

»Sie sagte, sie hinterlasse mir etwas. Errätst du, was es war?«

Ich zog das Wesen, das mich so lange geliebt, dichter an mich.

»Sie sagte, sie habe eine letzte Bitte an mich und hinterlasse mir einen letzten Auftrag.«

»Und der war?«

»Daß ich ihre Stelle einnehmen möchte.«

Und Agnes legte ihr Haupt auf meine Brust und weinte, und ich mit ihr, obgleich wir so glücklich waren.

49. Kapitel Ein Geheimnis hält mich in Atem


49. Kapitel Ein Geheimnis hält mich in Atem

Eines Morgens brachte mir die Post einen von Canterbury an mich in Doctors‘ Commons adressierten Brief. Ich las zu meiner Überraschung:

Werter Herr! Verhältnisse, die außerhalb des Bereichs meiner persönlichen Kontrolle liegen, haben seit geraumer Zeit ein Aufhören der Vertrautheit bewirkt, die bei der durch Geschäftsverhältnisse sehr beschränkten Gelegenheit, Ereignisse und Vorfälle der Vergangenheit im Lichte der prismatischen Farben der Erinnerung zu betrachten, in mir immer freudige Gefühle ungewöhnlicher Art erregt hat. Dieser Umstand, werter Herr, zusammengehalten mit der hohen Auszeichnung, die Ihre Talente Ihnen errungen haben, hält mich ab, mir die Freiheit zu nehmen, den Gefährten meiner Jugendzeit mit der altgewohnten Benennung Copperfield anzureden. Es genüge Ihnen, zu wissen, daß der Name, den zu nennen ich mir hier die Ehre nehme, stets unter den Aufzeichnungen unserer Familie und in der Urkundensammlung, die sich auf unsere früheren Mieter beziehen und von Mrs. Micawber aufgehoben werden, mit Gefühlen persönlicher Hochachtung, die sich bis zur Liebe steigern, aufbewahrt ist. Einem, der wie ich durch frühere Fehler und ein verhängnisvolles Zusammentreffen unglücklicher Zufälle einem gestrandeten Schiffe gleicht und der jetzt die Feder ergreift, um an Sie zu schreiben, – jemand, wiederhole ich, der sich in solchen Verhältnissen befindet, geziemt es nicht, die Sprache des Komplimentes oder der Beglückwünschung zu reden. Das sei geschickteren und reineren Händen vorbehalten.

Wenn Ihre soviel wichtigeren Beschäftigungen Ihnen gestatten, diese unvollkommenen Schriftzüge bis hierher zu lesen, so werden Sie natürlich fragen, was mich zu gegenwärtigem Schreiben veranlaßt. Erlauben Sie mir zu betonen, daß ich die Berechtigung dieser Frage vollkommen zugebe, und gestatten Sie mir, mich weiter auszulassen. Ich möchte jedoch vorausschicken, daß der Zweck dieses Briefes keine Geldangelegenheit betrifft.

Ohne deutlicher auf eine in mir schlummernde Fähigkeit, den Donnerkeil zu schleudern oder die rächende Flamme zu entsenden, anspielen zu können, darf ich mir vielleicht die beiläufige Bemerkung gestatten, daß meine strahlendsten Träume für immer zerronnen sind, daß mein Friede gestört ist und die Möglichkeit, mich zu freuen, vernichtet scheint, – daß mein Herz nicht länger mehr auf dem rechten Flecke schlägt und daß ich nicht mehr aufrecht einherschreiten kann vor meinem Nebenmenschen. Der Reif sitzt in der Blüte. Der Kelch ist bitter bis zum Rand. Der Wurm ist tätig und wird bald sein Opfer haben. Je eher, desto besser! Aber ich will nicht abschweifen. In eine geistige Lage von besonderer Peinlichkeit versetzt, die selbst dem besänftigenden Einfluß Mrs. Micawbers trotzt, trotzdem diese ihn in einer dreifachen Eigenschaft, nämlich als Weib, als Gattin und als Mutter, ausübt, beabsichtige ich, auf eine kurze Zeit vor mir selbst zu fliehen und eine Frist von achtundvierzig Stunden dem Besuche einiger großstädtischer Schauplätze entschwundenen Glücks zu widmen. Außer nach andern Häfen innerer Ruhe und Seelenfriedens werden sich meine Füße natürlich dem Kingsbench-Gefängnis zuwenden. Indem ich Ihnen melde, daß ich mich an der Außenseite der südlichen Mauer jenes für die Haft im Zivilprozeß errichteten Gebäudes übermorgen abends um sieben einfinden werde, ist der Zweck dieser brieflichen Mitteilung erreicht.

Ich fühle mich nicht berechtigt, meinen frühern Freund, Mr. Copperfield oder meinen frühern Freund, Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium, wenn dieser Herr noch am Leben ist, zu bitten, mir die große Gefälligkeit zu tun, mit mir zusammenzutreffen und, soweit es die Umstände erlauben, unsere früheren guten Beziehungen zu erneuern. Ich möchte mich nur auf die Bemerkung beschränken, daß zu der angegebenen Stunde und am bezeichneten Orte aufzufinden sein wird, was noch übrig ist von den Trümmern des gefallenen Turmes

Wilkins Micawber

P.S. Es ist vielleicht ratsam, obigem noch hinzuzufügen, daß ich Mrs. Micawber hinsichtlich meines Vorhabens nicht ins Vertrauen gezogen habe.

Ich las den Brief mehrere Male durch. Wenn ich auch Mr. Micawbers phrasenreichen Stil in Abzug brachte, so fühlte ich doch heraus, daß diesem seltsamen Schreiben etwas sehr Ernsthaftes zugrunde liegen mußte. Ich grübelte gerade darüber nach und geriet in immer größere Verwirrung, als Traddles eintrat.

»Alter Freund«, sagte ich, »du kommst mir wie gerufen. Möchtest du mir nicht mit deinem Urteile beistehen? Ich habe einen sehr merkwürdigen Brief von Mr. Micawber bekommen.«

»Nicht möglich!« rief Traddles. »Du auch? Und ich habe einen von Mrs. Micawber.«

Traddles, ganz erhitzt vom Gehen, das Haar vor Aufregung gesträubt, zog einen Brief aus der Tasche und ließ sich den meinigen geben.

Ich beobachtete ihn beim Lesen und sah, wie er bei den Worten »Donnerkeil schleudern, die rächende Flamme entsenden«, erstaunt die Augenbrauen in die Höhe zog. »Gott bewahre, Copperfield«, sagte er und gab mir dann Mrs. Micawbers Brief. Er lautete:

»Mr. Thomas Traddles meine besten Empfehlungen, und für den Fall, als er sich noch an eine Person erinnert, die früher das Glück hatte, gut mit ihm bekannt zu sein, so bitte ich ihn um Erlaubnis, einige Augenblicke seiner freien Zeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Ich versichere Mr. T. T., daß ich seine Freundlichkeit nicht in Anspruch nehmen würde, wäre ich nicht an den letzten Grenzen des Wahnsinns angelangt.

Obgleich sich die Feder sträubt, so muß ich es doch erwähnen: Die Entfremdung Mr. Micawbers von seiner Gattin und seiner Familie ist der Grund dieser meiner Bitte an Mr. Traddles, derentwegen ich ihn um Nachsicht ersuchen muß. Mr. T. kann sich nicht annähernd einen Begriff von der Änderung in Mr. Micawbers Benehmen, von seiner Zerfahrenheit und seiner Heftigkeit machen. Sie hat allmählich so zugenommen, daß sie jetzt einer Geistesstörung ähnlich sieht. Kaum ein Tag vergeht, ich versichere Mr. Traddles, an dem nicht irgendein Paroxismus ausbricht. Mr. T. wird nicht verlangen, daß ich meine Gefühle schildere, wo ich täglich zu hören gewohnt bin, daß Mr. Micawber behauptet, er habe sich dem Teufel verkauft. Geheimniskrämerei bildet seit langem schon seinen vornehmsten Charakterzug und ist längst an Stelle altgewohnten Vertrauens getreten. Der geringste Anlaß, auch wenn er nur gefragt wird, ob er etwas Besonderes zu Mittag wünsche, gibt ihm Gelegenheit, Worte über Scheidungen usw. fallenzulassen. Gestern abend, als er in kindlicher Weise von den Zwillingen um zwei Pence für Zitronenbiskuits gebeten wurde, drohte er ihnen mit einem Austernmesser.

Ich bitte Mr. Traddles zu entschuldigen, daß ich auf diese Einzelheiten eingehe, aber ohne dieselben dürfte es Mr. T. sicherlich schwer werden, sich eine Vorstellung von meiner herzzerreißenden Lage zu machen.

Darf ich also wagen, Mr. T. den Zweck meines Briefs anzuvertrauen, – wird er gestatten, daß ich mich ganz auf seine freundschaftliche Nachsicht verlasse? O ja, denn ich kenne sein Herz.

Der Liebe Scharfblick ist nicht leicht zu täuschen, wenn er weiblichen Geschlechtes ist. Mr. Micawber reist nach London! Obgleich er auf das sorgfältigste heute morgen vor dem Frühstück, als er die Adresse auf den kleinen braunen Mantelsack seiner glücklicheren Tage schrieb, seine Hand verdeckte, so erspähte doch der Adlerblick ehelicher Besorgnis auf das deutlichste: »…don.« Das Westendziel der Landkutsche ist das »Goldne Kreuz«. Darf ich wagen, Mr. T. auf das flehentlichste zu bitten, meinen irregeleiteten Gatten dort zu treffen und mit ihm zu sprechen? Darf ich Mr. T. bitten, die Vermittlerrolle zwischen Mr. Micawber und seiner zu Tode geängstigten Familie zu übernehmen? O nein, denn das wäre zuviel.

Wenn Mr. Copperfield sich noch an eine Person erinnern sollte, die nicht wie er berühmt ist, wird es dann Mr. T. übernehmen, meine unveränderte Achtung und eine gleiche Bitte auszusprechen? Jedenfalls wird er die große Güte haben, diese Mitteilung als streng vertraulich zu betrachten und unter keiner Bedingung eine wenn auch noch so entfernte Anspielung darauf in Mr. Micawbers Gegenwart zu machen.

Wenn Mr. T. jemals – was ich nicht erwarten darf – antworten sollte, so würde ein Brief unter der Adresse ›M. E., postlagernd Canterbury‹ von weniger schmerzlichen Folgen begleitet sein, als wenn er direkt adressiert wäre an eine, die sich im tiefsten Schmerz unterzeichnet als Mr. Thomas Traddles hochachtungsvoll ergebene Freundin und Bittstellerin

         Emma Micawber

»Nun, was sagst du dazu?« fragte Traddles, als ich den Brief zweimal gelesen hatte.

»Und was sagst du zu dem andern?«

»Ich glaube, beide zusammen, Copperfield, enthalten mehr, als Mr. und Mrs. Micawber meistens in ihren Briefen zu sagen pflegen, aber ich weiß nicht, was. Beide haben in vollem Ernst geschrieben, darüber ist kein Zweifel, und ohne voneinander zu wissen. Armes Ding!«

Wir verglichen beide Briefe.

»Es ist ein Werk christlicher Liebe, an sie zu schreiben, und ich will nicht unterlassen, Mr. Micawber aufzusuchen.«

Ich stimmte um so bereitwilliger bei, als ich mir Vorwürfe machte, auf Mrs. Micawbers früheren Brief so wenig Gewicht gelegt zu haben. Stark von meinen eignen Angelegenheiten in Anspruch genommen, hatte ich allmählich die Sache vergessen, zumal kein zweiter Brief eingelaufen war. Ich hatte oft an die Micawbers gedacht und hätte manchmal gern gewußt, welche »pekuniären Verpflichtungen« sie wohl in Canterbury eingehen würden, oder hatte mir ins Gedächtnis gerufen, wie zurückhaltend Mr. Micawber gegen mich in seiner Eigenschaft als Schreiber bei Uriah Heep gewesen war.

Jetzt aber schrieb ich einen Trostbrief an Mrs. Micawber, und wir beide unterzeichneten ihn. Als wir in die Stadt gingen, um ihn aufzugeben, beriet ich mit Traddles lange hin und her, und als wir nachmittags auch meine Tante zu Rate zogen, war der einzige Entschluß, zu dem wir kamen, der, daß wir das Stelldichein mit Mr. Micawber pünktlich einhalten wollten.

 

Obgleich wir eine Viertelstunde vor der Zeit auf dem bestimmten Platze ankamen, fanden wir doch Mr. Micawber schon dort. Er stand mit verschränkten Armen vor der Mauer und betrachtete mit sentimentaler Miene die eisernen Spitzen.

Als wir ihn anredeten, war er verlegener und weniger vornehmtuend als früher. Er hatte den schwarzen Juristenrock auf der Reise abgelegt und trug wieder seinen Überzieher und die engen Hosen. Aber nicht mehr mit der frühern großartigen Miene. Allmählich taute er mehr und mehr auf, als wir mit ihm plauderten, aber seine Lorgnette hing nicht mehr so nonchalant herab, und sein Hemdkragen, wenn auch noch von der alten Größe, sah recht welk aus.

 

»Meine Herren«, sagte Mr. Micawber nach den ersten Begrüßungen, »Sie sind Freunde in Wort und Tat. Erlauben Sie mir, mich nach dem physischen Wohlbefinden der gegenwärtigen Mrs. Copperfield und der zukünftigen Mrs. Traddles zu erkundigen, das heißt, wenn mein Freund Mr. Traddles noch nicht mit dem Gegenstand seiner Neigung fürs Leben vereint ist.«

Wir dankten der höflichen Nachfrage; dann lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf die Mauer und fing an:

»Ich versichere ihnen, meine Herren –«

Ich erhob Einwand gegen diese zeremonielle Form der Anrede und bat ihn, doch ganz in seiner alten Weise zu sprechen.

»Mein lieber Copperfield«, erwiderte er und drückte mir die Hand, »Ihre Herzlichkeit überwältigt mich. Diese freundliche Aufnahme eines zerschmetterten Bruchstücks des Tempels, den man voreinst Mensch nannte – wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf –, verrät ein Herz, das dem ganzen Menschengeschlecht zur Ehre gereicht. Ich wollte eben bemerken, daß ich den fröhlichen Ort wieder vor Augen sehe, wo die glücklichsten Stunden meines Daseins verrannen.«

»Verschönt durch Mrs. Micawber«, ergänzte ich. »Ich hoffe, sie befindet sich doch wohl?«

»Ich danke«, entgegnete Mr. Micawber, dessen Antlitz sich bei dieser Frage trübte. »Sie befindet sich nur soso –. Das also«, fuhr er fort und nickte kummervoll, »ist das Schuldgefängnis! Das Haus, in dem das erste Mal nach so vielen entschwundnen Jahren der überwältigende Druck pekuniärer Verbindlichkeiten sich nicht Tag für Tag durch zudringliche Stimmen, die den Hausflur nicht räumen wollten, laut machte, – wo kein Klopfer an der Tür für die andrängenden Gläubiger hing und alle Mahner auf den Portier angewiesen waren. Meine Herren, wenn der Schatten der eisernen Spitzen auf jener Ziegelmauer auf dem Sand des Exerzierplatzes lag, habe ich gesehen, wie meine Kinder dem Wirrwarr des labyrinthischen Musters nachgingen, die dunkeln Stellen vermeidend. Ich kenne jeden Stein an diesem Ort. Wenn ich Schwäche zeige, werden Sie es mir gewiß verzeihen!«

»Wir sind seitdem alle im Leben vorwärtsgekommen, Mr. Micawber.«

»Mr. Copperfield«, entgegnete Mr. Micawber mit Bitterkeit, »als ich ein Bewohner dieses Zufluchtsorts war, konnte ich meinem werten Mitmenschen noch ins Gesicht sehen und ihm – eine herunterhauen, wenn er mich beleidigte. Mein Mitmensch und ich stehen nicht mehr auf so glorreichem Fuß miteinander.« Mr. Micawber wendete sich niedergeschlagen von dem Gebäude weg, nahm meinen dargebotnen Arm auf der einen und Traddles Arm auf der andern Seite an und entfernte sich, von uns geleitet.

»Es gibt Stationen auf dem Wege zum Grabe«, bemerkte er und sah sich ergriffen um, »die der Mensch – wäre der Wunsch nicht gottlos die der Mensch niemals hinter sich haben möchte. Eine solche Station bedeutet in meinem wechselreichen Leben das Schuldgefängnis.«

»Sind Sie aber trübe gestimmt, Mr. Micawber«, sagte Traddles.

»Ja, das bin ich, Sir.«

»Ich will doch nicht hoffen, daß Sie keinen Gefallen mehr an der Jurisprudenz finden! – Ich bin, wie Sie wissen, selbst Jurist«, sagte Traddles.

Mr. Micawber erwiderte kein Wort.

»Was macht unser Freund Heep, Mr. Micawber?« fragte ich nach einer Pause.

»Mr. Copperfield«, Mr. Micawber wurde plötzlich ganz aufgeregt und blaß, »wenn Sie meinen Brotherrn Ihren Freund nennen, so tut es mir leid; halten Sie ihn für den meinen, so muß ich sardonisch lächeln. In welchem Sinne immer Sie nach ihm fragen, muß ich Sie bitten, meine Antwort, ohne Sie beleidigen zu wollen, darauf beschränken zu dürfen, daß, ob er jetzt gesund ist oder nicht, sein Aussehen fuchshaft, um nicht zu sagen teuflisch ist. Als Privatmann werden Sie mir erlauben, einen Gegenstand fallenzulassen, der mich in meiner Eigenschaft als Jurist bis an den äußersten Rand der Verzweiflung gebracht hat.«

Ich sprach mein Bedauern darüber aus, daß ich unbewußt ein Thema berührt hatte, das ihn so aufregte. »Darf ich aber fragen«, sagte ich, »wie sich meine alten Freunde, Mr. und Miss Wickfield, befinden?«

»Miss Wickfield«, Micawber wurde rot, »ist wie immer ein Muster und ein glänzendes Vorbild. Mein lieber Copperfield, sie ist der einzige Stern in meiner elenden Lebensnacht. Meine Hochachtung vor dieser jungen Dame, meine Bewunderung vor ihrem Charakter, die Ergriffenheit, mit der mich ihre Liebe und Treue und Wahrhaftigkeit erfüllt, ihre Güte … Bitte, führen Sie mich in eine Seitengasse«, sagte Mr. Micawber, »denn auf Ehre, in meinem gegenwärtigen Gemütszustand kann ich das kaum ertragen.«

Wir führten ihn in eine enge Gasse, wo er sein Taschentuch herauszog und sich mit dem Rücken an eine Mauer lehnte. Wenn ich ihn ebenso ernst ansah wie Traddles, so muß unser Anblick nicht sehr aufheiternd auf ihn gewirkt haben.

»Es ist mein Verhängnis«, fuhr Mr. Micawber fort und schluchzte laut, obgleich er auch dabei eine gewisse Pose nicht lassen konnte, »es ist leider mein Verhängnis, meine Herren, daß die edlern Gefühle des Menschenherzens wie ein Vorwurf auf mich fallen. Die Verehrung, die ich für Miss Wickfield hege, zerreißt mein Herz in tausend Teile. Besser wäre, Sie ließen mich gehen, damit ich als Vagabund die Welt durchstreifte. Der Wurm wird doppelt so rasch sein Werk vollenden.«

Ohne uns dieser Aufforderung zu fügen, blieben wir neben ihm stehen, bis er das Taschentuch einsteckte und, um etwaige unberufene Zuschauer zu täuschen, ein Liedchen vor sich hinsummte und den Hut unternehmend schief aufsetzte.

Ich sagte ihm dann, ich wäre ihm sehr verbunden, wenn er mir das große Vergnügen bereitete, ihn meiner Tante vorstellen zu dürfen, und daß wir zusammen nach Highgate, wo ein Bett zu seiner Verfügung stünde, fahren wollten.

»Sie müssen uns ein Glas von Ihrem Punsche brauen, Mr. Micawber, und Ihre Sorgen in angenehmen Erinnerungen ertränken.«

»Meine Herren, tun Sie mit mir, was Sie wollen«; entgegnete Mr. Micawber. »Ich bin ein Strohhalm über der Tiefe und werde hin und her geworfen von den Elefanten – pardon, ich wollte sagen – von den Elementen.«

Wir setzten unsern Weg Arm in Arm fort, erreichten die Kutsche noch rechtzeitig und langten in Highgate ohne weitere Abenteuer an. Ich war einigermaßen im Zweifel, was zunächst geschehen müßte, und Traddles schien es ebenso zu gehen.

Mr. Micawber war fast die ganze Fahrt in düsteres Nachsinnen versunken. Zuweilen gab er sich Mühe, fröhlich zu erscheinen, und trällerte den Anfang eines Liedchens. Aber seine Rückfälle in den alten Trübsinn wurden durch den schiefgesetzten Hut und den bis an die Augen emporgezogenen Hemdkragen nur noch auffälliger.

Wir gingen wegen Doras Unpäßlichkeit in das Haus meiner Tante. Wir schickten um sie, und sie bewillkommte Mr. Micawber mit großer Herzlichkeit. Mr. Micawber küßte ihr die Hand, zog sich in das Fenster zurück, zog sein Taschentuch heraus und focht offenbar einen schweren innern Kampf durch.

Mr. Dick war zu Hause. Schon von Natur aus außerordentlich mitfühlend, wenn jemand litt, entdeckte er schnell, wo es fehlte, und schüttelte Mr. Micawber alle fünf Minuten mindestens ein dutzendmal die Hand. Mr. Micawber war in seinem Kummer durch diese Wärme von Seiten eines ihm ganz Fremden so außerordentlich ergriffen, daß er bei jedem neuen Händeschütteln nur sagen konnte: »Mein lieber Herr, ich bin ganz überwältigt.« Und das freute Mr. Dick so sehr, daß er seine Hände fast gar nicht mehr losließ.

»Die Freundlichkeit dieses Herrn«, sagte Mr. Micawber zu meiner Tante, »streckt mich – wenn Sie mir gestatten wollen, Maam, eine Redewendung aus dem Wortschatz unseres rauhen Nationalsportes zu entlehnen – geradezu zu Boden. Auf das Haupt eines Mannes, der unter einer so komplizierten Last von Sorgen und Unruhe seufzt, häuft ein derartiger Empfang glühende Kohlen, das versichere ich Ihnen.«

»Mein Freund Mr. Dick«, entgegnete meine Tante mit Stolz, »ist kein gewöhnlicher Mensch.«

»Davon bin ich überzeugt«, rief Mr. Micawber. »Mein werter Herr, ich empfinde auf das tiefste die Herzlichkeit Ihres Empfangs.«

»Wie befinden Sie sich?« fragte Mr. Dick mit besorgtem Blick.

»Leider nur mäßig, verehrter Herr.«

»Sie dürfen den Mut nicht sinken lassen«, ermutigte Mr. Dick, »und müssen es sich hier so behaglich wie möglich machen.«

Mr. Micawber war wieder ganz überwältigt von diesen freundlichen Worten und von Mr. Dicks abermaligem Händedruck. »Es ist mein Schicksal gewesen«, sagte er, »in dem vielgestaltigen Panorama des menschlichen Daseins zuweilen auf eine Oase zu stoßen. Aber noch nie fand ich eine so grüne, so erquickende wie diese.«

Zu jeder andern Zeit hätte mich all dies höchlichst amüsiert, aber ich fühlte, daß wir alle in Unruhe waren, und beobachtete Mr. Micawbers Hin- und Herschwanken zwischen dem Wunsche, etwas zu enthüllen, und dem gegenteiligen Bedürfnis, es zu verschweigen, so gespannt, daß mich förmlich ein Fieber ergriff. Traddles saß auf der Kante seines Stuhls, die Augen aufgerissen und das Haar mehr zu Berg stehend als je, sah bald den Fußboden, bald Mr. Micawber an und sprach kein Wort. Meine Tante war geistesgegenwärtiger als wir alle und betrachtete unsern Gast mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Sie munterte ihn immerwährend zum Reden auf, mochte er wollen oder nicht.

»Sie sind ein langjähriger Freund meines Neffen, Mr. Micawber«, sagte sie, »und ich wollte, ich hätte das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft schon früher gehabt.«

»Maam«, antwortete Mr. Micawber, »auch ich wünschte, mir wäre die Ehre, Sie zu einer früheren Zeit kennenzulernen, eher zuteil geworden. Ich war nicht immer das Wrack, das Sie jetzt vor sich sehen.«

»Ich hoffe, Mrs. Micawber und Ihre Familie befinden sich wohl, Sir?«

Mr. Micawber nickte bejahend. »Sie befinden sich so wohl, Maam«, bemerkte er verzweifelt nach einer Pause, »wie Fremdlinge und Ausgestoßene sich nur befinden können.«

»Mein Gott!« rief meine Tante in ihrer kurzen Art aus. »Was soll das heißen?«

»Der Lebensunterhalt meiner Familie, Maam, hängt in der Luft. Mein Brotgeber – «

Hier unterbrach er sich plötzlich und begann die Zitronen zu schälen, die ich ihm nebst andern Erfordernissen zur Punschbereitung hatte vorsetzen lassen.

»Ihr Brotgeber –« erinnerte Mr. Dick und schüttelte ihm aufmunternd seinen Arm.

»Mein bester Herr«, nahm Mr. Micawber seinen Faden wieder auf, »ich danke Ihnen, daß Sie mich wieder daraufbringen«. Sie schüttelten sich abermals die Hände. »Mein Brotgeber, Maam, – Mr. Heep – war einmal so liebenswürdig, mir anzudeuten, daß ich ohne seine Honorare für meine Dienste ein herumziehender Taschenspieler werden müßte, der Degenklingen verschluckt oder Feuer frißt. Wenn ich alles erwäge, so scheint es mir keineswegs unwahrscheinlich, daß meine Kinder dereinst ihr Brot durch Verrenkung ihrer Glieder suchen müssen, wobei Mrs. Micawber wohl diese widernatürlichen Kunststücke mit der Drehorgel unterstützen wird.«

Mit einer ausdrucksvollen Bewegung des Messers deutete Mr. Micawber an, daß diesem Beruf seiner Familie sein eigner Tod vorangehen würde; dann nahm er mit verzweiflungsvoller Miene die Zitronen wieder in Angriff.

Meine Tante lehnte sich mit den Ellbogen auf das runde Tischchen neben ihr und beobachtete ihn aufmerksam. Trotz der Abneigung, die mir der Gedanke einflößte, ihn gegen seinen Willen zu einer Enthüllung zu verlocken, wäre ich doch wahrscheinlich in ihn gedrungen, wenn er sich nicht gar so wunderlich benommen hätte. So warf er z. B. die Zitronenschalen in den Kessel, den Zucker in den Aschbecher und den Spiritus in den leeren Krug und wollte vertrauensvoll heißes Wasser aus einem Leuchter einschenken. Ich sah, daß die Krise herannahte.

Er schob plötzlich alle Punschrequisiten zusammen, stand vom Stuhle auf, zog das Taschentuch heraus und fing an zu weinen.

»Mein lieber Copperfield«, schluchzte er hinter dem Tuch hervor, »Punsch bereiten ist eine Verrichtung, die, mehr als jede andere, Seelenruhe und Selbstachtung erfordert. Ich kann es nicht. Darüber ist kein Zweifel mehr.«

»Mr. Micawber«, beruhigte ich ihn, »was haben Sie denn nur? Bitte, sprechen Sie sich aus! Sie sind doch unter Freunden.«

»Unter Freunden!« wiederholte Mr. Micawber, und alles, was er so lange niedergekämpft hatte, brach jetzt los. »Gott im Himmel, eben weil ich unter Freunden bin, befinde ich mich in diesem Gemütszustand. – Was eigentlich los ist, meine Herren? Schurkerei, Niederträchtigkeit, Heuchelei, Betrug, Verrat, Verschwörung ist los; und der Name der ganzen Niederträchtigkeit ist – Heep!«

Meine Tante schlug die Hände zusammen, und wir alle sprangen überrascht auf.

»Der Kampf ist vorbei«, sagte Mr. Micawber, heftig mit dem Taschentuch gestikulierend. Von Zeit zu Zeit streckte er die Hände aus, als müßte er gegen übermenschliche Hemmnisse anschwimmen. »Ich vermag dieses Leben nicht länger mehr zu tragen. Ich bin ein Elender, abgeschnitten von allem, was das Leben erträglich macht. Ich stehe unter einem bösen Zauber und bin diesem teuflischen Schurken verfallen. Gebt mir meine Frau zurück, meine Familie, setzt den Micawber wieder ein, wo der elende Kerl jetzt in den Schuhen, die ich anhabe, steht! Verlangen Sie von mir, daß ich morgen eine Degenklinge verschlucke, und ich will es tun. Mit Heißhunger!«

Ich sah noch nie im Leben einen Menschen so aufgeregt. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er wurde immer hitziger und wollte nichts hören.

»Ich gebe niemand meine Hand mehr«, schrie er, nach Luft schnappend wie ein Ertrinkender, »bis ich – in Splitter – gesprengt habe die – ha – scheußliche – Schlange – Heep! Ich will niemandes Gastfreundschaft mehr annehmen, bis ich – den Berg Vesuv – zu einem Ausbruch – beschworen habe –, den gotteslästerlichen Schurken – Heep zu verschütten! Einen Bissen anzunehmen – unter diesem Dach oder gar Punsch – würde mich ersticken, – ehe ich nicht – diesem grenzenlosen Heuchler und Lügner – die Augen aus dem Kopf gequetscht habe. Ich will niemand – kennen – und – kein Wort mehr reden – und nirgendwo – mein Haupt niederlegen –, bis ich in unsichtbare Atome – zerschmettert habe – diesen unerhörten – meineidigen Schuft, – diesen Heep!«

Ich fürchtete fast, Mr. Micawber könnte auf der Stelle tot niederfallen. Die Art, mit der er sich durch seine unartikulierten Sätze hindurcharbeitete und mit einer Vehemenz, die ans Wunderbare grenzte, jedes Mal den Namen Heep hervorstieß, war schreckenerregend, und es sah wirklich aus, als läge er in den letzten Zügen. Ich wollte ihm beispringen, aber er wehrte mich ab und wollte nichts hören.

»Nein, Copperfield! – kein Wort – ah – Miss Wickfield – Genugtuung – für das Unheil, das dieser unerhörte Schuft – Heep – auf ihr Haupt geladen hat –, unverletzliches Geheimnis – vor der ganzen Welt – keine Ausnahme heute über acht Tage zur Frühstücksstunde –, alle müssen dabeisein – auch Ihre Tante – und der liebenswürdige freundliche Gentleman – im Gasthof in Canterbury –, wo – Mrs. Micawber und ich –, o die schönen alten Zeiten und der Chor ›Auld lang Syne‹ –, dort werde ich ihn entlarven, diesen schauderhaften Schurken – Heep! Nichts mehr jetzt – ich lasse mich nicht überreden! – Ich kann die Gesellschaft nicht mehr vertragen, – solange ich auf der Spur dieses verdammten Verräters bin – dieses – dieses – dieses – Heep!«

Mit diesem letzten Zauberwort, das ihm wieder neue Kraft gab, stürzte Mr. Micawber aus dem Haus und ließ uns in einem Zustand von Aufregung, Hoffnung und Verwunderung zurück, die sich nicht viel von seinem unterschied. Aber selbst dann ließ ihm seine Vorliebe für das Briefeschreiben keine Ruhe. Noch während wir im höchsten Grade aufgeregt beisammen saßen, kam folgender elegischer Brief aus einem nahen Wirtshaus, von seiner Hand geschrieben, an uns:

Höchst vertraulich und geheim!
Sehr verehrter Herr!

Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu ersuchen, mich bei Ihrer vortrefflichen Tante wegen meiner soeben an den Tag gelegten Aufregung zu entschuldigen. Der Ausbruch eines lange unterdrückten glimmenden Vulkans war die Folge eines innern Kampfes, der jeder Beschreibung spottet.

Ich hoffe, ich habe die Bitte um eine Zusammenkunft auf heute über acht Tage frühmorgens in dem Gasthof in Canterbury, wo Mrs. Micawber und ich einst die Ehre hatten, in dem wohlbekannten Liede des unsterblichen Dichters und Steuerbeamten, der jenseits des Tweed aufwuchs, unsere Stimmen mit der Ihrigen zu vereinen, leidlich verständig gemacht.

Wenn die Pflicht erfüllt und die Sühne vollbracht ist, die mich allein in den Stand setzen kann, meinen Mitmenschen wieder ins Antlitz zu schauen, wird man mich nie mehr wiedersehen. Mein einziger Wunsch wird sein, zur Ruhe zu kommen an jenem Ort, wo

»Reih an Reih des Dorfes Ahnen
in ewgem Schlummer ruhn in engen Zellen«
unter der einfachen Grabschrift:


Wilkins Micawber

50. Kapitel Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung


50. Kapitel Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung

Mehrere Monate waren seit unserer Begegnung am Ufer des Flusses verstrichen. Ich hatte Marta seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber Mr. Peggotty war verschiedene Male mit ihr zusammengetroffen. Trotz ihres eifrigsten Bemühens hatte sie bisher nichts erreicht. Aus dem, was ich erfuhr, ging nichts über Emlys Schicksal hervor. Ich fing bereits an zu zweifeln, ob es jemals gelingen würde, sie wieder aufzufinden, und machte mich allmählich mit dem Gedanken, sie sei tot, vertraut.

Mr. Peggottys Glaube hingegen blieb unerschütterlich. Soviel ich weiß – und ich glaube, sein ehrliches Herz verbarg mir keinen seiner Gedanken –, wankte er niemals in seiner felsenfesten Überzeugung, daß er sie auffinden werde. Er wurde nie müde auszuharren, und es lag etwas so Religiöses, etwas so Rührendes in seiner Zuversicht, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr achten und hochschätzen mußte.

Sein Glaube war kein träges Vertrauen, das nur hofft und nichts tut. Er war sein ganzes Leben lang ein Mann der Arbeit gewesen und wußte, daß er in allem, wo er Hilfe brauchte, selbst Hand anlegen und sich selbst helfen mußte. Ich kann mich erinnern, daß er einmal mitten in der Nacht aufstand, um nach Yarmouth zu wandern, von der Ahnung gequält, das Licht könnte durch einen Zufall nicht im Fenster des alten Bootes stehen. Ein andermal nahm er seinen Wanderstab, als er etwas in den Zeitungen gelesen hatte, was sich auf Emly beziehen konnte, und machte eine Reise von einigen Dutzend Meilen. Er fuhr zur See nach Neapel und zurück, nachdem er meinen Bericht, zu dem mir Miss Dartle verholfen, angehört hatte. Auf allen diesen Reisen gönnte er sich nicht die geringste Bequemlichkeit, denn er wollte Geld sparen um Emlys willen, wenn sie gefunden würde. In dieser ganzen langen Zeit hörte ich ihn niemals unwillig werden, hörte ihn niemals über Ermüdung oder Mutlosigkeit klagen.

Dora hatte ihn oft während unserer Ehe gesehen und recht lieb gewonnen. Ich sehe ihn noch vor mir neben ihrem Sofa stehen, die grobe Mütze in der Hand, während ihre blauen Augen mit schüchterner Verwunderung auf seinem Gesicht ruhten.

Manchmal abends in der Dämmerstunde, wenn er mich besuchte, bewog ich ihn, während wir langsam im Garten auf und ab gingen, seine Pfeife zu rauchen, und dann trat das Bild seines verlassenen Herdes und der trauliche Eindruck, den es auf meine Kinderaugen gemacht hatte, wenn das Feuer brannte und der Wind um die Hütte stöhnte, lebhaft vor meine Seele.

Um eine solche Stunde sagte er mir eines Tages, Marta habe am Abend vorher vor seiner Wohnung gewartet, bis er nach Hause kam, und ihn gebeten, er möge jetzt um keinen Preis London verlassen, ehe sie ihn nicht abermals gesprochen hätte.

»Sagte sie Ihnen, warum?« fragte ich.

»Ich fragte sie, Masr Davy, aber sie sprach nur wenige Worte, ließ sich bloß mein Versprechen geben und ging wieder.«

»Sagte sie nicht, wann sie wiederkommen wollte?«

»Nein, Masr Davy«, entgegnete er und strich sich mit der Hand gedankenvoll über die Stirn. »Ich fragte sie auch das, aber sie antwortete, sie wüßte es nicht.«

Da ich mir längst abgewöhnt hatte, Hoffnungen zu bestärken, die an Spinnfäden hingen, sagte ich weiter nichts, als daß ich hoffte, es werde bald geschehen. Die Vermutungen, die mir durch den Kopf schossen, behielt ich für mich.

 

Etwa vierzehn Tage später ging ich allein eines Abends in meinem Garten auf und ab. Ich kann mich noch recht auf den Tag besinnen. Es war der zweite in der von Mr. Micawber festgesetzten Woche. Es hatte von früh an geregnet, und die Luft war feucht. Die Blätter auf den Bäumen waren schwer von Tropfen, und der Regen hatte aufgehört, obgleich der Himmel noch voll Wolken hing, und die Vögel zwitscherten fröhlich. Ich ging im Garten auf und ab, die Dämmerung umschloß mich dichter und dichter, und allmählich verstummte das Zwitschern; die eigentümliche Stille, die an solchen Abenden auf dem Lande herrscht, wo kein Geräusch außer dem Fallen der Regentropfen von den Zweigen in der Luft zu hören ist, fing an einzutreten.

An unserm Landhaus entlang führte ein kleiner Laubengang von Efeu, durch den ich aus dem Garten auf die Straße draußen blicken konnte. In Gedanken verloren wandte ich zufällig meine Blicke dorthin und sah eine Gestalt in einem einfachen Mantel draußen stehen. Sie beugte sich zu mir herüber und winkte.

»Marta!« rief ich und eilte auf sie zu.

»Können Sie mitkommen?« fragte sie mit erregtem Flüstern. »Ich war bei ihm, und er ist nicht zu Hause. Ich habe das Haus, wohin er kommen soll, aufgeschrieben und die Adresse selbst auf seinen Tisch gelegt. Es hieß, er könne nicht lang ausbleiben. Ich habe Nachrichten für ihn. Können Sie gleich mitkommen?«

Ich trat augenblicklich durch das Gartentor hinaus. Sie winkte mir hastig mit der Hand, als wollte sie mich um Geduld und Schweigen bitten, und wendete sich London zu, von wo sie, wie ihr Kleid verriet, zu Fuß gekommen sein mußte.

Ich fragte, ob das unser Ziel sei, und da sie mit derselben hastigen Gebärde wie vorhin bejahte, ließ ich einen vorbeifahrenden Fiaker anhalten, und wir stiegen ein. Als ich sie fragte, wohin uns der Kutscher fahren sollte, gab sie zur Antwort: »In die Nähe von Golden Square, und so rasch wie möglich! – « Dann lehnte sie sich in die Ecke, winkte mir ab, als ob sie keine Menschenstimme ertragen könnte, und bedeckte sich mit zitternder Hand das Gesicht.

In größter Spannung, voll Furcht und Hoffnung, sah ich sie fragend an. Aber als ich begriff, wie viel ihr daran lag zu schweigen, gab ich meinen Versuch auf. Wir fuhren weiter, ohne ein Wort zu sprechen. Zuweilen sah sie zum Fenster hinaus, wie in Ungeduld, obgleich wir sehr rasch fuhren.

Wir stiegen endlich in der Nähe des von ihr bezeichneten Platzes aus, und ich ließ den Wagen warten, da ich nicht wußte, ob wir ihn nicht vielleicht später wieder brauchen würden. Sie hatte die Hand auf meinen Arm gelegt und riß mich rasch fort nach einer der dunkeln Straßen, wo damals die Häuser seit langem zu Armenwohnungen herabgesunken waren. Als wir zu der offenen Tür eines dieser Gebäude kamen, ließ sie meinen Arm los und winkte mir, ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Das Haus war überfüllt von Bewohnern. Frauen und Kinder, deren Neugierde wir erregt zu haben schienen, spähten in den Fenstern über Blumentöpfen herab, und als wir die Treppe hinaufgingen, kamen uns Leute entgegen; es öffneten sich Zimmertüren, und Gesichter guckten heraus. Die Treppen waren breit – an der einen Seite mit dunkelm Getäfel versehen, an der andern mit massiven Ballustraden aus dunkelm Holz, über den Türen reich mit Früchten und Blumen verzierte Friese und in den Fenstern breite Sitze. Aber alle diese Zeichen entschwundener Pracht sahen jetzt greulich verfallen und schmutzig aus; Schwamm, Fäulnis und Alter hatten den an vielen Stellen baufälligen und eingebrochnen Flur angegriffen. Wie ich bemerkte, waren Versuche gemacht worden, neues Blut in den verfallenden Körper zu bringen, indem man die kostbare alte Holzarbeit hie und da mit ordinärem Fichtenholz ausgebessert hatte; es sah aus wie die Verbindung eines herabgekommenen alten Adligen mit einem armen Weib aus dem Volke, und jeder Teil dieser Mesalliance zog sich scheu vor dem andern zurück. Mehrere Treppenfenster waren verdunkelt oder ganz zugemauert, und in den vorhandenen saßen nur noch wenige Scheiben in morschen Rahmen. Sie boten die Aussicht auf andre scheibenlose Fenster in Häusern ähnlicher Beschaffenheit gegenüber, und schwindelnd sah ich hinab in den schmutzigen Hof, der den gemeinsamen Kehrichtplatz des ganzen Gebäudes bildete.

Wir stiegen bis ins oberste Stockwerk. Zwei- oder dreimal glaubte ich unterwegs in dem ungewissen Licht die Schleppe eines Frauenkleides vor uns hinaufsteigen gesehen zu haben. Als nur mehr eine Treppe zwischen uns und dem Dach war, bemerkten wir, daß die Gestalt einen Augenblick vor einer Tür stehenblieb und dann eintrat.

»Wer ist das?« flüsterte Marta mir zu. »Sie ist in mein Zimmer gegangen! Ich kenne sie nicht!«

Ich hatte sie sehr wohl erkannt. Es war zu meinem Erstaunen Miss Dartle.

Ich erklärte meiner Führerin mit wenigen Worten, daß es eine mir bekannte Dame sei, und hatte kaum ausgesprochen, als wir die Stimme Miss Dartles im Zimmer drin hörten, wenn wir auch nicht verstehen konnten, was sie sagte. Mit verwundertem Gesichte bedeutete mir Marta zu schweigen und führte mich leise die Treppe hinauf und durch eine kleine Seitentür ohne Schloß, die sie mit der Hand aufstieß, in eine kleine leere Dachkammer.

Aus diesem Raum führte in ihr Zimmer eine kleine Tür, die jetzt halb offenstand. Hier blieben wir stehen, noch außer Atem vom Treppensteigen, und sie legte ihre Hand leise auf meine Lippen. Von dem andern Zimmer konnte ich nur sehen, daß es ziemlich geräumig war, daß ein Bett darin stand und an den Wänden einige kunstlose Abbildungen von Schiffen hingen. Weder ich noch meine Gefährtin konnten Miss Dartle oder die Person, die sie angeredet hatte, sehen.

Marta hielt mir immer noch die Hand auf meine Lippen und horchte.

»Es ist mir gleichgültig, ob sie zu Hause ist«, sagte Rosa Dartle hochmütig. »Ich kenne sie gar nicht. Ich komme zu Ihnen!«

»Zu mir?« fragte eine sanfte Stimme.

Bei ihrem Klange durchzuckte es mich. Es war Emlys Stimme.

»Ja«, gab Miss Dartle zur Antwort, »ich komme, um Sie zu sehen. Schämen Sie sich nicht des Gesichtes, das so viel Unheil angestiftet hat?«

Bei dem Tone entschlossen und unbarmherzigen Hasses und der mit Gewalt niedergehaltnen Wut sah ich Miss Dartle so deutlich vor mir, als ob sie leibhaftig vor mir stünde. Ich sah die flackernden schwarzen Augen, die von Leidenschaft verzehrte Gestalt, sah die Narbe mit dem weißen Streif quer über die Lippen zittern und zucken, wie sie sprach:

»Ich wollte James Steerforths Liebste sehen. Die Dirne, die mit ihm davonlief und das Stadtgespräch der gemeinsten Leute ihres Geburtsortes ist, – die freche abgefeimte Gefährtin eines Menschen wie James Steerforth. Ich wollte wissen, wie so ein Geschöpf aussieht!«

Ich hörte ein Geräusch, als ob die Unglückliche nach der Tür eilte und Miss Dartle rasch dazwischenträte. Dann folgte eine kurze Pause.

Als Miss Dartle wieder anfing zu reden, sprach sie durch die Zähne und stampfte auf den Fußboden:

»Hierbleiben!« sagte sie, »oder ich will dem ganzen Haus und der ganzen Straße sagen, wer Sie sind! Wenn Sie versuchen, mir davonzulaufen, werde ich Sie festhalten und wenns an den Haaren sein müßte!«

Ein eingeschüchtertes Murmeln war die einzige Antwort, die an mein Ohr drang. Wieder folgte ein Schweigen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. So sehr ich wünschte, dem Gespräch ein Ende zu machen, so fühlte ich doch, daß ich kein Recht hätte, mich hineinzumischen und daß nur Mr. Peggotty dies tun dürfte. Kommt er immer noch nicht? dachte ich voll Ungeduld.

»So!« sagte Rosa Dartle mit einem verächtlichen Lachen. »Sehe ich Sie endlich! Wie erbärmlich er sein muß, daß er sich von einem solchen duckmäuserischen scheinheiligen Geschöpf fangen ließ.«

»Um Gottes willen, seien Sie barmherzig!« rief Emly. »Wer Sie auch sein mögen, Sie kennen meine jammervolle Geschichte. Um Gottes willen, seien Sie barmherzig, wenn Gott gegen Sie dereinst barmherzig sein soll.«

»Wenn Gott gegen mich barmherzig sein soll!« entgegnete die andere heftig. »Was glauben Sie eigentlich, daß wir miteinander gemein haben!«

»Nichts als unser Geschlecht!« sagte Emly und brach in Tränen aus.

»Und das ist ein derartig starker Anspruch, wenn er von so einer infamen Person erhoben wird«, sagte Miss Dartle, »daß ich Ihnen den Mund verbieten würde, wenn ich ein anderes Gefühl als Verachtung und Abscheu vor Ihnen hätte. Unser Geschlecht! Sie sind mir eine Ehre für unser Geschlecht!«

»Ich habe das verdient«, rief Emly, »aber es ist entsetzlich! O, bedenken Sie, was ich gelitten habe und wie tief ich gefallen bin! Marta, Marta, um Gottes willen, komm, komm zurück!«

Miss Dartle setzte sich auf einen Stuhl der Türe gegenüber und blickte zu Boden, als ob Emly vor ihr läge. Da sie jetzt zwischen mir und dem Lichte saß, konnte ich ihre von Hohn verzognen Lippen und ihre grausamen Augen sehen, die sich in gierigem Triumph auf eine Stelle außer meinem Sehbereich hefteten.

»Hören Sie jetzt, was ich Ihnen sage, und sparen Sie Ihre heuchlerischen Künste für Ihre Dummköpfe auf. Sie werden doch nicht glauben, daß Sie mich durch Ihre Tränen rühren können? Sowenig Sie mich durch Ihr Lächeln täuschen könnten, Sie feige Sklavin!«

»Haben Sie Erbarmen!«, jammerte Emly. »Haben Sie Erbarmen oder ich werde wahnsinnig!«

»Das wäre keine genügende Strafe für Ihr Verbrechen. Wissen Sie, was Sie getan haben? Denken Sie jemals an das Haus, das Sie verwüstet haben?«

»O, es gibt keinen Tag und keine Nacht, wo ich nicht daran dächte«, rief Emly; und jetzt konnte ich sie sehen, wie sie auf den Knieen lag, den Kopf zurückgeworfen, verzweiflungsvoll die Hände ringend, während ihr das Haar in Unordnung auf die Schultern fiel. »Ist jemals im Wachen oder im Träumen eine einzige Minute vergangen, wo ich das alte Haus nicht vor mir sah, so deutlich wie an jenem unglücklichen Tage, wo ich ihm auf ewig den Rücken kehrte! Mein Heim! Mein Heim!«

Sie sank mit dem Kopf nieder auf den Boden vor der hochmütigen Gestalt auf dem Stuhl und machte einen Versuch, flehend deren Kleid zu fassen.

Rosa Dartle blieb sitzen und sah auf sie herab, so unbeweglich wie eine Erzfigur. Sie preßte ihre Lippen fest zusammen, als müßte sie sich Zwang antun, die Ärmste nicht mit dem Fuß von sich zu stoßen.

Ich sah sie deutlich, und alles in ihr schien sich in diesem Ausdruck zusammenzudrängen.

»Kommt er denn noch immer nicht!?«

»Die jämmerliche Eitelkeit dieses Ungeziefers«, sagte sie, als sie ihre Wut so weit bezwungen hatte, daß sie wieder sprechen konnte. »Ihre Familie! Bilden Sie sich ein, daß ich nur einen Moment daran denke, oder glauben Sie wirklich, Sie könnten denen einen Schaden tun, den Geld nicht reichlich ersetzen könnte? Ihre Familie! Sie gehörten mit zum Geschäft Ihrer Familie und wurden gehandelt wie jede andere Ware. Nichts weiter!«

»Sagen Sie das nicht!« rief Emly. »Sagen Sie von mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Schmach und Schande nicht Leuten entgelten, die so ehrenhaft sind wie Sie. Haben sie Achtung vor ihnen, wenn Sie eine Dame sind, wenn Sie schon kein Erbarmen mit mir fühlen.«

»Ich spreche«, entgegnete Rosa Dartle, ohne das geringste Mitgefühl mit der vor ihr knienden Emly und ihr Kleid mit Ekel zurückziehend, »ich spreche von seiner Familie, – in der ich lebe!«

»Hier«, sagte sie und deutete mit der Hand auf die Kniende herab, »hier sehe ich die wertvolle Veranlassung des Zerwürfnisses zwischen einer vornehmen Dame und ihrem Sohn, – des Jammers in einem Hause, wo man Sie nicht als Dienstmagd angenommen hätte. Dieses Stück Schmutz aufgelesen am Meeresufer, um eine Stunde lang hochgehalten und dann wieder an seinen ursprünglichen Platz geworfen zu werden!«

»Nein, nein!« rief Emly und rang verzweiflungsvoll die Hände. »Als ich ihn das erste Mal sah, war ich so tugendhaft aufgewachsen wie Sie oder jede andere Dame und sollte das Weib eines so vortrefflichen Mannes werden, wie Sie oder irgendeine andere Dame auf der Welt nur heiraten können. Wenn Sie in seiner Familie leben und ihn kennen, so werden Sie vielleicht wissen, welche Gewalt er auf ein eitles schwaches Mädchen auszuüben vermag. Ich will mich nicht verteidigen, aber ich weiß so genau, wie er es weiß oder wissen wird, wenn seine Sterbestunde kommt und sein Gewissen ihm keine Ruhe mehr läßt, daß er alle seine Gewalt über mich dazu mißbrauchte, mich zu täuschen, und daß ich ihm glaubte, ihm vertraute und ihn liebte.«

Rosa Dartle sprang von ihrem Stuhle auf, taumelte zurück und schlug beim Taumeln nach Emly mit einem Gesicht voll solcher Bosheit, so verzerrt und entstellt von Leidenschaft, daß ich mich schon zwischen die beiden werfen wollte. Doch der blind geführte Schlag traf nur die Luft. Wie sie jetzt keuchend dastand und Emly mit dem äußersten Abscheu, dessen sie fähig war, ansah vom Kopf bis zu den Füßen, vor Wut und Verachtung am ganzen Leibe zitternd, da glaubte ich nie etwas Ähnliches gesehen zu haben. »Sie ihn lieben! Sie!« rief sie und ballte die Faust, als fehle ihr nur die Waffe, um die Ärmste niederzustoßen.

Emily war zurückgewichen, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich hörte keine Antwort.

»Und mir das zu sagen, mit diesen schmachbedeckten Lippen! Warum peitscht man solche Geschöpfe nicht aus? Wenn ich zu befehlen hätte, würde ich diese Dirne zu Tode peitschen lassen.«

Und sie hätte es getan, das bezweifle ich keinen Augenblick. Ich hätte sie nicht zur Aufseherin über die Folterbank machen mögen, solange sie diesen wütenden Blick behielt.

Langsam, ganz langsam brach sie in ein Gelächter aus und deutete auf Emly wie auf ein Bild der Schmach für Gott und die Menschen.

»Sie lieben«, sagte sie, »dieses Aas! Und er sollte jemals etwas auf sie gegeben haben, möchte sie mir einreden! Haha! Wie diese feilen Dirnen lügen können.« Ihr Hohn war schlimmer gewesen als jetzt ihre schrankenlose Wut. Nur einen Augenblick war sie losgebrochen, dann hatte sie sie wieder festgekettet; und wie sehr es sie innerlich auch zerreißen mochte, sie gestattete ihr keinen neuen Ausbruch.

»Ich kam hierher, Sie reiner Liebesborn, um zu sehen, wie Geschöpfe Ihrer Art aussehen. Ich war neugierig und bin jetzt befriedigt. Ich wollte Ihnen auch sagen, daß Sie am besten tun, Ihre Familie sobald wie möglich aufzusuchen und Ihr Haupt unter den vortrefflichen Leuten zu verbergen, die Sie erwarten und die Ihr Geld trösten wird. Wenn es alle ist, können Sie ja wieder glauben und vertrauen und lieben. Ich hielt Sie für ein zerbrochenes ausgedientes Spielzeug, für einen wertlosen Flitter, der den Glanz verloren hat und weggeworfen wird, aber da Sie treues Gold sind, eine echte Dame und eine verführte Unschuld mit einem Herzen voll Liebe und Vertrauen – Sie sehen ganz danach aus, und es stimmt mit Ihrer Geschichte so gut überein –, so habe ich Ihnen noch etwas zu sagen. Merken Sie wohl auf, denn was ich Ihnen sage, werde ich auch ausführen. Hören Sie, Sie zarte Fee, was ich sage! Ich werde es auch ausführen!«

Ihre Wut gewann wieder einen Augenblick die Oberhand, aber sie ging über ihr Gesicht wie ein Krampf und ließ nur ein Lächeln zurück.

»Verbergen Sie sich irgendwo! Wenn nicht zu Hause, so irgendwo, wo man Sie nicht erreichen kann, in einem obskuren Leben – oder noch besser – im obskuren Tod. Ich möchte überhaupt gern wissen, warum Sie keinen Weg gefunden haben, Ihrem liebenden Herzen Stille zu gebieten, wenn es schon nicht brechen wollte. Ich habe von solchen Mitteln gehört. Ich glaube, sie müßten leicht zu finden sein!«

Ein leises Weinen Emlys unterbrach sie hier. Sie schwieg und horchte darauf, als ob es ihr Musik wäre.

»Ich bin vielleicht seltsam geartet«, fuhr Rosa Dartle fort, »aber ich kann nicht frei atmen in der Luft, die Sie atmen. Sie macht mich krank. Deshalb will ich sie rein haben. Sie soll nicht länger von Ihnen verpestet werden. Wenn Sie morgen noch hier sind, so soll das ganze Haus Ihre Geschichte erfahren und was Sie sind. Ich höre, es wohnen anständige Frauen im Hause, und es wäre jammerschade, wenn solch ein Geschöpf wie Sie unter ihnen leben dürfte. Wenn Sie hier wegziehen und sich in dieser Stadt unter einer andern Beschäftigung als Ihrer wahren verbergen wollen, so werde ich dasselbe tun, sowie ich Ihren Zufluchtsort erfahre. Da ich von einem Gentleman unterstützt werde, der vor nicht langer Zeit um die Ehre Ihrer Hand warb, werde ich schon dahinterkommen.«

 

Kommt er denn immer und immer noch nicht?!

 

»O Gott, o Gott!« rief die Unglückliche in einem Ton aus, der das härteste Herz hätte erweichen müssen; aber in Rosa Dartles Lächeln zeigte sich keine Veränderung.

»Was soll ich tun! Was soll ich tun!«

»Tun? In dem Glück Ihrer Erinnerung leben! Ihr Dasein der Erinnerung an James Steerforths Zärtlichkeit widmen; er wollte Sie doch seinem Bedienten zur Frau geben, nicht wahr –? Oder den trefflichen Menschen, der Sie von ihm übernehmen wollte, heiraten und in seiner Herablassung in Glück schwelgen. Und, wenn Sie keines von beiden tun wollen, so sterben Sie doch! Für solche Todesarten gibt es Hausflure und Kehrichthaufen genug … Suchen Sie einen und schweben Sie hinauf zum Himmel!«

Ich hörte Tritte auf der Treppe. Ich erkannte sie sogleich. Er war es! Gott sei Dank!

Miss Dartle war bei ihren letzten Worten von der Türe weggegangen, und ich sah sie nicht mehr.

»Also vergessen Sie nicht«, hörte ich sie noch sagen, als sie die Ausgangstüre öffnete. »Ich bin entschlossen, bewogen von gewissen Gründen und von Haßgefühl, Sie bis aufs äußerste zu verfolgen, wenn Sie nicht aus meinem Bereiche fliehen oder Ihre Maske fallen lassen. Das wollte ich Ihnen sagen, und was ich sage, führe ich auch aus.«

 

Die Tritte auf der Treppe kamen näher und näher, schritten an Rosa Dartle vorüber, als sie hinunterging, – traten ins Zimmer.

»Onkel!«

Ein schrecklicher Schrei folgte. Ich wartete einen Augenblick, blickte dann ins Zimmer und sah, wie er sie in seinen Armen hielt. Er sah ihr ein paar Sekunden ins Gesicht, dann küßte er es zärtlich und deckte ein Tuch darüber.

»Masr Davy«, sagte er darauf mit leiser bebender Stimme, »ich danke meinem himmlischen Vater, daß er meinen Traum wahr werden ließ! Ich danke ihm aus vollem Herzen, daß er mich auf seinen eignen Wegen zu meinem Liebling geführt hat.«

Mit diesen Worten hob er Emly in die Höhe und trug die Regungs- und Bewußtlose, das verhüllte Gesicht an seiner Brust geborgen, die Treppe hinunter.

33. Kapitel Wonne


33. Kapitel Wonne

Die ganze Zeit über trug ich Dora glühender im Herzen als je. Der Gedanke an sie war mir Zuflucht in Leid und Kummer und tröstete mich sogar einigermaßen für den Verlust meines Freundes. Je mehr Mitleid ich mit mir selbst oder anderen empfand, desto mehr suchte ich Trost in Doras Bild.

Ich war sozusagen ganz in Dora aufgegangen, sozusagen ganz und gar von ihr durchtränkt.

Das erste, was ich nach meiner Rückkehr tat, war ein Nachtspaziergang nach Norwood, um dort zwei Stunden lang das Haus und den Garten wie einen Feenpalast aus Kinderträumen zu umkreisen und an Dora zu denken. Ich ging wie ein Mondsüchtiger um das Haus herum, guckte durch die Spalten in dem Gartenzaun oder hob mit größter Anstrengung mein Kinn über die verrosteten Nägel auf der obersten Planke, um den Lichtern in den Fenstern Küsse zuzuwerfen und die Nacht anzurufen, meine Dora zu beschirmen, – ich weiß nicht mehr recht, wovor, wahrscheinlich vor Feuer. Vielleicht auch vor Mäusen, die sie fürchterlich verabscheute.

Meine Liebe erfüllte mich derart, daß ich sie natürlich Peggotty anvertraute, als sie eines Abends, eifrig mit der Ausbesserung meiner Garderobe beschäftigt, neben mir saß. Selbstverständlich teilte ich ihr das große Geheimnis nur in Bruchstücken mit. Peggotty interessierte sich lebhaftest für meinen Fall, aber zu meiner Auffassung der Sache konnte sie sich nicht bekehren. Sie war außerordentlich zu meinen Gunsten eingenommen und wollte durchaus nicht begreifen, warum ich meine Zweifel hatte oder niedergeschlagen sein konnte.

»Die junge Dame kann sich zu einem solchen Verehrer gratulieren«, bemerkte sie, »und was den Alten betrifft, um Gotteswillen, was will er denn eigentlich?«

Ich bemerkte jedoch, daß der Proktortalar und die steife Halsbinde Peggotty ein wenig einschüchterten und ihr Furcht vor Mr. Spenlow einflößten, der in meinen Augen von Tag zu Tag immer ätherischer wurde, bis er in seinem Strahlenglanze mir wie ein kleiner Leuchtturm in einem Meer von Pergament und Papier vorkam, wenn er unter seinen Akten im Gerichtssaal saß.

Wenn ich bei einer Verhandlung die schläfrigen alten Richter und Doktoren ansah und bedachte, daß sie sich um Dora nicht kümmern würden, auch wenn sie sie kannten, daß keiner vor Entzücken den Verstand verloren hätte bei der bloßen Aussicht auf eine Heirat mit Dora und daß ihre bezaubernde Gitarre und ihr Gesang auch nicht einen von diesen schläfrigen Philistern einen Zoll vom Wege gelockt hätte, verachtete ich sie alle ohne Ausnahme.

Nicht ohne Stolz übernahm ich die Ordnung von Peggottys Angelegenheit. Ich ließ das Testament bestätigen, erlegte die Erbschaftssteuer, brachte Peggotty persönlich in die Bank und hatte bald alles erledigt. Dem allzu trocknen juristischen Charakter dieser Beschäftigung gaben wir dadurch eine Abwechslung, daß wir uns ein schwitzendes Wachsfigurenkabinett in Fleetstreet, das inzwischen hoffentlich geschmolzen ist, und Miss Linwoods Ausstellung ansahen, die eine Art Mausoleum für Häkelei war; dann besuchten wir noch den Tower und stiegen in die Kuppel der St.-Pauls-Kirche. Alle diese Wunderwerke machten so viel Eindruck, wie es die gegebenen Verhältnisse nur erlaubten, auf Peggotty. Bloß die St.-Pauls-Kirche wurde ihrer Ansicht nach von dem Bilde auf dem Deckel des Arbeitskästchens in verschiedenen Einzelheiten übertroffen …

Nachdem die Angelegenheiten in den Commons abgemacht war, führte ich Peggotty hinunter in die Kanzlei, um ihre Rechnung zu bezahlen. Mr. Spenlow war fortgegangen, wie mir der alte Tiffey sagte, um einen Herrn wegen eines Ehescheins zu vereidigen. Da er aber bald wiederkommen mußte, warteten wir.

Wir machten es uns in den Commons zur Regel, immer mehr oder weniger betrübt dreinzusehen, wenn wir mit Klienten in Trauer zu tun hatten. Von demselben Zartgefühl bewegt, schnitten wir immer heitere und freundliche Gesichter, wenn jemand wegen eines Trauscheins kam. Ich bereitete deshalb Peggotty darauf vor, daß sie Mr. Spenlow fast ganz von der Erschütterung über Mr. Barkis‘ Tod hergestellt sehen würde; und wirklich trat er auch lustig wie ein Bräutigam ein.

Aber weder Peggotty noch ich hatten Augen für ihn, als wir in seinem Begleiter – Mr. Murdstone erkannten.

Mr. Murdstone hatte sich sehr wenig verändert. Sein Haar war so voll und schwarz wie je, sein Blick so wenig vertrauenerweckend wie früher.

»Ah, Copperfield!« sagte Mr. Spenlow. »Sie kennen diesen Herrn, glaube ich.«

Ich machte Mr. Murdstone eine kalte Verbeugung. Peggotty tat, als ob sie ihn kaum kannte. Anfangs war er sehr betroffen, uns beide zusammenzusehen, faßte sich aber sogleich und kam auf mich zu.

»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl«, sagte er.

»Das kann Sie schwerlich interessieren. Ja, wenn Sies schon wissen wollen.«

Wir sahen einander in die Augen, dann wendete er sich an Peggotty.

»Und wie geht es Ihnen? Ich habe zu meinem Leidwesen erfahren, daß Ihr Gatte gestorben ist.«

»Es ist nicht der erste Verlust in meinem Leben, Mr. Murdstone«, gab ihm Peggotty, am ganzen Leibe zitternd, zur Antwort. »Ich bin nur froh, daß niemand an diesem Verlust schuldig ist.«

»O«, sagte er, »das ist ein großer Trost. Sie haben Ihre Pflicht erfüllt.«

»Ich habe keines Menschen Leben vergiftet. Gott sei Dank, nein, Mr. Murdstone! Ich habe kein liebes Geschöpf gepeinigt und gequält und in ein frühes Grab gebracht.«

Er sah sie düster – reuevoll –, wie mir vorkam, einen Augenblick an und sagte dann zu mir, ohne mir ins Gesicht zu sehen:

»Wir werden uns wahrscheinlich nicht so bald wieder treffen, wahrscheinlich zu unser beider Befriedigung, denn derartige Begegnungen können niemals angenehm sein. Ich erwarte nicht, daß Sie mich jetzt mit freundlicheren Augen ansehen werden, wo Sie sich schon damals immer gegen meine berechtigte Autorität, die nur zu Ihrem Guten und zu Ihrer Besserung angewandt wurde, auflehnten. Eine Antipathie herrscht zwischen uns –«

»Eine alte, glaube ich. –«

Er lächelte und sah mich voll Haß mit seinen dunkeln Augen an. »Sie keimte schon in Ihrer Brust, als Sie noch ein Kind waren, und verbitterte das Leben Ihrer armen Mutter. Sie haben recht! Ich hoffe, Sie werden sich noch bessern.«

Damit endete das Zwiegespräch, das leise in einer Ecke der Kanzlei außerhalb von Mr. Spenlows Zimmer geführt worden war.

Mr. Murdstone sagte jetzt mit seiner sanftesten Stimme:

»Gentlemen von Mr. Spenlows Beruf sind an Familienzwistigkeiten gewöhnt und wissen, wie verwickelt und schwer sie zu schlichten sind.«

Mit diesen Worten bezahlte er seinen Trauschein und verließ, von einem höflichen Glückwunsch Mr. Spenlows für sich und seine künftige Gattin begleitet, die Kanzlei.

Es wäre mir vielleicht schwerer geworden, mich Mr. Murdstone gegenüber zu bezähmen, wenn ich weniger auf Peggotty hätte achtgeben müssen.

Mr. Spenlow schien nicht zu wissen, wie ich mit Mr. Murdstone stand. Wenn er überhaupt eine Ansicht in der Sache hatte, war es die, daß meine Tante die Führerin der Regierungspartei in unserer Familie repräsentierte, während irgend jemand anders an der Spitze einer aufrührerischen Partei stehe, – so schloß ich wenigstens aus seinen Äußerungen, während Mr. Tiffey Peggottys Rechnung zusammenstellte.

»Miss Trotwood«, bemerkte er, »ist von sehr entschiedenem Charakter und gibt der Opposition nicht so leicht nach. Ich kann Ihnen nur gratulieren, Copperfield, daß Sie auf der richtigen Seite stehen. Zwistigkeiten unter Verwandten sind sehr beklagenswert aber außerordentlich häufig, und die Hauptsache ist, daß man immer auf der rechten Seite steht.«

Damit meinte er nach meinem Dafürhalten die reiche Seite.

»Ich glaube, Mr. Murdstone macht eine gute Partie«, fuhr er fort.

Ich sagte, daß ich gar nichts von der Sache wisse.

»Nach den wenigen Worten, die Mr. Murdstone fallenließ, und nach dem, was ich von seiner Schwester erfuhr, muß es eine ganz gute Partie sein.«

»Ist sie reich?« fragte ich.

»Ja, sie soll Geld haben. Sie ist auch schön, wie ich höre.«

»So, so. Ist sie noch jung?«

»Soeben mündig geworden. Vor so kurzer Zeit, daß ich fast glaube, sie hat darauf gewartet.«

»Der Herr erbarme sich ihrer!« rief Peggotty aus, so feierlich und unerwartet, daß wir alle drei ganz aus der Fassung gerieten; dann kam Tiffey mit der Rechnung.

Das Kinn in die Halsbinde gesteckt reibend, ging Mr. Spenlow die einzelnen Posten mit betrübtem Gesicht durch, als ob an allem Jorkins allein schuld wäre, und gab das Papier Tiffey mit einem Seufzer zurück.

»Ja«, sagte er, »es ist in Ordnung, ganz in Ordnung. Ich würde mich außerordentlich glücklich schätzen, Copperfield, wenn ich die Rechnung auf die Barauslagen hätte beschränken können. Aber es ist eine unangenehme Seite meines Geschäftslebens, daß ich meinen Wünschen nie freien Lauf lassen darf. Ich habe einen Associe, Mr. Jorkins!«

Da er das mit sanfter Melancholie aussprach, – mehr konnte man von ihm doch nicht erwarten – so dankte ich ihm in Peggottys Namen und bezahlte Tiffey in Banknoten. Peggotty kehrte in ihre Wohnung zurück, und Mr. Spenlow und ich gingen aufs Gericht, wo eine Scheidungsklage verhandelt wurde, die sich auf einen sehr scharfsinnigen Paragraphen stützte, der jetzt, glaube ich, abgeschafft ist, kraft dessen aber damals manche Ehe in Brüche ging. Der Gatte, dessen Vorname Thomas Benjamin war, hatte sich einen Trauschein nur auf den Namen Thomas ausstellen lassen, falls es ihm in der Ehe nicht so gefallen sollte, wie er erwartete. Und da er jetzt sich oder seine Frau satt hatte, erschien er nach einer Ehe von ein oder zwei Jahren und erklärte Thomas Benjamin zu heißen und überhaupt nicht verheiratet zu sein. Und das bestätigte das Gericht zu seiner großen Zufriedenheit.

Ich muß gestehen, daß ich so meine Zweifel über die Gerechtigkeit dieses Richterspruchs hegte und mich nicht einmal durch Betrachtung des Gleichnisses vom hohen Weizenpreis aussöhnen ließ.

Mr. Spenlow sprach die Sache mit mir durch. Er sagte: »Sehen Sie die Welt an; sie hat ihre guten und schlechten Seiten. Sehen Sie das Kirchenrecht an; es hat seine guten und seine schlechten Seiten. Alles gehört zu einem System und ist untrennbar voneinander. Sehr gut. Da haben wirs.«

Ich war nicht kühn genug, Doras Vater zu entgegnen, daß man vielleicht die Welt ein wenig bessern könnte, wenn man früh aufstünde und sich mit Eifer an die Arbeit machte; aber ich äußerte wenigstens die Meinung, daß man die Commons bessern könnte.

Mr. Spenlow riet mir angelegentlichst, solchen Gedanken, als eines Gentleman unwürdig, fallenzulassen, daß es ihm aber angenehm sein würde zu hören, in welcher Hinsicht die Commons denn verbessert werden könnten.

Wir vertieften uns in ein langes diesbezügliches Gespräch, gingen dann auf allgemeinere Themen über, und so erfuhr ich, daß in acht Tagen Doras Geburtstag sei. Mr. Spenlow sagte, er würde sich freuen, mich an diesem Tag zu einem kleinen Picknick bei sich zu sehen. Ich verlor sofort den Verstand und wurde am nächsten Tag vollständig irrsinnig, als ich ein feines, durchbrochen gerändertes Billett des Inhalts empfing: »Auf Papas Wunsch. Bitte nicht zu vergessen.«

Ich glaube, ich machte mich bei der Vorbereitung auf das herrliche Fest jeder nur denkbaren Überspanntheit schuldig. Ich werde noch heute rot, wenn ich an die Krawatte denke, die ich mir kaufte. Meine Stiefel würden in jede Sammlung von Folterwerkzeugen gepaßt haben. Ich erstand einen delikaten kleinen Speisekorb, der an sich fast schon eine Liebeserklärung bedeutete. Er enthielt unter anderm Knallbonbons mit den zärtlichsten Sprüchen, die sich für Geld auftreiben ließen. Um sechs Uhr früh war ich schon auf dem Covent-Garden-Markt und kaufte ein Sträußchen für Dora. Um zehn Uhr saß ich im Sattel – ich hatte mir einen feurigen Eisenschimmel gemietet –, die Blumen unter dem Hut, um sie frisch zu erhalten, und trabte nach Norwood.

Als ich Dora im Garten erblickte und tat, als könne ich das Haus nicht finden, um noch einmal vorbeireiten zu können, mag ich damit wohl die übliche Dummheit begangen haben, deren sich Jünglinge in meiner Verfassung befleißen. Als ich dann glücklich das Haus entdeckte und an der Gartentür abstieg und mich in meinen grausamen Stiefeln über den Rasenplatz hinschleppte, ach, wie herrlich sah sie da auf der Gartenbank unter dem Holunderbaum aus an dem schönen Morgen, mit ihrem weißen Strohhut und dem himmelblauen Kleid, von Schmetterlingen umflattert.

In ihrer Gesellschaft befand sich eine junge Dame, – verhältnismäßig ältlich, nämlich – zwanzig Jahre. Sie hieß Miss Mills, und Dora nannte sie Julie. Sie war ihre Busenfreundin. Glückliche Miss Mills! Jip war auch da und mußte mich wieder anbellen. Als ich meinen Strauß überreichte, fletschte er aus Eifersucht die Zähne. Er hatte allen Grund dazu.

Wenn er die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie sehr ich seine Herrin anbetete, hätte er es erst recht tun müssen.

»O, ich danke Ihnen, Mr. Copperfield. Was für hübsche Blumen!« sagte Dora. Ich wollte erwidern – ich hatte mir einen herrlichen Satz während der drei letzten Meilen einstudiert –, daß auch ich sie für schön gehalten, solange ich sie nicht neben ihr gesehen, aber ich konnte es nicht herausbringen. Ihr Anblick verwirrte mich zu sehr. Sie die Blumen an ihr hübsches Kinn mit den kleinen Grübchen legen zu sehen, hieß alle Geistesgegenwart und Sprachgewandtheit einbüßen. Es wundert mich nur, daß ich nicht sagte, »wenn Sie ein Herz haben, Miss Mills, töten Sie mich, lassen Sie mich hier sterben.«

Dann gab Dora meine Blumen Jip zu riechen. Aber Jip knurrte und wollte nicht. Und Dora lachte und hielt sie ihm noch näher an die Nase. Jip faßte mit seinen Zähnen eine Geraniumblüte und zauste sie hin und her wie eine Katze. Und Dora schlug ihn und schmollte und sagte: »Meine armen schönen Blumen«, so mitleidig, wie mir vorkam, als ob er mich zerzaust hätte. O, wäre es doch so gewesen!

»Sie werden gewiß gern hören, Mr. Copperfield«, sagte Dora, »daß die abscheuliche Miss Murdstone verreist ist. Sie ist auf ihres Bruders Hochzeit und wird wenigstens drei Wochen wegbleiben. Ist das nicht herrlich?«

Ich erwiderte, es müsse gewiß für sie herrlich sein, und versicherte ihr, alles, was für sie herrlich sei, sei es auch für mich. Miss Mills lächelte dazu mit wohlwollend überlegner Weisheit.

»Sie ist das unangenehmste Ding, das mir jemals vorgekommen ist«, sagte Dora. »Du kannst dir gar nicht denken, wie grämlich und abscheulich sie ist, Julie.«

»Ich kanns mir schon denken«, sagte Julie.

»Ja, du kannst es«, entgegnete Dora und legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin. »Verzeih, daß ich dich nicht gleich ausnahm.«

Ich entnahm daraus, daß Miss Mills im Lauf eines langen wechselvollen Lebens viele Prüfungen erduldet haben mußte. Vermutlich stammte daher das Wohlwollen in ihrem Benehmen. Im Lauf des Tages fand ich heraus, daß es sich tatsächlich so verhielt. Miss Mill war unglücklich verliebt gewesen und hatte sich nach schrecklichen Erfahrungen von dem Getriebe der Welt zurückgezogen.

Mr. Spenlow kam heraus, und Dora ging auf ihn zu und sagte: »Schau nur, Papa, was für wunderschöne Blumen!« und Miss Mills lächelte gedankenvoll, als wollte sie sagen: Ihr jungen Schmetterlinge erfreut euch nur eures Daseins am hellen Morgen des Lebens. Dann gingen wir zu dem Wagen, der zur Abfahrt bereit stand.

Nie wieder werde ich einen solchen Ausflug mehr mitmachen. Dora, Miss Mills und Mr. Spenlow saßen in dem offnen Phaethon. Ich ritt hinterher, Dora, das Gesicht mir zugewendet, saß auf dem Rückplatz. Sie legte das Bukett neben sich auf das Kissen und wollte Jip nicht erlauben, sich auf diese Seite zu setzen, damit er es nicht zerdrücke. Sie nahm es oft in die Hand und erquickte sich an dem Duft der Blumen. Unsere Blicke begegneten sich viele Male, und es war ein Wunder, daß ich nicht über den Kopf meines feurigen Eisenschimmels hinweg in den Wagen flog.

Ich glaube, es war staubig. Ich glaube, es war sogar sehr staubig. Ich habe so eine dunkle Erinnerung, als ob Mr. Spenlow mir Vorstellungen machte, warum ich denn so im Staube ritte, aber ich achtete nicht darauf. Ich war mir nur eines Nebels von Liebe und Schönheit um Dora herum bewußt. Mr. Spenlow stand manchmal auf und fragte mich, wie mir die Aussicht gefiele. Ich sagte, der Wahrheit gemäß, sie sei wunderschön, blickte ich doch nur auf Dora! Die Sonnenstrahlen waren: Dora, und die Vögel sangen: Dora. Der Südwind wehte: Dora; und die wilden Blüten in den Hecken waren bis auf jede Knospe lauter Doras. Mein Trost war, daß Miss Mills mich verstand. Nur Miss Mills allein begriff vollständig meine Gefühle.

Ich weiß nicht, wie lang die Fahrt dauerte, und bis heute weiß ich nicht, wo wir eigentlich hinfuhren. Vielleicht war es in die Nähe von Guildford. Vielleicht ließ ein arabischer Zauberer diesen Ort nur für uns emporsteigen und wieder versinken, als wir fort waren. Ein grüner Fleck auf einem Hügel mit weichem Rasen bedeckt. Schattige Bäume ringsumher und Heide, soweit das Auge reichte.

Wie ärgerlich, daß hier Leute auf uns warteten; meine Eifersucht, selbst gegen die Damen, kannte keine Grenzen. Alle Herren – besonders ein Kerl, drei oder vier Jahre älter als ich, mit einem roten Backenbart, auf den er sich unerträglich viel einbildete, – waren meine Todfeinde.

Wir packten unsere Körbe aus und fingen an, ein Frühstück zu bereiten. Der Rotbart behauptete, er könnte Salat anmachen – ich bin anderer Meinung –, und drängte sich der allgemeinen Beachtung auf. Einige von den jungen Damen wuschen die grünen Stauden und zerschnitten sie nach seiner Anleitung. Dora unter ihnen. Ich fühlte, daß das Verhängnis mich diesem Manne feindlich gegenübergestellt hatte und daß einer von uns fallen müßte.

Der Rotbart bereitete seinen Salat; ich begriff nicht, wie man ihn essen konnte, – mich hätte nichts vermocht, ihn anzurühren. Dann widmete er sich der Herstellung eines Weinkellers – diese erfinderische Bestie – aus einem hohlen Baumstamm. Schließlich sah ich ihn auf seinem Teller den Riesenanteil eines Hummers zu Doras Füßen essen.

Ich habe nur einen dunkeln Begriff, was dann noch alles geschah. Ich tat sehr heiter, das weiß ich noch, aber es war Heuchelei. Ich gesellte mich zu einem jungen Mädchen in Rosa mit kleinen Augen und flirtete entsetzlich. Sie nahm meine Aufmerksamkeit günstig auf, ob aber meinetwegen, oder weil sie Absichten auf den Rotbart hatte, weiß ich nicht. Man brachte Doras Gesundheit aus. Als ich mittrank, tat ich, als bräche ich mein Gespräch bloß deshalb ab, und nahm es sogleich wieder auf. Ich begegnete dem Blick Doras, als ich mich vor ihr verbeugte, und er kam mir flehentlich vor. Aber sie sah mich über den Kopf des Rotbarts hinweg an, und ich blieb hart wie Stein.

Das junge Mädchen in Rosa hatte eine Mutter in Grün; und ich glaube, letztere trennte uns aus Gründen der Politik. Endlich stand die Gesellschaft auf, während die Reste des Essens weggeräumt wurden, und ich verlor mich, von Wut und Zerknirschung erfüllt, einsam unter den Baum. Ich ging eben mit mir zu Rate, ob ich Unwohlsein vorschützen und auf meinem Rosse entfliehen sollte, als ich Dora und Miss Mills begegnete.

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Mills, »Sie sind verstimmt.«

Ich entschuldigte mich: »O, durchaus nicht!«

»Und du, Dora«, sagte Miss Mills, »bist auch verstimmt.«

»Ach Gott, nein«, sagte Dora, »nicht im geringsten.«

»Mr. Copperfield und du, Dora«, sprach Miss Mills fast feierlich, »genug jetzt! Laßt nicht durch ein kleinliches Mißverständnis die Blumen des Lenzes verwelken, die, einmal verblüht, nie mehr wiederkehren. Ich spreche aus alter Erfahrung in einer Vergangenheit – einer fernen unwiederbringlichen Vergangenheit. Die sprudelnden Quellen, die im Sonnenlicht funkeln, soll man nicht aus bloßer Laune versiegen lassen. Die Oase in der Wüste Sahara darf man nicht eitel zertreten.«

Ich weiß nicht, was ich tat, ich war blutrot über und über, aber ich nahm Doras kleine Hand und küßte sie, – und sie entzog sie mir nicht! Ich küßte Miss Mills die Hand, und wir alle stiegen nach meiner Empfindung geradenwegs in den siebenten Himmel auf.

Wir kamen nicht wieder herunter und blieben dort oben den ganzen Abend. Anfangs gingen wir unter den Bäumen auf und ab. Doras Arm lag schüchtern in meinem und, der Himmel weiß, vielleicht ists kindisch, aber wäre es nicht wirklich ein Glück gewesen, inmitten solch törichter Gefühle mit einem Schlag in das Reich der Unsterblichen versetzt zu werden, um für immer unter diesen Bäumen zu wandeln?!

Viel zu bald hörten wir die andern lachen und plaudern und rufen: »Wo ist Dora?« Wir kehrten um, und Dora sollte singen. Der Rotbart wollte die Gitarre aus dem Wagen holen. Aber Dora sagte, bloß ich wisse, wo sie liege. Der Rotbart war also für den Augenblick beseitigt, und ich holte das Futteral, schloß es auf, holte die Gitarre hervor und setzte mich neben Dora. Ich hielt ihr Taschentuch und ihre Handschuhe und trank jede Note ihrer lieben Stimme, und sie sang für mich, der sie liebte; die andern konnten applaudieren, soviel sie wollten, es ging sie ja doch nichts an.

Ich war förmlich trunken vor Freude. Ich fürchtete jeden Augenblick, in der Buckingham Straße aufzuwachen und Mrs. Crupp mit den Teetassen klappern zu hören. Aber Dora sang wirklich, und andere sangen, und Miss Mills sang – »von den Echos, die, hundert Jahre alt, schlummern in den Höhlen der Erinnerung« –, und der Abend kam, und wir kochten Tee in einem Kessel im Freien wie die Zigeuner, und ich war immer noch so glücklich wie vordem.

Glücklicher als je, als die Gesellschaft endlich aufbrach, und die andern, unter ihnen der besiegte Rotbart, ihrer Wege gingen, und auch wir den unsern einschlugen durch den stillen Abend des sterbenden Tages, während süße Düfte rings um uns emporstiegen.

Da Mr. Spenlow von dem Champagner ein wenig schläfrig geworden, – Heil dem Boden, auf dem die Rebe wuchs, der Sonne, die den Wein gereift, dem Kaufmann, der ihn verfälscht hatte, – in einer Ecke des Wagens nickte, ritt ich neben dem Schlag und plauderte mit Dora. Sie bewunderte mein Pferd und tätschelte es – o, wie niedlich ihre kleine Hand sich auf dem Hals des Pferdes ausnahm –, und ihr Schal wollte nicht auf der Schulter bleiben, und dann und wann durfte ich ihn zurechtlegen. Es kam mir sogar vor, als ob Jip einzusehen anfinge, wie die Sache stünde, und mit mir Freundschaft schließen wollte.

Und die scharfblickende Miss Mills, diese liebenswürdige, so weltmüde Nonne, dieser kleine Patriarch von noch nicht ganz zwanzig Jahren, die mit der Welt abgeschlossen hatte und um keinen Preis die in den Höhlen der Erinnerung schlummernden Echos wecken durfte, – wie sie gütig zu mir war!

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Mills, »kommen Sie einen Augenblick auf die Seite des Wagens – wenn Sie einen Moment Zeit haben – ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Und ich beugte mich von meinem Rosse auf Miss Mills herab, die Hand auf die Wagentür gestützt. Ein Bild!

»Dora kommt morgen zu Besuch zu mir auf ein paar Tage. Wenn ich Sie einladen darf, wird sich Papa glücklich schätzen, Sie kennenzulernen.«

Was konnte ich anderes tun, als einen stummen Segen auf Miss Mills Haupt herabrufen und ihre Adresse im sichersten Winkel meines Gedächtnisses aufbewahren. Mit dankbarem Blick und feurigen Worten beteuerte ich, wie sehr ich ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen wüßte, und welch unendlichen Wert ihre Freundschaft für mich habe.

Dann entließ mich Miss Mills wohlwollend mit den Worten: »Gehen Sie jetzt wieder zu Dora.« Und das tat ich, und Dora beugte sich aus dem Wagen heraus, um mit mir zu sprechen, und wir plauderten die ganze übrige Fahrt. Ich drängte mein wackeres Roß so dicht an das Rad, daß es sich am Vorderfuß die Haut abschürfte, wofür ich dem Besitzer 3 £ 7 sh. zahlen mußte, eine Summe, die mir angesichts so hohen Genusses lächerlich gering schien. Die ganze Zeit über sah Miss Mills den Mond an, murmelte halblaut Verse und erinnerte sich wahrscheinlich an die uralten Zeiten, wo sie und die Erde noch etwas miteinander gemein hatten.

Norwood lag viele Meilen zu nahe, und wir langten viel zu früh an. Kurz vor unserer Ankunft wachte Mr. Spenlow auf und sagte: »Sie müssen hereinkommen, Copperfield, und ein wenig ausruhen.« Ich nahm an, und wir genossen einige Sandwiches mit Wein. In dem hellen Zimmer sah Dora so bezaubernd aus, daß ich mich gar nicht losreißen konnte und sie wie im Traum anstarrte, bis Mr. Spenlows Schnarchen mich so weit zur Besinnung brachte, daß ich mich verabschiedete. Während des ganzen Rittes nach London fühlte ich noch die letzte Berührung von Doras Hand in meiner, rief mir jeden Vorfall und jedes Wort zehntausendmal zurück und ging endlich schlafen, verliebt bis zum Wahnsinn wie nur je ein junger Fant.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, faßte ich den festen Entschluß, Dora meine Liebe zu erklären, um mir über mein Schicksal Gewißheit zu verschaffen.

Seligkeit oder Verdammnis, das war jetzt die Frage.

Für mich gab es keine andere auf der Welt, und nur Dora konnte sie beantworten. Drei Tage brachte ich zu in grenzenloser Qual, die ich noch dadurch steigerte, daß ich mir alles, was zwischen Dora und mir vorgefallen, auf das Allerentmutigendste auslegte. Endlich begab ich mich zu Miss Mills, mit großen Kosten zu dem Zwecke angetan und den Kopf voll Liebeserklärungen. Wievielmals ich die Straße auf und ab ging und um den Platz herum, ehe ich mich entschließen konnte, die Treppen hinaufzusteigen und anzuklopfen, ist jetzt nicht mehr von Belang. Selbst, als ich endlich geklopft hatte und an der Türe wartete, kam mir in der Aufregung der Gedanke zu fragen, ob hier Mr. Blackboy wohne – eine Erinnerung an den seligen Barkis –, um Entschuldigung zu bitten und wieder wegzugehen. Aber ich überwand mich.

Mr. Mills war nicht zu Hause. Ich erwartete es auch gar nicht. Nach ihm verlangte niemand. Miss Mills war zu Hause; Miss Mills genügte.

Man wies mich in ein Zimmer, eine Treppe hoch, wo ich sie und Dora fand. Jip war auch da. Miss Mills schrieb Noten ab – es war ein neues Lied: »Der Liebe Grabgesang« –, und Dora malte Blumen. O Gott, was ich fühlte, als ich meine eignen Blumen erkannte, den wirklichen und echten Strauß vom Covent-Garden-Markt. Man konnte zwar nicht behaupten, daß sie sehr ähnlich aussahen oder daß sie überhaupt irgendwelchen mir bekannten Blumen glichen, aber ich erkannte sie an der Papiermanschette, die ganz genau kopiert war.

Miss Mills freute sich sehr mich zu sehen. Sie bedauerte, daß ihr Papa nicht zu Hause war, aber wir schienen es alle mit großer Fassung zu tragen. Sie leitete die Konversation ein paar Minuten, legte dann ihre Feder auf »Der Liebe Grabgesang«, stand auf und verließ das Zimmer.

Ich beschäftigte mich schon mit dem Gedanken, alles auf morgen aufzuschieben.

»Ich hoffe, Ihr armes Pferd war nicht müde, als es gestern nachts nach Hause kam?« sagte Dora und schlug ihre schönen Augen auf. »Es hat einen weiten Weg gemacht.«

Ich fing an zu denken, ich wollte doch lieber heute alles sagen.

»Es war ein weiter Weg für mein Pferd«, erwiderte ich, »denn es hatte auf der Reise nichts, an dem es sich erquicken konnte.«

»Hat es denn kein Futter bekommen, das Ärmste?«

Ich dachte wieder, ich sollte alles doch lieber bis morgen aufschieben.

»O doch, es hat ihm an nichts gefehlt. Ich meine nur, es fühlte nicht das unaussprechliche Glück, das ich in Ihrer Nähe genoß.«

Dora beugte sich auf ihre Malerei herab und sagte nach einer kleinen Pause, während der ich wie in Fieber glühte, – nur die Beine waren mir eiskalt –: »Zu einer gewissen Stunde damals schienen Sie selbst dieses Glück nicht allzu sehr zu empfinden.«

Ich erkannte, daß keine Umkehr mehr möglich war.

»Sie schienen es sogar nicht im mindesten zu fühlen«, Dora zog die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte den Kopf, »als Sie neben Miss Kitt saßen.«

Kitt hieß nämlich das Mädchen in Rosa mit den kleinen Augen.

»Ich wüßte auch gar nicht, warum Sie es hätten empfinden sollen oder warum Sie es überhaupt ein Glück nennen. Aber natürlich meinen Sie es ja auch nicht im Ernst. Selbstverständlich können Sie ja auch tun, was Sie wollen. Jip, du Nichtsnutz, komm her!«

Ich weiß nicht, wie ich es anfing. Aber es war im Nu geschehen. Ich kam Jip zuvor. Ich hielt Dora in den Armen. Ich war voll Beredsamkeit. Ich war nie um ein Wort verlegen. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, und daß ich ohne sie sterben müßte. Ich sagte ihr, ich betete sie an. Jip bellte die ganze Zeit über wie toll. Als Dora das Köpfchen sinken ließ und weinte und zitterte, da stieg meine Beredsamkeit noch, und je verzückter ich wurde, desto mehr bellte Jip. Jeder von uns wurde nach seiner Weise von Minute zu Minute toller. Endlich saßen Dora und ich, leidlich beruhigt, nebeneinander auf dem Sofa, und Jip lag auf ihrem Schoß und zwinkerte mich friedlich an. Die Last war von meinem Herzen genommen. Seligkeit! Dora und ich waren verlobt.

Ich glaube, wir hatten so eine dunkle Ahnung, daß zuletzt eine Hochzeit draus werden sollte. Es muß wohl so gewesen sein, denn Dora bestand darauf, daß wir ohne die Einwilligung ihres Papas nie heiraten dürften. Aber ich glaube nicht, daß wir uns in unserer jugendlichen Ekstase eigentlich um die Zukunft oder die Vergangenheit irgendwie bekümmerten oder an etwas anderes dachten als an die blinde Gegenwart. Wir beschlossen, die Sache vor Mr. Spenlow geheimzuhalten, und ich glaube nicht, daß ich das auch nur einen Augenblick für unehrenhaft hielt.

Miss Mills sah noch gedankenvoller drein als gewöhnlich, als sie mit Dora, die sie suchen gegangen war, zurückkam, – ich fürchte, weil das Vorgefallene ganz danach angetan war, die »in den Höhlen der Erinnerung schlummernden Echos« zu wecken. Sie gab uns ihren Segen und die Versicherung ihrer unwandelbaren Freundschaft und sprach zu uns in Gemeinplätzen, wie es sich für eine Stimme aus der Abgeschiedenheit schickte.

Was für eine traumhaft glückliche, törichte Zeit das war, – die Zeit, als ich an Doras Finger Maß nahm für einen Ring aus Vergißmeinnicht, und der Juwelier, dem ich es gab, mich durchschaute und über dem Bestellbuch lachte und mir so seinen eignen Preis abverlangte für den hübschen kleinen Ring mit den blauen Steinen!

So unzertrennlich verbunden ist dieser Ring mit meiner Erinnerung an Doras Hand, daß gestern, als ich zufällig einen ähnlichen am Finger meiner eignen Tochter bemerkte, etwas wie Schmerz mein Herz durchzuckte.

Geadelt von meinem Geheimnis und der Würde, Dora zu lieben und von ihr geliebt zu werden, so hoch gehoben von meinem Gefühl, daß die Menschen mir wie wimmelndes Gewürm erschienen, ging ich einher. Wir saßen beisammen in dem Garten auf dem Platz in dem alten Sommerpavillon so glücklich, daß mir heute noch alles lieb ist, was mit jener Zeit zusammenhängt; und aus keinem andern Grund als diesem habe ich die Londoner Sperlinge so gern und sehe in ihrem berußten Gefieder die glänzenden Farben tropischer Vögel.

Ach, und die Zeit, als wir uns das erste Mal zankten, acht Tage nach unserer Verlobung, und Dora mir den Ring in einem verzweiflungsvollen Brief zurückschickte, in dem sie die schrecklichen Worte gebrauchte, daß »unsere Liebe in Torheit begonnen und in Wahnsinn geendet habe«, und ich mir die Haare raufte und schrie, daß alles vorüber sei! Im Dunkel der Nacht noch eilte ich zu Miss Mills, sprach sie dann in einer Waschküche auf dem Hof, in der eine Mangel stand, und flehte sie an, zwischen uns zu vermitteln und mich vor dem Wahnsinn zu retten. Und freundlich übernahm Miss Mills die Vermittlung, brachte mir Dora zurück, um uns von der Kanzel ihrer eignen verbitterten Jugenderinnerung herab zu gegenseitiger Nachgiebigkeit und zur äußersten Vorsicht gegenüber den Oasen in der Wüste Sahara zu ermahnen. Und wir weinten und versöhnten uns wieder und waren so glücklich, daß die Waschküche mit der Mangel und all dem Zubehör zu einem Tempel der Liebe wurde, in dem wir einen Plan zu täglichem Briefwechsel in Miss Mills‘ Hände legte.

Was für eine traumhaft glückliche, törichte Zeit! Von allen, die ich durchlebt, ist keine, an die ich so zärtlich und voll Lächeln zurückdenken kann.

51. Kapitel Der Anfang einer langen Reise


51. Kapitel Der Anfang einer langen Reise

Es war noch früh am Morgen des folgenden Tages, und ich ging mit meiner Tante im Garten auf und ab, als man mir Mr. Peggotty meldete. Ich ging ihm entgegen; er trat in den Garten und nahm den Hut ab, wie stets, wenn er meine Tante sah, die er in hoher Achtung hielt.

Ich hatte ihr alles erzählt, was gestern vorgefallen war.

Ohne ein Wort zu sprechen trat sie mit herzlicher Miene auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und klopfte ihn auf den Arm. Das geschah in so ausdrucksvoller Weise, daß sie kein Wort zu sagen brauchte.

»Ich will jetzt hineingehen, Trot, und nach unserm lieben Blümchen sehen, denn es wird gleich aufstehen.«

»Doch nicht, weil ich gekommen bin?« sagte Mr. Peggotty. »Ich fürchte, Sie wollen meinetwegen gehen.«

»Sie haben etwas zu erzählen, mein guter Freund«, entgegnete meine Tante, »und es wird ohne mich besser gehen.«

»Wenn Sie erlauben, Maam, so sähe ich es lieber, wenn Sie hierblieben.«

»Wirklich?« sagte meine Tante gutmütig. »Nun, dann will ich bleiben.«

Damit hängte sie sich in Mr. Peggotty ein und ging mit ihm in die kleine Laube, wo ich neben ihr Platz nahm. Mr. Peggotty wollte lieber stehenbleiben und stützte die Hand auf den Gartentisch. Wie er dastand und seine Mütze ansah, bevor er zu sprechen anfing, konnte mir nicht entgehen, wie viel Willenskraft und Charakterstärke sich in seiner sehnigen Hand ausdrückte, und wie gut sie zu seiner ehrlichen Stirn und dem halbergrauten Haar paßte.

»Ich nahm mein geliebtes Kind gestern abends mit in meine Wohnung«, fing er an und erhob seine Blicke wieder zu uns, »wo ich sie seit langer Zeit erwartet und alles für sie vorbereitet hatte. Stunden vergingen, ehe sie mich ordentlich erkannte; dann kniete sie vor mir nieder und erzählte mir in einem Tone, als ob sie betete, wie alles gekommen war. Sie können mir glauben, als ich ihre liebe Stimme hörte und sah, wie sie sich in den Staub beugte, auf den unser Heiland mit seiner gesegneten Hand geschrieben, da fühlte ich, wie ein Riß durch mein Herz ging inmitten seligster Dankbarkeit.«

Er fuhr sich mit dem Rockärmel über die Augen und räusperte sich.

»Das Gefühl blieb nicht lange, hatte ich sie doch wiedergefunden! ? Aber ich weiß wahrhaftig nicht, warum ich jetzt von mir spreche.«

»Sie sind ein Herz voll Selbstverleugnung«, sagte meine Tante, »und werden Ihren Lohn bekommen.«

Mr. Peggotty war einen Augenblick so überrascht über den Lobspruch, daß er sich verwirrt verbeugte. Dann fuhr er in seiner Erzählung fort.

»Als meine Emly«, sagte er, einen Augenblick voll Zorn, »aus dem Hause flüchtete, wo sie die gefleckte Viper, die Masr Davy gesprochen hat, gefangenhielt, da war es Nacht. Es war eine dunkle Nacht, und viele Sterne schienen. Sie war wie wahnsinnig. Sie lief am Ufer hin und her und glaubte, das alte Boot sei dort, und rief uns zu, wir sollten das Gesicht abwenden, denn sie käme. Sie hörte sich selbst rufen wie eine Fremde, verwundete sich an den scharfen Steinen und Klippen und fühlte es nicht. Sie lief immer weiter und weiter, und Feuer stand ihr vor den Augen, und es brauste ihr in den Ohren. Auf einmal, so erinnert sie sich, brach der Tag regnerisch und windig an, und sie lag neben einem Stein am Strande, und eine Frau redete sie an und fragte sie in der Sprache jenes Landes, was ihr fehlte.«

Er schien die Szenen wie eine Vision vor sich zu sehen.

»Als Emly, deren Augen schwer waren vom Weinen, die Frau besser sah, da erkannte sie in ihr eine, mit der sie oft am Strande gesprochen hatte. Die Frau selbst besaß keine Kinder und war noch sehr jung, aber sie erwartete eins. Und wenn Gott meine Bitte erhört, so wird dieses Kind ihr ganzes Leben lang ein Glück und ein Trost und eine Ehre für sie sein.«

»Amen!« sagte meine Tante.

»Die Frau war anfangs sehr schüchtern gewesen und hatte abseits beim Spinnen gesessen, wenn Emly mit den übrigen sprach, aber Emly hatte sie oft angeredet, und da beide Kinder gern hatten, wurden sie bald gute Freunde. Und wenn die Frau Emly begegnete, schenkte sie ihr jedesmal Blumen. Das war die Frau, die sie jetzt fragte, was ihr geschehen sei. Emly erzählte ihr alles, und die Frau nahm sie mit nach Hause. Sie nahm sie mit nach Hause«, wiederholte Mr. Peggotty und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

Er war von dieser menschenfreundlichen Handlung mehr ergriffen, als ich ihn seit dem Abend, als Emly entflohen, gesehen hatte. Weder meine Tante noch ich störten ihn.

»Es war ein kleines Häuschen, das können Sie sich wohl denken«, fuhr er gleich darauf fort, »aber sie räumte Emly einen Platz darin ein, denn ihr Mann war auf der See, – hielt sie versteckt und schärfte auch den Nachbarn ein, sie nicht zu verraten. Emly verfiel in ein langes Fieber und, was mir sehr wunderbar vorkommt – vielleicht scheint es gelehrten Leuten nicht wunderbar –, sie vergaß die Sprache jenes Landes und konnte nur ihre Muttersprache reden, die niemand verstand. Sie erinnert sich wie an einen Traum, daß sie dalag und immer in ihrer Muttersprache redete und immer glaubte, das alte Boot stehe in der Bucht, und bat und flehte hinzuschicken und sagen zu lassen, sie läge im Sterben und man möge ihr verzeihen, und wenn es nur mit einem einzigen Worte sei. Fast die ganze Zeit über glaubte sie, daß er, den ich eben genannt habe, unter ihrem Fenster horche, und der andere, der sie so weit gebracht, im Zimmer sei, – und bat die gute junge Frau, sie nicht auszuliefern, und wußte doch auch zu gleicher Zeit, daß sie sich nicht verständlich machen könne, und fürchtete, man wolle sie wieder fortbringen. Feuer stand vor ihren Augen, und es brauste ihr in den Ohren; und es gab für sie kein Heute und kein Gestern und kein Morgen, und alles in ihrem Leben, was jemals vorgefallen war oder vorfallen konnte, und alles, was nie gewesen war und nie kommen konnte, stürmten auf einmal auf sie ein; nichts war ihr klar oder tat ihr wohl, und doch mußte sie singen und dann wieder lachen! Wie lange dies dauerte, weiß ich nicht. Und dann verfiel sie in Schlaf und wurde so schwach wie ein kleines Kind.«

Hier hielt er inne, als wollte er sich von den Schrecken seiner eignen Schilderung erholen. Nach einigen Augenblicken Schweigens fuhr er wieder fort:

»Als sie erwachte an einem wunderschönen Nachmittag, war alles so still, daß man nichts hörte als das leise Rauschen des blauen Meeres am Strande. Anfangs glaubte sie, sie sei zu Hause und es sei Sonntagmorgen. Aber an den Weinreben vor dem Fenster und den Bergen im Hintergrunde erkannte sie, daß es nicht ihre Heimat war. Dann kam ihre Freundin, um an ihrem Bette zu wachen; da wußte sie, daß das alte Boot nicht mehr in der Bucht stehe, sondern weit, weit in der Ferne, und begriff, warum sie hier war. Und sie fing an zu weinen an der Brust der guten jungen Frau, an der, wie ich hoffe, jetzt ein Säugling liegt und seine Mutter mit hübschen Äugelchen anlächelt.«

Er konnte die Freundin Emlys nicht ohne eine Flut von Tränen erwähnen. Immer wieder fing er an zu schluchzen, wenn er sie zu segnen versuchte. Auch meine Tante weinte aus vollem Herzen.

»Das tat meiner Emly gut«, fing er wieder an, »und es ging besser mit ihr. Aber sie hatte die Sprache jenes Landes vergessen und mußte in Zeichen reden. So ging es fort, und sie wurde gesünder von Tag zu Tag, langsam aber sicher, und versuchte die Namen der häufigsten Gegenstände wieder zu lernen. Es kam ihr vor, als ob sie sie nie in ihrem Leben gehört hätte, bis sie eines Abends am Fenster saß und einem kleinen Mädchen zusah, das am Strande spielte. Und plötzlich hielt ihr das Kind die Hände entgegen und fragte, wie auf englisch hieße: ›Fischerstochter, hier ist eine Muschel.‹ Sie müssen wissen, daß die Leute sie anfangs ›schöne Dame‹ genannt hatten, wie das dort Sitte ist, und daß sie ihnen gelehrt hatte, sie statt dessen Fischerstochter zu nennen. Das Kind sagte plötzlich: ›Fischerstochter, hier ist eine Muschel. Und das verstand Emly und antwortete und brach in Tränen aus, und die Erinnerung kehrte zurück.«

»Als sie wieder genesen war«, sagte Mr. Peggotty abermals nach einer kurzen Pause, »sann sie auf Mittel, in ihr Vaterland zu gelangen. Der Mann der jungen Frau war wieder heimgekehrt, und beide brachten sie auf einen kleinen Kauffahrteifahrer, der nach Livorno fuhr und von da nach Frankreich. Sie besaß ein wenig Geld, aber es war weniger als nichts, was die armen Leute annehmen wollten für ihre vielen guten Taten. Ich bin fast froh darüber, denn was sie getan haben, ist dort aufbewahrt, wo weder Motten noch Rost hinkommen und wo kein Dieb einbrechen und stehlen kann. Masr Davy, es währet länger als alle Schätze der Welt.

Emly erreichte Frankreich und nahm eine Stelle an, in der sie in einem Gasthaus die reisenden Damen bediente. Dorthin kam eines Tages jene Viper. Möge er mir niemals vor Augen kommen! Ich weiß nicht, was ich ihm antäte! Ehe er sie noch sah, entfloh sie schon voll Furcht und Entsetzen. Sie gelangte nach England und stieg in Dover ans Land.

Ich weiß nicht, wann ihr der Mut sank, aber auf der ganzen Reise hatte sie beabsichtigt, ihr Vaterhaus aufzusuchen.

Kaum hatte sie England betreten, wandte sie sich dorthin. Aber die Furcht, daß wir ihr nicht verzeihen würden, daß man auf sie mit Fingern deuten würde, die Angst, daß von uns einige ihretwegen gestorben sein könnten, die Furcht vor vielen andern Umständen noch machten sie unterwegs fast mit Gewalt andern Sinnes. ›Onkel, Onkel‹, sagte sie zu mir, ›die Furcht, nicht würdig zu sein, das auszuführen, wonach sich mein zerrissenes und blutendes Herz so sehr sehnte, war die Furcht, die mich am meisten bewegte. Ich kehrte um, als mein Herz voll war von Gebeten, ich möchte nachts nach der alten Schwelle schleichen, sie küssen, mein sündiges Gesicht auf sie legen und dort sterben können.‹

Sie kam«, sagte Mr. Peggotty und dämpfte seine Stimme zu einem bangen Flüstern, »nach London. Sie, – die es nie in ihrem Leben gesehen, – allein – ohne einen Penny, – jung – und so hübsch – kam nach London. Fast in dem Augenblick, wo sie so gänzlich verlassen hier ankam, fand sie eine, wie sie glaubte, freundlich gesinnte, anständige Frau, die ihr eine Näherarbeit zu verschaffen versprach, ihr eine Unterkunft für die Nacht suchen und geheime Nachforschungen nach mir und uns allen anstellen wollte. Als mein Kind«, sagte er laut und mit einer Dankbarkeit, die ihn vom Kopf bis zum Fuß durchbebte, »vor einem tiefern Abgrund stand, als ich sagen oder mir ausdenken kann, da rettete Marta sie getreu ihrem Versprechen.«

Ich konnte einen Ausruf der Freude nicht unterdrücken.

»Masr Davy«, sagte er und packte meinen Arm mit seiner starken Hand. »Sie waren es, der mich zuerst auf Marta aufmerksam machte. Ich danke Ihnen, Sir! Sie meinte es ernst! Sie hatte aus eigner bittrer Erfahrung gelernt, wo sie zu wachen und was sie zu tun hatte. Sie hat es getan. Der Herr wacht über allen! Leichenblaß und hastig kam sie zu Emly, als diese schlief. Sie sagte zu ihr: Steh auf, fliehe von etwas Schlimmerem, als der Tod ist, und komm mit mir. Die in dem Hause wollten Marta daran hindern, aber sie hätten ebensowenig das Meer aufhalten können.

Sie erzählte Emly, sie habe mich gesehen, und wisse, daß ich sie liebe und ihr verziehen habe. Sie hüllte sie hastig in ihre Kleider und nahm sie, die zitternd halb in Ohnmacht lag, auf ihren Arm. Sie achtete nicht auf das, was man ihr sagte, als ob sie keine Ohren hätte. Sie schritt durch sie hindurch mit einem Kind und brachte sie in tiefer Nacht sicher aus dieser schwarzen Höhle des Verderbens.«

Mr. Peggotty ließ meinen Arm los und legte seine Hand auf seine keuchende Brust. »Sie wachte bei meiner Emly, die abgemattet und zuweilen phantasierend bis zum nächsten Tage dalag. Dann suchte sie mich auf und dann Sie, Masr Davy. Sie verriet Emly nicht, weshalb sie ausging, damit sie nicht wieder den Mut sinken lassen und sich verstecken könnte. Wieso die grausame Dame erfuhr, daß sie dort war, weiß ich nicht. Ob vielleicht der, von dem ich schon zu viel gesprochen habe, sie zufällig dorthin gehen sah oder, was wahrscheinlicher ist, es von der Frau gehört hat, das kümmert mich wenig. Ich habe meine Nichte wiedergefunden.

Die ganze Nacht sind Emly und ich beisammen gewesen. Sie hat in der langen Zeit weniger mit Worten gesagt als mit herzzerreißenden Tränen. Noch weniger habe ich von ihrem Gesicht gesehen, das unter meinem Dache so schön geworden war. Aber die ganze Nacht lang hielt sie ihre Arme um meinen Nacken geschlungen, und ihr Kopf lag hier; und wir wissen beide genau, daß wir uns auf ewig aufeinander verlassen können.«

Er schwieg, und seine Hand lag ruhevoll auf dem Tische mit einer Entschlossenheit, die Löwen hätte bezwingen können.

»Es war ein Lichtstrahl für mich, Trot«, sagte meine Tante und trocknete sich die Augen, »als ich den Entschluß faßte, bei deiner Schwester Betsey Trotwood, die mich so täuschte, Pate zu stehen; aber nächst diesem würde mir kaum etwas größere Freude machen, als Pate bei einem Kind dieses guten jungen Geschöpfs zu stehen.«

Mr. Peggotty nickte zum Zeichen, daß er die Gefühle meiner Tante verstünde, aber äußerte kein Wort über das, worauf sie anspielte. Wir schwiegen alle drei und hingen unsern Gedanken nach. Meine Tante wischte sich die Augen und schluchzte bald krampfhaft, bald lachte sie wieder und nannte sich albern und töricht, bis ich anfing:

»Haben Sie sich schon, Mr. Peggotty, hinsichtlich der Zukunft einen Plan gemacht? Ich brauche wohl kaum zu fragen?«

»Ich bin mir ganz einig, Masr Davy, und habe es Emly gesagt. Dor sün grote Länner, wiet wech von hier. Üns Zukunft leit üwer dem Meer drüwen.«

»Sie wollen zusammen auswandern, Tante«, erklärte ich.

»Ja«, sagte Mr. Peggotty und lächelte voll froher Hoffnung. »Keiner kann meinem Liebling in Australien etwas vorwerfen. Wi wölt een neues Lewen beginn drüwen.«

Ich fragte ihn, ob er schon eine Zeit für seine Abreise bestimmt habe.

»Ich war heute morgen ganz früh in den Docks, Sir, um mich wegen der Schiffe zu erkundigen. In sechs oder acht Wochen sticht eins in See – ich habe es mir heute früh besehen –, und wir werden mit ihm die Überfahrt machen.«

»Ganz allein?«

»Ja, Masr Davy. Sehen Sie, meine Schwester hängt so sehr an Ihnen und ist so gewohnt an ihr Vaterland, daß ich sie nicht gut mitnehmen kann. Und dann, Masr Davy, muß sie um einen sein, der nicht vergessen werden darf.«

»Sie meinen den armen Ham?«

»Meine Schwester besorgt seine Wirtschaft, Maam, und er hat sie so gern und spricht mit ihr ganz ruhig, während er nie einem andern sein Herz ausschütten würde«, erklärte Mr. Peggotty meiner Tante. »Der Arme hat so viel verloren, daß er das Wenige nicht entbehren kann, was ihm noch bleibt.«

»Und Mrs. Gummidge?« fragte ich.

»Die hat mir viel Sorge gemacht, muß ich Ihnen sagen«, entgegnete Mr. Peggotty mit einem verlegnen Blick, der sich aber allmählich aufhellte. »Sehen Sie, wenn Mrs. Gummidge an den Alten zu denken anfängt, ist sie gerade keine gute Gesellschaft. Unter uns gesagt, Masr Davy, wenn Mrs. Gummidge zu flennen anfängt, so kann sie für die, die den ›Alten‹ nicht gekannt haben, ein wenig unangenehm werden. Ja, ich, ich habe den Alten gekannt und verstehe sie daher, aber mit Fremden, sehen Sie, ist es eben etwas anderes.«

Meine Tante und ich gaben ihm vollkommen recht.

»Meiner Schwester könnte Mrs. Gummidge vielleicht auch manchmal ein wenig beschwerlich fallen. Deshalb will ich sie nicht bei ihr lassen, sondern für sie ein Unterkommen suchen, wo sie für sich selbst sorgen kann. Ich werde ihr daher vor meiner Abreise etwas aussetzen, damit sie ein sicheres Auskommen hat. Sie ist das treueste Geschöpf von der Welt, man kann aber in ihrem Alter nicht von ihr verlangen, daß sie das beschwerliche Leben auf dem Meere und im wilden Busch des neuen und fernen Landes mitmacht. Also muß ich sie anderweitig versorgen.«

Er vergaß niemand. Er dachte an jedermann, außer an sich selbst.

»Emly«, fuhr er fort, »bleibt hier bei mir, bis wir unsere Reise antreten. Das arme Kind hat Frieden und Ruhe sehr nötig. Sie näht uns die nötigen Kleider, und ich hoffe, ihr Mißgeschick wird schneller in die Vergangenheit rücken, wenn sie um ihren rauhen Onkel ist, der sie so lieb hat.«

Mr. Peggotty war sehr befriedigt, als ihm meine Tante beistimmend zunickte.

»Noch etwas hab ich zu sagen, Masr Davy –«, er steckte die Hand in die Brusttasche und nahm mit ernster Miene das kleine Paket heraus, das ich schon kannte, und öffnete es auf dem Tisch.

»Hier sind die Banknoten – fünfzig Pfund und zehn –, dazu soll noch das Geld kommen, das sie damals bei sich hatte. Ich habe es zusammenaddiert. Ich bin kein Gelehrter. Möchten Sie nicht so gut sein und nachsehen, ob es richtig ist?«

Er übergab mir einen Zettel und sah mir zu, wie ich nachrechnete. Alles stimmte. »Ich danke, Sir«, sagte er. »Das Geld, Masr Davy, werde ich vor meiner Abreise mit einem Brief an seine Mutter schicken. Ich werde ihr in so wenig Worten, wie ich gegen Sie brauche, sagen, was das Geld gekostet hat, und daß ich fort bin und niemand mehr es mir wieder zustellen kann.

Ich sagte, es bliebe nur noch eins zu tun«, fuhr er mit ernstem Lächeln fort, als er das Päckchen wieder in die Tasche gesteckt hatte, »aber ich habe noch etwas vergessen. Als ich diesen Morgen ausging, war ich mir noch nicht einig, ob ich das glückliche Ereignis Ham persönlich sagen sollte. So schrieb ich ihm denn einen Brief und erzählte ihm alles, was geschehen ist und daß ich morgen dort sein würde, um mein Herz auszuschütten und ein letztes Lebewohl von Yarmouth zu nehmen.«

»Und Sie möchten gern, daß ich Sie begleite?« fragte ich, da ich bemerkte, daß er noch etwas auf dem Herzen hatte.

»Wenn Sie mir die große Gunst erweisen wollten, Masr Davy! Ich weiß, daß Ihr Anblick Ham ein bißchen aufheitern würde.«

Da meine kleine Dora sich leidlich wohl fühlte und selbst wünschte, daß ich ginge, so versprach ich gern, ihn zu begleiten. Und so saßen wir schon am nächsten Morgen in der Postkutsche und reisten wieder den alten Weg.

Als wir abends durch die wohlbekannten Straßen gingen, wobei Mr. Peggotty trotz meines Sträubens meinen Reisesack trug, – warf ich einen Blick in Omer & Jorams Laden und sah meinen alten Freund Mr. Omer drin seine Pfeife rauchen. Ich wollte nicht gern dabeisein, wenn Mr. Peggotty seine Schwester und Ham zum ersten Mal wiedersah, und blieb zurück.

»Wie befindet sich Mr. Omer nach so langer Zeit?« fragte ich, als ich in den Laden trat. Der Alte wehte den Rauch von seiner Pfeife weg, um mich besser sehen zu können, und erkannte mich zu meiner großen Freude auf der Stelle.

»Ich würde zur Ehre Ihres Besuchs aufstehen, Sir, aber meine Beine sind nicht mehr recht in Ordnung, und ich sitze im Rollstuhl. Mit Ausnahme der Beine und des Atems bin ich aber Gott sei Dank so munter und wohlauf, wie man nur verlangen kann.«

Ich gratulierte ihm zu seinem zufriednen Aussehen und seiner guten Laune und warf einen Blick auf die Räder seines Rollstuhls.

»Eine großartige Erfindung, nicht wahr?« fragte er, als er meinen Blicken folgte, und polierte mit dem Ärmel die Seitenlehne.

»Er geht so leicht wie eine Feder und so verläßlich wie eine Postkutsche. Ich versichere Ihnen, wenn meine kleine Minnie, meine Enkelin, sich nur mit ihren geringen Kräften an die Rücklehne stemmt und ihr einen Schub gibt, so gehts so frisch und lustig fort, wie Sie so etwas noch nie gesehen haben. Und ich sage Ihnen, es gibt keinen bessern Sessel, um darin eine Pfeife zu rauchen.«

Mr. Omer war so heiter, als ob sein Stuhl, sein Asthma und seine lahmen Beine nur zur Erhöhung seines Genusses dienten.

»Ich lebe jetzt mehr in der Welt, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er, »seit ich in diesem Stuhle sitze, als jemals früher. Sie würden sich wundern, wieviel Leute den Tag über hereingucken, um mit mir ein bißchen zu plaudern. Es steht noch zweimal soviel in der Zeitung, seitdem ich mich an den Stuhl gewöhnt habe, und wieviel erst in den Büchern! Sie können sich gar nicht denken, wieviel ich lese. Deshalb werde ich so munter und kräftig, sehen Sie. Was hätte ich tun sollen, wenn es die Augen getroffen hätte oder die Ohren! Da es aber nur meine Beine sind, was schadet das! Als ich sie noch gebrauchen konnte, machten sie mir nur den Atem kürzer. Jetzt, wenn ich auf die Straße oder auf die Dünen will, so brauche ich nur Jorams Lehrburschen zu rufen und fahre in meiner eignen Kutsche wie der Lordmayor von London.«

Hier lachte er fast bis zum Ersticken.

»Mein Gott«, sagte er und tat einen Zug aus der Pfeife. »Man muß das Fette mit dem Magern nehmen. Darauf muß man sich in diesem Leben gefaßt machen. Joram hat ein gutes Geschäft. Ein ganz vortreffliches Geschäft.«

»O, das freut mich«, sagte ich.

»Das wußte ich. Und Joram und Minnie sind wie Brautleute. Was will man mehr? Was sind dagegen die Beine!«

Die gründliche Verachtung, die er seinen Beinen gegenüber an den Tag legte, wie er rauchend dasaß, war eine der liebenswürdigsten Wunderlichkeiten, die mir jemals vorgekommen sind.

»Und seitdem ich mich auf das Bücherlesen geworfen habe, haben Sie sich auf das Bücherschreiben verlegt, nicht wahr, Sir?« sagte er und sah mich bewundernd an. »Was Sie da für ein reizendes Buch geschrieben haben! Was für Ausdrücke drin sind. Ich lese es Wort für Wort und wurde noch niemals schläfrig dabei.«

Ich drückte lächelnd meine Zufriedenheit aus und mußte mir gestehen, daß sein Lob eigentlich recht treffend ausgedrückt war.

»Ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, wenn ich das Buch auf den Tisch lege und es so vor mir sehe in seinen drei Bänden, da bin ich so stolz wie ein Kaiser bei dem Gedanken, daß ich einmal die Ehre hatte, mit Ihrer Familie zu tun gehabt zu haben. O Gott, wie lange das schon her ist! Drüben in Blunderstone, nicht wahr? Und ein kleines Persönchen wurde neben die andern Personen gelegt. Und Sie waren damals selbst ein kleines Persönchen. Gott, Gott!«

Ich brachte die Rede auf Emly. Ich versicherte ihm, daß ich nie vergessen habe, wie sehr er immer an ihrem Schicksal teilgenommen und wie freundlich er sie immer behandelt hatte, und erzählte ihm in großen Umrissen von ihrer Wiederauffindung durch Martas Hilfe, denn ich wußte, daß er sich darüber freuen würde. Er hörte mit der größten Aufmerksamkeit zu und sagte, als ich fertig war, mit tiefem Mitgefühl:

»Das freut mich sehr, Sir! Es ist die beste Nachricht, die ich seit langer Zeit gehört habe. Gott, Gott! Und was soll mit dem unglücklichen Mädchen, der Marta, geschehen?«

»Sie berühren da einen Punkt, über den ich schon gestern den ganzen Tag nachgedacht habe, Mr. Omer«, sagte ich, »aber ich weiß selbst noch nichts, denn Mr. Peggotty hat nichts davon erwähnt, und ich möchte nicht gern mit ihm darüber sprechen. Ich bin überzeugt, er hat es nicht vergessen. Er vergißt nichts, was uneigennützig und gut ist.«

»Sehen Sie«, nahm Mr. Omer seine Rede wieder auf, »wenn etwas für sie getan wird, so möchte ich auch dabeisein. Zeichnen Sie für mich den Betrag, den Sie für gut finden, und lassen Sie es mich wissen. Ich habe nie das Mädchen für ganz verdorben gehalten, und es freut mich, daß ich recht hatte. Und meine Tochter Minnie wird sich ebenfalls freuen. Junge Frauen widersprechen nur manchmal gern – ihre Mutter war ebenso –, aber innerlich sind sie sanft und gut. Was Minnie über Marta sagt, ist alles Schein. Warum sie es für notwendig erachtet, den Schein aufrechtzuerhalten, weiß ich nicht. Aber es ist alles Schein, darauf können Sie sich verlassen! Insgeheim würde sie ihr alles mögliche Gute erweisen. Also seien Sie so gut und zeichnen Sie für mich, was Sie für angemessen finden, und schreiben Sie mir die Adresse, wohin es zu schicken ist. Mein Gott! Wenn der Mensch ein Alter erreicht hat, wo die beiden Enden des Lebens sich begegnen und er, so munter er auch sein mag, zum zweiten Male in einer Art Kinderstuhl herumgefahren wird, sollte er überfroh sein, irgend jemand eine Freundlichkeit erweisen zu können, denn er selbst hat deren nur allzuviel nötig. Ich spreche nicht von mir im besondern, Sir. Ich sehe es auch sowieso ein. Wir alle gehen bergab ins Tal hinab, in welchem Alter wir auch stehen, denn die Zeit hält keinen Augenblick still. Darum sollen wir immer Wohltaten erweisen, wo wir können, und überfroh darüber sein. Gewiß, Gewiß!« Er klopfte seine Pfeife aus und legte sie auf ein Brettchen an der Lehne des Stuhls, das eigens zu diesem Zwecke angebracht war.

»Sehen Sie Emlys Vetter an«, sagte er und rieb sich nachdenklich die Hände, »ein so prächtiger Kerl, wie nur einer in Yarmouth zu finden ist. Er besucht mich abends und plaudert mit mir oder liest mir vor, manchmal eine Stunde lang. Das ist freundlich von ihm. Sein ganzes Leben ist Freundlichkeit.«

»Ich will ihn gerade besuchen gehen«, sagte ich.

»Wirklich? Dann richten Sie ihm aus, ich lasse ihn herzlich grüßen. Minnie und Joram sind auf dem Ball. Sie würden so stolz sein wie ich, Sie zu sehen, wenn sie zu Hause wären. Minnie möchte am liebsten immer daheim sein, von wegen des Vaters, wie sie sagt. So schwor ich ihr denn heute abend zu, wenn sie nicht ginge, würde ich mich um sechs ins Bett legen. Und deswegen« – Mr. Omer schüttelte sich in seinem Stuhl vor Lachen über den Erfolg seiner List – »sind sie und Joram auf den Ball gegangen.«

Ich schüttelte ihm die Hand und wünschte ihm gute Nacht.

»Noch eine halbe Minute, Sir! Wenn Sie gingen, ohne meinen kleinen Elefanten gesehen zu haben, so würden Sie das Beste versäumen. So etwas sehen Sie in Ihrem Leben nicht wieder! – Minnie, Minnie!«

Eine helle Kinderstimme antwortete von oben: »Ich komme schon, Großvater!« und ein hübsches kleines Mädchen mit langem lockigen Flachshaar kam gleich darauf in den Laden gesprungen.

»Das ist mein kleiner Elefant«, erklärte Mr. Omer und liebkoste das Kind. »Siamesische Rasse, kleiner Elefant!«

Der kleine Elefant öffnete die Tür des Hinterstübchens, so daß ich hineinsehen konnte – es war in ein Schlafzimmer für Mr. Omer verwandelt worden, denn er konnte nicht ohne Beschwerde die Treppe hinaufsteigen –, und drückte dann sein hübsches Köpfchen, von dem lockigen Haar umflossen, gegen die Rücklehne von Mr. Omers Stuhl.

»Sie wissen ja, Sir, der Elefant stößt«, sagte Mr. Omer mit Augenzwinkern, »wenn er auf etwas losgeht. Eins! Elefant. Zwei! drei!« Auf dieses Zeichen drehte der kleine Elefant mit einer Schnelligkeit, die bei dem winzigen Geschöpf wunderbar war, den Stuhl um und rollte ihn im Galopp in das Hinterstübchen, ohne an die Türpfosten anzustoßen, ein Kunststück, das Mr. Omer ganz unbeschreiblich ergötzte, und währenddessen er mich mit rückwärts gewandtem Kopf anlachte, als wäre es der Triumph einer ganzen Lebensmühe.

 

Nach einem Rundgang in der Stadt ging ich zu Ham. Peggotty war jetzt zu ihm gezogen und hatte ihr Haus dem Nachfolger von Mr. Barkis‘ Fuhrmannsgeschäft vermietet, der ihr die Kundschaft, den Wagen und den Gaul sehr gut bezahlt hatte. Ich glaube, dasselbe faule Pferd, das Mr. Barkis einst fuhr, stand immer noch in Diensten.

Ich fand sie in der saubern Küche und bei ihnen Mrs. Gummidge, die Mr. Peggotty selbst aus dem alten Boot abgeholt hatte. Jemand anders hätte sie wohl schwerlich bewegen können, ihren Posten zu verlassen. Er hatte ihnen offenbar bereits alles erzählt. Denn Peggotty und Mrs. Gummidge trockneten sich mit ihren Schürzen die Augen und Ham war eben hinausgegangen, – »um sich ein bißchen auf dem Strande umzusehen«. Er kehrte in Bälde zurück und freute sich sehr, mich zu sehen, und ich hoffe, mein Dortsein tat ihnen allen wohl. In einem Ton, den man fast hätte heiter nennen können, sprachen wir davon, wie Mr. Peggotty in dem neuen Lande reich werden und von was für Wundern er in seinen Briefen schreiben würde. Emly nannten wir nicht, aber spielten mehr als einmal auf sie an. Ham war der ruhigste von uns allen.

Aber als Peggotty mir nach der kleinen Kammer hinaufleuchtete, wo das Krokodilbuch noch immer auf dem Tische lag, sagte sie mir, daß er stets so sei. Sie glaube, sagte sie unter Tränen, daß sein Herz gebrochen sei, obgleich er soviel Mut wie Freundlichkeit zeige und angestrengter und besser arbeite als irgendein anderer Schiffszimmermann im Ort. Manchmal des Abends spräche er mit ihr von dem alten Leben und dann erwähne er Emly als Kind. Aber als erwachsenes Mädchen erwähne er sie nie.

Ich glaubte in seinem Gesicht gelesen zu haben, daß er mich allein zu sprechen wünschte. Ich beschloß daher, es am nächsten Abend so einzurichten, daß er mir auf dem Heimweg von seiner Arbeit begegnete. Als ich mir darüber einig geworden war, schlief ich ein. Zum ersten Mal seit so langer Zeit wurde diesmal das Licht aus dem Fenster genommen, Mr. Peggotty legte sich in seine alte Hängematte in dem Boot, und der Wind stöhnte wieder wie in früheren Zeiten über die Dünen.

Den ganzen Vormittag beschäftigte sich Mr. Peggotty damit, sein Fischerboot und was dazu gehörte zu verkaufen, alles, was er von seinem Hausgerät mitnehmen und mit dem Wagen nach London schicken wollte, wegzuschaffen und das Übrige loszuschlagen oder Mrs. Gummidge zu schenken. Da mich ein schmerzlicher Wunsch erfüllte, das alte Haus noch ein letztes Mal zu sehen, wollte ich abends hinkommen, aber ich richtete es so ein, daß ich Ham zuerst sprechen konnte.

Ihm zu begegnen, war nicht schwer, denn ich wußte, wo er arbeitete. Ich traf ihn an einer einsamen Stelle auf den Dünen und kehrte mit ihm um, damit er mit mir in aller Ruhe sprechen könnte, falls er es wirklich wünschen sollte.

Ich hatte den Ausdruck seines Gesichtes nicht mißverstanden. Wir gingen eine Zeitlang nebeneinander her, ohne daß er mich anblickte, und dann sagte er:

»Masr Davy, haben Sie sie gesehen?«

»Nur einen Augenblick, denn sie lag in Ohnmacht«, sagte ich leise. Wir gingen wieder schweigend ein Stück weiter.

»Masr Davy, glauben Sie wohl, daß Sie sie noch einmal sehen werden?«

»Es wäre ihr vielleicht zu schmerzlich«, sagte ich.

»Ich habe auch daran gedacht. Es müßte ihr gewiß sehr schmerzlich sein.«

»Aber Ham, wenn Sie etwas haben, was ich ihr schreiben könnte, falls ich nicht Gelegenheit hätte, es ihr persönlich zu sagen, oder wenn Sie ihr durch mich etwas wissen lassen wollten, so würde ich es als einen geheiligten Auftrag betrachten.«

»Ich danke Ihnen von Herzen dafür, Sir. Ich möchte ihr wohl etwas wissen lassen.«

»Was ist es?«

Wir gingen wieder stillschweigend nebeneinander her, und dann fing er an.

»Nicht, daß ich ihr nicht verziehen hätte! Dat will ick nich seggen. Eher sollte ich sie um Verzeihung bitten, daß ich ihr meine Liebe aufgedrängt habe. Manchmal heww ick drüwer nachdacht; wenn sie mir nicht versprochen haben würde, mich zu heiraten, so hätte sie mir gewiß als Freund anvertraut, was ihr auf dem Herzen lag, und ich hätte sie vielleicht retten können.«

Ich drückte ihm die Hand: »Ist das alles?«

»Noch etwas, Masr Davy, wenn es mir gelingt, es auszudrücken!« Wir gingen ein langes, langes Stück, ehe er wieder zu sprechen begann. Er redete in Absätzen und versank in den Zwischenpausen in Nachdenken, um sich so deutlich wie möglich verständlich zu machen.

»Ich liebte sie zu tief – und liebe die Erinnerung an sie –, als daß ich imstande sein sollte, ihr glauben zu machen, – ich sei glücklich. Ich könnte nur glücklich sein, – wenn ich sie vergäße, – und ich glaube, – ich könnte es nicht ertragen, wenn man – ihr sagte, es sei – mir gelungen. Aber wenn Sie, Masr Davy, der Sie so ein gelehrter Mann sind, einmal etwas – erfinden könnten, was sie glauben machen würde, ich sei des Lebens nicht müde – und hoffe darauf, sie dereinst untadelig zu sehen, wo der Böse nicht mehr schadet und die Müden zur Ruhe gehen, etwas, was ihr das Herz erleichtern könnte – und sie dabei doch nicht glauben machen würde, – ich könnte – jemals – heiraten oder in einer andern das finden, was sie mir war, – so möchte ich Sie bitten, ihr das zu sagen.«

Ich drückte ihm kräftig die Hand und versprach, ich wollte es ausrichten, so gut ich könnte.

»Ich danke Ihnen, Sir. Es war freundlich von Ihnen, daß Sie den Onkel nach Yarmouth begleiteten; es war freundlich von Ihnen, hier mit mir zu sprechen. Masr Davy, ich weiß genau, daß ich ihn nicht wiedersehen werde, obgleich meine Tante erst nach London kommt, ehe das Schiff in See geht. Ich bin davon überzeugt! Es wird so sein, und es ist besser so. Im letzten Augenblick – im allerletzten –, wo Sie ihn sehen, wollen Sie ihm sagen, daß ich, dem er immer mehr als ein Vater war, ihm noch einmal meinen tiefsten Dank ausspreche?«

Auch das versprach ich treulich auszurichten.

»Ich danke Ihnen nochmals, Sir«, er schüttelte mir herzlich die Hand. »Ich weiß, wohin Sie gehen. Leben Sie wohl!«

Mit einer leichten Handbewegung, wie um mir anzudeuten, daß er das alte Haus nicht betreten könnte, ging er fort; ich blickte ihm nach, wie er im Mondschein über die öden Dünen schritt, und sah, daß er sein Gesicht auf einen Streifen silbernen Lichts in der Ferne über dem Meer gewendet hielt. Dann verschwand er in der Dunkelheit.

 

Die Tür des Bootshauses stand offen, als ich es erreichte, und beim Eintreten bemerkte ich, daß alles Hausgerät fortgeschafft war mit Ausnahme einer alten Schiffskiste, auf der Mrs. Gummidge mit einem Korbe auf dem Knie saß und Mr. Peggotty ansah. Er hatte den Ellbogen auf das Kaminsims gestützt und blickte auf die glimmende Asche im Rost, aber er erhob hoffnungsvoll das Haupt, als ich eintrat, und sprach in heiterm Tone:

»Na, Sie halten Wort und kommen, um Abschied von dem alten Hause zu nehmen, Masr Davy?« Er hielt das Licht in die Höhe. »Kahl genug jetzt, nicht wahr?«

»Sie haben wirklich die Zeit gut genützt«, sagte ich.

»Nun ja, wir sind nicht faul gewesen, Sir. Mrs. Gummidge hat gearbeitet wie – ich weiß nicht, wie Mrs. Gummidge gearbeitet hat.« Und er sah sie an, da er ein genügend lobendes Beispiel nicht finden konnte.

Mrs. Gummidge, auf ihren Korb gestützt, antwortete nichts.

»Da ist noch dieselbe Kiste, auf der Sie immer mit Emly saßen«, flüsterte Mr. Peggotty. »Ich will sie als letztes Stück mit mir fortnehmen. Und da ist Ihr ehemaliges kleines Schlafzimmer, Masr Davy, so kahl und öde, wie sich das Herz nur wünschen kann.«

Der Wind wehte wie mit einer leisen traurigen Klage um das verlassene Haus. Alles war fort, selbst der kleine Spiegel mit dem Rahmen von Austernschalen. Ich mußte daran denken, wie ich an jenem Abend hier geruht. Ich dachte an das Kind mit den blauen Augen, das mich einst bezaubert hatte. Ich dachte an Steerforth, und eine törichte schreckliche Einbildung kam über mich, daß er nicht weit von uns sei und uns jeden Augenblick begegnen könnte.

»Es wird lange dauern, ehe das Boot neue Mieter findet«, sagte Mr. Peggotty leise. »Die Leute halten es jetzt für ein unglückliches Haus.«

»Gehört es jemand in der Nachbarschaft?«

»Einem Mastenmacher in der Stadt drin. Ich will ihm heute die Schlüssel übergeben.«

Mr. Peggotty warf einen Blick in das anstoßende kleine Zimmer und kam zu Mrs. Gummidge zurück, die noch immer auf der Schiffskiste saß. Er stellte das Licht auf den Ofen und bat sie aufzustehen, damit er die Kiste, bevor er das Licht auslöschte, hinaustragen könnte.

»Danl«, sagte Mrs. Gummidge, setzte ihren Korb hin und hängte sich an seinen Arm, »lieber Daniel, die letzten Worte, die ich in diesem Hause spreche, sind: Du darfst mich hier nicht zurücklassen! Denk nicht an so etwas, Danl! Tue mir das nicht an.«

Ganz überrascht sah Mr. Peggotty Mrs. Gummidge und mich an, als ob er aus einem Traum erwache.

»Tu es nicht, liebster Daniel, tu es nicht«, flehte Mrs. Gummidge. »Nehmt mich mit, Danl, du und Emly! Ich will euch fleißig und treu dienen. Wenn es in dem Lande, wo ihr hingeht, Sklaven gibt, so will ich euer Sklave sein und gern, aber laßt mich nicht hier. Daniel! mein lieber Daniel!«

»Gute Seele«, sagte Mr. Peggotty und schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, was eine lange Seereise und ein hartes Farmerleben sind.«

»O ja, Danl, ich kann es mir vorstellen. Aber meine letzten Worte unter diesem Dache sind: Ich gehe in das Haus zurück und sterbe, wenn du mich nicht mitnimmst. Ich kann graben, ich kann arbeiten, Danl. Ich kann unter Entbehrungen leben. Ich kann jetzt gut und geduldig sein, mehr, als du vielleicht denkst, Danl, und mir zutraust. Das Geld, das du mir hierlassen willst, würde ich nicht anrühren und sollte ich Hungers sterben, Daniel Peggotty; aber mit dir und Emly ginge ich bis ans Ende der Welt, wenn du mich ließest. Ich weiß, was du denkst; ich weiß, du glaubst, ich fühle mich einsam und untröstlich; aber lieber guter Daniel, das ist nicht mehr so. Ich habe zu lange hier gesessen und deine Prüfungen mit angesehen und darüber nachgedacht, als daß es mich nicht besser gemacht hätte. Masr Davy, legen Sie ein Wort ein für mich! Ich kenne seine Art und Emlys Art und kenne ihre Sorgen und Schmerzen und kann sie manchmal beide trösten und für sie arbeiten. Danl, lieber guter Danl, nimm mich mit.«

Und Mrs. Gummidge ergriff Mr. Peggottys Hand und küßte sie mit einer schlichten Rührung, einer Hingebung und Dankbarkeit, die er wohl verdiente.

 

Wir trugen die Kiste hinaus, löschten das Licht aus, verschlossen die Tür und ließen das alte Boot hinter uns, einen dunkeln Fleck in der wolkigen Nacht. Am nächsten Morgen, als wir mit der Landkutsche nach London zurückkehrten, saß Mrs. Gummidge mit ihrem Korb auf dem Rücksitz.

Und Mrs. Gummidge war glücklich.

52. Kapitel Ich wohne einer Explosion bei


52. Kapitel Ich wohne einer Explosion bei

Als zu der von Mr. Micawber so geheimnisvoll bestimmten Zeit noch vierundzwanzig Stunden fehlten, berieten meine Tante und ich, was wir zunächst zu tun hätten, denn sie wollte nur ungern Dora allein lassen.

 

Ach wie leicht ich jetzt Dora die Treppe hinauf und hinunter tragen konnte!

Mr. Micawber hatte zwar die Anwesenheit meiner Tante zur Bedingung gemacht, doch wollten wir es so einrichten, daß Mr. Dick und ich an ihrer Statt gingen. Das war bereits beschlossene Sache, als Dora alles wieder umstürzte, indem sie erklärte, daß sie es sich und ebensowenig ihrem bösen Mann verzeihen würde, wenn die Tante unter irgendeinem Vorwand bei ihr bliebe.

»Ich spreche nicht mehr mit dir«, sagte sie und schüttelte energisch ihre Locken. »Ich werde sehr böse sein. Jip muß dich den ganzen Tag anbellen. Und ich werde im Ernst glauben, du bist eine mürrische alte Frau, wenn du nicht gehst!«

»Aber Blümchen«, lachte meine Tante, »du weißt doch, du kannst mich nicht entbehren.«

»O doch«, sagte Dora, »du bist mir zu gar nichts nütze. Du läufst nicht den ganzen Tag für mich herum, treppauf, treppab. Du sitzest niemals an meinem Bett und erzählst mir Geschichten von Doady, als seine Schuhe durchgelaufen und er mit Staub bedeckt war – der arme kleine Junge –, du tust mir überhaupt nie etwas zu Gefallen, nicht wahr, Tante!« Sie beeilte sich, meine Tante zu küssen und zu sagen: »Ich scherze ja nur.«

»Aber Tante«, fuhr sie schmeichelnd fort, »hör mich an. Du mußt gehen! Ich will dich quälen, bis ich meinen Willen habe. Ich will dem nichtsnutzigen Jungen das Leben so schwer machen, wie ich nur kann, wenn er dir nicht auch zuredet. Ich würde sehr böse sein und auch Jip. Übrigens«, sagte sie, strich sich das Haar zurück und sah meine Tante und mich verwundert an, »warum wollt ihr denn eigentlich nicht beide gehen? Ich bin doch wirklich nicht sehr krank. Oder doch?«

»Mein Gott, was für eine Frage!« rief meine Tante.

»Was für ein Einfall!« sagte ich.

»Ja, ja, ich weiß wohl, ich bin ein albernes Ding«, sagte Dora, blickte von einem zum andern und spitzte ihre Lippen, um uns zu küssen, während sie in ihren Kissen liegenblieb. »Also ihr müßt beide gehen, oder ich glaube euch nicht und müßte dann weinen.«

An dem Gesicht meiner Tante merkte ich, daß sie anfing nachzugeben, und Dora wurde wieder heiter, da sie es ebenfalls sah.

»Ihr werdet mir bei eurer Rückkehr so viel zu erzählen haben, daß ihr wenigstens eine Woche brauchen werdet, um es mir verständlich zu machen, denn ich weiß, es wird lange dauern, ehe ich es begreife, wenn es Geschäftsangelegenheiten sind. Und es sind sicher Geschäftsangelegenheiten. Aber jetzt geht ihr, nicht wahr? Ihr bleibt ja bloß eine Nacht weg, und Jip nimmt mich unterdessen unter seinen Schutz. Doady trägt mich jetzt hinauf, und ich komme erst nach eurer Rückkehr wieder herunter, und du nimmst Agnes einen Brief mit, in dem ich sie fürchterlich ausschelte, weil sie uns noch nicht besucht hat.«

So beschlossen wir beide zu gehen und erklärten, daß Dora eine kleine Heuchlerin sei, die sich nur krank stelle, um sich verhätscheln zu lassen; sie freute sich sehr darüber und war sehr lustig, und wir vier, nämlich meine Tante, Mr. Dick, Traddles und ich, fuhren abends mit der Post nach Canterbury.

 

In dem Gasthause, wohin uns Mr. Micawber bestellt hatte und bei dem wir um Mitternacht ankamen, fand ich einen Brief des Inhalts vor, daß Mr. Micawber sich pünktlich um zehn Uhr früh hier einstellen werde. Hierauf begaben wir uns in dieser vorgerückten Stunde fröstelnd nach unseren Betten durch verschiedene Gänge, die rochen, als ob sie seit Jahrhunderten in eine Lösung von Suppe und Stalljauche getaucht worden wären.

Früh am nächsten Morgen schlenderte ich durch die alten lieben stillen Straßen und betrachtete die schattigen Winkel der ehrwürdigen Torwege und Kirchen. Die Krähen segelten um die Spitzen des Doms, und die Türme, die auf das fruchtbare Land und die schönen Ströme hinaussahen, ragten in die helle Morgenluft empor, als ob es kein Heute und Morgen auf Erden gäbe. Die Glocken fingen an zu läuten und erzählten mir sorgenvoll von der Wandelbarkeit der irdischen Dinge, von ihrem eignen hohen Alter und von meiner hübschen Dora Jugend und von den vielen, die nie alt gewesen, gelebt und geliebt hatten und gestorben waren, während der Hall der Glocken Tag für Tag den rostigen Harnisch des schwarzen Prinzen, der drinnen in der Kirche hing, durchsummte und die Sonnenstäubchen über dem Abgrund der Zeit sich in der Luft verloren wie Kreise im Wasser.

Ich betrachtete von weitem das alte Haus an der Ecke der Straße, ging aber nicht näher, um nicht gesehen zu werden und vielleicht unwissentlich dem Plane zu schaden, den zu unterstützen ich hierher gekommen war. Die Morgensonne schien mit ihren schrägen Strahlen auf die Giebel und Gitterfenster und faßte sie mit Gold ein, und Strahlen alten Friedens schienen in mein Herz zu fallen.

Ich machte einen Spaziergang ins Freie und kehrte nach ungefähr einer Stunde durch die Hauptstraße zurück, die unterdessen den Schlaf der vergangenen Nacht abgeschüttelt hatte. Unter den Leuten, die in den Läden tätig waren, sah ich meinen alten Feind, den Fleischer, der es jetzt zu Stulpenstiefeln, einem kleinen Kind und einem eignen Geschäft gebracht hatte. Er wiegte das Kleine auf den Knien und schien ein wohlwollendes Mitglied der menschlichen Gesellschaft geworden zu sein.

 

Wir waren alle sehr unruhig und ungeduldig, als wir uns zum Frühstück setzten. Je näher die Stunde rückte, desto mehr steigerte sich unsere Aufregung. Endlich gaben wir uns nicht mehr den Anschein, als äßen wir, denn für uns alle, mit Mr. Dicks Ausnahme, war das Frühstück von Anfang an eine bloße Form gewesen. Meine Tante ging im Zimmer auf und ab, Traddles setzte sich aufs Sofa und tat, die Augen auf die Decke gerichtet, als ob er die Zeitung läse, und ich sah von Zeit zu Zeit zum Fenster hinaus, um als erster Mr. Micawbers Ankunft melden zu können. Ich brauchte nicht lange zu warten, denn mit dem Glockenschlag erschien er auf der Straße.

»Jetzt kommt er«, rief ich, »und zwar nicht in Amtskleidung.«

Meine Tante band sich die Hutbänder zu; den Hut hatte sie schon vor dem Frühstück aufgesetzt und nahm ihren Schal mit einer Miene um, als sei sie jetzt bereit, nicht in einem einzigen Punkte nachzugeben. Traddles knöpfte sich den Rock mit entschlossenem Gesichte zu. Beunruhigt durch solche unheilverkündende Anzeichen, aber erfüllt von der Überzeugung, daß er sie nachahmen müsse, zog Mr. Dick mit beiden Händen den Hut so fest über die Ohren wie nur möglich, nahm ihn aber sofort wieder ab, um Mr. Micawber zu bewillkommnen.

»Gentlemen und Maam, guten Morgen! Mein verehrter Herr, Sie sind außerordentlich gütig!« – Mr. Micawber und Mr. Dick schüttelten sich heftig die Hände.

»Haben Sie schon gefrühstückt?« fragte Mr. Dick. »Essen Sie ein Kotelett!«

»Nicht um alles in der Welt, mein bester Herr«, rief Mr. Micawber und hielt Mr. Dick ab, der eben klingeln wollte. »Appetit und ich, Mr. Dixon, sind einander seit langem fremd.«

Mr. Dixon fand so viel Gefallen an seinem neuen Namen und schien die Erfindung desselben Mr. Micawber so hoch anzurechnen, daß er ihm wieder die Hand schüttelte und recht kindisch lachte.

»Dick«, mahnte meine Tante, »achtgeben!«

Mr. Dick sammelte sich errötend.

»Also, mein Herr«, sagte meine Tante zu Mr. Micawber und zog sich ihre Handschuhe an, »wir sind fertig für den Berg Vesuv und das, was dazu gehört, wenn es Ihnen gefällig ist.«

»Maam«, entgegnete Mr. Micawber, »ich hoffe, Sie werden in Kürze Zeuge seines Ausbruchs sein. Sie werden mir erlauben, Mr. Traddles, jetzt zu sagen, daß wir bereits alle Vorkehrungen getroffen haben.«

»Ja, das ist der Fall, Copperfield«, bestätigte Traddles, als ich ihn überrascht anblickte. »Mr. Micawber hat mich hinsichtlich dessen, was er beabsichtigt, eingeweiht, und ich habe ihm nach meinem besten Wissen Ratschläge erteilt.«

»Wenn ich mich nicht täusche, Mr. Traddles«, fuhr Mr. Micawber fort, »so handelt es sich um eine Enthüllung wichtigster Art.«

»Allerdings, höchst wichtiger Art«, stimmte Traddles bei.

»Unter diesen Umständen, meine Herrschaften«, fuhr Mr. Micawber fort, »werden Sie mir vielleicht die Gunst erweisen, sich für den Augenblick der Anordnung einer Person zu unterwerfen, die, wenn auch unwürdig, in anderm Lichte als ein gestrandetes Wrack an der Küste der Menschheit betrachtet zu werden, dennoch immerhin Ihr Nebenmensch ist, wenn auch individuelle Irrtümer und das Zusammenwirken von Umständen sie ihres ursprünglichen Ansehens beraubt haben.«

»Wir setzen volles Vertrauen in Sie, Mr. Micawber«, versicherte ich, »und werden uns ganz nach Ihnen richten.«

»Mr. Copperfield, unter den gegebenen Umständen schenken Sie Ihr Vertrauen keinem Unwürdigen. Ich wollte Sie bitten, mir zu erlauben, fünf Minuten vor Ihnen weggehen zu dürfen, um Sie dann alle mit Einschluß Miss Wickfields in der Kanzlei von Wickfield & Heep, deren Söldling ich zur Zeit bin, zu empfangen.«

Meine Tante und ich blickten fragend auf Traddles, der mit einem Nicken seine Zustimmung gab.

»Vorderhand habe ich weiter nichts zu sagen«, bemerkte Mr. Micawber.

Damit machte er uns eine allgemeine Verbeugung und verschwand; sein Benehmen war außerordentlich gemessen und sein Gesicht totenblaß. Ich wußte mir vor Staunen gar nicht zu helfen.

Traddles lachte und schüttelte den Kopf, und jedes Haar stand ihm einzeln zu Berge, als ich ihn fragend ansah; so nahm ich denn die Uhr heraus und zählte als letzte Zuflucht die fünf Minuten ab. Meine Tante folgte genau meinem Beispiel. Als die Zeit verstrichen war, reichte ihr Traddles den Arm, und wir begaben uns alle miteinander in das alte Haus, ohne ein Wort unterwegs zu wechseln.

Wir fanden Mr. Micawber an seinem Pult in dem Parterrezimmer, anscheinend eifrigst arbeitend. Das große Lineal steckte in seinem Busen und guckte ein Stück hervor wie eine neue Art Jabot.

Da es mir vorkam, als lüde er mich ein, zu reden anzufangen, sagte ich laut:

»Wie geht es Ihnen, Mr. Micawber?«

»Mr. Copperfield«, antwortete er mit großem Ernst, »ich hoffe, Sie befinden sich wohl.«

»Ist Miss Wickfield zu Hause?«

»Mr. Wickfield liegt an einem rheumatischen Fieber zu Bett, aber Miss Wickfield wird sich jedenfalls glücklich schätzen, alte Freunde zu empfangen. Wollen Sie eintreten, Sir!«

Er führte uns in das Speisezimmer, öffnete die Tür von Mr. Wickfields früherer Kanzlei und meldete mit sonorer Stimme:

»Miss Trotwood! Mr. David Copperfield! Mr. Thomas Traddles! und Mr. Dixon!«

Ich hatte Uriah Heep seit der Ohrfeige nicht gesehen. Unser Besuch überraschte ihn sichtlich. Die Augenbrauen konnte er nicht zusammenziehen, denn er hatte keine, aber er runzelte die Stirn so sehr, daß die kleinen Augen fast verschwanden, während das schnelle Emporfahren seiner Knochenhand an das Kinn Bangen oder Überraschung verriet. Das war nur eine Sekunde; einen Augenblick später zeigte er sich so kriecherisch und demütig wie immer.

»Wahrhaftig«, sagte er, »das ist in der Tat ein unerwartetes Vergnügen. Alle seine Freunde aus London auf einmal bei sich zu sehen, ist wirklich eine ungeahnte Freude. Mr. Copperfield, ich hoffe, Sie befinden sich wohl und sind, wenn ich meine bescheidnen Hoffnungen in Worte fassen darf, freundlich gesinnt gegen die, mögen Sie es wollen oder nicht, die immer Ihre Freunde geblieben sind. Mrs. Copperfield ist hoffentlich auf dem Wege der Besserung begriffen? Was wir in letzter Zeit über ihr Befinden hörten, hat uns sehr besorgt gemacht, das kann ich Ihnen versichern.«

Ich schämte mich, daß ich ihm meine Hand lassen mußte, aber ich wußte nicht, wie ich mich benehmen sollte.

»Die Dinge haben sich hier sehr verändert seit der Zeit, Miss Trotwood, als ich noch ein niedriger Schreiber war und Ihnen das Pony hielt, nicht wahr?« sagte Uriah mit seinem tückischsten Lächeln, »aber ich habe mich nicht verändert, Miss Trotwood.«

»Nun, um Ihnen nur die Wahrheit zu sagen«, gab meine Tante zur Antwort, »ich glaube, Sie haben gehalten, was Sie in Ihrer Jugend versprochen haben, wenn Ihnen das vielleicht Freude macht.«

»Ich danke Ihnen, Miss Trotwood«, sagte Uriah und krümmte sich in seiner widerwärtigen Weise, »für Ihre gute Meinung! – Micawber, melden Sie Miss Agnes den Besuch – und Mutter! Mutter wird ganz außer sich sein, wenn sie die Herrschaften sieht«, fügte er hinzu und stellte die Stühle zurecht.

»Haben Sie nichts zu tun, Mr. Heep?« fragte Traddles, den listigen roten Augen Uriahs, die uns forschend ansahen, wie zufällig begegnend.

»Nein, Mr. Traddles!« gab Uriah Heep zur Antwort und setzte sich wieder auf seinen Schreibstuhl, seine magern Hände zwischen den knochigen Knien quetschend. »Nicht so viel, wie ich wünschen möchte. Sie wissen doch, Advokaten, Haifische und Blutegel sind nicht so leicht zu befriedigen. Nicht etwa, daß ich und Micawber nicht alle Hände voll zu tun hätten, denn Mr. Wickfield ist kaum noch zu irgend etwas fähig, aber es ist ein Vergnügen und eine Pflicht, für ihn zu arbeiten. Sie haben Mr. Wickfield nicht genauer gekannt, Mr. Traddles, glaube ich. Wenn ich nicht irre, hatte ich nur einmal die Ehre, Sie hier zu sehen?«

»Nein, ich bin nicht mit Mr. Wickfield intim«, entgegnete Traddles, »sonst hätte ich Sie wohl schon längst einmal aufgesucht, Mr. Heep.«

Es lag etwas in dem Ton dieser Antwort, was Uriah veranlaßte, mit finsterm und argwöhnischem Ausdruck aufzusehen. Aber da er Traddles mit seinem gutmütigen Gesicht, dem schlichten Benehmen und dem zu Berge stehenden Haar gelassen dastehen sah, fuhr er beruhigt und mit einem Schnellen seines Körpers fort:

»Das ist schade, Mr. Traddles! Sie hätten ihn so sehr bewundert wie wir alle. Seine kleinen Fehler hätten ihn Ihnen nur noch teurer gemacht. Aber wenn Sie beredt über meinen Kompagnon sprechen hören wollen, so muß ich Sie an Copperfield weisen. In dem Thema ›Familie‹ ist er groß, wenn Sie ihn noch nicht davon haben sprechen hören.«

In diesem Augenblick trat Agnes ein. Mir kam sie nicht ganz so ruhig wie gewöhnlich vor, und offenbar hatte sie viel Leid und Sorgen ausgestanden. Aber ihre ernste Herzlichkeit und ihre stille Schönheit traten nur in um so sanfterem Glanz hervor.

Ich sah, wie Uriah sie beobachtete, während sie uns begrüßte, und er kam mir wie ein scheußlicher rebellischer Dämon aus Tausendundeiner Nacht vor, der einen Schatz bewacht. Mittlerweile wechselten Mr. Micawber und Traddles heimlich ein Zeichen, und Traddles ging, ohne daß es jemand außer mir merkte, hinaus.

»Sie brauchen nicht zu warten, Micawber«, sagte Uriah. Mr. Micawber, die Hand an das große Lineal in seinem Busen gelegt, stand aufgerichtet vor der Tür und musterte ungeniert seinen Prinzipal.

»Worauf warten Sie?« fragte Uriah. »Micawber! Hören Sie nicht, daß Sie nicht warten sollen?«

»Ja«, entgegnete Mr. Micawber unbeweglich.

»Also, warum warten Sie dann?«

»Weil – kurz, weil es mir beliebt«, platzte Mr. Micawber heraus.

Aus Uriahs Wangen wich die Farbe, und eine ungesunde Blässe, aus der rote Flecken schwach hervorschimmerten, verbreitete sich über sein Gesicht. Er sah Mr. Micawber lauernd an, und sein ganzes Gesicht arbeitete in jeder Fiber.

»Sie sind ein liederlicher Mensch, das weiß alle Welt«, sagte er mit einem krampfhaften Lächeln, »und ich fürchte, ich werde Sie entlassen müssen. Gehen Sie! Ich will gleich nachher mit Ihnen sprechen.«

»Wenn es einen Schurken auf dieser Erde gibt«, donnerte Mr. Micawber plötzlich mit größter Heftigkeit los, »mit dem ich schon viel zu viel gesprochen habe, so heißt dieser Schurke – Heep!«

Uriah sank zurück, als ob ihn ein Schlag oder Stich getroffen hätte. Dann sah er uns alle langsam der Reihe nach mit dem tückischsten Ausdruck, den sein Gesicht nur annehmen konnte, an und sagte mit gepreßter Stimme:

»Oho! Eine Verschwörung! Sie haben sich hier bestellt! Sie stecken mit meinem Schreiber unter einer Decke, Copperfield? Hüten Sie sich! Das wird zu nichts führen. Wir verstehen einander, Sie und ich! Es herrscht Haß zwischen uns. Sie waren von jeher ein hochfahrender Geck und neiden mir mein Emporkommen, was? Gegen mich werden Sie keine Komplotte schmieden. Ich bin Ihnen über. Und Sie, Micawber, schauen Sie, daß Sie hinauskommen! … Ich werde gleich mit Ihnen draußen sprechen.«

»Mr. Micawber«, sagte ich, »schon die Veränderung in diesem Kerl, und daß er plötzlich die Wahrheit spricht, verrät, daß wir ihn gefaßt haben. Behandeln Sie ihn, wie er es verdient!«

»Das sind mir ja nette Leute«, sagte Uriah mit derselben gepreßten Stimme, während der kalte Schweiß ihm auf die Stirne trat, die er mit seiner Skeletthand abwischte, »nette Leute! Meinen Schreiber, der zum Abschaum der Gesellschaft zählt, zu dem Sie selbst einmal gehörten, Copperfield, ehe sich Ihrer jemand erbarmte, zu bestechen, damit er Lügen gegen mich erfinde! – Miss Trotwood, für Sie wäre es auch besser, Sie machten der Sache ein Ende, wenn Sie nicht wollen, daß ich Ihrem Gatten zu einem schnellern Ende verhelfe, als Ihnen angenehm sein wird. Ich habe Ihre Geschichte nicht umsonst in unsern Akten genau studiert! Und Sie, Miss Wickfield, wenn Sie Ihren Vater lieben, täten auch besser, Ihre Finger davon zu lassen. Wenn Sies nicht tun, richte ich ihn zugrunde. Nur heran! Ich habe einige von euch unter dem Daumen. Überlegen Sie sichs zweimal, ehe Sie mit mir anbinden! Und Sie, Micawber, überlegen Sie sichs auch zweimal, sonst vernichte ich Sie. Verstehen Sie? Ich rate Ihnen, gehen Sie hinaus, Sie Narr, und lassen Sie mit sich reden, solange es noch Zeit ist. – Wo ist Mutter?« fuhr er plötzlich auf, die Abwesenheit Traddles mit einem Mal mit Schrecken gewahr werdend; und heftig riß er an der Klingel. »Schöne Freiheiten nimmt man sich in meinem Haus heraus!«

»Mrs. Heep ist hier, Sir«, antwortete Traddles, mit der würdigen Dame zurückkehrend. »Ich habe mir nur die Freiheit genommen, mich ihr vorzustellen.«

»Was soll das bedeuten«, herrschte ihn Uriah an, »und was wollen Sie überhaupt hier?«

»Ich bin der Vertreter und Freund von Mr. Wickfield, Sir«, sagte Traddles in kühlem, geschäftsmäßigem Ton. »Ich habe eine von ihm ausgestellte Vollmacht in der Tasche, an seiner Statt in allen Angelegenheiten zu verhandeln.«

»Der alte Esel hat sich blödsinnig getrunken«, fauchte Uriah und verzerrte sein scheußliches Gesicht, »und sich etwas abschwindeln lassen.«

»Mr. Wickfield hat sich allerdings etwas abschwindeln lassen, das weiß ich«, entgegnete Traddles gelassen, »und Sie wissens auch, Mr. Heep. Wir wollen uns diesbezüglich an Mr. Micawber wenden, wenn es Ihnen angenehm ist.«

»Ury –!« begann Mrs. Heep mit flehender Gebärde.

»Halte den Mund, Mutter! Je weniger Worte, desto weniger Schaden!«

»Aber mein Ury –!«

»Willst du nicht den Mund halten, Mutter, und die Sache mir überlassen!«

 

Obgleich ich längst wußte, daß sein demütiges Wesen und all sein Tun und Lassen falsch und heuchlerisch war, so hatte ich doch keinen Begriff von dem Übermaß seiner Heuchelei, bis er jetzt die Maske abwarf. Die Plötzlichkeit, wie er jetzt sein wahres Gesicht zeigte, einsehend, daß Verstellung nichts mehr half, – die Bosheit und Unverschämtheit und der Haß, den er an den Tag legte, der Hohn, mit dem er sich selbst jetzt noch des Übels freute, das er angerichtet, während er zu gleicher Zeit in wilder Verzweiflung nach Mitteln suchte, unsern Sieg zu vereiteln, – waren zwar ganz so, wie ich sie von ihm erwarten konnte, überraschten mich aber anfangs nichtsdestoweniger.

Von dem Blick, den er auf mich warf, will ich nichts sagen, denn ich wußte, daß er mich von jeher haßte; und mußte an die Ohrfeige denken, die ich ihm versetzt; aber als sein Blick auf Agnes fiel und ich die Wut sah, mit der er fühlte; daß ihm seine Macht über sie entschlüpfte, und als sich in seinen Mienen die häßlichen Leidenschaften verrieten, die ihn nach dem Besitz eines Wesens hatten streben lassen, dessen Wert er weder würdigen noch erkennen konnte, empörte mich schon der bloße Gedanke, daß Agnes auch nur eine Stunde lang im Augenbereich eines solchen Menschen hatte leben müssen.

Nachdem Uriah sich das Kinn gerieben und uns über seine Totenfinger hinweg tückisch und unsicher angesehen hatte, wendete er sich noch einmal halb kriecherisch, halb keifend an mich.

»Daß Sie sich nicht scheuen, Copperfield, wo Sie soviel auf Ihre Ehre und alles das halten, in meinem Haus zu spionieren, und mit meinem Schreiber gemeinschaftliche Sache machen! Wenn ich das getan hätte, wäre es kein Wunder, denn ich nenne mich keinen Gentleman, wenn ich auch nie ein Vagabund gewesen bin wie Sie, nach dem, was mir Micawber erzählt hat. Aber daß Sie das tun konnten! Und haben Sie gar keine Furcht vor den Folgen? Bedenken Sie nicht, wie ich mich rächen kann? Oder daß Sie in Ungelegenheiten kommen werden wegen Aufreizungen und Anzettlungen? Wir werden ja sehen, Mr. Dingsda, was dabei herauskommt, wenn Sie sich auf Micawber verlassen! Soll er doch reden! Er hat seine Lektion auswendig gelernt, wie ich sehe.«

Als er merkte, daß seine Worte auf keinen von uns auch nur den geringsten Eindruck machten, setzte er sich auf den Rand des Tisches, die Hände in die Taschen gesteckt und einen seiner Plattfüße um das andere Bein geschlungen, und wartete verbissen auf das, was da kommen sollte.

Mr. Micawber, dessen Ungestüm ich bis dahin mit der größten Schwierigkeit im Zaume gehalten hatte und der wiederholt die erste Silbe von Schur-ke dazwischengerufen hatte, ohne bis zur zweiten zu gelangen, brach jetzt los. Er zog das Lineal aus dem Busen, offenbar um es als Verteidigungswaffe zu benützen, und aus der Tasche ein Dokument auf Aktenpapier, das wie ein großer Brief zusammengelegt war. Er entfaltete das Schreiben mit seiner gewohnten Wichtigkeit, überflog es mit Künstlerstolz und fing dann an zu lesen wie folgt:

»Verehrte Miss Trotwood und meine Herren!«

»Gott erbarme sich des Mannes!« flüsterte mir meine Tante zu. »Ich glaube, er schriebe schockweise Briefe und wenn es gesetzlich verboten wäre.«

Mr. Micawber, ohne sie zu hören, fuhr fort:

 

»Indem ich vor Ihnen erscheine, um den vollendetsten Schurken, der jemals gelebt hat«, – er deutete, ohne von dem Brief aufzusehen, wie mit einem Feldherrnstabe auf Uriah Heep – »anzuklagen, so verlange ich keinen Lohn für mich. Von der Wiege an das Opfer pekuniärer Verpflichtungen, denen ich niemals habe nachkommen können, war ich stets der Spielball erniedrigender Verhältnisse. Schmach, Not, Verzweiflung und Wahnsinn sind zusammen oder einzeln die Begleiter meiner Laufbahn gewesen.«

 

Der Genuß, mit dem Mr. Micawber sich als Beute schrecklichster Unglücksfälle hinstellte, kam nur der Emphase gleich, mit der er den Brief vorlas, und der Befriedigung, mit der er den Kopf wiegte, wenn er einen ganz besonders verschnörkelten Satz herausgebracht hatte.

 

»Schmach, Not, Verzweiflung und Wahnsinn stürmten mit vereinten Kräften auf mich ein, als ich in die Kanzlei oder wie es unsere lebhaften Nachbarn, das Volk der Gallier, nennen würden, »Bureau« der Rechtsfirma eintrat, die unter der Bezeichnung Wickfield & Heep bekannt ist, in Wirklichkeit jedoch nur von – Heep allein geleitet wird. Heep allein ist die Triebfeder dieser Maschine. Heep, und nur Heep allein, ist der Fälscher und Schwindler.«

 

Uriah, mehr blau als weiß bei diesen Worten, fuhr mit der Hand nach dem Brief, als wollte er ihn zerreißen. Mit beispielloser Geschicklichkeit oder vielleicht aus Zufall traf Mr. Micawber die Hand mit dem schweren Lineal, daß sie wie gelähmt herabfiel. Es klang, als ob er auf Holz geschlagen hätte.

»Der Teufel soll Sie holen!« schrie Uriah und krümmte sich vor Schmerz. »Das will ich Ihnen heimzahlen!«

»Kommen Sie mir nur noch einmal zu nahe, – Sie – Sie – Heep – Sie! Und wenn Ihr Schädel wirklich aus Fleisch und Knochen ist, so will ich ihn Ihnen blutig schlagen. Nur heran, nur heran!«

Es konnte nichts Lächerlicheres geben als den Anblick, wie Mr. Micawber sich mit dem Lineal wie mit einem Schläger auslegte und rief: »Nur heran!« während Traddles und ich ihn in die Ecke zurückdrängten, wo er immer wieder hervor wollte, kaum daß es uns gelungen war.

Vor sich hinmurmelnd rieb sich Uriah die verletzte Hand und verband sie langsam mit seinem Halstuch. Dann setzte er sich wieder auf den Tisch und blickte verbissen vor sich hin.

Als Mr. Micawber sich ein wenig beruhigt hatte, fuhr er fort:

 

»Das Honorar, gegen das ich in die Dienste – Heeps trat, war nicht genau bemessen mit Ausnahme einer Kleinigkeit von zweiundzwanzig Schilling sechs Pence die Woche. Das übrige sollte von dem Wert meiner geschäftlichen Tätigkeit abhängen. Mit andern und deutlicheren Worten ausgedrückt, von der Niedrigkeit meines Charakters, meiner Habsucht, den gedrückten Verhältnissen meiner Familie, der sittlichen oder vielmehr unsittlichen Ähnlichkeit zwischen mir und – dem Heep da. Brauche ich erst zu erzählen, daß ich mich genötigt sah, von – diesem Heep da pekuniäre Vorschüsse zur Unterstützung Mrs. Micawbers und unserer unglücklichen, aber immer größer werdenden Familie zu verlangen? Brauche ich erst zu sagen, daß diese Umstände von diesem – Heep da vorausgesehen worden waren und daß diese Vorschüsse durch Schuldverschreibungen und ähnliche Dokumente, die den gesetzlichen Institutionen des Landes entsprechen, sichergestellt werden mußten, auf daß ich in das Netz, das er für mich vorbereitet hielt, verstrickt würde?«

 

Mr. Micawbers Freude über seinen Briefstil schien jeden Schmerz oder jede Besorgnis, die die Wirklichkeit ihm hätte verursachen können, aufzuwiegen. Er las weiter:

 

»Jetzt fing dieser – Heep da – an, mich soweit ins Vertrauen zu ziehen, als er es für nötig hielt, um seine teuflischen Geschäftsgebarungen auf mich abzuladen. Jetzt fing ich an, um in der Sprache Shakespeares zu reden, zu ›schwinden, zu kranken und zu siechen‹. Ich fand heraus, daß meine Unterstützung stets zur Täuschung und Hintergehung einer Person, die ich kurz als Mr. W. bezeichnen will, herangezogen wurde. Mr. W. wurde in jeder Weise betrogen, hintergangen und getäuscht, während der Schurke – Heep – immerwährend unbegrenzte Dankbarkeit und Freundschaft gegen diesen Gentleman heuchelte. Das war schlimm genug, aber wie der philosophische Däne, der die berühmte Zier des Elisabethschen Zeitalters bildet, sagt: Schlimmeres kommt noch!«

 

Der schöne Satzschluß mit einem Zitat gefiel Mr. Micawber derart, daß er sich den Genuß nicht versagen konnte, unter dem Vorwand, aus dem Zusammenhang gekommen zu sein, den ganzen Satz noch einmal vorzulesen.

 

»Es liegt nicht in meiner Absicht, hier in diesem Brief in die Einzelheiten, zumal sie anderweitig schriftlich niedergelegt sind, der verschiednen Niederträchtigkeiten nebensächlicherer Art einzugehen, die die von mir Mr. W. benannte Person benachteiligen sollten und denen ich stillschweigend zugesehen habe. Als der Kampf in mir zwischen Gehalt und keinem Gehalt, zwischen Bäcker und keinem Bäcker, zwischen Existenz und Nichtexistenz zum Stillstande kam, beschloß ich, die sich mir bietenden Gelegenheiten zu benützen und die hauptsächlichsten Niederträchtigkeiten, die dieser – Heep da zum größten Schaden und Nachteil des genannten Gentleman begangen, aufzudecken.

Angestachelt von dem stummen Mahner in der Brust und von dem Anblick einer nicht weniger rührenden und eindringlichen Mahnerin in der Außenwelt – die ich kurz als Miss W. bezeichnen will –, begann ich eine nicht mühelose Arbeit heimlicher Nachforschung, die ich nach bestem Wissen und Gewissen auf die Dauer von zwölf Kalendermonaten veranschlage.«

 

Er las diese Stelle, als ob sie aus einem Parlamentsakte stammte, und schien sich am Klang der Worte förmlich zu laben.

 

»Meine Anklagen gegen diesen – Heep da«, las er weiter und zog das Lineal mit einem Blick auf Uriah ein wenig unter dem linken Arm hervor, um es nötigenfalls gleich bei der Hand zu haben, »sind folgende:«

 

Ich glaube, wir hielten alle den Atem an. Uriah wenigstens tat es bestimmt.

 

»Erstens verwirrte – dieser Heep da absichtlich alle Geschäfte, als Mr. W.s Fähigkeiten und Gedächtnis durch Ursachen, die hier nebensächlich sind, nachließen. Immer zu der Zeit, wenn Mr. W. am wenigsten imstande war, sich mit Geschäften abzugeben, da war dieser – Heep da immer bei der Hand, ihn zu Entschlüssen zu nötigen. Er überredete Mr. W. in solchen Zeitpunkten zur Unterschrift wichtiger Dokumente, wenn er ihn durch Unterschiebung einer Reihe nebensächlicher Geschäfte entsprechend verwirrt hatte. Er verleitete Mr. W. auf diese Weise, ein gewisses Depositum von zwölftausend sechshundertvierzehn Pfund zwei Schilling neun Pence anzugreifen und es zur Bezahlung angeblicher Geschäftskosten und Mankos zu verwenden, die entweder schon bezahlt oder niemals vorhanden gewesen waren. Er unterschob diesem Verfahren den Anschein, als habe es in einer unehrlichen Absicht Mr. W.s seinen Ursprung, und hat seitdem diese Angelegenheit unausgesetzt dazu mißbraucht, Mr. W. zu peinigen und in seiner Gewalt zu behalten.«

»Das sollen Sie mir beweisen, Copperfield«, rief Uriah und schüttelte drohend den Kopf. »Aber alles zu seiner Zeit!«

»Fragen Sie diesen – Heep da, Mr. Traddles, wer in seinem Haus nach ihm gewohnt hat«, sagte Mr. Micawber, von seinem Schreiben aufblickend; »wollen Sie so gut sein?«

»Niemand als der Narr selber, der jetzt noch dort wohnt«, fiel Uriah verächtlich ein.

»Fragen Sie diesen – Heep da, ob er in dieser Wohnung Privatnotizen geführt hat; wollen Sie so gut sein?«

Ich sah, wie Uriahs Knochenhand plötzlich aufhörte, das Kinn zu reiben.

»Oder fragen Sie ihn, Mr. Traddles, ob er sein Buch dort einmal verbrannt hat. Und wenn er Ja sagt und fragt, wie die Asche aussieht, so kann er sich an Wilkins Micawber wenden, wenn er etwas, was nicht zu seinem Vorteil gereicht, zu hören bekommen will.«

Der triumphierende Ton, in dem Mr. Micawber in diesen Worten schwelgte, versetzte die Mutter Heeps in größte Unruhe, und sie rief in größter Erregung:

»Ury, Ury, demütige dich und gib nach!«

»Mutter, willst du ruhig sein!« schrie Uriah. »Du weißt nicht, was du sagst. Demütigen!« wiederholte er und sah mich giftig an. »Ich habe mich Ihresgleichen lange genug demütigen müssen.«

Mr. Micawber schob mit vornehmer Miene sein Kinn in seine Halsbinde und fuhr fort:

 

»Zweitens. Heep hat bei verschiednen Gelegenheiten, soviel ich weiß und glaube –«

 

»Damit kommt er nicht durch«, murmelte Uriah erleichtert. »Mutter, sprich kein Wort!«

»Wir werden uns schon bemühen, dafür zu sorgen, daß wir mit Ihnen sehr bald fertig sein werden, werter Herr«, antwortete Mr. Micawber.

 

»Zweitens. – Heep hat bei verschiednen Gelegenheiten, soviel ich weiß und glaube, zu verschiednen Eintragungen, Buchauszügen und Dokumenten systematisch die Unterschrift Mr. W.s gefälscht und hat dies ganz bestimmt bei einer Gelegenheit getan, wie ich nachweisen kann. Nämlich in folgender Weise: Da Mr. W. kränklich war und es im Bereich der Wahrscheinlichkeit lag, daß sein Tod zu gewissen Entdeckungen und zum Sturze der Macht Heeps über die Familie W. führen konnte, wenn es nicht gelingen sollte, die Kindesliebe der Tochter Mr. W.s dahin auszunützen, daß von einer Prüfung der mit Associeangelegenheiten in Verbindung stehenden Papiere abgesehen werden sollte, so hielt es dieser – Heep da für angezeigt, sich eine scheinbar von Mr. W. ausgestellte Schuldverschreibung über 12614 £ 2 sh und 9 d nebst Zinsen zu verschaffen, welche Summe angeblich dieser Heep da Mr. W., um diesen vor Schande zu retten, vorgeschossen haben wollte, obgleich eigentlich gerade umgekehrt diese Summe Heep vorgeschossen worden und längst ersetzt war. Die Unterschriften zu diesem Dokument, angeblich geschrieben von Mr. W. und bezeugt von Wilkins Micawber, sind Fälschungen – Heeps. In meinem Besitze befinden sich verschiedne ähnliche Nachahmungsproben von Mr. W.s Unterschrift von Heeps Hand in dessen Notizbuch. Teilweise verkohlt, aber deutlich für jedermann lesbar. Ich habe nie ein solches Dokument als Zeuge unterschrieben, und das Dokument selbst befindet sich in meinem Besitz.«

 

Uriah Heep sprang auf, nahm einen Bund Schlüssel aus der Tasche und zog eine Schublade auf; besann sich aber plötzlich eines Bessern und wendete sich wieder gegen uns, ohne hineinzusehen.

»Und das Dokument ist in meinem Besitz«, las Mr. Micawber wieder und sah sich um wie ein Prediger; »oder richtiger gesagt, es war noch heute morgen in meinem Besitz, denn ich habe es inzwischen Mr. Traddles ausgehändigt.«

»Sehr richtig«, bestätigte Traddles.

»Ury, Ury!« rief die Mutter. »Demütige dich und gib nach! Ich weiß gewiß, mein Sohn wird sich demütigen, wenn Sie ihm Zeit zum Nachdenken lassen, meine Herrschaften! Mr. Copperfield, Sie wissen doch, wie demütig er immer war.«

Es war ein merkwürdiger Anblick, wie die Mutter immer noch an dem alten Trick festhielt, während der Sohn die Nutzlosigkeit längst eingesehen hatte.

»Mutter«, sagte er und biß ungeduldig in das Tuch, mit dem er seine Hand verbunden hatte, »eher kannst du eine geladene Flinte auf mich abfeuern.«

»Aber ich liebe dich, Ury!« rief Mrs. Heep. Ich zweifle gar nicht, daß sie ihn wirklich liebte, so seltsam das auch war. Sie glichen einander eben vollständig.

»Ich kann es nicht mit anhören, Ury, wenn du den Herrn reizest und deine Sache nur noch schlimmer machst. Als der Herr mir oben sagte, es sei alles an den Tag gekommen, da beteuerte ich ihm, du würdest dich demütigen und alles wiedergutmachen. Ach, sehen Sie doch, meine Herren, wie demütig ich bin, und hören Sie nicht auf meinen Sohn!«

»Sieh dort Copperfield, Mutter!« rief Uriah wütend und wies haßerfüllt mit dem Finger auf mich. »Copperfield dort hätte dir 100 £ gegeben für weniger, als du ausgeplaudert hast.«

»Ich kann nichts dafür, Ury«, jammerte die Mutter. »Ich kann es nicht mitansehen, daß du ins Verderben rennst, indem du den Kopf so hoch trägst! Sei demütig, wie du es immer warst!«

Uriah schwieg eine Weile, nagte an dem Taschentuch und sagte dann zu mir mit finsterem Gesicht:

»Was haben Sie sonst noch gegen mich vorzubringen? Nur weiter. Was glotzen Sie mich so an?«

Mr. Micawber, überglücklich, wieder fortfahren zu dürfen, las weiter.

 

»Drittens und letztens. Ich bin nun in der Lage, zu beweisen, und zwar durch Heeps wirkliche, das heißt natürlich gefälschte Bücher, die mit dem zum Teil verbrannten Notizbuch anfingen, – das ich früher zur Zeit seiner zufälligen Entdeckung durch Mrs. Micawber anläßlich unseres Einzugs in unsere gegenwärtige Wohnung in dem zur Aufnahme der auf unserm häuslichen Herde verbrannten Asche bestimmten Kasten nicht verstehen konnte –, ich bin also in der Lage, zu beweisen, daß die Schwächen, die Fehler, ja sogar die väterliche Liebe des unglücklichen Mr. W. jahrelang zu den Infamien dieses Heep mißbraucht worden sind. Jahrelang wurde Mr. W. in jeder nur möglichen Weise von dem heuchlerischen und habsüchtigen – Heep da hintergangen und ausgeplündert. Das Hauptziel dieses – Heep war, Mr. und Miss W. – von seinen letzten Absichten in bezug auf diese Dame ganz zu schweigen – völlig in seine Gewalt zu bekommen. Seine letzte erst vor wenigen Monaten vollbrachte Tat bestand darin, daß er Mr. W. zur Ausstellung einer Verzichtleistung auf seinen Anteil im Geschäft und sogar eines Verkaufskontraktes des Meublements des ganzen Hauses gegen ein gewisses Jahresgeld bewog, das – Heep – an den gesetzlichen Pauschaltagen richtig und getreulich auszuzahlen versprach. Dieses Netz, – das mit verfälschten Alarmnachrichten anfing über einen Landbesitz, den Mr. W. zu verwalten hatte, zu einer Zeit, wo Mr. W. sich in unvorsichtige und schlecht überlegte Spekulationen eingelassen und vielleicht wirklich das Geld, für das er moralisch und juristisch verantwortlich war, nicht mehr in der Kasse hatte, – wurde weiter gestrickt, indem angeblich Geld gegen ungeheure Zinsen aufgenommen wurde, während in Wirklichkeit die Summen von Heep kamen und von ihm Mr. W. betrügerischerweise entlockt oder vorenthalten worden waren. Das Netz wurde immer dichter und dichter, bis der unglückliche Mr. W. vollständig umstrickt war. Seinem Glauben nach bankrott an Vermögen und an Ehre, setzte er seine einzige Hoffnung auf dieses Ungeheuer da in der Gestalt eines Menschen. Alles dies verpflichte ich mich zu beweisen. Und voraussichtlich noch mehr.«

 

Ich flüsterte Agnes, die halb vor Freude, halb vor Kummer weinte, ein paar Worte zu, und die ganze Gruppe kam in Bewegung, annehmend, daß Mr. Micawber fertig sei. Er aber sagte mit tiefstem Ernst: »Verzeihen Sie« und fuhr mit einem Gemisch von Niedergeschlagenheit und Triumphgefühl über seinen Brief fort:

 

»Ich komme jetzt zum Schluß. Es bleibt mir nur noch übrig, meine Anklagen zu beweisen und dann mit meiner vom Verhängnis verfolgten Familie im Dunkel zu verschwinden. Das wird bald geschehen sein. Es dürfte kein Trugschluß sein, wenn ich sage, daß unser Säugling als erster seine Seele aushauchen wird, da er das schwächste Mitglied unseres Familienkreises ist, und daß die Zwillinge ihm zunächst folgen werden. Sei es an dem! An mir hat diese Pilgerfahrt nach Canterbury bereits genagt. Schuldgefängnis und die Not werden alles bald vollenden, und ich hoffe, daß die aufreibende Mühe und Gefahr einer Untersuchung – deren kleinstes Ergebnis langsam zusammengestellt wurde unter dem Druck angestrengtester Tätigkeit und der Geldverlegenheiten am frühen Morgen, am tauigen Abend, im Schatten der Nacht, unter dem wachsamen Auge eines Geschöpfs, das man nicht erst Dämon zu nennen braucht, – in Verbindung mit den Bemühungen, sie nach ihrer Beendigung in richtiger Weise anzuwenden, wie das Besprengen des zur Aufnahme eines Leichnams bestimmten Holzstoßes mit einigen Tropfen wohlriechenden Wassers sein wird. Mehr verlange ich nicht. Möge man von mir sagen wie von dem tapfern Seehelden, mit dem ich mich zu vergleichen mir nicht anmaßen darf, daß ich das, was ich getan habe, allen selbstischen und geldsüchtigen Motiven zum Trotz nur tat für ›Schönheit, Reich und Vaterland‹.

Ich verbleibe immer usw. usw.

Wilkins icawber«

Tief ergriffen, aber immer noch in seinem Triumphe schwelgend, faltete Mr. Micawber seinen Brief zusammen und überreichte ihn mit einer Verbeugung meiner Tante.

Wie ich schon bei meinem ersten Besuch als Kind bemerkt hatte, stand ein eiserner Geldschrank im Zimmer. Der Schlüssel stak im Schlosse.

Ein plötzlicher Verdacht durchzuckte Uriah, und mit einem raschen Blick auf Micawber riß er die Schranktür so heftig auf, daß sie klirrte. Die Kassa war leer.

»Wo sind die Bücher?« rief er mit entsetzter Miene. »Jemand hat die Bücher gestohlen!«

Mr. Micawber spielte mit dem Lineal:

»Ich war so frei! Als ich von Ihnen wie gewöhnlich die Schlüssel holte – nur ein wenig früher – und den Schrank heute morgen aufmachte, habe ich sie herausgenommen.«

»Seien Sie unbesorgt, Mr. Heep«, sagte Traddles. »Ich habe sie in Besitz genommen. Ich werde sie kraft der erwähnten Vollmacht aufbewahren.«

»Sie sind also ein Hehler gestohlenen Gutes?« schrie Uriah.

»Unter solchen Umständen ja«, gab ihm Traddles zur Antwort.

Wie groß war mein Erstaunen, als auf einmal meine Tante, die bis jetzt ganz ruhig und aufmerksam dagesessen hatte, auf Uriah Heep losstürzte und ihn mit beiden Händen am Kragen packte.

»Sie wissen, was ich will«, rief sie.

»Eine Zwangsjacke«, gurgelte Heep.

»Nein, mein Vermögen! Liebe Agnes, solang ich glaubte, dein Vater wäre an dem Verlust schuld, wollte ich auch nicht eine Silbe davon sagen, daß ich es hier deponiert hatte; nicht einmal Trot wußte davon. Aber jetzt, wo ich weiß, daß dieser Kerl dafür verantwortlich ist, will ich es wiederhaben! Trot, komm und nimm es ihm ab!«

Ob meine Tante in diesem Augenblick glaubte, daß er ihr Vermögen an seinem Leibe verborgen trüge, weiß ich nicht, aber jedenfalls zerrte sie ihn so derb am Kragen, daß es so aussah.

Ich beeilte mich die beiden zu trennen und ihr zu versichern, wir würden schon Sorge tragen, daß alles wieder rechtmäßig zurückerstattet werden sollte. Diese Versicherung und ein paar Minuten Nachdenken beruhigten sie, obschon sie ihren Angriff auf Uriah nicht im geringsten zu bereuen schien.

 

Die letzten paar Minuten hatte Mrs. Heep ununterbrochen ihren Sohn angefleht, sich zu demütigen, war vor uns allen der Reihe nach auf die Knie gefallen und hatte die ausschweifendsten Versprechungen gemacht. Uriah drückte sie in ihren Stuhl zurück und stand mit verbissenem Gesicht neben ihr und hielt sie am Arme fest. Mit einem haßerfüllten Blick sagte er zu mir:

»Was soll also geschehen?«

»Ich will Ihnen sagen, was geschehen muß«, mischte sich Traddles ein.

»Hat dieser Copperfield keine Zunge?« knirschte Uriah. »Ich würde viel darum geben, wenn mir einer sagen könnte, er hätte sie ihm ausgerissen.«

»Mein Ury wird sich demütigen!« beteuerte die Mutter. »Bitte, bitte, achten Sie nicht auf seine Worte, meine Herren!«

»Was zu geschehen hat«, fuhr Traddles fort, »ist folgendes. Erstens muß die eben erwähnte Verzichtleistungsurkunde mir augenblicklich übergeben werden.«

»Gesetzt den Fall, ich hätte keine bekommen«, unterbrach Uriah.

»Da Sie aber eine bekommen haben«, sagte Traddles, »brauchen wir nicht erst das Gegenteil anzunehmen.«

Ich ließ innerlich, vielleicht zum ersten Mal, dem klaren, gesunden Menschenverstande meines alten Schulkameraden wirklich Gerechtigkeit widerfahren.

»Ferner haben Sie alles herauszugeben, was Sie sich in Ihrer Habsucht bisher angeeignet haben, und zwar bis zum letzten Heller. Alle Bücher und Belege der Firma, sowie auch Ihre Privatbücher und Papiere, Rechnungen, Sicherstellungen, kurz alles, was hier ist, bleibt in unserm Gewahrsam.«

»So, muß ich das? Das weiß ich noch nicht«, sagte Uriah. »Ich muß erst Zeit haben, mir das zu überlegen.«

»Gewiß«, erwiderte Traddles, »aber unterdessen und bis alles zu unserer Zufriedenheit geordnet ist, bleiben wir im Besitz, und Sie – kurz und gut, Sie haben in Ihrem Zimmer zu bleiben und mit keinem Menschen zu verkehren.«

»Das will ich nicht!« schrie Uriah mit einem Fluch.

»Das Maidstone-Gefängnis ist allerdings sicherer«, bemerkte Traddles, »und wenn auch das gerichtliche Verfahren länger dauern und uns nicht so vollständig zu unserm Recht verhelfen kann, wie es wünschenswert wäre, so steht es doch außer Zweifel, daß Sie Zuchthaus bekommen. Mein Gott, Sie wissen das so gut wie ich! Copperfield, möchtest du nicht nach der Guildhall gehen und ein paar Polizeidiener holen?«

Mrs. Heep riß sich wieder von ihrem Sohne los, warf sich weinend vor Agnes auf die Knie und flehte sie an, sich für sie zu verwenden, beteuerte, daß ihr Sohn sich demütigen werde und daß alles wahr sei, und wenn er nicht täte, was wir wollten, so wollte sie es tun und noch viel mehr; kurz, sie war halb wahnsinnig vor Besorgnis um ihren Liebling.

Die Frage, was er hätte tun können, wenn er Mut besessen haben würde, ist überflüssig. Ebensogut hätte man fragen können, was wohl ein elender Köter getan hätte, wenn er die Seele eines Tigers gehabt haben würde.

Uriah war eine Memme von Kopf bis Fuß und verriet seine feige Natur durch Ingrimm und Verbissenheit wie nur je in seinem erbärmlichen Leben.

»Halt!« knurrte er mir zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und du, Mutter, schweig still. Also gut! Sie sollen das Dokument haben. Hol es herunter!«

»Bitte, helfen Sie ihr, Mr. Dick«, sagte Traddles, »wenn Sie so freundlich sein wollen.«

Stolz auf seinen Antrag, den er vollkommen begriff, ging Mr. Dick neben Mrs. Heep her wie ein Schäferhund neben einem Schaf. Sie gab ihm übrigens nicht die geringste Gelegenheit, sich einmengen zu müssen, und kehrte nicht nur mit dem Dokument, sondern auch mit dem Koffer zurück, in dem es gelegen, und worin wir außerdem noch ein Bankbuch und andere Papiere, die uns später gute Dienste leisteten, fanden.

»Gut«, sagte Traddles, als die Sachen in unserm Besitz waren. »Jetzt, Mr. Heep, können Sie in Ihr Zimmer gehen, um sich alles zu überlegen. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß es nur einen Weg für Sie gibt, und zwar den, den ich Ihnen vorgezeichnet habe, und der muß ohne Verzug eingeschlagen werden.«

Ohne die Augen zu erheben, schlich Uriah, die Hand am Kinn, nach der Tür, blieb dort einen Augenblick stehen und sagte:

»Copperfield, ich habe Sie immer gehaßt. Sie waren von jeher ein Glückspilz und immer mein Feind.«

»Ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal gesagt«, gab ich zur Antwort, »daß Sie in Ihrer Gier und Verschlagenheit aller Welt entgegen gewesen sind. Vielleicht ist es gut für Sie, wenn Sie in Zukunft einsehen lernen, daß Gier und niedrige List in der Welt noch nicht mehr zuwege gebracht haben, als übers Ziel hinauszuschießen und sich selbst ein Bein zu stellen. Das ist sicher wie der Tod.«

»Oder so sicher, wie man uns in der Schule von neun bis elf lehrte, die Arbeit sei ein Fluch, und von elf bis eins, daß sie ein Segen, eine Freude und eine Ehre sei, und ich weiß nicht, was sonst noch, was?« sagte er mit einem höhnischen Grinsen. »Ihre Predigten sind gerade so konsequent wie diese. Mit Unterwürfigkeit kommt man nicht durch, sagen Sie? Anders hätte ich bei meinem Associe gewiß nichts durchgesetzt! Micawber, Sie alter Renommist, Ihnen werd ichs noch heimzahlen.«

Mr. Micawber sah ihn mit größter Verachtung an und blähte sich gewaltig auf, während Uriah zur Tür hinausschlich. Dann wendete er sich an mich, mit der Bitte, Zeuge seiner Aussöhnung mit Mrs. Micawber zu sein, und lud auch die übrige Gesellschaft ein, diesem rührenden Schauspiel beizuwohnen.

»Der Schleier, der lange zwischen mir und Mrs. Micawber gehangen hat, ist nun weggezogen«, sagte er, »und meine Kinder und der Urheber ihres Daseins können wieder auf gleicher Stufe miteinander verkehren.«

Da wir ihm alle sehr dankbar waren und es ihm zu zeigen wünschten, so gut unsere aufgeregte Stimmung dies erlauben wollte, wären wir gewiß alle gegangen, wenn nicht Agnes zu ihrem Vater hätte zurückkehren müssen, dessen Gesundheit zu zerrüttet war, als daß er mehr als das Aufdämmern neuer Hoffnung hätte ertragen können; außerdem mußte noch jemand zurückbleiben, um Uriah in sicherm Gewahrsam zu halten. So blieb denn Traddles ebenfalls, um später durch Mr. Dick abgelöst zu werden. Inzwischen gingen meine Tante, Mr. Dick und ich mit Mr. Micawber nach dessen Hause.

 

Als ich einen eiligen Abschied von Agnes nahm und an den Abgrund dachte, aus dem sie diesen Morgen gerettet worden, so mußte ich Gott preisen für die Not meiner Jugendjahre, die mich mit Mr. Micawber bekannt gemacht hatte.

Die Wohnung war nicht weit entfernt, und da die Haupttür unmittelbar in das Wohnzimmer führte und er mit der ihm eigentümlichen Hast hineinstürzte, befanden wir uns im Augenblick mitten im Kreis der Familie.

Mr. Micawber stürzte mit dem Ausruf: »Emma, mein Leben!« in die Arme seiner Gattin. Mrs. Micawber schrie auf und drückte ihn an ihre Brust. Miss Micawber, die den in Mrs. Micawbers letztem Brief erwähnten »bewußtlosen Neuling« auf den Armen wiegte, war sichtlich gerührt. Der Neuling begann zu strampeln. Die Zwillinge legten ihre Freude durch verschiedne unpassende, aber gutgemeinte Demonstrationen an den Tag. Master Micawber, durch frühzeitige Enttäuschungen offenbar verbittert und sehr mürrisch dreinsehend, gab seinen besseren Gefühlen nach und heulte.

»Emma!« sagte Mr. Micawber. »Die Wolke ist von meiner Seele genommen! Das alte Vertrauen zwischen uns ist wiederhergestellt und soll nie wieder aufhören. Jetzt willkommen, Armut!« rief er unter Tränen. »Willkommen, Not! Willkommen, Obdachlosigkeit! Willkommen, Lumpen, Hunger, Sturm und Betteln! Gegenseitiges Vertrauen wird uns bis zu Ende aufrechterhalten.«

Mit diesen Worten drückte er seine Frau in einen Stuhl und umarmte seine Sprößlinge der Reihe nach, wobei er eine Unzahl trostloser Zukunftsbilder willkommen hieß, die – meinem Urteil nach – ihnen nichts weniger als erwünscht zu sein schienen, und forderte sie auf, auf den Hauptplatz von Canterbury zu gehen und einen Chor anzustimmen, da dies von jetzt an ihre einzige Erwerbsquelle sein werde.

Aber da Mrs. Micawber, von ihren Gefühlen überwältigt, in Ohnmacht gefallen war, galt es, ehe der Chor als vollzählig betrachtet werden konnte, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Dies bewerkstelligten meine Tante und Mr. Micawber, und dann ließ sich meine Tante ihr vorstellen, und Mrs. Micawber erkannte mich.

»Entschuldigen Sie, lieber Mr. Copperfield«, sagte die arme Frau und reichte mir die Hand, »aber ich bin nicht stark, und die Beseitigung des Mißverständnisses zwischen Micawber und mir war im ersten Augenblick zu viel für mich.«

»Ist das Ihre ganze Familie, Maam?« fragte meine Tante.

»Vorderhand habe ich nicht mehr«, entschuldigte sich Mrs. Micawber.

»Gütiger Himmel, das meinte ich nicht«, sagte meine Tante. »Ich wollte fragen, ob das alles Ihre Kinder sind?«

»Maam«, nahm Mr. Micawber das Wort, »so ist es.«

»Und der älteste junge Gentleman da«, fragte meine Tante nachdrücklich, »was will er werden?«

»Ich trug mich bei meiner Hierherkunft mit der Hoffnung«, antwortete Mr. Micawber, »Wilkins in der Kirche unterzubringen, oder besser ausgedrückt, im Chor. Aber es war keine Stelle für einen Tenor in dem ehrwürdigen Baudenkmal, dessentwegen diese Stadt mit Recht so berühmt ist, vakant, und er hat – kurz, er singt lieber in Wirtshäusern als in Kirchen.«

»Aber er meint es gut!« sagte Mrs. Micawber zärtlich.

»Allerdings meint er es im allgemeinen gut«, entgegnete Mr. Micawber, »aber ich habe noch nicht gefunden, daß er seine gute Meinung in irgendeiner bestimmten Richtung betätigt hätte.«

Master Micawbers mürrische Miene kehrte sofort zurück, und er fragte temperamentvoll, was er denn eigentlich tun sollte. Ob er vielleicht als Zimmermann oder Rosselenker auf die Welt gekommen sei, ob er etwa in die nächste Straße gehen und eine Apotheke eröffnen könnte oder zum nächsten Gerichtshof laufen und sich als Advokat vorstellen? Ob er vielleicht durch einen Gewaltstreich zur Oper kommen und sich dort einen Erfolg sichern könnte? Ob er denn überhaupt irgend etwas tun könnte, ohne für das Geringste erzogen zu sein?

Meine Tante sann eine Weile nach und sagte dann:

»Mr. Micawber, es wundert mich, daß Sie nie ans Auswandern gedacht haben.«

»Maam«, gab Mr. Micawber zur Antwort, »es war der Traum meiner Jugend und der gescheiterte Plan meiner reifern Jahre.« (Nebenbei gesagt, ich meinesteils bin fest überzeugt, daß er niemals im Leben daran gedacht hatte.)

»So?« sagte meine Tante und warf mir einen Blick zu. »Nun, wie wäre es, wenn Sie, Mr. und Mrs. Micawber, samt Familie jetzt auswanderten?«

»Kapital, Kapital!« seufzte Mr. Micawber düster.

»Das ist die hauptsächlichste, ich möchte wohl sagen, einzige Schwierigkeit, mein lieber Mr. Copperfield«, stimmte seine Gattin bei.

»Kapital?« fragte meine Tante. »Sie haben uns doch einen so großen Dienst geleistet, denn zweifellos wird vieles wieder zum Vorschein kommen. Und was könnten wir Besseres für Sie tun, als Ihnen das Kapital verschaffen?«

»Ich würde es nicht als Geschenk annehmen«, rief Mr. Micawber, ganz Feuer und Flamme, »aber wenn ich eine genügende Summe, sagen wir zu fünf Prozent jährlich, geliehen bekommen könnte gegen persönliche Sicherheit, etwa meine Unterschrift, auf zwölf, achtzehn oder vierundzwanzig Monate, damit ich Zeit habe zu warten, bis sich etwas findet «

»Bekommen könnte? Sie sollen und werden sie bekommen«, entgegnete meine Tante. »Sie brauchen nur ein Wort zu sagen. Überlegen Sie sich jetzt beide die Sache. Ein paar Leute, die David kennt, schiffen sich in wenigen Tagen nach Australien ein. Wenn Sie sich zum Auswandern entschließen wollten, könnten Sie ja mit demselben Schiff fahren und einander beistehen. Überlegen Sie sich das jetzt, Mr. und Mrs. Micawber! Lassen Sie sich Zeit und erwägen Sie es reiflich.«

»Nur eine einzige Frage, meine liebe Maam, gestatten Sie mir«, fiel Mrs. Micawber ein. »Ist das Klima gesund?«

»Das beste Klima der Welt.«

»Sehr gut. Also meine Frage ist, sind die Zustände des Landes derart, daß ein Mann von Mr. Micawbers Fähigkeiten Aussicht hat, auf der Leiter der Gesellschaft eine höhere Stufe einzunehmen? Ich meine zurzeit damit nicht, daß er nach einer Gouverneurstelle oder nach etwas Ähnlichem streben würde, ? aber ist seinen Talenten Gelegenheit geboten, sich zu entwickeln?«

»Nirgends bieten sich bessere Gelegenheiten für einen Mann, der sich gut aufführt und fleißig ist«, versicherte ihr meine Tante.

»Für einen Mann, der sich gut aufführt und fleißig ist«, wiederholte Mrs. Micawber mit ihrer überlegensten Geschäftsmiene. »Ausgezeichnet! Es liegt auf der Hand, daß Australien der richtige Boden für Mr. Micawbers Tätigkeit ist.«

»Ich bin der Überzeugung, verehrteste Maam«, sagte Mr. Micawber, »daß es unter den gegebenen Verhältnissen das Land, ja, das einzige Land für mich und meine Familie ist, und daß sich an jenen fernen Küsten etwas ganz Außerordentliches finden wird. Es gibt keine Entfernung, abstrakt gesprochen, und obgleich wir Ihrem Vorschlage, uns die Sache zu überlegen, Rücksicht schulden, versichere ich Ihnen, daß wir das bloß als Formalität betrachten.«

 

Nie werde ich vergessen, wie er im Handumdrehen wieder der alte Sanguiniker war und voll Selbstvertrauen in die Zukunft blickte, und wie Mrs. Micawber sofort von den Gewohnheiten des Känguruhs zu erzählen begann! Nie wieder kann ich mir vorstellen, wie die Straße von Canterbury an einem Markttage aussieht, ohne daß mir Mr. Micawber nicht vor das Auge tritt, wie er uns begleitet und mit der Fremdlingsmiene eines nur für kurze Zeit nach England zurückgekehrten australischen Farmers die vorüberziehenden Ochsen mit Kennerblick mißt!

53. Kapitel Wieder ein Rückblick


53. Kapitel Wieder ein Rückblick

Ich muß wieder eine Pause machen. In dem Gedränge der Gestalten in meiner Erinnerung steht ruhig und still mein kindisches Frauchen und sagt in ihrer lieblichen unschuldsvollen Schönheit: »Bleib stehen und denk an mich! ? Sieh herab auf die kleine Blüte, wie sie zu Boden flattert.«

Alles andere verblaßt und verschwindet. Ich bin wieder mit Dora in unserm Landhäuschen. Ich weiß nicht, wie lange sie krank gewesen ist. Ich bin so daran gewöhnt, daß ich die Tage nicht mehr zählen kann. Nach Wochen und Monaten ist es nicht lang, aber in meinem Leben steht es da wie eine lange trübe Zeit.

Sie sagen mir nicht mehr, ich sollte mich nur einige Tage gedulden. Ich trage mich bereits mit der bestimmten Furcht, daß der Tag nie kommen wird, wo mein kindisches Frauchen wieder im Sonnenschein mit ihrem alten Freund Jip herumspringen wird.

Er ist wie mit einem Schlage sehr alt geworden. Vielleicht vermißt er in seiner Herrin das, was ihn belebte und verjüngte; aber er ist träge, sieht schlecht und ist schwach. Und meiner Tante tut es leid, daß er sie nicht mehr anbellt, sondern an sie herankriecht und liebkosend ihr die Hand leckt, wenn er bei Dora liegt und sie neben dem Bette sitzt.

Dora liegt still und lächelt uns an; sie ist so schön und spricht nie ein heftiges oder ungeduldiges Wort. Sie sagt, wir wären alle so gut gegen sie, – ihr lieber, alter, sorgsamer Junge plage sich ihretwegen halb zu Tode, sie wisse es wohl, und meine Tante schlafe gar nicht, sondern wache immer, sei tätig und gütig. Manchmal kommen die beiden kleinen vogelartigen Damen zu Besuch, und wir sprechen von unserm Hochzeitstag und der ganzen glücklichen Zeit.

Was für eine seltsame Pause scheint in meinem innern und äußern Leben einzutreten, wenn ich in dem ruhigen verdunkelten Zimmer sitze, während die blauen Augen meines kindischen Frauchens auf mir ruhen und ihre zarten Finger meine Hände erfassen! Manche Stunde sitze ich so, aber von allen Zeitpunkten leben drei am frischesten in meiner Seele.

 

Es ist früh am Morgen, und Dora, von meiner Tante frisiert, zeigt mir, wie ihr schönes Haar sich immer noch auf dem Kissen kräuseln will und wie lang und glänzend es ist.

»Nicht, daß ich jetzt eitel darauf bin, du mokanter Junge«, sagt sie, als ich lächle, »sondern weil du immer sagtest, du fändest es so schön, und weil ich immer in den Spiegel schauen mußte, als ich anfing, an dich zu denken, und gerne gewußt hätte, ob du wohl eine Locke davon haben möchtest. O, wie närrisch du dich gebärdetest, Doady, als ich dir eine gab.«

»Das war an dem Tag, als du die Blumen maltest, die ich dir mitgebracht hatte, und ich dir sagte, wie sehr ich dich liebte.«

»Ach, aber ich wollte dir damals nicht sagen, wie sehr ich über ihnen geweint hatte, weil ich dir glaubte. Wenn ich wieder herumspringen kann wie früher, Doady, wollen wir wieder einmal die Orte besuchen, wo wir so närrisch verliebt waren, und manche von den alten Spaziergängen wieder aufsuchen, nicht wahr? Und des armen Papas Grab nicht vergessen.«

»Ja, das wollen wir tun und so viel glückliche Tage noch erleben! Darum mußt du schnell gesund werden, liebes Herz.«

»O, das werde ich bald sein. Es geht mir viel besser.«

 

Es ist Abend, und ich sitze auf demselben Stuhl an demselben Bette, und dasselbe Gesicht blickt mich an. Wir haben längere Zeit geschwiegen, und ein Lächeln liegt auf ihrem Antlitz. Ich trage nicht mehr die leichte Last die Treppe auf und ab. Dora liegt den ganzen Tag hier.

»Doady!«

»Liebste Dora?«

»Du wirst doch nicht etwa das, was ich sagen will, für unverständig halten, nach dem, was du mir vor kurzem von Mr. Wickfields Krankheit gesagt hast? Ich möchte mit Agnes sprechen. Ich möchte sie sehr gerne sehen.«

»Ich will ihr schreiben, liebes Herz.«

»Willst du?«

»Sogleich.«

»Was du für ein lieber guter Junge bist. Doady, nimm mich in deine Arme. Es ist keine bloße Laune von mir. Kein törichter Einfall. Es liegt mir wirklich sehr, sehr viel daran, sie zu sprechen.«

»Davon bin ich überzeugt. Ich brauche ihr nur zu schreiben, und sie kommt gewiß.«

»Du fühlst dich sehr einsam, wenn du unten bist, nicht wahr?« flüstert mir Dora zu, den Arm um meinen Hals geschlungen,

»Wie kann es anders sein, mein liebes Herz, wenn ich deinen leeren Sessel sehe.«

»Meinen leeren Sessel!« Sie ruht eine kleine Weile stumm an meiner Brust. »Und du vermissest mich wirklich, Doady?« Und sie blickt auf und lächelt mich freundlich an. »Mich armes, leichtsinniges, dummes Ding?«

»Mein lieber Mann! Ich bin so froh und doch so traurig«, und sie drängt sich dichter an mich und umschlingt mich mit ihren Armen. Sie lacht und schluchzt und ist dann ruhig und ganz glücklich.

»Ganz glücklich!« sagt sie. »Ich lasse Agnes zärtlichst grüßen und ihr sagen, daß mir sehr viel daran liegt, sie zu sprechen, und weiter will ich nichts mehr.«

»Außer wieder gesund werden, Dora.«

»Ach Doady! Manchmal glaube ich – du weißt, ich war von jeher ein einfältiges Ding –, daß das nie geschehen wird.«

»Sag das nicht, Dora, denke nicht an so etwas, Herzensschatz.«

»Gewiß nicht, wenn ich kann, Doady! Aber ich bin sehr glücklich, wenn du dich auch so einsam fühlst vor dem leeren Sessel deines kindischen Frauchens.«

 

Es ist Nacht, und ich bin noch bei ihr. Agnes ist angekommen und einen ganzen Tag und einen Abend bei uns gewesen. Sie, meine Tante und ich haben Dora seit dem Morgen Gesellschaft geleistet. Wir haben nicht viel geredet, aber Dora war immer zufrieden und heiter. Wir sind jetzt allein.

Weiß ich jetzt, daß mein kindisches Frauchen mich verlassen wird? Man hat mir gesagt, was meinen Gedanken nicht neu war, aber ich bin im Herzen nicht von der Wahrheit überzeugt. Ich kann es nicht glauben. Ich bin viele Male des Tages still weggegangen und habe allein geweint. Ich habe an Ihn gedacht, der darüber weinte, daß der Tod die Menschen scheidet. Ich habe an die ganze schöne und barmherzige Legende gedacht. Ich habe versucht, mich in das Schicksal zu fügen und mich zu trösten, und es ist mir, wenn auch unvollkommen, gelungen; aber immer noch will die Überzeugung in mir nicht festen Fuß fassen, daß das Ende da ist. Ich halte ihre Hand in meiner, ich halte ihr Herz in meinem. Ich sehe ihre Liebe zu mir in aller ihrer Kraft. Ich kann einen letzten schwachen Schimmer vom Glauben, sie sei noch zu retten, nicht ausschließen.

»Ich will dir etwas sagen, Doady, ich will dir etwas sagen, woran ich in der letzten Zeit gedacht habe. Wirst du nicht böse darüber sein?« fragt sie mit einem bittenden Blick.

»Böse sein? Liebling!«

»Weil ich nicht weiß, was du davon denken wirst oder was du manchmal gedacht haben magst. Vielleicht hast du oft dasselbe gedacht. – Doady, ich fürchte, ich war zu jung.«

Ich lege mein Gesicht auf das Kissen neben sie, und sie blickt mir in die Augen und spricht sehr leise. Allmählich, wie sie weiterredet, fühle ich mit blutendem Herzen, daß sie von sich wie von einer Verstorbenen spricht.

»Ich fürchte, Liebling, ich war zu jung. Ich meine nicht bloß an Jahren, sondern auch an Erfahrung und an allem. Ich war ein junges kindisches Geschöpf. Ich fürchte, es wäre besser gewesen, wenn wir uns nur wie Kinder geliebt und einander wieder vergessen hätten. Ich kann mich nicht von dem Gedanken trennen, daß ich noch nicht reif war, deine Gattin zu werden.«

Ich versuche meine Tränen zurückzudrängen und antworte:

»Ach, liebe Dora, so reif wie ich war, ein Ehemann zu werden.«

»Das weiß ich nicht«, sagt sie mit ihrer alten Gewohnheit, die Locken zu schütteln. »Vielleicht! Aber wenn ich besser gepaßt hätte zum Heiraten, so hätte ich dich auch geeigneter dazu machen können. Dann bist du auch sehr gescheit, und ich war es nie.«

»Wir waren sehr glücklich miteinander, meine süße Dora.«

»Sehr, sehr glücklich. Aber im Lauf der Jahre würde mein lieber Junge seines kindischen Frauchens überdrüssig geworden sein. Sie hätte immer weniger und weniger zu seiner Lebensgefährtin gepaßt. Er hätte immer mehr und mehr empfunden, was ihm zu Hause fehlte. Sie würde nie anders geworden sein. Es ist besser so, wie es ist.«

»Ach liebste, liebste Dora, sprich nicht so zu mir. Jedes Wort klingt wie ein Vorwurf.«

»Nein, keine Silbe«, gibt sie zur Antwort und küßt mich. »Ach mein Liebling, du verdientest nie einen Vorwurf, und ich liebte dich zu sehr, als daß ich dir je im Ernst hätte einen machen können. Das war mein einziges Verdienst außer, daß ich hübsch war; wenigstens hieltest du mich dafür. Ist es einsam unten?«

»Sehr, sehr.«

»Weine nicht! Steht noch mein Sessel dort?«

»Auf seiner alten Stelle.«

»O, wie mein armer Junge weint! Still, still! Nun versprich mir noch eins. Ich möchte mit Agnes reden. Wenn du hinuntergehst, schicke sie zu mir herauf und, während ich mit ihr spreche, laß niemand herein – nicht einmal die Tante. Ich will mit Agnes allein reden.«

Ich verspreche ihr, es sofort zu tun, aber ich kann mich in meinem Schmerz nicht von ihr losreißen.

»Ich sagte, es ist besser, wie es ist«, flüstert sie in meinen Armen. »Ach Doady, in einigen Jahren hättest du dein kindisches Frauchen nicht mehr so lieb haben können wie jetzt, und sie hätte deine Geduld und Liebe so hart auf die Probe gestellt, daß du sie nicht mehr hättest halb so lieben können. Ich weiß, ich war zu jung und kindisch. Es ist viel besser so, wie es ist.«

Agnes ist unten, als ich in die Wohnstube trete, und ich richte den Auftrag aus. Sie geht hinauf und läßt mich allein mit Jip. Seine chinesische Pagode steht neben dem Kamin, und er liegt auf seiner Flanelldecke und sucht winselnd einzuschlafen. Der Vollmond scheint hell und klar. Wie ich in die Nacht hinausblicke, da fließen meine Tränen, und mein ungeschultes Herz wird schwer, schwer geprüft.

Ich setze mich ans Feuer und denke mit Reue an alle jene heimlichen Gefühle, die ich während meiner Ehe empfunden habe. Ich denke an jede Kleinigkeit, die zwischen mir und Dora vorgefallen ist, und fühle die Wahrheit, daß Kleinigkeiten die Summe des Lebens ausmachen. Und immer steigt aus dem Meer meiner Erinnerungen das Bild des lieblichen Kindes auf, wie ich sie zuerst kennenlernte; verschönt durch unsere jugendliche Liebe, – mit all den Reizen geschmückt, an denen eine solche Liebe so reich ist. Würde es in der Tat nicht besser gewesen sein, wenn wir wie Kinder einander geliebt und wieder vergessen hätten?

Wie die Zeit dahingeht, weiß ich nicht, bis mich der alte Gefährte meines kindischen Frauchens aus meinen Gedanken aufschreckt. Ruheloser noch als vorhin kriecht er aus seiner Hütte heraus und schleppt sich nach der Tür und winselt und will hinaufgelassen werden.

»Heute Nacht nicht, Jip. Heute nicht.«

Er schleicht langsam zu mir zurück, leckt mir die Hand und sieht mich mit seinen glanzlosen Augen an. »O Jip! Vielleicht nie, nie wieder.«

Er legt sich zu meinen Füßen nieder, streckt sich aus wie zum Schlafen und ist mit einem Winseln – tot.

»Ach Agnes! Sieh, sieh hier!«

Und ihr Gesicht! So voll Mitleid und Gram, von Tränen überströmt, der stumme schreckliche Blick und die feierlich nach oben deutende Hand!

»Agnes?«

»Es ist vorbei!«

 

Es wird Nacht vor meinen Augen, und für eine Zeitlang ist alles aus meinem Gedächtnis ausgelöscht.