Das erste Viertel


Das erste Viertel

Die Silvesterglocken

Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten

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Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

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Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter1 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

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O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

>

»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

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Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

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Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

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Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.

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Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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  1. Ein Wortspiel mit ›Porter‹, das im Englischen einen Portier und eine Last- oder Austräger bezeichnet

Das erste Viertel


Das erste Viertel

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Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

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Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind …«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du …«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

 

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während …«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater …«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater …« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr

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»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das waren die Zeiten für ein kühnes Bauernvolk und dergleichen mehr. Das waren tatsächlich die Zeiten für alles und jedes. Heutzutage gibt es dergleichen nicht mehr. Ach!« seufzte der rotgesichtige Gentleman. »Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten!«

Der Gentleman setzte nicht näher auseinander, was für besondre Zeiten er meinte, und ließ sich ebensowenig darauf ein, was er an der gegenwärtigen aussetzen hatte, weil er sich wahrscheinlich bewußt war, daß sie nichts sehr Merkwürdiges geleistet hatte dadurch, daß sie ihn ins Leben gerufen.

»Die guten alten Zeiten , die guten alten Zeiten,« wiederholte der Gentleman. »Was waren das für Zeiten! Das waren noch die einzigen Zeiten. Wozu nützts auch, von andern Zeiten zu reden oder sich darüber auszulassen , was die Leute in diesen Zeiten sind. Ihr werdet sie doch nicht etwa Zeiten nennen wollen? Ich wenigstens tue es nicht. Betrachtet nur einmal Strutts Kostüme und seht, was ein Dienstmann während irgendeiner der guten alten englischen Regierungen zu sein pflegte.«

»Wenn es ihnen recht gut ging, so hatten sie nicht einmal ein Hemd auf dem Leib oder Strümpfe an den Füßen, und in ganz England wuchs für sie kaum ein einziges Gemüse,« sagte Herr Filer. »Ich kann dies durch Tabellen beweisen.«

Aber dennoch pries der rotgesichtige alte Gentleman die guten alten Zeiten, die herrlichen Zeiten, die großartigen Zeiten. Es war ganz gleichgültig, was ein andrer sagte; er haspelte unaufhörlich dieselben Phrasen von den alten Zeiten ab, wie ein armes Eichhörnchen seine Tretmühle abhaspelt, von deren Mechanismus und Ränken es wahrscheinlich ebenso klare Vorstellungen hat, wie dieser rotgesichtige Gentleman von seinem verschwundenen tausendjährigen Reich hatte.

Möglich, daß der Glaube des armen alten Trotty an diese sehr verworrenen alten Zeiten nicht ganz zerstört wurde, denn er fühlte sich in jenem Augenblick verwirrt genug; so viel aber wurde ihm in seiner Not klar, daß, wie sehr auch diese Gentlemen im einzelnen verschiedener Meinung sein mochten, seine Bedenken von heute morgen und von vielen andern Morgen ganz begründet waren.

»Nein, nein, wir können nichts rechtmachen,« dachte Trotty in Verzweiflung. »Es ist nichts Gutes in uns. Wir werden bereit schlecht geboren!«

Aber Trotty hatte ein Vaterherz in seinem Innern, das trotz dieser göttlichen Verordnung irgendwie sich in seine Brust geschwindelt hatte, und konnte es nicht ertragen, daß diese weisen Gentlemen Meg, deren Wangen noch vor Freude strahlten, ihr Schicksal weissagen sollten. »Gott helfe ihr,« dachte der arme Trotty; »sie wird es bald genug kennen lernen.«

Er gab daher dem jungen Schmied ängstlich durch Zeichen zu verstehen, daß er sie fortnehmen möchte; aber Richard plauderte in einiger Entfernung so angelegentlich mit ihr, daß ihm dieser Wunsch erst zu gleicher Zeit mit dem Alderman Cute deutlich wurde. Der Alderman hatte sein Sprüchlein noch nicht angebracht; aber er war ein Philosoph – und obendrein ein praktischer, o ein sehr praktischer Philosoph, und da er sichs nicht einfallen ließ, auf einen Teil seiner Zuhörerschaft zu verzichten, so rief er:

»Halt«

»Ihr wißt,« sagte der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln, das gewöhnlich um seine Lippen spielte, zu seinen beiden Freunden, »ich bin ein einfacher, praktischer Mann und liebe es, in einfacher, praktischer Weise zu Werke zu gehen. Das ist so meine Art. Es ist durchaus nicht schwer, und es steckt kein Geheimnis dahinter, mit derartigen Leuten umzugehen , wenn man sie nur versteht und in ihrer eignen Weise mit ihnen sprechen kann. Hört also, Dienstmann! Bemüht Euch nur ja nicht, mein Freund, mir oder jemand anderm weiszumachen, Ihr hättet nicht immer vom Besten und im Überfluß zu essen; ich weiß das besser. Ihr wißt, ich habe Eure Kuttelflecke gekostet , und Ihr könnt mich nicht beschummeln. Ihr wißt , was ›beschummeln‹ bedeutet, he? Das ist das rechte Wort – nicht wahr? Du mein Himmel,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »es ist das allerleichteste von der Welt, mit derartigen Leuten zu verkehren, wenn man sie nur versteht.«

Ein famoser Mann für das gemeine Volk, der Alderman Cute! Nie aufgebracht über sie! Ein umgänglicher, gesprächiger, scherzhafter, gescheiter Herr!

»Ihr seht, mein Freund,« fuhr der Alderman fort, »man spricht da viel Unsinn vom Mangel und ›Schlechtgehen‹ – nicht wahr, so nennt mans? Ha ha ha! – aber ich gedenke, das Geschrei zu widerlegen. ’s ist nachgerade Mode, viel übers Verhungern zu deklamieren; aber ich will der Sache einen Riegel vorschieben. Gott weiß,« fuhr der Alderman gegen seine Freunde fort, »man kann solchen Leuten alles legen, wenn man nur weiß, wie mans anzugreifen hat!«

Trotty ergriff Megs Hand und zog sie durch seinen Arm, ohne eigentlich recht zu wissen, was er tat.

»Eure Tochter, he?« fragte der Alderman, sie vertraulich unter das Kinn fassend.

Stets leutselig gegen die arbeitende Klasse – der Alderman Cute! Wußte, was ihnen gefiel! Kein bißchen stolz!

»Wo ist ihre Mutter?« fragte der würdige Gentleman.

»Tot,« antwortete Toby. »Ihre Mutter verfertigte Wäsche und wurde in den Himmel abberufen, als Meg auf die Welt kam.«

»Vermutlich wird sie dort keine Wäsche verfertigen,« bemerkte der Alderman scherzhaft.

Toby konnte oder wollte sich vielleicht auch nicht seine Frau im Himmel ohne ihre gewöhnliche Beschäftigung vorstellen. Die Frage ist: wenn Frau Alderman Cute gegen Himmel gefahren wäre, würde sich Herr Alderman Cute seine Gattin so vorgestellt haben, daß sie dort Staat macht und eine hohe Stellung einnimmt?

»Und Ihr macht ihr den Hof, he?« fragte Cute den jungen Schmied.

»Ja,« entgegnete Richard hastig, denn die Frage brannte ihn wie eine Nessel. »Und wir werden am Neujahrstag heiraten.«

»Was sagt Ihr da?« rief Herr Filer scharf. »Heiraten?«

»Nun ja, wir denken daran, Herr,« versetzte Richard. »Ihr seht, wir müssen ein bißchen eilen, für den Fall, daß man uns vielleicht unser Vorhaben ›legen‹ würde.«

»Ah!« rief Filer mit einem Stöhnen. »Jawohl, Alderman, wenn Ihr dies legen könntet, so würdet Ihr etwas tun. Heiraten! heiraten!! Die Unwissenheit dieser Leute in den ersten Grundsätzen der Staatsökonomie, ihr Unverstand und ihre Gottlosigkeit sind, beim Himmel, genug, um – na, seht mir nur einmal dieses Paar an!«

Ei ja, man durfte sie wohl ansehen – und das Heiraten schien eine so vernünftige und billige Handlung zu sein , daß sie es wohl in Betracht ziehen durften.

»Man kann so alt werden wie Methusalem«, sagte Herr Filer, »und sich sein ganzes Leben über zum Besten solcher Leute abmühen; man kann berghoch Zahlen von Tatsachen, Zahlen von Tatsachen und Zahlen von Tatsachen aufhäufen, aber vergeblich hofft man, sie zu überzeugen, daß sie keine Befugnis und kein Recht haben, zu heiraten – ebensowenig als man sie zu belehren vermag, wie ihnen alle Befugnis abgeht, geboren zu werden. Und daß dies der Fall ist, wissen wir recht wohl, da wirs längst zu einer mathematischen Gewißheit erhoben haben.«

Alderman Cute war ungemein aufgeräumt und legte seinen rechten Zeigefinger an die Seite seiner Nase, als wollte er zu seinen beiden Freunden sagen: »Seid nun so gut, auf mich achtzugeben. Richtet euer Augenmerk auf den praktischen Mann!« – Dann rief er Meg heran.

»Kommt her, mein Mädchen!« sagte Alderman Cute. Das junge Blut ihres Liebhabers war in den letzten paar Minuten zornig aufgewallt, und er hatte keine Lust, sie gehen zu lassen. Dennoch tat er sich Zwang an, trat, als sich Meg näherte, mit einem großen Schritt vor und stellte sich an ihre Seite. Trotty hielt noch immer ihre Hand unter seinem Arm, blickte aber so wirr wie ein Schläfer im Traum von Gesicht zu Gesicht.

»Ich will Euch jetzt ein paar Wörtchen als guten Rat geben, mein Mädchen,« sagte der Alderman in seiner leichten, angenehmen Weise. »Ihr wißt, daß es mir zusteht, Rat zu erteilen, weil ich Friedensrichter bin. Es ist Euch wahrscheinlich bekannt, daß ich die Stellung eines Friedensrichters innehabe?«

Meg antwortete schüchtern mit ja. Aber jedermann wußte, daß Alderman Cute ein Friedensrichter war – und, o mein Gott, welch ein tätiger Friedensrichter! Nie gab es einen so glänzenden Splitter im Auge der Öffentlichkeit als Cute.

»Ihr wollt also heiraten , sagt Ihr?« fuhr der Alderman fort. »Das ist sehr unschicklich und unzart von einer Person Eures Geschlechts! Doch reden wir nicht davon. Wenn Ihr geheiratet habt, werdet Ihr mit Euerm Mann streiten und ein unglückliches Weib werden. Ihr glaubts vielleicht nicht, aber Ihr werdet es mit der Zeit, weil ichs Euch sage. Ich warne Euch deshalb ehrlich und bemerke Euch zum voraus, daß ich mir vorgenommen habe, auch den unglücklichen Weibern einen Riegel vorzuschieben. Mir dürft Ihr nicht kommen. Ihr werdet Kinder kriegen – Jungen. Diese Jungen wachsen auf bösen Wegen auf und laufen ohne Schuhe und Strümpfe wild durch die Straßen. Merkt Euch dies, meine junge Freundin – ich werde sie samt und sonders summarisch einstecken lassen, denn ich bin entschlossen, auch den Buben ohne Schuhe und Strümpfe das Handwerk zu legen. Vielleicht stirbt Euer Mann jung (sehr wahrscheinlich) und läßt Euch mit einem Säugling zurück. Man weist Euch dann die Tür, und Ihr müßt auf der Straße umherwandern. Kommt aber nur mir nicht in die Nähe, meine Liebe, denn ich bin entschlossen, es allen wandernden Müttern zu legen. Ja, ich bin entschlossen, es allen jungen Müttern, welcher Art und von welchem Schlag sie sein mögen, zu legen. Glaubt nicht, Ihr könnt Euch mit Krankheit oder mit Säuglingen vor mir entschuldigen, denn ich habe mir vorgenommen, es allen kranken Personen und kleinen Kindlein (hoffentlich kennt Ihr die Stelle im Gebetbuch, ich fürchte aber, nein) zu legen; und wenn Ihr gar verzweifelt, undankbar, gottlos und betrügerisch einen Versuch macht, Euch zu ersäufen oder zu hängen, So will ich kein Mitleid mit Euch haben, denn ich bin festen Willens, es auch dem Selbstmord zu legen! Wenn es etwas gibt,« fuhr der Alderman mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »von dem ich sagen kann, daß mein Sinn mehr darauf erpicht sei als auf etwas andres, so ist es das Legen des Selbstmordes. Probierts also nicht erst! Ha ha! Jetzt verstehen wir einander.«

Toby wußte nicht, sollte er sich mehr grämen oder freuen, als er bemerkte , daß Meg totenblaß wurde und die Hand ihres Verlobten fallen ließ.

»Und was Euch betrifft, Ihr junger Bullenbeißer,« fuhr der Alderman fort, indem er sich mit erhöhter Heiterkeit und Leutseligkeit an den jungen Schmied wandte, »was fällt Euch denn ein, daß Ihr heiraten wollt? Wozu braucht Ihr überhaupt das Heiraten, Ihr einfältiger Mensch? Wenn ich ein hübscher, starker junger Bursche wäre wie Ihr, so würde ich mich schämen, so milchsuppig zu sein, um mich an die Schürzenbänder eines Weibes zu hängen! Sie ist ein altes Weib, bevor Ihr ein Mann in den besten Jahren seid! Und Ihr werdet dann eine schöne Figur machen, wenn Euch auf Schritt und Tritt eine Schmutzliese von Frau und ein Haufen krakeelender Kinder nachschreien!«

Oh, wie angenehm wußte Alderman Cute mit den gemeinen Leuten zu scherzen!

»So – jetzt packt Euch und bereut,« sagte der Alderman. »Macht keine solchen Narren aus Euch, am Neujahrstag zu heiraten. Bevor sich dieser Tag jährt, seid Ihr längst andrer Meinung – so ein schmucker junger Bursche wie Ihr, nach dem sich alle Mädels den Hals ausrecken. Also! Geht jetzt!«

Und sie gingen. Nicht Arm in Arm, Hand in Hand oder leuchtende Blicke austauschend: sondern sie in Tränen, er aber düster und niedergeschlagen. Waren dies die Herzen, die erst kürzlich noch das des alten Toby aufhüpfen machten aus seiner Schwäche? Nein, nein. Der Alderman – Segen über sein Haupt! – hatte es ihnen ›gelegt‹.

»Da Ihr zufällig hier seid,« sagte der Alderman zu Toby, »so könnt Ihr mir einen Brief besorgen. Wie stehts aber mit der Geschwindigkeit? – Ihr seid ein alter Mann.«

Toby, der ganz betäubt Meg nachgesehen hatte, versuchte zu murmeln, daß er sehr hurtig und recht gut bei Kräften sei.

»Wie alt seid Ihr?« fragte der Alderman.

»Sechzig vorbei, Sir,« versetzte Toby.

»Der Mann hat das Durchschnittsalter weit überschritten,« fiel Herr Filer ein, als ob seine Geduld wohl einer Heimsuchung fähig sei, dies aber wirklich die Sache ein wenig zu weit treiben heiße.

»Ich spüre wohl, daß ich zur Last bin, Sir,« sagte Toby. »Ich – ich habs schon heute morgen geargwöhnt. Ach du mein Himmel!«

Der Alderman unterbrach ihn, indem er einen Brief aus seiner Tasche zog und ihn Toby Veck übergab. Letzterer würde dazu auch einen Schilling erhalten haben; da aber Herr Filer deutlich bewies, daß er in diesem Fall eine gewisse gegebene Anzahl von Personen je um neuneinhalb Pence bringe, so erhielt er nur ein Sechspencestück und war schon darüber überglücklich.

Dann gab der Alderman jedem seiner Freunde einen Arm und zog triumphierend von dannen; unmittelbar darauf kam er jedoch eiligst allein zurück, als ob er etwas vergessen hätte.

»Dienstmann!« sagte der Alderman.

»Sir!« versetzte Toby.

»Gebt auf Eure Tochter acht. Sie ist viel zu schön.«

»Vermutlich hat sie auch ihr hübsches Gesicht jemandem gestohlen,« dachte Toby, indem er das Sechspencestück in seiner Hand ansah und an die Kuttelflecke dachte. »Sollte mich nicht wundern, wenn sie fünfhundert vornehmen Damen je ein Stück Blüte entrissen hätte. ’s ist ja ganz schrecklich!«

»Sie ist viel zu schön, mein guter Mann,« wiederholte der Alderman. »Ich sehe klar voraus, daß es mit ihr kein gutes Ende nehmen wird. Merkt auf das, was ich Euch sage, und habt ein wachsames Auge auf sie!«

Mit diesen Worten eilte er wieder fort.

»Überall Unrecht – überall Unrecht!« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend. »Schon als schlecht geboren! Nichts hier zu schaffen!«

Die Glocken tönten hallend zusammen, als er diese Worte sprach – voll, laut und kräftig tönend, aber ohne Ermutigung. Nein, keine Spur davon.

»Die Weise hat sich geändert,« rief der alte Mann, als er aufhorchte. »‹s ist nicht eine Silbe darin, an der man eine Freude haben könnte. Doch warum auch? Was geht mich das neue oder das alte Jahr an? Laßt mich sterben!«

Dennoch hallten die Töne fort, daß die ganze Luft in Schwingungen geriet: »Leg es ihnen, leg es ihnen! Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen! Leg es ihnen, leg es ihnen!« Wenn sie überhaupt etwas sagten, So sagten sie nur dies, bis es in Tobys Gehirn zu kreisen begann.

Er preßte seinen armen, wirren Kopf in beide Hände, als ob er ihn vor dem Zerspringen bewahren wollte. Dies war eine Bewegung zur rechten Zeit, denn sie ließ ihn in der einen Hand den Brief fühlen, und so wurde er an seinen Auftrag erinnert. Mechanisch setzte er sich in seinen gewöhnlichen Trab und trottete von hinnen.

Das zweite Viertel


Das zweite Viertel

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Der Brief, den Toby von Alderman Cute erhalten hatte, war an einen großen Mann in dem großen Distrikt der Stadt adressiert. Der größte Distrikt der Stadt. Er mußte es auch wohl sein, weil er allgemein von seinen Einwohnern die ›Welt‹ genannt wurde.

Der Brief kam entschieden Tobys Hand weit schwerer vor, als ein andrer Brief – nicht weil ihn der Alderman mit einem sehr großen Wappen und einer endlosen Lackverschwendung gesiegelt hatte, sondern wegen des wichtigen Namens auf dem Umschlag und der schweren Menge von Gold und Silber, an die er erinnerte.

»Wie ganz verschieden von uns!« dachte Toby in aller Einfalt, als er die Adresse las. »Wenn man die zum Tod bestimmten Schildkröten durch die Anzahl der vornehmen Leute teilte, die sie kaufen könnten, würde er nur seinen eignen Anteil beanspruchen und würde es verachten, irgendeinem Menschen die Kuttelflecke vor dem Mund wegzuschnappen!«

Mit der unwillkürlichen Huldigung, die einem so hochstehenden Charakter gebührte, brachte Toby einen Zipfel seiner Schürze zwischen den Brief und seine Finger.

»Seine Kinder,« fuhr Trotty fort, und ein Nebel legte sich vor seine Augen, »seine Töchter – vornehme Herren können kommen, ihre Herzen gewinnen und sie heiraten. Sie dürfen glückliche Weiber und Mütter werden – sind vielleicht schön, wie meine liebe M – e –.«

Er konnte den Namen nicht zu Ende bringen, denn der letzte Buchstabe schwoll in seiner Kehle zum Umfang des ganzen Alphabets an.

»Doch gleichviel,« dachte Trotty. »Ich weiß, was ich meine, und das ist mehr als genug für mich.«

Und mit dieser tröstlichen Betrachtung trabte er weiter.

Es hatte an diesem Tag hart gefroren, und die Luft war stärkend, frisch und klar. Die winterliche Sonne gab zwar keine Wärme, blickte aber glänzend auf das Eis nieder, das sie nicht schmelzen konnte, und ließ darin ihre Strahlen spiegeln. Zu andern Zeiten hätte Trotty vielleicht dieser Wintersonne eine Lehre für den armen Mann abgewinnen können, aber er war jetzt darüber hinaus.

Das Jahr war sterbensalt an diesem Tag. Das geduldige Jahr hatte die Vorwürfe und Schmähungen seiner Lästerer überlebt und war getreulich mit seinem Werk zustande gekommen. Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Es hatte sich durch den ihm angewiesenen Kreislauf gearbeitet und legte jetzt sein müdes Haupt nieder, um zu sterben. Abgeschnitten von aller Hoffnung, von allen starken Impulsen, von allem Lebendigen, und nur noch ein Bote vieler Freuden für andre, verlangte es weiter nichts, als daß man sich seiner vielen mühsamen Tage und geduldigen Stunden erinnere und es dann in Frieden hinscheiden lasse. Trotty hätte aus dem entschwindenden Jahr ein Sinnbild des armen Mannes lesen können – aber er war jetzt darüber hinaus.

Und nur er? Oder war vielleicht seit siebzig Jahren derselbe Aufruf zumal an jeden englischen Arbeiter ergangen, aber vergeblich?

Die Straßen waren sehr belebt und die Läden prunkhaft ausgestattet. Wie einem jugendlichen Erben der ganzen Welt sah man dem neuen Jahr mit Freude, Willkomm und Geschenken entgegen. Da lagen Bücher und Spielzeug für das neue Jahr, funkelndes Geschmeide für das neue Jahr, Anzüge für das neue Jahr, Glücksentwürfe für das neue Jahr; neue Erfindungen, um es um seine Zeit zu betrügen. Sein Leben war in Kalendern und Taschenbüchern haargenau eingeteilt; das Erscheinen der Monde, der Sterne und der Gezeiten war im voraus bis auf die Sekunde bekannt; ja sogar das Wirken der Jahreszeiten bei Tag und bei Nacht war mit ebenso großer Genauigkeit berechnet, wie Herr Filer aus Männern und Weibern Summen herausarbeiten konnte.

Das neue Jahr, das neue Jahr – überall das neue Jahr! Das alte betrachtete man schon als tot, und seine Effekten wurden spottbillig verkauft, wie die eines ertrunkenen Matrosen an Bord. Seine Moden wurden schon der Vergangenheit beigezählt und fielen als Opfer, ehe noch sein Atem ausgegangen war. Seine Schätze waren bloßer Schmutz neben den Reichtümern des neugeborenen Nachfolgers!

Trotty dachte für sich: »Du hast doch keinen Teil weder an dem neuen noch an dem alten Jahr.«

»Leg es ihnen, leg es ihnen! Tatsachen und Zahlen, Tatsachen und Zahlen. Gute alte Zeiten, gute alte Zeiten! Leg es ihnen, leg es ihnen!« – sein Trab ging nach diesem Takt und wollte sich in keinen andern schicken.

Doch auch dieser, so traurig er war, brachte ihn endlich ans Ende seiner Wanderung nach der Wohnung des Sir Joseph Bowley, Parlamentsmitglied.

Die Tür wurde durch einen Portier geöffnet. Und noch dazu durch was für einen Portier! Kein Porter2 von Tobys Rang. Etwas ganz andres. Und bei seiner Stellung konnte er die Botengänge wohl entbehren; nicht aber Toby.

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Dieser Portier mußte zuvor schwer schnauben, ehe er sprechen konnte; denn er hatte sich außer Atem gehetzt, weil er unvorsichtigerweise von seinem Stuhl aufgestanden war, ohne daß er sich zuvor Zeit genommen hatte, darüber nachzudenken und sein Gemüt zu beruhigen. Als er endlich seine Stimme gefunden hatte – freilich dauerte dies eine geraume Zeit, denn sie war weg und unter einer Last Fleisch verborgen – begann er in fettem Geflüster:

»Von wem ists?«

Toby sagte es ihm.

»Ihr müßt es selbst hineintragen,« sagte der Portier, nach einem Zimmer am Ende eines langen Ganges deutend, der an die Halle stieß. »An diesem Tag des Jahres geht alles direkt hinein. Ihr kommt nicht eine Sekunde zu früh, denn der Wagen steht schon vor der Tür, und sie sind ausdrücklich nur für ein paar Stunden nach der Stadt gekommen.«

Toby wischte sich sorgfältig die Füße ab, obschon sie ganz trocken waren, und schlug den ihm angedeuteten Weg ein. Während er durch die Halle trottete, bemerkte er, daß es ein schauerlich großartiges Haus war, aber alles so still und verhüllt, als befände sich die Familie auf dem Land. Er klopfte an die Zimmertür, und als er auf ein ›Herein!‹ eintrat, gelangte er in ein geräumiges Bibliothekzimmer, in dem vor einem mit Papieren bedeckten Tisch eine stattliche Dame im Hut saß. Ein nicht sehr stattlicher, schwarz gekleideter Gentleman schrieb, was sie diktierte, und ein andrer älterer und viel stattlicherer Gentleman, dessen Hut und Stock auf dem Tisch lagen, ging auf und ab, die eine Hand in die Brust steckend und von Zeit zu Zeit sein eignes Porträt in Lebensgröße, das über dem Kamin hing, betrachtend.

»Was ist dies?« fragte der letzterwähnte Gentleman. »Herr Fish, wollen Sie nicht die Güte haben, sich darum zu kümmern?«

Herr Fish bat um Verzeihung, nahm Toby den Brief ab und überreichte ihn mit großer Ehrfurcht.

»Von Alderman Cute, Sir Joseph.«

»Ist dies alles? Habt Ihr sonst nichts, Austräger?« fragte Sir Joseph.

Toby antwortete verneinend.

»Habt Ihr keinen Wechsel, keine Forderung an mich, von welcher Seite her es auch sein mag?« sagte Sir Joseph. »Mein Name ist Bowley – Sir Joseph Bowley; wenn Ihr etwas habt, so gebt es her. Herr Fish hat ein Scheckbuch neben sich liegen. Ich lasse nichts ins neue Jahr hinübergehen. Jede Art Rechnung muß in diesem Haus am Schluß des alten beglichen werden, damit, wenn der Tod – wenn der Tod …«

»Mich wegraffen sollte,« ergänzte Herr Fish.

»Die Saite meines Daseins zerreißen sollte, Sir,« erwiderte Sir Joseph mit großer Strenge – »meine Angelegenheiten hoffentlich im Zustande der Vorbereitung gefunden werden.«

»Mein teurer Sir Joseph!« sagte die Dame, die viel jünger war als der Gentleman. »Wie entsetzlich!«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, der wie unter der ungeheuerlichen Tiefsinnigkeit seiner Bemerkungen hin und wieder stockte, »zu dieser Zeit des Jahres müssen wir an – an – uns selbst denken. Wir sollten Einsicht nehmen in – in unsre Rechnungen. Wir sollten fühlen, daß jede Wiederkehr einer so ereignisvollen Periode im menschlichen Leben Dinge mit sich führt – Dinge von tiefer Bedeutung zwischen dem Menschen und seinem – und seinem Bankier.«

Sir Joseph entledigte sich dieser Worte in einer Weise, als fühle er die volle Moralität derselben und wünsche, daß sogar Trotty Gelegenheit habe, sich an einem derartigen Gespräch zu erbauen. Vielleicht lag dies in seiner Absicht, weil er immer das Siegel des Briefes noch uneröffnet ließ und zu Trotty sagte, er solle noch eine Minute warten.

»Mylady, Sie wollten Herrn Fish schreiben lassen…«, bemerkte Sir Joseph.

»Herr Fish hat es, glaube ich, schon geschrieben,« versetzte die gnädige Frau, nach dem Brief hinsehend. »Aber auf mein Wort, Sir Joseph, ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann. Es ist so kostspielig.«

»Was ist kostspielig?« fragte Sir Joseph.

»Dieser Wohltätigkeitsverein, mein Lieber. Sie gestatten nur zwei Stimmen für eine Unterzeichnung von fünf Pfund. Das ist in der Tat zu arg.«

»Mylady Bowley,« entgegnete Sir Joseph, »Ihr setzt mich in Erstaunen. Steht der Hochgenuß des Gefühls im Verhältnis zu der Anzahl der Stimmen, oder steht er für eine edle Seele im Verhältnis zu der Anzahl der Bewerber und der ganzen Gesinnung, in die sie durch ihre Bewerbung versetzt werden? Liegt nicht Aufregung der reinsten Art in dem Umstand, unter fünfzig Personen über zwei Stimmen zu verfügen?«

»Ich gestehe, für mich nicht, denn man langweilt sich dabei,« entgegnete die gnädige Frau. »Außerdem kann man sich keine Freunde verbinden. Doch ich weiß ja, Ihr seid des armen Mannes Freund, Sir Joseph, und denkt anders.«

»Ich bin allerdings des armen Mannes Freund,« bemerkte Sir Joseph, nach dem anwesenden armen Mann hinblickend. »Als solchen mag man mich immerhin verhöhnen, wie man mich schon verhöhnt hat; ich verlange dennoch keinen ändern Titel!«

»Gott segne diesen edlen Gentleman!« dachte Trotty.

»Mit Cute da zum Beispiel bin ich nicht einverstanden,« sagte Sir Joseph, indem er den Brief ausstreckte. »Ebensowenig sagt mir Filers Partei zu. Ich will nichts von einer Partei wissen. Mein Freund, der arme Mann, hat nichts mit irgend etwas dieser Art zu schaffen, und solche Dinge gehen ihn auch durchaus nichts an. Mir liegt mein Freund, der arme Mann in meinem Distrikt, am Herzen, und kein Mensch und keine Parteigruppe, mögen ihrer auch noch so viele sein, haben ein Recht, sich zwischen mich und meinen Freund zu drängen. Dies ist das Feld, von dem ich nicht weiche. Ich stehe meinem Freunde in der – in der Eigenschaft eines Vaters gegenüber und sage zu ihm: »mein guter Bursche, ich will väterlich an dir handeln.«

Toby hörte mit großem Ernst zu – es wurde ihm nachgerade wohler zumute.

»Mein guter Freund,« fuhr Sir Joseph fort, indem er zerstreut nach Toby hinblickte, »du hast in diesem Leben nichts – ganz und gar nichts zu tun, als dich auf mich zu verlassen, und brauchst dich nicht zu bemühen, über irgend etwas nachzudenken. Ich will für dich denken, denn ich weiß, was gut für dich ist, und bin stets dein Vater. Dies ist die Fügung einer allweisen Vorsehung! Du bist nicht dazu geschaffen, um zu schlemmen, zu trinken und wie das Vieh deine Lust im Essen zu suchen« – Toby dachte mit Gewissensbissen an seine Kuttelflecke – »du sollst nur die Würde der Arbeit fühlen. Geh aufrecht hinaus in die erfrischende Morgenluft und – und bleibe daselbst. Lebe spärlich und mäßig, benimm dich respektvoll, übe dich in der Selbstverleugnung, erziehe deine Familie mit fast nichts, zahle deine Steuer so regelmäßig als die Uhr schlägt, sei pünktlich in deinem Verkehr – ich gebe dir darin ein gutes Beispiel, denn du wirst Herrn Fish, meinen Geheimschreiber, stets mit einer Geldtruhe vor sich sehen – und du kannst auf mich als auf deinen Freund und Vater bauen.«

»In der Tat, saubere Kinder, Sir Joseph,« sagte die Dame mit einem Schauder. »Rheumatismen, Fieber, verkrümmte Beine, Asthma und dergleichen Schrecken.«

»Mylady,« versetzte Sir Joseph mit Feierlichkeit, »nichtsdestoweniger bin ich des armen Mannes Freund und Vater. Nichtsdestoweniger soll er aus meinen Händen Ermutigung erhalten. An jedem Vierteljahrstag kann er sich mit Herrn Fish besprechen. An jedem Neujahrstag werde ich mit Freunden auf seine Gesundheit trinken. Einmal im Jahr werden ich selbst und meine Freunde tief empfundene Worte an ihn richten. Einmal in seinem Leben kann er vielleicht öffentlich und in Anwesenheit der Honoratiorenschaft sogar eine Kleinigkeit von einem Freund erhalten. Und wenn er, nicht mehr durch derartige Antriebe und durch die Würde der Arbeit aufrechtgehalten, in sein trostreiches Grab sinkt, dann, Mylady« – hier blies Sir Joseph seine Nase auf – »werde ich unter denselben Bedingungen ein Freund und Vater sein – seinen Kindern.«

Toby fühlte sich tief bewegt.

»O! Da habt Ihr auch eine dankbare Familie, Sir Joseph!« rief seine Gattin.

»Mylady,« versetzte Sir Joseph in majestätischem Ton, »Undank ist bekanntermaßen die Sünde dieser Klasse. Ich erwarte keinen andern Lohn.«

»Ah! schon als schlecht geboren!« dachte Toby. »Nichts kann unser verhärtetes Gemüt rühren.«

»Was ein Mensch tun kann, geschieht von meiner Seite aus,« fuhr Sir Joseph fort. »Ich erfülle meine Pflicht als des armen Mannes Freund und Vater und bemühe mich, seinen Geist zu bilden, indem ich ihm bei allen Gelegenheiten die eine große moralische Lehre, die diese Klasse braucht, ans Herz lege. Das heißt, unbedingte Abhängigkeit von mir. Sie haben durchaus nichts mit – mit sich selbst zu schaffen. Aber auch wenn gottlose und hinterlistige Personen sie eines andern belehren wollen – wenn sie ungeduldig und unzufrieden werden, sich eines unbotmäßigen Betragens und schwarzen Undanks schuldig machen, was ohne Zweifel der Fall sein wird, bleibe ich dennoch ihr Freund und Vater. Es ist so von der Vorsehung verordnet und liegt in der Natur der Dinge.«

Mit diesem großartigen Gefühl öffnete er den Brief des Alderman und las ihn.

»In der Tat sehr höflich und aufmerksam!« rief Sir Joseph. »Mylady, der Alderman ist so verbindlich, mich zu erinnern, daß er die ›ausgezeichnete Ehre‹ hatte – er ist sehr gütig – mich in dem Haus unsres gemeinschaftlichen Freundes, des Bankiers Deedles, zu treffen, und erweist mir die Gunst, anzufragen, ob es mir angenehm sei, wenn er Will Fern das Handwerk lege.«

»Höchst angenehm!« versetzte Lady Bowley. »Der Schlimmste von allen! Hoffentlich hat er einen Raub begangen.«

»Ei nein,« entgegnete Sir Joseph, in den Brief blickend. »Nicht ganz. Zwar nahe daran, aber nicht ganz. Es scheint, daß er nach London kam, um sich nach Arbeit umzusehen (sich zu verbessern, sagt er), und da wurde er denn nachts in einem Schuppen schlafend gefunden, in Haft genommen und am andern Morgen vor den Alderman gebracht. Der Alderman bemerkt (und zwar sehr richtig), daß er fest entschlossen sei, mit derartigen Vorkommnissen aufzuräumen, und wenn es mir angenehm sei, daß man es Will Fern endlich lege, so schätze er sich glücklich, mit ihm den Anfang zu machen.«

»Jedenfalls soll ein Exempel an ihm statuiert werden,« entgegnete die gnädige Frau. »Als ich letzten Winter unter den Männern und Knaben des Dorfes als eine hübsche Abendbeschäftigung das Spitzen und Öhren der Nadeln einführte und bei dieser Gelegenheit den Vers

>

O laßt uns unsre Arbeit üben,
Den Squire und dessen Haus stets lieben,
Von unserm Tagsverdienste leben,
Uns unsres Stands nicht überheben

in Musik setzte, damit sie ihn dazu sängen, langte derselbige Fern – ich kann ihn noch sehen – an seinen Hut und sagten ›Bitt demütig um Verzeihung, Mylady, aber ist nicht doch noch ein Unterschied zwischen mir und einem großen Mädchen?‹ Natürlich erwartete ich dies, denn von dieser Klasse ist doch nichts als Unverschämtheit und Undank vorauszusehen. Doch warum sollte ich mich auch ereifern! Sir Joseph, laßt ein Exempel an ihm statuieren.«

»Hm!« hustete Sir Joseph. »Herr Fish, wollen Sie so gut sein, aufzumerken …«

Herr Fish ergriff augenblicklich seine Feder und schrieb, wie ihm Sir Joseph diktierte.

>

»Privat.

Mein teurer Sir!

Ich bin Euch für Eure Höflichkeit in der Sache dieses William Fern, von dem ich leider nichts Günstiges sagen kann, sehr verpflichtet. Ich habe mich ihm gegenüber stets im Lichte eines Vaters und Freundes gesehen, bin aber (wie es leider nur zu gewöhnlich der Fall ist) mit Undank und beharrlicher Opposition gegen meine Pläne belohnt worden. Er ist ein unruhiger, rebellischer Geist. Sein Charakter duldet kein Erforschen. Nichts wird ihn dazu vermögen, glücklich zu sein, da er es doch so gut könnte. Unter diesen Umständen gestehe ich, daß Ihr meiner Ansicht nach der Gesellschaft einen Dienst leisten und ein heilsames Beispiel in einem Land geben würdet – wo, sowohl um derer willen, die im guten oder im bösen Ruf eines Vaters und Freundes der Armen stehen, als auch mit Rücksicht auf die irregeleitete Klasse selbst, Beispiele so nötig sind – wenn Ihr diesen Mann für einige Zeit als Vagabunden einsperren ließet, falls sich derselbe, wie er Euch in dem Verhör versprochen hat (und ich zweifle nicht, daß er Wort halten wird), wieder bei Euch einstellen sollte. Ich verbleibe« usw.

»Es kommt mir vor,« bemerkte Sir Joseph, als er diesen Brief unterzeichnet hatte und Herr Fish ihn eben versiegelte, »als ob dies wahrhaftig eine Verordnung der Vorsehung sei. Am Schluß des Jahres kann ich sogar mit William Fern meine Rechnung begleichen und meine Bilanz aufstellen.«

Trotty, dem der Mut schon längst wieder ganz und gar entsunken war, trat jetzt mit einer Jammermiene vor, um den Brief in Empfang zu nehmen.

»Mit meinem Kompliment und meinem Danke,« sagte Herr Joseph. »Halt!«

»Halt!« wiederholte Fish.

»Ihr habt vielleicht gewisse Bemerkungen gehört,« fuhr Sir Joseph orakelhaft fort, »zu denen ich mich durch den feierlichen Zeitpunkt, an dem wir angelangt sind, und durch die gebieterische Pflicht, in einem solchen Augenblick alle häuslichen Angelegenheiten zu ordnen, verleiten ließ. Ihr habt bemerkt, daß ich mich nicht hinter meine hohe Stellung in der Gesellschaft verschanze, sondern daß Herr Fish – dieser Gentleman da – ein Scheckbuch neben sich liegen hat und nur dazu hier ist, um mich in den Stand zu setzen, ein vollkommen neues Blatt aufzuschlagen, damit die neue Epoche mit einem vollkommen reinen Buche angetreten werden kann. Nun, mein Freund, seid Ihr gleichfalls imstande, Eure Hand aufs Herz zu legen und zu sagen, daß Ihr Eure Vorbereitungen für ein neues Jahr getroffen habt?«

»Ich fürchte, Sir,« stammelte Trotty, ihn demütig anblickend, »daß ich mit der Welt ein – ein – wenig im Rückstand bin.«

»Im Rückstand mit der Welt?« wiederholte Sir Joseph Bowley in einem Ton von erschreckender Deutlichkeit.

»Ich fürchte, Sir,« stotterte Trotty, »daß da noch zehn oder zwölf Schilling sind, die ich Frau Chickenstalker schuldig bin.«

»Frau Chickenstalker schuldig?« wiederholte Sir Joseph in demselben Ton wie zuvor.

»Sie hält einen Laden, in dem alles zu haben ist,« entgegnete Toby. »Auch ein – ein wenig fehlt noch an der Hausmiete. Nur sehr wenig, Sir. Ich weiß, wir sollten nichts schuldig sein, aber es ist uns wahrhaftig recht schlimm ergangen.«

Sir Joseph musterte zweimal seine Gattin, Herrn Fish und Trotty im Kreis, worauf er mit beiden Händen eine trostlose Gebärde machte, als gebe er die Sache ganz und gar auf.

»Wie kann ein Mann, sogar einer aus dieser unbekümmerten und unpraktischen Rasse – ein alter Mann, ein grauer Mann, einem neuen Jahre ins Gesicht sehen, während seine Angelegenheiten sich in einem solchen Zustand beenden! Wie kann er sich nachts zu Bett legen und am Morgen wieder aufstehen, während – da!« fügte er bei, indem er Trotty den Rücken zuwandte – »nehmt den Brief, nehmt den Brief!«

»Wollte Gott, es wäre anders, Sir,« sagte Trotty, der sich sehnlichst zu entschuldigen wünschte. »Aber wir sind bitter heimgesucht worden.«

Da Sir Joseph noch immer sein »Nehmt den Brief, nehmt den Brief!« wiederholte, und Herr Fish nicht nur das gleiche sagte, sondern auch der Aufforderung dadurch einen weitern Nachdruck gab, daß er gegen die Tür wies, blieb dem armen Trotty nichts übrig, als daß er seine Verbeugung machte und das Haus verließ. Auf der Straße angelangt, zog er seinen alten, abgenützten Hut ins Gesicht, um den Schmerz zu verbergen, den er darüber fühlte, daß er nirgends dem Neujahr einen Halt abgewinnen konnte.

Er hob seine Kopfbedeckung nicht einmal, um an dem Glockenturm hinaufblicken zu können, als er auf dem Rückweg an der alten Kirche vorbeikam. Für einen Augenblick blieb er gewohnheitshalber stehen. Er wußte, daß es dunkel wurde und der Kirchturm schwach und undeutlich über ihm in die trübe Luft stieg; auch wußte er, daß die Glocken alsbald erschallen würden, und daß sie zu einer solchen Zeit wie Stimmen aus den Wolken in seine Ohren zu tönen pflegten. Aber er beeilte sich nur um so mehr, den Brief an den Alderman abzuliefern und ihnen aus dem Wege zu kommen, ehe sie anfingen, denn er fürchtete, in ihrem Bimmeln nichts andres als den ewigen Refrain »Freunde und Väter, Freunde und Väter« zu hören.

Toby sputete sich daher nach Kräften, seinen Auftrag auszurichten, und trabte dann nach Hause. Sein Gang war aber im besten Fall linkisch und wurde durch den tief ins Gesicht gedrückten Hut nicht verbessert, weshalb er nach kurzer Zeit gegen jemand anprallte, der ihn taumelnd auf den Fahrweg hinausschleuderte.

»Ich bitte um Verzeihung !« sagte Trotty, in großer Verwirrung seinen Hut in die Höhe ziehend, dessen zerrissenes Futter aber auf der Stirn sitzen blieb, so daß sein Kopf wie in einem Bienenkorb steckte. »Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Toby war kein so absoluter Samson, daß er möglicherweise irgend jemand hatte beschädigen können; dagegen lag die Wahrscheinlichkeit weit näher, daß er selbst Schaden genommen hatte, denn er war wie ein Feuerball auf die Straße hinausgeflogen. Dennoch hatte er eine so hohe Meinung von seiner eignen Kraft, daß er um den andern wirklich besorgt war und noch einmal fragte:

»Hoffentlich habe ich Euch nicht verletzt?«

Der Mann, gegen den er angerannt war, ein sonnverbrannter, muskulöser Bauer mit grauen Haaren und rauhem Kinn, stierte ihn einen Augenblick an, als glaube er, Toby wolle sich mit ihm einen Scherz erlauben. Sobald er jedoch dessen ehrliche Miene gesehen hatte, antwortete er:

»Nein, mein Freund, Ihr habt mich nicht verletzt.«

»Und auch das Kind nicht?« fragte Trotty.

»Auch das Kind nicht,« erwiderte der Mann. »Ich danke Euch sehr.«

Bei diesen Worten blickte er auf das kleine Mädchen, das er schlafend in seinen Armen trug, beschattete ihr Gesicht mit dem langen Ende seines zerrissenen Halstuches und ging langsam weiter.

Der Ton, in dem er sagte: »Ich danke Euch sehr,« drang in Tobys Herz. Der Mann war so ermattet, von der Wanderung beschmutzt und sah so seltsam und betrübt umher, daß es ihm wohl ein Trost sein mußte, jemand danken zu können, für wie wenig es auch sein mochte. Toby blieb stehen und schaute ihm nach, wie er mit wunden Füßen weiter ging, während das Kind den Arm um seinen Hals geschlungen hatte.

Trotty hatte nur noch Augen für die Gestalt in den abgenutzten Schuhen – jetzt nur noch die Schatten und Gespenster einer Fußbekleidung – in den rauhen Lederhosen, dem Zwilchkittel und dem breitkrempigen Hute, wie sie, das an ihren Hals sich anklammernde Kind auf ihrem Arm, dahinglitt. Ehe der Wanderer in der Dunkelheit verschwand, machte er halt und blickte umher. Als er Trotty noch dastehen sah, schien er unschlüssig zu sein, ob er weitergehen oder umkehren sollte. Nachdem er zuerst das eine, dann das andre getan hatte, kam er wieder zurück, und Trotty ging ihm auf halbem Weg entgegen.

»Könnt Ihr mir vielleicht sagen,« begann der Mann mit einem matten Lächeln, »wo Alderman Cute wohnt? Wenn Ihrs wißt, werdet Ihr mir gewiß Auskunft geben. Ich frage lieber Euch, als irgend jemand andern.«

»Ganz in der Nähe,« versetzte Toby. »Ich will Euch mit Freuden sein Haus zeigen.«

»Ich sollte morgen an einem andern Ort mit ihm zusammentreffen,« sagte der Mann, neben Toby hergehend, »aber man hat einen Argwohn auf mich, und ich möchte mich von ihm reinigen, damit ich frei ausgehen und mein Brot suchen kann, obschon ich nicht weiß, wo ichs zu finden habe. Er wird mir daher wohl vergeben, wenn ich heute abend in sein Haus komme.«

»Wie – nein, unmöglich!« rief Toby zusammenfahrend. »Ihr werdet doch nicht Fern heißen?«

»He?« entgegnete der andre, sich erstaunt gegen den Dienstmann umwendend.

»Fern? Will Fern?« sagte Trotty.

»Das ist mein Name,« versetzte der Mann.

»Dann, ums Himmels willen, geht nicht zu ihm!« rief Trotty, ihn am Arm fassend und vorsichtig umherblickend. »Geht nicht zu ihm! Er wird Euch hopp nehmen, so wahr Ihr geboren seid. Da – kommt in dieses Gäßchen herauf; ich will Euch dann sagen, was ich meine. Aber zu ihm müßt Ihr nicht gehen.«

Der Mann sah Toby an, als halte er ihn für toll, folgte ihm aber demungeachtet. Sobald sie sich aller Beobachtung entzogen hatten, teilte ihm Trotty alles mit, was er im Hause des Sir Joseph Bowley über ihn vernommen und was man über seinen Charakter gesagt hatte.

Der Fremde hörte mit einer Ruhe zu, die unsern armen Trotty in Erstaunen setzte. Er widersprach auch nicht ein einziges Mal, sondern nickte nur hin und wieder, mehr wie zur Bekräftigung einer alten Alltagsgeschichte, wie es schien, als in der Absicht, sie von sich abzuweisen. Ein- oder zweimal schob er seinen Hut zurück und fuhr mit der sommersprossigen Hand über eine Stirn, wo jede Furche, die er gepflügt hatte, ihr Bild im kleinen abgedrückt zu haben schien. Doch dies war alles.

»Es ist in der Hauptsache wahr genug,« sagte er. »Ich könnte zwar da und dort den Weizen von der Spreu sichten – aber lassen wirs lieber. Wozu auch? Ich habe gegen seine Pläne gehandelt, und das ist mein Unglück, obschon ich nicht anders konnte und es morgen wieder ebenso machen würde. Was den Charakter betrifft, so spähen und spähen diese vornehmen Leute und wollen ihn frei von allem Makel haben, ehe sie uns mit einem dürren, guten Worte aushelfen! Na, ich hoffe, daß sie ihren guten Leumund nicht so leicht verlieren als wir, denn ihr Leben wäre dann schlimm genug, und es verlohnte sich kaum der Mühe, es zu erhalten. Was mich betrifft, Herr, so hat diese Hand« – er streckte sie vor sich aus – »nie etwas angetastet, das nicht mein Eigentum war, und ist nie zurückgeschreckt vor der Arbeit, wie schwer sie auch und wie ärmlich der Lohn sein mochte. Wer dies leugnen kann, der soll sie mir abhacken. Aber wenn mich die Arbeit nicht wie ein menschliches Geschöpf erhält – wenn ich so schlecht leben muß, daß ich in und außer dem Haus hungere – wenn ich sehe, daß ein ganzes Leben voll Tätigkeit so beginnt, so fortmacht und so endet, ohne eine Aussicht auf einen Wechsel, dann sage ich zu dem vornehmen Volk: ›Haltet euch fern von mir und laßt meine Hütte ungeschoren! Meine Türen sind dunkel genug, ohne daß noch euer Schatten dazu kommt. Von mir dürft ihr nicht verlangen, daß ich in dem Park die Schaustellung vermehren helfe, wenns da einen Geburtstag, eine schöne Rede oder weiß der Himmel was gibt. Führt eure Komödien ohne mich auf, und mögen sie euch wohl bekommen. Wir haben nichts miteinander zu schaffen, und ’s ist am besten, wenn man mich gehen läßt!‹«

Da er bemerkte, daß das Kind in seinen Armen jetzt die Augen geöffnet hatte und verwundert umhersah, hielt er inne, plauderte ein bißchen in seinem Kinderkauderwelsch mit ihm und stellte es neben sich auf die Erde. Dann wand er sich langsam eine der langen Locken des Mädchens wie einen Ring um den Finger, und während die Kleine sich an sein staubiges Bein anklammerte, sagte er zu Trotty.

»Ich bin, glaub ich, nicht von Natur aus widerhaarig und lasse mich leicht zufriedenstellen. Auch trage ich niemand einen Groll nach und wünsche nur zu leben, wie die andern Geschöpfe Gottes. Das kann ich nicht – das tu ich nicht, und so liegt denn eine tiefe Kluft zwischen mir und denen, die es können und tun. Es gibt noch viele, denen es geradeso ergeht wie mir, und Ihr könnt sie eher zu Hunderten und Tausenden abzählen als zu Einern.«

Trotty wußte, daß der Mann hierin die Wahrheit sprach, und nickte zustimmend.

»Ich habe dadurch einen schlimmen Namen erhalten«, sagte Fern, »und fürchte, daß ich wahrscheinlich nie zu einem bessern kommen werde. Es ist gesetzwidrig, unmutig zu sein, und ich bin wirklich unmutig, obgleich Gott weiß, daß ich weit lieber frohgemut wäre, wenn ichs sein könnte. Nun, ich weiß nicht, ob dieser Alderman mir weh tun könnte, wenn er mich ins Gefängnis schickte; aber falls nicht ein Freund ein Wort für mich spräche, so wär ers wohl imstande, und Ihr seht…!«

Er deutete mit dem Finger auf das Kind.

»Sie hat ein schönes Gesicht,« sagte Trotty.

»Ei ja!« entgegnete der Mann mit gedämpfter Stimme, indem er das kleine Gesichtchen mit beiden Händen sanft zu sich emporrichtete und es unverwandt anschaute, »Das habe ich mir schon oft gedacht. Daran dachte ich, wenn mein Herd sehr kalt und mein Schrank leer war. Daran dachte ich erst gestern nacht, als wir wie zwei Diebe aufgegriffen wurden. Aber sie – sie sollten das kleine Gesicht nicht zu oft vor Gericht bringen – meinst nicht, Lilian? Das ist kaum einem Mann erwünscht!«

Er dämpfte feine Stimme fast bis zur Lautlosigkeit und starrte das Kind so seltsam und ernst an, daß Toby, um seinen Gedanken eine andre Richtung zu geben, die Frage stellte, ob sein Weib noch am Leben sei.

»Ich habe nie ein Weib gehabt,« entgegnete er mit Kopfschütteln. »Sie ist meines Bruders Kind – eine Waise – neun Jahre alt, obschon Ihrs kaum glauben würdet; aber sie ist jetzt müde und abgezehrt. Die Union wollte die Sorge für sie übernehmen und sie achtundzwanzig Meilen von dem Orte, wo wir wohnen, zwischen vier Wände einsperren, wie sie‹s auch meinem alten Vater machten, als er nicht mehr arbeiten konnte, obschon er ihnen nicht lange lästig fiel. Da hab denn ich sie zu mir genommen, und sie lebt bei mir. Ihre Mutter hatte einmal eine Freundin hier in London. Wir wollen versuchen, ob wir sie nicht entdecken und zugleich Arbeit finden können; aber ’s ist ein großer Platz. Nun ja, ’s ist auch recht – wir haben dafür um so mehr Raum umherzugehen, Lilly!«

Er sah das Kind mit einem Lächeln an, das Toby mehr als zu Tränen rührte, und drückte dann dem armen Austräger die Hand.

»Ich kenne Euch zwar nicht einmal dem Namen nach,« sagte er, »aber ich habe Euch mein Herz ausgeschüttet, denn ich bin Euch dankbar – und zwar aus gutem Grund. Ich will Euern Rat befolgen und mich fern halten von diesem …«

»Friedensrichter,« ergänzte Toby.

»Ah!« fuhr er fort; »wenn dies der Name ist, den man ihm gibt. Von diesem Friedensrichter. Und morgen will ich versuchen, ob mir nicht irgendwo in der Nähe von London ein besseres Glück blüht. Gute Nacht. Ein glückliches Neujahr!«

»Halt!« rief Trotty, die Hand des andern fest umklammernd, als sie sich losmachen wollte. »Halt! das Neujahr kann nicht glücklich für mich sein, wenn wir uns so trennen. Wie könnte ich auch von einem glücklichen Neujahr sprechen, wenn ich mit ansehen müßte, wie Ihr mit dem Kind weiter zieht, ohne zu wissen, wohin, und ohne ein Obdach für die Nacht. Kommt mit mir nach Hause! Ich bin zwar nur ein armer Mann und habe bloß ein elendes Quartier; aber ich kann Euch doch für eine Nacht ein Lager geben, ohne es zu entbehren. Kommt mit mir! So, ich will sie nehmen!« fügte Trotty bei, indem er das Kind aufhob. »Eine hübsche Kleine! Ich wollte mir zwanzigfach ihr Gewicht aufladen lassen, ohne daß ich es besonders spürte. Sagt mir, ob ich vielleicht zu schnell für Euch gehe – ’s ist meine Gewohnheit zu eilen!«

Während Trotty dies sagte, mußte er stets sechs von seinen kurzen Trabschritten während eines einzigen langen seines müden Gefährten hopsen; und seine dünnen Beine zitterten unter der Last, die er trug.

»Ei, sie ist so leicht,« sagte Trotty, dessen Worte ebenso rasch und stoßweise kamen, wie sein Schritt war, denn er wollte auf keine Danksagung hören und scheute sich, eine Pause eintreten zu lassen; »so leicht wie eine Feder, leichter als eine Pfauenfeder – viel leichter. So, da sind wir – jetzt geht’s da hinein, um die erste Ecke rechts, Onkel Will, an dem Brunnen vorbei und dann den Weg hinauf, dem Wirtshaus gegenüber. Jetzt über den Weg hinüber, Onkel Will, und dort auf den Nierenpastetenmann an der Ecke zu! Da wären wir! Nun an den Ställen hinunter, Onkel Will, und dann macht Ihr an der schwarzen Tür halt, über der ›Toby Veck, Dienstmann‹ auf einem Brett geschrieben steht. So, und jetzt sind wir da, jetzt sind wir wirklich da, und jetzt wirst du dich wundern, liebe Meg!«

Mit diesen Worten setzte der atemlose Trotty das Kind unten in der Stube zu den Füßen seiner Tochter nieder. Der kleine Gast sah Meg an und lief, da er in ihrem Gesicht nichts zweifelerregendes fand, vertrauensvoll in ihre Arme.

»So, da sind wir und da bleiben wir!« rief Toby, keuchend im Zimmer umherlaufend. »Hier, Onkel Will – Ihr seht, hier ist ein Feuer! Warum kommt Ihr nicht ans Feuer? Ha, da sind wir und da bleiben wir! Meg, mein Herz, wo ist der Kessel? So – er wird augenblicklich kochen!«

Trotty hatte wirklich während seines wilden Hin- und Herrennens den Kessel aufzuheben gewußt und über das Feuer gesetzt, während Meg in einer warmen Ecke vor dem Kind niedergekniet war, um ihm die Schuhe auszuziehen und mit einem Tuch die nassen Füßchen zu trocknen. Ja, und sie lachte auch über Trotty – so vergnügt, so herzlich, daß Trotty sie augenblicklich hätte segnen mögen, denn er hatte ja beim Eintreten gesehen, wie sie in Tränen vor dem Feuer saß.

»Ei, Vater,« sagte Meg, »du bist, glaube ich, diesen Abend ganz närrisch. Ich weiß nicht, was die Glocken dazu sagen würden. Die armen Füßchen – wie kalt sie sind!«

»O, sie sind jetzt wärmer!« rief das Kind. »Sie sind jetzt ganz warm!«

»Nein, nein, nein,« sagte Meg. »Wir haben sie noch nicht halb genug gerieben. Wir sind ja so fleißig! So fleißig! Und wenn sie ganz warm sind, dann wollen wir das feuchte Haar auskämmen. Sind wir damit fertig, so wollen wir mit ein bißchen frischem Wasser einige Farbe in das arme blasse Gesicht bringen, und dann wollen wir so froh, so heiter und glücklich sein!«

Das Kind umschlang in einem Anfall von Schluchzen ihren Hals, streichelte mit seinen Händchen ihre Wange und sagte:

»O Meg! o liebe Meg!«

Tobys Segen hätte nicht mehr tun können. Wer wäre auch imstande gewesen, mehr zu tun?

»Ei, Vater!« rief Meg nach einer Pause.

»Da bin ich und da steh ich, mein Lieb!« sagte Trotty.

»Gütiger Himmel!« rief Meg, »er ist ganz von Sinnen! Setzt er da das Hütlein des lieben Kindes auf den Kessel und hängt den Deckel hinter die Tür!«

»Ich habe dies nicht mit Absicht getan, mein Lieb,« entgegnete Trotty, indem er hastig sein Versehen wieder gutmachte. »Meg, mein Kind?«

Meg blickte nach ihm hin und sah, daß er sich mit Vorbedacht hinter den Stuhl seines männlichen Gastes gestellt hatte, wo er mit vielen geheimnisvollen Gebärden das Sechspencestück, das er eingenommen, in die Höhe hielt.

»Als ich hereinkam,« sagte Trotty, »habe ich irgendwo auf der Treppe eine halbe Unze Tee liegen sehen; auch glaube ich wahrhaftig, daß ein Stückchen Speck dabei lag. Ich entsinne mich nicht mehr recht auf den Platz, will aber hingehen und sehen, ob ich’s nicht finde.«

Unter diesem unergründlich scharfsinnigen Vorwande entfernte sich Toby, um die besprochenen Lebensmittel für bares Geld bei Frau Chickenstalker zu kaufen. Er kam bald wieder zurück und sagte, er habe die Sachen anfangs in der Dunkelheit nicht finden können.

»Aber da sind sie endlich,« sagte Trotty, das Teegeschirr aufsetzend – »alles richtig! Ich wußte es ja, daß es Tee und eine schöne Schnitte war. Da, seht selbst. Meg, mein Herzchen, wenn du den Tee zurichten willst, während dein unwürdiger Vater den Speck röstet, so wird alles bald fertig fein. Es ist eine kuriose Sache,« fuhr Trotty fort, indem er mit Hilfe der Röstgabel seine Kochkunst betrieb, »kurios, aber allen meinen Freunden wohlbekannt, daß ich für meine Person mir niemals weder aus Tee noch aus Speck etwas machte. Ich sehe es nur gern, wenn andre Leute sich’s dabei wohl sein lassen,« Sagte er in sehr lautem Tone, um seinem Gast die Tatsache recht bemerklich zu machen, »obschon diese Nahrung mir selbst durchaus nicht behagt.«

Doch schnüffelte Trotty den Wohlgeruch des zischenden Specks ein – ah! – als ob er mit Freuden selbst hätte zulangen mögen, und als er das kochende Wasser in den Teetopf goß, blickte er sehnsüchtig in dessen Tiefe hinunter und ließ sich gern den würzigen Dampf um die Nase kräuseln und den Kopf von einer dichten Wolke bekränzen. Aber trotzdem genoß er nichts weiter davon, als im Anfang der Höflichkeit halber einen einzigen Bissen, der ihm ungemein gut zu schmecken schien, obschon er erklärte, daß er sich nicht das mindeste daraus mache.

Nein, Trottys Beschäftigung bestand darin, Will Fern und Lilian essen und trinken zu sehen, und das gleiche war bei Meg der Fall. Und nie fand ein Zuschauer bei einem Stadt- oder Hofbankett einen solchen Hochgenuß darin, andre – ja, wäre es sogar ein König oder ein Papst gewesen – schmausen zu sehen, als unser Pärlein an jenem Abend. Meg lächelte zu Trotty hinüber, Trotty lachte Meg an. Meg nickte und tat, als klatsche sie mit den Händen, um Trotty ihren Beifall zu erkennen zu geben, während Trotty in stummer Zeichensprache Meg eine unverständliche Geschichte erzählte, wann und wo er seine Gäste gefunden hatte. Und sie waren glücklich – sehr glücklich.

»Obgleich ich sehen muß, daß Megs Verlobung gelöst ist,« dachte Trotty bekümmert, als er Megs Gesicht betrachtete.

»Nun, jetzt werde ich Euch was sagen,« begann Trotty nach dem Tee. »Die Kleine schläft bei Meg.«

»Bei der guten Meg!« rief das Kind, sie liebkosend. »Bei Meg.«

»So ist’s recht,« sagte Trotty. »Und es sollte mich nicht wundern, wenn sie Megs Vater einen Kuß gäbe. Was meinst du, Kind? Ich bin Megs Vater.«

Trotty war hochentzückt, als sich ihm das Kind schüchtern näherte, ihn küßte und dann wieder zu Meg zurückkehrte.

»Sie ist so verständig wie Salomo,« sagte Trotty. »Da kommen und da gehen – nein, das meinte ich nicht – ich – was wollte ich denn sagen, meine liebe Meg?«

Meg blickte auf ihren Gast, der sich an ihren Stuhl gelehnt hatte und, während er das Gesicht von ihr abwandte, den in ihrem Schoß verborgenen Kopf der Kleinen streichelte.

»Natürlich,« sagte Toby. »Natürlich! Weiß ich doch wahrhaftig nicht, was ich heute abend treibe. Ich bin heute ganz zerstreut, glaube ich. Will Fern, Ihr kommt mit mir, denn Ihr seid todmüde und völlig erschöpft, weil Ihr so lange nicht geruht habt. Kommt mit mir.«

Der Mann spielte noch immer mit den Locken des Kindes, lehnte noch immer mit abgewandtem Gesicht an Megs Stuhl. Er sprach kein Wort , aber in seinen rauhen Fingern , die sich im Haar des Kindes ballten und wieder lösten, lag eine Beredsamkeit, die mehr als alle Worte sagte.

»Ja, ja,« fuhr Trotty fort, der unwillkürlich die Frage beantwortete, die auf Megs Gesicht stand. »Nimm sie mit dir, Meg. Bring sie zu Bett. So! jetzt will ich Euch zeigen, wo Ihr liegen könnt, Will. ’s ist zwar nicht viel Platz, sondern nur Heuboden; aber ein Heuboden ist, wie ich immer sage, die größte Bequemlichkeit, wenn man in Ställen wohnt; und bis dieser Schuppen und der Stall besser vermietet werden, leben wir hier sehr billig. Droben ist viel vortreffliches Heu, das einem Nachbar gehört und ein so reinliches Lager bietet, als es Hände und Meg nur machen können. Frischauf! laßt’s Euch nicht nahe gehen. Für jedes neue Jahr ein neues Herz!«

Die Hand, die sich aus dem Haar des Kindes losgemacht hatte, war zitternd in die unsers Toby gefallen, und letzterer führte nun seinen Gast, in einem fort sprechend, so zärtlich hinaus, als wäre dieser gleichfalls ein Kind.

Da er vor Meg wieder zurückkam, so horchte er einen Augenblick an der Tür ihrer an die Stube stoßenden kleinen Kammer. Die Kleine murmelte ein einfaches Nachtgebet , mit dem sie auch den Namen der »lieben Meg« in Verbindung brachte – dann hörte Trotty, wie sie innehielt und nach dem seinigen fragte.

Es dauerte eine kleine Weile, bis der törichte alte Knabe sich so weit fassen konnte, um das Feuer nachzuschüren und seinen Stuhl an den warmen Herd zu ziehen. Als es aber endlich geschehen war und er das Licht geputzt hatte, nahm er seine Zeitung auf der Tasche und begann zu lesen, anfangs gleichgültig, indem er rasch über die Spalten hinflog, sehr bald aber mit großem Ernst und trauriger Aufmerksamkeit.

Denn diese schreckliche Zeitung lenkte Trottys Gedanken abermals auf den nämlichen Pfad, auf dem sie den ganzen Tag über, namentlich infolge der erlebten Ereignisse, gewandert waren. Sein Interesse an den beiden Wanderern hatte ihn zwar für eine Weile in eine glücklichere Stimmung versetzt; sobald er aber wieder allein war und die Verbrechen und Gewalttaten der Leute las, versank er wieder in die frühere zurück.

Endlich kam er zu einem Bericht (und es war nicht der erste derartige, den er las) von einer Frau, die verzweiflungsvoll Hand nicht nur an ihr eignes Leben, sondern auch an das ihres jungen Kindes gelegt hatte. Dieses schreckliche Verbrechen wirkte so empörend auf ihn, daß er, als er dabei an Megs Liebe dachte, das Zeitungsblatt fallen ließ und entsetzt in seinen Stuhl zurücksank.

»Unnatürlich und grausam!« rief Toby. »Unnatürlich und grausam! Nur Leute von ganz verstocktem Herren, die schon schlecht geboren werden und auf Erden eigentlich nichts zu schaffen haben, können solche Taten verüben. Was ich heute den Tag über gehört habe, ist nur zu wahr, nur zu erwiesen. Wir sind schlecht!«

Die Glocken nahmen die Worte so plötzlich auf und ertönten so laut, so klar und voll, daß er meinte, ihre Stimme dringe aus seinem Stuhl hervor.

Und was sagten sie?

»Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Toby Veck, Toby Veck, wir warten auf dich, Toby! Komm, besuch uns; komm, besuch uns! – Schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns – hetzt und jagt ihn, hetzt und jagt ihn! Soll nicht schlafen! Soll nicht schlafen! Toby Veck, Toby Veck, die Tür steht offen, Toby – dann begannen sie diesen Gesang wieder von vorn und klangen dermaßen, daß die Töne sogar aus den Ziegeln und dem Mörtel hervorzuquellen schienen.

Toby lauschte. Einbildung, Einbildung! Das waren wohl nur die Gewissensbisse, weil er ihnen diesen Abend entlaufen war? Nein, nein. Nichts der Art. Aber wieder und wieder, ja noch dutzendmal erklang es: »Hetzt und jagt ihn – schleppt ihn zu uns, schleppt ihn zu uns!« die ganze Stadt betäubend.

»Meg,« sagte Trotty leise, indem er an ihre Tür klopfte. »Hörst du nichts?«

»Ich höre die Glocken, Vater. Sie sind heute abend sehr laut.«

»Schläft sie?« fuhr Toby fort, diese Frage als Vorwand benutzend, um hineinschauen zu können.

»So ruhig und glücklich! Aber ich kann sie noch nicht verlassen, Vater – schau nur, wie sie meine Hand festhält!«

»Meg!« flüsterte Trotty. »Höre nur auf die Glocken!«

Sie kehrte ihrem Vater das Gesicht zu und lauschte; aber in ihren Zügen ließ sich keine Veränderung bemerken, da sie die Glockenstimmen nicht verstand.

Trotty entfernte sich, nahm wieder bei dem Feuer Platz und lauschte abermals allein. So verblieb er eine Weile.

Aber nein, unmöglich konnte er es länger ertragen; denn ihre Ausdruckskraft war zu schrecklich.

»Wenn die Turmtür wirklich offen ist,« sagte Toby, indem er hastig seine Schürze beiseite legte, ohne jedoch an Seinen Hut zu denken, »was hindert mich dann, hinaufzugehen und mich zu überzeugen? Ist sie aber geschlossen, so brauche ich keinen weitern Beweis mehr. Dann ists genug.«

Er glitt ruhig auf die Straße hinaus, fest überzeugt, daß er die Turmtür geschlossen und verriegelt finden werde; denn er kannte die Tür wohl und hatte sie selten, vielleicht in seinem ganzen Leben nicht mehr als dreimal, offen stehen sehen. Es war ein niederes Bogenportal außerhalb der Kirche, das in einer dunkeln Nische hinter einer Säule stand, und hatte so schwere Eisenbeschläge und ein so ungeheures Schloß, daß von der Tür fast nichts zu sehen war.

Aber wie groß war sein Erstaunen, als er barhäuptig zu der Kirche kam, mit der Hand in die dunkle Nische tastete – wiewohl er gute Lust hatte, sie schaudernd wieder zurückzuziehen, weil er fürchtete, sie möchte unerwartet gepackt werden – und nun bemerkte, daß die Tür, die nach außen aufging, wirklich halb offen stand!

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In der ersten Überraschung wollte er wieder zurückgehen oder doch ein Licht oder einen Begleiter holen; sein Mut kam ihm jedoch bald zu Hilfe, und er beschloß, allein hinaufzusteigen.

»Was habe ich zu fürchtend fragte Trotty. »Es ist eine Kirche! Außerdem sind vielleicht noch die Läuter da und haben vergessen, die Tür zu schließen.«

Er ging daher hinein und tastete sich weiter wie ein blinder Mann, denn es war sehr dunkel – dazu herrschte tiefe Stille, denn die Glocken ließen keinen Laut mehr vernehmen.

Der Straßenstaub war überallhin gedrungen und lag so dicht aufgehäuft, daß der Fuß wie auf weichen Samt trat. Auch hierin lag etwas Befremdliches. Ungleich befand sich die enge Treppe so nahe an der Tür, daß er auf der ersten Stufe strauchelte. Dadurch stieß er mit dem Fuß an die Tür, daß sie anprallte und schwerfällig in ihr Schloß zurückflog, und als er sie wieder zu öffnen versuchte, war all seine Bemühung vergeblich.

Dies war jedoch nur ein Grund mehr, weiter zu gehen. Trotty tastete sich vorwärts – hinauf, hinauf, hinauf – stets kreisend hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher und höher hinauf!

Fürs Tasten war es ein sehr unangenehmes Treppenhaus , so niedrig und so schmal, daß die untersuchende Hand stets etwas berührte. Ja, es dünkte ihn oft, als stehe ein Mensch oder eine gespenstige Gestalt aufrecht da und mache Platz für ihn, damit sie unentdeckt an ihm vorbeigleiten könne. Dabei strich er mit der Hand an der glatten Mauer aufwärts, um deren Gesicht, und abwärts, um deren Füße zu suchen, während zugleich ein eisiger Schauer seinen Körper durchrieselte. Zwei- oder dreimal unterbrach eine Tür oder eine Nische die einförmige Oberfläche, und dann kam es ihm vor, als sei eine Öffnung da, so weit wie die ganze Kirche. Er meinte bei solcher Gelegenheit am Rand eines Abgrundes zu stehen, in den er kopfüber hinunterstürzen müsse, bis er die Mauer wieder gefunden hatte.

Dennoch ging es hinauf, hinauf, hinauf – im Kreis hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich begann die dumpfe, erstickende Atmosphäre frischer zu werden. Der Wind strömte durch und blies bald so stark, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Aber er gelangte an ein gewölbtes, brusthohes Fenster in dem Turm, hielt sich an demselben fest und schaute hinunter auf die Hausgiebel, die rauchenden Schornsteine und das Gewirr von Lichtern (in die Richtung, wo Meg sich jetzt vielleicht über seine Abwesenheit wunderte und nach ihm rief) – alles zu einer Teigmasse von Nebel und Dunkelheit zusammengeknetet.

Dies war der Teil des Glockenhauses, zu dem die Läuter kamen.

Er hatte eines der abgeriebenen Seile gefaßt, die durch Öffnungen in dem Eichendach niederhingen. Anfangs fuhr er zusammen, denn es kam ihm vor, als hätte er Haare ergriffen, dann aber zitterte er schon bei dem Gedanken, die tiefe Glocke zu wecken. Die Glocken selbst hingen höher, und auch Trotty tastete sich höher hinauf, dem Räuber folgend, der ihn lockte. Der Weg wurde jetzt mühsamer und führte auf steilen Leitern weiter, die dem Fuß keinen allzu sichern Halt boten.

Hinauf, hinauf, hinauf geht es, klimmend und kletternd; hinauf, hinauf, hinauf – höher, höher, höher hinauf!

Endlich kam er auf den obern Boden und gelangte, wie er den Kopf über das Gebälk erhob, unter die Glocken. Kaum vermochte er die großen Formen im Dunkel zu unterscheiden; aber da waren sie – schattenhaft, stumm und nachtumhüllt.

Ein banges Gefühl von Furcht und Einsamkeit bemächtigte sich seiner augenblicklich , als er in dieses luftige Nest von Stein und Metall hineinkletterte. Sein Kopf schwindelte – er lauschte und erhob dann seine Stimme zu einem wilden: »Hallo!«

»Hallo!« schalle kläglich das gedehnte Echo nach.

Wirr, schwindlig, erschreckt und atemlos stierte Toby um sich her und brach dann ohnmächtig zusammen.

Das dritte Viertel


Das dritte Viertel

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Schwarz sind die brütenden Wolken und aufgerührt die tiefen Grundwasser, wenn das Meer der Gedanken nach einer Windstille zu rollen beginnt und seine Toten herausgibt. Wilde, gräßliche Ungeheuer erheben sich in voreiliger, unvollkommener Auferstehung; die Teile und Gestalten verschiedener Dinge mischen und vereinigen sich nach dem Walten des Zufalls; und wann und wie und durch welche wunderbaren Abstufungen sich eines von dem andern trennt oder jedes Gefühl oder jeder Gegenstand des Geistes die gewöhnliche Form, das gewöhnliche Leben wieder annimmt, weiß niemand zu sagen, obgleich der Mensch jeden Tag das Abbild dieses großen Geheimnisses in sich selbst beobachten kann.

Wann und wie also die Dunkelheit des nachtschwarzen Kirchturms sich in helles Licht umwandelte – wann und wie der einsame Raum sich mit Myriaden Gestalten bevölkerte – wann und wie das geflüsterte: »Hetz und jag ihn,« das eintönig durch seinen Schlummer oder seine Ohnmacht zog, zu einer Stimme wurde, die in Trottys erwachendes Ohr rief. »Sollst nicht Schlafen!« – wann und wie er aufhörte, eine träge und wirre Vorstellung zu hegen, daß es solche Dinge gebe, die sich mit einer Schar andrer nicht vorhandener verbündeten – dafür gibt es keine bestimmten Angaben. Aber wachend stand er jetzt da auf den Brettern, auf denen er kurz vorher gelegen hatte, und sah dieses Gespenstergesicht.

In dem Turm, wohin ihn seine behexten Schritte gebracht hatten, umschwärmten ihn zwerghafte Phantome, Geister und Elfengestalten der Glocken. Er sah, wie sie ohne Unterlaß aus den Glocken herausquollen, sprangen, flogen oder niederfielen. Sie umringten ihn auf dem Boden, in der Luft, kletterten an den Glockenseilen abwärts, schauten von den massiven, eisenbeschlagenen Balken auf ihn nieder, blickten durch die Spalten und Öffnungen der Mauern nach ihm hin und umflatterten ihn in immer weiter werdenden Kreisen, ähnlich denen im Wasser, wenn plötzlich ein großer Stein hineingeworfen wird. Er sah sie in allen Gestalten, mit allen möglichen Gesichtszügen. Er sah unter ihnen Häßliche, Hübsche, Krüppel und wundervolle Gebilde. Er sah unter ihnen Junge, sah Alte, Sah Gütige, sah Grausame, sah Fröhliche, sah Grimmige, er sah sie tanzen, hörte sie singen, sah sie ihre Haare raufen und hörte sie heulen. Er sah, daß die Luft von ihnen erfüllt war. Er sah sie unablässig kommen und gehen. Er sah sie hinabgleiten, sich emporschwingen, in die Ferne schweben, neben sich kauern – ruhelos, in wilder Bewegung. Steine, Ziegel und Schiefer wurden für ihn so durchsichtig wie für sie. Er sah sie in den Häusern geschäftig an den Betten der Schläfer. Da brachten sie den Leuten beruhigende Träume, dort schlugen sie dieselben mit knotigen Peitschen. Er sah, wie sie den Schlummernden in die Ohren zeterten oder über ihren Pfühlen die sanfteste Musik spielten. Er sah, wie sie einige mit dem jubelnden Gesang der Vögel und mit dem Duft von Blumen beglückten und erheiterten; sah, wie sie aus Zauberspiegeln, die sie mit sich führten, gräßliche Fratzen in den unruhigen Traum andrer blitzen ließen.

Aber er sah diese Gestalten nicht nur unter den Schlafenden, sondern auch unter den Wachenden, wo sie in unversöhnlichem Haß gegeneinander kämpften und ihre verschiedenen Naturen bezeugten, die entweder echt oder auch nur, ihrem Zweck entsprechend, angenommen waren. Dort hatte sich ein Phantom zahllose Schwingen angeschnallt, um seine Eile zu vergrößern, während ein andres sich mit Ketten und Gewichten belud, um die seinige zu mäßigen. Einige trieben die Uhrzeiger vorwärts, andre drehten sie wieder zurück, während wieder andre bemüht waren, das Räderwerk ganz zum Stillstand zu bringen. Hier stellten sie eine Heiratszeremonie, dort eine Beerdigung, in diesem Saal eine Wahl, in jenem einen Ball dar; aber wo sie auch waren – nichts als rastlose, unermüdliche Bewegung.

Von der Unzahl der wechselnden und ungewöhnlichen Gestalten, wie auch durch das Getöse der Glocken, die alle läuteten, verwirrt, klammerte sich Toby an einen hölzernen Pfeiler und drehte in stummem, betäubtem Erstaunen sein leichenblasses Gesicht bald dahin, bald dorthin.

Wie er umhersah, hielt das Glockengeläute inne. Augenblicklicher Wechsel! Der ganze Schwarm wurde undeutlicher; ihre Gestalten fielen zusammen, und ihre Eile verließ sie. Sie suchten im Flug zu enteilen; aber im Niedersinken erstarben sie und zerflossen in Luft. Keine neue Schar folgte ihnen. Ein einziger Nachzügler sprang noch ziemlich rüstig von der großen Glocke herunter und kam auf seine Füße zu stehen; aber er war tot und dahin, noch ehe er sich umwenden konnte. Einige von den Spätlingen, die sich im Turm umgetrieben hatten, schwirrten noch eine Weile länger umher; sie wurden jedoch bei jedem Kreise schwächer und minder zahlreich, bis auch sie das Ende der übrigen fanden. Der letzte von allen war ein kleiner, buckeliger Kobold, der sich in eine widerhallende Ecke geflüchtet hatte, wo er noch geraume Zeit wirbelte und wirbelte und für sich auf und ab schwebte; dabei zeigte er eine solche Hartnäckigkeit, daß er zuletzt zu einem einzigen Bein, ja zu allerletzt zu einem einzigen Fuß zusammenschmolz, ehe er ganz entschwand, und als dies endlich geschehen, war es stumm und still im Turm.

Jetzt erst und nicht früher bemerkte Trotty in jeder Glocke eine bärtige Gestalt von dem Umfang und der Statur der Glocke – unbegreiflich, eine Figur und die Glocke selbst. Riesenhaft, ernst und ihn düster ins Auge fassend, während er in den Boden festgewurzelt stand.

Geheimnisvolle, grausenhafte Gestalten, die nirgends ausruhten, sondern in der Nachtluft des Turmes schwebten, die verhüllten und mit Kapuzen versehenen Köpfe zu dem dunkeln Dach erhebend – regungslos und schattenhaft. Schattenhaft und finster, obgleich er sie in einem fahlen Schein, den sie selbst verbreiteten, sehen konnte – sonst gab es nirgends Licht – und jede Gestalt hielt die eingehüllte Hand auf den gespenstigen Mund gelegt.

Er konnte sich nicht entsetzt durch die Öffnung im Boden hinabstürzen, denn alle Kraft der Bewegung hatte ihn verlassen. Andernfalls würde er dies getan, ja, sich sogar kopfüber von der Turmspitze auf die Straße hinabgestürzt haben – weit lieber, als daß er sich hier mit Augen betrachten lassen mußte, die da gewacht haben würden, selbst wenn ihnen die Pupillen herausgenommen worden wären.

Wieder und wieder berührte ihn der Schrecken und das Entsetzen des einsamen Ortes sowohl als der wilden, furchtbaren Nacht, die hier herrschte wie eine Gespensterhand. Die Ferne jeglicher Hilfe, der lange, finstere, gewundene und von Geistern belagerte Weg, der zwischen ihm und der von Menschen bewohnten Erde lag; der hohe, hohe, hoch oben gelegene Ort, wo es ihn schon schwindelte, wenn er bei Tag dem Flug der Vögel zusah; abgeschnitten von allen guten Leuten, die zu einer solchen Stunde wohlbehalten zu Hause waren und in ihren Betten schliefen – alles dies durchzuckte ihn kalt, nicht als eine Betrachtung, sondern nur als ein körperliches Gefühl. Mittlerweile waren seine Augen, seine Gedanken und seine gräßliche Furcht auf die wachsamen Gestalten gerichtet. Sie sahen in dem tiefen Düster und in dem sie einschließenden Schatten nicht aus wie Gebilde dieser Welt, um so weniger, da sie so übernatürlich über dem Boden schwebten; aber dennoch waren sie so deutlich zu unterscheiden, wie das alte, eichene Rahmenwerk und das Kreuz- und Quergebälk, das die Glocken unterstützte. Dies engte sie ein wie ein ganzer Wald von geschlagenem Holz, zwischen dessen Verschränkungen sie wie unter Zweigen toter Bäume, die zu ihrem gespenstigen Gebrauch ersterben mußten, ihre düstere unablässige Wache hielten.

Ein Windstoß – wie kalt und schrill! – kam stöhnend durch den Turm. Als er dahinstarb, begann die große Glocke oder vielmehr der Geist der großen Glocke zu sprechen.

»Was ist dies für ein Besuch?« fragte er.

Die Stimme war dumpf und tief, und Trotty meinte, sie ertöne ebensowohl aus den andern Formen.

»Ich glaubte, die Glocken hätten meinen Namen gerufen!« sagte Trotty, seine Hände mit flehentlicher Gebärde erhebend. »Ich weiß kaum, warum ich hier bin oder wie ich heraufkam. Ich habe schon seit vielen Jahren den Glockentönen zugehört, und sie haben mich oft wieder froh gestimmt.«

»Hast du ihnen auch gedankt?« fragte die Glocke.

»O, tausendmal!« rief Trotty.

»Ich bin ein armer Mann«, stotterte Trotty, »und konnte ihnen nur mit Worten danken.«

»War dies auch immer der Fall?« fragte der Geist der Glocke. »Hast du uns nie in Worten unrecht getan?«

»Nein!« rief Trotty hastig.

»Uns nie mit Worten schnödes, falsches, böswilliges Unrecht getan?« fuhr der Glockengeist fort.

Trotty wollte eben antworten: »Nie!«, hielt aber mit einem Male verwirrt inne.

»Die Stimme der Zeit«, sagte das Phantom, »ruft dem Menschen zu: ›Vorwärts!‹ Die Zeit dient seinem Fortschreiten und seiner Verbesserung, der Erhöhung seines Wertes und seines Glückes, der Veredelung seines Lebens, der Annäherung an jenes Ziel, das ihm mit Wohlbedacht bereits damals gesteckt wurde, als die Zeit und er ihren Anfang nahmen. Jahrhunderte der Finsternis, der Gottlosigkeit und der Gewalttat sind gekommen und gegangen; unzählige Millionen haben geduldet, gelebt und sind gestorben, um ihm den Weg, der vor ihm liegt, zu zeigen. Wer ihn zur Umkehr zu bewegen sucht oder in seinem Lauf anhalten will, vergeht sich an einer gewaltigen Maschine, die den Unberufenen erschlägt und nur um so ungestümer und wilder wieder losbricht, weil sie für einen Augenblick gestört wurde!«

»Meines Wissens habe ich dies nie getan,« Sagte Trotty, »und wenn es geschah, muß es ganz unabsichtlich geschehen sein. Ich würde mich sicherlich nicht einmengen.«

»Wer in den Mund der Zeit oder ihrer Diener einen Klageruf über Tage legt,« fuhr der Glockengeist fort, »die ihre Heimsuchungen und Täuschungen gehabt und so tiefe Spuren zurückgelassen haben, daß sie sogar die Blinden Sehen können – einen Klageruf, der nur insofern der Gegenwart dient, als er den Menschen sagt, wie sehr ihre Hilfe notwendig ist, wenn ein Ohr eine solche Klage um Vergangenes zu hören glaubt – wer dies tut, begeht ein Unrecht. Und du hast uns, den Glocken, ein solches Unrecht angetan.«

Trottys größte Furcht war jetzt vorüber. Aber, wie wir wissen, hatte er Liebe und Dankbarkeit für die Glocken empfunden , und als er sich als einen Menschen anklagen hörte, der sie so schwer beleidigt hatte, wurde sein Herz von Reue und Kummer schwer.

»Wenn ihr wüßtet,« sagte Trotty, seine Hände zusammenschlagend – »oder vielleicht wißt ihr es – wenn ihr also wißt, wie oft ihr mir Gesellschaft geleistet, wie oft ihr mich aufgeheitert habt, wenn ich niedergeschlagen war, und wie ihr meiner kleinen Tochter Meg fast als ein Spielzeug dientet (beinahe das einzige, das sie je hatte), da ihre Mutter starb und uns allein zurückließ, so würdet ihr mir wegen eines übereilten Wortes keinen Groll nachtragen!«

»Wer in uns, den Glocken, nur einen einzigen Ton hört, der Lieblosigkeit oder finsteren Zweifel ausdrückt an den Hoffnungen, Freuden und Schmerzen der vielbedrängten Menge; wer uns antworten hört auf Gesinnungen, die die menschlichen Leidenschaften und Gefühle abmessen, gleich der Menge der erbärmlichen Nahrung, an der die Menschheit dahinsiecht – tut uns unrecht. Dieses Unrecht hast du uns angetan!« sagte die Glocke.

»Ja, ich habe!« versetzte Trotty. »O vergib mir!«

»Wer uns dem schlechten Gewürm der Erde nachlallen hört – den Unterdrückern bereits gebeugter und gebrochener Wesen, die geschaffen sind, um sich viel höher zu erheben, als solche Maden der Zeit klettern oder denken können,« fuhr der Glockengeist fort – »wer dies tut, begeht ein Unrecht an uns. Du hast uns unrecht getan!«

»Nicht mit Absicht!« sagte Trotty. »Nur in meiner Unwissenheit – nicht mit Absicht.«

»Zuletzt und vor allem« – nahm die Glocke wieder auf – »wer den Gefallenen seines Geschlechts den Rücken kehrt, sie als schlecht aufgibt und nicht mit mitleidigem Auge den offenen Abgrund mißt, durch den sie vom Guten abfielen, obschon sie noch in ihrem Sturz nach einigen Schollen des verlorenen Bodens griffen und sich an dieselben anklammerten, selbst als sie schon zerquetscht und sterbend in der Kluft unten lagen – wer dies tut, begeht ein Unrecht an dem Himmel, an der Menschheit, an Zeit und Ewigkeit. Du hast dieses Unrecht getan!«

»Schone mich!« rief Trotty, auf seine Knie niederfallend; »um aller Barmherzigkeit willen!«

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die übrigen Schatten.

»Höre!« sagte eine klare, kindliche Stimme, die Trotty schon früher gehört zu haben vermeinte.

Die Orgel tönte leise in der Kirche unten. Nach und nach anschwellend, stieg die Melodie bis zu dem Dach hinan und erfüllte Chor und Schiff. Mehr und mehr sich ausbreitend , schwang sie sich hinauf, immer höher und höher hinauf, wobei sie in dem derben Eichengebälk, den hohlen Glocken, den eisenbeschlagenen Türen und den steinernen Treppen erregte Herzen weckte, bis die Turmmauern sie nicht mehr fassen konnten und sie gen Himmel schwebte.

Kein Wunder, daß das Herz eines alten Mannes einen so ungeheuren, gewaltigen Ton nicht einzuschließen vermochte. Er brach aus diesem schwachen Gefängnis in einem Strom von Tränen, und Trotty preßte seine Hände vor das Gesicht.

»Höre!« sagte der Schatten.

»Höre!« riefen die andern Schatten.

»Höre!« sagte die Kinderstimme.

Feierliche Akkorde gemischter Stimmen erhoben sich nun in dem Turm.

Es war eine gedämpfte, wehmütige Melodie – ein Totengesang; und wie Trotty lauschte, hörte er sein Kind unter den Sängern.

»Sie ist tot!« rief der alte Mann. »Meg ist tot! Ihr Geist ruft mich – ich höre ihn!«

»Der Geist deines Kindes beklagt die Toten und mischt sich unter die Toten – die erstorbenen Hoffnungen und erstorbenen Jugendträume,« erwiderte die Glocke. »Aber sie lebt. Lerne aus ihrem Leben eine lebendige Wahrheit. Lerne aus dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist, wie schlecht die schlecht Geborenen sind. Sieh, wie jede Knospe und jedes Blatt nacheinander von dem schönsten Stengel gepflückt wurde, und erkenne daraus, wie kahl und elend er dann sein mag. Folge ihr – in die Verzweiflung!«

Jede von den Schattengestalten streckte ihren rechten Arm aus und deutete nach unten.

»Der Geist der Glocken ist dein Begleiter,« sagte die Gestalt. »Geh! er steht hinter dir!«

Trotty wandte sich um und sah – das Kind? das Kind, das Will Fern in der Straße getragen hatte; das Kind, das jetzt schlief und an dessen Bett Meg wachte!

»Ich habe es selbst diesen Abend getragen,« sagte Trotty. »In diesen meinen Armen!«

»Zeigt ihm, was er sein Selbst nennt,« sagten die dunkeln Gestalten im Chor.

Der Turm öffnete sich unter seinen Füßen. Er sah hinab und sah seine Gestalt außen auf dem Boden liegen – zerschmettert und regungslos.

»Nicht mehr ein lebendiger Mensch!« rief Trotty. »Tot!«

»Tot!« sagten die Gestalten alle zugleich.

»Barmherziger Himmel! Und das Neujahr …«

»Vergangen,« sagten die Gestalten.

»Wie?« rief er schaudernd. »So verfehlte ich wohl meinen Weg, gelangte in der Dunkelheit an die Außenseite dieses Turmes und fiel hinunter – vor einem Jahr?«

»Vor neun Jahren!« versetzten die Schatten.

Während sie diese Antwort gaben, nahmen sie ihre ausgestreckten Hände wieder an sich, und wo ihre Gestalten geschwebt hatten, befanden sich jetzt die Glocken.

Und sie erklangen – ihre Zeit war wieder gekommen. Und abermals sprangen zahllose Phantome ins Dasein, die dieselbe Zusammenhangslosigkeit zeigten wie früher; abermals verblichen sie, sobald die Glockenzungen ruhten, und fielen in ein Nichts zusammen.

»Wer sind diese?« fragte er seinen Führer. »Wenn ich nicht verrückt werden soll, wer sind diese?«

»Es sind Geister der Glocken – ihr Ton in der Luft,« entgegnete das Kind. »Sie nehmen dieselben Gestalten und Beschäftigungen an, die ihnen von den Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen der Sterblichen gegeben werden.«

»Und du,« rief Trotty außer sich – »wer bist du?«

»Still, still!« erwiderte das Kind. »Sieh da hin!«

In einem schlechten, ärmlichen Gemach arbeitete an derselben Art von Stickerei, wie er es oft gesehen hatte, seine liebe Tochter Meg. Er versuchte nicht, Küsse auf ihr Gesicht zu drücken oder sie an sein klopfendes Herz zu pressen, denn er wußte, daß es für ihn keine solchen Liebkosungen mehr gab. Aber er hielt seinen zitternden Atem an und wischte die blendenden Tränen weg, um sie sehen, nur sehen zu können.

Ach! verändert – und wie verändert! Wie trüb war das Licht des klaren Auges, wie verblichen der Schmelz ihrer Wangen! Zwar war sie noch so schön wie immer, aber die Hoffnung, die Hoffnung, die Hoffnung – ach, wo war die frische Hoffnung, die ihn wie eine Stimme angerufen hatte!

Sie blickte von ihrer Arbeit auf nach einer Gefährtin. Der alte Mann folgte ihren Augen und fuhr betroffen zurück.

In dem erwachsenen Mädchen erkannte er sie auf den ersten Blick. Er sah in den langen seidenen Haaren noch dieselben Locken, und um die Lippen noch immer den kindlichen Ausdruck. Ja, in den Augen, die sich jetzt fragend an Meg wandten, leuchtete noch derselbe Blick, wie zur Zeit, als er sie nach Hause brachte.

Was war denn dies neben ihm?

Mit Grausen sah er sich nach dem Kinde um und bemerkte in dessen Gesicht etwas Überirdisches , Unbestimmtes, Undeutliches, das kaum mehr an jenes Kind erinnerte als die andre Gestalt; und doch war es dieselbe – dieselbe – und trug auch das nämliche Kleid.

Horch! Sie sprachen.

»Meg,« sagte Lilian stockend. »Wie oft du von deiner Arbeit aufschaust, um mich anzusehen!«

»Sind meine Blicke so verändert, daß sie dich erschrecken?« sagte Meg.

»Nein, meine Liebe! Aber du lächelst selbst darüber! Warum lächelst du nicht, wenn du mich ansiehst?«

»Ich tue es ja. Oder nicht?« antwortete sie, ihr zulächelnd.

»Jetzt wohl,« sagte Lilian, »aber gewöhnlich nicht. Wenn du denkst, ich sei beschäftigt und sehe dich nicht, ist deine Miene so ängstlich und bekümmert, daß ich kaum meine Augen zu erheben wage. Man hat wohl in diesem harten und mühsamen Leben wenig Grund zum Lächeln; aber du warst einst so heiter.«

»Bin ichs nicht noch?« rief Meg im Ton seltsamer Unruhe und erhob sich, um ihre Gefährtin zu umarmen. »Mache ich dir das mühsame Leben noch mühsamer, Lilian?«

»Du warst das Einzige, das unser Leben überhaupt zu einem Leben machte,« sagte Lilian, sie glühend küssend, »und auch das Einzige, das mir bisweilen noch ein solches Leben wert macht, Meg. Ach, diese Arbeit, diese Arbeit! So viele Stunden, so viele Tage, So viele lange, lange Nächte hoffnungsloser, ertötender und nie endender Arbeit – nicht um Reichtümer aufzuhäufen , nicht um herrlich und in Freuden zu leben, nicht um auch bloß sorglos leben zu können, so einfach auch unsre Kost sein mag, sondern nur, um das trockene Brot zu verdienen, just um so viel zusammenzuscharren, damit wir weiterleben und weiter Not leiden und in uns das Bewußtsein unsres harten Schicksals lebendig erhalten können! O Meg, Meg!«

Sie erhob ihre Stimme und schlang ihre Arme um sie, wie in herbem Schmerze. »Wie kann die grausame Welt ihren Kreislauf gehen und den Anblick solcher Leben ertragen!«

»Lilly!« sagte Meg beschwichtigend, indem sie ihr das Haar aus dem feuchten Gesicht strich. »Ach Lilly! Du! So hübsch und so jung!«

»O Meg!« fiel ihr Lilian ins Wort, indem sie ihre Freundin auf Armeslänge vor sich hinhielt und flehend in ihr Gesicht blickte. »Das ist das Schlimmste, das Schlimmste von allem! Mache mich alt, Meg ! Gib mir Runzeln und einen welken Leib, um mich von den schrecklichen Gedanken zu befreien, die mich in meiner Jugend zu verlocken suchen !«

Trotty wandte sich, um nach seinem Führer zu sehen. Aber der Geist des Kindes war entflohen – fort.

Aber auch er blieb nicht an demselben Platze. Sir Joseph Bowley, der Freund und Vater der Armen, hielt in Bowley Hall zu Ehren des Geburtstags der Lady Bowley ein großes Festgelage; und da Lady Bowley am Neujahrstag geboren war – ein Umstand, den die Lokalzeitungen als einen ausdrücklichen Wink der Vorsehung bezeichneten, daß Lady Bowley in der Zahlenreihe der Schöpfung für Nummer Eins bestimmt sei – fand auch dieses Gelage an einem Neujahrstag statt.

Bowley Hall strotzte von Gästen. Der rotgesichtige Gentleman war da, Herr Filer war da, der große Alderman Cute war da – Alderman Cute empfand ein sehr wohltuendes Gefühl im Verkehr mit vornehmen Leuten und hatte vermöge seines aufmerksamen Briefes große Fortschritte in Sir Joseph Bowleys Bekanntschaft gemacht, indem er seitdem eigentlich zu einem Familienfreund wurde – und noch viele andre Gäste waren da. Auch Trottys Geist war zugegen und wanderte traurig als ein armes Phantom auf der Suche nach seinem Führer umher.

In der großen Halle sollte ein prachtvolles Festmahl gegeben werden, und Sir Joseph Bowley in seinem gefeierten Charakter als Freund und Vater der Armen sollte eine bedeutsame Rede dabei halten. Seine Freunde und Kinder durften zuerst in einer andern Halle eine gewisse Anzahl von Pflaumenpuddingen verzehren und sollten dann auf ein gegebenes Signal zu ihren Freunden und Vätern hineinströmen, um eine Familienversammlung zu bilden, bei der kein Männerauge von Tränen unbefeuchtet bleiben sollte.

Aber noch mehr als dies sollte geschehen. Sogar noch mehr. Sir Joseph Bowley, Baronet und Parlamentsmitglied, hatte sich vorgenommen, mit seinen Pächtern eine Kegelpartie – eine wirkliche Kegelpartie – zu machen.

»Das erinnert mich ganz an die Tage des alten Königs Heinz, des wackern Königs Heinz, des leutseligen Königs Heinz,« sagte Alderman Cute. »Ah! ein prächtiger Mann!«

»Sehr,« bemerkte Herr Filer trocken, »um Weiber zu heiraten und sie umzubringen. Und noch obendrein beträchtlich mehr als die Durchschnittszahl der Weiber.«

»Ihr werdet die schönen Damen heiraten und sie nicht umbringen, he?« sagte Alderman Cute zu dem Erben von Bowley, einem zwölfjährigen Jungen. »Ein süßer Knabe! Wir werden diesen kleinen Gentleman im Parlament haben,« fügte er bei, indem er ihn bei der Schulter faßte und ihn so aufmerksam als nur möglich ansah, »ehe wir wissen, wo wir sind. Wir werden hören von seinen Erfolgen bei den Wahlen , von seinen Reden im Hause, von den Anträgen, die ihm die Regierung macht, von seinen herrlichen Kenntnissen auf allen Gebieten! Ja, ich stehe dafür, wir werden im Gemeinderat gleichfalls kleine Reden über ihn halten, ehe wir Zeit haben, uns umzusehen!«

»O welch ein Unterschied bei Schuhen und Strümpfen!« dachte Trotty. Aber sein Herz sehnte sich nach seinem kleinen Führer um derselben schuh- und strumpflosen Knaben willen, die die Kinder der armen Meg sein konnten und der Prophezeiung des Alderman zufolge schlecht ausfallen mußten.

»Richard,« stöhnte Trotty, unter der Gesellschaft auf- und abgehend; »wo ist er? Ich kann Richard nicht finden! Wo ist Richard?«

Wahrscheinlich nicht hier, wenn er noch am Leben ist ! Aber Trottys Kummer und das Gefühl der Einsamkeit hatten ihn ganz wirr gemacht; er wanderte noch immer unter der prunkenden Gesellschaft umher, spähte nach seinem Führer und rief: »Wo ist Richard? Zeigt mir Richard!«

Auf seinen Kreuz- und Quergängen begegnete er Herrn Fish, dem vertrauten Sekretär, der in großer Aufregung ausrief:

»Gott behüte mich! Wo ist Alderman Cute? Hat niemand den Alderman gesehen?«

Den Alderman gesehen? O Himmel, wer hätte auch den Alderman übersehen können? Er war so rücksichtsvoll, so leutselig und verlangte so sehr danach, den Wunsch der Leute, ihn zu Gesicht zu bekommen, so oft als möglich zu erfüllen, daß – angenommen er hätte einen Fehler – es nur der sein konnte, unaufhörlich präsentiert zu werden. Und wo immer vornehme Leute waren, da durfte man sicher auch auf Cute zählen, weil die verwandtschaftliche Sympathie großer Seelen stets anziehend wirkt.

Mehrere Stimmen riefen, er befände sich in dem Kreise um Sir Joseph. Herr Fish eilte dorthin, fand ihn und nahm ihn heimlich an das nächste Fenster. Trotty näherte sich ihnen – nicht aus eignem Antrieb; er fühlte, daß seine Schritte in diese Richtung gelenkt wurden.

»Mein teurer Alderman Cute,« sagte Herr Fish; »ein wenig mehr hierher. Es hat sich, wie ich in diesem Augenblick erst erfahre, etwas höchst schreckliches zugetragen, und ich glaube, es wird am besten sein, Sir Joseph erst davon in Kenntnis zu setzen, wenn der Tag vorüber ist. Ihr kennt Sir Joseph und werdet mir Eure Ansicht mitteilen. Der Schrecklichste und beklagenswerteste Vorfall!«

»Fish!« entgegnete der Alderman, »Fish, mein guter Freund, was gibt es? Hoffentlich doch nichts Revolutionäres? Nein – doch kein Versuch, sich in die Schritte der Obrigkeit zu mengen?«

»Deedles, der Bankier,« keuchte der Sekretär. »Gebrüder Deedles – der heute hätte kommen sollen – der eine so hohe Stellung in der Genossenschaft der Goldschmiede einnimmt …«

»Hat doch nicht seine Zahlungen eingestellt?« rief der Alderman. »Es kann nicht sein!«

»Sich selbst erschossen.«

»Guter Gott!«

»In seinem eignen Kontor sich eine doppelläufige Pistole an den Mund gesetzt und sich das Gehirn hinausgeblasen. Kein Beweggrund. Fürstliche Verhältnisse!«

»Verhältnisse!« rief der Alderman. »Ein Mann von edlem Vermögen. Einer der achtbarsten Männer. Selbstmord, Herr Fish, durch eigne Hand?«

»Erst diesen Morgen,« erwiderte Herr Fish.

»O das Gehirn, das Gehirn!« rief der fromme Alderman, seine Hände erhebend. »O die Nerven, die Nerven – die Geheimnisse dieser Maschine, die man Mensch nennt ! Welche Kleinigkeit reicht nicht hin, sie in Unordnung zu bringen! Was sind wir nicht für arme Geschöpfe! Vielleicht ein Diner, Herr Fish. Vielleicht die Lebensweise seines Sohnes, der, wie ich gehört habe, etwas über den Strang schlagen und ohne jede Ermächtigung Wechsel auf den Namen seines Vaters ausstellen soll. Ein höchst achtbarer Mann – einer von den achtbarsten Männern, die ich je kannte! Ein beklagenswerter Fall, Herr Fish! Ein öffentliches Unglück! Ich werde mirs zur Ehrensache machen, um ihn die tiefste Trauer zu tragen! Ein höchst achtbarer Mann. Aber es ist einer über uns. Wir müssen uns darein fügen, Herr Fish. Wir müssen uns fügen!«

Wie, Alderman? Kein Wort von »den Selbstmord legen«? Erinnere dich, Friedensrichter, wie du dich stolz deiner hohen Moral rühmtest! Bring diese Wagschalen ins Gleichgewicht, Alderman! Wirf in die leere das fehlende Mittagessen und die Quellen der Natur, die bei irgendeinem armen Weib durch das hungernde Elend ausgetrocknet und zum Widerstand gebracht wurden gegen die Ansprüche, zu denen ihr Sprößling von der heiligen Mutter Eva her berechtigt ist. Wäge mir diese beiden, du richtender Daniel, wenn dein Gerichtstag kommen wird! Wäge sie in den Augen leidender Tausende, die aufmerksam der greulichen Posse, die du spielst, zusehen! Oder angenommen, du hättest deine fünf Sinne verloren – du hast nicht so weit dazu, daß es nicht möglich wäre – und legtest Hand an diese deine Kehle, zur Warnung für deinesgleichen (wenn es noch deinesgleichen gibt), damit sie nicht ihre behagliche Schlechtigkeit den zum Wahnsinn getriebenen Gehirnen und gequälten Herzen vorkrächzen – was dann?

Die Worte erhoben sich in Trottys Brust, als würden sie in seinem Innern von einer andern Stimme gesprochen. Alderman Cute machte sich anheischig, Herrn Fish zu unterstützen, um nach Ablauf des Tages Sir Joseph die traurige Kunde beizubringen. Ehe sie sich trennten, drückte er noch Herrn Fish in bitterm Schmerze die Hand und sagte abermals: »Der achtbarste Mann!« Und dann fügte er noch hinzu, daß er kaum verstehe (nicht einmal er!), warum solche Trübsal auf Erden vorkommen dürfe.

»Wenn mans nicht besser wüßte, so möchte man fast glauben,« fuhr Alderman Cute fort, »daß bisweilen in den Dingen eine Umsturzbewegung vorgehe, die die allgemeine Ordnung des sozialen Baues aus ihren Fugen hebt. Gebrüder Deedles!«

Das Kegelspiel verlief mit ungeheurem Erfolg. Sir Joseph warf die Kegel mit wunderbarer Geschicklichkeit um; Master Bowley machte aus kürzerer Entfernung gleichfalls einen Anfangsversuch, und jedermann sagte, daß nun, da ein Baronet und der Sohn eines Baronets Kegel spielten, die Verhältnisse des Landes eine rasche Wendung zum Bessern nehmen müssen.

Im richtigen Moment wurde das Festmahl aufgetragen. Trotty begab sich unwillkürlich mit den übrigen nach der Halle, denn er fühlte sich durch eine stärkere Gewalt, als die seines eignen freien Willens, dahin gedrängt. Der Anblick war ein ungewöhnlich glänzender; die Damen waren sehr hübsch und alle Gäste entzückt, fröhlich und heiter gestimmt. Als die untern Türen geöffnet wurden und die Leute in ihrer ländlichen Kleidung hereinschwärmten, erreichte die Schönheit des Schauspiels ihren Höhepunkt; aber Trotty murmelte nur um so angelegentlicher: »Wo ist Richard? er sollte ihr helfen und sie trösten! Ich kann Richard nicht sehen!«

Es wurden einige Reden gehalten. man trank auf die Gesundheit Lady Bowleys; Sir Joseph hatte sich bedankt und hielt eben seine große Rede, indem er an mancherlei Tatsachen bewies, daß er der geborene Freund und Vater usw. der Armen sei, und brachte ein Hoch auf seine Freunde und Kinder und auf die Würde der Arbeit aus, als eine kleine Unruhe unten in der Halle Tobys Aufmerksamkeit fesselte. Nach einiger Verwirrung, etwas Lärm und Widerstand brach ein einzelner Mann durch die Reihen der übrigen und trat vor.

Nicht Richard. Nein. Aber einer, an den er auch schon gedacht und nach dem er sich oftmals umgesehen hatte. Bei einer spärlicheren Beleuchtung würde er die Identität des alten, grauen, gebeugten und abgelebten Mannes bezweifelt haben; so aber fiel ein heller Lampenglanz auf dessen verwitterten Kopf, und er erkannte in der Person, sobald sie sich vorgedrängt hatte, augenblicklich Will Fern.

»Was soll das?« rief Sir Joseph aufstehend. »Wer hat diesen Mann eingelassen? Dies ist ein Verbrecher aus dem Gefängnis! Herr Fish, Sir, wollen Sie die Güte haben …«

»Eine Minute!« sagte Will Fern. »Eine Minute! Gnädige Frau, Ihr seid an diesem Tag mit einem neuen Jahr geboren worden. Laßt mich eine einzige Minute sprechen!«

Sie legte eine Fürbitte für ihn ein, und Sir Joseph nahm mit angeborener Würde wieder Platz.

Der zerlumpte Gast – denn er war erbärmlich gekleidet – blickte in der Gesellschaft umher und bezeigte ihr seine Huldigung mit einer demütigen Verbeugung.

»Ihr vornehmen Leute,« sagte er, »ihr habt auf die Gesundheit des Arbeiters getrunken. Seht mich an!«

»Kommt just aus dem Gefängnis,« sagte Herr Fish.

»Ja, ich komme aus dem Gefängnis,« versetzte Will. »Und zwar nicht zum ersten, zweiten, dritten – ja nicht einmal zum viertenmal.«

Man hörte Herrn Filer verdrießlich bemerken, daß viermal die Durchschnittszahl übersteige, und er sollte sich vor sich selbst schämen.

»Seht mich immerhin an, ihr vornehmen Leute,« wiederholte Will Fern. »Ihr seht, ich bin bis zum Ärgsten herabgesunken. Man kann mir nichts Schlimmeres mehr anhaben, und ich bin außer dem Bereich eurer Hilfe, denn die Zeit, in der eure freundlichen Worte oder eure freundlichen Handlungen mir hätten guttun können« – er schlug dabei mit der Hand auf die Brust und schüttelte seinen Kopf – »ist vorbei, wie der Duft des Klees vom vorigen Jahr. Aber laßt mich ein Wort für diese sprechen« – er deutete auf die Arbeiter in der Halle – und hört, da ihr wieder zusammengekommen seid, wenigstens einmal die reine Wahrheit!«

»Es ist niemand hier,« sagte der Wirt, »der ihn zum Sprecher haben möchte.«

»Wahrscheinlich genug, Sir Joseph. Ich glaube es. Aber darum ist das, was ich sage, nicht weniger wahr. Vielleicht dient mir das nur zum Beweis meiner Wahrheitstreue. Ihr vornehmen Leute, ich habe manches Jahr an diesem Ort gelebt, und ihr könnt dort meine Hütte mit dem eingefallenen Zaune sehen. Hundertmal war ich Zeuge, wie die Damen sie in ihre Bücher zeichneten. Ich habe sagen hören, sie nehme sich gut auf einem Bilde aus; aber auf Bildern gibt es kein Wetter, und sie mag sich daher besser dazu eignen, als zu einem Wohnplatz. Also! Dort habe ich gelebt. Wie hart – wie bitterhart es mir dort erging, will ich nicht sagen. Ihr könnt es jeden Tag im Jahr selber beurteilen.«

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Er sprach, wie er in der Nacht gesprochen hatte, als ihn Trotty in der Straße traf. Seine Stimme klang tiefer und heiserer und zitterte dann und wann ein wenig. Aber er ließ sie niemals leidenschaftlich werden, und selten sprach er lauter, als es die schlichten Dinge und Tatsachen forderten, die er berichtete.

»Es ist schwerer, als ihr vornehmen Leute denken mögt, an einem solchen Platz als ordentlicher Mensch zu leben. Daß ich zu einem Mann und nicht zu einem Vieh darin heranwuchs – damals – sagt schon etwas für mich. Über meine jetzige Lage läßt sich nichts mehr sagen, wie denn auch nichts mehr für mich getan werden kann. Ich bin darüber hinaus.«

»Ich freue mich, daß dieser Mann eingetreten ist,« sagte Sir Joseph, heiter im Kreis umherblickend. »Stört ihn nicht. Es scheint Bestimmung zu sein. Er ist ein Beispiel – ein lebendiges Exempel. Ich hoffe und erwarte zuversichtlich, daß es an meinen Freunden hier nicht verloren geht.«

»Ich schleppte mich fort,« sagte Fern nach einer kurzen Pause, »wie es eben gehen mochte. Weder ich noch irgendein andrer Mensch weiß, wie – jedenfalls aber so schwer, daß ich kein heiteres Gesicht dazu schneiden oder andern glauben machen konnte, ich sei etwas andres, als was ich war. Nun, Gentlemen – ihr Gentlemen, die ihr in den Parlamentssitzungen zusammentrefft – wenn ihr einen Mann mit einem unzufriedenen Zug im Gesicht seht, so sagt ihr zueinander. ›Er ist verdächtig. Ich habe meine Bedenken‹, sagt ihr, ›über Will Fern. Faßt diesen Burschen ins Auge.‹ Ich will nicht behaupten, Gentlemen, daß dies nicht ganz natürlich sei – aber ich sage, es ist so, und von dieser Stunde an wird alles auf sein Schuldkonto gebucht, mag nun Will Fern tun oder lassen, was er will.«

Alderman Cute steckte seine Daumen in seine Westentaschen, lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück und blinzelte einem benachbarten Leuchter zu, als wollte er sagen: »Natürlich! ich Sagte es ja. Das gewöhnliche Geschrei! Gott behüte, wir sind derartigen Dingen längst gewachsen – ich selbst und die menschliche Natur.«

»Wohlan, Gentlemen,« fuhr Will Fern fort, indem er seine Hände ausstreckte und ein flüchtiges Rot sein hageres Gesicht einen Augenblick überflammte. »Seht, wie eure Gesetze gemacht sind, um uns einzufangen und zu hetzen, wenn es einmal so weit mit uns gekommen ist. Ich versuche, anderswo meinen Unterhalt zu finden, und man behandelt mich als einen Landstreicher. Ins Gefängnis mit ihm! Ich komme hierher zurück, sammle in den Wäldern Nüsse und breche – wer täte es nichts – ein paar dünne Zweige ab. Ins Gefängnis mit ihm! Einer von den Förstern sieht mich am hellen Tag in der Nähe meines eignen Gartens mit einem Gewehr. Ins Gefängnis mit ihm! Sobald ich wieder frei bin, kommts natürlich zu einem zornigen Wortwechsel mit diesem Mann. Ins Gefängnis mit ihm! Ich schneide mir einen Stock. Ins Gefängnis mit ihm! Ich esse einen faulen Apfel oder eine Rübe. Ins Gefängnis mit ihm! Es ist zwanzig Meilen entfernt, und als ich wieder zurückkomme, bettle ich an der Straße um eine Kleinigkeit. Ins Gefängnis mit ihm! Kurz, der Polizeimann oder der Wildhüter oder sonst jemand findet immer, daß ich hier oder dort irgend etwas anstelle. Ins Gefängnis mit ihm, denn er ist ein Landstreicher und bekannter Zuchthausvogel. So ist denn das Zuchthaus zu seiner einzigen Heimat geworden!«

Der Alderman nickte wohlweise, als wollte er sagen. »Und obendrein eine recht gute Heimat!«

»Glaubt ja nicht, daß ich dies sage, um meiner Sache zu dienen!« rief Fern. »Wer kann mir meine Freiheit, meinen guten Namen und meine unschuldige Nichte zurückgeben? Alle Lords und Ladies in dem weiten England sind es nicht imstande. Aber ihr Gentlemen, wenn ihr mit andern zu tun bekommt, wie mit mir, fangt die Sache an dem rechten Ende an. Seid so barmherzig, uns, wenn wir in unsern Wiegen liegen, eine bessere Heimat zu geben; reicht uns bessere Kost, wenn wir für unsern Unterhalt arbeiten, und gebt uns wohlwollende Gesetze, die uns auf den rechten Weg zurückbringen können, wenn wir von demselben abweichen; aber stellt uns nicht überall, wohin wir uns auch wenden mögen, ewig nur das Gefängnis, das Gefängnis, das Gefängnis vor die Augen! Jede Herablassung, die ihr dem Arbeiter erweisen mögt, wird er so bereitwillig und dankbar hinnehmen, wie nur ein Mensch kann, denn er hat ein geduldiges, friedliches und williges Herz; aber ihr müßt zuerst den rechten Geist in ihm fassen, denn bis jetzt noch ist der seinige von euch getrennt, mag er nun eine solche Ruine oder ein Wrack sein wie ich, oder denen gleichen, die hier herumstehen. Bringt ihn zurück, bringt ihn zurück, ihr vornehmen Leute! bringt ihn zurück, ehe der Tag kommt, da in seiner veränderten Gesinnung auch die Bibel eine andre Gestalt gewinnt und ihm die Worte derselben erscheinen, wie sie mir bisweilen in dem Gefängnis vorkamen: ›Wohin du gehst, kann ich nicht hingehen; wo du wohnst, wohne ich nicht; dein Volk ist nicht mein Volk und dein Gott nicht der meinige!‹«

In der Halle fand nun eine plötzliche Bewegung und Aufregung statt. Trotty meinte anfangs, es hätten sich einige aufgerafft, um den Mann hinauszuwerfen, und daher rühre der Wechsel in der Szene. Aber der nächste Augenblick belehrte ihn, daß der Saal mit der ganzen Gesellschaft seinen Augen entschwunden war und seine Tochter wieder vor ihm saß, wie sie sich bei ihrer Arbeit abmühte. Ihr Dachstübchen war armseliger und schlechter als das frühere, und Lilian befand sich nicht an ihrer Seite.

Der Rahmen, an dem letztere gearbeitet hatte, lag auf einem Sims und war zugedeckt, ihr Stuhl stand gegen die Wand gelehnt. In diesen kleinen Dingen und in Megs gramvollem Gesicht sprach sich eine lange Geschichte aus – o, wer hätte sie nicht zu lesen vermocht!

Meg hatte die Augen auf ihre Arbeit geheftet, bis es zu dunkel war, um den Faden zu sehen, und als die Nacht hereinbrach, zündete sie ihre dünne Kerze an, um weiter zu arbeiten. Noch immer befand sich ihr alter Vater unsichtbar in ihrer Nähe, schaute auf sie nieder und sprach mit ihr – o, mit welch inniger Liebe! – mit leiser Stimme über alte Zeiten und über die Glocken, obschon der arme Trotty wohl wußte, daß sie ihn nicht hören konnte.

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Der größere Teil des Abends war bereits entschwunden, als an ihre Tür gepocht wurde. Sie öffnete. Ein Mann stand auf der Schwelle – ein mürrischer, schlottriger, schmutziger Trunkenbold, den Laster und Unmäßigkeit gezeichnet hatten und dem die wirren Haare und der ungeschorene Bart ein wildes Aussehen verliehen; aber dennoch waren einige Spuren an ihm zu bemerken, die zeigten, daß er in seiner Jugend gut gebaut und hübsch gewesen war.

Er blieb stehen und wartete, bis ihm Meg einzutreten erlaubte; sie aber wich ein paar Schritte von der offenen Tür zurück und sah ihn stumm und bekümmert an. Trottys Wunsch war erfüllt – er hatte Richard vor sich.

»Darf ich hereinkommen, Margaret?«

»Ja! komm herein. Komm herein!«

Es war gut, daß ihn Trotty erkannt hatte, ehe er sprach; denn wenn auch nur ein Zweifel in ihm geherrscht hätte, so würde ihn die rauhe, mißtönige Stimme überzeugt haben, daß es nicht Richard, sondern ein andrer Mann sei.

Es waren nur zwei Stühle in der Stube. Sie gab ihm den ihrigen und blieb eine Weile in einiger Entfernung stehen, wartend, was er ihr zu sagen habe.

Er setzte sich nieder und blickte mit glanzlosem, blödsinnigem Lächeln stier auf den Boden – ein Anblick so tiefer Verkommenheit, gänzlicher Hoffnungslosigkeit und kläglicher Verwahrlosung, daß sie die Hand vor das Gesicht hielt und sich ab wandte, um ihn nicht sehen zu lassen, wie sehr sie sein Wesen erschütterte.

Durch das Rauschen ihres Kleides oder irgendein andres unbedeutendes Geräusch aus seinem Stumpfsinn geweckt, erhob er seinen Kopf und begann zu sprechen, als ob seit seinem Eintritt keine Pause gewesen wäre.

»Noch immer bei der Arbeit, Margaret? Du arbeitest spät.«

»Das geschieht gewöhnlich so.«

»Und früh?«

»Und früh.«

»Das hat sie mir gesagt. Sie sagte, du seiest unablässig tätig und gestehest nie deine Müdigkeit. Nie, solange ihr beisammen lebtet – nicht einmal, als du von Arbeit und Fasten ohnmächtig wurdest. Doch ich habe dir dies bereits gesagt, als ich das letzte Mal hier war.«

»Das tatest du,« antwortete sie; »und ich beschwor dich, mir nichts mehr darüber zu sagen. Auch hast du mirs feierlich versprochen, Richard.«

»Feierlich versprochen,« wiederholte er mit einem kindischen Lachen und einem blöden Blick ins Leere. »Feierlich versprochen, natürlich. Feierlich versprochen!«

Nach einer Weile schien er sozusagen in den früheren Zustand aufzuwachen, denn er fügte mit plötzlicher Lebhaftigkeit bei:

»Aber was kann ich dafür, Margaret? Was soll ich tun? Sie ist wieder bei mir gewesen!«

»Wieder?« rief Meg, ihre Hände zusammenschlagend. »O denkt sie so oft an mich? Schon wieder?«

»O schon zwanzigmal,« sagte Richard. »Margaret, sie läßt mir keine Ruhe. Sie kommt aus der Straße hinter mir her und steckt mirs in die Hand. Ich höre ihren Fuß in der Asche, wenn ich bei meiner Arbeit bin (ha ha! das ist nicht oft), und ehe ich meinen Kopf umwenden kann, tönt mir ihre Stimme ins Ohr. ›Richard, dreh dich nicht um. Gib ihr das, um aller Barmherzigkeit willen!‹ Sie bringt es mir in die Wohnung, schickt es in Briefen, klopft an das Fenster und legt es auf den Sims. Was kann ich tun? Schau her!« Er hielt ihr in der Hand eine kleine Börse entgegen und klimperte mit dem darin enthaltenen Gelde.

»Steck es ein,« sagte Meg, »steck es ein! Wenn sie wiederkommt, so Sage ihr, Richard, daß ich sie von ganzem Herren liebe – daß ich mich nie schlafen lege, ohne sie zu segnen und für sie zu beten – daß ich bei meiner einsamen Arbeit nie aufhöre, an sie zu denken, daß ich Tag und Nacht bei ihr bin und daß ich, wenn ich morgen sterbe, mit meinem letzten Atemzug noch ihrer gedenken will, daß ich aber dies nicht ansehen kann!«

Er zog die Hand langsam wieder an sich, knitterte den Beutel zusammen und sagte mit einer Art schläfriger Nachdenklichkeit:

»Ich sagte ihr dies. Ich sagte ihrs so deutlich, als es sich durch Worte nur aussprechen läßt. Dutzendmal nahm ich seitdem diese Gabe wieder zurück und ließ sie an ihrer Tür liegen. Aber als sie zum letzenmal kam und Angesicht gegen Angesicht vor mich hintrat, was konnte ich tun?«

»Du hast sie gesehen?« rief Meg. »Du hast sie gesehen? O Lilian, mein süßes Mädchen! O Lilian, Lilian!«

»Ich habe sie gesehen,« fuhr er fort, nicht gerade als Antwort, sondern seinem Gedankengang folgend. »Sie stand zitternd da – ›Wie sieht sie aus, Richard? Spricht sie nie von mir? Ist sie schmächtiger geworden? Mein alter Platz an dem Tisch – was ist an meinem alten Platz? Und der Rahmen, an dem sie mich unsre frühere Arbeit lehrte – hat sie ihn verbrannt, Richard?‹ Sie war da, und ich hörte sie so sprechen.«

Meg unterdrückte ihr Schluchzen und beugte sich mit hervorstürzenden Tränen über ihn, um ihm zuzuhören und ja keinen Laut von seinen Worten zu verlieren.

Seine Arme waren auf die Knie aufgestützt, und er lehnte sich in seinem Stuhl vornüber, als sei das, was er sagte, in halb leserlichen Zügen, so daß er Mühe hätte sie zu entziffern, auf den Boden geschrieben. Er fuhr fort:

»›Richard, ich bin sehr tief gefallen, und du kannst dir denken, wie viel ich gelitten habe, als mir dies zurückgeschickt wurde, wenn ich es über mich gewinnen konnte, es eigenhändig dir wiederzubringen. Aber soviel ich mich erinnern kann, hast du sie einmal zärtlich geliebt. Andre sind zwischen euch getreten. Furcht, Eifersucht, Zweifel und Eitelkeit entfremdeten dich ihr. Doch du liebtest sie, soweit ich mich erinnern kann.‹ Ich glaube, sie hat darin recht,« sagte er, sich für einen Augenblick unterbrechend. »Es war wirklich der Fall! Doch das gehört nicht hierher. ›O Richard, wenn du sie jemals lieb hattest, wenn du noch ein Gedächtnis hast für das, was dahin ist und verloren, so bring es ihr noch einmal. Nur noch ein einziges Mal! Sag ihr, wie ich gebeten und gebettelt habe. Sag ihr, wie ich meinen Kopf auf deine Schulter legte, wo ihr eigner Kopf hätte ruhen können, und wie ich so demütig gegen dich war, Richard. Sag ihr, du hast mir ins Gesicht gesehen und gefunden , daß meine Schönheit, die sie sonst so zu preisen pflegte, völlig entschwunden sei – völlig dahin – und an ihrer Stelle nur eine so arme, abgezehrte hohle Wange, daß sie weinen würde, wenn sie ihr zu Gesicht käme. Sag ihr alles dies und nimm es wieder mit, sie wird es nicht aufs neue zurückweisen. Nein, sie wird nicht das Herz haben!‹«

Er blieb nachsinnend sitzen und wiederholte die letzten Worte, bis er wieder erwachte und sich erhob.

»Du willst es nicht nehmen, Margaret?«

Sie schüttelte den Kopf und bat ihn mit stummer Gebärde, sich zu entfernen.

»Gute Nacht, Margaret.«

»Gute Nacht!«

Er wandte sich wieder nach ihr um, betroffen von dem Schmerz und vielleicht auch von dem Mitleid mit ihm, das in ihrer Stimme zitterte. Die Bewegung war rasch und hastig, und für einen Augenblick schien etwas von seinem frühern Wesen in seiner Haltung aufzuzucken. Im nächsten Moment aber ging er, wie er gekommen war. Dieses Aufblitzen eines erloschenen Feuers schien in ihm kein lebendigeres Bewußtsein seiner Würdelosigkeit zu entflammen.

Meg mußte in jeder Stimmung, bei schwerem Kummer, bei körperlichen wie seelischen Qualen ihre Arbeit vollenden. So setzte sie sich daher wieder und nähte fort. Abend, Mitternacht – sie arbeitete noch immer.

Ein schwaches Feuer brannte auf ihrem Herd, denn die Nacht war sehr kalt. Sie stand von Zeit zu Zeit auf, um es zu schüren. Während sie so beschäftigt war, schlugen die Glocken halb eins, und als sie ausgetönt hatten, hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Sie öffnete sich, noch ehe Meg Zeit hatte, sich Gedanken darüber zu machen, wer sie wohl zu einer so ungewöhnlichen Stunde besuchen möge.

O Jugend und Schönheit, die ihr glücklich sein sollt, schaut hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr selbst gesegnet seid und alles segnet, was in euerm Bereich ist, die ihr die Absichten eures Schöpfers erfüllt, schaut hierher!

Sie sah die eintretende Gestalt und schrie auf: »Lilian!«

Die Gestalt trat schnell vor, fiel vor ihr auf die Knie nieder und klammerte sich an ihr Kleid.

»Ach Himmel, steh auf – steh auf, Lilian! meine teure Lilian!«

»Nie, Meg; nimmermehr! Hier! hier! zu deinen Füßen will ich mich an dich klammern, damit ich deinen teuern Atem auf meinem Gesicht fühle!«

»Süße Lilian! meine teure Lilian! Kind meines Herzens – die Liebe einer Mutter kann nicht zärtlicher sein. Lege dein Haupt an meine Brust!«

»Nie, Meg. Nimmermehr! Als ich zum erstenmal zu deinem Gesicht aufblickte, knietest du vor mir. Laß mich auf den Knien vor dir sterben. Laß – laß mich!«

»Du bist zurückgekommen. Mein Kleinod, wir wollen wieder beisammenleben, miteinander arbeiten, miteinander hoffen und miteinander sterben.«

»Ach, küsse mich, Meg; schlinge deine Arme um mich und drücke mich an dein Herz! Sieh mich freundlich an – aber laß mich hier liegen! Laß mich zum letztenmal dein liebes Gesicht auf den Knien betrachten!«

O glückliche Jugend und Schönheit, blickt hierher! O Jugend und Schönheit, die ihr den Zwecken eures wohltätigen Schöpfers dient, blickt hierher!

»Vergib mir, Meg! Teure liebe Meg! vergib mir! Ich weiß, du tust es – ich sehe, daß du es tust; aber sprich es auch aus, Meg!«

Sie sprach es aus, ihre Lippen auf Lilians Wange gedrückt. Und mit ihren Armen umschlang sie – sie wußte es jetzt – ein gebrochenes Herz!

»Gottes Segen über dich, meine Teure. Küsse mich noch einmal! Er duldete es, daß die Sünderin sich zu seinen Füßen niedersetzte und sie mit ihren Haaren abtrocknete. O Meg, welch ein Erbarmen – welch ein Mitleid!«

Als sie starb, berührte der Geist des zurückkehrenden Kindes strahlend und unschuldig den alten Mann mit seiner Hand und winkte ihm weiterzugehen.

Das vierte Viertel


Das vierte Viertel

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Eine neue Erinnerung an die gespenstischen Gestalten in den Glocken, ein unbestimmtes Gefühl, als ob letztere wieder läuteten, ein schwindelndes Bewußtsein, den Phantomenschwarm erneut und wieder erneut gesehen zu haben, bis sich das Bild desselben in dem wirren Durcheinander zahlloser Gestalten verloren hatte – eine sekundenlange Erkenntnis, obwohl er nicht wußte, woher sie kam, daß noch mehr Jahre entschwunden waren – und Trotty stand, von dem Geist des Kindes begleitet, wieder vor menschlicher Gesellschaft.

Eine beleibte Gesellschaft, eine rosenwangige Gesellschaft, eine behagliche Gesellschaft. Es waren ihrer nur zwei, aber sie waren rot genug für zehn. Sie saßen vor einem lustig prasselnden Feuer, zwischen sich einen kleinen, niedrigen Tisch, und wenn nicht der Duft von heißem Tee und Semmeln in diesem Gemach länger weilte als in den meisten andern, so mußte der Tisch kurz zuvor eine Mahlzeit gesehen haben. Aber die Tassen waren rein und standen an ihren Plätzen in dem Eßschrank; die Messingröstgabel hing in ihrem gewöhnlichen Winkel und breitete ihre vier müßigen Finger aus, als wolle sie sich einen Handschuh anmessen lassen, und es waren keine weiteren erkennbaren Merkmale eines eben beendigten Mahles vorhanden als diejenigen, die sich in dem Schnurren und Bartputzen der sich wärmenden Katze und in den lieblich (um nicht zu sagen fettig) glänzenden Gesichtern der beiden Personen aussprachen.

Dieses behäbige Paar (augenscheinlich verheiratet) hatte das Feuer ehrlich zwischen sich geteilt und sah den sprühenden Funken zu, die in den Rost fielen, bald ein wenig einnickend, bald wieder aufwachend, wenn etwa ein ungewöhnlich großes glühendes Fragment prasselnd niederkam, als wollte ihm das Feuer nachfolgen.

Es lief jedoch nicht Gefahr, bald zu verlöschen, denn es erglänzte nicht nur in dem kleinen Zimmer, an den Glasscheiben in der Tür und an dem darüber gezogenen Vorhang, sondern auch in dem kleinen Laden draußen. Ein kleiner Laden, zum Ersticken vollgestopft mit dem Überfluß seiner Vorräte – ein wahrhaft gefräßiger kleiner Laden mit einem Magen so bequem und voll wie der eines Haifisches. Käse, Butter, Brennholz, Seife, Pökelfleisch, Schwefelhölzer, Speckseiten, Tafelbier, Schnurrkreisel, Eingemachtes, Papierdrachen, Hanfsamen, kalter Schinken, Birkenbesen, Herdsteine, Salz, Weinessig, Stiefelwichse, Heringe, Schreibmaterialien, Schweinefett, Champignonsauce, Schnürbänder, Brotlaibe, Federbälle, Eier und Schieferstifte – alles war Fisch, was in das Netz dieses gierigen kleinen Ladens kam, und alle diese Gegenstände befanden sich in seinem Netz. Was für andre kleine Waren noch vorhanden waren, würde sich schwer aufzählen lassen; aber da befanden sich noch Bindfadenrollen, Zwiebelreihen, Lichterbündel, Kohlnetze und Bürsten, die traubenförmig wie eine außerordentliche Frucht von der Decke niederhingen, während verschiedene Büchsen, denen ein aromatischer Duft entströmte, den Wahrheitsbeweis der Aufschrift über der Ladentür lieferten , die dem Publikum kundtat , daß der Inhaber dieses Kramladens auch ein privilegierter Tee-, Kaffee-, Tabak-, Pfeffer- und Schnupftabakshändler sei.

Diese Artikel, die in dem Licht des Feuers und in dem weniger lieblichen Glanze zweier rauchender Lampen unterscheidbar wurden, welche düster in dem Laden brannten, als wenn ihnen dessen Vollblütigkeit schwer auf den Lungen läge, und dann ein Blick auf eines von den beiden Gesichtern bei dem Stubenfeuer ließen Trotty leicht die stämmige alte Dame Frau Chickenstalker erkennen. Sie hatte stets zur Korpulenz geneigt, schon in den Tagen, als er sie gekannt und ein kleines Pöstchen in ihren Büchern stehen hatte.

Die Züge ihres Gesellschafters waren ihm nicht so vertraut. Das große breite Kinn mit Falten, groß genug, daß man einen Finger hineinlegen konnte; die erstaunten Augen, die sich selbst Vorwürfe zu machen schienen , daß sie immer tiefer und tiefer in das nachgiebige Fett seines schwammigen Gesichts einsanken; die Nase, die mit jener Funktionsstörung behaftet war, die man in der Regel Stockschnupfen nennt; den kurzen, dicken Hals und die asthmatische Brust mit andern derartigen Schönheiten konnte Trotty, wie sehr sie auch geeignet sein mochten, sich dem Gedächtnis einzuprägen, anfangs niemand zuschreiben, den er gekannt hatte, obschon es ihm vorkam, als hätte er alles dies schon gesehen. Endlich aber erkannte er in Frau Chickenstalkers Lebens- und Handelsassocié den vormaligen Portier des Sir Joseph Bowley – eine apoplektische Unschuld, die in Trottys Geist vor Jahren schon in eine Beziehung zu Frau Chickenstalker getreten war, weil sie ihm Zutritt zu dem Herrenhaus gegeben, wo er seine Verbindlichkeiten gegen diese Dame bekannt und sich dadurch einen so ernsten Vorwurf auf sein unglückliches Haupt geladen hatte.

Nach den Veränderungen, die Trotty bereits gesehen hatte, interessierte er sich wenig für einen derartigen Wechsel; indes sind die Ideenverknüpfungen doch bisweilen sehr stark, und er sah unwillkürlich hinter die Stubentür, wo gewöhnlich die Posten der borgenden Kunden aufgekreidet waren. Sein Name war nicht mehr dabei. Es standen einige Namen da, doch waren sie Trotty fremd und außerdem in beträchtlich geringerer Anzahl als in früherer Zeit, woraus er schloß, daß der Portier die Barzahlung bevorzuge und daß er bei seinem Eintritt ins Geschäft den säumigen Kunden ziemlich scharf zugesetzt haben mußte.

Trotty fühlte ein solches Herzweh und trauerte so sehr um die Jugend und die Aussichten seines armen Kindes, daß es ihm sogar leid tat, keinen Platz mehr in Frau Chickenstalkers Schuldbuch einzunehmen.

»Was ists für eine Nacht, Anna?« fragte der vormalige Portier des Sir Joseph Bowley, indem er seine Beine vor dem Feuer ausstreckte und sie so weit rieb, als er mit seinen kurzen Armen reichen konnte, während seine Miene deutlich zu sagen schien. »Ich sitze da, wenns schlecht ist, und verlange nicht auszugehen, wenns gut ist.«

»Es stürmt, graupelt und droht mit Schnee,« entgegnete seine Frau. »Dunkel. Und sehr kalt.«

»Es freut mich, daran zu denken, daß wir Wecken hatten,« sagte der vormalige Portier in dem Ton eines Mannes, der sein Gewissen zur Ruhe gebracht hat. ’s ist eine Nacht, wie für Wecken gemacht; auch für Pfannkuchen und Teegebäck.«

Der ehemalige Portier brachte die Namen dieser aufeinander folgenden Leckerbissen vor, als ob er nachdenklich seine guten Taten aufzählte. Dann rieb er sich wieder seine fetten Beine, drehte sie in den Kniegelenken vor dem Feuer, um die strahlende Hitze auch den bisher ungerösteten Teilen zuzuführen, und lachte, als ob ihn jemand gekitzelt hätte.

»Du bist ja recht heiter, mein lieber Tugby,« bemerkte seine Frau.

Die Firma hieß jetzt Tugby, vormals Chickenstalker.

»Nein,« versetzte Tugby, »nein. Nicht besonders. Bin nur in etwas gehobener Stimmung. Die Wecken kamen so gelegen!«

Dabei kicherte er, bis er ganz schwarz im Gesicht war, und hatte so viel Not, wieder eine andre Farbe zu kriegen, daß seine fetten Beine die seltsamsten Exkursionen in die Luft machten. Auch wollten sie erst wieder einigermaßen Vernunft annehmen, als ihn Frau Tugby heftig auf den Rücken geklopft und wie eine große Flasche geschüttelt hatte.

»O du grundgütiger Himmel über diesen Mann!« schrie Frau Tugby entsetzt. »Was er nur treibt!«

Herr Tugby wischte sich die Augen und wiederholte mit matter Stimme, daß er sich ein wenig in gehobener Stimmung befinde.

»Na, sei so gut und laß es in Zukunft bleiben,« versetzte Frau Tugby, »wenn du mich mit deinem Rappeln und Herumfechten nicht zu Tod erschrecken willst!«

Herr Tugby erklärte, es nicht mehr tun zu wollen. Aber seine ganze Existenz war ein Fechtgang, bei dem er, wenn man nach seinem stets kürzer werdenden Atem und dem tiefen Purpur seines Gesichtes urteilen durfte, immer den kürzern zog.

»So stürmts also und graupelts und drohts mit Schnee; ists dunkel und sehr kalt, meine Liebe!« sagte Herr Tugby, indem er nach dem Feuer sah und wieder auf die Ursache und den Kern seiner momentanen gehobenen Stimmung kam.

»Bei Gott, ein rauhes Wetter,« erwiderte seine Frau, den Kopf schüttelnd.

»Ja, ja!« sagte Herr Tugby. »Jahre sind in dieser Hinsicht wie die Christen: Einige von ihnen sterben schwer, und bei andern geht es leicht ab. Das gegenwärtige hat nicht mehr weit hin und wehrt sich deshalb; aber es gefällt mir dafür nur um so besser. Es ist ein Kunde da, meine Liebe!«

Frau Tugby hatte das Knarren der Tür bereits vernommen und sich erhoben.

»Nun, was solls?« fragte die Dame, in den kleinen Laden hinausgehend. »O! ich bitt‹ um Verzeihung, Sir; wahrhaftig, ich wußte nicht, daß Sie es wären.«

Diese Entschuldigung galt einem Gentleman in Schwarz, der mit zurückgeschlagenen Ärmeln, den Hut seitwärts auf den Kopf gedrückt und die Hände in seinen Rocktaschen, rittlings auf dem Tafelbierfäßchen saß und ihr entgegennickte.

»Das ist eine schlimme Geschichte da oben, Frau Tugby,« sagte der Gentleman. »Der Mann kann nicht leben.«

»Wie, der aus dem hintern Dachstübchen?« rief Tugby, der in den Laden herauskam und sich an dem Gespräch beteiligte.

»Der Dachstübler, Herr Tugby,« entgegnete der Gentleman, »wird demnächst die Treppe herunterkommen und gar bald unter dem Rasen liegen.«

Während er abwechselnd Tugby und dessen Gattin anschaute, klopfte er mit den Knöcheln das Faß ab, um zu untersuchen, wieviel Bier noch darin sei, und sobald er dies ausfindig gemacht hatte, trommelte er einen Marsch auf dem leeren Teil.

»Das hintere Dachstübchen, Herr Tugby,« sagte der Herr, nachdem Tugby eine Zeitlang in stummer Bestürzung vor sich hingestarrt hatte, »ist im Begriff abzufahren.«

»Dann«, sagte Tugby, sich an seine Frau wendend, »muß er abfahren, bevor er abgefahren ist.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr ihn fortschaffen könnt,« sagte der Gentleman, den Kopf schüttelnd. »Ich für meinen Teil möchte wenigstens nicht die Verantwortung auf mich nehmen und die Möglichkeit zugestehen. Laßt ihn bleiben, wo er ist. Er kanns nicht mehr lange treiben.«

»’s ist der einzige Gegenstand,« sagte Tugby, die Butterwagschale krachend auf den Ladentisch drückend, indem er seine Faust darin wog, »über den wir je einen Wortwechsel miteinander gehabt haben – sie und ich – und da sieht man, was am Ende dabei herausgekommen ist! Stirbt er zuletzt gar hier – stirbt auf unserm Grund und Boden – stirbt in unserm Haus!«

»Und wo willst du denn, daß er sterben soll, Tugby?« rief seine Frau.

»Im Armenhaus,« entgegnete er. »Wozu hat man denn Armenhäuser?«

»Dazu nicht,« erwiderte Frau Tugby mit großem Nachdruck. »Dazu nicht! Dazu habe ich dich auch nicht geheiratet. Schlag dir diese Gedanken aus dem Kopf, Tugby – ich wills nicht haben. Ich leide es einmal nicht – lieber ließe ich mich zuerst scheiden, um dein Gesicht nie wiederzusehen. Als mein Witwenname noch über dieser Tür stand – und er hat viele, viele Jahre da gestanden – war dieses Haus weit und breit als Frau Chickenstalkers bekannt, und jedermann rühmte es wegen seines ehrlichen Kredits und seines guten Rufs. Als mein Witwenname noch über jener Tür stand, Tugby, kannte ich ihn als einen schönen, kräftigen, männlichen, unabhängigen Jüngling – ich kannte sie als das süßeste und gutmütigste Mädchen, das man je gesehen hat – ich kannte ihren Vater (der arme alte Mann stürzte vom Turm, den er schlafwandelnd erstiegen hatte, und erschlug sich) als den einfachsten, unermüdlichsten und wohlwollendsten Mann, der nur je geatmet hat, und wenn ich sie aus dem Haus stoße, mögen mich die Engel aus dem Himmel stoßen. Das täten sie auch! Und mir würde nur recht geschehen!«

Ihr altes Gesicht, das zu Tobys Zeiten rund und voll Grübchen gewesen, schien wieder aus ihrem jetzigen hervorzuleuchten, als sie diese Worte sprach. Sie trocknete dann die Augen und schüttelte mit einem Ausdruck von Festigkeit, die augenscheinlich keinen Widerstand duldete, den Kopf und ihr Schnupftuch gegen Tugby, so daß Trotty vor sich hinsprach: »Gott segne sie! Gott segne sie!«

Dann horchte er mit klopfendem Herzen auf das, was nun folgen mochte; denn er wußte noch nichts, als daß sie von Meg sprachen.

Wenn Tugby in dem Stübchen ein wenig in gehobener Stimmung gewesen war, so wurde jetzt das Gleichgewicht mehr als erforderlich wieder hergestellt, indem er nun im Laden nicht wenig gedrückt dastand und seine Frau stumm anglotzte. Dabei – sei es in Anwandlung von Zerstreutheit oder als Vorsichtsmaßregel – ließ er heimlich alles Geld aus der Schublade in seine eignen Tasten gleiten.

Der Gentleman aus dem Tafelbierfaß, der augenscheinlich ein autorisierter Armenarzt war, mochte wohl an kleine Meinungsverschiedenheiten zwischen Mann und Weib zu sehr gewöhnt sein, um sich im gegenwärtigen Fall eine Bemerkung zu erlauben. Er blieb pfeifend sitzen und ließ kleine Tropfen aus dem Hahn auf den Boden rinnen, bis vollkommene Stille eingetreten war. Dann hob er seinen Kopf und sagte zu Frau Tugby, vormals Chickenstalker:

»Es ist sogar jetzt noch etwas Interessantes an der Frauensperson. Wie kam sie dazu, ihn zu heiraten?«

»Ach,« versetzte Frau Tugby, ihren Sitz neben ihm nehmend, »das ist ein recht grausamer Teil ihrer Geschichte, Sir. Ihr müßt nämlich wissen, daß sie und Richard vor vielen Jahren miteinander verlobt waren. Als sie noch ein junges und schönes Paar waren, hatten sie alles miteinander ausgemacht, und sie wollten sich an einem Neujahrstag trauen lassen. Da setzte aber ein Gentleman Richard in den Kopf, daß er etwas Besseres tun könne; er werde den Schritt bald bereuen – das Mädchen sei nicht gut genug für ihn, und ein lebensfroher junger Mann habe keinen Grund, zu heiraten. Und der Gentleman schüchterte auch sie ein und machte sie melancholisch, indem er ihr sagte, ihr Mann werde sie dann verlassen, ihre Kinder kämen an den Galgen, und es sei gottlos, zu heiraten, und was dergleichen mehr war. Kurz, sie zögerten und zögerten – ihr Vertrauen zueinander wurde gebrochen, und so ging es auch mit der Verlobung. Aber der Fehler lag an ihm, denn sie würde ihn mit Freuden geheiratet haben, Sir. Oftmals nachher habe ich gesehen, wie ihr fast das Herz brach, wenn er in stolzer, gleichgültiger Weise an ihr vorbeiging, und nie grämte sich ein Mädchen aufrichtiger um einen Mann als sie, wie sie zum erstenmal hörte, daß Richard auf Abwege gerate.«

»O! ist er auf Abwege geraten?« sagte der Gentleman, indem er den Luftzapfen des Fäßchens herauszog und durch das Loch nach dem Bier hinunterzugucken versuchte.

»Ja, seht Ihr, Sir, ich glaube nicht, daß er sich selbst recht verstand. Ich glaube, es bedrückte ihn sehr, daß sie miteinander gebrochen hatten, und hätte er sich nicht vor dem Gentleman geschämt – vielleicht trug er auch Bedenken, weil er nicht wußte, wie sie es aufnehmen würde – so hätte er vielleicht alles über sich ergehen lassen, nur um Megs Versprechen und Hand wiederzugewinnen. So glaube ich wenigstens, obschon er mirs leider nie gesagt hat. Er legte sich dann aufs Trinken, wurde ein Faulenzer und hielt sich an schlechte Gesellschaft – lauter Vergnügungen, die – nach dem Ausspruch des Gentleman – so viel besser für ihn sein würden als das behagliche Heim, das er hätte haben können. So verlor er denn sein gutes Aussehen, seinen guten Ruf, seine Gesundheit, seine Kräfte, seine Freunde, seine Arbeit – kurz alles!«

»Er hat nicht alles verloren, Frau Tugby,« erwiderte der Gentleman, »denn er gewann ja ein Weib, und ich möchte wissen, wie dies zuging.«

»Ich komme sofort dazu, Sir. So trieb ers Jahre um Jahre und sank immer tiefer und tiefer; das arme Ding aber erduldete Elend genug, um sich ganz aufzureiben. Endlich war er so herabgekommen, daß ihm niemand mehr Beschäftigung geben oder auf ihn achten wollte, und wohin er kam, wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Er wanderte von einem Ort zum andern und kam zum hundertstenmal zu einem gewissen Herrn, der es oft und oft mit ihm versucht hatte; denn er war bis zu allerletzt ein guter Arbeiter. Und dieser Herr, der seine Geschichte kannte, sagte zu ihm: ›Ich glaube, Ihr seid unverbesserlich; es gibt nur eine einzige Person in der Welt, die Euch möglicherweise noch retten kann. Bittet mich nicht mehr um mein Vertrauen, bevor sie nicht einen Versuch mit Euch gemacht hat.‹ So ähnlich fuhr er ihn in seinem Zorn an.«

»Ah!« entgegnete der Gentleman. »Und was weiter?« »Nun, Sir, er ging zu ihr und kniete vor ihr nieder – sagte, so stehe es und so sei es bisher gegangen, und bat sie dann, ihn zu retten.«

»Und sie? – Laßts Euch nicht so zu Herzen gehen, Frau Tugby.«

»Sie kam noch am nämlichen Abend zu mir und fragte mich, ob sie nicht in meinem Haus wohnen könnten. ›Was er mir einmal gewesen ist‹, sagte sie, ›ist tot und begraben, Seite an Seite mit dem, was ich ihm war. Aber ich habe mir die Sache überlegt und will den Versuch machen – in der Hoffnung, ihn zu retten, und um der Liebe des frohherzigen Mädchens willen, das Ihr noch gekannt habt und das an einem Neujahrstag heiraten sollte; um jener Liebe für ihren Richard willen.‹ Und sie sagte, er sei von Lilian zu ihr gekommen, und Lilian habe ihm vertraut, und sie könne dies nie vergessen. So heirateten sie; und als sie hierherkamen und ich sie sah, hoffte ich, daß sich Prophezeiungen, wie diejenigen, die sie in ihrer Jugend trennten, nicht oft erfüllen möchten, wie in diesem Falle; wenigstens möchte ich sie nicht um ganze Goldberge voraussagen.«

Der Gentleman stieg von dem Faß herunter und streckte sich, indem er zugleich bemerkte:

»Vermutlich mißhandelte er sie, sobald sie verheiratet waren?«

»Ich glaube nicht, daß er dies je getan hat,« versetzte Frau Tugby kopfschüttelnd und sich die Augen trocknend. »Es ging mit ihm eine kurze Zeit besser; aber seine Gewohnheiten waren zu stark und zu festgewurzelt, als daß er sie hätte los werden können. Er wurde ein wenig rückfällig, und das wiederholte sich immer öfter und stärker, bis ihn sein Leiden erfaßte. Ich glaube, er hat sie immer geliebt, und bin fest davon überzeugt. Ich habe gesehen, wie er in seinen Anfällen weinend und zitternd ihre Hand zu küssen versuchte, und hörte, wie er sie Meg nannte und wie er sagte, es sei ihr neunzehnter Geburtstag. Jetzt liegt er schon wochen- und monatelang da. Da sie ihre Zeit zwischen ihm und ihrem Kinde teilen muß, war sie nicht imstande, ihre frühere Arbeit fortzusetzen; sie verlor dieselbe, weil sie sie nicht regelmäßig abliefern konnte, wenn sie auch schließlich mit ihr fertig wurde. Wie sie ihr Leben fortzubringen vermochten, weiß ich kaum zu sagen.«

»Aber ich weiß es,« murmelte Herr Tugby, indem er nach der Geldschublade, im Geschäft umher und auf seine Frau blickte; dann wiegte er mit schlauer Miene den Kopf und sagte: »Wie Kampfhähne!«

Er wurde jetzt durch einen Schrei – einen Klagelaut aus dem obern Stockwerk des Hauses unterbrochen. Der Gentleman eilte hastig zur Tür.

»Mein Freund,« sagte er zurückblickend, »Ihr braucht jetzt nicht mehr zu streiten, ob er fortgeschafft werden soll oder nicht; denn ich glaube, er hat Euch die Mühe erspart.«

Mit diesen Worten eilte er die Treppe hinauf, und Frau Tugby folgte ihm nach, während Herr Tugby hinterdrein keuchte und brummte, denn er war kurzatmiger als gewöhnlich infolge der Beute aus der Geldlade, die eine unbequeme Menge Kupfer enthalten hatte. Trotty schwebte, das Kind an seiner Seite, wie ein Windhauch die Treppe hinauf.

»Folge ihr! folge ihr! folge ihr!« Er hörte beim Hinansteigen die gespenstigen Stimmen in den Glocken ihre Worte wiederholen. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

Es war vorüber. Es war vorüber. Dies also war sie, der Stolz und die Freude ihres Vaters! – dieses hagere, unglückliche Weib, die neben dem Bett, wenn es diesen Namen verdiente, weinte und gesenkten Hauptes ein Kind an ihre Brust drückte? Wie abgezehrt, krank und elend das arme Kind aussah – aber doch, wer kann sagen, wie teuer es ihr war?

»Gott sei Dank!« rief Trotty, die Hände gefaltet in die Höhe haltend. »O, Gott sei gedankt! Sie liebt ihr Kind!«

Der Gentleman war durch täglich sich wiederholende ähnliche Szenen gleichgültig gegen den Anblick geworden und wußte, daß sie nur bedeutungslose Ziffern in Filers Summen waren – nur Striche in den Berechnungen. Er legte seine Hand auf das Herz, das nicht mehr schlug, lauschte auf den Atem und sagte:

»Seine Leiden sind vorüber. Ihm ist wohl!«

Frau Tugby versuchte, die arme Frau mit liebevoller Teilnahme zu trösten, während Herr Tugby mit philosophischen Beruhigungsmitteln angestiegen kam.

»Nun, nun!« sagte er, die Hände in seinen Taschen; »Ihr müßt Euch nicht dem Schmerz hingeben. Es führt zu nichts. Ihr müßt dagegen ankämpfen. Was wäre aus mir geworden, wenn ich mich als Portier hätte so unterkriegen lassen, wo wir wohl sechsmal in der Nacht durch das zweimalige Klopfen, das immer einen Wagen ankündigte, aus dem Schlaf gerissen wurden, um dann zu sehen, daß man uns genarrt hatte. Ich aber besaß Geistesstärke genug und machte nicht auf!«

Abermals hörte Trotty die Stimmen sagen: »Folge ihr!« Er wandte sich nach seinem Führer um und sah , wie dieser sich in die Luft schwang. »Folge ihr!« sagte er und verschwand.

Trotty schwebte um sie her, setzte sich zu ihren Füßen nieder, blickte zu ihrem Gesicht auf, um auch nur eine einzige Spur ihres früheren Aussehens zu finden , und lauschte auf einen Ton ihrer alten lieblichen Stimme. Auch das Kind umwandelte er – es war so abgezehrt, so frühalt, so schrecklich in seinem Ernst, so kläglich in seinem schwachen, traurigen Wimmern. Er betete es beinahe an; er klammerte sich an das kleine Geschöpf als ihren einzigen Schutz, als das letzte lebendige Glied, das sie noch an die Welt fesselte. Er setzte seine Vaterhoffnung, sein ganzes Vertrauen auf dieses hinfällige Kind, bewachte jeden ihrer Blicke, als sie es in ihren Armen hielt, und rief zu tausend Malen:

»Sie liebt es! Gott sei Dank, sie liebt es!«

Er war Zeuge, wie die Frau sie nachts pflegte und zu ihr zurückkehrte, sobald ihr brummender Mann schlief und alles still war, um ihr Nahrung zu bringen, sie zu ermutigen und mit ihr zu weinen. Der Tag kam und dann wieder die Nacht – abermals ein Tag und wieder eine Nacht; die Zeit entschwand. Das Haus des Todes entledigte sich seines Toten, und das Zimmer blieb ihr und dem Kind überlassen. Er hörte es stöhnen und weinen; er sah, wie es die Mutter quälte und ermüdete – ja , die vor Erschöpfung kaum Eingeschlummerte wieder wachrief und sie mit seinen kleinen Händchen auf der Folter erhielt. Aber sie blieb ausdauernd , sanft und geduldig. Geduldig! Sie war seine liebende Mutter von ganzer Seele und ganzem Herzen, und sein Leben war mit dem ihrigen so verknüpft, als sei es noch nicht geboren.

In all dieser Zeit litt sie Not, siechte dahin in schrecklichem, verzehrendem Mangel. Das Kind in ihren Armen, wanderte sie da- und dorthin, um Beschäftigung zu suchen, und während sein hageres Gesichtchen in ihrem Schoß lag und zu ihrem Antlitz aufblickte, verrichtete sie jede Arbeit für den erbärmlichsten Preis – Tag und Nacht sich abmühend für so viele Kreuzer, als da Ziffern sind auf dem Uhrblatt! Wenn sie es gezankt, vernachlässigt, nur einen Augenblick mit Haß angesehen oder gar in hastigem Zornaufwallen geschlagen hätte! Nein. Sein Trost war, daß sie es immer liebte.

Sie teilte niemand ihre äußerste Not mit und wanderte tags draußen umher, um nicht von ihrer einzigen Freundin befragt zu werden; denn jede neue Hilfe, die sie von ihren Händen erhielt, hatte einen neuen Hader zwischen der guten Frau und ihrem Gatten zur Folge. Und der Gedanke, da auch noch die Ursache zu täglichem Zank und Wortwechsel zu werden, wo sie schon so viel schuldete, bereitete ihr neues Leid.

Dennoch liebte sie ihr Kind. Sie liebte es mehr und mehr. Aber es kam eine Nacht, in der auch ihre Liebe sich anders gestaltete.

Damals sang sie es leise in den Schlaf und ging auf und ab, um es einzulullen, als sich sacht die Tür öffnete und ein Mann hereinsah.

,,Zum letztenmal!« sagte er.

»William Fern!«

»Zum letztenmal!«

Er lauschte wie einer, hinter dem die Verfolger her sind, und sprach flüsternd:

»Margarete, meine Uhr ist nahezu abgelaufen. Ich konnte nicht enden, ohne Abschied von dir zu nehmen, ohne dir ein Wort des Dankes zu sagen.«

»Was habt Ihr getan?« fragte sie, ihn mit Entsetzen betrachtend.

Er sah sie an, gab aber keine Antwort.

Nach einem kurzen Schweigen machte er eine Gebärde mit der Hand, als wollte er ihre Frage abwehren, sie beiseite schieben, und sagte:

»Es ist jetzt schon lange her, Margarete; aber jene Nacht ist noch so frisch in meinem Gedächtnis , als wäre es erst gestern gewesen. Damals dachten wir nicht,« fügte er, mit einem Blick auf ihre Umgebung, hinzu, «daß wir uns jemals unter solchen Umständen wiedersehen sollten. Ist das dein Kind, Margarete? Laß es mich umarmen. Gib mir dein Kind.«

Er legte seinen Hut auf den Boden und nahm es auf, zitterte aber dabei vom Kopf bis zum Fuß.

»Ist es ein Mädchen?«

»Ja«

Er hielt seine Hand vor ihr kleines Gesichtchen.

»Schau , wie schwach ich geworden bin, Margarete , wenn ich nicht einmal den Mut habe, es anzusehen! Laß sie mir einen Augenblick. Ich tue ihr nichts. Es ist lange her, aber … Wie heißt die Kleine?«

»Margarete,« antwortete sie rasch.

»Das freut mich,« sagte er. »Das freut mich.«

Er schien freier zu atmen. Nach einer kurzen Pause nahm er seine Hand weg und sah dem Kind ins Antlitz. Dann aber bedeckte er es augenblicklich wieder.

»Margarete!« sagte er und gab ihr das Kind zurück. »Es ist Lilians Gesicht.«

»Lilians?«

»Ich hielt dasselbe Gesicht in meinen Armen, als Lilians Mutter starb und sie zurückließ.«

»Als Lilians Mutter starb und sie zurückließ?« wiederholte sie außer sich.

»Wie schrill du sprichst! Warum starrst du mich so an, Margarete?«

Sie sank in einen Stuhl, preßte das Kind an ihre Brust und weinte. Dann sah sie ihm ängstlich ins Gesicht und drückte es abermals an ihr Herz. Wenn sie es aber so betrachtete, schien sich etwas Wildes und Schreckliches in ihre Liebe zu mischen, und ihr alter Vater begann darob zu zittern.

»Folge ihr!« tönte es durch das Haus. »Lerne es von dem Wesen, das deinem Herzen am teuersten ist!«

»Margarete,« sagte Fern, sich über sie beugend und sie auf die Stirn küssend. »Ich danke dir zum letztenmal. Gute Nacht. Gott behüte dich! Gib mir deine Hand und versprich mir, mich von dieser Stunde an zu vergessen, und bilde dir ein, ich sei hier gestorben.«

»Was habt Ihr getan?« sagte sie abermals.

»Es wird heute nacht ein Feuer geben,« sagte er, von ihr zurücktretend. »Es werden in diesem Winter viele Feuer sein, um die dunkeln Nächte zu erhellen im Osten, Westen, Norden und Süden. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, dann wird die Farbe von Flammen herrühren. Wenn du den fernen Himmel rot siehst, denke nicht mehr an mich; oder wenn du nicht anders kannst, so erinnere dich, welche Hölle in meinem Innern angezündet wurde, und denke, es seien ihre Flammen, die sich in den Wolken spiegeln. Gute Nacht. Gott befohlen!«

Sie rief ihm nach; aber er war fort. Dann setzte sie sich betäubt nieder, bis sie durch ihr Kind zum Gefühl des Hungers, der Kälte und der Dunkelheit geweckt wurde. Sie ging die liebe lange Nacht in der Stube auf und ab, es in den Armen wiegend und beschwichtigend, wobei sie mitunter vor sich hinmurmelte: »Es gleicht Lilian, als ihre Mutter starb und sie zurückließ!« Warum war ihr Schritt so hastig, ihr Auge so wild, ihre Liebe so ungestüm und schrecklich, sooft sie diese Worte wiederholte?

»Aber es ist Liebe,« sagte Trotty. »Es ist Liebe. Sie wird nie aufhören, es zu lieben. Meine arme Meg!«

Am andern Morgen kleidete sie das Kind mit ungewöhnlicher Sorgfalt – ach, welch eitle Mühe bei so elenden Fetzen! – und versuchte abermals, irgendeinen Verdienst aufzutreiben. Es war der letzte Tag des alten Jahres. Ohne etwas über die Lippen zu bringen, lief sie bis in die Nacht umher; aber all ihre Bemühungen waren vergeblich!

Sie mischte sich unter eine Gruppe herabgekommener Bittsteller, die im Schnee standen, bis ein Beamter , der zur Verteilung der öffentlichen Almosen – die das Gesetz gebot, nicht aber die Barmherzigkeit, die einst auf einem Berg gepredigt wurde – bestellt worden war, sich gnädigst herbeiließ, die Leute hereinzurufen, ins Verhör zu nehmen, dem einen zu sagen, »er solle da und dahin gehen,« dem andern zu bemerken, »er solle nächste Woche wiederkommen,« oder einen dritten Elenden wie einen Ball von hierher dorthin, von Hand zu Hand, von Haus zu Haus zu schleudern, bis er kraftlos umsank, um zu sterben, oder wieder aufsprang, um einen Diebstahl zu begehen und so zu einer höheren Art von Verbrecher zu werden, dessen Ansprüche keine Zögerung gestatteten. Aber auch hier sollte sie ihre Erwartung trügen. Sie liebte ihr Kind und wünschte, daß es an ihrer Brust läge. Dies war ganz genug.

Es war Nacht – eine kalte, dunkle, schneidende Nacht, als sie, das Kind an ihrem Leib wärmend, an das Haus gelangte, das sie ihr Heim nannte. Sie war so matt und schwindlig, daß sie niemand unter dem Haustor stehen sah, bis sie dicht daran war und eintreten wollte. Jetzt erst erkannte sie den Hausherrn, der sich so aufgepflanzt hatte – bei seiner Beleibtheit war dies nicht schwer – daß er den ganzen Eingang versperrte.

»O!« sagte er halblaut. »Ihr seid zurückgekommen?«

Sie blickte ihr Kind an und schüttelte den Kopf.

»Glaubt Ihr nicht , Ihr habt hier lange genug gewohnt , ohne Miete zu bezahlen? Glaubt Ihr nicht , daß Ihr für jemand, der nichts zahlt, eine recht anhängliche Kundin gewesen seid?« sagte Herr Tugby.

Sie wiederholte dieselbe stumme, flehentliche Bitte.

»Was würdet Ihr dazu sagen, wenn Ihr es versuchtet, woanders einzukaufen«, meinte er, »und Euch ein andres Quartier zu verschaffen? Nun! Glaubt Ihr nicht, es ließe sich machen?«

Sie versetzte mit gedämpfter Stimme, »daß es schon sehr spät sei. Morgen.«

»Ah, ich sehe schon, was Ihr wollt und was Ihr im Sinn habt,« entgegnete Tugby; »Ihr wißt, daß es in diesem Hause wegen Euch zwei Parteien gibt, und es macht Euch Freude, sie gegeneinander zu hetzen. Ich will keinen Streit haben und spreche jetzt so leise, um jeder Zänkerei vorzubeugen; aber wenn Ihr nicht geht, will ich laut reden, und es wird Worte setzen, die stolz und heftig genug sind, um Euch zu gefallen. Aber herein kommt Ihr mir nicht, das steht fest.«

Sie strich sich das Haar mit der Hand zurück und sah plötzlich zum Himmel auf in die düstere, dunkle Ferne.

»Dies ist die letzte Nacht des alten Jahres, und ich will nicht Euch oder irgend jemand anderm zuliebe böses Blut, Händel und Unfrieden ins neue hinübernehmen,« sagte Tugby, der in kleinerem Maßstab ein ›Freund und Berater‹ war. »Es wundert mich, daß Ihr Euch nicht vor Euch selbst schämt, mit solchen Kniffen ein neues Jahr anzufangen. Wenn Ihr in der Welt nichts andres zu tun habt als stets zu heulen und den Samen der Zwietracht zu streuen zwischen Mann und Weib, so tut Ihr besser, aus ihr hinauszugehen. Fort mit Euch!«

»Folge ihr! zur Verzweiflung!«

Abermals hörte der alte Mann die Stimmen. Er blickte auf und sah die Gestalten in der Luft schweben, die ihm den dunkeln Weg zeigten, den sie ging.

»Sie liebt es!« rief er in dringlichem Flehen. »Ihr Glocken, sie liebt es noch immer!«

Die Schatten schwebten in die Richtung, die sie eingeschlagen hatte, gleich einer Wolke.

Er schloß sich den Verfolgern an, hielt sich dicht an die Unglückliche und blickte ihr ins Gesicht. Da war derselbe wilde, schreckliche Ausdruck, der sich in ihre Liebe mengte und aus ihren Augen blitzte. Er hörte sie sagen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!« und ihre Eile verdoppelte sich.

O, gab es denn gar nichts, das sie aus ihrem Taumel reißen konnte? Nur ein Anblick, ein Schall, ein Geruch, der in einem Gehirn voll Feuer zartere Erinnerungen heraufbeschwören könnte? O Gott, nur ein einziges friedliches Bild der Vergangenheit sollte sich ihrem Auge zeigen!

»Ich war ihr Vater! ich war ihr Vater!« rief der alte Mann, seine Hand nach den dunkeln Schatten ausstreckend, die in der Luft dahinflogen. »Habt Erbarmen mit ihr und mit mir! Wohin geht sie zurück! Ich war ihr Vater!«

Aber sie deuteten bloß nach ihr hin, während sie weiter eilte, und sagten:

»Zur Verzweiflung! Lerne es an dem Geschöpf, das deinem Herzen am teuersten war!«

Hundert Stimmen hallten es nach, und die ganze Luft war ein für diese Worte verbrauchter Atem. Toby schien sie mit jedem seiner Atemzüge in sich zu saugen. Sie waren überall, und er konnte ihnen nicht entkommen. Dennoch eilte sie weiter – dasselbe unheimliche Licht in ihren Augen, dieselben Laute auf ihren Lippen: »Wie Lilian! So zu werden wie Lilian!«

Mit einem Male machte sie halt.

»O holt sie zurück!« rief der alte Mann, sich das weiße Haar zerraufend. »Mein Kind! Meine Meg! Holt sie zurück! Ewiger Vater, tu ihr Einhalt!«

Sie wickelte das Kind warm in ihr eignes dünnes Halstuch. Mit fieberigen Händen streichelte sie seine Glieder, legte sein Köpflein zurecht und ordnete den armseligen Anzug. Sie umschlang es mit ihren abgezehrten Armen, als wollte sie es nimmer von sich lassen, und mit ihren vertrockneten Lippen küßte sie es im höchsten Schmerz und im letzten langen Kampf der Liebe.

Sie legte des Kindes abgezehrte Hand auf ihren Hals, hielt es unter ihrem Kleid geschützt, drückte es an ihr verzweifeltes Herz und wandte das schlafende Gesichtchen dem ihren zu – dann eilte sie dem Fluß entgegen.

Dem rollenden, raschen und trüben Strom entgegen, auf dem die Winternacht brütend saß wie die letzten düsteren Gedanken vieler, die früher hier eine Zuflucht gesucht hatten. Wo zerstreute Lichter am Ufer unheimlich rot und trübe glommen, als wären sie Fackeln, die den Weg zum Tode wiesen. Wo kein Wohnplatz lebender Menschen seinen Schatten warf auf das tiefe, undurchdringliche, melancholische Schattenreich.

Dem Fluß entgegen! Zu jener Pforte der Ewigkeit lenkte sie ihre verzweifelten Schritte mit derselben Schnelligkeit, mit der seine raschen Wellen dem Meer zuströmten. Er versuchte, sie festzuhalten, als sie auf ihrem Weg nach dem dunkeln Spiegel an ihm vorbeikam; aber die wirre, wahnsinnige Gestalt, die wilde und schreckliche Liebe, die Verzweiflung, die alles menschliche Hindernis weit hinter sich gelassen hatte, rauschte wie der Wind an ihm vorbei.

Er folgte ihr. Sie hielt einen Augenblick an dem Rand inne, ehe sie den entsetzlichen Sprung tat. Er fiel auf seine Knie nieder und rief kreischend den Gestalten in den Glocken zu, die jetzt über ihnen schwebten.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »Von dem Wesen, das meinem Herzen am teuersten ist! O rettet sie, rettet sie!«

Er konnte seine Finger in ihren Anzug krampfen, konnte ihn halten! Als diese Worte seinen Lippen entschlüpft waren, fühlte er seinen Tastsinn zurückkehren, und er wußte, daß er sie abhielt.

Die Gestalten schauten festen Blickes auf ihn nieder.

»Ich habe es gelernt!« rief der alte Mann. »O habt Erbarmen mit mir in dieser Stunde, wenn ich in meiner Liebe zu ihr, die so jung und so gut ist, die Natur in den Herren der Mütter schmähte und sie zur Verzweiflung brachte! Habt Mitleid mit meiner Anmaßung, mit meinem Frevel und mit meiner Unwissenheit – rettet sie!«

Er fühlte, wie seine Hand kraftloser wurde. Sie schwiegen noch immer.

»Habt Erbarmen mit ihr!« rief er. »Dieses schreckliche Verbrechen wurde nur durch sinnlose Liebe gezeitigt; durch die stärkste, innigste Liebe, die wir gefallenen Menschen kennen! Bedenkt, wie groß ihr Elend gewesen sein muß, wenn solcher Same solche Frucht trägt. Der Himmel hat sie zum Guten bestimmt. Es gibt keine liebende Mutter auf der Erde, die nicht auch so weit getrieben werden könnte, wenn ein solches Leben vorhergegangen. O habt Erbarmen mit meinem Kinde, das selbst in diesem Augenblick Erbarmen mit dem ihren hegt und selber stirbt und ihre unsterbliche Seele dem Verderben preisgibt, um es zu erlösen!«

Sie lag in seinen Armen. Er hielt sie fest. Er hatte die Kraft eines Riesen.

»Ich sehe den Geist der Glocken unter euch,« sagte der alte Mann, das Kind erblickend, mit einer Art von Begeisterung, die dessen Blicke in ihm entzündeten. »Ich weiß, daß die Zeit unser Erbteil uns verwaltet. Ich weiß, daß eines Tages ein Meer der Zeit sich erheben und alle wie Blätter wegspülen wird, die uns unrecht tun und uns unterdrücken. Ich sehe, wie es heranflutet! Ich weiß, daß wir vertrauen und hoffen müssen und weder an uns noch an andern das Gute bezweifeln dürfen. Ich habe es von dem Wesen gelernt, das meinem Herzen am teuersten. Ich halte es wieder in meinen Armen. O ihr gnädigen und gütigen Geister, ich verschließe eure Lehre in die Brust, an der ich sie halte. O ihr gnädigen und guten Geister, ich danke euch!«

Er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wenn nicht die Glocken, die alten, lieben Glocken, seine guten, treuen, beständigen Freunde, ihr Freudengeläut zum neuen Jahr so munter, so fröhlich und so schwellend begonnen hätten, daß er auf die Füße sprang und so den Zauber löste, der ihn fesselte. –

 

»Und was du auch tust, Vater,« sagte Meg, »du mußt jedenfalls den Arzt befragen, bevor du wieder Kuttelflecke ißt, damit er dir sagen kann, ob sie dir zuträglich sind. Denn was du getrieben hast! Du lieber Gott!«

Sie saß an dem kleinen Tisch am Feuer und nähte an ihrem einfachen Hochzeitskleide, das sie mit Bändern schmückte, und war so stillselig, so blühend und jugendlich, so voll schöner Verheißung, daß er laut aufschrie, als wenn ein Engel in seinem Haus wäre. Dann stürzte er auf sie zu, um sie in seine Arme zu schließen. Doch er verwickelte sich mit den Füßen in die Zeitung, die auf die Erde gefallen war, und jemand drängte sich zwischen ihn und Meg.

»Nein,« sagte die Stimme des besagten Jemand, und es war eine prächtige, helle Stimme! »Nicht einmal Ihr. Der erste Kuß von Meg im neuen Jahr gehört mir. Mir! Ich habe eine Stunde vor dem Haus gestanden, um die Glocken zu hören und mir ihn zu verdienen. Meg, mein liebster Schatz, ein glückliches Neujahr! und mögen wir noch recht viel glückliche Jahre verleben, mein liebes Weibchen!«

Und Richard erstickte sie fast mit seinen Küssen.

Als dies geschah, konnte man keinen glücklicheren Menschen sehen als Trotty. Ich kümmere mich nicht um das, was ihr gesehen und wo ihr es erlebt habt, denn es ist ausgeschlossen, daß ihr auch nur annähernd etwas Ähnliches geschaut habt. Er setzte sich auf seinen Stuhl, schlug sich auf die Knie und weinte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und schlug sich auf die Knie und lachte und weinte in einem Atem. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Meg. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte Richard. Er stand von seinem Stuhl auf und herzte beide zu gleicher Zeit. Er lief zu Meg und nahm ihr frisches Gesicht zwischen seine Hände und küßte sie und ging rückwärts wie ein Krebs, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und lief wieder auf sie zu, wie eine Figur in einer Räuberlaterne; und was immer er tat, er setzte sich beständig wieder in seinen Stuhl, blieb aber nicht einen Augenblick sitzen. Genug – und das ist die Wahrheit – er war außer sich vor Freude.

»Und morgen ist dein Hochzeitstag, mein Herzenskind?« sagte Trotty, »wirklich dein glücklicher Hochzeitstag?«

»Heute!« jauchzte Richard und schüttelte ihm die Hände, »heute! Die Glocken läuten eben das neue Jahr ein. Hört sie nur!«

Und sie läuteten wirklich.

Gott segne die kräftigen Burschen! O, es waren große Glocken, melodische, tiefstimmige, edle Glocken, von keinem gemeinen Metall gegossen, von keinem gemeinen Gießer geformt. Wann hätten sie jemals geläutet wie heute!

»Heute, meine Meg,« sagte Trotty, »hattest du wohl mit Richard einen kleinen Wortwechsel?«

»Weil er ein so schlechter Mensch ist, Vater,« sagte Meg. »Bist du das nicht, Richard? Solch ein heftiger, halsstarriger Mensch! Wollte er doch dem großen Herrn Alderman seine Meinung sagen, und er genierte sich so wenig, als er sich genieren würde …«

»Meg zu küssen,« half Richard ein und tat es sogleich.

»Nein, nicht ein bißchen mehr. Doch ich wollte ihn nicht lassen, Vater. Was hätte es genützt?«

»Richard, mein Junge,« sagte Trotty, »du bist ein Prachtkerl und wirst ein Prachtkerl bleiben bis an dein seliges Ende. Doch du, mein Liebling, weintest heute abend am Feuer – als ich nach Hause kam? Warum weintest du denn am Feuer?«

»Ich dachte an die Jahre, die wir miteinander verlebt haben, Vater. Bloß deshalb. Und ich dachte, du würdest mich recht vermissen und dich allein fühlen.«

Trotty kehrte wieder zu jenem ominösen Stuhl zurück, als das Kind, das von dem Lärm erwacht war, halb angekleidet hereinkam.

»Ei, hier ist sie ja,« sagte Trotty und hob sie auf, »hier ist sie ja, die kleine Lilian! Ha ha! hier sind wir und hier gehen wir! O, hier sind wir und hier gehen wir wieder! Und hier sind wir und hier gehen wir und auch Onkel Will!«

Er hielt in seinem Trab inne, um ihn herzlich zu begrüßen. »Ach, Onkel Will, was hab ich heute abend für eine Erscheinung gehabt, weil ich Euch beherbergt habe. Ach, Onkel Will, wie bin ich Euch verpflichtet, daß Ihr zu mir gekommen seid, mein guter Freund!«

Ehe Will Fern die mindeste Antwort geben konnte, trat eine Musikbande in das Zimmer in Begleitung von einer Menge Nachbarn, die alle: »Glückliches Neujahr, Meg! Fröhliche Hochzeit! Noch recht lange Jahre!« und andre gute Wünsche dieser Art riefen. Der Trommler, der ein besonders guter Freund Trottys war, trat hervor und sagte: »Trotty Veck, mein alter Knabe, wir haben erfahren, daß Eure Tochter heute heiratet. Es gibt keine Menschenseele, die Euch kennt und Euch nicht das beste Glück wünscht, oder die sie kennt und ihr nicht Segen gönnt, oder die Euch beide kennt und Euch beiden nicht alles Glück wünscht, das das neue Jahr bescheren kann. Und hier sind wir deshalb, um es einzuspielen und einzutanzen.«

Das wurde mit allgemeinem Jubel aufgenommen. Der Trommler war freilich ziemlich betrunken, aber das schadete weiter nichts.

»Was für ein Glück ist es doch,« sagte Trotty, »in solcher Achtung zu stehen! Wie freundlich und nachbarlich ihr seid! Das geschieht alles meiner lieben Tochter wegen. Sie verdient es!«

Sie waren in einer halben Sekunde zum Tanz fertig, Meg und Richard voran, und der Trommler war eben im Begriff, aus allen Kräften loszuledern, da ließ sich draußen ein Gemisch von wunderbaren Tönen hören, und eine gutmütig aussehende, schmucke Frau von fünfzig Jahren oder daherum trat herein in Begleitung eines Mannes, der einen steinernen Henkelkrug von erschrecklichem Umfang trug. Dicht hinter ihnen wurden die Klapperinstrumente und Glocken getragen; aber nicht die Glocken, sondern ein tragbares Glockenspiel in einem Gestell.

Trotty sagte: »Frau Chickenstalker!« und setzte sich nieder und schlug sich wieder auf die Knie.

»Was? heiraten und mir kein Wort davon sagen, Meg?« sagte die gute Frau. »Unerhört! Ich konnte am letzten Abend des alten Jahres nicht ruhen, ohne zu kommen und dir Glück und Freude zu wünschen. Nein, ich hätte es nicht gekonnt, Meg, und wenn ich bettlägerig gewesen wäre. Und so bin ich denn hier, und da es Neujahrsabend und zugleich dein Polterabend ist, so habe ich ein wenig Eierpunsch machen lassen und denselben mitgebracht.«

Frau Chickenstalkers Begriff von »ein wenig Eierpunsch« machte ihrem Charakter alle Ehre. Der Krug dampfte und rauchte wie ein Vulkan, und dem Mann, der ihn trug, war ganz schwach zumute.

»Frau Tugby,« sagte Trotty, der ganz entzückt um sie herumging, »ich wollte sagen Chickenstalker, Gott segne Sie! Ein glückliches Neujahr und noch recht viele hinterdrein, Frau Tugby,« sagte Trotty, als er sie geküßt hatte, »ich wollte sagen Chickenstalker – dies ist William Fern und Lilly.«

Die würdige Frau wurde zu seinem Erstaunen sehr blaß und sehr rot.

»Doch nicht Lilly Fern, deren Mutter in Dorsetshire gestorben ist?« sagte sie.

Ihr Onkel bejahte, und sie wechselten schnell einige Worte miteinander, deren Ergebnis war, daß Frau Chickenstalker ihm beide Hände schüttelte, Trotty noch einmal aus freien Stücken auf die Wange küßte und das Kind an ihre geräumige Brust drückte.

»Will Fern,« sagte Trotty, indem er seinen rechten Fausthandschuh anzog, »doch nicht die Freundin, die Ihr zu finden hofftet?«

»Freilich,« entgegnete Will und legte Trotty beide Hände auf die Schultern, »und wie es scheint, eine ebenso gute Freundin, wenn das sein kann, wie der Freund, den ich in Euch gefunden habe.«

»O!« sagte Trotty, »wollt ihr dort nicht aufspielen? Seid so gut!«

Bei dem Klang der Musik, der Schellen, der Klapperinstrumente – alles zu gleicher Zeit – und während noch die Glocken lustig vom Turm niederbrummten, führte Trotty Frau Chickenstalker, Meg und Richard als zweites Paar folgend, zum Tanz und haspelte denselben in einem vorher und nachher unbekannten Pas ab, der auf seinen eigentümlichen Trab begründet war. –

Hatte Trotty geträumt? Oder sind seine Freuden und Leiden und die handelnden Personen darin nur ein Traum? Er selber ein Traum? Der Erzähler dieser Geschichte ein Träumer, der eben erwacht? – Sollte dies so sein, lieber Leser, dann präge die bösen Wirklichkeiten, aus denen diese Schatten entspringen, deiner Seele ein und suche sie in deinem Kreise – keiner ist zu weit und keiner zu enge für solch einen Zweck – zu bessern und minder drückend zu machen. Möge das neue Jahr ein glückliches für dich, ein glückliches noch für viele sein, deren Glück von dir abhängt! Möge jedes Jahr glücklicher sein als das letzte, und nicht der geringste unsrer Brüder oder Schwestern ausgeschlossen bleiben von dem gerechten Anteil an dem, was unser großer Schöpfer zu ihrer Freude geschaffen!

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Siebentes Kapitel


Siebentes Kapitel

Eine altmodische Spielpartie. – Die Erzählung von der Rückkehr des Sträflings.

Die in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Mr. Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des Vorstellens, die ungemein formell vonstatten ging, hatte Mr. Pickwick Muße, aus der äußeren Erscheinung der Anwesenden Schlüsse auf ihren Stand und Charakter zu ziehen – eine Gewohnheit, der er, gleich vielen anderen großen Männern, gern zu huldigen pflegte.

Eine uralte Dame in einer hohen Haube und einem verblichenen Seidenkleid – niemand Geringeres als Mr. Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel inne, wo verschiedene Hinweise, daß sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in Gestalt alter Stickmuster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselwärmer einer späteren Epoche, die Wände zierten.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Mr. Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während Mr. Wardle selbst sich emsig abmühte, ihr die Kopfkissen zu ordnen. Gegenüber saß ein kahlköpfiger alter Herr mit einem Gesicht voll Wohlwollen und fröhlicher Laune – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine blühende, stattliche alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu andrer Leute Zufriedenheit zu bereiten, von Grund aus verstünde, sondern selbst auch gern gelegentlich einen Schluck nähme. In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander, und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und blickten mit strenger Miene Mr. Pickwick und seine Reisegefährten an. „Mr. Pickwick, Mutter!“ schrie Mr. Wardle der alten Dame ins Ohr.

„Ah“, sagte sie, den Kopf schüttelnd, „ich verstehe kein Wort.“

„Mr. Pickwick, Großmama!“ schrien die beiden jungen Damen zugleich.

„Ah“, rief die alte Dame. „Schadet nichts. Er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.“

„Ich versichere Ihnen, Ma’am“, entgegnete Mr. Pickwick, erfaßte die Hand der alten Dame und sprach so laut, daß sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung blaurot wurde, „ich versichere Ihnen, Ma’am, daß mich nichts so sehr entfernt wie der Anblick einer Dame in Ihren Jahren mitten im Kreise ihrer Familie, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.“

„Ah“, erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, „das ist gewiß alles sehr schön, aber ich verstehe kein Wort.“

„Großmama ist augenblicklich nicht in guter Laune“, erklärte Miß Isabella Wardle mit leiser Stimme, „aber sie wird gleich mit Ihnen sprechen.“

Mr. Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, den Schwächen des Alters gegenüber ein Auge zuzudrücken, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

„Eine entzückende Lage hat dieser Landsitz, Mr. Wardle.“

„Entzückende Lage!“ wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

„O ja. Allerdings“, sagte Mr. Wardle.

„Es gibt keinen hübscheren Punkt in ganz Kent, Sir“, bemerkte der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht. „Nein, Sir, Sie können sich drauf verlassen, Sir.“

Und triumphierend blickte er umher, als ob ihm jemand hartnäckig widersprochen, jedoch den kürzeren gezogen hätte.

„Keinen hübscheren Punkt in ganz Kent“, wiederholte er nach einer Pause.

„Ausgenommen Mullins Meadows“, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Ton.

„Mullins Meadows?“ rief der Borsdorfer mit tiefer Verachtung.

„Allerdings, Mullins Meadows!“ wiederholte der dicke Mann.

„Sehr schöner Ort das“, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

„Ja, in der Tat“, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

„Wie jedermann weiß“, bestätigte der korpulente Herr des Hauses.

Der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, daß er die Minorität bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

„Wovon spricht man?“ fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme – denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, sich nur so verständlich machen zu können.

„Vom Lande, Großmama.“

„Vom Lande? Was denn? – Ist etwas los?“

„Nein, nein; Mr. Miller sagte nur, unser Landsitz sei schöner als Mullins Meadows.“

Was versteht er denn davon“, erwiderte die alte Dame ärgerlich. „Mr. Miller weiß überhaupt immer alles besser. Sag ihm das.“

Ohne zu ahnen, daß sie ganz laut gesprochen hatte, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl auf und warf dem Delinquenten mit dem Borsdorfer Gesicht giftige Blicke zu.

„Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie“, sagte verlegen der Herr des Hauses, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. „Wie wäre es mit einer Partie ;Whist? Was meinen Sie dazu, Mr. Pickwick?“

„Oh, mit Freuden“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber, bitte, nicht etwa meinetwegen.“

„Oh, ich versichere Ihnen, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern“, sagte Mr. Wardle. „Nicht wahr, Mutter?“

Die alte Dame hörte plötzlich viel besser und bejahte.

„Joe, Joe! – Verdammter Junge! Ah, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!“

Der lethargische Jüngling stellte wortlos zwei –Spieltische auf, den einen für „Pope Joan“, den andern für Whist. Die

Whistspieler waren Mr. Pickwick, die alte Dame, Mr. Miller und der dicke Gentleman, die übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel nieder.

Am Whisttische herrschte der Ernst und die Stille, die der edlen Beschäftigung, der von Rechts wegen die Bezeichnung „Spiel“ gar nicht beigelegt werden sollte, zukommt. Bei dem Gesellschaftsspiel am andern Tische dagegen ging es so laut und lustig zu, daß Mr. Miller in seinen Kombinationen abgelenkt wurde und mehrere Fehler machte, die in hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und die gute Laune der alten Dame entsprechend hoben.

„Da!“ sagte Mr. Miller mit triumphierendem Blick, als er eben einen Stich machte. „Das hätte überhaupt nicht besser gespielt werden können – es war unmöglich, noch einen Stich mehr zu machen.“

„Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?“ sagte die alte Dame.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Hätte ich sollen?“ fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

„Allerdings hätten Sie sollen, Sir!“ sagte der dicke Gentleman in zurechtweisendem Tone.

„Schade“, erwiderte gedemütigt Mr. Miller.

„Bin es bei Ihnen schon gewohnt“, brummte der dicke

Gentleman.

„Zwei Honneurs – macht acht für uns –“, sagte Mr. Pickwick.

„Können Sie?“ fragte die alte Dame.

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick. „Double, simple – und den Rubber!“

„So ein Glück ist mir noch nicht vorgekommen!“ rief Mr. Miller.

„Bei den Karten!“ meinte der dicke Gentleman.

Es folgte ein feierliches Schweigen; Mr. Pickwick war fröhlich aufgelegt, die alte Dame ernst, der dicke Gentleman verdrießlich und Mr. Miller verlegen.

„Ein zweiter Double“, rief die alte Dame aus und markierte diesen Umstand dadurch, daß sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter schob.

„Ein Double, Sir“, meldete Mr. Pickwick.

„Hab es schon gesehen, Sir“, erwiderte der dicke Gentleman in scharfem Ton.

Ein zweites Spiel nahm denselben ungünstigen Verlauf durch ein Versehen Mr. Millers, über das der dicke Gentleman ganz außer sich geriet, so daß er seine Wut über das ganze Spiel kaum mehr zu unterdrücken vermochte. Nach Schluß der Partie zog er sich für genau eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten in einen Winkel zurück, wo er seinen Ärger sich stumm austoben ließ. Endlich kam er wieder hervor und bot Mr. Pickwick eine Prise an, mit der Miene eines Mannes, der sich bezwungen hat und erlittenes Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt. Das Gehör der alten Dame hatte sich in der Zwischenzeit auch erheblich gebessert, und der unglückliche Mr. Miller fühlte sich so unbehaglich wie ein Delphin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miß Isabella Wardle und Mr. Trundle bekamen „Ehestand“, desgleichen Emilie und Mr. Snodgraß, und selbst Mr. Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen. Mr. Wardle war die gute Laune selbst und handhabte „die Tafel“ so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, daß an dem Tische fortwährend schallendes Gelächter herrschte. Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedesmal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gewiehert. Als sie es schließlich bemerkte, heiterte sich ihre Miene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle übrigen. Bekam die Tante »Ehestand“, so kicherten die jungen Damen von neuem, und sie schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Mr. Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und ein heiteres Gesicht machte, als ob sie sagen wollte, daß sie wohl nicht gar so ferne vom Ehestand war, wie vielleicht gewisse Leute glauben mochten, worüber alle, und besonders Mr. Wardle, der immer dabei war, wenn es einen Spaß gab, abermals lachten. Mr. Snodgraß flüsterte Emilie unentwegt poetische Ergüsse ins Ohr, was einen alten Herrn zu vielen Anzüglichkeiten und Anspielungen auf Partnerschaft im Spiel und im Leben veranlaßte, worüber die Gesellschaft aufs neue in ein herzliches Gelächter ausbrach, namentlich die Ehehälfte des alten Herrn. Mr. Winkle paradierte mit Witzen, die in der Stadt uralt, aber auf dem Lande noch unbekannt waren, und da alle darüber lachten und sie köstlich fanden, tat er sich viel darauf zugute. Der wohlwollende Geistliche sah heiter zu, denn die vielen glücklichen Gesichter stimmten ihn fröhlich; wenn auch die Stimmung etwas lärmend war, so kam sie doch aus dem Herzen und nicht bloß von den Lippen, worin doch eigentlich die wahre Heiterkeit besteht.

Bei dieser fröhlichen Unterhaltung verstrich der Abend sehr schnell, und als die Gesellschaft nach dem zwar ländlichen, aber schmackhaften Abendessen einen Halbkreis am Kamin bildete, glaubte Mr. Pickwick sich in seinem ganzen Leben noch nie so glücklich und so befähigt gefühlt zu haben, den. Zauber der Gegenwart in vollen Zügen zu genießen.

„Sie entschuldigen, Sir, daß ich mir nach einer so kurzen Bekanntschaft eine Bemerkung erlaube“, wandte er sich nach einer längeren Pause an den Geistlichen. „Ich sollte meinen, ein Mann wie Sie müßte in seiner Stellung als Diener des Evangeliums im Lauf der Jahre so manche der Aufzeichnung werte Szenen und Vorfälle erlebt haben.“

„Allerdings ist mir schon vieles vorgekommen“, erwiderte der Geistliche, „doch waren die meisten Ereignisse und Charaktere bei meinem beschränkten Wirkungskreise nicht außergewöhnlicher Art.“

„Aber soviel ich weiß, haben Sie es doch der Mühe wert gefunden, sich einiges über John Edmunds zu notieren, oder?“ fragte Mr. Wardle, der im Interesse seiner neuen Gäste eine Erzählung anzuregen suchte.

Der Geistliche nickte bejahend, wollte aber dem Gespräch eine andre Wendung geben, doch Mr. Pickwick ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, und nach einigen Zureden Mr. Wardles und der übrigen Herren und Damen begann der Geistliche ohne weitere Vorrede folgende Erzählung, die wir uns erlauben zu betiteln:

DIE RÜCKKEHR DES STRÄFLINGS

„Als ich mich – es sind jetzt bereits fünfundzwanzig Jahre – hier in diesem Dorfe niederließ, war ein Pächter, namens Edmunds, das verrufenste Subjekt in meinem Kirchenspiel. Er war ein mürrischer, bösartiger Mensch, arbeitsscheu und Ausschweifungen ergeben und dabei wild und grausam. Mit Ausnahme einiger weniger liederlicher Vagabunden, mit denen er herumstreichen und sich in den Bier- und Branntweinschenken zu betrinken pflegte, hatte er keinen einzigen Freund oder Bekannten. Niemand mochte gern mit ihm verkehren; viele fürchteten ihn, aber alle verabscheuten ihn, und so wurde er denn von jedermann gemieden.

Dieser Mann nun hatte ein Weib und einen Sohn, der zu der Zeit, als ich hierherkam, etwa zwölf Jahre alt sein mochte. Von den Leiden jener Frau, von der Sanftmut und Geduld, mit der sie sie ertrug, von den Kämpfen und Sorgen, unter denen sie den Knaben erzog, kann man sich schwer einen Begriff machen. Der Himmel möge mir verzeihen, wenn ich dem Manne Unrecht tue, aber ich bin fest davon überzeugt, daß er es viele Jahre hindurch geflissentlich darauf anlegte, sein Weib durch Kummer unter die Erde zu bringen. Sie ertrug jedoch alles geduldig um ihres Kindes und, wie unglaublich es auch klingen mag, um seines Vaters willen; denn so roh er auch war und so grausam er sie behandelte, so hatte sie ihn doch einst geliebt, und die Erinnerung an das, was er ihr gewesen, erweckte Gefühle der Nachsicht und Sanftmut in ihrer Brust, wie man sie unter allen Geschöpfen Gottes bloß bei dem Weibe findet.

Sie waren arm – wie hätte es auch anders sein können, wo der Mann auf solchen Pfaden wandelte –, doch rastlose Arbeit und angestrengter Fleiß der Frau wendeten gänzlichen Mangel ab. Leider wurden ihr ihre Bemühungen übel vergolten. Leute, die noch spät in der Nacht an ihrer Wohnung vorbeizugehen pflegten, erzählten, sie hätten das Wehklagen und Jammern der Frau und das Geräusch von Schlägen gehört, und mehr als einmal hatte der Knabe, lange nach Mitternacht noch, an einem Nachbarhause geklopft, um vor der Wut seines betrunkenen, unnatürlichen Vaters Schutz zu suchen.

Während dieser ganzen Zeit besuchte die arme Frau, die häufig die Spuren der Mißhandlungen nicht ganz verbergen konnte, regelmäßig unsre kleine Kirche. Jeden Sonntag, beim Früh- und Nachmittagsgottesdienst, saß sie mit ihrem Knaben an derselben Stelle, und obgleich beide nur ärmlich – und zwar noch ärmlicher als viele ihrer noch bedürftigeren Nachbarn – gekleidet waren, so war ihr Anzug doch immer sauber und reinlich. Jedermann hatte einen freundlichen Gruß und ein tröstliches Wort für die arme Frau, und wenn sie bisweilen nach dem Gottesdienst unter den Ulmenbäumen vor der Kirche stehenblieb, um ein paar Worte mit einer Nachbarin zu wechseln oder mit all dem Stolze und all der Liebe einer Mutter ihrem blühenden Knaben zuzuschauen, wie er sich mit seinen kleinen Gespielen herumtummelte, dann röteten freudige Empfindungen ihr von Sorgen verzehrtes Gesicht, und sie sah, wenn auch nicht froh und glücklich, doch ruhig und zufrieden aus.

So verstrichen fünf bis sechs Jahre, und der Knabe war zu einem starken, wohlgebauten Jüngling herangewachsen. Die Zeit, die den zarten Gliederbau des Kindes zu männlicher Kraft reifte, hatte die Gestalt der Mutter gebeugt und ihre Schritte wanken gemacht; aber der, der sie hätte stützen sollen, ging nicht mehr an ihrer Seite; der ihr hätte ein Trost sein sollen, kümmerte sich nicht um sie. Immer noch hatte sie ihren alten Platz in der Kirche, aber die Stelle neben ihr war leer. Sie hielt die Bibel so andächtig wie früher in der Hand, aber es war niemand da, sie mit ihr zu lesen. Die Nachbarn waren gegen sie noch ebenso freundlich wie vorher, aber sie wich ihren Grüßen aus mit abgewendetem Gesicht. Nie mehr blieb sie unter den Ulmenbäumen stehen, um von künftigem Glück zu träumen.

Das Maß des Elends der unglücklichen Frau sollte bald voll sein. Zahlreiche Untaten waren in der Umgegend begangen worden; da jedoch die Verbrecher unentdeckt blieben, so trieben sie ihr Unwesen nur um so dreister. Endlich veranlaßte ein mit beispielloser Frechheit verübter Raubüberfall eine ungewöhnlich strenge Nachforschung, die man nicht vermutet hatte. Der Verdacht fiel auf den jungen Edmunds und seine drei Spießgesellen. Er wurde verhaftet, vor Gericht gestellt, für schuldig erkannt – und zum Tode verurteilt.

Der wilde, durchdringende Schrei der Mutter, der durch den Gerichtssaal tönte, als der Richterspruch gefällt wurde, klingt noch heute in meinen Ohren. Er erfüllte das Herz des Verbrechers, auf den das Verhör, die Verhandlung und sogar das Todesurteil keinen Eindruck gemacht hatten, mit Schrecken und Entsetzen. Die Lippen, die bisher starrköpfiger Trotz verschlossen hatte, bebten und öffneten sich unwillkürlich, das Gesicht nahm eine erdfahle Farbe an, und der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn. An allen Gliedern zitternd, wankte er in den Kerker zurück.

In den ersten Ausbrüchen ihrer Seelenangst warf sich die leidende Mutter zu meinen Füßen auf die Knie und flehte inbrünstig zum Allmächtigen, der ihr bisher in all ihren Trübsalen beigestanden, sie von einer Welt voll Elend und Jammer zu erlösen und das Leben ihres einzigen Kindes zu retten. Ein Ausbruch von Schmerz und ein Seelenkampf folgten, wie ich ihn in meinem Leben nicht mehr zu hören hoffe. Ich sah, daß ihr das Herz in dieser Stunde für immer brach, aber niemals kam eine Klage oder ein Murren über ihre Lippen.

Es war ein trauriger Anblick, das arme Weib Tag für Tag in den Gefängnishof gehen zu sehen, um das harte Herz ihres verstockten Sohnes mit heißen Bitten zu erweichen. Sie mühte sich umsonst. Er blieb verschlossen, starrköpfig und ungerührt. Nicht einmal die unvorhergesehene Verwandlung seiner Todesstrafe in vierzehnjährige Deportation vermochte seine Verstocktheit auch nur einen Augenblick zu beugen.

Aber der Geist der Ergebung und Standhaftigkeit, der sie so lange aufrechterhalten hatte, vermochte den Verfall ihres Körpers nicht aufzuhalten. Sie wurde krank. Noch einmal wollte sie ihren Sohn besuchen und wankte mit zitternden Gliedern aus dem Zimmer, aber die Kräfte verließen sie, und sie sank ohnmächtig zu Boden.

Jetzt wurde die Gleichgültigkeit des jungen Mannes, mit der er geprahlt hatte, wirklich auf die Probe gestellt, und die Vergeltung, die über ihn kam, war derart, daß es ihn beinahe wahnsinnig machte. Ein Tag verfloß, und seine Mutter war nicht dagewesen, der nächste ging vorüber, und wieder kam sie nicht; der dritte Abend erschien, und noch immer hatte er sie nicht gesehen, und in vierundzwanzig Stunden sollte er von ihr getrennt werden – vielleicht auf immer. Welch lang vergessene Erinnerungen an die Tage seiner Kindheit mußten in seinem Geiste aufgetaucht sein, als er in seiner schmalen Zelle auf und ab raste, als könnte seine fiebernde Ungeduld die ersehnte Nachricht um so schneller herbeiführen, und wie bitter mußte das Gefühl seiner hilflosen Lage und Verlassenheit sein, das in ihm aufstieg, als er die Wahrheit vernahm! Seine Mutter, die einzige Verwandte, die ihn je geliebt, lag krank danieder – vielleicht in den letzten Zügen –, kaum eine Viertelstunde von ihm entfernt; wäre er frei und fessellos, in wenigen Minuten stünde er an ihrer Seite. Er rüttelte an den Eisenstäben mit der Kraft der Verzweiflung und stemmte sich gegen die dicke Mauer wie ein wildes Tier, aber das Gebäude spottete seiner schwachen Anstrengungen. Und dann rang er die Hände und weinte wie ein Kind.

Ich brachte ihm den Segen seiner Mutter ins Gefängnis, und ihr, der Kranken, seine feierliche Versicherung der Reue und seine flehentliche Bitte um Vergebung an das Sterbebett. Ich hörte mit innigem Mitleiden den Reuigen tausend Pläne entwerfen, wie er seine Mutter unterstützen wolle, wenn er nur erst zurückgekehrt wäre, aber ich wußte, daß sie schon lange aus der Welt geschieden sein würde, wenn er den Ort seiner Bestimmung erreicht hätte.

Er wurde bei Nacht weggebracht. Wenige Wochen nachher schwang sich die Seele der Armen, wie ich zuversichtlich hoffe und glaube, zu den Gefilden der ewigen Seligkeit und Ruhe empor. Ich hielt den Leichengottesdienst. Sie liegt auf unserm kleinen Kirchhofe. Kein Stein erhebt sich über ihrem Grabe. Was sie gelitten hat, das wissen die Menschen, ihre Seelenstärke kennt Gott allein.

Es war vor der Deportation des Gefangenen ausgemacht worden, daß er unter meiner Adresse an seine Mutter schreiben sollte, sobald er die Erlaubnis dazu erhalten würde. Der Vater hatte sich von dem Augenblicke der Verhaftung an aufs entschiedenste geweigert, seinen Sohn zu sehen, und es war ihm gänzlich gleichgültig, ob er hingerichtet oder begnadigt werden würde. Eine Reihe von Jahren ging vorüber, ohne daß ich Nachricht von dem Sträfling erhielt, und als mehr als die Hälfte seiner Strafzeit verflossen war und ich noch immer keinen Brief bekommen hatte, vermutete ich, er wäre gestorben, was ich beinah auch hoffte.

Edmunds war bei seiner Ankunft in der Strafkolonie weit in das Innere des Landes verschickt worden, und diesem Umstände war es wohl zuzuschreiben, daß, obgleich er viele Briefe an mich abgeschickt hatte, doch keiner in meine Hände kam. Die ganze Zeit seiner Verbannung blieb er an demselben Orte. Nach Ablauf derselben kehrte er, seinem Entschlüsse und dem Versprechen, daß er seiner Mutter gegeben hatte, getreu, unter den größten Entbehrungen nach England zurück und gelangte zu Fuß in seinem Geburtsorte an.

An einem schönen Sonntagabend, im Monat August, setzte John Edmunds seinen Fuß in das Dorf, das er vor siebzehn Jahren in Schmach und Schande verlassen hatte. Weg führte ihn über den Kirchhof. Vielleicht stellte er sich vor, wie er als Kind an seiner Mutter Hand friedlich zur Kirche ging und erinnerte sich an ihr bleiches Gesicht und wie ihre Augen sich bisweilen mit Tränen füllten, wenn sie in seine Züge blickte – Tränen, deren Ursache er damals nicht gekannt hatte. Dachte vielleicht daran, wie oft er mit seinen Spielkameraden lustig auf diesen Wiesen gespielt und seine Mutter darüber lächeln gesehen und den Ton ihrer milden Stimme gehört hatte.

Er trat in die Kirche, erfuhr ich später. Der Nachmittagsgottesdienst war vorüber, und die Gemeinde hatte sich verlaufen, aber die Tür war noch nicht geschlossen. Seine Tritte widerhallten in der niederen Wölbung, und ein Schauer überfiel ihn, wenn er daran dachte, daß er allein sei; so still und ruhig war es. Er sah sich rings um. Nichts war verändert. Der Raum kam ihm kleiner vor als früher, aber es waren noch die alten Grabmäler, auf denen sein Auge tausendmal mit kindlicher Scheu verweilt hatte; die kleine Kanzel mit ihren verblichenen Kissen; d«r Altar, vor dem er sooft die Gebete hergesagt, die er als Knabe verehrt und als Mann vergessen hatte. Er trat an den alten Betstuhl. Etwas Kaltes und Düsteres ging von ihm aus. Das Kissen war fort, und die Bibel lag nicht mehr da. Vielleicht nahm seine Mutter jetzt, einen geringeren Stuhl ein, oder war sie zu schwach geworden, um die Kirche allein besuchen zu können? Er wagte es nicht, an das zu denken, was er fürchtete. Ein kalter Schauer überlief ihn, und er zitterte heftig, als er sich wegwandte.

Ein alter Mann trat eben zur Kirchtür herein, als er hinauswollte. Edmunds bebte zurück, denn er kannte ihn wohl; manchmal hatte er ihm zugesehen, wie er ein Grab im Kirchhofe grub. Was mag wohl der Greis zu dem Unglücklichen gesagt haben? Er starrte dem Fremden ins Gesicht, bot ihm einen guten Abend und ging langsam an ihm vorüber, ahnungslos, wer vor ihm stand.

Der Sträfling ging die Anhöhe hinab durch das Dorf. Das Wetter war warm, und die Einwohner saßen vor ihren Haustüren und ergingen sich in ihren Gärten, um sich von der Arbeit zu erholen und den heiteren Abend zu genießen. Manche Blicke richteten sich nach ihm, und oft schielte er verstohlen auf die Seite, um zu sehen, ob ihn jemand erkenne und ihm absichtlich aus dem Wege gehe. Es waren beinahe lauter fremde Gesichter; bisweilen erkannte er die stattliche Gestalt eines alten Schulkameraden, der noch ein Knabe gewesen war, als er ihn zum letzten Male gesehen hatte, von einer Schaf lustiger Kinder umgeben; dann sah er einen schwachen, entkräfteten Greis, dessen er sich noch als eines gesunden, rüstigen Arbeiters erinnerte, in einem behaglichen Lehnstuhl vor seiner Haustür sitzen; aber sie hatten ihn alle vergessen, und er ging unerkannt vorüber. Die letzten milden Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf die Erde und warfen ihren feurigen Glanz auf das wogende Kornfeld und verlängerten die Schatten der Fruchtbäume des Gartens, als er vor dem alten Hause stand, der Heimat seiner Kindheit, nach der er sich während der ganzen langen Reihe der Jahre seiner Gefangenschaft und seines Elends so unbeschreiblich gesehnt hatte. Die Umzäunung war niedrig, wiewohl er sich der Zeit noch erinnerte, wo sie ihm wie eine hohe Wand vorgekommen war, und er sah über sie hinweg in den alten Garten. Er erblickte mehr Pflanzen und schönere Blumen, als sonst hier zu finden gewesen, aber die Bäume waren noch die alten, der Baum derselbe, unter dem er tausendmal im Schatten gelegen, wenn er des Spielens in der Sonne überdrüssig war, unter dem ihn sooft der sanfte Schlaf der glücklichen Kindheit umfangen. Er hörte Stimmen im Hause. Er lauschte, aber sie schlugen fremdartig an sein Ohr; er kannte sie nicht. Sie waren zu fröhlich, und er wußte wohl, daß seine arme Mutter nicht heiter sein konnte, solange sie ihn ferne wußte. Die Tür öffnete sich, und eine Schar Kinder hüpfte jubelnd und jauchzend heraus. Der Vater erschien auf der Schwelle mit 4J1 einem kleinen Jungen auf dem Arm. – – – Der Sträfling dachte daran, wie oft er an dieser Stelle vor dem finsteren Gesicht seines Vaters geflohen war. Er erinnerte sich, wie oft er seinen Kopf zitternd unter der Bettdecke versteckt und die rauhen Worte, die harten schweren Schläge und das Jammern seiner Mutter gehört hatte, und ob er gleich in tiefem Seelenschmerz laut aufschluchzte, als er den Ort verließ, so ließ ihn doch ein grimmer Haß die Fäuste ballen und die Zähne zusammenbeißen.

Das war also die Rückkehr, nach der er so viele Jahre lang geschmachtet und für die er so manche Mühseligkeiten erduldet hatte? Keine Miene des Willkomms, kein Blick der Verzeihung, kein gastfreundliches Haus, keine hilfreiche Hand – und alles das in seinem väterlichen Dorfe! Was war die Einsamkeit in den dichten Wäldern, in die noch keines Menschen Fuß gedrungen, gegen diese Gefühle!

Er sah, daß er sich seinen Geburtsort im fernen Lande seiner Verbannung und Schmach gedacht hatte, wie er ihn verlassen, nicht, wie er ihn bei seiner Rückkehr finden würde. Die traurige Wirklichkeit verwundete sein Herz tief und brach seinen Mut völlig. Er getraute sich nicht, die einzige Person, von der er eine mitleidige und liebevolle Aufnahme erwarten konnte, zu erfragen und aufzusuchen. Langsam ging er weiter und vermied den gewöhnlichen Pfad, gleich einem schuldbewußten Verbrecher. Er schlug den Weg zu einer wohlbekannten Wiese ein und warf sich ins Gras, das Gesicht in den Händen verbergend.

Er hatte nicht bemerkt, daß ein Mann neben ihm auf dem Boden lag. Erst als dieser sich umdrehte, um verstohlen zu sehen, wer denn gekommen, bemerkte ihn Edmunds und hob den Kopf in die Höhe.

Der Mann hatte sich zu einer sitzenden Stellung aufgerichtet. Sein Rücken war gekrümmt und sein Gesicht durchfurcht und gelb. Sein Anzug kennzeichnete ihn als einen Bewohner des Armenhauses. Er sah sehr alt aus, aber das schien mehr die Folge früherer Ausschweifung und Krankheit als des hohen Alters zu sein. Lange starrte er den Fremden an, und so matt und glanzlos anfangs seine Augen gewesen waren, sosehr nahmen sie jetzt den Ausdruck einer außerordentlichen Unruhe an und erglühten immer unheimlicher und unheimlicher. Edmunds richtete sich langsam auf seine Knie auf und sah dem alten Manne aufmerksamer ins Gesicht. So starrten sie einander schweigend an.

Der Greis erbleichte. Er schauderte und stellte sich zitternd auf seine wankenden Füße. Als Edmunds sich ihm näherte, bebte er zurück. Edmunds trat auf ihn zu.

,Ich will deine Stimme hören‘, sagte er, und es schnürte ihm fast die Kehle zu.

,Weg von mir!‘ rief der Alte mit einem schrecklichen Fluch. Der Sträfling trat näher.

,Weg von mir!‘ schrie der Greis wieder. Wütend erhob er seinen Stock und versetzte ihm einen Hieb über das Gesicht.

,Vater! – Teufel!‘ murmelte Edmunds zwischen den Zähnen, sprang wild auf und packte den Alten bei der Kehle. – Aber es war doch sein Vater! – Kraftlos fiel sein Arm nieder.

Der Greis stieß einen gellenden Schrei aus, der über die einsamen Felder hintönte wie das Geheul eines bösen Geistes. Sein Gesicht wurde schwarzblau. Das Blut strömte ihm aus Mund und Nase und färbte das Gras dunkelrot. Er wankte und fiel zu Boden. Ein Blutgefäß war ihm gesprungen, und er lag da, eine Leiche, ehe noch sein Sohn ihn aus der Blutlache aufrichten konnte.

In einem Winkel des Kirchhofs, fuhr der alte Herr nach einem minutenlangen Stillschweigen fort, „ruht ein Mann, der nach diesem Ereignis drei Jahre lang mein Arbeiter gewesen und die demütigste Reue und Zerknirschung zeigte, wie nur jemals ein Sterblicher. Niemand, außer mir, wußte zu seinen Lebzeiten, wer er war oder woher er kam. Es war John Edmunds, der zurückgekehrte Sträfling.“

Achtes Kapitel


Achtes Kapitel

Wie Mr. Winkle, anstatt auf Mr.Tupman zu zielen und die Krähe zu töten, auf die Krähe schoß und Mr. Tubman traf; wie der Kricketklub von Dingley Dell gegen Muggleton spielte und wie Muggleton auf Kosten von Dingley Dell speiste, nebst andern anziehenden und lehrreichen Vorfällen.

Die Strapazen des Tages oder die einschläfernde Wirkung Erzählung des Geistlichen hatten einen solchen Einfluß auf Mr. Pickwick ausgeübt, daß er wenige Minuten, nachdem er in sein behagliches Schlafzimmer geführt worden war, in einen gesunden und traumlosen Schlaf verfiel, aus dem er nicht eher erwachte, als bis die goldenen Strahlen der Morgensonne vorwurfsvoll in sein Zimmer schienen. Von Natur jeder Untätigkeit abhold, sprang Mr. Pickwick aus dem Bette wie ein streitbarer Krieger aus seinem Zelt.

„Herrliche, herrliche Gegend“, seufzte er begeistert, als die Jalousien öffnete. „Wer möchte da noch Tag für Tag auf Ziegel- und Schieferdächer starren, wenn er jemals die Wonnen einer solchen Natur empfunden? Wer möchte da bleiben, wo man keine andern Kühe sieht als die Kühe auf den Porzellantöpfen, kein andres Gestein als das Pflaster?“

Die süßen Wohlgerüche der Rosenhecken drangen zu ihm empor, die balsamischen Düfte des kleinen Blumengartens füllten die Luft um ihn her, die dunkelgrünen Wiesen glänzten im Morgentau, der auf jedem Blättchen schimmerte, wie es im sanften Lufthauch erzitterte, und die Vögel sangen, als wäre jeder funkelnde Tropfen eine Quelle der Begeisterung. Mr. Pickwick versank in eine süße, wonnige Träumerei, aus der ihn plötzlich ein lautes „Hallo“ weckte.

Er wandte sich nach rechts, sah aber niemand, er spähte nach links und suchte, irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Alles vergeblich. Er sah zu den Wolken empor, aber sie schienen sein nicht zu begehren. Endlich tat er, was ein gewöhnlicher Mensch gleich anfangs getan haben würde: er sah in den Garten, und richtig – da stand Mr. Wardle.

„Ausgeschlafen?“ fragte der gutmütige Herr fröhlich. „Ein schöner Morgen, wie? Freut mich, daß Sie so früh auf sind. Geschwind, kommen Sie herunter, ich warte hier auf Sie.“

Mr. Pickwick ließ sich das nicht zweimal sagen, und nach 7ehn Minuten stand er an der Seite des alten Herrn.

„Hallo!“ sagte er, als er seinen Wirt, mit einer Flinte bewaffnet und eine zweite neben ihm im Grase, sah. „Was haben Sie vor?“

„Ihr Freund und ich wollen vor dem Frühstück ein paar Krähen schießen. Er ist doch ein famoser Schütze – oder?“

„Er behauptet es wenigstens“, erwiderte Mr. Pickwick. „Allerdings war ich noch nie Zeuge.“

„Na“, sagte der alte Herr, „ich wollte, er käme endlich. Joe – Joe!“

Der fette Junge, der unter dem belebenden Einfluß der Morgenluft nicht halb so schläfrig zu sein schien als sonst, trat aus dem Hause.

„Geh hinauf und rufe den Herrn. Sag ihm, er kann mich und Mr. Pickwick beim Krähenhorst finden. Zeig dem Herrn den Weg, hörst du?“

Der Knabe entfernte sich gehorsam, und der alte Herr verließ, ein zweiter Robinson Crusoe, beide Flinten auf den Schultern, mit seinem Begleiter den Garten.

„Hier sind wir an Ort und Stelle“, sagte er, als sie nach einem Gang von wenigen Minuten in eine Allee gekommen waren.

Die Bemerkung war unnötig, denn das unaufhörliche Gekrächze der ahnungslosen Krähen verriet ihren Aufenthalt ohne weiteres.

Der alte Herr legte die eine Flinte auf den Boden und lud die andre.

„Da kommen sie“, sagte Mr. Pickwick und deutete auf die Gestalten der Herren Tupman, Snodgraß und Winkle im Hintergrunde. Der fette Junge, ungewiß, welchen Herrn er holen sollte, brachte scharfsinnigerweise alle drei, um jedem Irrtum vorzubeugen.

„Kommen Sie“, rief der alte Wardle, sich an Mr. Winkle wendend, „ein Nimrod wie Sie sollte schon lange bei der Hand sein, und wenn’s sich auch nur um Krähen handelt.“

Mr. Winkle antwortete mit einem gezwungenen Lächeln und nahm die herrenlose Flinte mit der Miene eines philosophischen armen Sünders, der den Tod durch den Strick vor sich sieht. Vielleicht war es Mut, aber immerhin sah es der Angst merkwürdig ähnlich.

Der alte Herr winkte, und zwei zerlumpte Jungen begannen alsbald auf zwei der Bäume zu klettern.

„Was haben die Burschen vor?“ fragte Mr. Pickwick hastig.

Er war etwas unruhig, denn er wußte nicht, ob sich die Jungen nicht vielleicht aus Armut, wie er schon so oft gehört hatte, zur Zielscheibe ungeschickter Schützen hergeben wollten, um sich durch dieses gefährliche Mittel einen kläglichen Erwerb zu sichern.

„Nur das Wild zu stellen“, antwortete Mr. Wardle lachend.

„Wozu?“ fragte Mr. Pickwick.

„Nun, in schlichten Worten: um die Krähen aufzuscheuchen.“

„Oh! Sonst nichts?“

„Sind Sie jetzt beruhigt?“

„Vollkommen.“

„Schön. Soll ich anfangen?“

„Wie’s gefällig ist“, sagte Mr. Winkle, froh ob der Galgenfrist.

„Treten Sie zur Seite. Also los.“

Der Junge schrie und schüttelte einen Ast, auf dem sich ein Nest befand. Ein halb Dutzend junger Krähen, in lebhafter Unterhaltung begriffen, flog auf, um zu sehen, was es gäbe. Der alte Herr gab Feuer. Eine fiel herunter, und die andern flogen davon.

„Nimm sie, Joe“, sagte der alte Herr.

Ein Lächeln umspielte das Antlitz des Jungen. Unbestimmte Visionen von einer Krähenpastete umgaukelten seine Seele. Er lachte, als er mit dem Vogel zurückkam. – Er war sehr fett. Der Vogel nämlich.

„Nun, Mr. Winkle“, sagte der alte Herr, seine Flinte von neuem ladend, „schießen Sie!“

Mr. Winkle trat vor und legte an. Mr. Pickwick und seine Freunde bückten sich unwillkürlich, um den Krähen auszuweichen, die, wie sie zuversichtlich glaubten, auf den mörderischen Schuß ihres Freundes hageldicht herabfallen würden. Eine feierliche Pause – die Jungen auf den Bäumen schreien – Flügelschläge – ein Laut wie vom Schnappen eines Hahnes.

„Hallo?“ rief der alte Herr.

„Will es nicht losgehen?“ fragte Mr. Pickwick.

„Es hat versagt“, antwortete Mr. Winkle, totenbleich, wahrscheinlich vor Enttäuschung.

„Seltsam“, sagte der alte Herr, die Flinte betrachtend. „Sie hat noch nie versagt. Aber Sie haben ja kein Zündhütchen drauf.“

„Meiner Treu“, sagte Mr. Winkle, „das habe ich ganz vergessen.“

Die Sache war bald in Ordnung gebracht, und Mr. Pickwick bückte sich abermals. Mr. Winkle trat mit entschloßner Miene vor, und Mr. Tupman lugte hinter einem Baum hervor. Der Junge schrie – vier Vögel flogen auf. Mr. Winkle drückte ab. Da. Ein Schrei. – Nicht von einer Krähe. – Ein Angstschrei. Mr. Tupman hatte das Leben unzähliger Krähen gerettet, indem er einen Teil der Ladung mit dem linken Arm aufgefangen hatte.

Die Verwirrung, die jetzt folgte, spottete jeder Beschreibung. In der ersten Aufregung nannte Mr. Pickwick Mr. Winkle ein „Scheusal“, Mr. Tupman lag am Boden, und Mr. Winkle kniete, von Entsetzen geschüttelt, neben ihm. Mr. Tupman flüsterte, geistesabwesend, einen weiblichen Taufnamen und schloß zuerst das eine und dann das andre Auge. Erst allmählich kehrte er wieder ins Leben zurück, als man seinen Arm mit Taschentüchern verband und ihn, gestützt, langsamen Schrittes nach Hause führte.

So näherte sich der Zug dem Landhaus. Die Damen standen an der Gartentür und warteten auf die Ankunft der Schützen zum Frühstück. Die jugendliche Tante zeigte sich, lächelte und winkte den Herren, schneller zu gehen. Sie ahnte nicht, was vorgefallen. Armes Geschöpf! Es gibt Fälle im menschlichen Leben, wo Unwissenheit ein Glück ist. Sie kamen näher.

„Aber was hat denn der alte Herr?“ fragte Isabella Wardle.

Jungfer Tante achtete nicht auf die spöttische Frage; sie glaubte, sie bezöge sich auf Mr. Pickwick. In ihren Augen war Tracy Tupman ein Jüngling; sie betrachtete seine Jahre durch ein Verkleinerungsglas.

„Nur keine Aufregung“, rief Mr. Wardle, um seine Töchter nicht zu beunruhigen, die wegen des Gedränges um Mr. Tupman die wahre Natur des Unfalls nicht genau zu erkennen vermochten. „Nur keine unnötige Aufregung.“ „Was ist denn geschehen?“ riefen die Damen. „Mr. Tupman ist ein kleiner Unfall zugestoßen. Das ist alles.“

Die jungfräuliche Tante stieß einen durchdringenden Schrei aus, bekam einen hysterischen Lachkrampf und sank ihren Nichten in die Arme.

„Bespritzt sie mit kaltem Wasser“, riet der alte Herr.

„Nein, nein“, murmelte die jungfräuliche Tante, „es ist mir schon besser. Bella, Emilie, einen Arzt! Ist er verwundet? – Ist er tot? – Ist er … Hahaha!“ Ein zweiter Lach- und Weinkrampf befiel sie.

„Beruhigen Sie sich“, sagte Mr. Tupman, durch diesen Beweis von Teilnahme bis zu Tränen gerührt. „Teuerstes Fräulein, beruhigen Sie sich.“

„Es ist seine Stimme!“ rief die Tante, und heftige Symptome eines dritten Anfalls stellten sich ein.

„Seien Sie unbesorgt, ich bitte Sie, meine Teuerste“, bat Mr. Tupman in einschmeichelndem Ton. „Die Verletzung ist ganz unbedeutend, ich versichere es Ihnen.“

„So sind Sie also nicht tot?“ schrie die hysterische Dame. „Oh, sagen Sie, daß Sie nicht tot sind.“

„Sei nicht närrisch, Rachel“, mengte sich Mr. Wardle in etwas rauherem Tone ein, als sich mit der poetischen Natur des Auftrittes vertrug. „Was zum Teufel soll es denn helfen, wenn er sagt, er sei nicht tot.“

„Nein, nein, ich bin nicht tot“, versicherte Mr. Tupman. „Ich verlange keinen Beistand als den Ihren. Erlauben Sie, daß ich mich auf Ihren Arm stütze. – Ach, Miß Rachel!“ fügte er flüsternd hinzu.

Bebend trat die Dame vor und bot ihm den Arm. So gingen sie ins Frühstückszimmer. Mr. Tracy Tupman drückte ihre Hand zärtlich an seine Lippen und sank auf das Sofa.

„Fühlen Sie sich schwach?“ fragte Miß Rachel besorgt.

„Nein“, antwortete Mr. Tupman. „Es ist nichts. Es wird mir im Augenblick wieder wohler sein.“ – Er schloß die Augen.

„Er schläft“, flüsterte Miß Wardle, denn seine Sehwerkzeuge blieben nahezu zwanzig Sekunden geschlossen. „Geliebter – geliebter – Mr. Tupman!“

Mr. Tupman sprang auf. „Oh, sagen Sie diese Worte noch einmal!“ rief er aus.

Die Dame war äußerst verwirrt. „Sie haben es doch nicht gehört?“ fragte sie, vor Scham errötend.

„Ja, ich habe sie gehört“, versetzte Mr. Tupman. „Wiederholen Sie. Wenn Sie wünschen, daß ich genesen soll, wiederholen Sie.“

„Pst!“ flüsterte die Dame. „Mein Bruder.“

Mr. Tracy Tupman nahm seine frühere Lage wieder ein, und Mr. Wardle trat mit einem Arzt ins Zimmer.

Der Arm wurde untersucht, die Wunde verbunden und für höchst unbedeutend erklärt. Die Gesellschaft war beruhigt und ging wieder mit fröhlichem Gesicht an die Befriedigung ihres Appetits. Nur Mr. Pickwick war verstimmt und sprach kein Wort. Zweifel und Enttäuschung spiegelten sich in seinen Zügen. Sein Vertrauen auf Mr. Winkle hatte durch die Vorfälle des Morgens einen argen Stoß erlitten.

„Spielen Sie Kricket?“ fragte Mr. Wardle den Schützen. Zu jeder andern Zeit würde Mr. Winkle die Frage unbedingt bejaht haben. Aber jetzt fühlte er das Prekäre seiner Lage und hauchte ein bescheidenes: „Nein.“

„Und Sie?“ fragte Mr. Snodgraß.

„Jetzt nicht mehr“, antwortete der alte Herr, „ich habe es aufgegeben; ich gehöre zwar noch dem hiesigen Klub an, spiele aber selbst nicht mehr.“

„Heute findet, glaube ich, ein großes Match statt?“ fragte Mr. Pickwick.

„Ja“, erwiderte der alte Herr. „Sie werden doch zusehen kommen?“

„Ich wohne sehr gern jederlei Sport bei“, versetzte Mr. Pickwick, „wenn man dabei seines Lebens sicher ist und nicht Gefahr läuft, durch die ungeschickte Hand unerfahrener Leute Schaden zu nehmen.“ Er schwieg und sah starr auf Mr. Winkle, der unter seinen Flammenblicken beinahe in die Erde sank. Nach einigen Minuten wandte der große Mann seine Augen weg und fügte hinzu: „Können wir mit gutem Gewissen den Verwundeten der Pflege der Damen überlassen?“

„Sie können mich in keinen besseren Händen wissen“, sagte Mr. Tupman.

„Unmöglich“, bestätigte Mr. Snodgraß.

So wurde denn beschlossen, Mr. Tupman solle unter der Pflege der Damen zu Hause bleiben und die übrige Gesellschaft mit Mr. Wardle an der Spitze dem Match beiwohnen, das Muggleton aus seinem Schlummer geweckt und Dingley Dell in ein heftiges Fieber versetzt hatte.

Da ihr Weg, der mehr als zwei englische Meilen betrug, ;durch schattige Heckengänge und schmale Fußpfade führte und sich ihre Unterhaltung immerwährend um die reizende Landschaft drehte, die sie rings umgab, war Mr. Pickwick beinahe geneigt, den Ausflug zu bereuen, als er sich plötzlich mitten in der Hauptstraße der Stadt Muggleton befand.

Neugierig und wissensdurstig blickte er um sich. Er sah einen viereckigen Marktplatz und in dessen Mittelpunkt einen großen Gasthof mit einem Schild, das ein in der Kunst sehr gewöhnliches, in der Natur aber höchst seltenes Geschöpf darstellte: einen blauen Löwen, der drei Beine in die Lüfte streckte und auf der Spitze der mittleren Klaue des vierten balancierte. In der Nähe wohnten ein Auktionator, ein Agent der Feuerversicherungsgesellschaft, ein Kornhändler, ein Leinweber, ein Sattler, ein Branntweinbrenner, ein Spezereikrämer und ein Schuhmacher, in dessen Laden außer den Erzeugnissen für Fußbekleidung auch noch Hüte, Mützen, Anzüge, baumwollne Regenschirme und Artikel für Allgemeinwissen zu haben waren. Einige Jungen eilten dem Schauplatze des Wettspiels zu, und zwei oder drei Krämer standen in ihren Ladentüren und sahen aus, als hätten sie ebenfalls Lust, der Festlichkeit beizuwohnen, was sie auch ohne große Beeinträchtigung ihres Berufs getrost hätten wagen dürfen. Nachdem Mr. Pickwick diese Beobachtungen angestellt hatte, um sie später in sein Gedenkbuch einzutragen, eilte er schnellen Schrittes seinen Freunden nach, die die Hauptstraße verlassen hatten und bereits den Kampfplatz in der Ferne vor sich sahen.

Die Wickets waren bereits ausgesteckt, und ein paar Rast- und Erfrischungszelte für die Teams und die Zuschauer aufgeschlagen. Noch hatte das Spiel nicht begonnen. Zwei oder drei Dingley-Deller und einige Muggletoner belustigten sich damit, den Ball mit blasierter Miene von Hand zu Hand zu schlagen; einige andere Gentlemen in demselben Dreß, mit Strohhüten, Flanelljacken und weißen Hosen, ein Anzug, in dem sie wie Amateursteinmetze aussahen, standen um die Zelte herum, und Mr. Wardle führte seine Gesellschaft eben in eins derselben.

Einige Dutzend „Äh, Befinden?“ schallten dem alten Herrn entgegen, und ein allgemeines Hutlüften und Verbeugen der Flanelljacken folgten der Vorstellung seiner Gäste, dreier Herren aus London, die außerordentlich begierig wären, dem Ereignis des Tages beizuwohnen.

„Wollen Sie nicht lieber ins Hauptzelt treten, Sir?“ fragte ein sehr stattlich aussehender Gentleman, dessen untere Hälfte einem halbierten gigantischen Flanellballen glich, aus dem ein Paar aufgeblasene Kissenüberzüge als Beine herausragten.

„Sie sehen es hier am besten“, riet ein andrer stattlicher

Gentleman, der genau der zweiten Hälfte des erwähnten Flanellballens entsprach.

„Sie sind sehr gütig“, versetzte Mr. Pickwick.

„Hierher!“ sagte der erstgenannte Gentleman. „Hier wird gekerbt – es ist der beste Punkt auf dem ganzen Felde“, und schritt der Gesellschaft voran in das bezeichnete Zelt.

„Kapitalspiel – famoser Sport – feines Match“, waren die Worte, die an Mr. Pickwicks Ohren schlugen, als er in das Zelt trat, und das erste, was er sah, war sein grüngekleideter Freund aus der Postkutsche in Rochester, der gerade vor einem auserlesenen Kreise von Muggletonern zur nicht geringen Ergötzung und Erbauung seines Auditoriums einen Vortrag hielt. Sein Anzug hatte sich ziemlich gebessert, und er trug Halbschuhe, aber an seiner Identität war nicht zu zweifeln.

Auch der Fremde erkannte die Freunde sogleich. Er sprang auf, nahm Mr. Pickwick bei der Hand und führte ihn mit seiner gewohnten Hast zu einem Sitz, unaufhörlich schwatzend, als ob das ganze Fest unter seiner besonderen Leitung stände.

„Hierher – hierher – Kapitalspaß – massenhaft Bier – Rinderviertel – ganze Ochsen – Senf – Wagen voll – glorreicher Tag – setzen Sie sich – tun Sie, als ob Sie zu Hause wären – freut mich, Sie zu sehen – außerordentlich.«

Mr. Pickwick setzte sich, aber auch Mr. Winkle und Mr. Snodgraß unterwarfen sich dem Willen ihres geheimnisvollen Freundes. Mr. Wardle sah mit stummer Verwunderung zu.

„Mr. Wardle, ein Freund von mir“, stellte Mr. Pickwick vor.

„Freund von Ihnen? – Werter Herr, wie befinden Sie sich? – Ein Freund von meinem Freund. Ihre Hand, Sir!“

Der Fremde ergriff Mr. Wardles Hand mit der Glut einer mehrjährigen innigen Freundschaft, trat dann einen oder zwei Schritte zurück, als wollte er ihn erst recht genau von Angesicht zu Angesicht betrachten, und schüttelte dann seine Hand von neuem und womöglich noch wärmer als zuvor.

„Hm. Und wie kommen Sie eigentlich hierher?“ fragte Mr. Pickwick mit einem Lächeln, in dem Wohlwollen mit Überraschung kämpfte.

„Hierher kommen?“ erwiderte der Fremde. „In der ,Krone‘ abgestiegen – ,Krone‘ in Muggleton – Gesellschaft getroffen – Flanelljacken – weiße Hosen – Sandwiches mit Sardellen – Pfeffernieren – splendide Jungens – glorreich.“

Mr. Pickwick war mit dem stenographischen System des Fremden hinlänglich vertraut, um aus seinen abgebrochenen Mitteilungen zu entnehmen, daß er auf die eine oder andre Weise mit den Muggletonern eine Bekanntschaft angeknüpft und sie, vermittels des ihm eignen Verfahrens, bis zur Kameradschaft gesteigert hatte, worauf wahrscheinlich eine allgemeine Einladung erfolgt war. Mr. Pickwicks Wißbegier war somit befriedigt; er setzte seine Brille auf und schickte sich an, dem Spiele zuzusehen, das eben seinen Anfang nahm.

Muggleton hatte die ersten Innings, und die Spannung war ungeheuer, als die beiden berühmtesten Mitglieder des ausgezeichneten Klubs, Mr. Dumkins und Mr. Podder, mit den Bats in der Hand an ihre Wickets traten. Mr. Luffey, der Stolz Dingley Dells, hatte gegen den furchtbaren Dumkins den Ball zu werfen und Mr. Struggles seinerseits dem bisher unbesiegten Podder denselben Liebesdienst zu erweisen. Einige Spieler wurden aufgestellt, an verschiedenen Stellen des Feldes „aufzupassen“, und jeder nahm die erforderliche Stellung an, indem er die Hände auf die Knie stemmte, wie zum Bocksprung. Jeder Kricketer weiß, daß das so sein muß und daß es unmöglich ist, in irgendeiner andern Stellung gehörig aufzupassen.

Die Schiedsrichter stellten sich hinter die Wickets; die Skorer waren bereit zu kerben, und eine atemlose Stille trat ein. Mr. Luffey zog sich einige Schritte hinter das Wicket des untätigen Podder zurück und hielt einige Sekunden lang den Ball an sein rechtes Auge. Dumkins erwartete voll Zuversicht dessen Ankunft, die Blicke unverwandt auf Luffey geheftet,

„Play!“ rief plötzlich der Bowler.

Pfeilschnell flog der Ball aus Luffeys Hand geradenweges auf den mittleren Stab des Wickets zu. Aber Dumkins war auf der Hut; er fing ihn mit der Spitze seines Ballholzes auf und ließ ihn über die Köpfe der Aufpasser wegfliegen, die sich gerade tief genug bückten, um ihn über sich wegsausen zu lassen.

Die Sterne standen ungünstig für Dingley Dell.

Podder erntete Lorbeeren genug, um sich und ganz Muggleton damit zu bekränzen. Er schlug die zweifelhaften Bälle nieder, ließ die schlechten durch, fing die guten auf und gab sie nach allen Richtungen zurück; die Aufpasser waren erhitzt und müde; die Ballwerfer wechselten ab und bowlten, bis sie den Arm nicht mehr heben konnten; nur Dumkins und Podder blieben unermüdlich. Versuchte es ein älterer Herr, den Flug eines Balles zu hemmen, so rollte er ihm zwischen die Beine oder schlüpfte ihm durch die Hände. Wollte ihn ein flinker junger Mann auffangen, traf er ihn auf die Nase und flog mit doppelter Kraft lustig zurück, während sich die Augen des flinken jungen Mannes mit Tränen füllten. Schließlich zählte Muggleton vierundfünfzig, während das Kerbholz der Dingley-Deller so weiß war wie ihre Gesichter; der Vorsprung war zu groß, um wieder eingeholt werden zu können. Vergebens boten der gewandte Luffey und der selbstlose Struggles ihre ganze Geschicklichkeit und Erfahrung auf, um das Feld wieder zu erobern, das Dingley Dell im Kampfe verloren hatte; es war umsonst. Dingley Dell gab auf und erkannte damit Muggleton als Sieger an.

Der Fremde hatte mittlerweile rastlos gekaut, getrunken und gesprochen. Bei jedem guten Schlag drückte er in der herablassenden Weise des Gönners seine Zufriedenheit und seinen Beifall aus, wodurch sich die betreffende Partei notwendigerweise sehr geschmeichelt fühlen mußte, während er bei jedem Fehlschlag vor seinen demütigen Zuhörern sein persönliches Mißfallen durch die Worte: „Tj, tj – zu dumm – Butterfinger – fi – Patzer –“ und ähnliche Ausrufe zu erkennen gab: Ausrufe, die ihn in den Augen sämtlicher Anwesenden als einen vorzüglichen Kenner aller Mysterien des edlen Kricketspiels erscheinen ließen.

„Kapitalmatch – sauber hingelegt – einige bewundernswürdige Schläge“, sagte der Fremde, als sich nach dem Spiele beide Parteien im Zelt versammelten.

„Haben Sie früher auch Kricket gespielt, Sir?“ fragte Mr. Wardle, den die Geschwätzigkeit des Fremden ungemein amüsierte. „Gespielt? Will ich meinen – tausendmal – nicht hier – Westindien – ungeheure Anstrengung – heiße Arbeit – sehr heiß.“

„Es muß freilich unter jenem Himmelsstrich keine Kleinigkeit sein“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Kleinigkeit? – Heiß – brennend heiß – rotglühend. Spielte einmal ein Match – ein einziges Wicket – mein Freund, der Oberst – Sir Thomas Blazo – wer die meisten Läufe bekommen sollte. – Gewann den Wurf – Vorhand – sieben Uhr abends – sechs Eingeborene zum Aufpassen – kamen. Hielten mit – enorme Hitze – die Eingebornen alle ohnmächtig – weggebracht – frisches halbes Dutzend aufgestellt – auch ohnmächtig – Blazo bowlt – von zwei Eingebornen unterstützt – konnte mich nicht ausbowlen – auch ohnmächtig – Oberst weggebracht – wollten sich nicht ergeben – treuer Diener – Quanko Samba – der letzte Mann übrig – Sonne so heiß, daß die Ballhölzer kohlten und der Ball schwarz wurde – fünfhundertundsiebzig Läufe – ganz erschöpft – Quanko strengte seine letzten Kräfte an – bowlte mich aus. – Ich nahm ein Bad und ging zum Essen.“

„Und was wurde aus dem … Wie nannten Sie ihn, Sir?“ fragte ein alter Herr.

„Blazo?“

„Nein, der andre.“

„Quanko Samba?“

„Ja.“

„Armer Quanko – erholte sich nicht mehr – ausgebowlt. – Tot, Sir.“ Der Fremde begrub sein Gesicht in einen braunen Krug; ob er seine Rührung verbergen oder sich den Inhalt einverleiben wollte, ist nicht mehr festzustellen. Wir wissen nur, daß er plötzlich absetzte, lang und tief Atem schöpfte und sich neugierig umsah, als zwei von den ersten Mitgliedern des Dingley-Dell-Klubs mit den Worten zu Mr. Pickwick traten:

„Wir haben im ,Blauen Löwen‘ ein Festessen, Sir, und hoffen, Sie und Ihre Freunde werden uns die Ehre schenken.“

„Natürlich“, sagte Mr. Wardle. „Zu unsern Freunden zählen wir auch Mr. –“, hier sah er den Fremden an.

„– Jingle“, ergänzte der weltgewandte Gentleman. „Jingle – Alfred Jingle, Esq. von Ohneschloß, Nirgendheim.“

„Es wird mir ein großes Vergnügen sein“, bedankte sich Mr. Pickwick.

„Mir auch“, bemerkte Mr. Alfred Jingle, nahm Mr. Pickwicks Arm und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr: „Verteufelt gutes Essen – kalt, aber kapital – schielte diesen Morgen in die Küche – Geflügel, Pasteten und alles mögliche – famose Jungens, das – gut benommen – sehr gut.“

Da schon alle Vorbereitungen getroffen waren, schlenderte die Gesellschaft in Gruppen zu zwei und drei langsam in die Stadt, und nach Verlauf einer Viertelstunde saßen alle im großen Saal des „Blauen Löwen“ von Muggleton. – Mr. Dumkins führte den Vorsitz, und Mr. Luffey hatte die Würde des Vizepräsidenten.

Ein allgemeines Stimmengewirr und Messer-, Gabel- und Tellergeklapper erhoben sich. Drei dickköpfige Servierkellner liefen unaufhörlich aus und ein, und die handfesten Fleischstücke verschwanden mit Blitzesschnelle von der Tafel; zu all dieser Verwirrung trug der muntere Mr. Jingle wenigstens sechsmal soviel bei als irgendein andres Mitglied der Gesellschaft. Nachdem jeder gegessen hatte, so viel er konnte, wurde abgedeckt, um für Flaschen, Gläser und Dessert Platz zu machen. Die Kellner trugen ab oder, besser gesagt, retteten die Überreste der Speisen und Getränke aus dem Saal.

Mitten in dem allgemeinen Getöse der Tafelfreuden und der Gespräche bemerkte man einen kleinen Mann mit einem wichtigtuerischen Gesicht, das immer widersprechen zu wollen schien. Er sagte weiter kein Wort und warf nur zuweilen, wenn die Unterhaltung stockte, Blicke um sich, als wolle er irgend etwas höchst Bedeutsames vorbringen; dann und wann räusperte er sich auch mit einer unbeschreiblichen Würde. Endlich, während einer kleinen Pause, rief er mit sehr lauter, feierlicher Stimme:

„Mr. Luffey!“

Alles schwieg sofort, nur der Angeredete erwiderte:

„Sir?“

„Ich wünsche einige Worte an Sie zu richten, Sir, wenn Sie die Herren bitten wollen, ihre Gläser zu füllen.“

Mr. Jingle ließ begönnernd ein „Hört! Hört!“ vernehmen, das von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt wurde, und nachdem die Gläser gefüllt waren, nahm der Vizepräsident eine Miene der gespanntesten Aufmerksamkeit an und sagte:

„Mr. Staple hat das Wort.“

„Sir“, begann der kleine Mann und erhob sich von seinem Sitz, „ich wünsche das, was ich zu sagen habe, an Sie zu richten, statt an unsern würdigen Präsidenten, weil unser würdiger Präsident gewissermaßen – ich darf sagen, in hohem Grade – der Gegenstand dessen ist, was ich zu sagen oder vielmehr – vielmehr –“

„– vorzutragen habe“, ergänzte Mr. Jingle.

„Ja, vorzutragen habe“, sagte der kleine Mann. „Ich danke meinem ehrenwerten Freunde, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen“ – (vier „Hört, hört!“, von denen mindestens eines aus dem Munde Mr. Jingles kam) –, „daß er mir mit dem richtigen Wort ausgeholfen hat. Mein Herr, ich bin ein Deller – ein Dingley-Deller. (Beifall.) Ich kann keinen Anspruch auf die Ehre machen, ein Mitglied der Bevölkerung von Muggleton zu sein, und ich gestehe offen, Sir, ich begehre auch diese Ehre nicht, und warum nicht, sollen Sie sogleich hören, Sir. (Hört!) Ich gönne Muggleton von Herzen alle und jede Ehre und Auszeichnung, die es mit so großem Recht ansprechen kann. Seine Verdienste sind zu zahlreich und allgemein bekannt, als daß ich sie hier aufzählen müßte. Doch wenn Muggleton auch einen Dumkins und einen Podder hervorgebracht, so lasset uns andrerseits nicht vergessen, daß Dingley Dell einen Luffey und einen Struggles aufzuweisen hat. (Tosender Beifall.) Ich bitte nicht, etwa zu glauben, ich wolle die Verdienste der erstgenannten Herren herabsetzen. Nein, Sir; ich beneide Sie um Ihre Triumphe bei dieser Gelegenheit. (Beifall) Jeder der verehrten Anwesenden ist wahrscheinlich mit der Antwort des gewissen Weisen vertraut, die dieser von seiner Tonne aus dem Kaiser Alexander gab: .Wenn ich nicht Diogenes wäre, so möchte ich Alexander sein.‘ Ich stelle mir vor, die Herren hier denken auch: ,Wenn ich nicht Dumkins wäre, so möchte ich Luffey sein; wenn ich nicht Podder wäre, so möchte ich Struggles sein.‘ (Stürmischer Beifall.) Doch, meine Herren von Muggleton, ist es bloß das Kricket, in dem sich Ihre Mitbürger so auszeichnen? Haben Sie nicht von Dumkins gehört, wenn von Entschlossenheit die Rede war? Haben Sie nie gelernt, mit dem Namen Podder alles, was Rechtsbegriff heißt, zu verbinden? (Großer Beifall.) Sind Sie je bei der Verteidigung Ihrer Rechte, Ihrer Freiheiten, Ihrer Privilegien, wenn auch nur für einen Augenblick, mutlos und verzweifelt gewesen? Und wenn Sie niedergedrückt waren, hat nicht der Name Dumkins das erloschene Feuer in Ihrer Brust wieder angefacht? Und ist es nicht durch ein Wort von diesem Manne wieder aufgelodert, als wäre es nie erloschen? (Großer Beifall.) Meine Herren, ich fordere Sie auf, den vereinten Namen Dumkins und Podder ein donnerndes Hoch zu bringen.“

Der Kleine schwieg, und die Gesellschaft schrie, schlug auf den Tisch, und für den ganzen Abend war der Lustbarkeit und des Lärmens kein Ende. Noch andre Toaste wurden ausgebracht. Mr. Luffey und Mr. Struggles, Mr. Pickwick und s Mr. Jingle wurden nacheinander in Lobeshymnen gefeiert, und jeder bedankte sich pflichtschuldigst für die ihm erwiesene Ehre.

Leider sind wir nicht in der Lage, alle Reden wiederzugeben. Wohl zeichnete Mr. Snodgraß mancherlei auf, doch ist seine Handschrift an diesem Abend fast unleserlich. Wirklich lesbar ist eigentlich nur der Hymnus:

„Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Wir gehn noch lange nicht,
Bis früh der Tag anbricht.“

Neuntes Kapitel


Neuntes Kapitel

Das den Satz: „Die Liebe ist keine Eisenbahn“ in ein helles Licht rückt.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechtes und die sorgsame Pflege und Wartung, die sie an den Tag legten, waren der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Mr. Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte und die jetzt bestimmt schienen, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos, aber in den Augen der jungfräulichen Tante lag ein Seelenleben, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch erheben konnten und worin sie es jedem Weibe zuvortat, das Mr. Tupman je gesehen hatte. Daß in ihrer beiden Wesen etwas Verwandtes, in ihrem Empfinden etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war augenscheinlich; ihr Name war der erste Laut, der über Mr. Tupmans Lippen kam, als er blutend im Grase lag, und ihr hysterischer Lachkrampf der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde. Aber: hatte ihre Aufregung ihren Grund lediglich in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit gehabt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre, oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag, Zweifel, die er nun ein für allemal zu lösen beschloß.

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Mr. Trundle einen Spaziergang gemacht; die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen; das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber; die strammen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends; von niemand beachtet und blind für die Umgebung vor sich hin träumend, saß das verliebte Pärchen da, ineinandergeschlungen wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe.

„Ich habe meine Blumen vergessen“, sagte die Jungfrau.

„Begießen wir sie“, säuselte Mr. Tupman.

„Sie würden sich in der Abendluft erkälten“, wendete die Jungfrau zärtlich ein.

„Nein, nein“, erwiderte Mr. Tupman und stand auf. „Es wird mir guttun. Ich will Sie begleiten.“

Schweigend legte das Mädchen die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des Jünglings lag, hängte sich in ihn ein und geleitete ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben lag eine Laube von Geißblatt, Jasmin und Schlingpflanzen, eines jener Ruheplätzchen, die empfindsame Seelen als Zufluchtsort für Spinnen zu errichten lieben.

Die Jungfrau ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand, und wollte eben die Laube verlassen, da hielt sie Mr. Tupman zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

„Miß Wardle!“ begann er.

Die Jungfrau zitterte, bis einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

„Miß Wardle“, sagte Mr. Tupman, „Sie sind ein Engel.“

„Mr. Tupman!“ rief Rachel aus und wurde so rot wie ihre Gießkanne.

„Nein, nein“, sagte der beredte Pickwickier, „ich weiß es nur zu gut.“

„Alle Frauen sind Engel, wenn man den Männern glauben soll“, flötete die Dame in scherzhaftem Ton.

„Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?“ versetzte Mr. Tupman. „Wo ist das Weib, das Ihnen gliche? Wo sonst könnte ich eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit zu finden hoffen? Wo sonst könnte ich … Oh!“ Mr. Tupman schwieg und drückte die Hand, die auf dem Henkel der beneidenswerten Gießkanne ruhte.

Das Mädchen blickte errötend zu Boden und flüsterte sanft:

„Die Männer sind voll Lug und Trug.“

„Ja, sie sind es, sie sind es“, versicherte Mr. Tupman. „Aber nicht alle. Hier wenigstens lebt einer, dessen Herz keinen Wankelmut kennt, einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte, der nur von Ihren Blicken lebt, der nur in Ihrem Lächeln atmet, der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.“

„Ja, wer einen solchen Mann finden könnte!“ seufzte das Mädchen.

„Sie könnten ihn finden?“ rief inbrünstig Mr. Tupman. „Er ist gefunden. Er liegt vor Ihnen, Miß Wardle.“

– Und ehe die Jungfrau seine Absicht ahnen konnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien.

„Stehen Sie auf, Mr. Tupman“, flehte Rachel.

„Nimmermehr“, war die entschlossene Antwort. „Oh, Rachel, sagen Sie, daß Sie mich lieben.“ Er ergriff so stürmisch ihre Hand, daß die Gießkanne zu Boden fiel.

„Mr. Tupman“, seufzte die Jungfrau mit abgewandtem Gesicht, „ich kann kaum Worte finden; doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.“

Mr. Tupman hörte kaum dieses Geständnis, als er sich ganz seiner Begeisterung hingab und tat, was angeblich unter solchen Umständen die meisten Menschen tun. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfrau und drückte eine Anzahl Küsse auf ihre Lippen. Sie nahm sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hin, daß ihr Mr. Tupman vielleicht noch viel mehr aufgedrückt haben würde, wäre sie nicht plötzlich, heftig erschrocken und angsterfüllt, in die Worte ausgebrochen:

„Mr. Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!“

Mr. Tupman sah sich um und erblickte die großen kreisrunden Augen des fetten Jungen, der ohne den mindesten Ausdruck auf seinem Gesichte, den der erfahrenste Physiognomiker als Erstaunen, Neugierde oder irgendeine bekannte Leidenschaft, die sonst noch die Brust der Menschen bewegt, hätte auslegen können, völlig regungslos in die Laube glotzte. Mr. Tupman starrte den fetten Jungen an, und der fette Junge ihn, und je länger Mr. Tupman das völlig nichtssagende Gesicht seines Gegenübers ansah, desto mehr kam er zur Überzeugung, daß dieses entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Ton:

„Was suchst du hier?“

„’s Essen is aufgetragen, Sir“, war die prompte Antwort.

„Bist du eben erst gekommen?“ fragte Mr. Tupman mit durchbohrendem Blick.

„Grad jetzt“, erwiderte der fette Junge.

Mr. Tupman sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene. Dann nahm er den Arm der Jungfrau und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

„Er weiß nicht, was vorgefallen ist“, flüsterte Mr. Tupman.

„Nichts?“ fragte die Jungfrau.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Mr. Tupman drehte sich blitzschnell um. Aber nein, der fette Junge konnte es nicht gewesen sein; in seinem ganzen Gesicht war keine Spur von Heiterkeit und überhaupt kein andrer Ausdruck als Eßlust zu erkennen.

„Er muß geschlafen haben“, flüsterte Mr. Tupman.

„Ich zweifle nicht im geringsten daran“, versetzte die Jungfrau, und beide lachten herzlich.

Aber Mr. Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zufällig nicht geschlafen. Er hatte gewacht, sogar völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabella Wardle widmete sich ausschließlich Mr. Trundle, die Tante hatte für niemand Augen als für Mr. Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen, vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch immer nicht zurück. Bestürzung und Unruhe lagen auf jedem Gesicht. Könnten sie vielleicht überfallen und beraubt worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie suchen lassen? Oder sollte man … Horch! Sie sind’s. Was konnte sie so lange aufhaken? Und eine fremde Stimme? Wem konnte sie gehören? Man eilte in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugte sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Mr. Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt, am Anrichttisch, wackelte mit dem Kopf und lächelte unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund dafür entdecken konnte; der alte Mr. Wardle hielt einen fremden Herrn an der Hand, dem er mit flammendem Gesicht etwas von ewiger Freundschaft vorlallte; Mr. Winkle klammerte sich an die Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute nacht von Zubettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab, und Mr. Snodgraß war auf einen Stuhl gesunken, den Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen nur ausmalen kann, in jeder Linie seines verstörten Gesichts.

„Ist etwas vorgefallen?“ fragten die drei Damen.

„Ni–nichts ist los“, antwortete Mr. Pickwick. „Wir – wir sind –. Alles in schönster Ordnung. – Wa–was Wardle, alles in sch–schönster Ordnung?“

„Das will ich meinen“, sagte der alte Herr lustig. „Meine Lieben, hier ist mein Freund, Mr. Jingle, Mr. Pickwicks Freund, Mr. Jingle. Er macht uns einen kleinen Besuch.“

„Ist Mr. Snodgraß etwas zugestoßen?“ fragte Emilie ängstlich.

„Nicht das mindeste, Ma’am“, mischte sich der Fremde ein. „Kricketschmaus – großartige Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Claret – gut – sehr gut – Wein. Ma’am, Wein.“

„Es lag nicht am Wein“, lallte Mr. Snodgraß mit gebrochner Stimme. „Der Lachs war schuld.“

„Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?“ fragte Emilie. „Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.“

„Ich gehe nicht zu Bett“, lehnte Mr. Winkle bestimmt ab.

„Kein Mensch auf der Welt soll sich erdreisten, mich zu führen“, erwiderte Mr. Pickwick kühn, lächelte aber gleich darauf wieder so gutmütig wie zuvor.

„Hurra!“ rief Mr. Winkle.

„Hurra!“ wiederholte Mr. Pickwick, nahm seinen Hut ab, schleuderte ihn auf den Boden und warf dann seine Brille in einem Anfall von Tollheit mitten in die Küche. Dann lachte er über diesen Hauptspaß laut auf.

„Trinken – wir – noch – eine – Flasche“, rief Mr. Winkle mit lauter, aber bei jedem Wort immer schwächer werdender Stimme. Der Kopf sank ihm auf die Brust nieder, und nachdem er noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bett gehen zu wollen, und von einer blutdürstigen Reue, „den ollen Tupman diesen Morgen nicht vollends zur Strecke gebracht zu haben“, gelallt hatte, verfiel er plötzlich in einen tiefen Schlaf. Zwei junge Burschen, unter Oberaufsicht des fetten Jungen, brachten ihn zu Bett, und gleich darauf vertraute Mr. Snodgraß seinen Leichnam der Sorge derselben Personen an. Mr. Pickwick nahm den dargebotenen Arm Mr. Tupmans und verschwand ganz in der Stille, ein stereotypes Lächeln auf den Lippen, und Mr. Wardle erwies Mr. Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinaufzugeleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er unmittelbar dem Schafott entgegen.

„Was für ein abscheulicher Auftritt!“ rief die Jungfrau.

„Ab–scheulich!“ stimmten die beiden jungen Damen bei.

„Furchtbar – furchtbar!“ sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. „Ein schrecklicher Anblick. Gewiß.“

„Ein reizender Mensch!“ flüsterte die Tante Mr. Tupman zu.

„Und ein hübscher Mensch!“ flüsterte Emilie Wardle.

„Wahrhaftig, ja“, bemerkte die Tante.

Mr. Tupman dachte an die Witwe in Rochester, und seine Stirn umwölkte sich.

Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, seine Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch seine Höflichkeiten übertroffen. Mr. Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Mr. Jingles Beliebtheit stieg, immer mehr in den Schatten trat. Sein Lachen war gezwungen, seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfen zwischen die Bettkissen steckte, wünschte er sich mit grausamer Lust Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen Federbett und Matratze.

Der unverwüstliche Fremde stand am andern Tag zeitig auf und gab sich alle Mühe, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Dies gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Dame sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und herablassend zu der Tante bemerkte, Mr. Jingle sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen rückhaltlos beistimmten.

Es war eine Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen nach der Laube zu begeben, in der sich Mr. Tupman am Tag vorher so ausgezeichnet hatte. Zu diesem Zweck mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Dame einen schwarzen Atlaskapotthut, einen warmen baumwollenen Schal und einen dicken Stock mit einer großen Krücke holen. Hatte sie sich dann, behaglich eingehüllt, mußte sie der fette Junge für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genuß frischer Luft verbunden sind, überlassen und nach Ablauf dieser Frist wieder ins Haus zurückführen.

Die alte Dame ging in solchen Fällen nie von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander, ohne das geringste Abweichen von der Regel, ausgeübt worden, so war sie ein wenig überrascht, als jetzt der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich behutsam nach allen Richtungen umsah und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam, wie es die meisten alten Damen sind, und so kam sie sogleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schilde, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft zum Schreien benommen hätte, und mußte sich damit begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herantrat und ihr mit einem – wie es schien – drohenden Ton ins Ohr schrie:

„Missus!“

Das Schicksal wollte es, daß sich in demselben Augenblick Mr. Jingle im Garten erging und sich gerade in unmittelbarer Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – erstens, weil er nichts andres zu tun hatte, zweitens, weil seine Neugierde kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt, er machte halt und horchte.

„Missus!“ schrie der fette Junge.

„Ach, Joe“, sagte die alte Dame zitternd, „ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich immer aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten brauchen und doch jeden Tag genug zu essen gehabt.“

Letzteres war ein Appell an Joes Gefühlsleben. Er schien auch wirklich gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

„Ich weiß.“

„Was kannst du denn noch von mir wollen?“ fragte die alte Dame, etwas ermutigt.

„Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich’s Ihnen sag“, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankesgruß, und da sich die alte Dame über die Art, wie sich die Sache weiter abwickeln könne, nicht klarwerden konnte, kehrten alle ihre Schrecken wieder.

„Was meinen Sie wohl, hab ich gestern hier in dieser Laube gesehen?“ fragte der Junge.

„Barmherziger Himmel! Was?“ rief die alte Dame, beunruhigt durch die Feierlichkeit des korpulenten Jünglings.

„Der fremde Herr – der mit dem zerschoßnen Arm – hat sie geküßt und umarmt.“

„Wen, Joe, wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?“

„Schlimmer als das!“ brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

„Wie, gar eine meiner Enkelinnen?“

„Noch schlimmer!“

„Noch schlimmer, Joe?“ versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Nonplusultra männlicher Verwegenheit betrachtete. „Wer ist’s gewesen, Joe? Ich muß es unbedingt wissen.“

„Miß Rachel.“

„Was?“ rief die Dame in schrillem Tone. „Sprich lauter.“

„Miß Rachel“, brüllte der fette Junge.

„Meine Tochter?“

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine aufgedunsnen Backen wie Sülze erzitterten.

„Und sie ließ sich’s gefallen?“ rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen.

„Sie küßte ihn wieder.“

Hätte Mr. Jingle den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, sehen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendigerweise hätte verraten müssen. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm nur einige abgebrochene Sätze wie: „Ohne meine Zustimmung!“ – „In ihren Jahren!“ – „Ich arme, unglückliche Frau!“ – „Hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin.“ Dann hörte er die Stiefelsohlen des fetten Jungen im Sande knirschen und sich entfernen.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Mr. Jingle schon in den ersten fünf Minuten nach seiner Ankunft in Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, unverzüglich Beschlag auf das Herz der jungfräulichen Tante zu legen. Er besaß hinreichend Scharfblick, um zu bemerken, daß sein keckes Benehmen dem schönen Gegenstande seiner Wünsche keineswegs mißfiel, und glaubte annehmen zu dürfen, daß sie auch im Besitz des wünschenswertesten aller Erfordernisse, nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andre Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und so entschloß er sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, und der Fürst der Finsternis bringe sie miteinander in Berührung, um sofort eine helle Flamme auflodern zu lassen. Mr. Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern dasselbe sind, was die Lunte für das Schießpulver ist, und so nahm er sich vor, ohne Zeitverlust auf eine Explosion hinzuwirken.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schütze des vorerwähnten Gesträuches dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen, denn eben verließ Mr. Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Die Luft war also rein.

Die Tür des Speisezimmers stand halb offen. Er blickte hinein. Die jungfräuliche Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete; sie sah auf und lächelte. Unschlüssigkeit, gehörte nicht zu Mr. Jingles Charaktereigenschaften. Er legte die Finger geheimnisvoll an die Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

„Miß Wardle“, begann er mit erkünsteltem Ernst, „entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien. – Alles entdeckt!“

„Sir!“ entgegnete die Jungfrau, ein wenig überrascht über diese unerwartete Annäherung und voll Zweifel, ob der Mann nicht am Ende verrückt sei.

„Pst!“ warnte Mr. Jingle mit einem theatralischen Flüstern. „Dicker Junge – Knödelgesicht – runde Augen – Spitzbube!“ Nachdrücklich schüttelte er den Kopf, und die Jungfrau zitterte vor Aufregung.

„Ich vermute, Sie spielen auf Joe an, Sir?“ sagte sie und nahm sich zusammen, um gefaßt zu erscheinen.

„Jawohl, Ma’am, verdammter Junge! – Falscher Hund – verriet alles der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – und dergleichen. – Ma’am, wie?“

„Mr. Jingle“, sagte die alte Jungfer, „wenn Sie mich beleidigen wollen – „

„Aber nein – nicht im geringsten – hörte die Geschichte – kam her, Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung. – Will augenblicklich wieder gehen.“ Und er wandte sich um, als wolle er seine Drohung unverzüglich ausführen.

„Aber was soll ich tun?“ jammerte die arme alte Jungfer, in Tränen ausbrechend. „Mein Bruder wird rasen!“

„Läßt sich denken!“ entgegnete Mr. Jingle nach einer Pause. „Wird wütend sein.“

„Ach, Mr. Jingle, was soll ich sagen?“ rief die Tante verzweifelt.

„Sagen Sie, er hat geträumt“, riet Mr. Jingle kaltblütig.

Ein Hoffnungsstrahl dämmerte in der Seele Miß Wardles auf. Mr. Jingle bemerkte es und nahm seinen Vorteil wahr.

„Pah, pah! – Nichts leichter als das. – Verwünschter Heimtücker – bezaubernde Dame – fetter Junge wird mit der Hundspeitsche traktiert – Ende vom Lied – alles in Ordnung.“

Miß Wardle errötete und warf einen dankbaren Blick auf Mr. Jingle.

Tief seufzte der weltgewandte Gentleman auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfrau, schauerte theatralisch zusammen und ließ seine Blicke sinken.

„Sie scheinen unglücklich zu sein, Mr. Jingle“, sagte das Mädchen voll Teilnahme. „Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeigen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um es womöglich beseitigen zu können?“

„Ach!“ rief Mr. Jingle, wieder zusammenfröstelnd. „Beseitigen? – Mein Leid beseitigen, wo Ihre Liebe einem Manne gilt, der ein solches Glück gar nicht zu schätzen weiß? – Einem Manne, der sich >eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das … Doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Verworfenheit nicht enthüllen. Miß Wardle, leben. Sie wohl!“

Gegen Ende dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen, drückte Mr. Jingle die spärlichen Reste seines Schnupftuchs vor die Augen und wandte sich zum Gehen.

„Bleiben Sie, Mr. Jingle!“ rief die Jungfrau emphatisch. „Sie haben eine Anspielung auf Mr. Tupman fallenlassen. Erklären Sie sich näher.“

„Nie!“ rief Mr. Jingle mit theatralischer Gebärde. „Nie!“ Und zum Zeichen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfrau und setzte sich nieder.

„Mr. Jingle“, flehte die Tante, „ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Mr. Tupman im Spiele ist, so lüften Sie den Schleier.“

„Kann ich“, versetzte Mr. Jingle, vor sich hin starrend, „kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – herzloser Habsucht geopfert?“ Er schien einige Sekunden mit einander widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: „Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.“

„Der Elende!“ rief die Jungfrau voll Entrüstung.

– Mr. Jingles Zweifel waren behoben: sie hatte Geld.

„Und was noch mehr ist, er liebt eine andre.“

„Eine andre?“ rief die Tante. „Und wen?“

„Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.“

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den die jungfräuliche Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht fühlte, als gerade diese Nichte. Eine dunkle Röte schoß ihr über Gesicht und Nacken. Dann wiegte sie den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her, biß sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und ächzte:

„Es kann nicht sein. Ich glaube es nicht.“

„Sie beobachten“, riet Jingle.

„Das will ich“, versetzte die Tante.

„Auf seine Blicke achtgeben.“

„Gut.“

„Und auf sein Liebesgeflüster.“

„Ja.“

„Wird am Tisch neben ihr sitzen.“

„Soll er.“

„Ihr Artigkeiten sagen.“

„Hm.“

„Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen.“

„Meinetwegen.“

„Mit Ihnen brechen.“

„Mit mir brechen?!“ rief die alte Jungfer. „Er mit mir brechen!? Gut! Recht so!“ Und sie zitterte vor Wut und Enttäuschung.

„Wollen Sie sich überzeugen?“ fragte Jingle.

„Ich will.“

„Ihm entschlossen entgegentreten?“

„Ja.“

„Nachher nicht wieder mit ihm reden?“

„Nie. Nie.“

„Einen andern erhören?“

„Ja.“

„So tun Sie es.“ Mr. Jingle fiel auf die Knie, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung und erhob sich wieder als der erklärte Liebhaber der Jungfrau – für den Fall, daß sich Mr. Tupmans Treulosigkeit wirklich herausstellen sollte.

Den Beweis hatte Mr. Alfred Jingle zu erbringen, und er entledigte sich seiner Aufgabe noch am selben Tage bei Tisch. Miß Wardle wollte kaum ihren Augen trauen. Mr. Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte, Mr. Snodgraß zum Trotz. Kein Wort, nicht einen Blick hatte er für die, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens gewesen.

Verwünschter Joe! dachte der alte Mr. „Wardle, dem seine Mutter die Erzählung des Jungen mitgeteilt hatte. Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Nichts als Einbildung!

Treuloser Verräter! dachte die alte Jungfer ihrerseits. Der gute Mr. Jingle hat mich nicht hintergangen. Oh, wie hasse ich den Elenden!

Die folgende Schilderung mag dazu dienen, der Öffentlichkeit die scheinbar unerklärliche Veränderung in Mr. Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend, Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten, die eine ziemlich klein und beleibt, die andre schlank und hager. Es waren Mr. Tupman und Mr. Jingle. Die kleinere Gestalt begann das Gespräch.

„Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?“

„Vortrefflich – kapital – hätt’s selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise – fortfahren. – Morgen – jeden Abend – bis auf weiteres.“

„Wünscht es Rachel noch immer?“

„Natürlich – tut’s freilich nicht, gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis der Verdacht der alten Leute eingeschlafen ist. – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.“

„Läßt sie mir sonst nichts sagen?“

„Versichert Liebe, treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Mein lieber Freund“, versetzte nichtsahnend Mr. Tupman und ergriff voll Wärme die Hand des vermeintlichen Freundes, „versichern Sie Miß Rachel gleichfalls meiner heißesten Liebe, sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Rolle wird, sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt, aber fügen Sie auch hinzu, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens empfinde, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Klugheit und ihre Vorsicht bewundere.“

„Soll geschehen. Weiter nichts?“

„Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblicke sehne, wo ich sie mein nennen und die Maske abwerfen kann.“

„Wird besorgt, wird besorgt. Sonst noch etwas?“

„Ach, mein Freund“, sagte der arme Mr. Tupman und ergriff abermals die Hand seines Gefährten, „haben Sie Dank, wärmsten Dank, für Ihre uneigennützige Güte und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit einem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Liebesdienst vergelten?“

„Reden Sie nicht davon“, wehrte Mr. Jingle ab, hielt aber sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: „Apropos, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblicke zu besondern Zwecken sehr nötig. Zahle wieder in drei Tagen.“

„Gewiß kann ich das“, rief Mr. Tupman in der Überfülle seines Herzens. „Drei Tage, sagen Sie?“

„Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.“

Mr. Tupman zählte das Geld seinem Freund auf die Hand, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Goldstück für Goldstück in seine Tasche gleiten.

„Vorsichtig“, warnte Mr. Jingle. „Ja keinen Blick.“

„Gewiß, gewiß“, beteuerte Mr. Tupman.

„Keine Silbe!“

„Nicht die leiseste.“

„Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas schroff gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.“

„Ich werde es schon hinkriegen“, sagte Mr. Tupman laut.

Ganz meinerseits! dachte Mr. Jingle. Dann traten sie ins Haus.

Die Mittagsszene wiederholte sich am Abend, und desgleichen an den drei nächstfolgenden Mittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Grundlosigkeit eines Verdachtes gegen Mr. Tupman überzeugt. Bei diesem war dasselbe der Fall, da ihm Mr. Jingle mitgeteilt hatte, die Sache würde sich jetzt bald entscheiden. Mr. Pickwick war ebenfalls sehr heiter, denn das lag in seinem Naturell. Nur von Mr. Snodgraß ließ sich dies nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Mr. Tupman, wähnend wiederum die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Mr. Jingle nebst Fräulein Tante – aus Gründen, die in einem andern Kapitel unsrer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlössen.

Zehntes Kapitel


Zehntes Kapitel

Entdeckung und Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren zurechtgerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles kündigte das Herannahen es vergnüglichsten Zeitabschnittes in dem Vierundzwanzig-Stunden-Bogen des Tages an.

„Wo ist Rachel?“ fragte Mr. Wardle.

„Ja, und Mr. Jingle?“ fügte Mr. Pickwick hinzu.

„Merkwürdig, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Mir fällt jetzt auf, daß ich seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört habe. Liebe Emilie, klingle noch einmal!“

Die Klingel wurde gezogen, und der dicke Junge trat ins Zimmer.

„Wo ist Miß Rachel?“

Achselzucken.

„Und Mr. Jingle?“

Abermals Achselzucken.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät, bereits elf Uhr vorbei. Mr. Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum, um den Verdacht auf eine falsche Fährte zu lenken, und sprachen dabei von ihm. Haha! Ein famoser Einfall. Schrecklich komisch!

„Macht weiter nichts“, meinte Mr. Wardle nach einer kurzen Pause. „Ich wette, sie müssen jeden Augenblick kommen. Mit dem Nachtessen warte ich prinzipiell auf niemand.“

„Eine treffliche Hausregel, das“, bemerkte Mr. Pickwick. „Wirklich ausgezeichnet.“

Ein ungeheures Stück kalter Rinderbraten kam auf den Tisch, und Mr. Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er brachte eben die Gabel an die Lippen und war im Begriffe, den Brocken seinen Zähnen zu überliefern, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton zahlreicher Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Mr. Wardle horchte ebenfalls auf und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in der Rindskeule stecken.

Schwere Fußtritte ließen sich im Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Mr. Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefel gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

„Was, zum Teufel, soll das heißen?“ rief der Hausherr.

„Der Küchenschornstein hat Feuer gefangen, nicht wahr, Emma?“ forschte die alte Dame.

„Aber nein, Großmama, gewiß nicht!“ riefen die beiden jungen Damen.

„Was ist denn also los?“ schrie der Hausherr.

Der Mann schnappte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

„Sie sind fort, reineweg getürmt, Sir!“

Mr. Tupman ließ Messer und Gabel fallen und erblaßte.

„Wer ist fort?“ schrie Mr. Wardle heftig.

„Mr. Jingle und Miß Rachel! – In einer Postkutsche, vom ,Blauen Löwen‘ in Muggleton aus. Ich war dort, hab sie aber nicht aufhalten können, und da bin ich schnell hergelaufen, um’s zu melden.“

„Und das auf meine Kosten!“ rief Mr. Tupman, aufspringend und ganz außer sich. „Er hat mir zehn Pfund herausgelockt! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir das nicht gefallen! Ich will Gerechtigkeit haben! Pickwick! Ich ertrage das nicht!“

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen raste der unglückliche Gentleman wie toll im Zimmer umher.

„Gott steh uns bei!“ rief Mr. Pickwick, das außerordentliche Gebaren seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. „Er ist. übergeschnappt! Was fangen wir nur an?“

„Anfangen?“ wiederholte, geistesabwesend, der Hausherr, der bloß Pickwicks letztes Wort gehört hatte. „Spannt das Pferd ins Gig! Ich will im ,Löwen‘ eine Postchaise nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo“, rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen, „wo ist der Halunke, der Joe?“

„Hier! Gar nicht Halunke“, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

„Lassen Sie mich, Pickwick!“ schrie Wardle, riß sich los und stürzte sich auf den unglücklichen Jüngling. „Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen und mir einen Floh ins Ohr gesetzt, mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman.“ – Mr. Tupman sank in seinen Stuhl zurück. – „Lassen Sie mich, ich muß ihm zu Leibe.“

„Halten Sie ihn fest!“ kreischten die Damen, aus deren Geschrei man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraushören konnte.

„Weg da!“ rief der alte Herr. „Zurück, Mr. Winkle! Lassen Sie mich los, Mr. Pickwick!“

Es war ein erhebender Anblick, mitten in diesem Tumult und der grenzenlosen Verwirrung den friedlichen und philosophischen Ausdruck in Mr. Pickwicks Antlitz zu betrachten, wie er, allerdings ein wenig gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seines korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, dastand und ihn von Tätlichkeiten zurückhielt, während der fette Junge von der Damenschar zur Tür hinausgeschoben und –gezerrt wurde. Mr. Pickwick hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß das Gig bereitstehe.

„Lassen Sie ihn nicht allein fort!“ jammerten die Damen. „Er wird jemand töten!“

„Ich werde ihn begleiten!“ beruhigte Mr. Pickwick sie sogleich.

„Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick“, sagte Mr. Wardle, die Hand des Gelehrten ergreifend. „Emma, leg Mr. Pickwick einen Schal um; rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. Also, kommen Sie schon! – Sind Sie fertig?“

Da Mr. Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in ein großes Tuch gehüllt, den Hut auf den Kopf gestülpt und den Reisemantel über den Arm genommen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in das Gig.

„Laß dem Gaul die Zügel, Tom!“ rief Mr. Wardle. Und fort ging’s, über die schmalen Feldwege weg, holterdiepolter über die Wagengeleise und an den Hecken vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk könne in Stücke gehen.

„Wieviel haben sie Vorsprung?“ keuchte Mr. Wardle, als das Gig vor dem „Blauen Löwen“ anlangte, um den sich, so spät es war, bereits ein kleines Häuflein Neugieriger versammelt hatte.

„Nicht über dreiviertel Stunden“, lautete die vielstimmige Antwort.

„Schnell einen Vierspänner! Heraus damit! Das Gig könnt ihr ja nachher ausspannen.“

„Los, Jungens!“ schrie der „Blaue Löwe“, „eine Chaise und vier Pferde! Flott, flott! Mehr Leben in die Bude!“

Die Knechte und Stallburschen eilten hinweg; Laternen bewegten sich hin und her, Pferdehufe klapperten auf dem holperigen Hofpflaster, die Chaise rumpelte aus dem Kutschenschuppen heraus, und alles war voll Leben und Bewegung.

„Nun, wird’s noch diese Nacht?“ rief Wardle ungeduldig.

„Kommt eben in den Hof, Sir“, versetzte ein Stallknecht. Und der Wagen kam, die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher sprang herzu, die Reisenden stiegen ein.

„Wohlverstanden, die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein“, rief Mr. Wardle. „Fort!“

Die Jungen brachten die Peitsche, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und fort sauste der Wagen in rasender Eile.

Hübsche Situation, dachte Mr. Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen hatte. Hübsche Situation für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfige Chaise – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in der Stunde – und Mitternacht!

Die ersten drei oder vier Meilen fiel kein Wort zwischen den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eignen Gedanken beschäftigt war. Dann aber, als die warm gewordnen Pferde gleichmäßiger gingen, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung fröhlicher gestimmt und vermochte nicht länger, wortlos dazusitzen.

„Ich glaube, wir werden sie sicher einholen“, begann er.

„Ich hoffe“, versetzte sein Gefährte.

„Eine schöne Nacht“, sagte Mr. Pickwick, nach dem klaren Vollmond aufblickend.

„Um so schlimmer“, entgegnete Wardle, „denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil der Helligkeit gehabt, der uns abgehen wird, da der Mond höchstens noch eine Stunde im Himmel bleibt.“

„In der Dunkelheit wird’s wohl mit der Geschwindigkeit hapern, oder?“

„Jedenfalls“, versetzte Mr. Wardle trocken.

Mr. Pickwicks Begeisterung begann sich ein wenig abzukühlen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren der Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Ein lautes Rufen des Stallburschen auf dem Leitgaul riß ihn aus seinen Betrachtungen.

„Ö – ö – ö – ö!“

„Ö – ö – ö – ö!“ wiederholte der zweite Stallbursche.

„Ö – ö – ö – ö!“ stimmte der alte Wardle laut mit ein und beugte sich mit dem halben Körper zum Kutschenfenster hinaus.

„Ö – ö – ö – ö!“ schrie Mr. Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum.

Und während dieses vierfachen „Ö“ machte der Wagen alt.

„Was gibt’s?“ fragte Mr. Pickwick.

„Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören“, erklärte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien vergingen, trat endlich ein Greis, nur mit Hemd und Unterhosen bekleidet, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

„Wie lange ist’s, seit eine Postkutsche hier durchkam?“ fragte Mr. Wardle.

„Wie lange?“

„Jaja, wie lange.“

„Kann’s nicht genau sagen. Gar lang wird’s nicht sein, aber auch nicht gar kurz. – Na, so zwischendrin, denke ich.“

„Aber eine Chaise ist doch vorbeigekommen?“

„O ja, ’ne Chaise ist vorbeigekommen.“

„Aber wie lange ist’s her, guter Freund?“ mischte sich Mr. Pickwick ein. „Vor einer Stunde vielleicht?“

„So was mag’s gewesen sein.“

„Oder zwei Stunden?“ fragte der Postillion auf dem Handpferd.

„Können auch zwei Stunden sein“, entgegnete der Greis gedankenvoll.

„Fort, Jungens!“ rief Mr. Wardle ärgerlich. „Haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.“

„Dummkopf?“ brummte der Greis mit einem Grinsen, schob den Balken halb vor und trat in die Mitte des Weges, um dem Wagen nachzusehen, der in der Ferne immer kleiner und kleiner wurde. „Lange noch kein solcher, wie der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so gescheit fort, wie er gekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seine Guinee nur halb so gut verdient, wie ich, wirst du die Chaise vor Michaeli nicht einholen, alter Schmerbauch.“

Mit einem weiteren Grinsen schloß der Greis den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen raste der Wagen mit gleichbleibender Geschwindigkeit weiter, bis er am Ende des Stationsbereichs anlangte. Der Mond ging, wie Mr. Wardle richtig vorhergesagt, bald unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umdüstert hatten, sammelten sich schnell zu einer einzigen dunkeln Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden eine stürmische Nacht zu verkünden. Der Wind blies ihnen entgegen, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den Chausseebäumen. Mr. Pickwick wickelte sich tiefer in seinen Mantel, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und sank in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als der Wagen haltmachte und die Stallknechtsklingel nebst dem Melderuf: „Rasch! Pferde vor!“ erscholl.

Wieder gab es eine Verzögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Pferdeknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und als er endlich gefunden war, verwechselten die Postillione die Geschirre, so daß das Geschäft des Vorspannens wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Mr. Pickwick allein gewesen, so würden diese vielen Hindernisse der Fortsetzung der Fahrt für diese Nacht ein Ende gesetzt haben, aber der alte Mr. Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er legte überall so rührig mit Hand an, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten hätte erwarten lassen, zur Abfahrt bereitstand.

Dann ging die Reise – allerdings unter nicht besonders günstigen Auspizien – wieder weiter. Die nächste Station war fünfzehn Meilen entfernt, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. – Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die Haltestelle zu erreichen. Hier ließ jedoch ein Lichtblick alle Hoffnungen wieder aufleben.

„Wann ist diese Chaise angekommen?“ rief der alte Wardle, sprang aus dem Wagen und deutete auf ein Fuhrwerk, das, kotbespritzt, im Hofe stand.

„Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir“, antwortete der Stallknecht, an den die Frage gerichtet war.

„Ein Herr und eine Dame?“ fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

„Ja, Sir.“

„Der Herr groß – dünn – lange Beine?“

„Ja, Sir.“

„Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?“

„Ja, Sir.“

„Beim Himmel, sie sind’s, Pickwick!“ rief der alte Herr.

„Sie wären schon früher angekommen, wenn ihnen nicht ein Zugstrang gerissen wäre“, erklärte der Stallknecht.

„Sie sind’s“, rief Mr. Wardle. „Beim Zeus, sie sind’s! Geschwind. – Ein Vierspänner! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem eine Guinee, Jungens. – Rührt euch! – Flott, flott! – So; brave Burschen.“

Geschäftig rannte der alte Herr im Hof hin und her und befand sich dabei in einer Aufregung, die sich sogar Mr. Pickwick mitteilte. Eigenhändig half der Gelehrte beim Anschirren mit und machte sich auf eine ganz wundersame Weise mit den Rossen und den Rädern zu schaffen, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigen Aufbruch wesentlich zu fördern.

„Hinein! Hinein!“ rief Mr. Wardle, stieg in den Wagen, zog den Tritt nach und schloß den Schlag. „Kommen Sie, beeilen Sie sich.“

Und noch ehe Mr. Pickwick wußte, was geschah, fühlte er sich durch ein Zerren des alten Herrn und durch einen Schub des Stallknechts zu der andern Tür hinein in den Wagen befördert. Und schon ging es wieder weiter.

„Na, das ist wenigstens ’n Tempo“, rief der alte Herr frohlockend.

„Ich bin in meinem Leben noch nie so gerüttelt worden“, entgegnete Mr. Pickwick.

„Macht nichts, wird bald vorüber sein. Nur nicht die Ruhe verlieren.“

Mr. Pickwick verstaute sich, so gut er konnte, in seiner Ecke, und der Wagen rollte, schneller als je, dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Mr. Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinausgesehen, plötzlich seinen mit Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Erregung ausrief:

„Dort sind sie!“

Mr. Pickwick steckte gleichfalls den Kopf durch das Fenster. Ja, es war ein Wagen mit vier Pferden, die in kurzer Entfernung vor ihnen dahingaloppierten.

„Vorwärts! Vorwärts!“ schrie der alte Herr. „Zwei Guineen für jeden, Jungens! Holt sie ein! – Drauf, drauf!“

Die Pferde des vorderen Wagens rasten im Galopp dahin, und die Mr. Wardles jagten wütend hinterdrein.

„Ich sehe seinen Kopf“, rief der cholerische alte Herr. „Ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.“

„Ich gleichfalls. Er ist’s!“ Mr. Pickwick hatte sich nicht geirrt. Mr. Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Wagenfenster zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes gegen die Postillione verrieten, daß er sie antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung stieg aufs höchste. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes vorüberzufliegen. Man konnte deutlich Jingles Stimme die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Wut. Er warf dem Entführer die „Schurken“ und „Spitzbuben“ zu Dutzenden nach und schüttelte grimmig die Faust, aber Mr. Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Peitsche und Sporen plötzlich wieder rascher anzogen und die Verfolger ein Stück hinter sich ließen.

Mr. Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Mr. Wardle, vom Schreien erschöpft, ein Gleiches getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens nach vorn geschleudert wurden. Ein dumpfer Krach – ein lautes Prasseln – ein Rad flog ab, und der Wagen schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Mr. Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf den Beinen stand und sich aus den Falten seines Mantels herauswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Mr. Wardle stand ohne Hut und mit zerrißnen Kleidern neben ihm, und die Trümmer des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillione, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, hielten, beschmutzt und von dem scharfen Ritte erschöpft, ihre Pferde am Zaum. Die andre Chaise hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Yards und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Stallburschen blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Mr. Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, strahlte vor Zufriedenheit. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlichte des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

„Hallo!“ rief der schamlose Jingle. „Jemand beschädigt? – Ältliche Herren – ziemliches Gewicht – faule Sache – wahrhaftig.“

„Sie sind ein Schurke!“ brüllte Wardle.

„Haha!“ lachte Mr. Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Wink und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche hinzu: „Übrigens – sie ist ganz wohl – bittet, Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt den ,Tapps‘ grüßen. – Vielleicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungens!“

Die Postillione ritten wieder los, und die Chaise rasselte weiter, während Mr. Jingle höhnisch sein Schnupftuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Mr. Pickwicks Gemütsruhe zu erschüttern, aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann seinen Namen schmählicherweise in „Tapps“ abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seinen Brillensteg und sagte langsam und nachdrücklich:

„Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich …“

„Jaja“, unterbrach ihn Mr. Wardle, „das ist alles recht schön. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratslizenz und läßt sich in London trauen.“

Mr. Pickwick hielt inne und verkniff sich seine Rachegedanken.

„Wie weit ist’s bis zur nächsten Station?“ fragte Mr. Wardle einen der Postillione.

„Sechs Meilen, was, Tom?“ „Eher mehr.“

„Etwas über sechs Meilen, Sir.“

„Da kann man weiter nichts tun, als zu Fuß gehen, Pickwick“, meinte Mr. Wardle.

„Freilich, ja“, gab dieser wahrhaft große Mann zu, und so sandten sie denn einen Stallburschen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Bespannung zu bestellen, und ließen den andern bei den Trümmern zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor ihre Hälse mit Tüchern bewickelt und ihre Hutkrempen heruntergeschlagen hatten, um sich, so gut es ging, gegen den Regen zu schützen, der sich jetzt, nach kurzem Nachlassen, wieder in Strömen zu ergießen begann.

Zweiundfünfzigstes Kapitel


Zweiundfünfzigstes Kapitel

Mr. Samuel Pell ordnet mit Beihilfe eines auserlesenen Kutscherkomitees die Angelegenheiten Mr. Wellers senior.

„Samuel“, sagte Mr. Weller am Morgen nach dem Begräbnis zu seinem Sohn, „ich habe es gefunden, Sammy. Ich dachte ja gleich, daß es drin sein wird.“

„Was hast du gefunden?“ fragte Sam.

„Das Testament von deiner Stiefmutter, Sammy. Wonach die Anordnungen zu treffen sind, wo ich gestern abend von sprach; diesbezüglich die Fonds.“

„So? Hat sie denn nich gesagt, wo sie es aufbewahrt hat?“ fragte Sam.

„Nicht die Bohne, Sammy“, entgegnete Mr. Weller. „Wir legten gerade unsere kleinen Zwistigkeiten bei, und ich versuchte ihr aufzuheitern, und da vergaß ich alles dabei. Aber wenn ich auch dran gedacht hätte, ich weiß nicht, ob ich’s wirklich gemacht hätte“, fügte Mr. Weller hinzu. „Es is so ’ne Sache, Sammy, nach dem Testament von ein Menschen schnüffeln, wenn du an seinem Krankenbett sitzt. Is genauso, als wenn du ’nem runtergefallenen Außenpassagier wieder auf die Kutsche hilfst und steckst ihm dabei die Hand in die Tasche und fragst ihn, wie er sich fühlt. – Dieses hier is denn also das Testament, Sammy“, sagte Mr. Weller, öffnete seine Brieftasche und zog einen abgegriffenen Bogen Briefpapier heraus, auf dem krause Schriftzüge in wirrem Durcheinander standen.

„Dies hier ist das Dokument, Sammy. Es war in dem kleinen schwarzen Teetopf auf dem Sims in der Speisekammer. Sie pflegte ihre Banknoten drin aufzubewahren, bevor daß ich ihr heiratete, Samuel. Ich habe wohl hundertmal gesehen, wie sie den Deckel abnahm, wenn sie ’ne Rechnung bezahlte.“

„Was steht denn drin?“ fragte Sam.

„Genau das, was ich dir schon erzählt habe, mein Junge. Zweihundert Fund für meinen Stiefsohn Samuel, und den ganzen Rest meines Vermögens, welcher Art und Gattung es auch sein möge, meinem Mann, Mr. Tony Veller, welchen ich zu meinem einzigen Testamentenvollstrecker ernenne.“

„Is das alles?“

„Das is alles!“ antwortete Mr. Weller. „So, na denn nehme ich an, wo nu alles richtig in Ordnung is, für dich und für mich und wir die einzigen Fahrgäste sind, wo es was angeht, können wir den Wisch ins Feuer schmeißen.“

„Bist wohl verrückt, altes Mondkalb?!“ rief Sam und entriß seinem Vater das Papier, als dieser in aller Unschuld bereits das Feuer schürte, um seinem Worte die Tat folgen zu lassen. „Du wärst mir ’n sauberer Testamentsvollstrecker, du.“

„Wieso?“ fragte Mr. Weller und blickte mit dem Schüreisen in der Hand erstaunt auf.

„Wieso?“ rief Sam. „Weißte denn nich, daß es vorher geprieft, beglaubigt und beschworen werden muß?“

„Wahrhaftich?“ fragte Mr. Weller und legte das Schüreisen nieder.

Sam steckte das Testament sorgfältig in die Brusttasche und gab nur durch einen unwilligen Blick zu verstehen, daß er es wirklich so meine, und zwar in allem Ernst.

„Dann will ich dir sagen, was es is“, hob Mr. Weller nach kurzem Nachdenken an. „Es is dies ’n Fall für den vertrauten Freund vom Lordkanzler. Pell muß die Sache ausknobeln, Sammy. Er is der Mann für ’ne schwierige Rechtsfrage. Wir werden die Sache umgehend vor den Insolvenzgerichtshof bringen, Samuel.“

„Also, ich habe noch nie so ’n ollen Rappelkopf gesehen!“ rief Sam gereizt. „Gerichtshöfe, Insolvenzgerichte, Alibis und aller mögliche Blödsinn geht ihm dauernd durch den Schädel. Es wäre besser, du würdest deinen Sonntagskittel anziehen und denn in die Stadt mitkommen, anstatt daß du hier über Sachen brabbelst, wo du nichts von verstehst.“

„Na ja, na ja, Sammy“, erwiderte Mr. Weller. „Bin doch ganz einverstanden, Sammy. Aber merk dir’s wohl, mein Junge, niemand anders als Pell, niemand als Pell darf unser Advokat sein.“

„Verlange auch sonst niemand“, brummte Sam, der sich inzwischen vor einem kleinen Spiegel sein Halstuch umgebunden hatte, „kommst nu endlich?“

„Warte noch ’ne Minute, Sammy! Wenn du mal so alt bist wie dein Vater, wirst du auch nich mehr so leicht in den Rock reinschlüpfen“, stöhnte Mr. Weller und kämpfte sich mit großer Anstrengung in seinen Überzieher.

„Soll mich der Teufel holen, wenn ich überhaupt einen trage“, knurrte Sam.

„So denkst du jetzt“, sagte Mr. Weller mit der Gravität des Alters, „du wirst aber schon finden, daß man um so weiser wird, je dicker man wird. Weite und Weisheit, Sammy, wachsen auf einem Holz.“

Als Mr. Weller diesen unfehlbaren Grundsatz – das Ergebnis vieljähriger persönlicher Erfahrung und Beobachtung – preisgab, gelang es ihm durch eine gewandte Drehung des Körpers, den untersten Rockknopf seiner Bestimmung gemäß anzuwenden. Nachdem er wenige Sekunden pausiert hatte, um wieder Atem zu schöpfen, bürstete er seinen Hut mit dem Ellbogen und erklärte sich bereit.

„Vier Köpfe sin besser als zwei, Sammy“, sagte er ernst, als sie miteinander mit der Post nach London fuhren, „und wo doch … alle diese Habseligkeiten ’ne große Versuchung für ’n Adfokaten sin, wollen wir ’n paar von meinen Freunden mit dazunehmen, wo sehr schnell über ihm herfallen würden, wenn er sich ’ne Unregelmäßigkeit würde zuschulden kommen lassen. Es sind zwei von denen, wo dich damals in der Fleet besucht haben. Es sind die besten Ferdekenner, wo du je gesehen hast“, fügte Mr. Weller geheimnisvoll hinzu.

„Sind es aber auch Advokatenkenner?“ fragte Sam.

„Wer ein richtiges Urteil über ein Tier abgeben kann, der kann auch ein richtiges Urteil über alles andere abgeben“, erwiderte Mr. Weller so dogmatisch, daß Sam nicht zu widersprechen wagte.

Die beiden Droschkenkutscher, die der alte Herr zu seinen Beiständen ausersehen, waren bald aufgefunden. Er hatte sie vermutlich mit Rücksicht auf ihre Wohlbeleibtheit und die dadurch bedingte Weisheit ausgewählt und begab sich sofort mit ihnen nach dem Gasthaus in der Portugalstreet.

Der in den Insolvenzgerichtshof hinübergeschickte Bote fand Mr. Samuel Pell glücklicherweise mit einer nicht allzu schweren Arbeit, nämlich mit einer kleinen Zwischenmahlzeit, bestehend aus Abernethyzwieback und einem Hühnchen, beschäftigt. Der berühmte Anwalt vernahm kaum, was man von ihm wünschte, als er unverzüglich seinen Mundvorrat nebst verschiedenen amtlichen Dokumenten in die Tasche steckte und in das Wirtshaus eilte.

„Meine Herren“, begann er und lüftete seinen Hut, „seien Sie mir alle gegrüßt. Ich sage es nicht, um Ihnen zu schmeicheln, meine Herren; aber es gibt kaum noch fünf andre Männer auf der Welt, denen zuliebe ich heinte den Gerichtshof verlassen hätte.“

„So beschäftigt, was?“ fragte Sam.

„Oh, beispiellos“, erwiderte Pell, „ich bin ganz abgehetzt, wie mein Freund, der verstorbene Lordkanzler, immer zu mir sagte, wenn er aus dem Oberhaus kam, wo sie ihn mit Fragen bestürmt hatten. Jaja, der Ärmste! Solche Anstrengungen griffen ihn sehr an, und die Fragen pflegten ihm außerordentlich zu Herzen zu gehen. Ich glaubte wirklich mehr als einmal, er müsse unter der Last seiner Arbeiten notwendigerweise zusammenbrechen. Heda, liebes Kind, bringen Sie mir doch für drei Pence Rum.“ – Mr. Pell seufzte, seh wieg, betrachtete seine Schuhe, sah dann zur Decke empor und goß den Rum, der ihm sofort gebracht worden war, hinunter.

„Indes“, nahm er seine Rede wieder auf und rückte seinen Stuhl an den Tisch, „ein Geschäftsmann hat kein Recht, an seine Privatfreundschaften zu denken, wenn sein juristischer Beistand verlangt wird. Beiläufig gesagt, meine Herren, seit ich Sie das letztemal hier sah, haben wir ein sehr trauriges Ereignis zu beweinen gehabt. Ich habe es im Anzeiger gelesen, Mr. Weller“, setzte er hinzu. „Gott, Gott, nix mehr als zweiundfünfzig Jahre! Unglaublich. Hm. – Ich habe gehört, daß sie eine sehr schöne Frau gewesen ist, Mr. Weller?“

„Ja, Sir, das war sie“, brummte Mr. Weller. „Aber lassen wir das jetzt. Gehen wir mal ans Geschäft.“

Dieses Wort war Musik für Mr. Pell, denn er hatte so seine Zweifel gehabt, ob er nicht am Ende nur zu einem freundschaftlichen Glas Grog oder einer Bowle Punsch oder sonst einem ähnlichen Achtungsbeweise eingeladen worden sei. Mit funkelnden Augen nahm er das Testament entgegen, das ihm Sam reichte, und sagte:

„Diese andern Herren sind ohne Zweifel Legatare?“

„Nö, Sammy ist der einzige Legatar“, erwiderte Mr. Weller, „diese andern Herrn sin Freunde von mir. Habe sie als ’ne Art Schiedsrichter mitgebracht.“

„Hm“, sagte Pell, „sehr gut. Ich habe durchaus nichts dagegen. Nur muß ich um fünf Pfund Vorschuß bitten, bevor ich anfange.“

Das Komitee entschied, die fünf Pfund sollten vorgeschossen werden, Mr. Weller bezahlte die Summe, und dann fand eine lange Beratung statt, wobei Mr. Pell zur großen Befriedigung der Herren Schiedsrichter den Beweis führte, daß, wenn die Leitung des Geschäftes nicht ihm anvertraut worden wäre, es notwendig hätte schiefgehen müssen, aus Gründen, die zwar nicht ganz klar, aber genügend einleuchtend waren. Nachdem dieser wichtige Punkt ins reine gebracht war, erfrischte sich Mr. Pell auf Kosten der Beteiligten mit einigen guten Bissen und sowohl malzigen wie geistigen Getränken, und alle begaben sich nach Doktors Commons.

Nach den nötigen Verhandlungen war die Angelegenheit endlich so weit gediehen, daß der Tag anberaumt werden konnte, an dem durch Vermittlung des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, der dazu von Mr. Pell in Vorschlag gebracht worden, Sams Erbteil in Fonds angelegt und der Rest zu Geld gemacht werden konnte.

Es war dies eine festliche Veranlassung, und die beteiligten Personen schmückten sich dazu in angemessener Weise. Mr. Weller ließ sich das Haar brennen, und alle prangten in Festornat, das heißt, sie zogen so viele Kleider an, wie nur möglich, und steckten Lorbeerzweige und Georginen in die Knopflöcher.

Mr. Pell erschien zur bestimmten Zeit am gewöhnlichen Versammlungsort und trug ein Paar Handschuhe und ein frisches Hemd (letzteres durch vieles Waschen am Kragen und den Manschetten ein wenig durchgerieben).

„Viertel vor zwei“, sagte er und blickte auf die Stubenuhr. „Wenn wir Viertel nach zwei zu Mr. Flasher kommen, ist es gerade die beste Zeit.“

Zur Feier des Tages wurde noch schnell ein kleiner Lunch, bestehend aus Bier, Brandy, Austern und Beefsteak, eingenommen und dann brach das Komitee gemächlich auf.

Das Bureau des Börsensensals Wilkins Flasher, Esquire, lag zu einem Hof hinaus hinter der Bank von England; das Haus Wilkins Flashers, Esquire, war in Brixton, Surrey; das Pferd und der Stanhope Wilkins Flashers, Esquire, standen in einem Mietsstall in der Nähe; der Groom Wilkins Flashers, Esquire, war auf dem Weg nach dem Westen von London, um Wildpret abzuliefern; der Schreiber Wilkins Flashers, Esquire, war zum Mittagessen gegangen, und so rief Wilkins Flasher, Esquire, in höchsteigener Person „herein“, als Mr. Pell mit seinen Begleitern an der Tür des Kontors anklopfte.

„Guten Morgen, Sir“, sagte der Advokat mit höflicher Verbeugung. „Wir möchten gerne etwas ä kleine Transaktion vornehmen, wenn es Ihnen konveniert.“

„Schön, schön!“ sagte Mr. Flasher. „Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich stehe sogleich zu Diensten.“

„Danke Ihnen, Sir“, sagte Pell, „es hat keine Eile. Nehmen Sie einen Stuhl, Mr. Weller.“

Mr. Weller nahm einen Stuhl, Sam eine Kiste, und die Schiedsrichter nahmen, was sie bekommen konnten, und besahen sich den Kalender und ein paar an die Wand geklebte Papiere mit so offenkundiger Ehrfurcht, als ob es alte Meister gewesen wären.

„Also gut, ich wette ein halbes Dutzend Flaschen Bordeaux; schlagen Sie ein“, nahm Wilkins Flasher, Esquire, seine unterbrochene Unterhaltung mit einem stutzerhaft gekleideten jungen Gentleman wieder auf, der, seinen Hut schief auf, sich an einem Pulte rekelte und mit einem Lineal Fliegen totschlug. Wilkins Flasher, Esquire, balancierte dabei auf einem Schreibstuhl und zielte mit seinem Federmesser auf eine Oblatenschachtel, die er dann und wann mit großer Gewandtheit gerade in der Mitte traf. Beide Gentlemen trugen sehr weit ausgeschnittene Westen und sehr weit zurückgeschlagene Kragen, sehr kleine Stiefel und sehr dicke Ringe, sehr kleine Uhren und sehr große Uhrketten, knapp anliegende Hosen und parfümierte Taschentücher.

„Ich wette nie ein halbes Dutzend“, sagte der junge Herr. „Ein ganzes Dutzend muß es sein.“

„Gemacht, Simmery, es gilt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire.

„Aber sogleich zu bezahlen!“

„Versteht sich“, erwiderte Wilkins Flasher, Esquire, und trug die Wette in ein kleines Buch mit einem goldenen Crayon ein. Der andre Gentleman notierte sie ebenfalls in einem andern kleinen Buch, ebenfalls mit einem goldenen Crayon.

„Ich lese da gerade, daß Boffer“, bemerkte Mr. Simmery, „pleite ist.“

„Ich wette zehn Guineen gegen fünf, daß er sich die Kehle durchschneidet“, griff Wilkins Flasher, Esquire, sofort das Thema auf.

„Gemacht!“ schlug Mr. Simmery ein.

„Halt!“ sagte Wilkins Flasher, Esquire, gedankenvoll. „Vielleicht hängt er sich auch auf.“

„Auch gut“, meinte Mr. Simmery und zog den goldenen Crayon wieder heraus. „Ich nehme die Wette auch so an. Sagen wir also: er macht seinem Leben ein Ende.“

„Er tötet sich selbst“, ergänzte Wilkins Flasher, Esquire.

„Tötet sich selbst“, schrieb Mr. Simmery auf. „Flasher: zehn Guineen gegen fünf, Boffer tötet sich selbst. Binnen welcher Zeit wollen wir sagen?“

„Binnen vierzehn Tagen etwa.“

„Gott bewahre, nein“, erwiderte Mr. Simmery und hielt einen Augenblick inne, um eine Fliege mit dem Lineal zu erschlagen. „Sagen wir eine Woche.“

„Halbieren wir! – Zehn Tage?“ schlug Wilkins Flasher, Esquire, vor.

„Gut, also zehn Tage.“

„Es tut mir leid“, sagte Wilkins Flasher, Esquire, nach einer Pause, „daß er pleite ist. Er hat famose Soupers gegeben.“

„Und einen glänzenden Portwein gehabt. Wir werden morgen unsern Kellermeister in die Auktion schicken, um einiges von dem Vierundsechziger zu erstehen.“

„Zum Teufel!“ fuhr Wilkins Flasher, Esquire, auf. „Der meinige geht auch hin. – Fünf Guineen, daß mein Mann den Ihrigen überbietet.“ „Gemacht!“

Die Wette wurde wieder mit den goldenen Crayons in die kleinen Bücher eingetragen, und nachdem Mr. Simmery noch sämtliche Fliegen getötet und sich sämtliche Wetten durchgelesen hatte, begab er sich auf die Börse, um zu sehen, was sich dort „tue“.

Jetzt endlich ließ sich Wilkins Flasher, Esquire, herab, Mr. Samuel Pells Instruktionen entgegenzunehmen, und nachdem er einige gedruckte Formulare ausgefüllt, ersuchte er die Gesellschaft, ihn auf die Bank zu begleiten. Mr. Weller und seine drei Freunde hatten inzwischen alles, was zu sehen war, mit unbeschreiblichem Erstaunen angestarrt, nur Sam besichtigte jedes Ding mit einer Gleichgültigkeit und Kälte, der nichts zu imponieren vermochte.

Sie kamen über einen Hofraum und an ein paar Portiers mit Livreen so rot wie die Feuerspritze, die in einer Ecke stand, vorbei und traten dann in ein Bureau, wo das Geschäft abgemacht werden sollte und mehrere Herren hinter Pulten saßen.

„Das sin woll die reduzierten Konsols?“ flüsterte Mr. Weller. „Was, Samuel?“

„Glaubst wohl, die reduzierten Konsols sin lebendig?“ fragte Sam mit Verachtung.

„Woher soll ich’s denn wissen“, entschuldigte sich Mr. Weller. „Wat sin se denn?“

„Schreiber.“

„Warum essen se denn alle Schinken?“

„Vermutlich, weil’s mit zum Amte gehört“, erwiderte Sam, „gehört mit zum ganzen System, und se tun’s den ganzen Tag.“

Mr. Weller und seine Freunde hatten kaum Zeit, über diese sonderbare, mit dem Münzsystem des Landes zusammenhängende Einrichtung nachzudenken, als Pell wieder zu ihnen trat. Mr. Flasher begab sich in die Bank und kehrte bald darauf mit einem Scheck über fünfhundertunddreißig Pfund Sterling, dem Erlös von Mr. Wellers Anteil, zurück.

Der alte Herr war im Anfang hartnäckig entschlossen, das Papier bloß gegen Guineen auswechseln zu lassen, als ihm aber die Schiedsrichter vorstellten, daß er dann einen kleinen Sack kaufen müßte, um sie nach Hause zu bringen, willigte er endlich ein, den Betrag in Fünfpfundnoten anzunehmen.

„Mein Sohn“, sagte er, als sie von der Bank weggingen, „mein Sohn und ich haben heute nachmittag ’n ganz besonderes Geschäft, und es wäre mir lieb, wenn wir alles vorher ins reine brächten und mal die Rechnungen prüften.“

Das war bald geschehen. Mr. Pells Konto wurde von Sam geprüft und einige Posten von den Schiedsrichtern gestrichen; aber trotz Mr. Pells Schwüren und vielfach-feierlichem Protest, daß man zu hart mit ihm verfahre, war dies doch in jeder Beziehung das beste Geschäft, das er je gemacht hatte, denn er bestritt mit dem Betrag sechs Monate lang Kost, Quartier und Wäsche.

Nachdem die Schiedsrichter noch an einem Abschiedstrunk teilgenommen, schüttelten sie einander die Hände und reisten ab, da sie sämtlich noch vor Abend die Stadt verlassen mußten. Mr. Salomon Pell nahm ebenfalls, sobald er sah, daß es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, aufs freundschaftlichste Abschied, und Sam und sein Vater waren endlich allein.

„Nun hätten wir also“, sagte Mr. Weller und verstaute seine Brieftasche, „außer den Rechnungen für den Mietkontrakt und solche Geschichten elfhundertundachtzig Pfund beisammen. Nu, Samuel, kehre mal um und fahre nach dem ‚Georg und Geier‘, mein Junge.“