56. Kapitel Die neue Wunde und die alte


56. Kapitel Die neue Wunde und die alte

O Steerforth, du hättest bei unserm letzten Zusammensein nicht zu sagen brauchen: Denke an mich immer in der besten Weise. Ich hatte es immer getan, und konnte es jetzt bei diesem Anblick anders werden?!

Sie holten eine Bahre und legten ihn darauf, deckten ihn mit einer Flagge zu und trugen ihn zu den Häusern hin. Die Männer, die ihn trugen, hatten ihn alle als heitern und verwegenen Jüngling gekannt und waren oft mit ihm auf dem Meere gewesen. Sie trugen ihn durch das wilde Getöse, den einzig totenstillen Fleck inmitten des Tumultes, und brachten ihn zu der Hütte, wo der Tote lag.

Aber als sie die Bahre auf der Schwelle niedersetzten, sahen sie einander an und dann mich und flüsterten untereinander. Ich wußte warum. Es war ihnen, als sei es nicht recht, ihn in demselben stillen Zimmer ruhen zu lassen.

Wir gingen in die Stadt und trugen die Leiche nach dem Gasthaus.

Sobald ich meine Gedanken nur einigermaßen sammeln konnte, schickte ich nach Joram und bat ihn, einen Wagen zu bestellen, in dem ich die Leiche noch in der Nacht nach London schaffen könnte. Ich fühlte, daß die schwere Pflicht, seine Mutter auf die Schreckensbotschaft vorzubereiten, mir oblag, und ich wollte sie so getreulich wie möglich erfüllen.

Ich wählte die Nacht zu meiner Reise, um weniger Aufsehen in der Stadt zu erregen. Obgleich es fast Mitternacht war, als ich mit dem Wagen den Hof des Gasthauses verließ, warteten noch viele Leute davor. An einzelnen Stellen, selbst eine Strecke weit auf die Landstraße hinaus, warteten noch andere, aber endlich war ich allein mit der öden Nacht, das offene Land um mich her, und der Asche meiner Jugendfreundschaft.

 

Es war ein warmer Herbsttag gegen Mittag, und welke Blätter bedeckten den Erdboden, – rot, gelb und braun gefärbt standen die Bäume, von der Sonne durchglänzt, da kam ich in Highgate an. Ich ging die letzte Viertelstunde zu Fuß, in Gedanken mit dem beschäftigt, was ich vorhatte, und ließ den Wagen mit der Leiche bis auf weitere Befehle haltmachen.

Als ich das Haus erreichte, sah es aus wie immer. Kein Vorhang war aufgezogen, und nichts regte sich auf dem stillen gepflasterten Hof, von dem aus der gedeckte Gang zur Türe führte. Der Wind hatte sich ganz gelegt und alles war still.

Ich hatte kaum den Mut zu läuten, und als ich es endlich wagte, da war mir, als ob der Ton der Glocke schon meine Botschaft verriete. Das kleine Dienstmädchen kam mit dem Schlüssel in der Hand heraus, sah mich aufmerksam an, während sie aufschloß, und sagte:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, sind Sie unwohl?«

»Ich bin in großer Aufregung gewesen und sehr ermüdet.«

»Ist etwas vorgefallen, Sir? – Mr. James –?«

»Still!« sagte ich. »Ja, es ist etwas vorgefallen, auf das ich Mrs. Steerforth vorzubereiten habe. Ist sie zu Hause?«

Das Mädchen gab erschrocken zur Antwort, daß ihre Herrin sehr selten das Haus verlasse, selbst nicht im Wagen, daß sie keine Gesellschaft empfange, mich aber gewiß vorlassen würde. Sie wäre bereits aufgestanden, und Miss Dartle sei bei ihr. Was sie oben ausrichten sollte?

Ich schärfte ihr aufs strengste ein, sich nichts anmerken zu lassen, nur meine Karte abzugeben und zu sagen, ich wartete unten; dann setzte ich mich im Empfangszimmer nieder.

Der frühere angenehme Anstrich von Bewohntsein war aus dem Zimmer verschwunden, und die Laden standen halb zu. Die Harfe war wohl lange, lange nicht berührt worden. Sein Bild als Knabe hing noch da. Der Schrank, in dem seine Mutter seine Briefe aufbewahrte, stand noch in der Ecke. Ich fragte mich, ob sie sie jetzt wohl noch läse, – ob sie sie jemals wieder lesen würde.

So still war es im Haus, daß ich des Mädchens leichten Schritt auf der Treppe hörte. Mrs. Steerforth ließ mir sagen, sie wäre nicht wohl und könnte nicht herunterkommen. Wenn ich mich jedoch in ihr Zimmer bemühen wollte, würde sie sich freuen mich zu sehen. In wenigen Augenblicken stand ich vor ihr.

Sie war in seinem Zimmer und nicht in ihrem. Ich ahnte natürlich, daß sie es wegen der Erinnerung an ihn bezogen hatte, und daß die vielen Zeichen seiner alten Beschäftigungen und Sports, die sie umgaben, aus dem gleichen Grunde unberührt geblieben waren. Aber selbst, als sie mich empfing, murmelte sie die Ausflucht, daß ihr eignes Zimmer für ihren jetzigen Zustand nicht geeignet sei, und wies mit ihrem stolzen Blick auch die leiseste Ahnung der Wahrheit zurück.

Neben ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich Rosa Dartle. In der ersten Sekunde, wo ihre dunkeln Augen auf mir ruhten, erkannte ich, daß sie erriet, ich sei der Überbringer schlimmer Nachrichten. Die Narbe wurde sogleich sichtbar.

Sie trat einen Schritt hinter den Stuhl, um Mrs. Steerforth ihr Gesicht nicht sehen zu lassen, und musterte mich mit einem durchbohrenden Blick, ohne mit den Wimpern zu zucken.

»Ich bedauere sehr, Sie in Trauer zu sehen, Sir«, sagte Mrs. Steerforth.

»Ich bin leider Witwer geworden.«

»Sie sind sehr jung für einen so großen Verlust. Es tut mir von Herzen leid, es zu hören. Wirklich von Herzen leid. Ich hoffe, die Zeit wird Ihre Wunde heilen.«

»Ich hoffe, die Zeit«, sagte ich und sah sie an, »wird unser aller Wunden heilen. Liebe Mrs. Steerforth, wir müssen in unserm schwersten Mißgeschick alle darauf vertrauen!«

Der Ernst meines Wesens und die Tränen in meinen Augen versetzten sie in Unruhe. Der Lauf ihrer Gedanken schien innezuhalten und eine andere Richtung zu nehmen.

Ich versuchte, meine Stimme zu beherrschen, als ich leise seinen Namen aussprach, aber sie zitterte. Sie wiederholte ihn zwei– oder dreimal leise, dann wendete sie sich mit erzwungener Fassung an mich und fragte:

»Mein Sohn ist krank?«

»Sehr krank!«

»Sie haben ihn gesehen?«

»Ja.«

»Haben Sie sich mit ihm ausgesöhnt?«

Ich konnte nicht Ja, ich konnte nicht Nein sagen. Sie wendete den Kopf zur Seite, wo Rosa Dartle noch eben gestanden, und in diesem Augenblick sagte ich mit einer Bewegung meiner Lippen zu Rosa:

»Tot.«

Damit Mrs. Steerforth sich nicht umsähe und alles erriete, suchte ich rasch wieder ihren Blick.

Aber ich hatte gesehen, wie Rosa Dartle die Hände voll Verzweiflung und Entsetzen empor zum Himmel streckte und sich dann das Gesicht damit bedeckte.

Die schöne, alte Dame – o, wie glichen ihre Züge ihm! – sah mich mit einem starren Blick an und legte die Hand an ihre Stirn. Ich bat sie, sich zu fassen und Kraft zu sammeln, um das, was ich ihr zu sagen hätte, anhören zu können; aber ich hätte sie lieber bitten sollen zu weinen, denn sie saß da wie ein Bild von Stein.

»Als ich das letzte Mal hier war«, begann ich mit bebender Stimme, »erzählte mir Miss Dartle, er segle auf dem Meer herum. Vorgestern nachts war ein schreckliches Unwetter. Wenn er in dieser Nacht auf dem Meer war und in der Nähe einer gefährlichen Küste, wie es der Fall gewesen sein soll, und wenn das Schiff, das man gesehen hat, wirklich das Schiff sein sollte, das –«

»Rosa!« sagte Mrs. Steerforth, »komm zu mir!«

Sie kam, aber ohne Teilnahme und Zärtlichkeit. Sie trat vor die Mutter, und ihre Augen flackerten wie Feuer, und sie brach in ein gräßliches Lachen aus.

»Jetzt ist dein Stolz befriedigt, du Wahnsinnige«, schrie sie. »Jetzt hat er es dir gebüßt – mit seinem Leben, hörst du? Mit seinem Leben!«

Mrs. Steerforth fiel regungslos in ihren Stuhl zurück; nur ein leises Stöhnen kam aus ihrem Munde, und sie starrte Miss Dartle mit aufgerißnen Augen an.

»Ja!« rief Rosa und schlug sich leidenschaftlich auf die Brust. »Sieh mich an! Ächze und stöhne und sieh mich an! Sieh her!« Sie berührte die Narbe. »Sieh deines toten Kindes Kunststück!«

Das Stöhnen der Mutter zerriß mir das Herz. Es blieb sich immer gleich. Unartikuliert und dumpf. Es war immer von einer zuckenden Bewegung des Kopfes begleitet, und keine Veränderung zeigte sich in ihrem Gesicht. Es tönte aus einem starren Munde durch die zusammengepreßten Zähne hindurch, als ob die Kinnladen den Krampf hätten und das Gesicht in Schmerz erstarrt wäre.

»Weißt du noch, wann er das tat? Weißt du noch, wie er, auch in seinem Charakter dein Sohn, verzogen von dir in seinem Stolz und seinen Leidenschaften, das tat und mich fürs ganze Leben entstellte? Sieh mich an, gezeichnet bis zu meinem Tode durch seine hohe Ungnade, und ächze und stöhne nur, daß du ihn dazu gemacht hast.«

»Miss Dartle«, bat ich. »Um Gottes willen –«

»Ich will sprechen«, sagte sie und sah mich mit ihren flackernden Augen an. »Schweigen Sie!«

»Sieh mich an, sage ich, du stolze Mutter eines stolzen falschherzigen Sohnes! Stöhne, daß du ihn verdorben hast. Stöhne um deinen Verlust und um den meinen.«

Sie ballte die Faust, und ihre hagere abgezehrte Gestalt zitterte, als ob die Leidenschaft sie zollweise töten wollte.

»Du warst gekränkt über seinen Eigenwillen, du warst durch seinen Stolz verletzt! Du warfst ihm die beiden Eigenschaften vor, die du ihm mitgabst, als er geboren wurde. Du selbst hast bereits in der Wiege verkrüppelt, was er hätte werden können. Bist du jetzt belohnt für die vielen Jahre der Sorge?«

»Miss Dartle, schämen Sie sich! Welche Grausamkeit!«

»Und ich sage Ihnen, ich will zu ihr sprechen! Keine Macht auf Erden soll mich davon abhalten, solange ich hier stehe. Habe ich die ganzen Jahre hindurch geschwiegen und soll jetzt nicht sprechen?« Sie wendete sich leidenschaftlich wieder gegen die Mutter.

»Ich habe ihn heißer geliebt, als du je fähig gewesen bist. Ich hätte ihn lieben können ohne Gegenliebe zu verlangen. Wäre ich seine Frau gewesen, ich hätte für ein Wort der Liebe das ganze Jahr die Sklavin seiner Launen sein können. Ja, ich hätte es können! Wer weiß das besser als ich! Du warst tyrannisch, stolz, pedantisch und selbstsüchtig. Meine Liebe wäre aufopfernd gewesen, – sie hätte den weinerlichen Jammer deiner Liebe mit Füßen getreten.«

Ihre Augen flammten, und sie stampfte auf den Fußboden.

»Sieh her«, schrie sie und schlug sich wild auf die Narbe. »Als er einsehen gelernt, was er getan hatte, da bereute er es. Ich durfte ihm vorsingen und ihn unterhalten; und Teilnahme für alles, was er tat, an den Tag legen und alles das lernen, was ihn am meisten interessierte; ich zog ihn an. Als er am frischesten und wahrhaftigsten war, da liebte er mich. Ja, er liebte mich! Oft, wenn er dich mit einem leichten Wort abfertigte, hat er dann mich an sein Herz geschlossen.«

Sie sagte es mit höhnischem Stolz inmitten ihres Wahnsinns, aber mit einer leidenschaftlichen Erinnerung, in der sich die glimmenden Funken eines zärtlichen Gefühls für den Augenblick entzündeten.

»Ich sank zuletzt – wie ich wohl hätte wissen können, wäre ich nicht von seiner fast noch knabenhaften Liebe berückt gewesen – zu einer Puppe herab, zu einem Spielzeug in müßigen Stunden, das er fallenließ und wieder hernahm, wie die Laune es ihm eingab. Und wie er meiner müde wurde, so wurde auch ich seiner müde. Als die Laune seiner Liebe gestorben war, hätte ich sowenig versucht, die Macht, die ich über ihn besessen, wiederzugewinnen, als ich ihn geheiratet hätte, und wenn man mich dazu gezwungen haben würde. Wir trennten uns, ohne ein Wort zu verlieren. Vielleicht hast du es gesehen, und es tat dir nicht leid. Seit jener Zeit war ich euch beiden ein beschädigtes Stück Hausgerät geworden ohne Augen, Ohren, Empfindungen und Erinnerungen.

Du stöhnst? Stöhne nur, weil du ihn dazu gemacht hast. Und nicht aus Schmerz um seinen Tod! Ich sage dir, es gab eine Zeit, wo ich ihn heißer liebte, als du jemals imstande gewesen wärest.«

Ihre zornfunkelnden Augen begegneten dem verstörten Blick und dem starren Gesicht der Mutter und wurden bei ihrem Stöhnen nicht sanfter, als ob ihr Antlitz ein Bild gewesen wäre.

»Miss Dartle«, sagte ich, »wie können Sie nur so unbarmherzig sein, daß Sie nicht für diese trauernde Mutter fühlen!«

»Wer fühlt für mich?« entgegnete sie heftig. »Sie hat die Saat gepflanzt. Soll sie klagen und jammern über die Ernte!«

»Und wenn seine Fehler –« fing ich an.

»Fehler!« rief sie aus und brach in leidenschaftliche Tränen aus. »Wer wagt ihn zu verleumden. Er hatte eine Seele, die Millionen der Freunde wert war, zu denen er sich herabließ.«

»Niemand kann ihn mehr geliebt haben als ich. Niemand ist er eine teurere Erinnerung als mir«, entgegnete ich. Ich wollte sagen, wenn Sie kein Mitleid mit seiner Mutter haben, oder wenn seine Fehler – Sie selbst haben sich bitter darüber ausgesprochen –«

»Das ist nicht wahr«, schrie sie und raufte sich das schwarze Haar. »Ich habe ihn geliebt.«

»– sich in einer solchen Stunde nicht aus Ihrem Gedächtnis verwischen lassen, so sehen Sie doch diese gebrochene Gestalt hier an und leisten Sie ihr Hilfe.«

Die ganze Zeit über war Mrs. Steerforth starr geblieben, und kein Zug in ihrem Gesicht hatte sich verändert. Regungslos, mit weit offenem verstörtem Blick wie vorhin, dann und wann mit einer hilflosen Bewegung des Kopfes, einen unartikulierten Ton ausstoßend, ohne sonst ein Lebenszeichen von sich zu geben!

Miss Dartle kniete plötzlich vor ihr nieder und fing an, ihr das Kleid zu öffnen.

»Seien Sie verflucht«, sagte sie und sah sich, mit einem Ausdruck von Wut und Schmerz zugleich, nach mir um. »Sie sind in einer bösen Stunde hierher gekommen. Seien Sie verflucht! Gehen Sie!«

Ich wollte das Zimmer verlassen, dann eilte ich zurück, um zu klingeln und die Dienerschaft so rasch wie möglich herbeizurufen. Sie hatte die regungslose Gestalt in ihre Arme geschlossen, weinte vor ihr auf den Knien, küßte sie, rief sie beim Namen und wiegte sie an ihrer Brust wie ein Kind und versuchte jedes zärtliche Mittel, die schlummernden Sinne der Bewußtlosen wieder zu erwecken.

Ich sah, daß ich keine Furcht mehr haben mußte, und kehrte leisen Schrittes wieder um.

Zu einer späteren Stunde kehrte ich zurück, und wir legten den Leichnam in das Zimmer der Mutter. Ihr Zustand war noch immer derselbe, sagte man mir. Miss Dartle verließ sie keinen Augenblick. Ärzte waren herbeigerufen und viele Mittel versucht worden, aber sie lag da wie eine Statue und ließ nur dann und wann einen leisen Klagelaut hören.

Ich schritt durch das Haus der Trauer und zog die Vorhänge vor den Fenstern zu. Die, wo er lag, verhüllte ich zuletzt.

Ich hob die starre Hand empor und drückte sie an mein Herz, und die ganze Welt schien tot und voll von Schweigen zu sein, das nur von dem Stöhnen der Mutter unterbrochen wurde.

48. Kapitel Häusliches


48. Kapitel Häusliches

Ich arbeitete angestrengt an meinem Buche, ohne mich dadurch in der pünktlichen Verrichtung meiner Zeitungspflichten stören zu lassen; und es erschien und brachte mir viel Erfolg. Das Lob, das in meine Ohren tönte, betäubte mich nicht, obgleich ich es wohltuend empfand und gewiß besser von meinem Werke dachte als vielleicht irgendein anderer Mensch. Meine Beobachtungsgabe hat mir gezeigt, daß jemand, der mit gutem Grund an sich glaubt, sich niemals vor andern rühmt, um sie an sich glauben zu machen. Je mehr Lob ich erntete, desto mehr suchte ich es mir zu verdienen. Ich beabsichtige hier nicht, wenn ich auch in allen wesentlichen Punkten meine Lebensgeschichte niederschreibe, auf meine Werke zu sprechen zu kommen. Sie sprechen für sich selbst, und ich überlasse sie sich selbst. Wenn ich ihrer beiläufig erwähne, so tue ich es nur, weil sie Stufen in meinem Leben bedeuten.

Ich hatte in den Zeitungen und auch anderweitig so fleißig geschrieben, daß ich mich für berechtigt hielt, das langweilige Berichterstatten aufzugeben, als mein neues Werk fertig war. Daher schrieb ich an einem fröhlichen Abend die Musik des parlamentarischen Dudelsacks zum letzten Male auf und habe sie seitdem nie wieder gehört, obgleich ich immer noch in den Zeitungen die alte ewige gleiche Melodie die ganze lange Session hindurch wiedererkenne.

Ich erzähle jetzt von der Zeit, wo ich etwa anderthalb Jahre verheiratet war. Nach mehreren Versuchen verschiedener Art hatten wir das Haushalten als ein schlechtes Geschäft aufgegeben. Wir hatten so etwas wie einen Pagen angeschafft. Das Hauptamt dieses dienstbaren Geistes war, sich mit der Köchin herumzuzanken, in welcher Hinsicht er ein vollkommener Whittington war, nur ohne Katze und ohne die entfernteste Aussicht, Lordmayor zu werden.

Er lebte unter einem beständigen Hagel von Topfdeckeln. Sein ganzes Dasein war ein Kampf. Er schrie bei den allerunpassendsten Gelegenheiten um Hilfe – zum Beispiel, wenn wir eine kleine Tischgesellschaft oder ein paar Freunde zum Abendessen hatten – und kam aus der Küche gestürzt, von eisernen Wurfgeschossen verfolgt.

Wir wären ihn gerne losgewesen, aber er hing so sehr an uns und ging nicht. Er weinte immer gleich und brach in so schreckliche Klagen aus, wenn wir ihm kündigen wollten, daß wir ihn behalten mußten. Er hatte keine Mutter ? überhaupt keine Verwandte als eine Schwester, die sofort nach Amerika entfloh, als sie ihn losgeworden war, – und er blieb an uns haften wie ein abscheulicher Wechselbalg. Er empfand seine unglückliche Lage sehr tief und rieb sich immer mit dem Ärmel seiner Jacke die Augen und bückte sich, um sich die Nase in dem äußersten Zipfel eines kleinen Taschentuchs zu schneuzen, das er niemals ganz aus der Tasche zog, sondern stets sparte und geheimhielt.

Dieser unglückselige Page, in einer unheilvollen Stunde für 6 £ 10 sh. jährlich gedungen, war für mich eine Quelle ständiger Unruhe. Ich sah ihn aufwachsen – und er wuchs in die Höhe wie Stangenbohnen – mit banger Furcht vor der Zeit, wo er anfangen würde, sich zu rasieren, ja, selbst vor den Tagen, wo er kahl oder grau werden würde. Ich sah keine Hoffnung, ihn je loszuwerden, und dachte manchmal, wenn ich über die Zukunft nachgrübelte, daran, welche Last er für uns erst sein müßte, wenn er ein Greis geworden.

Nichts erwartete ich weniger, als daß er selbst uns aus unserer Verlegenheit befreien würde. Er stahl Doras Uhr, die wie alles, was uns gehörte, keinen besondern Platz hatte, machte sie zu Geld und verbrauchte den Erlös damit, daß er ununterbrochen mit der Landkutsche zwischen London und Uxbridge hin und her fuhr. Bei Vollendung seiner fünfzehnten Fahrt verhafteten sie ihn und brachten ihn nach Bowstreet, wo man vier Schillinge und sechs Pence und eine alte Querpfeife, die er nicht spielen konnte, bei ihm fand.

Die Entdeckung und ihre Folgen würden mich viel weniger unangenehm berührt haben, wenn er sich nicht so reuig gezeigt hätte. Aber er war sehr bußfertig, und zwar auf ganz eigentümliche Weise – nicht auf einmal, sondern sozusagen auf Raten. Zum Beispiel: Am Tag nach meinem ersten Verhör wegen seines Vergehens machte er Enthüllungen über einen Korb in der Küche, den wir voll Weinflaschen wähnten, in dem aber nichts als leere Krüge und Korke waren. Wir glaubten, er hätte jetzt sein Gewissen erleichtert und das Schlimmste, was er von der Köchin wußte, gesagt. Aber einen oder zwei Tage später fühlte er neue Gewissensbisse und verriet, daß sie ein kleines Mädchen habe, die sich jeden Morgen ganz früh im Hause Brot hole, und daß er selbst bestochen worden war, den Milchmann mit Kohlen freizuhalten. Zwei oder drei Tage später benachrichtigte mich die Behörde, daß er Enthüllungen betreffs unter Küchenabfällen versteckter Rindslenden und im Lumpenkasten verborgner Bettücher gemacht hätte. Einige Zeit später bewegten sich seine Geständnisse in anderer Richtung, und er bekannte sich als Mitwisser eines Plans, bei uns einzubrechen. Ich schämte mich derart, in so ausgedehnter Weise als Opferlamm dazustehen, daß ich ihm gerne Geld gegeben haben würde, wenn er geschwiegen hätte oder ausgebrochen wäre. Aber offenbar schien er der Meinung zu sein, er erwerbe sich Verdienste mit jedem neuen Geständnis oder häufe sogar Verpflichtungen auf mein Haupt.

Schließlich riß ich aus, sobald ich einen Polizeibeamten kommen sah, und führte ein Leben in der Verborgenheit, bis ihm der Prozeß gemacht und er zur Deportation verurteilt worden war. Selbst da konnte er sich nicht beruhigen, sondern schrieb uns immer Briefe und bat so dringend, Dora noch vor seiner Abführung sehen zu dürfen, daß sie ihn besuchte und in Ohnmacht fiel, als sie sich selbst hinter den eisernen Gittern sah. Kurz, ich hatte keine ruhige Stunde, bis er über das Meer geschafft und ein Schäfer »dort oben« im Gebirge geworden war. Wo das eigentlich war, weiß ich heute noch nicht.

Das alles veranlaßte mich zu ernsthaftem Nachdenken, zeigte mir unsere Fehlgriffe in einem neuen Licht, und ich konnte mich nicht enthalten, es eines Abends Dora, trotz meiner zärtlichen Liebe zu ihr, mitzuteilen.

»Mein Liebling«, sagte ich, »es ist wirklich recht schlimm, daß der Mangel an System in unserer Wirtschaft nicht nur uns schadet, sondern auch andern.«

»Du bist lange still gewesen und jetzt fängst du wieder an zu schimpfen«, klagte Dora.

»Gewiß nicht, Schatz. Laß mich dir nur erklären, was ich meine!«

»Ich glaube nicht, daß ichs zu wissen brauche«, meinte Dora.

»Aber du sollst es wissen, Liebling! Tue doch Jip herunter.«

Dora legte seine Nase an meine und sagte: »Buh«, um meine Ernsthaftigkeit zu vertreiben; da das aber keinen Erfolg hatte, befahl sie ihm, sich in seine Pagode zu verfügen, und sah mich mit gefalteten Händen und höchst resignierter Miene an.

»Die Sache ist die, Liebling«, begann ich. »Wir haben etwas Ansteckendes an uns. Wir stecken jeden an, der in unsere Nähe kommt.«

Ich wäre wohl in dieser bildlichen Weise fortgefahren, wenn mir Doras Gesicht nicht gesagt hätte, daß sie vermutete, ich gedächte vielleicht eine neue Art Impfung oder eine Arznei gegen diesen ungesunden Zustand vorzuschlagen. Deshalb versuchte ich mich deutlicher auszudrücken.

»Wir büßen nicht allein«, fing ich von neuem an, »Geld, Wohlbehagen und manchmal sogar unsere gute Laune ein, sondern laden auch die ernste Verantwortung, jeden Menschen, der in unsern Dienst tritt oder geschäftlich mit uns zu tun hat, zu verderben, auf uns. Ich fürchte, daß der Fehler nicht ganz auf einer Seite liegt, sondern daß diese Leute alle schlecht werden, weil wir uns selbst nicht richtig benehmen.«

»Was für eine Beschuldigung!« rief Dora aus und sah ganz entsetzt drein; »zu sagen, daß ich jemals goldene Uhren gestohlen hätte. O!«

»Aber Liebling«, unterbrach ich sie, »sprich doch nicht so entsetzlichen Unsinn. Wer hat nur im mindesten auf goldene Uhren angespielt?«

»Du. Du weißt es. Du sagtest, ich hätte mich nicht richtig benommen, und vergleichst mich mit ihm.«

»Mit wem?«

»Mit dem Pagen«, schluchzte Dora. »O du grausamer Mensch! Deine liebevolle Gattin mit einem deportierten Pagen zu vergleichen. Warum sagtest du nicht, was du von mir hältst, ehe wir uns heirateten? Warum sagtest du nicht, du hartherziges Geschöpf, daß du mich für schlimmer als einen deportierten Pagen hältst? O, so eine abscheuliche Meinung von mir zu haben! O Gott!«

»Aber liebe Dora«, wendete ich ein und versuchte sanft das Taschentuch, das sie sich vor die Augen hielt, wegzuziehen, »das ist nicht nur lächerlich von dir, sondern auch sehr unrecht. Vor allen Dingen ist es nicht wahr!«

»Du sagtest von jeher, er flunkere beständig«, schluchzte Dora, »und jetzt sagst du dasselbe von mir. Ach, was soll ich tun! Was soll ich nur tun!«

»Liebes Kind, ich muß dich wirklich bitten, vernünftig zu sein und auf das zu hören, was ich dir jetzt sage. Liebste Dora, wenn wir nicht lernen, unsere Pflicht gegen unsere Angestellten zu tun, werden sie nie lernen, ihre Pflicht uns gegenüber zu erfüllen. Ich fürchte, wir geben den Leuten Gelegenheit, Unrecht zu tun, die wir nie geben sollten. Selbst wenn wir mit Vorsatz so nachlässig wären in allen Dingen, wie wir es sind, so hätten wir nicht das Recht dazu, in dieser Weise fortzufahren. Wir verderben geradezu die Leute. Wir sind verpflichtet, das zu bedenken! Es ist ein Gedanke, der nicht von mir weichen will und mich manchmal sehr verstimmt. Schau, Liebling, das ist alles. Aber nun komm und sei nicht närrisch.«

Lange Zeit wollte mir Dora nicht erlauben, ihr das Taschentuch von den Augen wegzuziehen. Schluchzend und hinter dem Tuch murmelnd saß sie da und fragte, warum ich sie denn geheiratet hätte, wenn ich verstimmt sein wollte, – warum ich es nicht noch den Tag vor der Hochzeit gesagt hätte, daß ich würde verstimmt sein wollen, – wenn ich sie nicht ausstehen könnte, warum ich sie denn nicht zu ihren Tanten nach Putney oder zu Julia Mills nach Indien schickte; Julia würde sich freuen, sie wiederzusehen, und sie nicht einen deportierten Pagen nennen; Julia hätte ihr nie einen solchen Namen gegeben. Kurz, Dora war so über die Maßen betrübt, und ihr Leid schmerzte mich so sehr, daß ich die Nutzlosigkeit jeder Wiederholung eines solchen Versuchs vollkommen einsah und zur Überzeugung gelangte, daß ich einen andern Weg einschlagen müßte.

Welcher andere Weg blieb mir noch übrig? »Ihren Geist zu bilden?« Das war so eine Phrase, die hübsch und vielversprechend klang, und ich beschloß, Doras Geist zu bilden.

Ich begann sofort. Wenn Dora sehr kindisch war und ich am liebsten mit ihr gescherzt hätte, versuchte ich ernst zu sein – und verstimmte sie und mich dazu. Ich unterhielt mich mit ihr über die Themen, die meine Gedanken beschäftigten; und ich las ihr Shakespeare vor und langweilte sie im höchsten Grade. Ich machte es mir zur Gewohnheit, ihr wie zufällig bruchstückweise in diesem oder jenem Rat Unterricht zu erteilen; – und sie schreckte davor zurück wie vor Knallerbsen. So geschickt und natürlich ich es auch immer anfing, den Geist meiner kleinen Dora zu bilden, immer ahnte sie instinktiv, was ich vorhatte, und wurde eine Beute der ärgsten Befürchtungen. Besonders deutlich merkte ich, daß sie Shakespeare für einen ganz entsetzlichen Menschen hielt. Mit der Bildung ging es also sehr langsam.

Ich verwickelte Traddles, ohne daß er es merkte, in meine Pläne, und wenn er uns besuchte, bombardierte ich ihn mit allen möglichen Behauptungen, in der Absicht, Dora so nebenbei dadurch zu erziehen. Die Masse von Lebensweisheit, die ich in dieser Weise auf Traddles Haupt häufte, war ungeheuer und von bester Qualität. Aber auf Dora brachte es weiter keine Wirkung hervor, als daß sie, dadurch verstimmt, in steter Besorgnis erhalten wurde, die Reihe würde sogleich an sie kommen.

Ich sah mich in einen Schulmeister, in eine Schlinge, eine Falle verwandelt; es kam mir vor, als ob ich mit Dora wie eine Spinne mit einer Fliege spielte und beständig aus einem Versteck auf sie losstürzen wollte, aber ich hielt doch monatelang aus, – für die Unannehmlichkeiten dieser Übergangszeit durch die Aussicht, daß dereinst zwischen uns vollständige Übereinstimmung herrschen würde, entschädigt. Aber schließlich sah ich ein, daß ich doch nichts ausgerichtet hatte, obgleich ich die ganze Zeit über vor Entschlossenheit gestarrt hatte und stachlig gewesen war wie ein Igel. Es fing mir an einzuleuchten, daß Doras Geist schon gebildet sein könnte.

Bei reiferem Nachdenken kam mir das so wahrscheinlich vor, daß ich meinen Plan, der mir im Entwurf viel besser als in der Ausführung gefallen hatte, aufgab und mich in Zukunft entschloß, mit meinem kindischen Frauchen zufrieden zu sein und nicht mehr zu versuchen, sie zu erziehen. Ich hatte es satt, selber so entsetzlich klug und weise zu sein, und so kaufte ich denn Dora ein Paar hübsche Ohrringe und Jip ein Halsband und begab mich eines Tages nach Hause mit der Absicht, mich angenehm zu machen.

Dora freute sich außerordentlich über die kleinen Geschenke und küßte mich dankbar, aber es lag noch ein Schatten zwischen uns, wenn er auch nicht groß war, und ich nahm mir fest vor, ihn zu beseitigen. Wenn schon einmal ein solcher Schatten da sein mußte, so sollte er in Zukunft in meine eigne Brust fallen.

Ich setzte mich neben sie aufs Sofa, hängte ihr die Ohrringe ein und sagte ihr, ich fürchtete, wir wären in der letzten Zeit nicht so gute Kameraden gewesen wie sonst, und daß die Schuld an mir gelegen habe. »Das Wahre an der Sache ist, liebe Dora, ich habe versucht, recht klug zu sein.«

»Und mich auch recht klug zu machen«, fragte Dora furchtsam. »Nicht wahr, Doady?«

Ich nickte beistimmend auf ihre mit emporgezogenen Augenbrauen allerliebst gestellte Frage und küßte sie.

»Es hat nicht den geringsten Zweck«, sagte Dora und schüttelte den Kopf, bis die Ohrringe klingelten. »Du weißt, was ich für ein albernes Ding bin, und daß du mich von Anfang an als solches hast nehmen sollen. Wenn du das nicht tun kannst, so fürchte ich, du wirst mich nie liebgewinnen. Meinst du nicht manchmal, es wäre besser gewesen …«

»Was denn, Liebling?« Denn sie stockte, ohne fortfahren zu wollen.

»Nichts.«

»Nichts?«

Sie schlang ihren Arm um meinen Hals und lachte und nannte sich bei ihrem Lieblingsnamen ein Gänschen und versteckte auf meiner Schulter ihr Gesicht in einer solchen Fülle von Locken, daß es eine ordentliche Arbeit war, sie wegzustreichen und ihr in die Augen zu sehen.

»Meinst du nicht auch, es wäre besser gewesen, ich hätte lieber nichts getan als versucht, meines lieben Frauchens Geist zu bilden?« fragte ich, über mich selbst lachend. »Willst du das damit sagen?«

»Also das hast du versucht!« rief Dora. »O, was für ein schändlicher Junge!«

»Aber ich werde es nie wieder versuchen«, beteuerte ich. »Ich habe dich am liebsten so, wie du bist.«

»Wirklich – im Ernst?« fragte Dora und schmiegte sich dichter an mich.

»Warum sollte ich das zu verändern suchen, was mir so lange schon so kostbar gewesen ist? Du meine süße Dora; wir wollen keine Experimente mehr machen, sondern leben wie früher und glücklich sein.«

»Glücklich sein«, stimmte Dora ein. »Ja! Den ganzen Tag! Und du wirst nicht bös sein, wenn es manchmal ein ganz klein wenig schiefgeht?«

»Nein, nein. Wir müssen eben unser Bestes tun.«

»Und du wirst mir nicht wieder sagen, daß wir andere Leute verderben«, schmeichelte Dora, »nicht wahr? Es ist so schrecklich widerwärtig, weißt du!«

»Nein, nein.«

»Es ist besser für mich, ich bin einfältig als unglücklich, nicht wahr?«

»Besser natürlich sein, Dora, als alles andere in der Welt!«

»In der Welt! Ach Doady, die Welt ist groß.« Sie schüttelte den Kopf, sah mich mit ihren frohen glänzenden Augen an, küßte mich, brach in heiteres Lachen aus und sprang fort, um Jip sein neues Halsband umzulegen.

So endete mein letzter Versuch, Dora zu erziehen. Ich war so unglücklich dabei gewesen; ich konnte meine einsame Weltklugheit selbst nicht aushalten und sie mit der Bitte Doras, sie als mein kindisches Frauchen zu betrachten, nicht in Einklang bringen. Ich nahm mir im Stillen vor, mein möglichstes zu tun, aber ich sah voraus, daß das nur sehr wenig sein konnte, wollte ich nicht wieder wie eine Spinne auf der Lauer liegen.

Und der Schatten, der nicht mehr zwischen uns sein sollte, wohin fiel der jetzt?

Das alte Gefühl, daß mir etwas fehle, durchdrang mein ganzes Leben. Wenn es sich überhaupt verändert hatte, so war es nur stärker geworden; aber es sprach mich an, so unbestimmt wie eine schwermütige Weise, die in der Nacht leise in der Ferne erklingt. Ich liebte mein Weib innig und war glücklich, aber das Glück, das ich mir einst ausgemalt, das war nicht das, was ich jetzt genoß; und immer fehlte mir etwas. Was mir fehlte, konnte ich mir nicht ergänzen. Das fühlte ich mit einem natürlichen Schmerz, den wohl alle Menschen kennen. Daß es besser für mich gewesen wäre, meine Gattin hätte mir mehr helfen und die vielen Gedanken, die ich für mich behalten mußte, mit mir teilen können, das wußte ich genau.

Wenn ich an die Luftschlösser meiner Jugend dachte, da standen auch die zufriedeneren Tage meines Jünglingalters mit Agnes in dem lieben alten Haus wie die Schemen der Toten vor mir, die ich vielleicht in einer andern Welt wiedersehen könnte, die aber hier nie mehr lebendig werden würden. Manchmal grübelte ich darüber nach, was wohl geworden wäre, wenn Dora und ich einander nie kennengelernt hätten, aber sie war so mit meinem Dasein verwebt, daß dieser Gedanke jedesmal so schnell entschwebte wie Sommerfäden, die durch die Luft treiben.

Ich liebte Dora stets. Was ich jetzt schreibe, schlummerte und wachte halb auf und schlummerte wieder ein in den innersten Tiefen meines Herzens. An mir verriet sich nichts davon. Es hatte keinen Einfluß auf das, was ich sagte oder tat. Ich trug die ganze Last unserer kleinen Sorgen und aller meiner Projekte; Dora hielt die Federn, und wir fühlten beide, daß die Lasten den Verhältnissen richtig angepaßt und verteilt waren. Sie liebte mich innig und war stolz auf mich, und als Agnes ein paar herzliche Worte an Dora schrieb von dem Stolz und der Teilnahme, mit dem meine alten Freunde von meinem wachsenden Ruhm hörten und mein Buch lasen und mich dabei sprechen zu hören glaubten, las sie mir Dora mit Freudentränen in ihren schönen Augen vor und sagte, ich sei ihr lieber, alter, gescheiter und berühmter Junge.

»Die erste mißverstandene Regung eines unerfahrnen Herzens!« Diese Worte Mrs. Strong klangen mir damals beständig in der Seele nach; oft erwachte ich mit ihnen mitten in der Nacht und habe sie im Traume auf den Mauern des Hauses gelesen.

Ich wußte jetzt, daß mein Herz unerfahren gewesen, als ich mich in Dora verliebt hatte, und daß ich niemals nach unserer Verheiratung hätte fühlen können, was ich jetzt insgeheim fühlte, wenn es wissend gewesen wäre.

»Es kann kein größeres Unglück in der Ehe geben als Ungleichheit in den Gefühlen und Bestrebungen!« Auch an diese Worte erinnerte ich mich. Ich hatte mich bestrebt, Dora mir anzupassen, und fand es unausführbar. Jetzt hatte ich mich Dora anzupassen, mit ihr zu teilen, wie ich konnte, und glücklich zu sein, hatte auf meinen Schultern zu tragen, was ich tragen mußte, und dabei immer noch glücklich zu sein. Das war die Schule, der ich mein Herz zu unterwerfen versuchte, als ich anfing zu denken.

Mein zweites Jahr in der Ehe wurde dadurch viel glücklicher als mein erstes, und was noch besser war, es machte das Leben Doras zu lauter Sonnenschein. Aber wie das Jahr verrann, nahmen Doras Kräfte ab. Ich hatte gehofft, daß zartere Hände als die meinigen mir helfen würden, ihren Charakter zu bilden, und daß das Lächeln eines Kindes an ihrer Brust sie aus einem kindischen Frauchen zu einem Weibe machen würde. Es sollte nicht sein. Eine kleine Seele schwebte zögernd einen Augenblick über der Schwelle des irdischen Kerkers und schwang sich dann, nichts ahnend von der drohenden Gefangenschaft, von dannen.

 

»Wenn ich wieder herumspringen kann wie früher, Tante«, sagte Dora, »werde ich mit Jip ein Wettlaufen veranstalten. Er ist recht faul geworden.«

»Ich fürchte, liebe Dora«, sagte meine Tante, die ruhevoll an ihrer Seite arbeitete, »er krankt an etwas Schlimmerem. Am Alter, Dora.«

»Meinst du, er wird alt?« fragte Dora ganz erstaunt. »Wie seltsam ist der Gedanke, Jip könnte alt werden!«

»Es ist eine Krankheit, der wir alle unterworfen sind, Kleines«, sagte meine Tante heiter. »Ich fühle mich nicht freier davon als früher, das versichere ich dir.«

»Aber Jip«, sagte Dora und sah mitleidig das Hündchen an. »Sogar der kleine Jip! Armer Bursche!«

»Nun, er wird schon noch eine gute Weile aushalten, Blümchen«, tröstete meine Tante, Dora auf die Wange klopfend, während sie sich von ihrem Lager herabbeugte, um Jip anzusehen, der sich auf die Hinterbeine stellte und verschiedene fruchtlose asthmatische Versuche machte, heraufzuklettern. »Wir müssen ihm ein Stück Flanell diesen Winter in sein Häuschen legen, und dann kommt er gewiß im Frühling so frisch wie die jungen Blumen wieder heraus. Der gute, kleine Hund! Wenn er ein so zähes Leben hätte wie eine Katze und müßte es hingeben, bloß um mich mit seinem letzten Atemzug noch anbellen zu dürfen, so glaube ich, täte ers.«

Dora hatte Jip auf das Sofa heraufgeholfen, wo er wirklich meine Tante wieder so wütend ankläffte, daß er sich gar nicht geradehalten konnte, sondern sich ganz schief bellte. Je mehr ihn meine Tante ansah, desto wütender wurde er, denn sie trug seit einiger Zeit eine Brille, und aus einem unerforschlichen Grunde faßte er das als eine persönliche Beleidigung auf.

Mit vieler Überredung gelang es Dora ihn zur Ruhe zu bringen, dann zog sie spielend eines seiner langen Ohren durch ihre Hand und wiederholte gedankenvoll:

»Sogar der kleine Jip! Armer Bursche!«

»Seine Lungen sind noch recht gut«, lächelte meine Tante heiter, »und seine Abneigungen sind auch ungeschwächt. Er hat gewiß noch viele, viele Jahre vor sich. Aber wenn du einen Hund zum Wettlaufen haben willst, Blümchen, so hat er dazu zu gut gelebt, und ich will dir einen andern schenken.«

»Ich danke dir, Tante«, sagte Dora leise, »aber bitte, tue es nicht!«

»Nicht?« fragte meine Tante und nahm die Brille ab.

»Ich könnte keinen andern Hund haben als Jip. Es wäre so lieblos gegen ihn. Und dann könnte ich auch keinem andern Hund so gut sein als Jip, denn er hätte mich nicht vor meiner Heirat gekannt und Doady nicht angebellt, als er zuerst zu uns kam. Ich könnte keinem andern Hund gut sein als Jip, fürchte ich, Tante.«

»Gewiß, gewiß«, nickte meine Tante und tätschelte wieder Doras Wange.

»Aber du bist doch nicht bös?«

»Gott, was für ein empfindliches Herzblatt!« rief meine Tante und beugte sich liebevoll über sie. »Warum sollte ich denn bös darüber sein?«

»Nein, nein, es ist ja auch nicht mein Ernst, aber ich bin ein klein wenig müde; ich war einen Augenblick kindisch – ich bin es immer, du weißt ja, –, aber es macht mich noch kindischer, wenn ich von Jip spreche. Er hat mich in allem, was ich erlebte, gekannt, nicht wahr, Jip, und ich könnte es nicht ertragen ihn zurückgesetzt zu sehen, weil er ein bißchen anders geworden ist – nicht wahr, Jip!«

Jip drängte sich dichter an seine Herrin und leckte ihr schläfrig die Hand.

»Du bist noch nicht so alt, Jip, daß du mich verlassen mußt. Wir können uns noch ein klein wenig Gesellschaft leisten.«

Meine hübsche Dora! Als sie am nächsten Sonntag herunter zu Tische kam und sich so sehr freute, unsern alten Traddles, der sonntags immer bei uns aß, zu sehen, glaubten wir, sie würde in wenigen Tagen wieder herumspringen wie früher. Aber es hieß immer: wir müssen noch ein paar Tage warten, und dann immer noch ein paar Tage; und immer noch sprang sie nicht herum. Sie sah ganz allerliebst aus und war sehr fröhlich, aber die kleinen Füßchen, die früher so rasch um Jip herumtanzen konnten, waren jetzt schwer und matt.

Ich mußte sie bald jeden Morgen die Treppe herab und jeden Abend wieder hinauf tragen. Sie faßte mich um den Hals und lachte dabei, als geschähe es zum Spaß. Jip bellte und sprang um uns herum, lief voraus und wartete keuchend, ob wir nachkämen. Meine Tante, diese beste aller Pflegerinnen, kam hinter uns her, ein lebender Berg von Schals und Kissen, und Mr. Dick hätte keinem Menschen auf Erden sein Amt als Leuchterträger abgetreten. Traddles stand oft unten an der Treppe und sah zu und ließ sich Neckereien und scherzhafte Botschaften an das »liebste Mädchen auf der Welt« gefallen. Wir machten ein heiteres Spiel daraus, und mein kindisches Frauchen war die fröhlichste von uns allen.

Aber manchmal, wenn ich sie aufhob und sie mir in den Armen leichter vorkam, da beschlich mich ein dunkles Gefühl, als ob ich mich einer noch unsichtbaren Eisregion näherte, die mein Leben zu erstarren drohte. Ich scheute mich, für dieses Gefühl einen Namen zu suchen oder zu jemand davon zu sprechen, bis ich eines Abends, als es stärker als je über mich kam und meine Tante Dora mit dem Abschiedsgruß: »Gute Nacht, liebes Blümchen« verlassen hatte, mich allein an meinen Schreibtisch setzte und weinte bei dem Gedanken an den verhängnisvollen Namen »Blümchen«, das jetzt wirklich in seiner schönsten Blüte dahinwelkte.

49. Kapitel Ein Geheimnis hält mich in Atem


49. Kapitel Ein Geheimnis hält mich in Atem

Eines Morgens brachte mir die Post einen von Canterbury an mich in Doctors‘ Commons adressierten Brief. Ich las zu meiner Überraschung:

Werter Herr! Verhältnisse, die außerhalb des Bereichs meiner persönlichen Kontrolle liegen, haben seit geraumer Zeit ein Aufhören der Vertrautheit bewirkt, die bei der durch Geschäftsverhältnisse sehr beschränkten Gelegenheit, Ereignisse und Vorfälle der Vergangenheit im Lichte der prismatischen Farben der Erinnerung zu betrachten, in mir immer freudige Gefühle ungewöhnlicher Art erregt hat. Dieser Umstand, werter Herr, zusammengehalten mit der hohen Auszeichnung, die Ihre Talente Ihnen errungen haben, hält mich ab, mir die Freiheit zu nehmen, den Gefährten meiner Jugendzeit mit der altgewohnten Benennung Copperfield anzureden. Es genüge Ihnen, zu wissen, daß der Name, den zu nennen ich mir hier die Ehre nehme, stets unter den Aufzeichnungen unserer Familie und in der Urkundensammlung, die sich auf unsere früheren Mieter beziehen und von Mrs. Micawber aufgehoben werden, mit Gefühlen persönlicher Hochachtung, die sich bis zur Liebe steigern, aufbewahrt ist. Einem, der wie ich durch frühere Fehler und ein verhängnisvolles Zusammentreffen unglücklicher Zufälle einem gestrandeten Schiffe gleicht und der jetzt die Feder ergreift, um an Sie zu schreiben, – jemand, wiederhole ich, der sich in solchen Verhältnissen befindet, geziemt es nicht, die Sprache des Komplimentes oder der Beglückwünschung zu reden. Das sei geschickteren und reineren Händen vorbehalten.

Wenn Ihre soviel wichtigeren Beschäftigungen Ihnen gestatten, diese unvollkommenen Schriftzüge bis hierher zu lesen, so werden Sie natürlich fragen, was mich zu gegenwärtigem Schreiben veranlaßt. Erlauben Sie mir zu betonen, daß ich die Berechtigung dieser Frage vollkommen zugebe, und gestatten Sie mir, mich weiter auszulassen. Ich möchte jedoch vorausschicken, daß der Zweck dieses Briefes keine Geldangelegenheit betrifft.

Ohne deutlicher auf eine in mir schlummernde Fähigkeit, den Donnerkeil zu schleudern oder die rächende Flamme zu entsenden, anspielen zu können, darf ich mir vielleicht die beiläufige Bemerkung gestatten, daß meine strahlendsten Träume für immer zerronnen sind, daß mein Friede gestört ist und die Möglichkeit, mich zu freuen, vernichtet scheint, – daß mein Herz nicht länger mehr auf dem rechten Flecke schlägt und daß ich nicht mehr aufrecht einherschreiten kann vor meinem Nebenmenschen. Der Reif sitzt in der Blüte. Der Kelch ist bitter bis zum Rand. Der Wurm ist tätig und wird bald sein Opfer haben. Je eher, desto besser! Aber ich will nicht abschweifen. In eine geistige Lage von besonderer Peinlichkeit versetzt, die selbst dem besänftigenden Einfluß Mrs. Micawbers trotzt, trotzdem diese ihn in einer dreifachen Eigenschaft, nämlich als Weib, als Gattin und als Mutter, ausübt, beabsichtige ich, auf eine kurze Zeit vor mir selbst zu fliehen und eine Frist von achtundvierzig Stunden dem Besuche einiger großstädtischer Schauplätze entschwundenen Glücks zu widmen. Außer nach andern Häfen innerer Ruhe und Seelenfriedens werden sich meine Füße natürlich dem Kingsbench-Gefängnis zuwenden. Indem ich Ihnen melde, daß ich mich an der Außenseite der südlichen Mauer jenes für die Haft im Zivilprozeß errichteten Gebäudes übermorgen abends um sieben einfinden werde, ist der Zweck dieser brieflichen Mitteilung erreicht.

Ich fühle mich nicht berechtigt, meinen frühern Freund, Mr. Copperfield oder meinen frühern Freund, Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium, wenn dieser Herr noch am Leben ist, zu bitten, mir die große Gefälligkeit zu tun, mit mir zusammenzutreffen und, soweit es die Umstände erlauben, unsere früheren guten Beziehungen zu erneuern. Ich möchte mich nur auf die Bemerkung beschränken, daß zu der angegebenen Stunde und am bezeichneten Orte aufzufinden sein wird, was noch übrig ist von den Trümmern des gefallenen Turmes

Wilkins Micawber

P.S. Es ist vielleicht ratsam, obigem noch hinzuzufügen, daß ich Mrs. Micawber hinsichtlich meines Vorhabens nicht ins Vertrauen gezogen habe.

Ich las den Brief mehrere Male durch. Wenn ich auch Mr. Micawbers phrasenreichen Stil in Abzug brachte, so fühlte ich doch heraus, daß diesem seltsamen Schreiben etwas sehr Ernsthaftes zugrunde liegen mußte. Ich grübelte gerade darüber nach und geriet in immer größere Verwirrung, als Traddles eintrat.

»Alter Freund«, sagte ich, »du kommst mir wie gerufen. Möchtest du mir nicht mit deinem Urteile beistehen? Ich habe einen sehr merkwürdigen Brief von Mr. Micawber bekommen.«

»Nicht möglich!« rief Traddles. »Du auch? Und ich habe einen von Mrs. Micawber.«

Traddles, ganz erhitzt vom Gehen, das Haar vor Aufregung gesträubt, zog einen Brief aus der Tasche und ließ sich den meinigen geben.

Ich beobachtete ihn beim Lesen und sah, wie er bei den Worten »Donnerkeil schleudern, die rächende Flamme entsenden«, erstaunt die Augenbrauen in die Höhe zog. »Gott bewahre, Copperfield«, sagte er und gab mir dann Mrs. Micawbers Brief. Er lautete:

»Mr. Thomas Traddles meine besten Empfehlungen, und für den Fall, als er sich noch an eine Person erinnert, die früher das Glück hatte, gut mit ihm bekannt zu sein, so bitte ich ihn um Erlaubnis, einige Augenblicke seiner freien Zeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Ich versichere Mr. T. T., daß ich seine Freundlichkeit nicht in Anspruch nehmen würde, wäre ich nicht an den letzten Grenzen des Wahnsinns angelangt.

Obgleich sich die Feder sträubt, so muß ich es doch erwähnen: Die Entfremdung Mr. Micawbers von seiner Gattin und seiner Familie ist der Grund dieser meiner Bitte an Mr. Traddles, derentwegen ich ihn um Nachsicht ersuchen muß. Mr. T. kann sich nicht annähernd einen Begriff von der Änderung in Mr. Micawbers Benehmen, von seiner Zerfahrenheit und seiner Heftigkeit machen. Sie hat allmählich so zugenommen, daß sie jetzt einer Geistesstörung ähnlich sieht. Kaum ein Tag vergeht, ich versichere Mr. Traddles, an dem nicht irgendein Paroxismus ausbricht. Mr. T. wird nicht verlangen, daß ich meine Gefühle schildere, wo ich täglich zu hören gewohnt bin, daß Mr. Micawber behauptet, er habe sich dem Teufel verkauft. Geheimniskrämerei bildet seit langem schon seinen vornehmsten Charakterzug und ist längst an Stelle altgewohnten Vertrauens getreten. Der geringste Anlaß, auch wenn er nur gefragt wird, ob er etwas Besonderes zu Mittag wünsche, gibt ihm Gelegenheit, Worte über Scheidungen usw. fallenzulassen. Gestern abend, als er in kindlicher Weise von den Zwillingen um zwei Pence für Zitronenbiskuits gebeten wurde, drohte er ihnen mit einem Austernmesser.

Ich bitte Mr. Traddles zu entschuldigen, daß ich auf diese Einzelheiten eingehe, aber ohne dieselben dürfte es Mr. T. sicherlich schwer werden, sich eine Vorstellung von meiner herzzerreißenden Lage zu machen.

Darf ich also wagen, Mr. T. den Zweck meines Briefs anzuvertrauen, – wird er gestatten, daß ich mich ganz auf seine freundschaftliche Nachsicht verlasse? O ja, denn ich kenne sein Herz.

Der Liebe Scharfblick ist nicht leicht zu täuschen, wenn er weiblichen Geschlechtes ist. Mr. Micawber reist nach London! Obgleich er auf das sorgfältigste heute morgen vor dem Frühstück, als er die Adresse auf den kleinen braunen Mantelsack seiner glücklicheren Tage schrieb, seine Hand verdeckte, so erspähte doch der Adlerblick ehelicher Besorgnis auf das deutlichste: »…don.« Das Westendziel der Landkutsche ist das »Goldne Kreuz«. Darf ich wagen, Mr. T. auf das flehentlichste zu bitten, meinen irregeleiteten Gatten dort zu treffen und mit ihm zu sprechen? Darf ich Mr. T. bitten, die Vermittlerrolle zwischen Mr. Micawber und seiner zu Tode geängstigten Familie zu übernehmen? O nein, denn das wäre zuviel.

Wenn Mr. Copperfield sich noch an eine Person erinnern sollte, die nicht wie er berühmt ist, wird es dann Mr. T. übernehmen, meine unveränderte Achtung und eine gleiche Bitte auszusprechen? Jedenfalls wird er die große Güte haben, diese Mitteilung als streng vertraulich zu betrachten und unter keiner Bedingung eine wenn auch noch so entfernte Anspielung darauf in Mr. Micawbers Gegenwart zu machen.

Wenn Mr. T. jemals – was ich nicht erwarten darf – antworten sollte, so würde ein Brief unter der Adresse ›M. E., postlagernd Canterbury‹ von weniger schmerzlichen Folgen begleitet sein, als wenn er direkt adressiert wäre an eine, die sich im tiefsten Schmerz unterzeichnet als Mr. Thomas Traddles hochachtungsvoll ergebene Freundin und Bittstellerin

         Emma Micawber

»Nun, was sagst du dazu?« fragte Traddles, als ich den Brief zweimal gelesen hatte.

»Und was sagst du zu dem andern?«

»Ich glaube, beide zusammen, Copperfield, enthalten mehr, als Mr. und Mrs. Micawber meistens in ihren Briefen zu sagen pflegen, aber ich weiß nicht, was. Beide haben in vollem Ernst geschrieben, darüber ist kein Zweifel, und ohne voneinander zu wissen. Armes Ding!«

Wir verglichen beide Briefe.

»Es ist ein Werk christlicher Liebe, an sie zu schreiben, und ich will nicht unterlassen, Mr. Micawber aufzusuchen.«

Ich stimmte um so bereitwilliger bei, als ich mir Vorwürfe machte, auf Mrs. Micawbers früheren Brief so wenig Gewicht gelegt zu haben. Stark von meinen eignen Angelegenheiten in Anspruch genommen, hatte ich allmählich die Sache vergessen, zumal kein zweiter Brief eingelaufen war. Ich hatte oft an die Micawbers gedacht und hätte manchmal gern gewußt, welche »pekuniären Verpflichtungen« sie wohl in Canterbury eingehen würden, oder hatte mir ins Gedächtnis gerufen, wie zurückhaltend Mr. Micawber gegen mich in seiner Eigenschaft als Schreiber bei Uriah Heep gewesen war.

Jetzt aber schrieb ich einen Trostbrief an Mrs. Micawber, und wir beide unterzeichneten ihn. Als wir in die Stadt gingen, um ihn aufzugeben, beriet ich mit Traddles lange hin und her, und als wir nachmittags auch meine Tante zu Rate zogen, war der einzige Entschluß, zu dem wir kamen, der, daß wir das Stelldichein mit Mr. Micawber pünktlich einhalten wollten.

 

Obgleich wir eine Viertelstunde vor der Zeit auf dem bestimmten Platze ankamen, fanden wir doch Mr. Micawber schon dort. Er stand mit verschränkten Armen vor der Mauer und betrachtete mit sentimentaler Miene die eisernen Spitzen.

Als wir ihn anredeten, war er verlegener und weniger vornehmtuend als früher. Er hatte den schwarzen Juristenrock auf der Reise abgelegt und trug wieder seinen Überzieher und die engen Hosen. Aber nicht mehr mit der frühern großartigen Miene. Allmählich taute er mehr und mehr auf, als wir mit ihm plauderten, aber seine Lorgnette hing nicht mehr so nonchalant herab, und sein Hemdkragen, wenn auch noch von der alten Größe, sah recht welk aus.

 

»Meine Herren«, sagte Mr. Micawber nach den ersten Begrüßungen, »Sie sind Freunde in Wort und Tat. Erlauben Sie mir, mich nach dem physischen Wohlbefinden der gegenwärtigen Mrs. Copperfield und der zukünftigen Mrs. Traddles zu erkundigen, das heißt, wenn mein Freund Mr. Traddles noch nicht mit dem Gegenstand seiner Neigung fürs Leben vereint ist.«

Wir dankten der höflichen Nachfrage; dann lenkte er unsere Aufmerksamkeit auf die Mauer und fing an:

»Ich versichere ihnen, meine Herren –«

Ich erhob Einwand gegen diese zeremonielle Form der Anrede und bat ihn, doch ganz in seiner alten Weise zu sprechen.

»Mein lieber Copperfield«, erwiderte er und drückte mir die Hand, »Ihre Herzlichkeit überwältigt mich. Diese freundliche Aufnahme eines zerschmetterten Bruchstücks des Tempels, den man voreinst Mensch nannte – wenn ich mir diesen Ausdruck erlauben darf –, verrät ein Herz, das dem ganzen Menschengeschlecht zur Ehre gereicht. Ich wollte eben bemerken, daß ich den fröhlichen Ort wieder vor Augen sehe, wo die glücklichsten Stunden meines Daseins verrannen.«

»Verschönt durch Mrs. Micawber«, ergänzte ich. »Ich hoffe, sie befindet sich doch wohl?«

»Ich danke«, entgegnete Mr. Micawber, dessen Antlitz sich bei dieser Frage trübte. »Sie befindet sich nur soso –. Das also«, fuhr er fort und nickte kummervoll, »ist das Schuldgefängnis! Das Haus, in dem das erste Mal nach so vielen entschwundnen Jahren der überwältigende Druck pekuniärer Verbindlichkeiten sich nicht Tag für Tag durch zudringliche Stimmen, die den Hausflur nicht räumen wollten, laut machte, – wo kein Klopfer an der Tür für die andrängenden Gläubiger hing und alle Mahner auf den Portier angewiesen waren. Meine Herren, wenn der Schatten der eisernen Spitzen auf jener Ziegelmauer auf dem Sand des Exerzierplatzes lag, habe ich gesehen, wie meine Kinder dem Wirrwarr des labyrinthischen Musters nachgingen, die dunkeln Stellen vermeidend. Ich kenne jeden Stein an diesem Ort. Wenn ich Schwäche zeige, werden Sie es mir gewiß verzeihen!«

»Wir sind seitdem alle im Leben vorwärtsgekommen, Mr. Micawber.«

»Mr. Copperfield«, entgegnete Mr. Micawber mit Bitterkeit, »als ich ein Bewohner dieses Zufluchtsorts war, konnte ich meinem werten Mitmenschen noch ins Gesicht sehen und ihm – eine herunterhauen, wenn er mich beleidigte. Mein Mitmensch und ich stehen nicht mehr auf so glorreichem Fuß miteinander.« Mr. Micawber wendete sich niedergeschlagen von dem Gebäude weg, nahm meinen dargebotnen Arm auf der einen und Traddles Arm auf der andern Seite an und entfernte sich, von uns geleitet.

»Es gibt Stationen auf dem Wege zum Grabe«, bemerkte er und sah sich ergriffen um, »die der Mensch – wäre der Wunsch nicht gottlos die der Mensch niemals hinter sich haben möchte. Eine solche Station bedeutet in meinem wechselreichen Leben das Schuldgefängnis.«

»Sind Sie aber trübe gestimmt, Mr. Micawber«, sagte Traddles.

»Ja, das bin ich, Sir.«

»Ich will doch nicht hoffen, daß Sie keinen Gefallen mehr an der Jurisprudenz finden! – Ich bin, wie Sie wissen, selbst Jurist«, sagte Traddles.

Mr. Micawber erwiderte kein Wort.

»Was macht unser Freund Heep, Mr. Micawber?« fragte ich nach einer Pause.

»Mr. Copperfield«, Mr. Micawber wurde plötzlich ganz aufgeregt und blaß, »wenn Sie meinen Brotherrn Ihren Freund nennen, so tut es mir leid; halten Sie ihn für den meinen, so muß ich sardonisch lächeln. In welchem Sinne immer Sie nach ihm fragen, muß ich Sie bitten, meine Antwort, ohne Sie beleidigen zu wollen, darauf beschränken zu dürfen, daß, ob er jetzt gesund ist oder nicht, sein Aussehen fuchshaft, um nicht zu sagen teuflisch ist. Als Privatmann werden Sie mir erlauben, einen Gegenstand fallenzulassen, der mich in meiner Eigenschaft als Jurist bis an den äußersten Rand der Verzweiflung gebracht hat.«

Ich sprach mein Bedauern darüber aus, daß ich unbewußt ein Thema berührt hatte, das ihn so aufregte. »Darf ich aber fragen«, sagte ich, »wie sich meine alten Freunde, Mr. und Miss Wickfield, befinden?«

»Miss Wickfield«, Micawber wurde rot, »ist wie immer ein Muster und ein glänzendes Vorbild. Mein lieber Copperfield, sie ist der einzige Stern in meiner elenden Lebensnacht. Meine Hochachtung vor dieser jungen Dame, meine Bewunderung vor ihrem Charakter, die Ergriffenheit, mit der mich ihre Liebe und Treue und Wahrhaftigkeit erfüllt, ihre Güte … Bitte, führen Sie mich in eine Seitengasse«, sagte Mr. Micawber, »denn auf Ehre, in meinem gegenwärtigen Gemütszustand kann ich das kaum ertragen.«

Wir führten ihn in eine enge Gasse, wo er sein Taschentuch herauszog und sich mit dem Rücken an eine Mauer lehnte. Wenn ich ihn ebenso ernst ansah wie Traddles, so muß unser Anblick nicht sehr aufheiternd auf ihn gewirkt haben.

»Es ist mein Verhängnis«, fuhr Mr. Micawber fort und schluchzte laut, obgleich er auch dabei eine gewisse Pose nicht lassen konnte, »es ist leider mein Verhängnis, meine Herren, daß die edlern Gefühle des Menschenherzens wie ein Vorwurf auf mich fallen. Die Verehrung, die ich für Miss Wickfield hege, zerreißt mein Herz in tausend Teile. Besser wäre, Sie ließen mich gehen, damit ich als Vagabund die Welt durchstreifte. Der Wurm wird doppelt so rasch sein Werk vollenden.«

Ohne uns dieser Aufforderung zu fügen, blieben wir neben ihm stehen, bis er das Taschentuch einsteckte und, um etwaige unberufene Zuschauer zu täuschen, ein Liedchen vor sich hinsummte und den Hut unternehmend schief aufsetzte.

Ich sagte ihm dann, ich wäre ihm sehr verbunden, wenn er mir das große Vergnügen bereitete, ihn meiner Tante vorstellen zu dürfen, und daß wir zusammen nach Highgate, wo ein Bett zu seiner Verfügung stünde, fahren wollten.

»Sie müssen uns ein Glas von Ihrem Punsche brauen, Mr. Micawber, und Ihre Sorgen in angenehmen Erinnerungen ertränken.«

»Meine Herren, tun Sie mit mir, was Sie wollen«; entgegnete Mr. Micawber. »Ich bin ein Strohhalm über der Tiefe und werde hin und her geworfen von den Elefanten – pardon, ich wollte sagen – von den Elementen.«

Wir setzten unsern Weg Arm in Arm fort, erreichten die Kutsche noch rechtzeitig und langten in Highgate ohne weitere Abenteuer an. Ich war einigermaßen im Zweifel, was zunächst geschehen müßte, und Traddles schien es ebenso zu gehen.

Mr. Micawber war fast die ganze Fahrt in düsteres Nachsinnen versunken. Zuweilen gab er sich Mühe, fröhlich zu erscheinen, und trällerte den Anfang eines Liedchens. Aber seine Rückfälle in den alten Trübsinn wurden durch den schiefgesetzten Hut und den bis an die Augen emporgezogenen Hemdkragen nur noch auffälliger.

Wir gingen wegen Doras Unpäßlichkeit in das Haus meiner Tante. Wir schickten um sie, und sie bewillkommte Mr. Micawber mit großer Herzlichkeit. Mr. Micawber küßte ihr die Hand, zog sich in das Fenster zurück, zog sein Taschentuch heraus und focht offenbar einen schweren innern Kampf durch.

Mr. Dick war zu Hause. Schon von Natur aus außerordentlich mitfühlend, wenn jemand litt, entdeckte er schnell, wo es fehlte, und schüttelte Mr. Micawber alle fünf Minuten mindestens ein dutzendmal die Hand. Mr. Micawber war in seinem Kummer durch diese Wärme von Seiten eines ihm ganz Fremden so außerordentlich ergriffen, daß er bei jedem neuen Händeschütteln nur sagen konnte: »Mein lieber Herr, ich bin ganz überwältigt.« Und das freute Mr. Dick so sehr, daß er seine Hände fast gar nicht mehr losließ.

»Die Freundlichkeit dieses Herrn«, sagte Mr. Micawber zu meiner Tante, »streckt mich – wenn Sie mir gestatten wollen, Maam, eine Redewendung aus dem Wortschatz unseres rauhen Nationalsportes zu entlehnen – geradezu zu Boden. Auf das Haupt eines Mannes, der unter einer so komplizierten Last von Sorgen und Unruhe seufzt, häuft ein derartiger Empfang glühende Kohlen, das versichere ich Ihnen.«

»Mein Freund Mr. Dick«, entgegnete meine Tante mit Stolz, »ist kein gewöhnlicher Mensch.«

»Davon bin ich überzeugt«, rief Mr. Micawber. »Mein werter Herr, ich empfinde auf das tiefste die Herzlichkeit Ihres Empfangs.«

»Wie befinden Sie sich?« fragte Mr. Dick mit besorgtem Blick.

»Leider nur mäßig, verehrter Herr.«

»Sie dürfen den Mut nicht sinken lassen«, ermutigte Mr. Dick, »und müssen es sich hier so behaglich wie möglich machen.«

Mr. Micawber war wieder ganz überwältigt von diesen freundlichen Worten und von Mr. Dicks abermaligem Händedruck. »Es ist mein Schicksal gewesen«, sagte er, »in dem vielgestaltigen Panorama des menschlichen Daseins zuweilen auf eine Oase zu stoßen. Aber noch nie fand ich eine so grüne, so erquickende wie diese.«

Zu jeder andern Zeit hätte mich all dies höchlichst amüsiert, aber ich fühlte, daß wir alle in Unruhe waren, und beobachtete Mr. Micawbers Hin- und Herschwanken zwischen dem Wunsche, etwas zu enthüllen, und dem gegenteiligen Bedürfnis, es zu verschweigen, so gespannt, daß mich förmlich ein Fieber ergriff. Traddles saß auf der Kante seines Stuhls, die Augen aufgerissen und das Haar mehr zu Berg stehend als je, sah bald den Fußboden, bald Mr. Micawber an und sprach kein Wort. Meine Tante war geistesgegenwärtiger als wir alle und betrachtete unsern Gast mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Sie munterte ihn immerwährend zum Reden auf, mochte er wollen oder nicht.

»Sie sind ein langjähriger Freund meines Neffen, Mr. Micawber«, sagte sie, »und ich wollte, ich hätte das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft schon früher gehabt.«

»Maam«, antwortete Mr. Micawber, »auch ich wünschte, mir wäre die Ehre, Sie zu einer früheren Zeit kennenzulernen, eher zuteil geworden. Ich war nicht immer das Wrack, das Sie jetzt vor sich sehen.«

»Ich hoffe, Mrs. Micawber und Ihre Familie befinden sich wohl, Sir?«

Mr. Micawber nickte bejahend. »Sie befinden sich so wohl, Maam«, bemerkte er verzweifelt nach einer Pause, »wie Fremdlinge und Ausgestoßene sich nur befinden können.«

»Mein Gott!« rief meine Tante in ihrer kurzen Art aus. »Was soll das heißen?«

»Der Lebensunterhalt meiner Familie, Maam, hängt in der Luft. Mein Brotgeber – «

Hier unterbrach er sich plötzlich und begann die Zitronen zu schälen, die ich ihm nebst andern Erfordernissen zur Punschbereitung hatte vorsetzen lassen.

»Ihr Brotgeber –« erinnerte Mr. Dick und schüttelte ihm aufmunternd seinen Arm.

»Mein bester Herr«, nahm Mr. Micawber seinen Faden wieder auf, »ich danke Ihnen, daß Sie mich wieder daraufbringen«. Sie schüttelten sich abermals die Hände. »Mein Brotgeber, Maam, – Mr. Heep – war einmal so liebenswürdig, mir anzudeuten, daß ich ohne seine Honorare für meine Dienste ein herumziehender Taschenspieler werden müßte, der Degenklingen verschluckt oder Feuer frißt. Wenn ich alles erwäge, so scheint es mir keineswegs unwahrscheinlich, daß meine Kinder dereinst ihr Brot durch Verrenkung ihrer Glieder suchen müssen, wobei Mrs. Micawber wohl diese widernatürlichen Kunststücke mit der Drehorgel unterstützen wird.«

Mit einer ausdrucksvollen Bewegung des Messers deutete Mr. Micawber an, daß diesem Beruf seiner Familie sein eigner Tod vorangehen würde; dann nahm er mit verzweiflungsvoller Miene die Zitronen wieder in Angriff.

Meine Tante lehnte sich mit den Ellbogen auf das runde Tischchen neben ihr und beobachtete ihn aufmerksam. Trotz der Abneigung, die mir der Gedanke einflößte, ihn gegen seinen Willen zu einer Enthüllung zu verlocken, wäre ich doch wahrscheinlich in ihn gedrungen, wenn er sich nicht gar so wunderlich benommen hätte. So warf er z. B. die Zitronenschalen in den Kessel, den Zucker in den Aschbecher und den Spiritus in den leeren Krug und wollte vertrauensvoll heißes Wasser aus einem Leuchter einschenken. Ich sah, daß die Krise herannahte.

Er schob plötzlich alle Punschrequisiten zusammen, stand vom Stuhle auf, zog das Taschentuch heraus und fing an zu weinen.

»Mein lieber Copperfield«, schluchzte er hinter dem Tuch hervor, »Punsch bereiten ist eine Verrichtung, die, mehr als jede andere, Seelenruhe und Selbstachtung erfordert. Ich kann es nicht. Darüber ist kein Zweifel mehr.«

»Mr. Micawber«, beruhigte ich ihn, »was haben Sie denn nur? Bitte, sprechen Sie sich aus! Sie sind doch unter Freunden.«

»Unter Freunden!« wiederholte Mr. Micawber, und alles, was er so lange niedergekämpft hatte, brach jetzt los. »Gott im Himmel, eben weil ich unter Freunden bin, befinde ich mich in diesem Gemütszustand. – Was eigentlich los ist, meine Herren? Schurkerei, Niederträchtigkeit, Heuchelei, Betrug, Verrat, Verschwörung ist los; und der Name der ganzen Niederträchtigkeit ist – Heep!«

Meine Tante schlug die Hände zusammen, und wir alle sprangen überrascht auf.

»Der Kampf ist vorbei«, sagte Mr. Micawber, heftig mit dem Taschentuch gestikulierend. Von Zeit zu Zeit streckte er die Hände aus, als müßte er gegen übermenschliche Hemmnisse anschwimmen. »Ich vermag dieses Leben nicht länger mehr zu tragen. Ich bin ein Elender, abgeschnitten von allem, was das Leben erträglich macht. Ich stehe unter einem bösen Zauber und bin diesem teuflischen Schurken verfallen. Gebt mir meine Frau zurück, meine Familie, setzt den Micawber wieder ein, wo der elende Kerl jetzt in den Schuhen, die ich anhabe, steht! Verlangen Sie von mir, daß ich morgen eine Degenklinge verschlucke, und ich will es tun. Mit Heißhunger!«

Ich sah noch nie im Leben einen Menschen so aufgeregt. Ich versuchte ihn zu beruhigen, aber er wurde immer hitziger und wollte nichts hören.

»Ich gebe niemand meine Hand mehr«, schrie er, nach Luft schnappend wie ein Ertrinkender, »bis ich – in Splitter – gesprengt habe die – ha – scheußliche – Schlange – Heep! Ich will niemandes Gastfreundschaft mehr annehmen, bis ich – den Berg Vesuv – zu einem Ausbruch – beschworen habe –, den gotteslästerlichen Schurken – Heep zu verschütten! Einen Bissen anzunehmen – unter diesem Dach oder gar Punsch – würde mich ersticken, – ehe ich nicht – diesem grenzenlosen Heuchler und Lügner – die Augen aus dem Kopf gequetscht habe. Ich will niemand – kennen – und – kein Wort mehr reden – und nirgendwo – mein Haupt niederlegen –, bis ich in unsichtbare Atome – zerschmettert habe – diesen unerhörten – meineidigen Schuft, – diesen Heep!«

Ich fürchtete fast, Mr. Micawber könnte auf der Stelle tot niederfallen. Die Art, mit der er sich durch seine unartikulierten Sätze hindurcharbeitete und mit einer Vehemenz, die ans Wunderbare grenzte, jedes Mal den Namen Heep hervorstieß, war schreckenerregend, und es sah wirklich aus, als läge er in den letzten Zügen. Ich wollte ihm beispringen, aber er wehrte mich ab und wollte nichts hören.

»Nein, Copperfield! – kein Wort – ah – Miss Wickfield – Genugtuung – für das Unheil, das dieser unerhörte Schuft – Heep – auf ihr Haupt geladen hat –, unverletzliches Geheimnis – vor der ganzen Welt – keine Ausnahme heute über acht Tage zur Frühstücksstunde –, alle müssen dabeisein – auch Ihre Tante – und der liebenswürdige freundliche Gentleman – im Gasthof in Canterbury –, wo – Mrs. Micawber und ich –, o die schönen alten Zeiten und der Chor ›Auld lang Syne‹ –, dort werde ich ihn entlarven, diesen schauderhaften Schurken – Heep! Nichts mehr jetzt – ich lasse mich nicht überreden! – Ich kann die Gesellschaft nicht mehr vertragen, – solange ich auf der Spur dieses verdammten Verräters bin – dieses – dieses – dieses – Heep!«

Mit diesem letzten Zauberwort, das ihm wieder neue Kraft gab, stürzte Mr. Micawber aus dem Haus und ließ uns in einem Zustand von Aufregung, Hoffnung und Verwunderung zurück, die sich nicht viel von seinem unterschied. Aber selbst dann ließ ihm seine Vorliebe für das Briefeschreiben keine Ruhe. Noch während wir im höchsten Grade aufgeregt beisammen saßen, kam folgender elegischer Brief aus einem nahen Wirtshaus, von seiner Hand geschrieben, an uns:

Höchst vertraulich und geheim!
Sehr verehrter Herr!

Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu ersuchen, mich bei Ihrer vortrefflichen Tante wegen meiner soeben an den Tag gelegten Aufregung zu entschuldigen. Der Ausbruch eines lange unterdrückten glimmenden Vulkans war die Folge eines innern Kampfes, der jeder Beschreibung spottet.

Ich hoffe, ich habe die Bitte um eine Zusammenkunft auf heute über acht Tage frühmorgens in dem Gasthof in Canterbury, wo Mrs. Micawber und ich einst die Ehre hatten, in dem wohlbekannten Liede des unsterblichen Dichters und Steuerbeamten, der jenseits des Tweed aufwuchs, unsere Stimmen mit der Ihrigen zu vereinen, leidlich verständig gemacht.

Wenn die Pflicht erfüllt und die Sühne vollbracht ist, die mich allein in den Stand setzen kann, meinen Mitmenschen wieder ins Antlitz zu schauen, wird man mich nie mehr wiedersehen. Mein einziger Wunsch wird sein, zur Ruhe zu kommen an jenem Ort, wo

»Reih an Reih des Dorfes Ahnen
in ewgem Schlummer ruhn in engen Zellen«
unter der einfachen Grabschrift:


Wilkins Micawber

50. Kapitel Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung


50. Kapitel Mr. Peggottys Traum geht in Erfüllung

Mehrere Monate waren seit unserer Begegnung am Ufer des Flusses verstrichen. Ich hatte Marta seitdem nicht mehr wiedergesehen, aber Mr. Peggotty war verschiedene Male mit ihr zusammengetroffen. Trotz ihres eifrigsten Bemühens hatte sie bisher nichts erreicht. Aus dem, was ich erfuhr, ging nichts über Emlys Schicksal hervor. Ich fing bereits an zu zweifeln, ob es jemals gelingen würde, sie wieder aufzufinden, und machte mich allmählich mit dem Gedanken, sie sei tot, vertraut.

Mr. Peggottys Glaube hingegen blieb unerschütterlich. Soviel ich weiß – und ich glaube, sein ehrliches Herz verbarg mir keinen seiner Gedanken –, wankte er niemals in seiner felsenfesten Überzeugung, daß er sie auffinden werde. Er wurde nie müde auszuharren, und es lag etwas so Religiöses, etwas so Rührendes in seiner Zuversicht, daß ich ihn von Tag zu Tag mehr achten und hochschätzen mußte.

Sein Glaube war kein träges Vertrauen, das nur hofft und nichts tut. Er war sein ganzes Leben lang ein Mann der Arbeit gewesen und wußte, daß er in allem, wo er Hilfe brauchte, selbst Hand anlegen und sich selbst helfen mußte. Ich kann mich erinnern, daß er einmal mitten in der Nacht aufstand, um nach Yarmouth zu wandern, von der Ahnung gequält, das Licht könnte durch einen Zufall nicht im Fenster des alten Bootes stehen. Ein andermal nahm er seinen Wanderstab, als er etwas in den Zeitungen gelesen hatte, was sich auf Emly beziehen konnte, und machte eine Reise von einigen Dutzend Meilen. Er fuhr zur See nach Neapel und zurück, nachdem er meinen Bericht, zu dem mir Miss Dartle verholfen, angehört hatte. Auf allen diesen Reisen gönnte er sich nicht die geringste Bequemlichkeit, denn er wollte Geld sparen um Emlys willen, wenn sie gefunden würde. In dieser ganzen langen Zeit hörte ich ihn niemals unwillig werden, hörte ihn niemals über Ermüdung oder Mutlosigkeit klagen.

Dora hatte ihn oft während unserer Ehe gesehen und recht lieb gewonnen. Ich sehe ihn noch vor mir neben ihrem Sofa stehen, die grobe Mütze in der Hand, während ihre blauen Augen mit schüchterner Verwunderung auf seinem Gesicht ruhten.

Manchmal abends in der Dämmerstunde, wenn er mich besuchte, bewog ich ihn, während wir langsam im Garten auf und ab gingen, seine Pfeife zu rauchen, und dann trat das Bild seines verlassenen Herdes und der trauliche Eindruck, den es auf meine Kinderaugen gemacht hatte, wenn das Feuer brannte und der Wind um die Hütte stöhnte, lebhaft vor meine Seele.

Um eine solche Stunde sagte er mir eines Tages, Marta habe am Abend vorher vor seiner Wohnung gewartet, bis er nach Hause kam, und ihn gebeten, er möge jetzt um keinen Preis London verlassen, ehe sie ihn nicht abermals gesprochen hätte.

»Sagte sie Ihnen, warum?« fragte ich.

»Ich fragte sie, Masr Davy, aber sie sprach nur wenige Worte, ließ sich bloß mein Versprechen geben und ging wieder.«

»Sagte sie nicht, wann sie wiederkommen wollte?«

»Nein, Masr Davy«, entgegnete er und strich sich mit der Hand gedankenvoll über die Stirn. »Ich fragte sie auch das, aber sie antwortete, sie wüßte es nicht.«

Da ich mir längst abgewöhnt hatte, Hoffnungen zu bestärken, die an Spinnfäden hingen, sagte ich weiter nichts, als daß ich hoffte, es werde bald geschehen. Die Vermutungen, die mir durch den Kopf schossen, behielt ich für mich.

 

Etwa vierzehn Tage später ging ich allein eines Abends in meinem Garten auf und ab. Ich kann mich noch recht auf den Tag besinnen. Es war der zweite in der von Mr. Micawber festgesetzten Woche. Es hatte von früh an geregnet, und die Luft war feucht. Die Blätter auf den Bäumen waren schwer von Tropfen, und der Regen hatte aufgehört, obgleich der Himmel noch voll Wolken hing, und die Vögel zwitscherten fröhlich. Ich ging im Garten auf und ab, die Dämmerung umschloß mich dichter und dichter, und allmählich verstummte das Zwitschern; die eigentümliche Stille, die an solchen Abenden auf dem Lande herrscht, wo kein Geräusch außer dem Fallen der Regentropfen von den Zweigen in der Luft zu hören ist, fing an einzutreten.

An unserm Landhaus entlang führte ein kleiner Laubengang von Efeu, durch den ich aus dem Garten auf die Straße draußen blicken konnte. In Gedanken verloren wandte ich zufällig meine Blicke dorthin und sah eine Gestalt in einem einfachen Mantel draußen stehen. Sie beugte sich zu mir herüber und winkte.

»Marta!« rief ich und eilte auf sie zu.

»Können Sie mitkommen?« fragte sie mit erregtem Flüstern. »Ich war bei ihm, und er ist nicht zu Hause. Ich habe das Haus, wohin er kommen soll, aufgeschrieben und die Adresse selbst auf seinen Tisch gelegt. Es hieß, er könne nicht lang ausbleiben. Ich habe Nachrichten für ihn. Können Sie gleich mitkommen?«

Ich trat augenblicklich durch das Gartentor hinaus. Sie winkte mir hastig mit der Hand, als wollte sie mich um Geduld und Schweigen bitten, und wendete sich London zu, von wo sie, wie ihr Kleid verriet, zu Fuß gekommen sein mußte.

Ich fragte, ob das unser Ziel sei, und da sie mit derselben hastigen Gebärde wie vorhin bejahte, ließ ich einen vorbeifahrenden Fiaker anhalten, und wir stiegen ein. Als ich sie fragte, wohin uns der Kutscher fahren sollte, gab sie zur Antwort: »In die Nähe von Golden Square, und so rasch wie möglich! – « Dann lehnte sie sich in die Ecke, winkte mir ab, als ob sie keine Menschenstimme ertragen könnte, und bedeckte sich mit zitternder Hand das Gesicht.

In größter Spannung, voll Furcht und Hoffnung, sah ich sie fragend an. Aber als ich begriff, wie viel ihr daran lag zu schweigen, gab ich meinen Versuch auf. Wir fuhren weiter, ohne ein Wort zu sprechen. Zuweilen sah sie zum Fenster hinaus, wie in Ungeduld, obgleich wir sehr rasch fuhren.

Wir stiegen endlich in der Nähe des von ihr bezeichneten Platzes aus, und ich ließ den Wagen warten, da ich nicht wußte, ob wir ihn nicht vielleicht später wieder brauchen würden. Sie hatte die Hand auf meinen Arm gelegt und riß mich rasch fort nach einer der dunkeln Straßen, wo damals die Häuser seit langem zu Armenwohnungen herabgesunken waren. Als wir zu der offenen Tür eines dieser Gebäude kamen, ließ sie meinen Arm los und winkte mir, ihr die Treppe hinauf zu folgen.

Das Haus war überfüllt von Bewohnern. Frauen und Kinder, deren Neugierde wir erregt zu haben schienen, spähten in den Fenstern über Blumentöpfen herab, und als wir die Treppe hinaufgingen, kamen uns Leute entgegen; es öffneten sich Zimmertüren, und Gesichter guckten heraus. Die Treppen waren breit – an der einen Seite mit dunkelm Getäfel versehen, an der andern mit massiven Ballustraden aus dunkelm Holz, über den Türen reich mit Früchten und Blumen verzierte Friese und in den Fenstern breite Sitze. Aber alle diese Zeichen entschwundener Pracht sahen jetzt greulich verfallen und schmutzig aus; Schwamm, Fäulnis und Alter hatten den an vielen Stellen baufälligen und eingebrochnen Flur angegriffen. Wie ich bemerkte, waren Versuche gemacht worden, neues Blut in den verfallenden Körper zu bringen, indem man die kostbare alte Holzarbeit hie und da mit ordinärem Fichtenholz ausgebessert hatte; es sah aus wie die Verbindung eines herabgekommenen alten Adligen mit einem armen Weib aus dem Volke, und jeder Teil dieser Mesalliance zog sich scheu vor dem andern zurück. Mehrere Treppenfenster waren verdunkelt oder ganz zugemauert, und in den vorhandenen saßen nur noch wenige Scheiben in morschen Rahmen. Sie boten die Aussicht auf andre scheibenlose Fenster in Häusern ähnlicher Beschaffenheit gegenüber, und schwindelnd sah ich hinab in den schmutzigen Hof, der den gemeinsamen Kehrichtplatz des ganzen Gebäudes bildete.

Wir stiegen bis ins oberste Stockwerk. Zwei- oder dreimal glaubte ich unterwegs in dem ungewissen Licht die Schleppe eines Frauenkleides vor uns hinaufsteigen gesehen zu haben. Als nur mehr eine Treppe zwischen uns und dem Dach war, bemerkten wir, daß die Gestalt einen Augenblick vor einer Tür stehenblieb und dann eintrat.

»Wer ist das?« flüsterte Marta mir zu. »Sie ist in mein Zimmer gegangen! Ich kenne sie nicht!«

Ich hatte sie sehr wohl erkannt. Es war zu meinem Erstaunen Miss Dartle.

Ich erklärte meiner Führerin mit wenigen Worten, daß es eine mir bekannte Dame sei, und hatte kaum ausgesprochen, als wir die Stimme Miss Dartles im Zimmer drin hörten, wenn wir auch nicht verstehen konnten, was sie sagte. Mit verwundertem Gesichte bedeutete mir Marta zu schweigen und führte mich leise die Treppe hinauf und durch eine kleine Seitentür ohne Schloß, die sie mit der Hand aufstieß, in eine kleine leere Dachkammer.

Aus diesem Raum führte in ihr Zimmer eine kleine Tür, die jetzt halb offenstand. Hier blieben wir stehen, noch außer Atem vom Treppensteigen, und sie legte ihre Hand leise auf meine Lippen. Von dem andern Zimmer konnte ich nur sehen, daß es ziemlich geräumig war, daß ein Bett darin stand und an den Wänden einige kunstlose Abbildungen von Schiffen hingen. Weder ich noch meine Gefährtin konnten Miss Dartle oder die Person, die sie angeredet hatte, sehen.

Marta hielt mir immer noch die Hand auf meine Lippen und horchte.

»Es ist mir gleichgültig, ob sie zu Hause ist«, sagte Rosa Dartle hochmütig. »Ich kenne sie gar nicht. Ich komme zu Ihnen!«

»Zu mir?« fragte eine sanfte Stimme.

Bei ihrem Klange durchzuckte es mich. Es war Emlys Stimme.

»Ja«, gab Miss Dartle zur Antwort, »ich komme, um Sie zu sehen. Schämen Sie sich nicht des Gesichtes, das so viel Unheil angestiftet hat?«

Bei dem Tone entschlossen und unbarmherzigen Hasses und der mit Gewalt niedergehaltnen Wut sah ich Miss Dartle so deutlich vor mir, als ob sie leibhaftig vor mir stünde. Ich sah die flackernden schwarzen Augen, die von Leidenschaft verzehrte Gestalt, sah die Narbe mit dem weißen Streif quer über die Lippen zittern und zucken, wie sie sprach:

»Ich wollte James Steerforths Liebste sehen. Die Dirne, die mit ihm davonlief und das Stadtgespräch der gemeinsten Leute ihres Geburtsortes ist, – die freche abgefeimte Gefährtin eines Menschen wie James Steerforth. Ich wollte wissen, wie so ein Geschöpf aussieht!«

Ich hörte ein Geräusch, als ob die Unglückliche nach der Tür eilte und Miss Dartle rasch dazwischenträte. Dann folgte eine kurze Pause.

Als Miss Dartle wieder anfing zu reden, sprach sie durch die Zähne und stampfte auf den Fußboden:

»Hierbleiben!« sagte sie, »oder ich will dem ganzen Haus und der ganzen Straße sagen, wer Sie sind! Wenn Sie versuchen, mir davonzulaufen, werde ich Sie festhalten und wenns an den Haaren sein müßte!«

Ein eingeschüchtertes Murmeln war die einzige Antwort, die an mein Ohr drang. Wieder folgte ein Schweigen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. So sehr ich wünschte, dem Gespräch ein Ende zu machen, so fühlte ich doch, daß ich kein Recht hätte, mich hineinzumischen und daß nur Mr. Peggotty dies tun dürfte. Kommt er immer noch nicht? dachte ich voll Ungeduld.

»So!« sagte Rosa Dartle mit einem verächtlichen Lachen. »Sehe ich Sie endlich! Wie erbärmlich er sein muß, daß er sich von einem solchen duckmäuserischen scheinheiligen Geschöpf fangen ließ.«

»Um Gottes willen, seien Sie barmherzig!« rief Emly. »Wer Sie auch sein mögen, Sie kennen meine jammervolle Geschichte. Um Gottes willen, seien Sie barmherzig, wenn Gott gegen Sie dereinst barmherzig sein soll.«

»Wenn Gott gegen mich barmherzig sein soll!« entgegnete die andere heftig. »Was glauben Sie eigentlich, daß wir miteinander gemein haben!«

»Nichts als unser Geschlecht!« sagte Emly und brach in Tränen aus.

»Und das ist ein derartig starker Anspruch, wenn er von so einer infamen Person erhoben wird«, sagte Miss Dartle, »daß ich Ihnen den Mund verbieten würde, wenn ich ein anderes Gefühl als Verachtung und Abscheu vor Ihnen hätte. Unser Geschlecht! Sie sind mir eine Ehre für unser Geschlecht!«

»Ich habe das verdient«, rief Emly, »aber es ist entsetzlich! O, bedenken Sie, was ich gelitten habe und wie tief ich gefallen bin! Marta, Marta, um Gottes willen, komm, komm zurück!«

Miss Dartle setzte sich auf einen Stuhl der Türe gegenüber und blickte zu Boden, als ob Emly vor ihr läge. Da sie jetzt zwischen mir und dem Lichte saß, konnte ich ihre von Hohn verzognen Lippen und ihre grausamen Augen sehen, die sich in gierigem Triumph auf eine Stelle außer meinem Sehbereich hefteten.

»Hören Sie jetzt, was ich Ihnen sage, und sparen Sie Ihre heuchlerischen Künste für Ihre Dummköpfe auf. Sie werden doch nicht glauben, daß Sie mich durch Ihre Tränen rühren können? Sowenig Sie mich durch Ihr Lächeln täuschen könnten, Sie feige Sklavin!«

»Haben Sie Erbarmen!«, jammerte Emly. »Haben Sie Erbarmen oder ich werde wahnsinnig!«

»Das wäre keine genügende Strafe für Ihr Verbrechen. Wissen Sie, was Sie getan haben? Denken Sie jemals an das Haus, das Sie verwüstet haben?«

»O, es gibt keinen Tag und keine Nacht, wo ich nicht daran dächte«, rief Emly; und jetzt konnte ich sie sehen, wie sie auf den Knieen lag, den Kopf zurückgeworfen, verzweiflungsvoll die Hände ringend, während ihr das Haar in Unordnung auf die Schultern fiel. »Ist jemals im Wachen oder im Träumen eine einzige Minute vergangen, wo ich das alte Haus nicht vor mir sah, so deutlich wie an jenem unglücklichen Tage, wo ich ihm auf ewig den Rücken kehrte! Mein Heim! Mein Heim!«

Sie sank mit dem Kopf nieder auf den Boden vor der hochmütigen Gestalt auf dem Stuhl und machte einen Versuch, flehend deren Kleid zu fassen.

Rosa Dartle blieb sitzen und sah auf sie herab, so unbeweglich wie eine Erzfigur. Sie preßte ihre Lippen fest zusammen, als müßte sie sich Zwang antun, die Ärmste nicht mit dem Fuß von sich zu stoßen.

Ich sah sie deutlich, und alles in ihr schien sich in diesem Ausdruck zusammenzudrängen.

»Kommt er denn noch immer nicht!?«

»Die jämmerliche Eitelkeit dieses Ungeziefers«, sagte sie, als sie ihre Wut so weit bezwungen hatte, daß sie wieder sprechen konnte. »Ihre Familie! Bilden Sie sich ein, daß ich nur einen Moment daran denke, oder glauben Sie wirklich, Sie könnten denen einen Schaden tun, den Geld nicht reichlich ersetzen könnte? Ihre Familie! Sie gehörten mit zum Geschäft Ihrer Familie und wurden gehandelt wie jede andere Ware. Nichts weiter!«

»Sagen Sie das nicht!« rief Emly. »Sagen Sie von mir, was Sie wollen, aber lassen Sie meine Schmach und Schande nicht Leuten entgelten, die so ehrenhaft sind wie Sie. Haben sie Achtung vor ihnen, wenn Sie eine Dame sind, wenn Sie schon kein Erbarmen mit mir fühlen.«

»Ich spreche«, entgegnete Rosa Dartle, ohne das geringste Mitgefühl mit der vor ihr knienden Emly und ihr Kleid mit Ekel zurückziehend, »ich spreche von seiner Familie, – in der ich lebe!«

»Hier«, sagte sie und deutete mit der Hand auf die Kniende herab, »hier sehe ich die wertvolle Veranlassung des Zerwürfnisses zwischen einer vornehmen Dame und ihrem Sohn, – des Jammers in einem Hause, wo man Sie nicht als Dienstmagd angenommen hätte. Dieses Stück Schmutz aufgelesen am Meeresufer, um eine Stunde lang hochgehalten und dann wieder an seinen ursprünglichen Platz geworfen zu werden!«

»Nein, nein!« rief Emly und rang verzweiflungsvoll die Hände. »Als ich ihn das erste Mal sah, war ich so tugendhaft aufgewachsen wie Sie oder jede andere Dame und sollte das Weib eines so vortrefflichen Mannes werden, wie Sie oder irgendeine andere Dame auf der Welt nur heiraten können. Wenn Sie in seiner Familie leben und ihn kennen, so werden Sie vielleicht wissen, welche Gewalt er auf ein eitles schwaches Mädchen auszuüben vermag. Ich will mich nicht verteidigen, aber ich weiß so genau, wie er es weiß oder wissen wird, wenn seine Sterbestunde kommt und sein Gewissen ihm keine Ruhe mehr läßt, daß er alle seine Gewalt über mich dazu mißbrauchte, mich zu täuschen, und daß ich ihm glaubte, ihm vertraute und ihn liebte.«

Rosa Dartle sprang von ihrem Stuhle auf, taumelte zurück und schlug beim Taumeln nach Emly mit einem Gesicht voll solcher Bosheit, so verzerrt und entstellt von Leidenschaft, daß ich mich schon zwischen die beiden werfen wollte. Doch der blind geführte Schlag traf nur die Luft. Wie sie jetzt keuchend dastand und Emly mit dem äußersten Abscheu, dessen sie fähig war, ansah vom Kopf bis zu den Füßen, vor Wut und Verachtung am ganzen Leibe zitternd, da glaubte ich nie etwas Ähnliches gesehen zu haben. »Sie ihn lieben! Sie!« rief sie und ballte die Faust, als fehle ihr nur die Waffe, um die Ärmste niederzustoßen.

Emily war zurückgewichen, so daß ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich hörte keine Antwort.

»Und mir das zu sagen, mit diesen schmachbedeckten Lippen! Warum peitscht man solche Geschöpfe nicht aus? Wenn ich zu befehlen hätte, würde ich diese Dirne zu Tode peitschen lassen.«

Und sie hätte es getan, das bezweifle ich keinen Augenblick. Ich hätte sie nicht zur Aufseherin über die Folterbank machen mögen, solange sie diesen wütenden Blick behielt.

Langsam, ganz langsam brach sie in ein Gelächter aus und deutete auf Emly wie auf ein Bild der Schmach für Gott und die Menschen.

»Sie lieben«, sagte sie, »dieses Aas! Und er sollte jemals etwas auf sie gegeben haben, möchte sie mir einreden! Haha! Wie diese feilen Dirnen lügen können.« Ihr Hohn war schlimmer gewesen als jetzt ihre schrankenlose Wut. Nur einen Augenblick war sie losgebrochen, dann hatte sie sie wieder festgekettet; und wie sehr es sie innerlich auch zerreißen mochte, sie gestattete ihr keinen neuen Ausbruch.

»Ich kam hierher, Sie reiner Liebesborn, um zu sehen, wie Geschöpfe Ihrer Art aussehen. Ich war neugierig und bin jetzt befriedigt. Ich wollte Ihnen auch sagen, daß Sie am besten tun, Ihre Familie sobald wie möglich aufzusuchen und Ihr Haupt unter den vortrefflichen Leuten zu verbergen, die Sie erwarten und die Ihr Geld trösten wird. Wenn es alle ist, können Sie ja wieder glauben und vertrauen und lieben. Ich hielt Sie für ein zerbrochenes ausgedientes Spielzeug, für einen wertlosen Flitter, der den Glanz verloren hat und weggeworfen wird, aber da Sie treues Gold sind, eine echte Dame und eine verführte Unschuld mit einem Herzen voll Liebe und Vertrauen – Sie sehen ganz danach aus, und es stimmt mit Ihrer Geschichte so gut überein –, so habe ich Ihnen noch etwas zu sagen. Merken Sie wohl auf, denn was ich Ihnen sage, werde ich auch ausführen. Hören Sie, Sie zarte Fee, was ich sage! Ich werde es auch ausführen!«

Ihre Wut gewann wieder einen Augenblick die Oberhand, aber sie ging über ihr Gesicht wie ein Krampf und ließ nur ein Lächeln zurück.

»Verbergen Sie sich irgendwo! Wenn nicht zu Hause, so irgendwo, wo man Sie nicht erreichen kann, in einem obskuren Leben – oder noch besser – im obskuren Tod. Ich möchte überhaupt gern wissen, warum Sie keinen Weg gefunden haben, Ihrem liebenden Herzen Stille zu gebieten, wenn es schon nicht brechen wollte. Ich habe von solchen Mitteln gehört. Ich glaube, sie müßten leicht zu finden sein!«

Ein leises Weinen Emlys unterbrach sie hier. Sie schwieg und horchte darauf, als ob es ihr Musik wäre.

»Ich bin vielleicht seltsam geartet«, fuhr Rosa Dartle fort, »aber ich kann nicht frei atmen in der Luft, die Sie atmen. Sie macht mich krank. Deshalb will ich sie rein haben. Sie soll nicht länger von Ihnen verpestet werden. Wenn Sie morgen noch hier sind, so soll das ganze Haus Ihre Geschichte erfahren und was Sie sind. Ich höre, es wohnen anständige Frauen im Hause, und es wäre jammerschade, wenn solch ein Geschöpf wie Sie unter ihnen leben dürfte. Wenn Sie hier wegziehen und sich in dieser Stadt unter einer andern Beschäftigung als Ihrer wahren verbergen wollen, so werde ich dasselbe tun, sowie ich Ihren Zufluchtsort erfahre. Da ich von einem Gentleman unterstützt werde, der vor nicht langer Zeit um die Ehre Ihrer Hand warb, werde ich schon dahinterkommen.«

 

Kommt er denn immer und immer noch nicht?!

 

»O Gott, o Gott!« rief die Unglückliche in einem Ton aus, der das härteste Herz hätte erweichen müssen; aber in Rosa Dartles Lächeln zeigte sich keine Veränderung.

»Was soll ich tun! Was soll ich tun!«

»Tun? In dem Glück Ihrer Erinnerung leben! Ihr Dasein der Erinnerung an James Steerforths Zärtlichkeit widmen; er wollte Sie doch seinem Bedienten zur Frau geben, nicht wahr –? Oder den trefflichen Menschen, der Sie von ihm übernehmen wollte, heiraten und in seiner Herablassung in Glück schwelgen. Und, wenn Sie keines von beiden tun wollen, so sterben Sie doch! Für solche Todesarten gibt es Hausflure und Kehrichthaufen genug … Suchen Sie einen und schweben Sie hinauf zum Himmel!«

Ich hörte Tritte auf der Treppe. Ich erkannte sie sogleich. Er war es! Gott sei Dank!

Miss Dartle war bei ihren letzten Worten von der Türe weggegangen, und ich sah sie nicht mehr.

»Also vergessen Sie nicht«, hörte ich sie noch sagen, als sie die Ausgangstüre öffnete. »Ich bin entschlossen, bewogen von gewissen Gründen und von Haßgefühl, Sie bis aufs äußerste zu verfolgen, wenn Sie nicht aus meinem Bereiche fliehen oder Ihre Maske fallen lassen. Das wollte ich Ihnen sagen, und was ich sage, führe ich auch aus.«

 

Die Tritte auf der Treppe kamen näher und näher, schritten an Rosa Dartle vorüber, als sie hinunterging, – traten ins Zimmer.

»Onkel!«

Ein schrecklicher Schrei folgte. Ich wartete einen Augenblick, blickte dann ins Zimmer und sah, wie er sie in seinen Armen hielt. Er sah ihr ein paar Sekunden ins Gesicht, dann küßte er es zärtlich und deckte ein Tuch darüber.

»Masr Davy«, sagte er darauf mit leiser bebender Stimme, »ich danke meinem himmlischen Vater, daß er meinen Traum wahr werden ließ! Ich danke ihm aus vollem Herzen, daß er mich auf seinen eignen Wegen zu meinem Liebling geführt hat.«

Mit diesen Worten hob er Emly in die Höhe und trug die Regungs- und Bewußtlose, das verhüllte Gesicht an seiner Brust geborgen, die Treppe hinunter.

33. Kapitel Wonne


33. Kapitel Wonne

Die ganze Zeit über trug ich Dora glühender im Herzen als je. Der Gedanke an sie war mir Zuflucht in Leid und Kummer und tröstete mich sogar einigermaßen für den Verlust meines Freundes. Je mehr Mitleid ich mit mir selbst oder anderen empfand, desto mehr suchte ich Trost in Doras Bild.

Ich war sozusagen ganz in Dora aufgegangen, sozusagen ganz und gar von ihr durchtränkt.

Das erste, was ich nach meiner Rückkehr tat, war ein Nachtspaziergang nach Norwood, um dort zwei Stunden lang das Haus und den Garten wie einen Feenpalast aus Kinderträumen zu umkreisen und an Dora zu denken. Ich ging wie ein Mondsüchtiger um das Haus herum, guckte durch die Spalten in dem Gartenzaun oder hob mit größter Anstrengung mein Kinn über die verrosteten Nägel auf der obersten Planke, um den Lichtern in den Fenstern Küsse zuzuwerfen und die Nacht anzurufen, meine Dora zu beschirmen, – ich weiß nicht mehr recht, wovor, wahrscheinlich vor Feuer. Vielleicht auch vor Mäusen, die sie fürchterlich verabscheute.

Meine Liebe erfüllte mich derart, daß ich sie natürlich Peggotty anvertraute, als sie eines Abends, eifrig mit der Ausbesserung meiner Garderobe beschäftigt, neben mir saß. Selbstverständlich teilte ich ihr das große Geheimnis nur in Bruchstücken mit. Peggotty interessierte sich lebhaftest für meinen Fall, aber zu meiner Auffassung der Sache konnte sie sich nicht bekehren. Sie war außerordentlich zu meinen Gunsten eingenommen und wollte durchaus nicht begreifen, warum ich meine Zweifel hatte oder niedergeschlagen sein konnte.

»Die junge Dame kann sich zu einem solchen Verehrer gratulieren«, bemerkte sie, »und was den Alten betrifft, um Gotteswillen, was will er denn eigentlich?«

Ich bemerkte jedoch, daß der Proktortalar und die steife Halsbinde Peggotty ein wenig einschüchterten und ihr Furcht vor Mr. Spenlow einflößten, der in meinen Augen von Tag zu Tag immer ätherischer wurde, bis er in seinem Strahlenglanze mir wie ein kleiner Leuchtturm in einem Meer von Pergament und Papier vorkam, wenn er unter seinen Akten im Gerichtssaal saß.

Wenn ich bei einer Verhandlung die schläfrigen alten Richter und Doktoren ansah und bedachte, daß sie sich um Dora nicht kümmern würden, auch wenn sie sie kannten, daß keiner vor Entzücken den Verstand verloren hätte bei der bloßen Aussicht auf eine Heirat mit Dora und daß ihre bezaubernde Gitarre und ihr Gesang auch nicht einen von diesen schläfrigen Philistern einen Zoll vom Wege gelockt hätte, verachtete ich sie alle ohne Ausnahme.

Nicht ohne Stolz übernahm ich die Ordnung von Peggottys Angelegenheit. Ich ließ das Testament bestätigen, erlegte die Erbschaftssteuer, brachte Peggotty persönlich in die Bank und hatte bald alles erledigt. Dem allzu trocknen juristischen Charakter dieser Beschäftigung gaben wir dadurch eine Abwechslung, daß wir uns ein schwitzendes Wachsfigurenkabinett in Fleetstreet, das inzwischen hoffentlich geschmolzen ist, und Miss Linwoods Ausstellung ansahen, die eine Art Mausoleum für Häkelei war; dann besuchten wir noch den Tower und stiegen in die Kuppel der St.-Pauls-Kirche. Alle diese Wunderwerke machten so viel Eindruck, wie es die gegebenen Verhältnisse nur erlaubten, auf Peggotty. Bloß die St.-Pauls-Kirche wurde ihrer Ansicht nach von dem Bilde auf dem Deckel des Arbeitskästchens in verschiedenen Einzelheiten übertroffen …

Nachdem die Angelegenheiten in den Commons abgemacht war, führte ich Peggotty hinunter in die Kanzlei, um ihre Rechnung zu bezahlen. Mr. Spenlow war fortgegangen, wie mir der alte Tiffey sagte, um einen Herrn wegen eines Ehescheins zu vereidigen. Da er aber bald wiederkommen mußte, warteten wir.

Wir machten es uns in den Commons zur Regel, immer mehr oder weniger betrübt dreinzusehen, wenn wir mit Klienten in Trauer zu tun hatten. Von demselben Zartgefühl bewegt, schnitten wir immer heitere und freundliche Gesichter, wenn jemand wegen eines Trauscheins kam. Ich bereitete deshalb Peggotty darauf vor, daß sie Mr. Spenlow fast ganz von der Erschütterung über Mr. Barkis‘ Tod hergestellt sehen würde; und wirklich trat er auch lustig wie ein Bräutigam ein.

Aber weder Peggotty noch ich hatten Augen für ihn, als wir in seinem Begleiter – Mr. Murdstone erkannten.

Mr. Murdstone hatte sich sehr wenig verändert. Sein Haar war so voll und schwarz wie je, sein Blick so wenig vertrauenerweckend wie früher.

»Ah, Copperfield!« sagte Mr. Spenlow. »Sie kennen diesen Herrn, glaube ich.«

Ich machte Mr. Murdstone eine kalte Verbeugung. Peggotty tat, als ob sie ihn kaum kannte. Anfangs war er sehr betroffen, uns beide zusammenzusehen, faßte sich aber sogleich und kam auf mich zu.

»Ich hoffe, Sie befinden sich wohl«, sagte er.

»Das kann Sie schwerlich interessieren. Ja, wenn Sies schon wissen wollen.«

Wir sahen einander in die Augen, dann wendete er sich an Peggotty.

»Und wie geht es Ihnen? Ich habe zu meinem Leidwesen erfahren, daß Ihr Gatte gestorben ist.«

»Es ist nicht der erste Verlust in meinem Leben, Mr. Murdstone«, gab ihm Peggotty, am ganzen Leibe zitternd, zur Antwort. »Ich bin nur froh, daß niemand an diesem Verlust schuldig ist.«

»O«, sagte er, »das ist ein großer Trost. Sie haben Ihre Pflicht erfüllt.«

»Ich habe keines Menschen Leben vergiftet. Gott sei Dank, nein, Mr. Murdstone! Ich habe kein liebes Geschöpf gepeinigt und gequält und in ein frühes Grab gebracht.«

Er sah sie düster – reuevoll –, wie mir vorkam, einen Augenblick an und sagte dann zu mir, ohne mir ins Gesicht zu sehen:

»Wir werden uns wahrscheinlich nicht so bald wieder treffen, wahrscheinlich zu unser beider Befriedigung, denn derartige Begegnungen können niemals angenehm sein. Ich erwarte nicht, daß Sie mich jetzt mit freundlicheren Augen ansehen werden, wo Sie sich schon damals immer gegen meine berechtigte Autorität, die nur zu Ihrem Guten und zu Ihrer Besserung angewandt wurde, auflehnten. Eine Antipathie herrscht zwischen uns –«

»Eine alte, glaube ich. –«

Er lächelte und sah mich voll Haß mit seinen dunkeln Augen an. »Sie keimte schon in Ihrer Brust, als Sie noch ein Kind waren, und verbitterte das Leben Ihrer armen Mutter. Sie haben recht! Ich hoffe, Sie werden sich noch bessern.«

Damit endete das Zwiegespräch, das leise in einer Ecke der Kanzlei außerhalb von Mr. Spenlows Zimmer geführt worden war.

Mr. Murdstone sagte jetzt mit seiner sanftesten Stimme:

»Gentlemen von Mr. Spenlows Beruf sind an Familienzwistigkeiten gewöhnt und wissen, wie verwickelt und schwer sie zu schlichten sind.«

Mit diesen Worten bezahlte er seinen Trauschein und verließ, von einem höflichen Glückwunsch Mr. Spenlows für sich und seine künftige Gattin begleitet, die Kanzlei.

Es wäre mir vielleicht schwerer geworden, mich Mr. Murdstone gegenüber zu bezähmen, wenn ich weniger auf Peggotty hätte achtgeben müssen.

Mr. Spenlow schien nicht zu wissen, wie ich mit Mr. Murdstone stand. Wenn er überhaupt eine Ansicht in der Sache hatte, war es die, daß meine Tante die Führerin der Regierungspartei in unserer Familie repräsentierte, während irgend jemand anders an der Spitze einer aufrührerischen Partei stehe, – so schloß ich wenigstens aus seinen Äußerungen, während Mr. Tiffey Peggottys Rechnung zusammenstellte.

»Miss Trotwood«, bemerkte er, »ist von sehr entschiedenem Charakter und gibt der Opposition nicht so leicht nach. Ich kann Ihnen nur gratulieren, Copperfield, daß Sie auf der richtigen Seite stehen. Zwistigkeiten unter Verwandten sind sehr beklagenswert aber außerordentlich häufig, und die Hauptsache ist, daß man immer auf der rechten Seite steht.«

Damit meinte er nach meinem Dafürhalten die reiche Seite.

»Ich glaube, Mr. Murdstone macht eine gute Partie«, fuhr er fort.

Ich sagte, daß ich gar nichts von der Sache wisse.

»Nach den wenigen Worten, die Mr. Murdstone fallenließ, und nach dem, was ich von seiner Schwester erfuhr, muß es eine ganz gute Partie sein.«

»Ist sie reich?« fragte ich.

»Ja, sie soll Geld haben. Sie ist auch schön, wie ich höre.«

»So, so. Ist sie noch jung?«

»Soeben mündig geworden. Vor so kurzer Zeit, daß ich fast glaube, sie hat darauf gewartet.«

»Der Herr erbarme sich ihrer!« rief Peggotty aus, so feierlich und unerwartet, daß wir alle drei ganz aus der Fassung gerieten; dann kam Tiffey mit der Rechnung.

Das Kinn in die Halsbinde gesteckt reibend, ging Mr. Spenlow die einzelnen Posten mit betrübtem Gesicht durch, als ob an allem Jorkins allein schuld wäre, und gab das Papier Tiffey mit einem Seufzer zurück.

»Ja«, sagte er, »es ist in Ordnung, ganz in Ordnung. Ich würde mich außerordentlich glücklich schätzen, Copperfield, wenn ich die Rechnung auf die Barauslagen hätte beschränken können. Aber es ist eine unangenehme Seite meines Geschäftslebens, daß ich meinen Wünschen nie freien Lauf lassen darf. Ich habe einen Associe, Mr. Jorkins!«

Da er das mit sanfter Melancholie aussprach, – mehr konnte man von ihm doch nicht erwarten – so dankte ich ihm in Peggottys Namen und bezahlte Tiffey in Banknoten. Peggotty kehrte in ihre Wohnung zurück, und Mr. Spenlow und ich gingen aufs Gericht, wo eine Scheidungsklage verhandelt wurde, die sich auf einen sehr scharfsinnigen Paragraphen stützte, der jetzt, glaube ich, abgeschafft ist, kraft dessen aber damals manche Ehe in Brüche ging. Der Gatte, dessen Vorname Thomas Benjamin war, hatte sich einen Trauschein nur auf den Namen Thomas ausstellen lassen, falls es ihm in der Ehe nicht so gefallen sollte, wie er erwartete. Und da er jetzt sich oder seine Frau satt hatte, erschien er nach einer Ehe von ein oder zwei Jahren und erklärte Thomas Benjamin zu heißen und überhaupt nicht verheiratet zu sein. Und das bestätigte das Gericht zu seiner großen Zufriedenheit.

Ich muß gestehen, daß ich so meine Zweifel über die Gerechtigkeit dieses Richterspruchs hegte und mich nicht einmal durch Betrachtung des Gleichnisses vom hohen Weizenpreis aussöhnen ließ.

Mr. Spenlow sprach die Sache mit mir durch. Er sagte: »Sehen Sie die Welt an; sie hat ihre guten und schlechten Seiten. Sehen Sie das Kirchenrecht an; es hat seine guten und seine schlechten Seiten. Alles gehört zu einem System und ist untrennbar voneinander. Sehr gut. Da haben wirs.«

Ich war nicht kühn genug, Doras Vater zu entgegnen, daß man vielleicht die Welt ein wenig bessern könnte, wenn man früh aufstünde und sich mit Eifer an die Arbeit machte; aber ich äußerte wenigstens die Meinung, daß man die Commons bessern könnte.

Mr. Spenlow riet mir angelegentlichst, solchen Gedanken, als eines Gentleman unwürdig, fallenzulassen, daß es ihm aber angenehm sein würde zu hören, in welcher Hinsicht die Commons denn verbessert werden könnten.

Wir vertieften uns in ein langes diesbezügliches Gespräch, gingen dann auf allgemeinere Themen über, und so erfuhr ich, daß in acht Tagen Doras Geburtstag sei. Mr. Spenlow sagte, er würde sich freuen, mich an diesem Tag zu einem kleinen Picknick bei sich zu sehen. Ich verlor sofort den Verstand und wurde am nächsten Tag vollständig irrsinnig, als ich ein feines, durchbrochen gerändertes Billett des Inhalts empfing: »Auf Papas Wunsch. Bitte nicht zu vergessen.«

Ich glaube, ich machte mich bei der Vorbereitung auf das herrliche Fest jeder nur denkbaren Überspanntheit schuldig. Ich werde noch heute rot, wenn ich an die Krawatte denke, die ich mir kaufte. Meine Stiefel würden in jede Sammlung von Folterwerkzeugen gepaßt haben. Ich erstand einen delikaten kleinen Speisekorb, der an sich fast schon eine Liebeserklärung bedeutete. Er enthielt unter anderm Knallbonbons mit den zärtlichsten Sprüchen, die sich für Geld auftreiben ließen. Um sechs Uhr früh war ich schon auf dem Covent-Garden-Markt und kaufte ein Sträußchen für Dora. Um zehn Uhr saß ich im Sattel – ich hatte mir einen feurigen Eisenschimmel gemietet –, die Blumen unter dem Hut, um sie frisch zu erhalten, und trabte nach Norwood.

Als ich Dora im Garten erblickte und tat, als könne ich das Haus nicht finden, um noch einmal vorbeireiten zu können, mag ich damit wohl die übliche Dummheit begangen haben, deren sich Jünglinge in meiner Verfassung befleißen. Als ich dann glücklich das Haus entdeckte und an der Gartentür abstieg und mich in meinen grausamen Stiefeln über den Rasenplatz hinschleppte, ach, wie herrlich sah sie da auf der Gartenbank unter dem Holunderbaum aus an dem schönen Morgen, mit ihrem weißen Strohhut und dem himmelblauen Kleid, von Schmetterlingen umflattert.

In ihrer Gesellschaft befand sich eine junge Dame, – verhältnismäßig ältlich, nämlich – zwanzig Jahre. Sie hieß Miss Mills, und Dora nannte sie Julie. Sie war ihre Busenfreundin. Glückliche Miss Mills! Jip war auch da und mußte mich wieder anbellen. Als ich meinen Strauß überreichte, fletschte er aus Eifersucht die Zähne. Er hatte allen Grund dazu.

Wenn er die leiseste Ahnung gehabt hätte, wie sehr ich seine Herrin anbetete, hätte er es erst recht tun müssen.

»O, ich danke Ihnen, Mr. Copperfield. Was für hübsche Blumen!« sagte Dora. Ich wollte erwidern – ich hatte mir einen herrlichen Satz während der drei letzten Meilen einstudiert –, daß auch ich sie für schön gehalten, solange ich sie nicht neben ihr gesehen, aber ich konnte es nicht herausbringen. Ihr Anblick verwirrte mich zu sehr. Sie die Blumen an ihr hübsches Kinn mit den kleinen Grübchen legen zu sehen, hieß alle Geistesgegenwart und Sprachgewandtheit einbüßen. Es wundert mich nur, daß ich nicht sagte, »wenn Sie ein Herz haben, Miss Mills, töten Sie mich, lassen Sie mich hier sterben.«

Dann gab Dora meine Blumen Jip zu riechen. Aber Jip knurrte und wollte nicht. Und Dora lachte und hielt sie ihm noch näher an die Nase. Jip faßte mit seinen Zähnen eine Geraniumblüte und zauste sie hin und her wie eine Katze. Und Dora schlug ihn und schmollte und sagte: »Meine armen schönen Blumen«, so mitleidig, wie mir vorkam, als ob er mich zerzaust hätte. O, wäre es doch so gewesen!

»Sie werden gewiß gern hören, Mr. Copperfield«, sagte Dora, »daß die abscheuliche Miss Murdstone verreist ist. Sie ist auf ihres Bruders Hochzeit und wird wenigstens drei Wochen wegbleiben. Ist das nicht herrlich?«

Ich erwiderte, es müsse gewiß für sie herrlich sein, und versicherte ihr, alles, was für sie herrlich sei, sei es auch für mich. Miss Mills lächelte dazu mit wohlwollend überlegner Weisheit.

»Sie ist das unangenehmste Ding, das mir jemals vorgekommen ist«, sagte Dora. »Du kannst dir gar nicht denken, wie grämlich und abscheulich sie ist, Julie.«

»Ich kanns mir schon denken«, sagte Julie.

»Ja, du kannst es«, entgegnete Dora und legte die Hand auf den Arm ihrer Freundin. »Verzeih, daß ich dich nicht gleich ausnahm.«

Ich entnahm daraus, daß Miss Mills im Lauf eines langen wechselvollen Lebens viele Prüfungen erduldet haben mußte. Vermutlich stammte daher das Wohlwollen in ihrem Benehmen. Im Lauf des Tages fand ich heraus, daß es sich tatsächlich so verhielt. Miss Mill war unglücklich verliebt gewesen und hatte sich nach schrecklichen Erfahrungen von dem Getriebe der Welt zurückgezogen.

Mr. Spenlow kam heraus, und Dora ging auf ihn zu und sagte: »Schau nur, Papa, was für wunderschöne Blumen!« und Miss Mills lächelte gedankenvoll, als wollte sie sagen: Ihr jungen Schmetterlinge erfreut euch nur eures Daseins am hellen Morgen des Lebens. Dann gingen wir zu dem Wagen, der zur Abfahrt bereit stand.

Nie wieder werde ich einen solchen Ausflug mehr mitmachen. Dora, Miss Mills und Mr. Spenlow saßen in dem offnen Phaethon. Ich ritt hinterher, Dora, das Gesicht mir zugewendet, saß auf dem Rückplatz. Sie legte das Bukett neben sich auf das Kissen und wollte Jip nicht erlauben, sich auf diese Seite zu setzen, damit er es nicht zerdrücke. Sie nahm es oft in die Hand und erquickte sich an dem Duft der Blumen. Unsere Blicke begegneten sich viele Male, und es war ein Wunder, daß ich nicht über den Kopf meines feurigen Eisenschimmels hinweg in den Wagen flog.

Ich glaube, es war staubig. Ich glaube, es war sogar sehr staubig. Ich habe so eine dunkle Erinnerung, als ob Mr. Spenlow mir Vorstellungen machte, warum ich denn so im Staube ritte, aber ich achtete nicht darauf. Ich war mir nur eines Nebels von Liebe und Schönheit um Dora herum bewußt. Mr. Spenlow stand manchmal auf und fragte mich, wie mir die Aussicht gefiele. Ich sagte, der Wahrheit gemäß, sie sei wunderschön, blickte ich doch nur auf Dora! Die Sonnenstrahlen waren: Dora, und die Vögel sangen: Dora. Der Südwind wehte: Dora; und die wilden Blüten in den Hecken waren bis auf jede Knospe lauter Doras. Mein Trost war, daß Miss Mills mich verstand. Nur Miss Mills allein begriff vollständig meine Gefühle.

Ich weiß nicht, wie lang die Fahrt dauerte, und bis heute weiß ich nicht, wo wir eigentlich hinfuhren. Vielleicht war es in die Nähe von Guildford. Vielleicht ließ ein arabischer Zauberer diesen Ort nur für uns emporsteigen und wieder versinken, als wir fort waren. Ein grüner Fleck auf einem Hügel mit weichem Rasen bedeckt. Schattige Bäume ringsumher und Heide, soweit das Auge reichte.

Wie ärgerlich, daß hier Leute auf uns warteten; meine Eifersucht, selbst gegen die Damen, kannte keine Grenzen. Alle Herren – besonders ein Kerl, drei oder vier Jahre älter als ich, mit einem roten Backenbart, auf den er sich unerträglich viel einbildete, – waren meine Todfeinde.

Wir packten unsere Körbe aus und fingen an, ein Frühstück zu bereiten. Der Rotbart behauptete, er könnte Salat anmachen – ich bin anderer Meinung –, und drängte sich der allgemeinen Beachtung auf. Einige von den jungen Damen wuschen die grünen Stauden und zerschnitten sie nach seiner Anleitung. Dora unter ihnen. Ich fühlte, daß das Verhängnis mich diesem Manne feindlich gegenübergestellt hatte und daß einer von uns fallen müßte.

Der Rotbart bereitete seinen Salat; ich begriff nicht, wie man ihn essen konnte, – mich hätte nichts vermocht, ihn anzurühren. Dann widmete er sich der Herstellung eines Weinkellers – diese erfinderische Bestie – aus einem hohlen Baumstamm. Schließlich sah ich ihn auf seinem Teller den Riesenanteil eines Hummers zu Doras Füßen essen.

Ich habe nur einen dunkeln Begriff, was dann noch alles geschah. Ich tat sehr heiter, das weiß ich noch, aber es war Heuchelei. Ich gesellte mich zu einem jungen Mädchen in Rosa mit kleinen Augen und flirtete entsetzlich. Sie nahm meine Aufmerksamkeit günstig auf, ob aber meinetwegen, oder weil sie Absichten auf den Rotbart hatte, weiß ich nicht. Man brachte Doras Gesundheit aus. Als ich mittrank, tat ich, als bräche ich mein Gespräch bloß deshalb ab, und nahm es sogleich wieder auf. Ich begegnete dem Blick Doras, als ich mich vor ihr verbeugte, und er kam mir flehentlich vor. Aber sie sah mich über den Kopf des Rotbarts hinweg an, und ich blieb hart wie Stein.

Das junge Mädchen in Rosa hatte eine Mutter in Grün; und ich glaube, letztere trennte uns aus Gründen der Politik. Endlich stand die Gesellschaft auf, während die Reste des Essens weggeräumt wurden, und ich verlor mich, von Wut und Zerknirschung erfüllt, einsam unter den Baum. Ich ging eben mit mir zu Rate, ob ich Unwohlsein vorschützen und auf meinem Rosse entfliehen sollte, als ich Dora und Miss Mills begegnete.

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Mills, »Sie sind verstimmt.«

Ich entschuldigte mich: »O, durchaus nicht!«

»Und du, Dora«, sagte Miss Mills, »bist auch verstimmt.«

»Ach Gott, nein«, sagte Dora, »nicht im geringsten.«

»Mr. Copperfield und du, Dora«, sprach Miss Mills fast feierlich, »genug jetzt! Laßt nicht durch ein kleinliches Mißverständnis die Blumen des Lenzes verwelken, die, einmal verblüht, nie mehr wiederkehren. Ich spreche aus alter Erfahrung in einer Vergangenheit – einer fernen unwiederbringlichen Vergangenheit. Die sprudelnden Quellen, die im Sonnenlicht funkeln, soll man nicht aus bloßer Laune versiegen lassen. Die Oase in der Wüste Sahara darf man nicht eitel zertreten.«

Ich weiß nicht, was ich tat, ich war blutrot über und über, aber ich nahm Doras kleine Hand und küßte sie, – und sie entzog sie mir nicht! Ich küßte Miss Mills die Hand, und wir alle stiegen nach meiner Empfindung geradenwegs in den siebenten Himmel auf.

Wir kamen nicht wieder herunter und blieben dort oben den ganzen Abend. Anfangs gingen wir unter den Bäumen auf und ab. Doras Arm lag schüchtern in meinem und, der Himmel weiß, vielleicht ists kindisch, aber wäre es nicht wirklich ein Glück gewesen, inmitten solch törichter Gefühle mit einem Schlag in das Reich der Unsterblichen versetzt zu werden, um für immer unter diesen Bäumen zu wandeln?!

Viel zu bald hörten wir die andern lachen und plaudern und rufen: »Wo ist Dora?« Wir kehrten um, und Dora sollte singen. Der Rotbart wollte die Gitarre aus dem Wagen holen. Aber Dora sagte, bloß ich wisse, wo sie liege. Der Rotbart war also für den Augenblick beseitigt, und ich holte das Futteral, schloß es auf, holte die Gitarre hervor und setzte mich neben Dora. Ich hielt ihr Taschentuch und ihre Handschuhe und trank jede Note ihrer lieben Stimme, und sie sang für mich, der sie liebte; die andern konnten applaudieren, soviel sie wollten, es ging sie ja doch nichts an.

Ich war förmlich trunken vor Freude. Ich fürchtete jeden Augenblick, in der Buckingham Straße aufzuwachen und Mrs. Crupp mit den Teetassen klappern zu hören. Aber Dora sang wirklich, und andere sangen, und Miss Mills sang – »von den Echos, die, hundert Jahre alt, schlummern in den Höhlen der Erinnerung« –, und der Abend kam, und wir kochten Tee in einem Kessel im Freien wie die Zigeuner, und ich war immer noch so glücklich wie vordem.

Glücklicher als je, als die Gesellschaft endlich aufbrach, und die andern, unter ihnen der besiegte Rotbart, ihrer Wege gingen, und auch wir den unsern einschlugen durch den stillen Abend des sterbenden Tages, während süße Düfte rings um uns emporstiegen.

Da Mr. Spenlow von dem Champagner ein wenig schläfrig geworden, – Heil dem Boden, auf dem die Rebe wuchs, der Sonne, die den Wein gereift, dem Kaufmann, der ihn verfälscht hatte, – in einer Ecke des Wagens nickte, ritt ich neben dem Schlag und plauderte mit Dora. Sie bewunderte mein Pferd und tätschelte es – o, wie niedlich ihre kleine Hand sich auf dem Hals des Pferdes ausnahm –, und ihr Schal wollte nicht auf der Schulter bleiben, und dann und wann durfte ich ihn zurechtlegen. Es kam mir sogar vor, als ob Jip einzusehen anfinge, wie die Sache stünde, und mit mir Freundschaft schließen wollte.

Und die scharfblickende Miss Mills, diese liebenswürdige, so weltmüde Nonne, dieser kleine Patriarch von noch nicht ganz zwanzig Jahren, die mit der Welt abgeschlossen hatte und um keinen Preis die in den Höhlen der Erinnerung schlummernden Echos wecken durfte, – wie sie gütig zu mir war!

»Mr. Copperfield«, sagte Miss Mills, »kommen Sie einen Augenblick auf die Seite des Wagens – wenn Sie einen Moment Zeit haben – ich möchte mit Ihnen sprechen.«

Und ich beugte mich von meinem Rosse auf Miss Mills herab, die Hand auf die Wagentür gestützt. Ein Bild!

»Dora kommt morgen zu Besuch zu mir auf ein paar Tage. Wenn ich Sie einladen darf, wird sich Papa glücklich schätzen, Sie kennenzulernen.«

Was konnte ich anderes tun, als einen stummen Segen auf Miss Mills Haupt herabrufen und ihre Adresse im sichersten Winkel meines Gedächtnisses aufbewahren. Mit dankbarem Blick und feurigen Worten beteuerte ich, wie sehr ich ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen wüßte, und welch unendlichen Wert ihre Freundschaft für mich habe.

Dann entließ mich Miss Mills wohlwollend mit den Worten: »Gehen Sie jetzt wieder zu Dora.« Und das tat ich, und Dora beugte sich aus dem Wagen heraus, um mit mir zu sprechen, und wir plauderten die ganze übrige Fahrt. Ich drängte mein wackeres Roß so dicht an das Rad, daß es sich am Vorderfuß die Haut abschürfte, wofür ich dem Besitzer 3 £ 7 sh. zahlen mußte, eine Summe, die mir angesichts so hohen Genusses lächerlich gering schien. Die ganze Zeit über sah Miss Mills den Mond an, murmelte halblaut Verse und erinnerte sich wahrscheinlich an die uralten Zeiten, wo sie und die Erde noch etwas miteinander gemein hatten.

Norwood lag viele Meilen zu nahe, und wir langten viel zu früh an. Kurz vor unserer Ankunft wachte Mr. Spenlow auf und sagte: »Sie müssen hereinkommen, Copperfield, und ein wenig ausruhen.« Ich nahm an, und wir genossen einige Sandwiches mit Wein. In dem hellen Zimmer sah Dora so bezaubernd aus, daß ich mich gar nicht losreißen konnte und sie wie im Traum anstarrte, bis Mr. Spenlows Schnarchen mich so weit zur Besinnung brachte, daß ich mich verabschiedete. Während des ganzen Rittes nach London fühlte ich noch die letzte Berührung von Doras Hand in meiner, rief mir jeden Vorfall und jedes Wort zehntausendmal zurück und ging endlich schlafen, verliebt bis zum Wahnsinn wie nur je ein junger Fant.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, faßte ich den festen Entschluß, Dora meine Liebe zu erklären, um mir über mein Schicksal Gewißheit zu verschaffen.

Seligkeit oder Verdammnis, das war jetzt die Frage.

Für mich gab es keine andere auf der Welt, und nur Dora konnte sie beantworten. Drei Tage brachte ich zu in grenzenloser Qual, die ich noch dadurch steigerte, daß ich mir alles, was zwischen Dora und mir vorgefallen, auf das Allerentmutigendste auslegte. Endlich begab ich mich zu Miss Mills, mit großen Kosten zu dem Zwecke angetan und den Kopf voll Liebeserklärungen. Wievielmals ich die Straße auf und ab ging und um den Platz herum, ehe ich mich entschließen konnte, die Treppen hinaufzusteigen und anzuklopfen, ist jetzt nicht mehr von Belang. Selbst, als ich endlich geklopft hatte und an der Türe wartete, kam mir in der Aufregung der Gedanke zu fragen, ob hier Mr. Blackboy wohne – eine Erinnerung an den seligen Barkis –, um Entschuldigung zu bitten und wieder wegzugehen. Aber ich überwand mich.

Mr. Mills war nicht zu Hause. Ich erwartete es auch gar nicht. Nach ihm verlangte niemand. Miss Mills war zu Hause; Miss Mills genügte.

Man wies mich in ein Zimmer, eine Treppe hoch, wo ich sie und Dora fand. Jip war auch da. Miss Mills schrieb Noten ab – es war ein neues Lied: »Der Liebe Grabgesang« –, und Dora malte Blumen. O Gott, was ich fühlte, als ich meine eignen Blumen erkannte, den wirklichen und echten Strauß vom Covent-Garden-Markt. Man konnte zwar nicht behaupten, daß sie sehr ähnlich aussahen oder daß sie überhaupt irgendwelchen mir bekannten Blumen glichen, aber ich erkannte sie an der Papiermanschette, die ganz genau kopiert war.

Miss Mills freute sich sehr mich zu sehen. Sie bedauerte, daß ihr Papa nicht zu Hause war, aber wir schienen es alle mit großer Fassung zu tragen. Sie leitete die Konversation ein paar Minuten, legte dann ihre Feder auf »Der Liebe Grabgesang«, stand auf und verließ das Zimmer.

Ich beschäftigte mich schon mit dem Gedanken, alles auf morgen aufzuschieben.

»Ich hoffe, Ihr armes Pferd war nicht müde, als es gestern nachts nach Hause kam?« sagte Dora und schlug ihre schönen Augen auf. »Es hat einen weiten Weg gemacht.«

Ich fing an zu denken, ich wollte doch lieber heute alles sagen.

»Es war ein weiter Weg für mein Pferd«, erwiderte ich, »denn es hatte auf der Reise nichts, an dem es sich erquicken konnte.«

»Hat es denn kein Futter bekommen, das Ärmste?«

Ich dachte wieder, ich sollte alles doch lieber bis morgen aufschieben.

»O doch, es hat ihm an nichts gefehlt. Ich meine nur, es fühlte nicht das unaussprechliche Glück, das ich in Ihrer Nähe genoß.«

Dora beugte sich auf ihre Malerei herab und sagte nach einer kleinen Pause, während der ich wie in Fieber glühte, – nur die Beine waren mir eiskalt –: »Zu einer gewissen Stunde damals schienen Sie selbst dieses Glück nicht allzu sehr zu empfinden.«

Ich erkannte, daß keine Umkehr mehr möglich war.

»Sie schienen es sogar nicht im mindesten zu fühlen«, Dora zog die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte den Kopf, »als Sie neben Miss Kitt saßen.«

Kitt hieß nämlich das Mädchen in Rosa mit den kleinen Augen.

»Ich wüßte auch gar nicht, warum Sie es hätten empfinden sollen oder warum Sie es überhaupt ein Glück nennen. Aber natürlich meinen Sie es ja auch nicht im Ernst. Selbstverständlich können Sie ja auch tun, was Sie wollen. Jip, du Nichtsnutz, komm her!«

Ich weiß nicht, wie ich es anfing. Aber es war im Nu geschehen. Ich kam Jip zuvor. Ich hielt Dora in den Armen. Ich war voll Beredsamkeit. Ich war nie um ein Wort verlegen. Ich sagte ihr, wie sehr ich sie liebte, und daß ich ohne sie sterben müßte. Ich sagte ihr, ich betete sie an. Jip bellte die ganze Zeit über wie toll. Als Dora das Köpfchen sinken ließ und weinte und zitterte, da stieg meine Beredsamkeit noch, und je verzückter ich wurde, desto mehr bellte Jip. Jeder von uns wurde nach seiner Weise von Minute zu Minute toller. Endlich saßen Dora und ich, leidlich beruhigt, nebeneinander auf dem Sofa, und Jip lag auf ihrem Schoß und zwinkerte mich friedlich an. Die Last war von meinem Herzen genommen. Seligkeit! Dora und ich waren verlobt.

Ich glaube, wir hatten so eine dunkle Ahnung, daß zuletzt eine Hochzeit draus werden sollte. Es muß wohl so gewesen sein, denn Dora bestand darauf, daß wir ohne die Einwilligung ihres Papas nie heiraten dürften. Aber ich glaube nicht, daß wir uns in unserer jugendlichen Ekstase eigentlich um die Zukunft oder die Vergangenheit irgendwie bekümmerten oder an etwas anderes dachten als an die blinde Gegenwart. Wir beschlossen, die Sache vor Mr. Spenlow geheimzuhalten, und ich glaube nicht, daß ich das auch nur einen Augenblick für unehrenhaft hielt.

Miss Mills sah noch gedankenvoller drein als gewöhnlich, als sie mit Dora, die sie suchen gegangen war, zurückkam, – ich fürchte, weil das Vorgefallene ganz danach angetan war, die »in den Höhlen der Erinnerung schlummernden Echos« zu wecken. Sie gab uns ihren Segen und die Versicherung ihrer unwandelbaren Freundschaft und sprach zu uns in Gemeinplätzen, wie es sich für eine Stimme aus der Abgeschiedenheit schickte.

Was für eine traumhaft glückliche, törichte Zeit das war, – die Zeit, als ich an Doras Finger Maß nahm für einen Ring aus Vergißmeinnicht, und der Juwelier, dem ich es gab, mich durchschaute und über dem Bestellbuch lachte und mir so seinen eignen Preis abverlangte für den hübschen kleinen Ring mit den blauen Steinen!

So unzertrennlich verbunden ist dieser Ring mit meiner Erinnerung an Doras Hand, daß gestern, als ich zufällig einen ähnlichen am Finger meiner eignen Tochter bemerkte, etwas wie Schmerz mein Herz durchzuckte.

Geadelt von meinem Geheimnis und der Würde, Dora zu lieben und von ihr geliebt zu werden, so hoch gehoben von meinem Gefühl, daß die Menschen mir wie wimmelndes Gewürm erschienen, ging ich einher. Wir saßen beisammen in dem Garten auf dem Platz in dem alten Sommerpavillon so glücklich, daß mir heute noch alles lieb ist, was mit jener Zeit zusammenhängt; und aus keinem andern Grund als diesem habe ich die Londoner Sperlinge so gern und sehe in ihrem berußten Gefieder die glänzenden Farben tropischer Vögel.

Ach, und die Zeit, als wir uns das erste Mal zankten, acht Tage nach unserer Verlobung, und Dora mir den Ring in einem verzweiflungsvollen Brief zurückschickte, in dem sie die schrecklichen Worte gebrauchte, daß »unsere Liebe in Torheit begonnen und in Wahnsinn geendet habe«, und ich mir die Haare raufte und schrie, daß alles vorüber sei! Im Dunkel der Nacht noch eilte ich zu Miss Mills, sprach sie dann in einer Waschküche auf dem Hof, in der eine Mangel stand, und flehte sie an, zwischen uns zu vermitteln und mich vor dem Wahnsinn zu retten. Und freundlich übernahm Miss Mills die Vermittlung, brachte mir Dora zurück, um uns von der Kanzel ihrer eignen verbitterten Jugenderinnerung herab zu gegenseitiger Nachgiebigkeit und zur äußersten Vorsicht gegenüber den Oasen in der Wüste Sahara zu ermahnen. Und wir weinten und versöhnten uns wieder und waren so glücklich, daß die Waschküche mit der Mangel und all dem Zubehör zu einem Tempel der Liebe wurde, in dem wir einen Plan zu täglichem Briefwechsel in Miss Mills‘ Hände legte.

Was für eine traumhaft glückliche, törichte Zeit! Von allen, die ich durchlebt, ist keine, an die ich so zärtlich und voll Lächeln zurückdenken kann.

32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise


32. Kapitel Der Anfang einer langen Reise

Eine natürliche Empfindung ist nichts Beschämendes, und deshalb scheue ich mich auch nicht zu gestehen, daß ich meine Liebe zu Steerforth niemals stärker empfand als zu der Zeit, wo sich die Banden, die mich an ihn knüpften, lösten. In dem bittern Schmerz der Erkenntnis seiner Unwürdigkeit sah ich seine Eigenschaften in einem glänzenderen Licht als je, ließ seinen Fähigkeiten, die ihn zu einem großen bedeutenden Menschen hätten machen können, mehr Gerechtigkeit widerfahren als damals, wo ich ihm am meisten ergeben gewesen. So tief ich darunter litt, mit an seiner Schuld zu tragen, glaube ich doch, ich hätte ihm ins Gesicht keinen Vorwurf schleudern können. Aber, wie wohl auch er, fühlte ich, daß zwischen uns beiden alles zu Ende war. Wie er an mich zurückdachte, habe ich nie erfahren – wahrscheinlich leicht und oberflächlich genug –, aber ich mußte an ihn denken wie an einen teuern Toten.

Ja, Steerforth, der du längst vom Schauplatze dieser Geschichte abgetreten bist, vielleicht tritt mein Gram dereinst gegen dich vor dem ewigen Gericht als Zeuge auf, aber ein Ankläger will ich dir niemals sein!

 

Die Kunde von dem Geschehenen verbreitete sich bald durch die Stadt, und am nächsten Morgen hörte ich in den Straßen die Leute vor ihren Türen davon sprechen. Viele ließen sich sehr bitter über sie aus, nur wenige über ihn, aber für ihren zweiten Vater und ihren Bräutigam herrschte bloß ein Gefühl; überall legte man vor ihrem Schmerz eine Achtung voll Zartgefühl und Rücksicht an den Tag. Die Schiffer hielten sich fern, als die beiden am frühen Morgen langsam am Strande auf- und abgingen, standen in Gruppen beisammen und sprachen voll Mitleid miteinander.

Ich fand Mr. Peggotty und Ham an der Küste dicht am Meer. Sie hatten die ganze Nacht über nicht geschlafen und noch bei Tagesanbruch zusammengesessen, wie Peggotty mir sagte, und sahen sehr ermattet aus. Mr. Peggotty schien mir mehr gealtert zu sein in einer Nacht als in den vielen Jahren, seit ich ihn kannte. Aber beide waren so ernst und ruhig wie das Meer, das leise bewegt, als ob es im Schlummer atme, doch ohne Wellenschlag unter dem dunkeln Himmel lag, – der Horizont beleuchtet von einem Sonnenstreifen silberhellen Lichtes.

»Wir haben viel beraten über das, was zunächst zu geschehen hat«, sagte Mr. Peggotty zu mir, nachdem wir eine Weile stumm nebeneinander hergeschritten waren. »Aber jetzt sehen wir unsern Weg klar vor uns.«

Ich warf heimlich einen Blick auf Ham, der jetzt auf den fernen Sonnenschimmer auf dem Meer hinausblickte, und ein furchtbarer Gedanke beschlich mich – nicht, daß sein Gesicht voll Ingrimm gewesen wäre, – ich konnte nur den Ausdruck finstrer Entschlossenheit darin erkennen – der Gedanke, daß er Steerforth töten würde, wenn er ihm begegnen sollte.

»Mien Flicht is dohn, Sir«, sagte Mr. Peggotty, »ick will mien – « er hielt inne und fuhr dann mit festerer Stimme fort – »ick will sie suchen. Dat is mien Flicht von nun an.«

Er schüttelte den Kopf, als ich ihn fragte, wo er sie suchen wollte und ob er morgen nach London zu reisen gedenke. Ich sagte ihm, ich sei heute noch hiergeblieben, um ihm vielleicht beistehen zu können, aber ich sei bereit zu fahren, sobald er es wünschte.

»Ich werde Sie begleiten, Sir«, erwiderte er, »wenn es Ihnen recht ist, morgen.«

Wieder gingen wir eine Weile stumm nebeneinander her.

»Ham«, fuhr er fort, »wird seinem jetzigen Beruf treu bleiben und mit meiner Schwester zusammenwohnen. Das alte Boot dort – «

»Sie wollen das alte Boot verlassen, Mr. Peggotty?« fragte ich leise.

»Mein Platz ist dort nicht mehr, Mr. Davy, und wenn jemals ein Boot, als die Nacht über der Tiefe schwebte, unterging, ist es dieses. Aber nein, Sir, nein, ich will nicht sagen, daß es verlassen sein soll. Das sei fern von mir.«

Wieder gingen wir stumm eine Strecke zusammen, bis er abermals anfing:

»Mien Wunsch is, Sir, daß es Tag und Nacht, Sommer und Winter so aussehen soll wie damals, als sie es zuerst betrat. Wenn sie jemals zurückkehren sollte, darf das alte Haus nicht aussehen, als ob es für sie verschlossen sei, sondern soll sie locken, immer näher und näher zu kommen und draußen aus Wind und Regen durch das alte Fenster mit einem Gruß nach dem verlassenen Sitz neben dem Feuer zu blicken. Und wenn sie dann niemand drin sieht als Mrs. Gummidge, so faßt sie sich vielleicht ein Herz und tritt zitternd ein und legt sich hin auf ihr altes Bett und läßt ihr Haupt müde ausruhen, wo sie einst so fröhlich war.«

Ich konnte ihm nicht antworten, obgleich ich es versuchte.

»Jede Nacht, so regelmäßig wie die Flut, muß das Licht in dem alten Fenster stehen, damit es ihr winkt: Komm zurück, mein Kind, komm zurück! Wenn es jemals wieder leise an die Tür deiner Tante klopft, Ham, nach Dunkelwerden, so geh du nicht hinaus. Nur sie, nicht dich, darf mein verirrtes Kind sehen.«

Er ging ein wenig voraus und schritt vor uns her. Ich warf einen Blick auf Ham und sah immer noch denselben Ausdruck auf seinem Gesicht. Seine Augen starrten immer noch wie gebannt auf das ferne Licht. Ich faßte seinen Arm.

Zweimal rief ich ihn beim Namen so laut, wie man einen Schlafenden zu wecken sucht, ehe er auf mich achtete. Als ich ihn fragte, womit sich seine Gedanken so eifrig beschäftigten, gab er zur Antwort:

»Mit dem, was vor mir ist, Masr Davy, und dort droben.«

»Mit dem, was vor Ihnen liegt, meinen Sie?« Er hatte mit der Hand aufs Meer hinausgedeutet.

»Woll, Masr Davy. Ich weiß nicht recht, wie es ist, aber von dort drüben scheint es mir zu kommen – das Ende, meine ich«; er sah mich an mit wachen Augen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich nicht.

»Welches Ende?« fragte ich, noch ganz unter dem Eindruck meiner Bestürzung.

»Ich weiß es nicht«, sagte er gedankenvoll; »ich dachte eben darüber nach, daß der Anfang vor allem hier war, – und hier muß auch das Ende sein. Aber jetzt ists fort, Masr Davy,« setzte er hinzu, wohl als Antwort auf meine besorgten Blicke, mit denen ich ihn maß. »Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten, – awer ick bün so wirr im Kopp, – ich bin ganz gefühllos geworden.«

Mr. Peggotty stand jetzt still und wartete auf uns. Die Erinnerung an diese Szene und meine Besorgnisse traten mir in spätern Zeiten immer wieder vor die Seele, bis das unerbittliche Ende kam. Wir gingen auf das alte Boot zu und traten ein. Mrs. Gummidge saß nicht mehr grämlich in ihrer Ecke, sondern machte sich emsig um das Frühstück zu schaffen. Sie nahm Mr. Peggotty den Hut ab, schob ihm seinen Stuhl hin und sprach so sanft und zärtlich zu ihm, daß ich sie kaum wiedererkannte.

»Mein guter Daniel«, sagte sie. »Du mußt essen und trinken und dich aufrecht erhalten, denn sonst kannst du nichts tun. Versuchs nur, liebe, gute Seele. Und wenn ich dich mit meinem Gerede störe, so sags nur, Daniel, und ich schweig schon still.«

Als sie uns alle bedient hatte, setzte sie sich an das Fenster, wo sie sich emsig mit dem Ausbessern der Hemden und Kleider für Mr. Peggotty beschäftigte und alles dann sorgfältig zusammenlegte und in einen alten Sack aus Ölzeug, wie ihn die Matrosen haben, packte. Dabei fuhr sie in derselben ruhigen Weise zu sprechen fort.

»Immer und zu jeder Zeit, Danl, will ich hier sein, und alles soll so eingerichtet werden, wie du es wünschst. Es wird mir sauer werden, aber ich will viele, viele Male an dich schreiben, wenn du fort bist, und meine Briefe an Master Davy schicken. Vielleicht schreibst du auch an mich, Daniel, von Zeit zu Zeit, und schreibst mir von deinen einsamen Reisen.«

»Du wirst dich hier recht verlassen fühlen«, sagte Mr. Peggotty.

»Nein, nein, Danl, gewiß nicht. Sorge dich nicht meinetwegen. Ich werde genug zu tun haben, um das Haus in Ordnung zu halten, bis du zurückkehrst, Danl. Bei schönem Wetter will ich mich vor die Türe setzen wie früher, und kommt jemand in die Nähe, soll er schon von weitem sehen, daß die alte Wittfrau treu hier aushält.«

Wie hatte sich Mrs. Gummidge in der kurzen Zeit verändert! Sie war eine ganz andere geworden. Sie legte so viel Feingefühl an den Tag, wenn sie etwas sagen wollte oder eine Bemerkung vermied, vergaß so sehr sich selbst und zeigte sich so rücksichtsvoll gegen all den Kummer um sich her, daß ich fast mit Verehrung zu ihr aufblickte. Und was sie an diesem Tag alles zustande brachte! So vielerlei Dinge mußten vom Strande herauf in den Schuppen geschafft werden – Ruder, Netze, Segel, Tauwerk, Spieren, Hummerkörbe, Ballastsäcke und anderes, und obgleich helfende Hände genug da waren, denn keiner hätte sich geweigert, für Mr. Peggotty Hand anzulegen, und alle hätten sich mit einem bloßen »danke« für bezahlt gehalten, – so wurde sie doch den ganzen Tag nicht müde, die schwersten Lasten heraufzuschleppen. Sie schien ganz vergessen zu haben, über ihr altes Mißgeschick zu klagen. Die ganze Zeit über bewahrte sie eine sich stets gleichbleibende Ruhe; gewiß eine wunderbare Veränderung bei ihrem Charakter. Bis zur Dämmerung bebte ihre Stimme kein einziges Mal, und keine Träne trat ihr in die Augen; erst als sie und ich und Mr. Peggotty allein beisammen saßen und er aus Erschöpfung eingeschlafen war, da fing sie an, leise zu schluchzen und zu weinen, begleitete mich an die Türe und sagte: »Gott segne Sie, Masr Davy, bleiben Sie dem Armen immer ein Freund!« Dann lief sie hinaus, um sich das Gesicht zu waschen, damit er ihr nichts anmerken sollte, wenn er aufwachte.

Kurz, als ich abends fortging, ließ ich sie als Stütze und Stab für Mr. Peggotty in seinem Schmerz zurück und konnte nicht genug über die Lehre, die ich aus all dem zog, nachdenken.

Es war zwischen neun und zehn Uhr, als ich, in trübem Sinnen durch die Stadt schlendernd, vor Mr. Omers Tür ankam. Der Alte hatte es sich so sehr zu Herzen genommen, wie mir seine Tochter erzählte, daß er den ganzen Tag sehr niedergedrückt gewesen war und sich, ohne seine Pfeife geraucht zu haben, zu Bett gelegt hatte.

»Ein falschherziges, schlechtes Mädchen!« sagte Mrs. Joram. »Es ist nie etwas Gutes an ihr gewesen.«

»Sagen Sie das nicht«, wehrte ich ab. »Sie meinen es nicht so.«

»Ja, ich meine es gewiß so!« rief Mrs. Joram ärgerlich.

»Nein, nein!«

Mrs. Joram warf den Kopf zurück und wollte sehr gereizt werden. Aber sie konnte es nicht übers Herz bringen und fing zu weinen an. Ich war damals freilich noch jung, aber ich dachte in ihrer Weichheit besser von ihr, und es kam mir vor, als ob die Rührung ihr, der tugendhaften Gattin und Mutter, sehr gut stünde.

»Was wird sie nur anfangen?« schluchzte Minnie. »Wie wird es ihr gehen? Was wird aus ihr werden! O, wie konnte sie nur so grausam handeln!«

Ich gedachte der Zeit, wo Minnie ein junges und hübsches Mädchen gewesen, und es freute mich, daß sie sich ebenfalls mit tiefem Gefühl daran erinnerte.

»Meine kleine Minnie ist eben eingeschlafen«, sagte sie. »Selbst im Schlaf schluchzt sie nach Emly. Den ganzen Tag lang hat sie beständig geweint und mich immer und immer wieder gefragt, ob Emly ein schlechtes Mädchen sei. Was kann ich zu ihr sagen, wo doch Emly ihr gestern abend ein Band von ihrem Hals umgebunden und ihren Kopf neben sie auf das Kissen gelegt hat, bis sie einschlief? Meine kleine Minnie hat jetzt noch das Band um. Es sollte vielleicht nicht sein, aber was soll ich tun? Emly ist sehr schlecht, aber sie hatten einander so lieb. Und das Kind versteht es doch nicht!«

Mrs. Joram fühlte sich so unglücklich, daß ihr Mann herauskommen mußte, um sie zu beruhigen. Ich ließ die beiden allein, um zu Peggotty zu gehen, und fühlte mich womöglich noch trauriger als bisher.

Die gute Peggotty war trotz ihres Kummers und der schlaflosen Nächte der letzten Zeit bei ihrem Bruder geblieben, um bei ihm die Nacht zuzubringen. Eine alte Frau, die in den letzten Wochen für sie die Wirtschaft besorgte, war mit mir allein im Hause. Da ich ihrer nicht bedurfte, schickte ich sie zu Bett und setzte mich eine Weile lang vor das Küchenfeuer, um über das Geschehene nachzudenken.

In meine Vorstellungen mischte sich das Sterbebett des seligen Mr. Barkis, und ich trieb mit der Ebbe hinaus in die schimmernde Ferne, auf die heute morgen Ham so seltsam gestarrt hatte, als mich aus meinem Nachsinnen ein Pochen an der Tür weckte. Es hing ein Klopfer an der Tür, aber der Schall ging von einer Hand aus, tief unten am Holz, als ob er von einem Kinde herrühre.

Ich machte überrascht die Türe auf und sah zu meinem Erstaunen anfangs weiter nichts als einen großen Regenschirm, der sich allein fortzubewegen schien. Aber gleich darauf entdeckte ich Miss Mowcher darunter.

Ich hätte das kleine Geschöpf wahrscheinlich nicht sehr freundlich empfangen, wenn sie beim Weglegen ihres Regenschirms, den sie mit der größten Mühe nicht zumachen konnte, noch jenes fidele Gesicht von damals gezeigt hätte. Aber, als ich sie von ihrem Schirm erlöste und sie zu mir aufsah, waren ihre Mienen so ernst, und sie rang die kleinen Hände so betrübt, daß ich mich fast zu ihr hingezogen fühlte.

»Miss Mowcher« sagte ich, nachdem ich auf die leere Straße hinausgesehen, ohne eigentlich zu wissen, warum, »wie kommen Sie hierher? Was gibts?«

Sie winkte mir mit ihrem kurzen Arm, ihr Parapluie zuzumachen, und ging rasch an mir vorbei in die Küche. Ich konnte kaum die Türe schließen, da saß sie schon auf der Ecke des Herdvorsetzers im Schatten der Kochgefäße, schaukelte sich hin und her und rieb sich kummervoll die Hände auf den Knien.

Ganz beunruhigt über den seltsamen Besuch zu solch ungewöhnlicher Stunde rief ich wieder aus: »Ich bitte Sie, Miss Mowcher, was gibt es denn? Sind Sie krank?«

»Mein liebes, gutes Kind«, sie drückte beide Hände auf ihr Herz. »Ich bin hier krank. – Sehr krank. Daran denken zu müssen, daß es so weit kommen mußte, während ich es doch hätte wissen und verhüten können, wenn ich nicht eine so gedankenlose Närrin gewesen wäre!«

Wieder schaukelte sich ihr unverhältnismäßig großer Hut mit ihrem kleinen Körper hin und her, und sein riesenhafter Schatten hielt an der Wand Takt mit ihr.

»Es überrascht mich, Sie in so erregter und ernster Stimmung –« fing ich an.

»Ja. So ists immer«, unterbrach sie mich. »Sie wundern sich alle, diese unüberlegten jungen Leute, die hübsch und groß gewachsen sind, daß ein kleines Ding wie ich noch Gefühl hat. Sie halten mich für ein Spielzeug und lachen über mich, werfen mich weg, wenn sie meiner müde sind, und wundern sich, daß ich mehr Gefühl habe als ein Schaukelpferd oder ein hölzerner Soldat! Ja, ja, so ists. Immer die alte Geschichte!«

»Das mag vielleicht bei andern so sein«, entgegnete ich, »aber bei mir nicht. Ich versichere es Ihnen. Vielleicht dürfte ich mich gar nicht wundern, Sie hier zu sehen. Aber ich kenne Sie doch zu wenig!«

»Was kann ich tun?« Die kleine Frau stand auf und zeigte mit beiden Händen auf sich. »Schauen sie her! So wie ich bin, war mein Vater und sind meine Schwester und mein Bruder noch heute. Für sie habe ich seit vielen Jahren Tag für Tag auf das angestrengteste gearbeitet, Mr. Copperfield. Ich muß doch leben! Ich tue niemand etwas zuleide! Wenn es Menschen gibt, die so leichtsinnig und grausam sind, Scherz mit mir zu treiben, was bleibt mir dann anderes übrig, als mich ihnen gegenüber auch so zu benehmen? Wessen Fehler ist es, wenn ich dies tue. Meiner?«

»Nein, Miss Mowcher, Ihrer gewiß nicht.«

»Wenn ich mich gegen Ihren falschen Freund als sentimentale Zwergin benommen hätte«, fuhr die kleine Person fort und schüttelte mit vorwurfsvollem Ernst den Kopf, »glauben Sie, daß er mir jemals geholfen oder mich empfohlen haben würde? Wenn sich die kleine Mowcher, die, um auf die Welt zu kommen, gewiß keine Hand gerührt haben würde, an ihn oder seinesgleichen in ihrem Unglück gewendet hätte, glauben Sie, daß er auf ihr dünnes Stimmchen gehört haben würde? Die kleine Mowcher müßte auch leben, selbst wenn sie die verbittertste und dümmste aller Zwerginnen wäre, aber sie könnte es nicht. Nein. Sie könnte nach Brot und Butter pfeifen, bis sie verhungerte!«

Miss Mowcher setzte sich wieder auf den Ofenvorsetzer, zog ihr Taschentuch heraus und wischte sich die Augen.

»Danken Sie Gott für mich, wenn Sie ein so gutes Herz haben, wie ich glaube, daß ich bei meinem Mißgeschick noch heiter alles zu ertragen imstande bin. Ich wenigstens bin dankbar, daß ich meinen schmalen Weg durch die Welt finden kann, ohne jemand verpflichtet zu sein, und daß ich auf alles, was man mich leichtsinnig oder gedankenloserweise leiden läßt, noch mit Narrenpossen zu antworten vermag. Wenn ich über meine Mängel nachdenke, so ist es mir zum Nutzen und niemand zum Schaden. Wenn ich euch Riesen schon zum Spielzeug diene, so gehet wenigstens behutsam mit mir um!«

Miss Mowcher steckte das Taschentuch wieder ein, blickte mich sehr aufmerksam an und fuhr dann fort:

»Ich sah Sie soeben auf der Straße. Sie können sich denken, daß ich mit meinen kurzen Beinen und meinem kurzen Atem Sie nicht einholen konnte, aber ich erriet, woher Sie kamen, und ging Ihnen nach. Ich bin heute schon einmal hier gewesen, aber die gute Alte war nicht zu Hause.«

»Kennen Sie sie?« fragte ich.

»Nicht persönlich, habe aber von Omer & Joram oft von ihr gehört. Ich war heute früh um sieben Uhr dort. Wissen Sie noch, was Steerforth damals, als ich Sie das erste Mal im Gasthof sah, über das unglückliche Mädchen sagte?«

Der große Hut auf Miss Mowchers Kopf und sein noch größerer Schatten an der Wand schwankten wieder hin und her, als sie die Frage stellte.

Ich erinnerte mich recht gut daran, denn es war mir heute schon oft eingefallen.

»Möge der Vater alles Übels ihn verderben!« sagte die kleine Frau und hob mit funkelnden Augen ihren Zeigefinger in die Höhe, »und zehnmal mehr noch seinen schurkischen Bedienten. Ich glaubte damals, Sie hätten sich in sie verliebt.«

»Ich?!«

»Kind, Kind! O über meine Blindheit!« rief Miss Mowcher, rang leidenschaftlich die Hände und ging vor dem Ofenvorsetzer auf und ab. »Warum flossen Sie nur so über von ihrem Lob und wurden so rot und verlegen!«

Allerdings war das der Fall gewesen, aber aus einem ganz andern Grund, als es ihr geschienen hatte.

»Was wußte ich!« Miss Mowcher zog ihr Taschentuch heraus und stampfte jedesmal mit dem Fuß auf den Boden, wenn sie es mit beiden Händen an ihre Augen drückte. »Er schmeichelte Ihnen und beschwatzte Sie, das sah ich wohl, und Sie waren wie weiches Wachs in seinen Händen. Kaum hatte ich das Zimmer eine Minute verlassen, als mir sein Bedienter sagte, daß die ›junge Unschuld,‹ – so nannte er Sie, und Sie können ihn in Zukunft die ›alte Sünde‹ nennen, – sich in sie verliebt hätte, daß sie aber leichtsinnig sei und Steerforth gern habe. Doch sei sein Herr entschlossen, es zu nichts Schlimmem kommen zu lassen – mehr um Ihret- als um des Mädchens willen. Und daß er und sein Herr deshalb in Yarmouth wären. Mußte ich ihm nicht glauben? Ich sah, wie Steerforth sie Ihretwegen lobte. Sie nannten zuerst ihren Namen. Sie gaben zu, früher einer ihrer Bewunderer gewesen zu sein, und wurden abwechselnd rot und blaß, wenn ich nur von ihr sprach. Konnte ich etwas anderes denken, als daß Sie ein junger Lebemann seien, wenn auch ohne Erfahrung, aber bereits in richtigen Händen? O! O! O! – Die beiden befürchteten, ich möchte der Wahrheit auf den Grund kommen!« rief Miss Mowcher aus, streckte die kurzen Arme gen Himmel und ging in tiefem Schmerz in der Küche auf und ab. »Weil ich ein kleines, schlaues Ding bin – muß ich es doch sein, wenn ich überhaupt bestehen will, – und sie führten mich ganz und gar hinters Licht und gaben mir an das arme Mädchen einen Brief mit, der die erste Veranlassung war, daß sie mit Littimer sprach.«

Ich war ganz betäubt bei der Enthüllung solcher Perfidie und konnte bloß Miss Mowcher ansehen, wie sie in der Küche auf und ab ging, bis sie ganz außer Atem war. Dann setzte sie sich wieder auf den Ofenvorsetzer, wischte sich die Augen und schüttelte lange, ohne ein Glied zu rühren, den Kopf, und ohne ein einziges Wort zu sprechen.

»Meine Reisen«, fing sie endlich wieder an, »führten mich vorgestern abend nach Norwich. Was ich dort von dem heimlichen Kommen und Gehen der beiden, ohne daß Sie seltsamerweise dabei waren, erfuhr, ließ mich Schlimmes ahnen. Ich setzte mich vorige Nacht in die Landkutsche und bin heute morgen hier eingetroffen. Ach! Zu spät!«

Der armen kleinen Mowcher war bei all dem Weinen und Klagen so kalt geworden, daß sie sich dem Feuer zudrehte und ihre kleinen, nassen Füße in die Asche steckte, um sie zu wärmen, und still vor dem Herd saß wie eine große Puppe. Ich lehnte an einem Stuhl auf der andern Seite des Ofens, in trübe Gedanken verloren, sah ins Feuer und warf manchmal einen Blick auf sie.

»Ich muß jetzt gehen«, seufzte sie nach einer Weile und stand auf. »Es ist schon spät, nicht wahr? Sie haben doch kein Mißtrauen mehr gegen mich?«

Als ich ihrem durchdringenden Blick begegnete, konnte ich es nicht übers Herz bringen, ganz offen ja zu sagen.

»Schauen Sie«, sagte sie und nahm meine Hand, um über den Ofenvorsetzer steigen zu können, und sah mir betrübt ins Gesicht, »Sie würden mir sicher nicht mißtrauen, wenn ich ein Weib von natürlicher Größe wäre.«

Ich fühlte, wieviel Wahres in ihren Worten lag, und war beschämt.

»Sie sind ein sehr junger Mann. Nehmen Sie einen Rat von mir an, wenn ich auch nur ein Dreikäsehoch bin! Verbinden Sie bei einem Anblick körperlichen Mangels nie damit die Voraussetzung eines geistigen, wenn Sie nicht sehr guten Grund dazu haben!«

Ich ließ sogleich jeden Argwohn fallen. Ich versicherte, daß ich ihr vollständig vertraue und daß wir beide blinde Werkzeuge in arglistigen Händen gewesen wären. Sie dankte mir dafür und sagte, ich sei ein guter Junge.

»Jetzt geben Sie acht!« rief sie aus, indem sie sich auf dem Weg nach der Tür umdrehte und mich mit emporgehaltnem Zeigefinger schlau ansah. »Ich habe Grund anzunehmen – ich habe so etwas gehört, und meine Ohren sind fein –, daß sie ins Ausland gegangen sind. Wenn sie jemals zurückkehren, einzeln oder zusammen, und ich bin noch am Leben, so kann ich, die ich immerwährend unterwegs bin, ihnen eher als irgendein anderer begegnen. Was auch immer ich erfahre, werde ich Sie wissen lassen. Wenn ich jemals irgend etwas für das arme verführte Mädchen tun kann, so werde ich es, so Gott will, getreulich vollbringen. Und für Littimer wäre es besser, ein Bluthund wäre ihm auf den Fersen als die kleine Mowcher!«

Ich schenkte, als ich den Blick bemerkte, mit dem sie diese Worte sprach, ihrer Versicherung unbedingten Glauben.

»Trauen Sie mir nicht mehr, aber auch nicht weniger zu als einer Frau von natürlicher Größe«, sagte sie und erfaßte bittend meine Hand. »Wenn Sie mich jemals wiedersehen und ich mich wieder so benehme wie damals, so denken Sie daran, in welcher Gesellschaft ich mich befinde. Vergessen Sie nicht, daß ich ein hilf- und wehrloses, kleines Geschöpf bin. Stellen Sie sich mich vor mit einem Bruder oder einer Schwester, die gleich mir Zwerge sind und mit denen ich abends nach geschehener Arbeit beisammen bin. Vielleicht werden Sie dann nicht so sehr zweifeln, daß auch ich ernst und bekümmert sein kann. Gute Nacht!«

Ich gab Miss Mowcher mit einer ganz andern Meinung als früher die Hand und öffnete die Tür, um sie hinauszulassen. Es war keine Kleinigkeit, ihr den großen Regenschirm so in die Hand zu geben, daß er das gehörige Gleichgewicht behielt, aber es gelang mir endlich, und ich sah ihn durch den Regen die Straße hinabschwanken, ohne daß man im geringsten merkte, daß jemand darunter ging, außer wenn ein ungewöhnlich starker Guß aus einer Dachrinne ihn auf die Seite drückte und Miss Mowcher in angestrengtem Bemühen, ihn wieder aufzurichten, sehen ließ. Nach ein oder zwei Ausfällen, die ich zu ihrer Unterstützung machte, die aber jedesmal durch das unbeirrte Weiterhüpfen des Regenschirms unnütz erschienen, begab ich mich wieder in das Haus, ging zu Bett und schlief bis zum Morgen.

Früh kamen Mr. Peggotty und meine alte Kindsfrau zu mir, und wir gingen zusammen auf die Station, wo Mrs. Gummidge und Ham zum Abschied auf uns warteten.

»Masr Davy«, flüsterte Ham und zog mich beiseite, während Mr. Peggotty seinen Ölzeugsack verstaute. »Es ist ganz aus mit ihm. Er weiß nicht, wo er hingeht, er weiß nicht, was vor ihm liegt, er tritt eine Wanderung an bis zum Ende seiner Tage, wenn er nicht findet, was er sucht. Ich weiß, Sie werden sein Freund sein, Masr Davy!«

»Verlassen Sie sich darauf«, sagte ich und schüttelte ihm ernst die Hand.

»Danke, danke, Sir! Nur noch eins! Ich habe gute Arbeit, das wissen Sie ja, Masr Davy, und weiß jetzt nicht, was ich mit meinem Verdienst anfangen soll. Geld ist für mich von keinem Nutzen mehr. Wenn Sie es für ihn anwenden könnten, würde ich mit leichterem Herzen an die Arbeit gehen. Sie dürfen dabei nicht denken, Sir«, – er sprach dies sehr ruhig und gelassen – »daß ich nicht auch sonst immer wie ein Mann nach besten Kräften arbeiten würde.«

Ich sagte ihm, ich sei davon durchdrungen und deutete sogar auf die Möglichkeit hin, daß er doch einmal noch das einsame Leben, an das er jetzt natürlich immer denken müßte, aufgeben werde.

»Nein, Sir!« Er schüttelte den Kopf. »Damit ists vorbei. Niemand kann den Platz ausfüllen, der leer ist. Aber Sie werden das von dem Geld doch nicht vergessen? Es wird immer etwas für ihn zurückgelegt sein.«

Ich machte Ham darauf aufmerksam, daß doch Mr. Peggotty ein sicheres, wenn auch bescheidenes Einkommen aus der Hinterlassenschaft seines verstorbenen Schwagers beziehe, gab ihm aber zu gleicher Zeit das gewünschte Versprechen. Dann nahmen wir Abschied von einander. Selbst jetzt noch kann ich nicht ohne Schmerz zurückdenken, mit welcher Fassung er seinen tiefen Kummer trug.

Es läßt sich kaum schildern, wie Mrs. Gummidge neben dem Wagen herlief und durch die Tränen, die sie zu unterdrücken suchte, nichts als Mr. Peggotty sah und immer mit den Leuten, die des Weges kamen, zusammenrannte. Sie setzte sich schließlich auf die Türstufe eines Bäckerladens nieder, ganz außer Atem, den Hut bis zur Formlosigkeit zerdrückt und nur einen Schuh an; der andere lag in ziemlicher Entfernung auf dem Pflaster.

Als wir unser Reiseziel erreicht hatten, war unser erster Schritt, uns nach einer kleinen Wohnung für Peggotty, wo auch ihr Bruder schlafen könnte, umzusehen. Wir hatten das Glück, bald eine sehr reinliche und billige, nur zwei Straßen weit von mir oberhalb eines Wachszieherladens, zu finden. Dann kaufte ich etwas kaltes Fleisch in einem Eßwarengeschäft und nahm meine Reisegefährten mit nach Haus zum Tee; ein Schritt, der, wie ich zu meinem Bedauern konstatieren mußte, durchaus nicht Mrs. Crupps Billigung fand. Offenbar fühlte sie sich sehr gekränkt, weil Peggotty, bevor sie noch zehn Minuten bei mir war, ihr Witwenkleid aufschürzte und mein Schlafzimmer auszukehren begann. Das betrachtete Mrs. Crupp als eine Freiheit, die sich Peggotty herausnahm, und sie werde nie gestatten, sagte sie, daß sich irgend jemand etwas herausnähme.

Mr. Peggotty hatte mir während der Reise nach London etwas gesagt, was mir nicht ganz unerwartet kam. Er wollte nämlich vor allen Dingen Mrs. Steerforth aufsuchen. Da ich mich verpflichtet fühlte, ihm darin beizustehen und zwischen den beiden zu vermitteln, andererseits Mrs. Steerforths mütterliche Gefühle soviel wie möglich schonen wollte, so schrieb ich noch am Abend an sie. In so milden Ausdrücken wie möglich teilte ich ihr mit, was ihr Sohn getan, und inwieweit ich selbst die Mitschuld trug. Ich schrieb, daß Mr. Peggotty wohl ein Mann von niederem Stande, aber von redlichster und vornehmster Denkungsweise sei und daß ich zu hoffen wagte, sie werde ihm in seinem schweren Leid eine Zusammenkunft nicht versagen. Ich bestimmte zwei Uhr nachmittags als die Stunde unseres Kommens und schickte den Brief mit der ersten Frühpost ab.

Zur bestimmten Stunde standen wir an der Tür – an der Tür des Hauses, wo ich noch vor wenigen Tagen so glücklich gewesen, wo mein junges Herz so warm und vertrauensvoll geschlagen hatte und das, mir von nun für immer verschlossen, eine Ruine und eine Wüste für mich war.

Kein Littimer zeigte sich. Das angenehme Gesicht, das ich statt des seinigen schon bei meinem letzten Besuch erblickt hatte, erschien auf unser Klopfen und führte uns in den Salon. Dort saß Mrs. Steerforth, Rosa Dartle glitt, als wir eintraten, aus einer Zimmerecke zu ihr und stellte sich hinter ihren Stuhl.

Ich sah sogleich an dem Gesicht der Mutter, daß James ihr selbst alles gesagt hatte. Es war sehr blaß und trug die Spuren einer tiefern Bewegung, als mein Brief, der in ihr gewisse Zweifel zugelassen haben würde, hätte erzeugen können. Sie sah ihm ähnlicher als je. Ich fühlte mehr, als ich es sah, daß diese Ähnlichkeit auch meinem Begleiter nicht entging. Sie saß aufrecht in ihrem Lehnstuhl, mit unbeweglichem, leidenschaftslosem Gesicht, als ob sie nichts aus der Fassung bringen könnte. Sie sah Mr. Peggotty, als er vor ihr stand, sehr fest an, und auch er zuckte mit keiner Wimper. Rosa Dartles scharfer Blick ruhte auf uns allen. Einige Augenblicke lang wurde kein Wort gesprochen.

Mrs. Steerforth bot Mr. Peggotty einen Stuhl an. Er sagte mit leiser Stimme: »Ich würde es für unnatürlich halten, Maam, mich hier in diesem Hause niederzusetzen. Ich möchte lieber stehen bleiben.«

Darauf folgte wieder eine Pause, die Mrs. Steerforth mit den Worten unterbrach:

»Ich weiß zu meinem tiefen Bedauern, was Sie hierher führt. Was wünschen Sie von mir? Was soll ich für Sie tun?«

Er nahm den Hut unter den Arm, zog Emlys Brief aus der Tasche, faltete ihn auf und überreichte ihn ihr.

»Bitte, lesen Sie das, Maam. Er ist von meiner Nichte.«

Sie las den Brief in derselben leidenschaftslosen Weise – ungerührt, wie es schien, von seinem Inhalt – und gab ihn zurück.

»Wenn er mich nicht als seine Gattin zurückbringt«, – sagte Mr. Peggotty und wies mit dem Finger auf die Stelle. »Ich will wissen, Maam, ob er sein Wort halten wird.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Es ist unmöglich! Er würde sich damit unheilbar kompromittieren. Sie wissen doch, daß sie weit unter seinem Stande ist.«

»So erheben Sie sie!« sagte Mr. Peggotty.

»Sie hat weder Erziehung noch Bildung.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Mr. Peggotty. »Ich glaube es nicht, Maam, aber ich habe kein Urteil in solchen Dingen. Erziehen Sie sie!«

»Da Sie mich schon zwingen, offner zu reden, was ich sehr ungern tue, so muß ich sagen, daß ihre niedrigen verwandtschaftlichen Beziehungen es unmöglich machen.«

»Hören Sie, Maam«, erwiderte Peggotty leise und ruhig. »Sie wissen, was es heißt, sein Kind zu lieben! Ich weiß es auch! Wenn sie hundertmal mein eignes Kind wäre, könnte ich sie nicht mehr lieben. Sie wissen nicht, was es heißt, sein Kind verlieren. Ich weiß es! Alle Reichtümer der Welt wären mir nicht zu viel, sie zurückzukaufen. Aber retten Sie sie vor der Schmach, und wir werden ihr nie zur Schande gereichen. Keiner von all denen, unter denen sie aufgewachsen ist und denen sie so viele Jahre alles war, soll ihr liebes Gesicht wiedersehen. Wir werden zufrieden sein, an sie denken zu können, als ob sie weit weg von uns unter einem andern Himmel und unter einer andern Sonne wäre; wir werden sie mit ihrem Gatten und – vielleicht – der Sorge für ihre Kleinen allein lassen und die Zeit erwarten, wo wir alle gleich sind vor Gott.«

Seine schlichte Beredsamkeit blieb nicht ohne Wirkung. Mrs. Steerforth behielt ihr stolzes Wesen bei, aber in ihrer Stimme lag eine gewisse Milde, als sie antwortete:

»Ich suche nichts zu beschönigen. Ich erhebe keine Gegenanklage, aber es tut mir leid wiederholen zu müssen, es ist unmöglich. Eine solche Heirat würde die Zukunft meines Sohnes und alle seine Aussichten unwiederbringlich vernichten. Nichts ist gewisser, daß sie nie stattfinden kann und nie stattfinden wird. Wenn ich es auf eine andre Art gutmachen kann –«

»Ich sehe das Ebenbild des Gesichtes vor mir«, unterbrach sie Mr. Peggotty, und seine Augen flammten auf, – »das mich angesehen hat in meinem Haus, an meinem Kamin, in meinem Boot – und wo nicht sonst noch –, lächelnd und freundlich, während er auf Verrat sann, – ich könnte bei dem bloßen Gedanken daran wahnsinnig werden. Wenn das Ebenbild dieses Gesichtes nicht zu brennendem Feuer wird bei dem Einfall, mir für die Schande und das Verderben meines Kindes Geld anzubieten, so ist das schlimm genug. Ich weiß nicht, da ich jetzt doch eine Dame vor mir habe, welcher von beiden Fällen der schlimmere ist.«

Mrs. Steerforths Ausdruck veränderte sich im Augenblick.

Eine jähe Röte überflog ihr Gesicht, und sie sagte heftig, die Armlehnen des Stuhles mit den Fingern umklammernd:

»Und welche Entschädigung können Sie mir geben, daß Sie eine solche Kluft geöffnet haben zwischen mir und meinem Sohn? Was ist Ihre Liebe gegen die meine? Was ist Ihr Verlust gegen den unsern?« Miss Dartle legte leise die Hand auf ihre Schulter und flüsterte ihr etwas zu, aber sie wollte nicht hören.

»Nein, Rosa, kein Wort weiter: Soll er hören, was ich ihm zu sagen habe. Mein Sohn, der der einzige Zweck meines Lebens war, dem jeder meiner Gedanken galt, dem ich jeden Wunsch erfüllte von Kindheit an, von dem ich nie getrennt war seit seiner Geburt, läuft jetzt mit einem elenden Mädchen davon und meidet mich. Er lohnt mein Vertrauen mit systematischer Täuschung ihretwegen und verläßt mich ihretwegen. Er wirft eine tolle Laune in die Waagschale und opfert seine Mutter, seine Pflicht, seine Liebe, seine Dankbarkeit – alle meine Ansprüche an ihn, die jeder Tag und jede Stunde seines Lebens zu immer festeren Banden hätte machen müssen. Ist mir damit vielleicht kein Unrecht zugefügt?«

Abermals bemühte sich Rosa Dartle, sie zu besänftigen, doch umsonst.

»Nicht ein Wort, Rosa, sage ich! Wenn James sein Alles auf das geringste Etwas setzen kann, so kann ich mein Alles auf Wichtigeres setzen. Er mag mit den Mitteln, die ihm meine Liebe gegeben hat, gehen, wohin er will. Glaubt er, er werde durch lange Abwesenheit meinen Sinn brechen, dann kennt er seine Mutter sehr schlecht! Wenn er jetzt noch seine Laune fallenläßt, so soll er mir willkommen sein. Tut er es nicht, so soll er nie lebend oder sterbend in meine Nähe kommen, solange ich meine Hand abwehrend bewegen kann. Ehe er sich nicht von ihr für immer losgesagt hat und mich demütig um Verzeihung bittet, soll er nie mehr in meine Nähe kommen. Das ist mein Recht. Das verlange ich von ihm. Das ist die Kluft, die zwischen uns liegt … Und ist mir damit kein Unrecht geschehen?« setzte sie hinzu und sah Mr. Peggotty mit demselben stolzen, unduldsamen Blick an wie vorhin.

Als ich die Mutter diese Worte sprechen hörte, da war mir, als stünde ihr Sohn vor mir. Seine ganze eigenwillige Starrköpfigkeit sah ich in ihr. Alles, was ich von seiner irregeleiteten Energie kannte, sah ich auch jetzt in ihrem Charakter und begriff, daß er in seinen stärksten Eigenheiten derselbe war.

Sie sagte jetzt zu mir, so maßvoll wie vorhin, daß es nutzlos sei, mehr darüber anzuhören oder zu äußern, und daß sie den Besuch beendigt zu sehen wünsche.

Sie stand mit würdevoller Miene auf, um das Zimmer zu verlassen, als Mr. Peggotty ihr bedeutete, das sei unnötig.

»Befürchten Sie nicht, daß ich Ihnen noch länger lästig fallen werde, denn ich habe nichts weiter zu sagen, Maam«, sprach er und ging langsam zur Tür. »Ich kam ohne Hoffnung hierher und nehme keine mit. Ich habe getan, was ich für meine Schuldigkeit hielt, aber nicht auf Erfolg gerechnet. Dieses Haus ist für mich und die Meinigen zu unheilvoll gewesen, als daß ich vernünftigerweise anderes hätte erwarten können.«

Mit diesen Worten schieden wir, und Mrs. Steerforth blieb, ein Bild vornehmen Wesens, neben ihrem Lehnstuhl stehen.

Wir hatten über einen gepflasterten Vorhof mit gläsernen Wänden und gläsernem Dach, von Reben umrankt, zu gehen. Der Tag war schön, und die nach dem Garten führende Glastür stand offen. Als wir schon nahe dem Ausgang waren, trat Rosa Dartle mit geräuschlosem Schritt an mich heran und sprach:

»Ein schöner Einfall, diesen Menschen herzubringen!« Eines so konzentrierten Ausdrucks von Wut und Verachtung, wie er jetzt ihr Gesicht verdunkelte und in ihren jettschwarzen Augen flammte, hätte ich sie nicht für fähig gehalten. Wie immer bei großen Aufregungen trat die alte Narbe von dem Hammerwurf auffällig hervor. Als das Zucken darin jetzt wieder deutlich wurde, erhob sie die Hand und schlug darauf.

»So, der richtige Bursche, um ihn als Fürsprecher mitzubringen! Sie sind mir ein echter Mann«, sagte sie.

»Miss Dartle, Sie können doch nicht so ungerecht sein, mir die Schuld beizumessen!«

»Warum säen Sie Zwietracht zwischen diesen beiden Wahnsinnigen. Sehen Sie denn nicht, daß sie beide vor Eigenwillen und Stolz verrückt sind?«

»Tue ich denn das?«

»Ja, Sie tun es«, antwortete sie. »Warum bringen Sie diesen Menschen her?«

»Es hat ihn ins Herz getroffen, Miss Dartle. Sie wissen es vielleicht nicht.«

»Ich weiß, daß James Steerforth«, sagte sie und legte die Hand auf die Brust, wie um einen Sturm, der darin raste, niederzuhalten, »ein verderbtes Herz hat und ein Verräter ist. Aber was geht mich dieser Mensch da an und seine ordinäre Nichte.«

»Miss Dartle!« sagte ich. »Sie machen das Unrecht nur noch schlimmer. Es ist genug jetzt. Ich will nur noch das eine zum Abschied sagen, daß Sie ihm sehr unrecht tun.«

»Ich tue ihm kein Unrecht. Es ist ein schlechtes, nichtswürdiges Pack. Ich wollte, ich könnte diese Leute auspeitschen lassen.«

Mr. Peggotty ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihr vorüber und zur Türe hinaus.

»Pfui, Miss Dartle, pfui!« sagte ich entrüstet. »Wie können Sie seinen unverdienten Schmerz so mit Füßen treten!«

»Ich möchte sie alle mit Füßen treten. Ich möchte sein Haus niederreißen lassen, und sie möchte ich brandmarken auf der Stirne, sie in Lumpen kleiden und auf die Straße werfen, daß sie verhungert! Wenn ich zu richten hätte, so müßte ich sie so sehen. Ja, mit eigner Hand würde ich es tun. Ich verabscheue sie! Wenn ich ihr jemals ihre Schande vorwerfen könnte, ich würde es tun, wo immer es ist. Wenn ich sie zu Tode hetzen könnte, würde ichs tun. Und wenn ein einziges Wort des Trostes ihr eine Erquickung in ihrer Sterbestunde wäre, und nur ich könnte es sagen, so würde ich es verschweigen, und wenn es mir das Leben kostete.«

Die Worte allein gaben nur ein schwaches Abbild von dem Haß, der sie erfüllte und der sich in ihrer ganzen Gestalt und in ihrer verhaltenen Stimme verriet. Ich habe Leidenschaft in mancherlei Form gesehen, aber niemals mehr als in dieser.

Als ich Mr. Peggotty wieder einholte, ging er langsam und nachdenklich den Hügel hinab. Er wolle noch heute abend, jetzt, wo er alles in London erledigt, was er sich vorgenommen, seine Reise antreten. »Ich will meine Nichte suchen«, sagte er.

Wir gingen in die bescheidne Wohnung über dem Wachszieherladen, und ich sprach mit seiner Schwester über seine Absicht. Sie wußte von seinem Reiseziel nicht mehr als ich und glaubte, er habe bereits einen festen Plan im Sinn.

Ich wollte ihn in seiner Verfassung nicht allein lassen, und wir aßen alle drei zusammen eine Beefsteak-Pastete – eine der vielen guten Dinge, die Peggotty ausgezeichnet zu bereiten verstand. Nach dem Essen saßen wir ein paar Stunden ziemlich wortkarg am Fenster, dann stand Mr. Peggotty auf, holte seinen Reisesack und seinen derben Stock herbei und legte beides auf den Tisch. Er nahm von dem Bargeld seiner Schwester eine kleine Summe als Abschlag auf seine Erbschaft an, so wenig, daß es meines Erachtens kaum auf einen Monat reichen konnte. Er versprach mir zu schreiben, wenn ihm etwas zustieße, hängte sich den Reisesack um, nahm Hut und Stock und sagte uns beiden Lebewohl.

»Und allen Segen auf dein Haupt, meine gute Alte!« sagte er und umarmte Peggotty, »und auf Ihres, Masr Davy«, setzte er hinzu, mir die Hand schüttelnd. »Ich will sie suchen nah und fern. Wenn sie zurückkommen sollte, während ich abwesend bin – es wird wohl nicht der Fall sein –, oder wenn ich sie zurückbringen kann, dann will ich mit ihr leben und sterben, wo niemand ihr Vorwürfe machen darf. Wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren, ›meine unveränderte Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr‹.«

Er sprach die Worte feierlich und mit entblößtem Haupt. Dann setzte er den Hut auf und ging fort. Wir begleiteten ihn bis ans Haustor. Es war ein warmer staubiger Abend und um eine Stunde, wo in der großen Verkehrsstraße, in die das Nebengäßchen mündete, vorübergehend Stille in dem ewigen Geräusch der Schritte auf dem Pflaster eintrat und die Sonne rot und abendlich glänzte. Er bog um die Ecke in ein Lichtmeer, in dem wir ihn bald aus den Augen verloren.

Oft in solchen Abendstunden mußte ich an ihn auf seiner mühevollen Pilgerfahrt und an seine Worte denken: »Ich werde sie suchen, nah und fern, und wenn mir etwas zustoßen sollte, so vergeßt nicht, daß meine letzten Worte für sie waren: ›Meine unwandelbare Liebe gehört immer noch meinem teuern Kind, und ich verzeihe ihr.‹«

41. Kapitel Doras Tanten


41. Kapitel Doras Tanten

Endlich kam eine Antwort von den beiden alten Damen. Sie empfahlen sich bestens Mr. Copperfield und ließen ihm sagen, daß sie seinen Brief in reiflichste Erwägung gezogen hätten, und zwar mit Rücksicht auf »das Glück beider Teile«.

Der Ausdruck kam mir recht beunruhigend vor, nicht nur, weil sie ihn schon einmal bei ihrer Zwistigkeit mit ihrem Bruder gebraucht, sondern auch, weil bekanntlich herkömmliche Phrasen wie ein Feuerwerk sind, das leicht losgeht und die verschiedensten Gestalten und Formen annimmt, die man seinem ursprünglichen Aussehen nach nie vermutet hätte.

Die beiden Misses Spenlow fügten hinzu, sie müßten sich enthalten, auf »brieflichen Verkehr« hin ein Urteil über den Gegenstand von Mr. Copperfields Mitteilungen auszusprechen, aber daß sie sich glücklich schätzen würden, mit Mr. Copperfield über diesen Punkt persönlich zu sprechen, wenn er ihnen an einem bestimmten Tage, am liebsten in Begleitung eines vertrauenswürdigen Freundes, die Ehre seines Besuches erweisen wollte.

Auf dieses wertgeschätzte Schreiben antwortete Mr. Copperfield sofort mit der größten Ergebenheit, daß er sich die Ehre nehmen werde, an dem bestimmten Tag den Misses Spenlow seine Aufwartung zu machen, und zwar mit ihrer gütigen Erlaubnis in Gesellschaft seines Freundes Mr. Thomas Traddles vom innern Juristenkollegium.

Nach Absendung dieser Botschaft geriet Mr. Copperfield in die größte Gemütserregung und verblieb in derselben, bis der Tag gekommen war.

 

Meine Bedrängnisse wurden nicht wenig dadurch vermehrt, daß ich in dieser Krisis die unschätzbaren Dienste der Miss Mills entbehren mußte. Mr. Mills, der mir immer etwas zum Tort tat – wenigstens schien es mir so –, hatte seinem Benehmen die Krone aufgesetzt und den Entschluß gefaßt nach Ostindien zu reisen. Was wollte er in Indien! Nur mir zum Verdruß fuhr er nach Indien! Allerdings hatte er mit keinem andern Weltteil so viel zu tun wie mit diesem, denn er ging ganz im indischen Handel auf. Ich wußte weiter nichts vom indischen Handel und machte mir so eine phantastische Vorstellung von goldnen Schals und Elefantenzähnen.

Mr. Mills war in seiner Jugend in Kalkutta gewesen und wollte sich jetzt dort als Teilhaber eines Handelshauses niederlassen. Aber was ging das mich an! Julia sollte mit ihm gehen und war über Land gefahren, um von ihren Verwandten Abschied zu nehmen. Das Haus trug förmlich einen Mantel von Anzeigen, auf denen stand, was alles vermietet, verkauft oder versteigert werden sollte (auch der Hausrat, die Mangel mit eingeschlossen!).

So wurde ich abermals das Opfer eines Erdbebens, ehe ich mich noch von den Erschütterungen des ersten erholt hatte.

Ich schwankte, was ich an diesem wichtigen Tage anziehen sollte. Einesteils wollte ich einen möglichst vorteilhaften Eindruck machen, andererseits befürchtete ich etwas anzuziehen, was das Streng-Praktische meines Aussehens in den Augen der beiden Misses Spenlow hätte beeinträchtigen können. Ich bemühte mich, einen glücklichen Mittelweg ausfindig zu machen. Meine Tante billigte den Anzug, und Mr. Dick warf mir der guten Vorbedeutung wegen einen Schuh nach.

Ich kannte Traddles als vortrefflichen Freund und war ihm herzlich zugeneigt. Dennoch hätte ich bei dieser delikaten Gelegenheit gewünscht, daß er sich nie gewöhnt hätte, sein Haar so unglaublich in die Höhe zu bürsten. Es gab ihm ein so verwundertes Aussehen – ich möchte fast sagen, etwas Besenhaftes –, was, wie ich fürchtete, uns zum Unglück ausschlagen könnte.

Ich nahm mir die Freiheit, Traddles auf dem Wege nach Putney darauf aufmerksam zu machen und ihn zu bitten, ob er es nicht nur ein ganz klein wenig glattstreichen wollte.

»Mein lieber Copperfield«, sagte Traddles, indem er den Hut abnahm und sein Haar in allen Richtungen rieb, »nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, aber es will nicht.«

»Es will sich nicht glätten lassen?«

»Nein. Es läßt sich durch nichts dazu bewegen. Und wenn ich den ganzen Weg nach Putney einen halben Zentner drauf trüge, so würde es sich in demselben Augenblick wieder aufrichten, in dem man das Gewicht entfernt. Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie eigenwillig mein Haar ist, Copperfield! Ich sehe immer aus wie ein gereiztes Stachelschwein.«

Ich muß gestehen, ich war ein wenig verdrießlich, obgleich mich seine Gutherzigkeit versöhnte. Ich sagte ihm, wie sehr ich ihn schätzte, und daß sein Haar offenbar allen Eigensinn aus seinem Charakter an sich gezogen haben müßte, da er so gar keine Spur davon besitze.

»Ja, das ist eine alte Geschichte mit meinem unglückseligen Haar«, lachte Traddles. »Die Frau meines Onkels konnte es schon nicht ausstehen. Sie sagte, es brächte sie zur Verzweiflung. Auch bei meiner Werbung um Sophie war es mir anfangs sehr hinderlich. Sogar außerordentlich.«

»Hatte sie etwas dagegen?«

»Sie nicht, aber ihre älteste Schwester – die Schönheit – machte sich immer darüber lustig. Alle Schwestern lachen darüber.«

»Recht angenehm!« meinte ich.

»Ja«, bestätigte Traddles mit größter Harmlosigkeit. »Es ist für uns alle ein wahrer Spaß. Sie behaupten, Sophie besäße eine Locke davon in ihrem Schreibtisch und habe an dem Buch ein Schloß anbringen müssen, da es sonst nicht zuginge. Wir scherzen immer darüber.«

»Übrigens, lieber Traddles, vielleicht könnte deine Erfahrung mir von Nutzen sein. Als du dich verlobtest, machtest du da in der Familie einen regelrechten Heiratsantrag? Kam so etwas vor, wie wir zum Beispiel heute vorhaben?« fragte ich nervös.

»Die Wahrheit zu gestehen«, entgegnete Traddles, über dessen aufmerksames Gesicht sich jetzt ein Schatten von Nachdenklichkeit verbreitete, »war es bei mir eine ziemlich unangenehme Geschichte, Copperfield. Siehst du, Sophie ist für die Familie so unentbehrlich, daß niemand sich mit dem Gedanken, sie könne jemals heiraten, vertraut machen wollte. Sie hatten es geradezu unter sich abgemacht, daß sie niemals heiraten dürfte, und nannten sie nur die alte Jungfer. Als ich es daher mit der größten Vorsicht gegen Mrs. Crewler zur Sprache brachte – der Vater ist Reverend Horace Crewler –, schrie sie laut auf und fiel in Ohnmacht. Monatelang durfte ich das Thema nicht wieder berühren.«

»Aber endlich brachtest du es doch wieder zur Sprache?«

»Das tat Seine Ehrwürden selbst. Er ist ein ganz vortrefflicher Mann, musterhaft in jeder Hinsicht und er hielt seiner Gattin vor, daß sie sich als Christin mit dem Gedanken an das Opfer versöhnen müsse – um so mehr, als es ungewiß sei – und kein unchristliches Gefühl gegen mich hegen dürfte. Was mich betrifft, Copperfield, ich gebe dir mein Wort, ich kam mir der Familie gegenüber wie ein Raubvogel vor.«

»Aber die Schwestern nahmen doch deine Partei, hoffe ich, Traddles?«

»Nun, das kann ich gerade nicht sagen. Als wir Mrs. Crewler so halb und halb versöhnlich gestimmt hatten, mußten wir es Sara beibringen. Du weißt wohl noch, – Sara, die am Rückenmark leidet.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie ballte beide Hände«, sagte Traddles, »sah mich zornig an, schloß die Augen, wurde bleifarben, dann ganz steif und genoß zwei Tage lang nichts als teelöffelweise Toast mit Wasser.«

»Was für ein unliebenswürdiges Mädchen, Traddles.«

»O nein. Ich bitte um Entschuldigung, Copperfield. Sie ist ein ganz entzückendes Mädchen und hat nur zu viel Gefühl. Das haben sie überhaupt alle! Sophie gestand mir später, daß die Selbstvorwürfe, die sie sich gemacht, als sie Sara pflegte, unbeschreiblich gewesen seien. Daß sie schmerzlich gewesen sein mußten, verrieten mir meine eignen Empfindungen, Copperfield, die denen eines Verbrechers glichen. Als Sara von dem Schlag wieder genesen war, hatten wir es noch den andern acht beizubringen, und es brachte auf sie die verschiedenartigsten Wirkungen rührendster Art hervor. Die beiden Kleinen, die Sophie erzieht, haben erst vor kurzem aufgehört mich zu verabscheuen.«

»Hoffentlich haben sie sich jetzt vollständig damit ausgesöhnt?«

»J-ja«, gab Traddles zögernd zu. »Im großen ganzen scheinen sie sich darein ergeben zu haben. Wir sprechen weiter nicht von der Sache, und die Ungewißheit meiner Aussichten ist für sie alle ein großer Trost. Wenn wir einmal heiraten, wird es eine klägliche Szene geben. Sie wird einem Leichenbegängnis eher ähnlicher sehen als einer Hochzeit. Und hassen werden sie mich alle, wenn ich sie mit fortnehme.«

Sein ehrliches Gesicht, wie er halb ernst, halb komisch den Kopf schüttelte, macht jetzt in der Erinnerung einen größern Eindruck auf mich als damals in Wirklichkeit, denn ich war in einen Zustand so übermäßiger Angst und Gedankenflucht geraten, daß ich meine Aufmerksamkeit nicht lange auf ein und denselben Gegenstand richten konnte. Als wir in die Nähe der Wohnung der Misses Spenlow kamen, stand es mit meinem Aussehen und meiner Geistesgegenwart so schlimm, daß Traddles ein Glas Ale als sanftes, mutbildendes Mittel in Vorschlag brachte. Nachdem ich einige Schlucke in einem benachbarten Wirtshaus genossen, ging ich, von ihm geleitet, schwankenden Schrittes zu den Misses Spenlow.

Ich hatte die unbestimmte Empfindung beobachtet zu werden, als das Mädchen die Tür öffnete und ich durch eine Vorhalle mit einem Wetterglas in ein stilles kleines Parterrezimmer mit der Aussicht auf einen niedlichen Garten wankte. Es kam mir so vor, als setzte ich mich auf ein Sofa, glaubte Traddles Haar, wie er seinen Hut abnahm, aufschnellen zu sehen gleich einer der gewissen kleinen Schreckfiguren, die aus Schnupftabakzauberdosen hervorspringen. Ich glaube, ich hörte eine altmodische Uhr auf dem Kaminsims ticken, und versuchte, das Geräusch mit meinem Herzklopfen in Takt zu bringen, aber es gelang nicht. Ich sah mich, glaube ich, im Zimmer nach einem Zeichen von Doras Anwesenheit um und erblickte nichts. Mir scheint, Jip bellte einmal in der Ferne und wurde sofort von jemand beschwichtigt.

Zuletzt fand ich mich in einer Situation wieder, in der ich Traddles rücklings in den Kamin drängte und mich in großer Verwirrung vor zwei vertrockneten ältlichen Damen verbeugte, die, schwarz gekleidet, auch in ihrem übrigen Aussehen lebhaft an den verstorbenen Mr. Spenlow erinnerten.

»Ich bitte«, sagte eine der beiden kleinen Damen, »nehmen Sie Platz.«

Als ich aufgehört hatte, über Traddles zu stolpern, und mich auf etwas gesetzt hatte – es war keine Katze, wie das erste Mal –, hellten sich meine Augen wenigstens so weit auf, um sehen zu können, daß die jüngere der beiden Schwestern, die sechs bis acht Jahre älter als Mr. Spenlow sein mochten, mit der Leitung der Konferenz beauftragt zu sein schien, denn sie hielt meinen Brief in der Hand und betrachtete ihn von Zeit zu Zeit durch ein Augenglas.

Beide waren gleich gekleidet, aber diese Dame trug sich etwas jugendlicher; ein wenig mehr Fransen, eine Brosche oder ein Armband oder andere Kleinigkeiten der Art verliehen ihr ein etwas lebhafteres Aussehen. Beide hielten sich sehr steif, waren zeremoniell, gefaßt und ruhig. Die ältere hatte die Arme verschränkt und saß da wie ein Götzenbild.

»Mr. Copperfield vermute ich«, sagte die Schwester mit dem Brief zu Traddles.

Das war ein schrecklicher Anfang. Traddles mußte auseinandersetzen, daß ich Mr. Copperfield wäre, stellte mich vor, und die Damen hatten sich von ihrer vorgefaßten Meinung, Traddles sei Mr. Copperfield, freizumachen, und alles war in trefflicher Konfusion. Um das Maß vollzumachen, hörte man Jip draußen deutlich bellen und wieder beschwichtigt werden.

»Mr. Copperfield!« wandte sich jetzt die Schwester mit dem Brief an mich.

Ich tat irgend etwas – verbeugte mich vermutlich – und war ganz Ohr, als die andere Dame einfiel:

»Meine Schwester Lavinia, die in Dingen dieser Art bewandert ist, wird klarlegen, was wir zur Förderung des Glückes beider Teile für das Geeignetste erachten.«

Ich entdeckte später, daß Miss Lavinia als Autorität in Herzensangelegenheiten galt, weil früher einmal ein gewisser Mr. Pidger im Hause einen kurzen Whist gespielt und sich angeblich dabei in sie verliebt haben sollte.

Meiner Meinung nach war dies eine willkürliche Annahme gewesen, denn Mr. Pidger hatte niemals ein Wort darüber verlauten lassen. Aber Miss Lavinia und Miss Clarissa lebten in dem Glauben, er sei nur deshalb von einer Liebeserklärung abgehalten worden, weil er durch den Tod in der Blüte seiner Jahre, nämlich im sechzigsten, infolge übermäßigen Trinkens und darauffolgenden massenhaften Genusses der Heilquellen von Bath, der Welt entrissen wurde. Sie hegten den Verdacht, er sei an unterdrückter Liebe gestorben. Sein Porträt im Hause stellte ihn mit einer leuchtendroten Nase dar, und ich vermochte darin nicht das Zeichen heimlicher Liebesleidenschaft zu sehen.

»Wir wollen nicht von der Vergangenheit sprechen«, sagte Miss Lavinia. »Der Tod unseres armen Bruders Francis enthebt uns dessen.«

»Wir standen mit unserm Bruder Francis nicht in häufigem Verkehr«, unterbrach Miss Clarissa, »aber ausgesprochene Uneinigkeit herrschte nie zwischen uns. Francis schlug seinen Weg ein, und wir den unsrigen. Wir erachteten das für das Glück aller Beteiligten als das beste. Und das war es auch.«

Jede der beiden Schwestern bog sich stets ein wenig beim Sprechen vor, nickte dann und saß wieder steif aufrecht, wenn sie schwieg. Miss Clarissa bewegte die Arme nie. Manchmal trommelte sie mit ihren Fingern – Menuette und Märsche, wie es schien.

»Die Lage unserer Nichte oder besser gesagt, ihre vermeintliche Lage, hat sich durch das Ableben unseres Bruders Francis sehr verändert«, sagte Miss Lavinia, »und deshalb erachten wir die Meinung unseres Bruders über ihre Lage ebenfalls für verändert. Wir haben keinen Grund zu bezweifeln, Mr. Copperfield, daß Sie ein junger Gentleman von guten Eigenschaften und ehrenwertem Charakter sind, noch auch, daß Sie eine Neigung – wenigstens Ihrer Überzeugung nach – zu unserer Nichte gefaßt haben.«

Ich erwiderte wie immer, wenn sich Gelegenheit dazu bot, daß noch nie ein Mensch so geliebt habe wie ich. Traddles kam mir mit einem bekräftigenden Gemurmel zu Hilfe.

Miss Lavinia wollte fortfahren, aber Miss Clarissa, immerwährend von dem Verlangen beseelt, über ihren Bruder Francis zu sprechen, fiel ihr ins Wort:

»Wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis festgestellt hätte, daß für die Familie kein Platz am Mittagstisch sei, wäre es für das Glück aller Beteiligten besser gewesen!«

»Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia. »Vielleicht brauchen wir davon jetzt nicht zu sprechen.«

»Liebe Schwester Lavinia, es gehört zur Sache! In den Teil der Angelegenheit, von dem du allein zu sprechen berechtigt bist, nehme ich mir nicht heraus dreinzureden. Aber in dem eben erwähnten habe ich eine Stimme und eine Meinung. – Es wäre besser gewesen für das Wohl aller Beteiligten, wenn Doras Mama gleich bei ihrer Verheiratung mit unserm Bruder Francis ihre Ansicht offen herausgesagt hätte. Wir wären informiert gewesen und hätten gesagt: Bitte, dann ladet uns überhaupt nicht ein, und jede Möglichkeit eines Mißverständnisses wäre unterblieben.«

Als Miss Clarissa mit Kopfnicken fertig war, fing Miss Lavinia wieder an, nachdem sie meinen Brief abermals durch ihr Augenglas betrachtet hatte.

Sie hatten beide kleine, helle, runde, funkelnde Augen und überhaupt ganz das Wesen von lebhaften, putzigen, federschüttelnden Kanarienvögeln.

Miss Lavinia fuhr also fort:

»Sie bitten meine Schwester und mich um Erlaubnis, Mr. Copperfield, als erklärter Bewerber unserer Nichte hier verkehren zu dürfen.«

»Wenn unser Bruder Francis«, fiel Miss Clarissa ein, »sich schon mit einer Atmosphäre von Doctors‘ Commons und nur von Doctors‘ Commons zu umgeben wünschte, wie konnten wir etwas dagegen einwenden? Wir hatten kein Recht dazu und sind immer weit entfernt gewesen, uns jemand aufdrängen zu wollen. Aber warum sagte er es nicht offen heraus? Unser Bruder Francis und seine Gattin sollen sich ihre Gesellschaft ruhig aussuchen. Meine Schwester Lavinia und ich finden unsern Verkehr auch ohne ihn, hoffe ich.«

Da sie sich mit diesen Worten an Traddles und mich zu wenden schien, gaben sowohl er als ich eine Art Antwort. Traddles Worte waren unhörbar. Ich glaube, ich äußerte mich, daß es für alle Teile höchst ehrenvoll sei. Was ich damit sagen wollte, wußte ich selbst nicht.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, die jetzt ihr Herz erleichtert hatte, »bitte weiter.«

Miss Lavinia fuhr fort:

»Mr. Copperfield, meine Schwester Clarissa und ich haben Ihren Brief in sorgfältigste Erwägung gezogen und haben es nicht getan, ohne auch schließlich mit unserer Nichte darüber zu sprechen. Wir bezweifeln nicht, daß Sie sie sehr zu lieben glauben.«

»O, glauben! Maam«, hob ich ganz begeistert an. »O –«

Aber da mir Miss Clarissa einen vogelartigen Blick zuwarf, als wolle sie nicht, daß ich das Orakel unterbräche, so bat ich um Verzeihung.

»Liebe«, sagte Miss Lavinia und ersuchte ihre Schwester mit einem Blick um Beistimmung, die diese auch mit einem Kopfnicken nach jedem Satz erteilte, »Liebe, gereifte Zuneigung, Hingebung, Verehrung sprechen nicht mit lautem Ton! Ihre Stimmen sind leise. Sie sind bescheiden, liegen sozusagen im Hinterhalt und warten und warten. So sind die gereiften Früchte. Manchmal gleitet ein Leben hinweg, und immer noch reifen sie im Schatten.«

Natürlich verstand ich damals noch nicht diese Anspielung auf den unglücklichen Mr. Pidger, aber ich erkannte aus dem Ernst, mit dem Miss Clarissa mit dem Kopf nickte, daß Großes in diesen Worten verborgen lag.

»Die leichten – denn ich nenne sie im Vergleich mit solchen Empfindungen leicht – die leichten Neigungen der ganz jungen Leute«, fuhr Miss Lavinia fort, »sind dagegen wie Staub, verglichen mit Felsen. Weil es nun so schwer ist zu erkennen, ob sie von Dauer sind oder auf echtem Grunde stehen, waren meine Schwester Clarissa und ich lange unentschlossen, Mr. Copperfield, und Mr. –«

»Traddles«, ergänzte mein Freund, als er den Blick der Dame auf sich ruhen fühlte.

»Ich bitte um Entschuldigung. Vom innern Juristenkollegium, glaube ich?« Sagte Miss Clarissa und sah wieder in den Brief.

»So ist es«, bestätigte Traddles und wurde ziemlich rot.

Obwohl ich bisher noch keinerlei Aufmunterung zu hören bekommen hatte, so glaubte ich doch in den beiden kleinen Schwestern und vornehmlich in Miss Lavinia eine große Neigung zu erkennen, dieses neue vielversprechende Thema häuslichen Interesses zu genießen und nach Möglichkeit auszuspinnen, was mir ziemlich viel Hoffnung erweckte. Mir schien es, als ob Miss Lavinia außerordentliche Lust darin fände, zwei junge Liebende wie Dora und mich am Gängelbande zu führen, und es Miss Clarissa nicht weniger Genuß bereitete, diese Leitung mitanzusehen und sich in ihrer Art einzumischen, je nachdem sie der Geist dazu trieb.

Die Wahrnehmung flößte mir den Mut ein auf das lebhafteste zu beteuern, daß ich Dora mehr liebe, als ich sagen könnte; daß alle meine Freunde wüßten, wie sehr es der Fall sei; daß meine Tante, Agnes, Traddles und jeder, der mich kenne, wüßten, wie sehr ich Dora liebte und wie ernst mich diese Liebe gemacht hätte. Zur Bestätigung wandte ich mich immer an Traddles. Und Traddles wurde so lebhaft, als ob er mitten in einer parlamentarischen Debatte stünde, und benahm sich geradezu großartig. Er bestätigte meine Rede in festen, klaren Worten und mit einer einfachen, verständigen Art, die offenbar einen günstigen Eindruck machte.

»Ich spreche wie jemand, der eine gewisse Erfahrung in solchen Dingen hat«, sagte Traddles, »denn ich selbst bin mit einer jungen Dame verlobt – einer von zehn Schwestern unten in Devonshire – und sehe bis jetzt noch keine Möglichkeit, wann unser Brautstand zu einem Abschluß kommen kann.«

»Sie werden also gewiß bestätigen können, Mr. Traddles, was ich vorhin sagte von der Liebe, die bescheiden und zurückhaltend wartet und wartet«, bemerkte Miss Lavinia, meinen Freund mit erneutem Interesse ansehend.

»Vollkommen, Maam!«

Miss Clarissa warf Miss Lavinia einen Blick zu und nickte ernst mit dem Kopf. Miss Lavinia erwiderte den Blick mit Selbstbewußtsein und seufzte leise.

»Liebe Schwester Lavinia«, sagte Miss Clarissa, »nimm mein Riechfläschchen.«

Miss Lavinia belebte sich mit ein paar Zügen an dem Fläschchen, während Traddles und ich mit großer Teilnahme zusahen, und fuhr dann mit etwas schwacher Stimme fort:

»Meine Schwester und ich haben lange geschwankt, Mr. Traddles, was wir angesichts der Neigung – der vielleicht bloß eingebildeten Neigung – von zwei so ganz jungen Leuten, wie Ihr Freund Mr. Copperfield und unsere Nichte sind, tun sollten.«

»Unseres Bruders Francis Kind!« fiel Miss Clarissa wieder ein. »Wenn unseres Bruders Francis Gattin es zu ihren Lebzeiten für passend gefunden hätte – sie konnte doch selbstverständlich ganz nach Belieben handeln –, die Familie zu ihrer Mittagstafel einzuladen, so würden wir unseres Bruders Francis Kind gegenwärtig besser kennen. Liebe Schwester Lavinia, bitte weiter.«

Miss Lavinia drehte meinen Brief um und blickte durch ihr Augenglas auf ein paar Notizen, die sie dort aufgeschrieben hatte.

»Ich glaube, wir tun gut, Mr. Traddles, es auf eine Beobachtungsprobe ankommen zu lassen. Deshalb sind wir geneigt, insoweit auf Mr. Copperfields Vorschlag einzugehen, daß wir seine Besuche hier gestatten.«

»Niemals werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, meine verehrten Damen!« rief ich. Es war mir ein Stein vom Herzen gefallen.

»Aber«, fuhr Miss Lavinia fort, »wir wünschen, daß diese Besuche vorderhand so angesehen werden, Mr. Traddles, als ob sie uns gälten. Wir müssen uns hüten, eine formelle Verlobung zwischen Mr. Copperfield und unserer Nichte anzuerkennen, ehe wir nicht Gelegenheit gehabt haben –«

»Ehe du nicht Gelegenheit gehabt hast, liebe Schwester Lavinia!«

»Sei es«, stimmte Miss Lavinia mit einem Seufzer bei. »Ehe ich nicht Gelegenheit gehabt habe sie zu beobachten.«

»Copperfield«, wandte sich Traddles zu mir, »du siehst gewiß ein, daß nichts verständiger oder billiger sein kann.«

»Nichts!« rief ich aus. »Ich bin unendlich dankbar dafür.«

»Bei dieser Sachlage«, fuhr Miss Lavinia fort und zog weiter ihre Notizen zu Rate, »und da wir seine Besuche unter einer andern Bedingung nicht gestatten können, müssen wir von Mr. Copperfield die bestimmte Zusage auf Ehrenwort verlangen, daß er mit unserer Nichte in keiner andern Weise und ohne unser Wissen in Verkehr tritt, – daß kein Plan, wie beschaffen er auch immer sei, in bezug auf unsere Nichte entworfen wird, ohne daß man ihn zuerst uns unterbreitet.«

»Dir, Schwester Lavinia!«

»Sei es so, Clarissa, –« sagte Miss Lavinia mit Resignation, »– also mir! Wir müssen dies zu einer ausdrücklichen und ernstlichen Bedingung machen, die um keinen Preis verletzt werden darf. Wir wünschten Mr. Copperfield heute mit einem vertrauten Freunde bei uns zu sehen«, – mit einer Verbeugung gegen Traddles, der sie erwiderte, – »damit über diese Sache kein Zweifel oder Mißverständnis entsteht. Wenn Mr. Traddles oder Sie, Mr. Copperfield, den mindesten Anstand nehmen dieses Versprechen zu geben, so bitte ich Sie, sich die Sache erst zu überlegen.«

In höchster Begeisterung rief ich aus, daß keine Sekunde Überlegung nötig sei. Ich legte das verlangte Versprechen in der leidenschaftlichsten Weise ab, rief Traddles zum Zeugen an und nannte mich den verabscheuungswürdigsten Menschen, wenn ich es jemals auch nur im mindesten verletzte.

»Halt!« rief Miss Lavinia und hielt abwehrend die Hand empor. »Ehe wir das Vergnügen hatten die beiden Herren zu empfangen, beschlossen wir, sie zur Erwägung dieses Punktes eine Viertelstunde allein zu lassen. Gestatten Sie, daß wir uns zurückziehen.«

Vergebens beteuerte ich, daß keine Überlegung notwendig sei. Die Damen bestanden darauf, sich auf eine Viertelstunde zu entfernen.

Dann hüpften die beiden kleinen Vögel mit großer Würde hinaus und ließen mich mit Traddles im Zimmer zurück.

Ich nahm die Glückwünsche meines Freundes entgegen und schwebte in einem Gefühl, als wäre ich in die Regionen ewiger Glückseligkeit versetzt. Genau nach Ablauf einer Viertelstunde traten die Damen mit Würde wieder ein. Sie waren fortgerauscht, als ob ihre Kleider aus Herbstblättern bestünden, und rauschten in derselben Weise wieder herein.

Ich verpflichtete mich feierlich von neuem, an den vorgeschriebenen Bedingungen festzuhalten.

»Liebe Schwester Clarissa«, sagte Miss Lavinia, »das Übrige ist deine Sache.«

Miss Clarissa löste jetzt zum ersten Mal ihre verschränkten Arme, ergriff den Brief und warf einen Blick auf die Notizen.

»Wir werden uns glücklich schätzen«, sagte sie, »Mr. Copperfield jeden Sonntag zum Essen bei uns zu sehen, wenn es ihm paßt. Wir speisen um drei Uhr.«

Ich verbeugte mich.

»Im Lauf der Woche«, fuhr Miss Clarissa fort, »werden wir uns glücklich schätzen, Mr. Copperfield beim Tee zu sehen. Unsere Stunde ist halb sieben.«

Ich verbeugte mich abermals.

»Zweimal in der Woche als Regel, nicht öfter.«

Ich verbeugte mich wiederum.

»Miss Trotwood, von der in Mr. Copperfields Briefe Erwähnung geschieht, wird uns vielleicht auch besuchen. Wenn Besuche für das Glück aller Beteiligten angezeigt erscheinen, empfangen wir gern Besuche und erwidern sie auch. Wenn es besser ist für das Glück aller Beteiligten, daß keine stattfinden – wie es bei unserm Bruder Francis und seiner Familie der Fall war –, so ist das etwas ganz anderes.«

Ich beteuerte, daß meine Tante sich stolz und glücklich schätzen würde, die Bekanntschaft der Damen zu machen, – obgleich ich nicht ganz sicher war, daß sie gut zusammenpassen würden. Da die Bedingungen jetzt festgestellt waren, sprach ich meinen Dank in der wärmsten Weise aus und ergriff zuerst Miss Clarissas und hierauf Miss Lavinias Hand und drückte sie an die Lippen.

Miss Lavinia stand dann auf, bat Mr. Traddles, uns einen Augenblick zu entschuldigen, und forderte mich auf, ihr zu folgen. Ich gehorchte zitternd vor Aufregung und trat mit ihr in das anstoßende Zimmer. Dort fand ich meinen kleinen Liebling hinter der Tür, sich die Ohren zuhaltend und das liebliche Gesichtchen der Wand zugekehrt, während Jip im Tellerwärmer saß, den Kopf mit einem Handtuch zugebunden.

O, wie schön war sie in ihrem schwarzen Hauskleid! Wie schluchzte sie anfangs und weinte und wollte nicht hinter der Türe hervor. Und wie lieb wir einander hatten, als sie endlich hervorkam, und wie selig ich war, als wir Jip aus dem Tellerwärmer herausholten und ihn, stark niesend, dem Lichte wieder schenkten und dann alle drei beisammen saßen.

»Liebste Dora! Jetzt bist du für immer mein!«

»O, bitte nicht«, flehte Dora, »bitte.«

»Bist du denn nicht für immer mein, Dora?«

»O ja, natürlich! Aber ich bin so erschrocken.«

»Erschrocken, mein Herz?«

»O ja. Ich kann ihn nicht ausstehn. Warum geht er nicht fort.«

»Wer denn, Herzensschatz?«

»Dein Freund. Es geht ihn doch gar nichts an! Wie dumm er sein muß!«

»Aber liebe Dora« – nichts konnte entzückender sein als ihre kindische Art – »er ist das beste Geschöpf von der Welt.«

»Aber wir brauchen keine besten Geschöpfe«, schmollte Dora.

»Du wirst ihn bald besser kennenlernen, Liebling, und er wird dir gefallen. Und meine Tante kommt auch bald her, und auch an ihr wirst du viel Gefallen finden, sobald du sie näher kennst.«

»O, bitte nein, bringe sie nicht her«, sagte Dora, gab mir schnell und erschrocken einen Kuß und faltete die Hände. »O, bitte nicht! Ich weiß, sie ist eine böse, Unheil stiftende, alte Frau. Bringe sie nicht her –, Doady!« was eine Abkürzung für David sein sollte.

Ich sah wohl, Vorstellungen halfen jetzt nichts. So lachte ich und war sehr verliebt und sehr glücklich. Sie zeigte mir Jips neuestes Kunststück, wie er in einer Ecke auf den Hinterbeinen stehen konnte; – er tat es etwa so lange, wie ein Blitz aufleuchtet, und fiel dann wieder zusammen, und ich weiß nicht, wie lange ich dageblieben wäre, ohne an Traddles zu denken, wenn Miss Lavinia mich nicht holen gekommen wäre.

Miss Lavinia hatte Dora sehr gern (sie sähe ganz so aus, wie sie selbst einst in diesem Alter ? Miss Lavinia mußte sich unglaublich verändert haben) und behandelte sie immer wie ein Spielzeug. Ich wollte Dora überreden sich Traddles vorstellen zu lassen, aber kaum brachte ich es heraus, da lief sie fort in ihr Zimmer und schloß sich ein. So begab ich mich wieder zu Traddles ohne sie und ging mit ihm fort wie auf Wolken wandelnd.

 

»Befriedigender konnte es nicht ausfallen«, sagte Traddles. »Es sind wirklich ein paar sehr angenehme alte Damen. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn du Jahre vor mir heiratest, Copperfield.«

»Spielt deine Sophie ein Instrument, Traddles?« fragte ich, Stolz im Herzen.

»Sie spielt Piano grade gut genug, um es ihren kleinen Schwestern lehren zu können«, sagte Traddles.

»Singt sie auch?«

»Manchmal singt sie Balladen, um die andern etwas aufzuheitern, wenn sie schlechter Laune sind. Aber sie hat keine geschulte Stimme.«

»Begleitet sie sich mit der Gitarre?« fragte ich.

»O Gott, nein.«

»Malt sie?«

»Auch das nicht.«

Ich versprach Traddles, daß er Dora singen hören und ihre Blumenmalerei sehen sollte. Er sagte, es würde ihm viel Freude machen, und wir gingen in der vortrefflichsten Stimmung Arm in Arm nach Haus. Ich ermunterte ihn, mir von Sophie zu erzählen, und sah, mit welcher Liebe er auf sie vertraute. Ich verglich sie innerlich mit Dora und fühlte mich bei dem Vergleich nicht wenig befriedigt. Aber ich begriff auch, was für ein vortreffliches Mädchen sie für Traddles sein mußte.

Natürlich setzte ich meine Tante sofort von dem erfolgreichen Ausgang der Konferenz mit allen Details in Kenntnis. Sie war froh, mich so glücklich zu sehen, und versprach, unverzüglich Doras Tanten einen Besuch abzustatten. Aber sie machte an diesem Abend einen so langen Spaziergang durch unser Zimmer, während ich an Agnes schrieb, daß es schien, als sollte er bis zum Morgen dauern.

Mein Brief an Agnes war innig und dankbar, und ich erzählte ihr, welche gute Wirkungen ihr Rat für mich gehabt hatte. Sie antwortete umgehend, und ihr Brief war hoffnungsvoll, innig und heiter.

 

Ich hatte jetzt mehr zu tun als je. Mit Rücksicht auf meine täglichen Wanderungen nach Highgate bedeutete Putney einen weiteren Ausflug, und ich wünschte natürlich so oft wie möglich dort zu sein. Da die vorgeschlagnen Teebesuche ganz unausführbar waren, erhielt ich von Miss Lavinia die Erlaubnis, statt dessen jeden Samstagnachmittag einen langen Besuch machen zu dürfen. So wurde mir der Schluß jeder Woche eine köstliche Zeit, und die sehnsüchtige Erwartung half mir über die übrigen Tage hinweg.

Einen großen Trost gewährte es mir, daß meine Tante mit den zwei Damen viel besser auskam, als ich erwartet hatte. Sie stattete ihren versprochenen Besuch wenige Tage nach der Konferenz ab, und nicht lange später besuchten Doras Tanten sie in aller Form. Ähnliche Zusammenkünfte freundschaftlichen Charakters fanden später jedesmal in Zwischenräumen von drei bis vier Wochen statt.

Allerdings entsetzte meine Tante die beiden Damen sehr dadurch, daß sie alle Fiaker verschmähte und zu den ungewöhnlichsten Zeiten nach Putney ging oder ihren Hut so trug, wie es ihr gerade beliebte, ohne sich im geringsten um die Vorurteile der Zivilisation zu bekümmern. Doras Tanten waren sich bald darüber einig, in Miss Trotwood eine exzentrische und etwas männliche, mit einem starken Verstände ausgestattete Dame zu sehen, und wenn sie auch gelegentlich durch ketzerische Meinungsäußerung über verschiedne Punkte der Etikette gekränkt waren, so kam doch immer wieder eine allgemeine Harmonie zustande, da meine Tante aus Liebe zu mir einige ihrer kleinen Eigenheiten aufopferte.

Jip war das einzige Mitglied unserer kleinen Gesellschaft, das sich durchaus den Umständen nicht anpassen wollte. Sooft er meine Tante sah, ließ er sofort jeden Zahn im Maule sehen, zog sich unter einen Stuhl zurück und knurrte rastlos. Nur dann und wann unterbrach er sich mit einem kläglichen Geheul, als ob wirklich seinen Gefühlen zu viel zugemutet würde.

Alles wurde an ihm versucht, Liebkosen, Schelten, Schläge, und einmal brachte man ihn sogar in die Buckingham-Straße, wo er zum Schrecken aller Zusehenden sofort auf die beiden Katzen losfuhr. Aber nie konnte er sich überwinden die Gesellschaft meiner Tante zu ertragen. Manchmal schien es, als habe er seine Abneigung überwunden; dann war er ein paar Minuten ganz liebenswürdig, aber plötzlich schnupperte er mit seinem Stumpfnäschen in die Luft und heulte so jämmerlich, daß nichts übrigblieb, als ihm die Augen zu verbinden und ihn in den Tellerwärmer zu setzen. Später band ihn Dora regelmäßig in ein Tuch ein und steckte ihn in den Tellerwärmer, sooft sie meine Tante von weitem kommen sah.

 

Etwas machte mir große Sorge, als wir so in stillem Glück dahinlebten. Nämlich, daß Dora, wie auf allgemeinen Beschluß, wie ein hübsches Spielzeug behandelt wurde. Meine Tante, mit der sie nach und nach vertraut wurde, nannte sie immer nur »Blümchen«, und Miss Lavinia fand ihr einziges Vergnügen darin, sie zu verhätscheln, ihr das Haar zu locken, Putz für sie zu nähen und sie wie ein Schoßkind zu behandeln. Und die Schwester folgte natürlich Miss Lavinias Beispiel.

Ich nahm mir vor, mit Dora darüber zu sprechen, als wir einmal zusammen spazierengingen. Wir hatten nämlich nach einiger Zeit die Erlaubnis bekommen, allein auszugehen.

»Mein Liebling«, stellte ich ihr vor, »du bist doch kein kleines Kind!«

»Da haben wirs«, sagte Dora. »Jetzt wirst du wild.«

»Wild, meine Liebe?«

»Sie sind doch so gut gegen mich«, sagte Dora, »und ich fühle mich so glücklich!«

»Das ist herrlich, aber mein Liebling«, sagte ich, »du könntest doch sehr glücklich sein und dabei vernünftig behandelt werden.«

Dora warf mir einen allerliebsten vorwurfsvollen Blick zu, fing dann an zu schluchzen und fragte, warum ich mich denn mit ihr verlobt hätte, wenn ich sie nicht ausstehen könnte.

Was konnte ich anderes tun, als ihr die Tränen wegküssen und ihr beteuern, wie sehr ich sie liebte.

»Ich bin so liebebedürftig«, sagte Dora, »und du solltest nicht so hart gegen mich sein, Doady.«

»Ich hart, Herzensschatz? Als ob ich um eine ganze Welt hart gegen dich sein wollte oder könnte.«

»Dann schilt mich nicht immer aus!« sagte Dora und machte eine Rosenknospe aus ihren Lippen, »und ich will wieder gut sein.«

Es freute mich unendlich, daß sie mich gleich darauf aus freien Stücken bat, ihr das früher erwähnte Kochbuch zu bringen und ihr zu zeigen, wie man Rechnung führte.

Ich brachte bei meinem nächsten Besuch das Buch mit und ließ es vorher hübsch einbinden, damit es einladender aussähe. Und beim Spaziergang zeigte ich ihr ein altes Haushaltungsbuch meiner Tante und schenkte ihr einen Satz Schreibtäfelchen und ein Kästchen Bleistifte, damit sie sich üben könnte.

Aber das Kochbuch machte Dora Kopfweh und die Zahlen brachten sie zum Weinen. Sie gingen nicht zu addieren, sagte sie; deshalb löschte sie sie aus und zeichnete die Täfelchen mit lauter kleinen Sträußchen und Porträts von mir und Jip voll.

Dann versuchte ich wie im Scherz, einen mündlichen Unterricht in Haushaltungssachen zu beginnen. Wenn wir an einem Fleischerladen vorübergingen, fragte ich zum Beispiel: »Denke einmal, Schatz, wir wären verheiratet, und du wolltest zum Mittagessen eine Hammelkeule kaufen. Wie würdest du das wohl machen?« Das Gesicht meiner hübschen, kleinen Dora wurde betrübt, und sie machte wieder eine Rosenknospe aus ihrem Munde.

»Würdest du wissen, wie man sie kauft?« wiederholte ich dann vielleicht, wenn ich besonders unbeugsam gestimmt war.

Dora pflegte in einem solchen Fall ein wenig nachzudenken und triumphierend zu antworten:

»Aber der Fleischer weiß doch, wie er sie zu verkaufen hat, was brauche ich es da zu wissen! O Gott, was bist du für ein närrischer Junge!«

Ein ander Mal, als ich Dora fragte, was sie wohl tun würde, wenn wir verheiratet wären und ich möchte gern ein delikates irisches Ragout, gab sie zur Antwort, sie würde der Köchin auftragen es zu bereiten. Und dann faltete sie ihre kleinen Hände auf meinem Arm und lachte so entzückend, daß sie bezaubernder war als je.

Die Hauptverwendung des Kochbuchs bestand darin, daß Dora es in eine Ecke legte, damit Jip darauf aufwarten könnte. Sie freute sich unendlich, als er das schließlich erlernt hatte und dabei den Bleistift im Maul hielt.

Wir kamen schließlich wieder auf die Gitarre zurück und das Blumenmalen und die Lieder vom unaufhörlichen Tanzen – tarala – und waren so glücklich, wie die Woche lang war. Manchmal wünschte ich, ich könnte mir das Herz fassen, Miss Lavinia zu sagen, sie behandle das Kleinod meines Herzens zu sehr wie ein Spielzeug. Und dann ertappte ich mich immer wieder, daß ich es selber nicht anders gemacht hatte.

42. Kapitel Unheil


42. Kapitel Unheil

Es kommt mir fast unziemlich vor, selbst in diesem nur für mich bestimmten Manuskript niederzuschreiben, wie angestrengt ich mich in meinem Pflichtgefühl Dora und ihren Tanten gegenüber mit der Erlernung der schrecklichen Stenographie abquälte, aber ich kann nur sagen, gerade aus der Ausdauer, die ich dadurch noch stärkte, entsprang die Quelle aller meiner Erfolge im Leben. Ich habe viel Glück in irdischen Dingen gehabt, und andere Menschen, die sich viel mehr anstrengten, haben es nicht halb soweit gebracht.

Alle meine Erfolge verdankte ich nur dem Umstand, daß ich Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiß bei jeder Gelegenheit übte. Ich schreibe dies nicht nieder, um mich selbst zu loben. Ich meine einfach, daß ich alles, was ich im Leben zu tun versucht habe, bemüht war mit ganzem Herzen zu vollbringen und daß ich in großen wie in kleinen Dingen stets den gleichen Ernst anwandte.

Ich brauche hier nicht zu wiederholen, wie viel ich in dieser Hinsicht Agnes verdankte.

 

Ich wende mich jetzt mit dankbarer Liebe wieder zu Agnes.

Sie kam auf vierzehn Tage zu Besuch zu Dr. Strong. Mr. Wickfield war ein alter Freund des Doktors, und Dr. Strong hätte gerne mit ihm gesprochen und ihm beigestanden. Agnes und ihr Vater kamen zusammen zu Besuch. Ich war nicht überrascht, als ich von ihr hörte, sie habe in der Nähe eine Wohnung für Mrs. Heep gesucht, deren Rheumatismus eine Luftveränderung erfordere. Ebensowenig wunderte es mich, als schon am nächsten Tage Uriah als liebevoller Sohn seine würdige Mutter begleitete.

»Ja, sehen Sie, Master Copperfield«, sagte er, als er sich mir im Garten des Doktors aufdrängte. »Wenn man liebt, so ist man ein wenig eifersüchtig. Wenigstens hat man gern ein Auge auf der Geliebten.«

»Auf wen sind Sie denn jetzt eifersüchtig?« fragte ich.

»Ihnen zum Dank, Master Copperfield, für jetzt auf niemand Besondern – wenigstens auf keine männliche Person.«

»Vielleicht gar auf eine weibliche?«

Er warf mir aus seinen tückischen roten Augen einen Seitenblick zu und grinste.

»Wahrhaftig, Master Copperfield, ? wollt ich sagen, Mister, ? ich weiß, Sie entschuldigen schon die alte Angewohnheit ?, aber Sie sind so liebenswürdig, daß Sie mich ausholen können wie ein Korkzieher. Nun, ich will Ihnen nur sagen«, fuhr er fort, indem er seine fischkalte Hand auf meine legte, »ich bin im allgemeinen bei Damen nicht beliebt, Sir, und bin es bei Mrs. Strong nie gewesen.«

Seine Augen hatten einen grünen Schimmer, wie sie mich mit schurkischer List beobachteten.

»Was meinen Sie damit?«

»Nun, obgleich ich ein Jurist bin, Master Copperfield«, gab er mit einem leichten Grinsen zur Antwort, »so meine ich doch jetzt, was ich sage.«

»Und was wollen Sie mit Ihrem Blick sagen?« fragte ich ruhig weiter.

»Mit meinem Blick? Gott, nehmen Sie es aber scharf, Copperfield! Was ich mit meinem Blick meine?«

»Ja. Mit Ihrem Blick.«

Das schien ihm ungemein zu gefallen, und er lachte so herzlich, wie es ihm überhaupt möglich war. Er senkte die Augen zu Boden, schabte sich langsam das Kinn mit dem Daumen und sagte:

»Als ich noch ein niedriger Schreiber war, sah sie immer auf mich herab. Meine Agnes mußte immer um sie herum sein, und auch gegen Sie, Master Copperfield, war sie immer freundlich. Aber ich stand viel zu tief unter ihr, um beachtet zu werden.«

»Nun?« sagte ich. »Angenommen. Und weiter?«

»… Und unter ihm auch«, fuhr Uriah sehr deutlich und in nachdenklichem Tone fort, sich immer noch das Kinn schabend.

»Kennen Sie den Doktor nicht besser«, sagte ich, »daß Sie glauben können, er wisse überhaupt etwas von Ihrem Dasein, wenn Sie nicht dicht vor ihm stehen?«

Er sah mich wieder mit seinem alten Seitenblick an und zog sein Gesicht ganz lang, um sich besser schaben zu können, als er fortfuhr:

»Ach Gott, ich spreche nicht vom Doktor. Der Arme! Ich meine Mr. Maldon.«

Mir stockte das Blut in den Adern. Alle meine alten Zweifel und Befürchtungen standen wieder vor mir. Des Doktors Glück und Frieden, die ganze Reihe von Möglichkeiten von Schuld und Unschuld, die ich nicht enträtseln konnte, sah ich im Handumdrehen diesem Menschen preisgegeben.

»Er kam nie in die Kanzlei, ohne mich herumzukommandieren«, sagte Uriah. »Einer von den feinen Gentlemen! Ich war sehr demütig und niedrig und bin es noch. Aber das gefiel mir nicht, und jetzt kann ichs erst recht nicht leiden.«

Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, saugte die Wangen ein, bis sie sich innen zu berühren schienen, und sein Seitenblick haftete immer noch auf mir.

»Sie ist eine von den schönen Frauen«, fuhr er fort, als er seinem Gesicht langsam seine natürliche Form wiedergegeben hatte, »die Leuten, wie ich bin, nicht freundlich gesinnt sind. Sie ist gerade die Person danach, die meiner Agnes Rosinen in den Kopf setzen könnte. Ich bin kein Mann für die Damen, Master Copperfield, aber ich habe Augen im Kopf und schon hübsch lange. Mir niedrigen Leute haben meistens Augen und mir können damit sehen.«

Ich bemühte mich unbefangen zu erscheinen, aber, wie ich an seinem Gesicht sah, mit wenig Erfolg.

»Ich laß mich aber nicht unterkriegen, Copperfield«, fuhr er fort und zog mit tückischem Frohlocken seine haarlosen Augenbrauen in die Höhe, »und ich werde mein möglichstes tun, dieser Freundschaft ein Ende zu machen. Ich billige sie nicht. Ich will Ihnen gar nicht verhehlen, daß ich etwas neidisch bin und alle Eindringlinge fernhalten will. Wenn ich mirs leisten kann, setze ich mich nicht der Gefahr aus, Komplotte gegen mich schmieden zu lassen.«

»Sie schmieden eben immer Komplotte und haben andere im selben Verdacht.«

»Vielleicht, Master Copperfield, aber ich habe einen Beweggrund, wie mein Kompagnon immer sagt, und gehe mit Zähnen und Nägeln ans Werk. Wenn ich auch ein niedriger Mensch bin, so lasse ich mir doch nichts gefallen. Es darf mir niemand im Weg stehen. Sie müssen aus dem Wagen raus.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Wirklich nicht?« sagte Uriah mit einer seiner gewohnten schnellenden Bewegungen. »Das wundert mich, Master Copperfield, da Sie doch sonst so gescheit sind! Das nächste Mal werd ich versuchen, mich deutlicher auszudrücken. Ist das übrigens nicht Mr. Maldon zu Pferd, der dort an der Tür klingelt, Sir?«

»Er sieht beinahe so aus«, entgegnete ich so unbefangen wie möglich.

Uriah blieb stehen, steckte die Hände zwischen seine knorrigen Knie und krümmte sich vor Lachen. Vor ganz lautlosem Lachen. Kein Ton kam aus seinem Munde. Mir war sein Benehmen so zuwider, daß ich mich ohne Umstände von ihm abwandte und ihn in der Mitte des Gartens, halb sitzend wie eine Vogelscheuche, der die Stütze umgefallen ist, zurückließ.

 

An diesem Abend war es nicht, aber wie ich mich wohl erinnere, an dem zweitnächsten, am Samstag, daß ich Agnes mit zu Dora nahm.

Ich hatte den Besuch vorher mit Miss Lavinia verabredet, und Agnes wurde zum Tee erwartet.

Ich war ganz aufgeregt vor Stolz und Besorgnis; stolz auf meine liebe kleine Braut und besorgt, wie sie Agnes gefallen würde. Auf dem ganzen Weg nach Putney, wo Agnes in der Landkutsche saß und ich außen, malte ich mir Dora immerwährend aus. Einmal wünschte ich mir, sie möchte am liebsten so aussehen wie damals, dann wieder wie ein anderes Mal, und litt durch solche Sorgen ordentlich wie unter einem Fieber.

Ich hatte natürlich keinen Zweifel, daß sie sehr hübsch aussehen würde, aber es traf sich, daß sie gerade damals vielleicht am allerschönsten war.

Als ich Agnes ihren Tanten vorstellte, hielt sie sich schüchtern versteckt. Ich wußte jetzt, wo ich sie zu suchen hatte, und fand sie richtig wieder hinter der Tür mit zugehaltnen Ohren.

Anfangs wollte sie gar nicht kommen, und dann bat sie um fünf Minuten Frist. Als sie mir endlich ihren Arm gab, um sich ins Zimmer führen zu lassen, war ihr liebliches Gesichtchen ganz rot und hatte nie so hübsch ausgesehen. Aber als wir in das Zimmer traten und sie blaß wurde, war sie noch zehntausendmal schöner.

Sie fürchtete sich vor Agnes. Sie hatte mir gesagt, sie wüßte schon, Agnes wäre »viel zu gescheit«. Aber als sie das heitere, dabei so ernste, gedankenvolle und doch so gute Gesicht erblickte, ließ sie einen leisen Schrei fröhlicher Überraschung hören, legte ihre Arme zärtlich um Agnes‘ Hals und drückte ihre unschuldige Wange an ihr Gesicht.

Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, noch nie so gefreut wie damals, als ich die beiden so nebeneinander sitzen und meine Geliebte so befreit in diese herzlichen Augen blicken sah. Miss Lavinia und Miss Clarissa teilten in ihrer Weise meine Freude. Es war der angenehmste Teeabend von der Welt. Miss Clarissa führte den Vorsitz. Ich zerschnitt den süßen Aniskuchen und reichte ihn herum – die kleinen Schwestern hatten eine vogelartige Vorliebe für das Picken von Aniskörnern und Zucker –, und Miss Lavinia sah mit wohlwollender Gunst auf uns, als ob alles ihr Werk wäre.

Die sanfte Heiterkeit Agnes‘ gewann alle Herzen. Ihr ruhiges Interesse an allem, was Dora betraf, ihre Art mit Jip Bekanntschaft zu schließen, der es sofort freundlich aufnahm, ihr geschicktes Benehmen, als Dora sich schämte, sich auf ihren gewohnten Platz neben mich zu setzen, ihre bescheidne Anmut, mit der sie eine Menge schüchterner kleiner Vertrauensbeweise von Dora hervorlockte, schien unsern Kreis erst ganz vollkommen zu machen.

»Es freut mich so sehr«, sagte Dora nach dem Tee, »daß Sie mich gern haben. Ich hielt es nicht für möglich und brauche jetzt, wo Julia Mills fort ist, mehr als je eine Freundin.«

Miss Mills war nämlich abgesegelt, und Dora und ich waren an Bord eines großen Ostindienfahrers im Hafen von Gravesend gegangen, um Abschied zu nehmen. Wir hatten eingemachten Ingwer und Guava und andere Delikatessen dieser Art zum Frühstück genossen und Miss Mills, weinend auf einem Feldstuhl auf dem Quarterdeck sitzend, mit einem großen, neuen Tagebuch unter dem Arm, verlassen, in dem die bei der Betrachtung des Ozeans erwachenden Originalgedanken unter Schloß und Riegel gebracht werden sollten.

 

Agnes sagte, ich müßte sie wohl zu schwarz geschildert haben, aber Dora berichtigte dies sogleich.

»O nein«, sagte sie mit einem Blick auf mich und schüttelte ihre Locken. »Ich habe nichts als Lob über Sie gehört. Er hält so viel auf Sie, daß ich mich ordentlich vor Ihnen gefürchtet habe.«

»Meine Zuneigung ist aber kaum des Gewinnens wert«, sagte Agnes lächelnd.

»Aber bitte, schenken Sie sie mir«, sagte Dora in ihrer schmeichelnden Art, »wenn es sein kann.«

Wir scherzten über Doras Wunsch, noch mehr geliebt zu werden, und sie sagte, ich sei eine Gans und sie könne mich überhaupt nicht leiden, und der kurze Abend flog dahin auf Schwingen wie aus Sommerfäden.

Die Stunde rückte heran, wo die Kutsche uns abholen sollte. Ich stand allein vor dem Kamin, als Dora leise hereinschlich, um mir den gewohnten allerliebsten Abschiedskuß zu geben.

»Meinst du nicht, Doady, wenn ich sie schon länger zur Freundin gehabt hätte«, sagte sie, die hellen Augen noch heller glänzend und mit ihrer kleinen Hand an dem Knopfe meines Rockes spielend, »daß ich dann hätte gescheiter sein können?«

»Lieber Schatz, was für ein Unsinn!«

»Meinst du, es sei Unsinn«? fragte Dora, ohne mich anzusehen. »Weißt du das gewiß?«

»Natürlich.«

»Ich habe vergessen, wie nahe Agnes mit dir verwandt ist, du nichtsnutziger Junge«, fuhr Dora fort, immer noch mit dem Knopf beschäftigt.

»Sie ist keine Verwandte von mir, wir wurden nur zusammen erzogen wie Bruder und Schwester.«

»Ich möchte nur wissen, wieso du dich eigentlich dann in mich verliebt hast«, sagte Dora und fing mit einem andern Knopfe an.

»Vielleicht weil ich dich nicht sehen konnte, ohne dich zu lieben, Dora.«

»Aber wenn du mich nun gar nicht gesehen hättest«, sagte Dora und nahm wieder einen andern Knopf.

»Aber wenn wir nun gar nicht geboren worden wären?« sagte ich scherzend.

 

Ich hätte gerne gewußt, worüber sie nachdachte, während ich in stiller Bewunderung die kleine weiche Hand, die an den Knöpfen meines Rockes spielte, das lockige Haar, das an meiner Brust ruhte, und die Wimpern ihrer niedergeschlagenen Augen, die auf die spielenden Finger sahen, betrachtete. Endlich blickte sie auf und stellte sich auf die Zehen, um mich nachdenklicher als gewöhnlich zu küssen – einmal, zweimal, dreimal –, und verließ dann das Zimmer.

Fünf Minuten später traten alle zusammen wieder herein, und Doras ungewöhnliche Nachdenklichkeit war ganz verschwunden. Sie bestand lachend darauf, ehe die Kutsche kam, Jip alle seine Kunststücke vormachen zu lassen. Das beanspruchte einige Zeit; nicht wegen ihrer großen Anzahl, sondern wegen Jips Sträuben, und als wir die Kutsche kommen hörten, waren wir noch lange nicht fertig. Zärtlich nahmen die beiden jungen Damen voneinander Abschied. Dora sollte Agnes schreiben, doch dürfte Agnes es nicht übelnehmen, wenn die Briefe kindisch ausfielen, und sollte jedes Mal antworten. Dann nahmen sie zum zweiten Mal Abschied am Kutschenschlag und zum dritten Mal, als Dora trotz der Vorstellungen Miss Lavinias noch einmal herausgelaufen kam, um Agnes am Kutschenfenster an das Schreiben zu erinnern und gegen mich auf dem Dach die Locken zu schütteln.

Der Wagen sollte uns in der Nähe von Covent Garden absetzen, von wo wir einen andern Weg nach Highgate nehmen wollten.

Ich sehnte mich schon danach, Doras Lob aus Agnes‘ Munde zu hören. Und, o, wie dieses Lob ausfiel! Wie liebreich und innig empfahl sie das anmutige Wesen meiner zärtlichsten Fürsorge. Wie gedankenvoll prägte sie mir mit ihrer ungekünstelten Anspruchslosigkeit ein, wie sehr ich für das verwaiste Kind zu sorgen habe.

Niemals liebte ich Dora so tief und wahr wie an jenem Abend. Als wir ausstiegen und in der sternenhellen Nacht nach dem Hause des Doktors gingen, sagte ich Agnes, daß alles ihr Werk sei.

»Du bist nicht weniger ihr Schutzengel wie der meinige, Agnes!«

»Ein armer Engel«, antwortete sie, »aber treu.«

Der klare Ton ihrer Stimme ging mir so zu Herzen, daß ich fragen mußte:

»Die heitere Ruhe, die dir so eigen ist, Agnes, wie niemand anders, den ich kenne, ist soweit wiederhergestellt, wie ich sehe, daß ich hoffen kann, du bist glücklicher zu Haus?«

»Ich bin innerlich glücklicher«, sagte sie und war ganz heiter und guten Mutes.

»Es ist keine Veränderung zu Hause eingetreten«, fügte sie nach einer Pause hinzu.

»Keine neue Anspielung auf – ich möchte dich nicht verletzen, Agnes, aber ich muß doch fragen – auf das, wovon wir bei unserm letzten Abschied sprachen?«

»Nein, keine!«

»Ich habe sehr viel darüber nachgedacht.«

»Du mußt nicht soviel daran denken. Vergiß nicht, daß ich mein Vertrauen auf schlichte Liebe und Wahrheit setze.«

»Fürchte nichts um mich, Trotwood«, setzte sie nach einer Pause hinzu, »was du befürchtest, werde ich nie tun.«

Obgleich ich es bei kalter Überlegung niemals für möglich gehalten hatte, so war es doch eine unaussprechliche Beruhigung für mich, die Versicherung von ihren eignen Lippen zu hören. Ich sagte ihr das.

»Und wenn dieser Besuch vorbei ist, denn wir sind jetzt vielleicht zum letzten Mal allein beisammen, wann wirst du dann wieder nach London kommen, liebe Agnes?«

»Wahrscheinlich auf lange nicht. Ich halte es für das beste, um Papas willen zu Hause zu bleiben. In der nächsten Zeit können wir uns wahrscheinlich nicht oft sehen, aber ich will fleißig an Dora schreiben, und auf diesem Wege werden wir viel voneinander hören.«

Wir standen jetzt in dem kleinen Hof vor dem Landhause des Doktors. Es war schon spät. Im Fenster von Mrs. Strongs Zimmer schien ein Licht, und Agnes deutete darauf hin und wünschte mir gute Nacht.

»Mache dir keine Sorgen«, sagte sie und gab mir ihre Hand, »über unser Unglück und über unsre Trübsal! Ich kann über nichts froher sein als über dein Glück. Wenn du mir einmal solltest helfen können, so verlaß dich drauf, daß ich dich darum bitten werde. Und Gottes Segen sei mit dir!«

Bei ihrem strahlenden Lächeln und den letzten Tönen ihrer lieben Stimme war es mir, als sähe und hörte ich wieder meine kleine Dora in ihrer Gesellschaft. Ich blieb eine Weile stehen, sah mit einem Herzen voll Liebe und Dankbarkeit zu den Sternen auf und ging dann langsam fort. Ich hatte ein Bett in einem säubern Wirtshaus in der Nähe bestellt und ging gerade zur Gartenpforte hinaus, als ich, mich zufällig umdrehend, Licht in des Doktors Studierzimmer wahrnahm. Der vorwurfsvolle Gedanke kam mir, daß er ohne meine Beihilfe an dem Wörterbuch arbeiten könnte. Um mich zu überzeugen und jedenfalls um ihm gute Nacht zu sagen, kehrte ich um, ging durch die Vorhalle, öffnete langsam die Tür und sah hinein.

Die erste Person, die ich zu meinem Erstaunen bei dem gedämpften Lichte der Studierlampe erblickte, war Uriah. Er stand dicht neben der Lampe auf den Tisch gestützt, seine andre Totenhand auf den Mund gelegt. Der Doktor saß in seinem Lehnstuhl und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Mr. Wickfield, in großer schmerzlicher Aufregung, beugte sich unentschlossen über ihn und schüttelte ihn am Arm.

Im ersten Augenblick glaubte ich, der Doktor sei krank. Hastig trat ich einen Schritt vor, als ich Uriahs Blick begegnete und begriff, was vorgegangen war. Ich wollte mich zurückziehen, aber der Doktor winkte mir und ich blieb.

»Jedenfalls könnten mir die Tür zumachen«, bemerkte Uriah, sich krümmend. »Mir brauchen es nicht der ganzen Stadt wissen zu lassen.«

Damit ging er auf den Zehen nach der Tür, die ich offengelassen hatte, und schloß sie sorgfältig ab. Dann kehrte er zurück und nahm seine frühere Stellung wieder ein.

Es lag ein aufdringliches Zurschautragen von mitleidigem Eifer in seiner Stimme und seinem Wesen, das mir noch unleidlicher war als sein früheres Benehmen.

»Ich hab es für meine Pflicht gehalten, Master Copperfield«, sagte er, »Dr. Strong auf das aufmerksam zu machen, was mir schon kürzlich zusammen besprochen haben. Sie schienen mich aber nicht recht zu verstehen.«

Ich warf ihm einen Blick zu, gab aber keine Antwort, trat dann zu meinem guten, alten Lehrer und sprach ein paar Worte des Trostes und der Ermutigung zu ihm. Er legte seine Hand auf meine Schulter, wie er es gewohnt gewesen, als ich noch ein kleiner Junge war, erhob aber sein graues Haupt nicht.

»Da Sie mich damals nicht verstanden, Master Copperfield«, fuhr Uriah in derselben zudringlichen Weise fort, »so derf ich mir wohl die Freiheit nehmen, untertänigst zu bemerken, da mir unter Freunden sind, daß ich Dr. Streng auf das Benehmen seiner Gattin aufmerksam gemacht habe. Es ging mir eigentlich sehr gegen den Strich, Copperfield, mich in so eine unangenehme Sache einzumengen, aber mir können es nun einmal nicht lassen und müssen uns immer in Dinge mischen, die was uns nichts angehen.«

Wenn ich an seinen höhnisch schielenden Blick zurückdenke, wundere ich mich jetzt noch, daß ich ihn nicht an der Gurgel packte und ihm den Atem aus dem Leibe schüttelte.

»Ich glaube wohl, ich drückte mich nicht ganz deutlich aus«, fuhr er fort. »Natürlich waren mir beide bestrebt, ein solches Thema möglichst zu vermeiden. Aber endlich hab ich mich doch entschlossen offen herauszureden, und Dr. Strong erzählt, daß … Haben Sie etwas gesagt, Sir?«

Das galt dem Doktor, der aufstöhnte. Der Schmerzenslaut hätte jedes Herz gerührt, aber auf Uriah brachte er keine Wirkung hervor.

»Ich sagte zu Dr. Strong«, fuhr er fort, »daß jeder sehen müßte, wie Mr. Maldon und die liebenswürdige und gewinnende Dame, was Mrs. Strong ist, zu zärtlich miteinander sind. Die Zeit ist jetzt wahrhaftig gekommen, wo es Dr. Strong gesagt werden muß. Es war doch jedermann klar wie die Sonne, ehe noch Mr. Maldon nach Indien ging, warum er Gründe suchte, wiederzukommen. Als Sie hier eintraten, Master Copperfield, schlug ich meinem Kompagnon grade vor, Dr. Strong auf Wort und Ehre zu sagen, ob er dieser Meinung nicht schon längst war. Kommen Sie, Mr. Wickfield, möchten Sie nicht so gut sein, das zu sagen. Ja oder nein, Sir? Kommen Sie, Kompagnon!«

»Um Gottes willen, lieber Doktor«, sagte Mr. Wickfield, »legen Sie nur nicht zuviel Gewicht auf den Verdacht, den ich vielleicht gehegt habe.«

»Da haben wirs«, rief Uriah. »Welch traurige Bestätigung, was? Er ? so ein alter Freund! Meiner Seel, als ich bloß ein Schreiber bei ihm war, Copperfield, hab ich es mindestens zwanzigmal gesehen, wie er ganz außer sich darüber war ? ganz außer sich, und wie natürlich, ist er doch selbst Vater und konnte er doch nicht zusehen, daß Miss Agnes in die Geschichte noch am Ende verwickelt wird.«

»Mein lieber Strong«, sagte Mr. Wickfield mit bebender Stimme, »mein guter Freund, ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß es mein Fehler war, immer und bei jedem nach versteckten Motiven zu suchen. Dieser Irrtum mag mir Veranlassung zu meinem Argwohn gegeben haben.«

»Sie haben geargwöhnt, Wickfield!« sagte der Doktor, ohne das Haupt zu erheben. »Sie haben geargwöhnt!«

»Raus mit der Sprache, Kompagnon«, drängte Uriah.

»Ja, damals habe ich geargwöhnt. Ich – Gott verzeih mir – glaubte, auch Sie hegten einen Argwohn.«

»Nein, nein, nein!« rief der Doktor in einem Ton ergreifendsten Schmerzes.

»Ich glaubte einmal, daß Sie Maldon nach Indien zu schicken wünschten, um eine Trennung herbeizuführen.«

»Nein, nein, nein! Ich wollte Ännie eine Freude machen, indem ich für ihren Jugendgespielen sorgte. Weiter nichts!«

»Das wurde mir später klar. Ich konnte nicht daran zweifeln, als Sie mir es sagten, aber ich glaubte, – ich bitte Sie, die Kurzsichtigkeit zu bedenken, die bei meinem engen Horizont mein Hauptfehler gewesen ist – daß in einem Falle, wo eine so große Verschiedenheit im Alter herrscht –«

»Sehen Sie, das ist die rechte Art, es auseinanderzusetzen, Master Copperfield«, fiel Uriah ein mit kriecherischem, grinsend zur Schau getragnem Mitleid.

»– eine Dame von so jugendlicher Schönheit bei aller aufrichtigen Achtung vor Ihnen sich bei einer Heirat weniger vom Gefühl als vom Verstände hätte bewegen lassen können. Die übrigen unzähligen Umstände und Empfindungen, die in die gegenteilige Waagschale hätten fallen müssen, zog ich leider nicht in Betracht. Um Himmels willen, bedenken Sie das!«

»Wie schonend er es auseinandersetzt«, hob Uriah hervor.

»Bei allem, was Ihnen teuer ist, alter Freund«, fuhr Mr. Wickfield fort, »bitte ich Sie das zu erwägen! Ich muß jetzt gestehen, da ich nicht anders kann –«

»Nein, Sie können nicht anders, Mr. Wickfield«, echote Uriah, »wenn es einmal soweit ist.«

»– daß ich ihr allerdings mißtraute und es mir manchmal, wie ich bekennen muß, unangenehm war, Agnes so vertraut mit ihr zu sehen. Ich habe nie mit jemand davon gesprochen und werde nie gegen irgend jemand darüber ein Wort fallenlassen. Es ist schrecklich für Sie, so etwas zu hören«, sagte Mr. Wickfield tief erschüttert, »aber wenn Sie erst wüßten, wie schrecklich es für mich ist, so etwas über die Lippen zu bringen, so würden Sie Mitleid mit mir haben.«

In der unerschöpflichen Güte seines Herzens streckte der Doktor seine Hand aus, und Mr. Wickfield hielt sie eine Weile mit gebeugtem Haupte fest.

»Gewiß ist das für jeden Menschen ein sehr unangenehmes Thema«, mischte sich Uriah ein, der sich während des Schweigens wie ein Aal wand, »aber da mir einmal soweit sind, muß ich mir die Freiheit nehmen zu erwähnen, daß es Copperfield auch gemerkt hat.«

Ich wandte mich zu ihm und fragte ihn, wie er es wagen könnte, sich auf mich zu beziehen.

»O, es ist sehr schön von Ihnen, Copperfield«, entgegnete Uriah, »und mir wissen alle, was für ein liebenswürdiger Charakter Sie sind Aber Sie müssen doch zugeben, daß Sie in dem Augenblick, wo ich neulich abends mit Ihnen davon sprach, gut verstanden, was ich meinte, Copperfield! Sie können es nicht leugnen. Wenn Sie es leugnen, geschieht es gewiß mit der besten Absicht. Aber tun Sie es nicht, Copperfield!«

Das sanfte, milde Auge des Doktors ruhte einen Augenblick auf mir, und ich fühlte, daß das Geständnis meiner alten bösen Ahnungen klar auf meinem Gesicht geschrieben stand. Leugnen half nichts. Ich konnte nichts mehr ändern. Mochte ich sagen, was ich wollte, ich konnte mich nicht verstellen.

Wir verstummten und sprachen kein Wort mehr. Der Doktor stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann lehnte er sich an den Rücken seines Stuhls und sprach, von Zeit zu Zeit das Taschentuch an die Augen drückend, mit einer schlichten Offenheit, die ihm mehr Ehre machte, als wenn er seinen Schmerz verheimlicht hätte:

»Ich bin schwer zu tadeln. Ich glaube, ich bin sehr schwer zu tadeln. Ich habe ein Wesen, dessen Bild ich voll Liebe im Herzen bewahre, Versuchungen und Verleumdungen ausgesetzt – denn ich nenne sie Verleumdungen, und selbst wenn sie in dem innersten Denken des Betreffenden geblieben sind –, deren Zielscheibe dieses Wesen ohne mich nie hätte werden können.«

Uriah Heep ließ eine Art Näseln hören.

»… Deren Zielscheibe meine Ännie ohne mich«, fuhr der Doktor fort, »nie hätte werden können. Meine Herren, ich bin jetzt alt, das wissen Sie; ich wüßte heute abend nicht, was mir das Leben noch teurer machen sollte. Aber mein Leben für die Treue und Ehrenhaftigkeit der Dame, die der Gegenstand dieses Gesprächs gewesen ist!«

Ich glaube nicht, daß die edelste Verkörperung von Ritterlichkeit, die Verwirklichung der schönsten und romantischsten Gestalt, die je ein Dichter geschaffen hat, dies in ergreifendere und rührendere Worte hätte fassen können, als der schlichte, alte Doktor es tat.

»Ich fühle mich nicht imstande zu leugnen«, fuhr er fort, »und habe nur nie viel darüber nachgedacht, daß ich diese Dame, ganz unwissentlich, vielleicht zu einer unglücklichen Ehe verleitet habe. Ich bin des Beobachtens gänzlich ungewohnt und muß daher glauben, daß in diesem Punkte die Augen anderer Leute schärfer sahen als die meinigen.«

Ich hatte schon oft des Doktors gütige Art seiner jungen Frau gegenüber bewundert, aber die Hochachtung und Zärtlichkeit, mit der er jetzt von ihr sprach, und die ehrerbietige Weise, mit der er auch den leisesten Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit abwies, erhoben ihn in meinen Augen über alle Beschreibung.

»Ich heiratete diese Dame, als sie noch sehr jung war«, fuhr er fort. »Ich nahm sie zur Frau, als ihr Charakter sich kaum gebildet hatte. Soweit er entwickelt war, hatte ich das Glück gehabt, ihn zu formen. Ich kannte ihren Vater gut. Ich kannte sie gut. Ich hatte ihr alles gelehrt, was ich konnte, um ihrer schönen und vortrefflichen Eigenschaften willen. Wenn ich ihr ein Unrecht zugefügt habe – und ich fürchte, es ist der Fall gewesen, indem ich, ohne es zu wissen, ihre Dankbarkeit und freundschaftliche Zuneigung ausnützte –, so bitte ich sie jetzt in meinem Herzen um Verzeihung.«

 

Er ging im Zimmer einmal auf und nieder und faßte dann den Stuhl wieder mit einer Hand, die wie seine niedergehaltene Stimme vor tiefer Bewegung zitterte.

»Ich betrachtete mich als eine Zuflucht für sie vor den Gefahren und Wechselfällen des Lebens, redete mir die Hoffnung ein, daß sie bei aller Ungleichheit an Jahren ruhig und zufrieden mit mir leben würde. Ich ließ die Zeit, wo sie immer noch jung und schön, aber mit gereifterem Urteil wieder frei sein würde, nicht unerwogen. Nein, meine Herren, bei meiner Ehre!«

Seine schlichte Gestalt schien fast zu strahlen von Treue und Hochherzigkeit, und in jedem seiner Worte lag eine tiefe Kraft.

»Ich habe sehr glücklich mit dieser Dame gelebt. Bis heute abend habe ich ununterbrochen Veranlassung gehabt, den Tag zu segnen, an dem ich ihr, wie ich jetzt sehe, so großes Unrecht zufügte.«

Seine Stimme, die während der letzten Worte immer mehr und mehr gezittert hatte, versagte für einige Augenblicke; dann fuhr er fort:

»Einmal aus meinem Traum erwacht – ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein armer Träumer gewesen –, sehe ich jetzt ein, wie natürlich es ist, daß sie nicht ohne Schmerz an ihren alten Gespielen und Altersgenossen denken kann. Daß sie mit einem Bedauern, aber einem schuldlosen, und mit untadeligen Gedanken auf das, was ohne mich hätte werden können, zurücksieht, ist, fürchte ich, nur zu wahr. Manches, was ich wohl bemerkt, aber nicht beachtet habe, ist mir in dieser letzten Prüfungsstunde mit neuer Bedeutung klargeworden. Aber darüber hinaus, meine Herren, darf der Name dieser Dame mit keinem Wort, keinem Hauch eines Zweifels befleckt werden.«

Einen Augenblick flammte sein Auge und seine Stimme war fest. Dann schwieg er wieder eine Weile und fuhr endlich fort:

»Es bleibt mir nur noch übrig, die Erkenntnis des Unglücks, das ich verschuldet habe, so ergeben wie ich kann zu tragen. Sie sollte mir Vorwürfe machen, nicht ich ihr. Sie vor Mißdeutungen, die selbst meine Freunde nicht haben vermeiden können, zu schützen, ist jetzt meine Pflicht. Ich werde sie um so besser erfüllen, je zurückgezogener wir leben. Und wenn die Zeit kommt – möge sie bald kommen – wenn es Seine Barmherzigkeit beschließt –, wo mein Tod sie frei macht, so werden meine brechenden Augen mit unbegrenztem Vertrauen und unwandelbarer Liebe auf ihrem treuen Antlitz ruhen, und sie wird dann ohne Kummer glücklichere und schönere Tage erleben.«

Ich konnte meinen alten Lehrer nicht sehen vor den Tränen, die sein tiefer Ernst und seine Güte und die Schlichtheit seines ganzen Wesens mir in die Augen trieben. Er stand an der Tür, als er hinzusetzte:

»Meine Herren, ich habe Sie in mein Herz blicken lassen. Ich bin überzeugt, Sie werden meinen Schmerz respektieren. Was heute abend gesprochen wurde, muß zwischen uns begraben sein. Wickfield, geben Sie einem alten Freunde den Arm und führen Sie mich hinauf!«

Mr. Wickfield eilte zu ihm. Ohne ein Wort zu wechseln, verließen beide langsam das Zimmer, und Uriah sah ihnen nach.

»Ach Master Copperfield«, sagte er und wendete sich ein wenig bestürzt an mich, »die Sache hat nicht ganz die Wendung genommen, die man hätte erwarten können, denn der alte Gelehrte – so ein vortrefflicher Mann er ist – ist blinder als ein Maulwurf. Aber seine Familie ist wohl, dächte ich, aus dem Wagen draußen.«

Schon der Ton seiner Stimme versetzte mich in eine unbeschreibliche Wut.

»Sie Schuft, Sie!« sagte ich. »Was bezwecken Sie damit, daß Sie mich in Ihre Pläne verwickeln? Wie können Sie sich unterstehen sich auf mich zu berufen, Sie falsche Kanaille, als wenn wir die Sache zusammen besprochen hätten!«

Als wir Auge in Auge einander gegenüberstanden, sah ich nur zu deutlich an seiner Schadenfreude, daß er mir sein Vertrauen aufgedrängt hatte in der Absicht mich zu kränken und mir überhaupt eine Falle zu stellen. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Seine lange hagere Wange lag so einladend vor mir, daß ich zuschlug, und mit solcher Kraft, daß mir die Finger brannten.

Er faßte meine Hand, und wir standen so einander gegenüber und sahen uns an. Wir blieben eine lange Weile so, lange genug, daß ich sehen konnte, wie die weißen Zeichen meiner Finger aus dem tiefen Rot seiner Wange verschwanden und ein noch tieferes Rot hinterließen.

»Copperfield«, sagte er endlich mit atemloser Stimme, »haben Sie den Verstand verloren?«

»Lassen Sie mich«, sagte ich und entrang ihm meine Hand. »Sie Hund! Ich will nichts mehr von Ihnen wissen!«

»Wirklich nicht?« sagte er, von den Schmerzen in der Wange gezwungen, die Hand darauf zu legen. »Vielleicht können Sie doch nicht anders. Das war nicht recht von Ihnen.«

»Ich habe Ihnen oft genug gezeigt, wie ich Sie verabscheue. Ich habe es Ihnen jetzt noch deutlicher gezeigt. Warum sollte ich Sie fürchten, da Sie allen, in deren Nähe Sie kommen, sowieso schon das Schlimmste zufügen.«

Er verstand vollkommen die Anspielung auf die Rücksicht, die mich bisher in Schranken gehalten hatte.

Eine zweite lange Pause folgte. Seine Augen schienen jede Färbung anzunehmen, die überhaupt Augen häßlich machen kann.

»Copperfield«, sagte er und nahm die Hand von der Wange, »Sie sind immer gegen mich gewesen. Ich weiß, bei Mr. Wickfield waren Sie immer gegen mich.«

»Denken Sie sich, was Sie wollen«, sagte ich immer noch in größter Wut, »und wenn es zufällig nicht wahr ist, so ist das nicht Ihr Verdienst.«

»Und doch hab ich Sie immer gern gehabt, Copperfield!«

Ich würdigte ihn keiner Antwort, nahm meinen Hut und wollte fortgehen, aber er stellte sich zwischen mich und die Türe.

»Copperfield«, sagte er, »es gehören zwei Leute zu einem Zank. Ich will nicht dabeisein!«

»Sie können zum Teufel gehen!«

»Sagen Sie das nicht«, erwiderte er. »Ich weiß, es wird Ihnen später leid tun. Wie können Sie sich so unter mich erniedrigen, indem Sie sich so hinreißen lassen? Aber ich verzeihe Ihnen.«

»Sie mir verzeihen!« erwiderte ich voll Verachtung.

»Ich tue es aber, und Sie können sich dagegen nicht wehren. So etwas! Über mich herzufallen, der ich immer Ihr Freund gewesen bin! Aber zu einem Zanke gehören zwei Leute, und ich will nicht dabeisein. Ich will Ihr Freund bleiben! Ihnen zum Trotz!«

Die Notwendigkeit, das Gespräch wegen der späten Stunde sehr leise zu führen, trug nichts zur Verbesserung meiner Stimmung bei, obgleich sich meine Leidenschaftlichkeit abkühlte. Ich verließ das Haus. Aber Uriah schlief ebenfalls außer Hause, und ehe ich einige hundert Schritt weit weg war, holte er mich ein.

»Sie spüren ganz gut, Copperfield«, sagte er an meiner Seite, denn ich wendete ihm mein Gesicht nicht zu, »daß Sie in eine schiefe Stellung geraten sind!«

Ich fühlte die Wahrheit seiner Worte genau und geriet nur noch mehr in Zorn.

»Sie können die Sache zu keiner Heldentat machen und mir nicht verwehren, daß ich Ihnen verzeihe. Ich werde es weder gegen Mutter noch gegen sonst jemand erwähnen. Ich bin fest entschlossen Ihnen zu verzeihen! Ich muß mich nur wundern, daß Sie Ihre Hand gegen eine so demütige Person, wie ich bin, aufgehoben haben.«

Ich kam mir ordentlich gemein vor. Er kannte mich besser als ich mich selbst. Wenn er zurückgeschlagen hätte oder heftig geworden wäre, es wäre mir ein Genuß und eine Rechtfertigung gewesen; aber er legte mich auf ein langsames Feuer, auf dem ich mich die halbe Nacht herumquälte.

Als ich am nächsten Morgen ausging, läutete die Frühglocke, und er ging mit seiner Mutter auf und ab. Er redete mich an, als ob nichts vorgefallen wäre, und ich konnte einer Antwort nicht ausweichen. Ich hatte ihn so stark geschlagen, daß er offenbar Zahnweh hatte. Jedenfalls war sein Gesicht mit einem schwarzen Seidentuch verbunden, was ihn keineswegs verschönte.

Ich hörte, daß er sich am Montag morgens in London einen Zahn reißen ließ. Hoffentlich war es ein doppelter.

Dr. Strong gab vor, nicht ganz wohl zu sein, und blieb während der ganzen Zeit des Besuchs den größten Teil des Tages über allein.

Agnes und ihr Vater waren schon eine Woche fort, ehe wir unsere gewöhnlichen Arbeiten wiederaufnahmen. Am Tag vor ihrer Abreise übergab mir der Doktor einen verschlossenen Brief. Er bat mich darin mit eindringlichen und liebevollen Worten, niemals auf den Vorfall jenes Abends zurückzukommen. Ich hatte bereits meiner Tante davon erzählt, aber sonst niemand. Es war kein Thema, das ich mit Agnes hätte besprechen können, und sie ahnte sicherlich nicht das geringste von dem Vorfall.

Auch Mrs. Strong nicht, wie ich überzeugt bin.

 

Wochen vergingen, bevor ich die mindeste Veränderung an ihr bemerkte. Aber sie kam langsam wie eine Wolke bei Windstille. Anfangs schien sie sich über das zärtliche Mitleid zu wundern, mit dem der Doktor zu ihr sprach, und über seinen Wunsch, sie möge ihre Mutter zu sich nehmen, um einige Abwechslung in ihr eintöniges Leben zu bringen. Oft, während wir arbeiteten und sie bei uns saß, bemerkte ich, wie sie ihre Arbeit hinlegte und ihn wieder mit dem merkwürdigen Gesichtsausdruck von damals ansah. Manchmal verließ sie, die Augen voll Tränen, das Zimmer. Allmählich verbreitete sich ein Schatten von Trauer über ihre Schönheit, der Tag für Tag tiefer wurde. Mrs. Markleham war jetzt in das Landhaus gezogen, aber sie schwatzte und schwatzte und sah nichts.

Als diese Veränderung über Ännie, die früher im Hause der Sonnenschein gewesen war, kam; wurde auch der Doktor in seinem Äußern gebeugter und ernster. Aber die ruhige Herzlichkeit seines Wesens und seine wohlwollend schonende Art, mit der er seine Gattin behandelte, schien womöglich noch zuzunehmen. Einmal, ganz früh am Morgen ihres Geburtstags, als sie sich an das Fenster setzte, faßte er ihren Kopf mit beiden Händen, küßte sie auf die Stirn und verließ eilig das Zimmer, zu gerührt, um zu bleiben. Sie stand da wie eine Bildsäule, dann senkte sie das Haupt, schlug die Hände zusammen und weinte vor unsäglichem Schmerz.

Nach diesem Vorfall kam es mir zuweilen vor, als wollte sie mich anreden, wenn wir allein waren. Aber sie brachte nie ein Wort heraus. Der Doktor machte immer nur Vorschläge, sie möge sich mit ihrer Mutter außer Haus Zerstreuung verschaffen, und Mrs. Markleham, der das sehr paßte, strömte vor Lob über. Aber Ännie ging stets ganz teilnahmslos mit und schien an nichts Freude zu finden.

Ich wußte nicht, was ich mir denken sollte. Ebensowenig meine Tante, die in ihrer Ungewißheit wohl schon hundert Meilen abmarschiert haben mußte. Das Seltsamste aber war, daß der einzig wirkliche Troststrahl, der in das Geheimnis dieses häuslichen Unglücks fiel, von Mr. Dick ausging.

Welche Gedanken er sich über die Sache machte oder wie viel er davon in Erfahrung gebracht, weiß ich nicht. Aber seine Verehrung für den Doktor war von jeher grenzenlos gewesen, und wahre Zuneigung, selbst wenn sie von einem Tiere dem Menschen gegenüber ausgeht, besitzt eine Feinheit der Beobachtung, hinter der der schärfste Verstand zurückbleibt. In diesen Herzenssinn, wenn ich es so nennen darf, fielen bei Mr. Dick einige helle Strahlen der Wahrheit.

Mit Stolz hatte er wieder von seinem alten Vorrecht, in seinen freien Stunden mit dem Doktor im Garten auf- und abzugehen wie damals in Canterbury, Gebrauch gemacht. Aber kaum war die Krisis eingetreten, widmete er seine ganze freie Zeit vom frühesten Morgen an diesen Spaziergängen. Er hatte immer schon vor Freude gestrahlt, wenn ihm der Doktor aus seinem wunderbaren Werke, dem Wörterbuch, vorlas, jetzt aber war er schwer unglücklich, wenn es nicht geschah. Während der Doktor und ich miteinander arbeiteten, hatte er sich jetzt mit Mrs. Strong auf- und abzugehen und ihr bei der Pflege ihrer Lieblingsblumen oder beim Jäten der Beete zu helfen angewöhnt. Er sprach wohl kaum ein Dutzend Worte in der Stunde. Aber seine stille Teilnahme und sein aufmerksames Gesicht fanden Widerhall im Herzen beider. Und so wurde er ein Bindeglied, ein einigendes Band zwischen ihnen, was niemand sonst hätte werden können.

Wenn ich daran denke, wie er mit unsäglich weisem Gesicht neben dem Doktor herschritt, entzückt, mit den schweren Worten des Wörterbuchs beschossen zu werden, hinter Ännie große Gießkannen hertrug, auf den Beeten niederkniete und geduldig mit wahren Tatzen von Handschuhen seine Arbeit unter den kleinen Blättern verrichtete und in allem, was er tat, ein zartes Bestreben an den Tag legte, Mrs. Strongs Freund zu sein, – wie er niemals in seinem Dienste erlahmte, niemals den unglücklichen König Karl mit in den Garten brachte –, immer begreifend, daß etwas nicht in Ordnung sei und wiedergutgemacht werden müßte, – so schäme ich mich fast, ihn für nicht geistig normal gehalten zu haben, wenn ich daran denke, wie wenig ich mit meinem Verstände ausgerichtet habe.

»Niemand als ich kennt diesen Mann, Trot«, sagte meine Tante voll Stolz, wenn wir darüber sprachen. »Dick wird sich noch auszeichnen.«

 

Ehe ich dieses Kapitel schließe, muß ich noch von einem andern Vorfall sprechen. Während der Besuch noch bei Dr. Strong war, bemerkte ich, daß der Postbote jeden Morgen Uriah Heep, der die ganze Zeit über in Highgate geblieben war, zwei oder drei Briefe brachte. Sie waren von Mr. Micawber, der sich jetzt eine ausgeschriebene Kanzlistenhandschrift angewöhnt hatte, adressiert. Ich nahm aus diesen kleinen Zeichen an, daß Mr. Micawber sich wohl befinde, und war um so mehr erstaunt, als ich folgenden Brief von seiner liebenswürdigen Gattin empfing.

Canterbury, Montag abends.

Sie werden sich wahrscheinlich wundern, lieber Mr. Copperfield, einen Brief von mir zu erhalten. Noch mehr werden Sie über seinen Inhalt erstaunt sein. Und mehr noch darüber, daß ich Ihnen unbedingtes Schweigen abverlange. Aber meine Gefühle als Gattin und Mutter bedürfen der Erleichterung, und da ich meine Familie nicht zu Rate ziehen kann, habe ich niemand, den ich darum bitten könnte, als meinen Freund und früheren Mieter.

Sie wissen, lieber Mr. Copperfield, daß zwischen mir und Mr. Micawber, den ich nie verlassen werde, immer gegenseitiges Vertrauen geherrscht hat. Mr. Micawber hat vielleicht manchmal einen Wechsel ausgestellt, ohne mich zu Rate zu ziehen, oder mich hinsichtlich der Verfallzeit getäuscht. Aber im großen ganzen hat er vor dem Altar der Liebe – ich meine damit seine Gattin – keine Geheimnisse gehabt und hat regelmäßig beim Zubettgehen die Ereignisse des Tages mit mir besprochen.

Sie können sich nun denken, lieber Mr. Copperfield, wie tief mein Schmerz sein muß, wenn ich Ihnen anvertraue, daß Mr. Micawber sich ganz und gar verändert hat. Er ist zurückhaltend. Er ist geheimnisvoll. Sein Leben ist ein Rätsel für die Gefährtin seiner Freuden und seines Kummers – ich meine wieder seine Gattin –, und wenn ich Ihnen sage, daß ich so wenig von ihm weiß – außer daß er sich vom Morgen bis zum späten Abend in der Kanzlei befindet –, so wenig von ihm weiß wie von dem Mann im Märchen vom kalten Pflaumenpudding, so deute ich die wirkliche Tatsache nur entfernt an.

Aber das ist noch nicht alles. Mr. Micawber ist mürrisch. Er ist streng. Er ist seinem ältesten Sohn und seiner Tochter entfremdet. Er sieht in seinen Zwillingen nicht mehr den Stolz der Familie, selbst den unschuldigen Neuling, der als letztes Mitglied in unsern Kreis getreten ist, blickt er mit gleichgültigem Auge an. Selbst die allernötigsten pekuniären Mittel zur Bestreitung unserer Ausgaben sind von ihm nur mit größter Schwierigkeit zu erlangen, und unerbittlich verweigert er jede Aufklärung über seine uns zur Verzweiflung bringende Politik des Schweigens.

Es ist kaum zu ertragen! Es ist herzzerbrechend! Wenn Sie in Anbetracht meiner schwachen Kräfte mir einen Rat geben wollen, was am besten in einem so ungewöhnlichen Dilemma zu tun ist, so würden Sie zu den vielen Freundschaftsbeweisen, die Sie mir schon erbrachten, noch einen neuen hinzufügen. Mit einem herzlichen Gruß von den Kindern und einem Freundeslächeln von dem zum Glück noch nichtsahnenden Neuling

verbleibe ich, lieber Mr. Copperfield, Ihre tiefbetrübte
       Emma Micawber.

Ich fühlte mich nicht berechtigt, einer Frau wie Mrs. Micawber einen andern Rat zu geben als den, sie möge versuchen, ihren Gatten durch Geduld und Freundlichkeit wiederzugewinnen. Jedenfalls aber mußte ich über den Brief lange und oft nachdenken.

43. Kapitel Wieder ein Rückblick


43. Kapitel Wieder ein Rückblick

In schemenhaftem Zug wandern die Phantome jener Tage an mir vorüber. Wochen und Monate verrauschen. Sie kommen mir wenig länger vor als ein Sommertag und ein Winterabend. Jetzt ist die Haide, wo ich mit Dora wandle, ein Blumenfeld so hell wie Gold, und dann liegt wieder alles unter einer Decke von Schnee. Im Augenblick wälzt der Fluß, der eben noch in der Sommersonne glänzte, bewegt von Winterstürmen, dicke Eisschollen vor sich her.

Nicht das mindeste ändert sich im Haus der beiden kleinen vogelähnlichen Damen. Die Uhr tickt über dem Kamin, das Wetterglas hängt in der Vorhalle. Weder Uhr noch Wetterglas zeigen jemals richtig, aber sie genießen das allgemeine Vertrauen.

Ich bin mündig geworden. Ich habe die Würde des Einundzwanzigjährigen erlangt. Aber es ist eine Würde, die jeder erlangen kann. Was habe ich also vollbracht?

Ich habe das schreckliche stenographische Geheimnis bemeistert. Ich beziehe ein anständiges Einkommen infolgedessen. Ich stehe bei allen Genossen der Kunst wegen meiner Fertigkeit in hohem Ansehen und bin, neben elf andern, Parlamentberichterstatter für eine Morgenzeitung. Abend für Abend schreibe ich Voraussagungen nieder, die niemals eintreffen, Glaubensbekenntnisse, nach denen nie ein Mensch handelt, und Aufklärungen, die nur irreführen sollen. Ich wate in Worten. Britannia, dieses unglückliche Frauenzimmer, liegt immer vor mir wie ein zugerichtetes Huhn, über und über gespickt mit Bureaufedern und an Händen und Füßen mit rotem Band festgebunden. Ich sehe genügend tief hinter die Kulissen, um den Wert des politischen Lebens zu durchschauen. Ich bin in dieser Hinsicht ein Ketzer durch und durch und werde mich niemals bekehren lassen.

Mein guter alter Traddles hat die Sache auch versucht, aber sie liegt ihm nicht. Er ist trotz des Mißlingens gut aufgelegt und erinnert mich daran, daß er sich von jeher für einen Menschen von langsamen Begriffen gehalten habe. Gelegentlich ist er bei derselben Zeitung damit tätig, Tatsachen über trockene Themen zusammenzustellen, damit fruchtbarere Geister sie weiter ausführen können. Er ist bei Gericht angestellt und hat sich mit bewunderungswürdigem Fleiß und großer Selbstverleugnung wieder hundert Pfund zusammengescharrt, um einen Conveyancer zu bezahlen, in dessen Kanzlei er mitarbeitet. Wir tranken sehr viel Glühwein zur Feier seines Antritts.

Ich habe mich auch in andern Richtungen versucht. Mit Furcht und Zittern bin ich ans Schriftstellern gegangen. Ich schrieb insgeheim eine Kleinigkeit und schickte sie an eine Zeitschrift, und sie wurde angenommen. Seitdem habe ich den Mut gehabt, ziemlich viele derartige Kleinigkeiten zu schreiben. Jetzt werde ich dafür regelmäßig bezahlt. Im ganzen stehe ich mich recht gut dabei. Wenn ich mein Einkommen an den Fingern meiner linken Hand abzähle, komme ich über den dritten Finger hinaus bis zum Mittelglied des vierten.

Wir sind aus der Buckingham Straße weggezogen und wohnen in einem hübschen kleinen Häuschen nicht weit von dem, wo mich die Begeisterung zuerst ergriff. Aber meine Tante, die ihr Haus in Dover mit gutem Gewinn verkauft hat, bleibt nicht und gedenkt in ein noch niedlicheres Häuschen dicht daneben zu ziehen. Was hat das zu bedeuten? Meine Verheiratung? Ja!

Ja! Ich stehe im Begriff, mich mit Dora zu verheiraten. Miss Lavinia und Miss Clarissa haben ihre Einwilligung gegeben, und wenn jemals Kanarienvögel aufgeregt waren, so sind sie es. Miss Lavinia, die die Oberaufsicht über die Garderobe meines Lieblings an sich gerissen hat, schneidet beständig Brustharnische aus braunem Papier aus und streitet sich beständig mit einem hochrespektablen jungen Mann mit einem Ellenmaß unter dem Arm herum. Eine Nähterin, in deren Brust stets eine Nadel mit Faden eingestochen ist, wohnt und ißt im Hause und scheint weder beim Essen noch beim Trinken oder Schlafen den Fingerhut abzulegen. Sie machen aus meinem Herzensschatz eine Gliederpuppe. Sie lassen sie immerwährend holen, um ihr etwas anzuprobieren. Des Abends können wir nicht fünf Minuten zusammen glücklich sein, ohne daß nicht irgendein zudringliches Frauenzimmer an die Türe klopft und ruft: »Ach bitte, Miss Dora, möchten Sie nicht einmal heraufkommen?«

 

Miss Clarissa und meine Tante machen ganz London unsicher, um für Dora und mich Möbel zu besichtigen. Es wäre viel besser, wenn sie blind drauflos kauften; denn als wir uns einmal einen Speiseschrank besichtigen, erblickt Dora ein chinesisches Hundehaus für Jip mit kleinen Glöckchen auf dem Dach und zieht dieses allem andern vor. Wir kaufen es, und es dauert lange Zeit, ehe sich Jip an sein neues Heim gewöhnt. So oft er aus- und eingeht, läuten die kleinen Glocken und er gerät außer sich vor Angst.

Peggotty kommt auch, um sich nützlich zu machen, und stürzt sich sofort kopfüber in die Arbeit. Ihr Departement scheint es zu sein, alles wieder und wieder zu reinigen. Sie reibt alles ab, was sich abreiben läßt, bis es glänzt wie ihr ehrliches Gesicht. Und jetzt sehe ich wieder ihren Bruder, einsam des Nachts durch die dunklen Straßen wandern und die vorüberstreifenden Gesichter mustern. Ich rede ihn nie in solcher Stunde an. Ich weiß zu gut, was er sucht und was er zu finden fürchtet.

Warum nimmt Traddles eine so wichtige Miene an, als er mich eines Nachmittags in den Commons abholt, – wohin ich immer noch der Form wegen gehe, wenn ich Zeit habe? Meine knabenhaften Träume werden zur Wirklichkeit. Ich will mir den Trauschein holen. Es ist ein kleiner Zettel trotz seiner Wichtigkeit. Und Traddles betrachtet ihn, wie er auf meinem Pult liegt, voll Bewunderung und Ehrfurcht. Da stehen die Namen in der schönen alten geträumten Verbindung, David Copperfield und Dora Spenlow; und dort in der Ecke sieht das väterliche Institut, das Stempelamt, das an den verschiednen Verhandlungen des menschlichen Lebens so wohlwollend Anteil nimmt, auf unsern Bund herab, und dort bittet der Erzbischof von Canterbury gedruckt um Segen für uns und tut es so preiswert, als man es billigerweise erwarten darf.

Aber dennoch bin ich wie im Traum; in einem hastigen, aufgeregten, glücklichen Traum! Ich kann gar nicht fassen, daß es wirklich sein kann, und doch bilde ich mir ein, jeder Vorübergehende müßte irgendwie gewahr werden, daß ich übermorgen Hochzeit halten will. Der Beamte kennt mich, als ich zum Schwur zu ihm komme, und macht die Sache so schnell und selbstverständlich ab, als ob ein freimaurerisches Einverständnis zwischen uns herrsche. Traddles ist gar nicht notwendig, sondern begleitet mich nur der Form wegen.

»Ich hoffe, das nächste Mal stehst du hier, lieber Freund«, sage ich zu Traddles, »und ich hoffe, es wird recht bald sein.«

»Ich danke dir für deine guten Wünsche, lieber Copperfield. Ich hoffe es auch. Es ist so beruhigend zu wissen, daß sie geduldig auf mich wartet. Sie ist wirklich ein so liebes Mädchen –«

»Wann sollst du sie an der Landkutsche abholen?« frage ich.

»Um sieben«, sagt Traddles und schaut auf seine alte, silberne Uhr dieselbe Uhr, aus der er in der Schule einmal ein Rad herausnahm, um eine Mühle zu bauen. »Das ist fast dieselbe Zeit, wo Miss Wickfield ankommt, nicht wahr?«

»Ein wenig früher. Sie kommt erst um halb neun.«

»Ich kann dir versichern«, sagt Traddles, »ich freue mich fast ebenso sehr, wie wenn ich selbst zur Hochzeit ginge. Ich empfinde es aufs tiefste, daß du Sophie zu diesem Freudenfest zusammen mit Miss Wickfield als Brautjungfer eingeladen hast.«

Ich höre ihn an und schüttle ihm die Hand. Wir reden und gehen und essen, und doch kann ich nicht begreifen, daß es Wirklichkeit ist. Sophie kommt in die Wohnung von Doras Tanten. Sie hat das angenehmste Gesicht von der Welt, ist nicht gerade schön, aber außerordentlich gewinnend. Sie ist das natürlichste, freundlichste, ungezierteste Wesen, das ich je gesehen habe. Traddles ist sehr stolz, als er sie uns vorstellt, und reibt sich genau nach der Uhr zehn Minuten lang die Hände, und jedes einzelne Haar auf seinem Kopf steht auf der Zehenspitze, als ich ihn in einer Ecke zu seiner Wahl beglückwünsche.

Ich habe Agnes von der Canterbury-Kutsche abgeholt. Agnes hat eine große Neigung für Traddles gefaßt, und es ist herrlich anzusehen, wie sie sich begrüßen, und mit welch stolzer Freude er ihr seine Braut vorstellt.

Aber immer noch kann ich es nicht glauben. Der Abend ist wundervoll, und wir sind unendlich glücklich. Aber ich kann es noch nicht glauben. Ich kann es nicht fassen. Ich bin wie in einem halben Rausch, als ob ich seit vierzehn Tagen nicht schlafen gegangen wäre. Ich kann nicht herausbringen, wann gestern war. Mir ist, als ob ich den Trauschein schon monatelang in der Tasche herumtrüge.

Und auch, als wir am folgenden Tage alle zusammen das Haus besichtigen gehen, ist es mir ganz unmöglich, mich dort als seinen Herrn zu sehen. Ich erwarte, der wirkliche Eigentümer werde jeden Augenblick nach Haus kommen und über meinen Besuch erfreut sein. Das Häuschen ist wunderschön. Es sieht so glänzend und neu aus mit den Blumen auf den Teppichen, die wie frisch gepflückt sind, und den grünen Blättern auf den Tapeten. Und die fleckenlosen Musselinvorhänge! Die rosafarbenen Möbel sehen aus, als erröteten sie, und Doras Gartenhut mit dem blauen Band, in dem ich sie das erste Mal erblickte, hängt wirklich und wahrhaftig hier an seinem Haken. Das Gitarrenfutteral steht in einer Ecke, und jeder stolpert über Jips Pagode, die viel zu groß für das Haus ist.

 

Noch ein zweiter glücklicher Abend, ebenso traumhaft wie der erste, und ich trete verstohlen ins Zimmer, ehe ich weggehe. Dora ist nicht da. Ich vermute, sie sind noch nicht mit Anprobieren fertig. Miss Lavinia äugt herein und sagt mir geheimnisvoll, daß sie nicht lang bleiben werde. Aber doch bleibt sie recht lang. Endlich höre ich ein Rauschen vor der Tür und es klopft.

Ich rufe »herein«, aber wieder klopft es. Ich gehe zur Türe und öffne neugierig; dort begegne ich ein paar glänzenden Augen und einem errötenden Gesicht; es ist Dora, und Miss Lavinia hat ihr das Brautkleid angezogen, damit ich es sehe. Ich drücke mein kleines Weibchen ans Herz, und Miss Lavinia schreit vor Schreck auf, weil ich den Hut verderbe; und Dora lacht und weint zu gleicher Zeit, weil ich mich so freue. Alles kommt mir weniger glaubhaft vor als je.

»Sieht es hübsch aus, Doady?« fragt Dora.

»Hübsch! Das will ich meinen.«

»Und weißt du gewiß, daß du mich sehr liebst?«

Die Antwort ist gefahrdrohend für den Hut, so daß Miss Lavinia wieder aufschreit und mir zu verstehen gibt, daß Dora nur zum Ansehen da ist. Dora bleibt in allerliebster Verlegenheit ein paar Minuten, um sich bewundern zu lassen; dann nimmt sie ihren Hut ab, läuft davon und kommt in ihrem gewöhnlichen Kleid in ein paar Minuten wieder heruntergetanzt und fragt Jip, ob die kleine Gattin, die ich bekomme, wirklich hübsch sei und ob er ihr verzeihe, daß sie heiratet. Dann kniet sie nieder, damit er zum letzten Mal in ihrem Mädchenleben auf dem Kochbuch aufwarte.

Ich verfüge mich, immer noch ungläubig, in meine Wohnung in der Nähe und stehe zeitig morgens auf, um nach Highgate zu fahren und meine Tante abzuholen.

In solchem Staat habe ich meine Tante noch nie gesehen. Sie trägt ein lavendelfarbiges Seidenkleid und einen weißen Hut. Es ist zum Erstaunen. Janet hat sie angekleidet und ist noch da, um mich zu sehen. Peggotty hat sich fertig gemacht, um in die Kirche zu gehen, denn sie will die Feierlichkeit von der Galerie aus mitansehen. Mr. Dick, der Brautführer sein soll, hat sich das Haar brennen lassen. Traddles, den ich der Verabredung gemäß am Schlagbaum getroffen habe, stellt eine blendende Zusammenstellung von Creme und Hellblau dar. Er und Mr. Dick sehen aus, als wären sie ganz Handschuh.

Ich sehe das alles, weil ich weiß, es ist so, aber ich bin ganz wirr und mir ist, als sähe ich nichts. Aber doch ist der Traum wirklich genug, um mich, als wir in einem offnen Wagen durch die Straßen fahren, mit verwundertem Mitleid für die unglücklichen Leute zu erfüllen, die keinen Anteil an dieser Feenhochzeit haben, sondern die Läden auskehren und ihrer täglichen Beschäftigung nachgehen.

Während der ganzen Fahrt hält meine Tante meine Hand in der ihrigen. Als wir in der Nähe der Kirche anhalten, um Peggotty, die auf dem Bock mitgefahren ist, abzusetzen, drückt sie mir die Hand und gibt mir einen Kuß.

»Gott segne dich, Trot! Mein eigner Sohn könnte mir nicht lieber sein! Ich muß immerwährend an das arme, liebe Kind, deine Mutter, denken.«

»Ich auch! Und an alles, was ich dir verdanke, liebe Tante!«

»Still, Kind«, sagt meine Tante und gibt ihre Hand in überströmender Herzlichkeit Traddles. Allgemeines Händeschütteln. So kommen wir ans Portal.

Die Kirche ist ruhig genug, aber mir kommt sie vor wie eine Webfabrik in voller Tätigkeit, so aufgeregt bin ich.

Das übrige ist ein mehr oder weniger unzusammenhängender Traum. Sie kommen mit Dora herein, die Beschließerin ordnet uns vor dem Altargeländer wie ein Unteroffizier, und ich frage mich verwundert, warum die Schließerinnen immer die denkbar unangenehmsten Frauenzimmer sein müssen und ob es denn notwendig ist, den Weg zum Himmel mit Essigtöpfen zu flankieren.

Es ist ein Traum, in dem der Geistliche und der Küster erscheinen, ein paar Fährleute und andere hereinkommen, ein alter Seemann, die Kirche mit Rum durchduftend, hinter mir steht. Der Gesang beginnt mit einem Baß, und wir alle sind sehr aufmerksam.

Miss Lavinia, der die Rolle einer Vizeersatzbrautjungfer zugefallen ist, fängt zuerst zu weinen an und bringt, wie ich vermute, dem Gedächtnis Mr. Pidgers in Schluchzen eine Huldigung dar; Miss Clarissa greift zum Riechfläschchen; Agnes nimmt sich Doras schützend an; meine Tante bemüht sich, ein Muster von Ungerührtheit zu sein, während ihr Tränen die Wangen herabrinnen, und meine kleine Dora zittert sehr und flüstert kaum hörbar die Responsen.

Ich träume, daß wir nebeneinander knien. Dora zittert immer weniger und weniger, hält aber immer noch Agnes fest bei der Hand. Die Feierlichkeit ist still und ernst vorübergegangen, und wir alle sehen uns an in einer Aprillaune von Tränen und Lächeln, dann liegt meine junge Frau halb ohnmächtig in der Sakristei und ruft nach ihrem armen, ihrem guten Papa.

Sie ist schnell getröstet, und wir schreiben nacheinander unsere Namen in das Kirchenbuch ein. Ich gehe auf die Galerie hinauf zu Peggotty, damit sie sich ebenfalls einschreibe, und sie umarmt mich in einer Ecke und sagt mir, sie habe auch der Trauung meiner armen Mutter beigewohnt.

Ich gehe im Traum stolz und zärtlich mit meinem geliebten Weib am Arm durch die Kirche, durch einen Nebel von halb unsichtbaren Leuten, Kerzen, Taufsteinen, Grabplatten, Kirchenstühlen, Orgeln und farbigen Fenstern, und eine leise Erinnerung an die alte Kirche meiner Kinderzeit schwebt an mir vorüber.

Ich höre im Traum die Leute flüstern, was für ein junges Paar wir seien und wie hübsch meine kleine Gattin aussähe.

Auf der Rückfahrt sind wir alle sehr lustig und gesprächig. Sophie erzählt uns, daß sie fast in Ohnmacht gefallen sei, als man von Traddles, dem wir den Trauschein anvertraut hatten, dieses Dokument verlangte, denn sie sei überzeugt gewesen, er habe es verloren oder sich die Brieftasche stehlen lassen.

Ich genieße wie im Traum ein Frühstück mit einer Überfülle von Speise und Trank, ohne das mindeste zu schmecken; ich halte eine Rede in derselben traumhaften Weise, ohne den geringsten Begriff von dem zu haben, was ich sagen will. Und Jip wird mit Hochzeitskuchen gefüttert, der ihm nicht gut bekommt.

Ein paar Postpferde stehen bereit, und Dora geht hinauf, sich umzukleiden.

Sie kommt wieder herunter, umhüpft von Miss Lavinia, die so ungern das hübsche Spielzeug verliert, das ihr So viel Freude gemacht hat.

Alles drängt sich um Dora nach langem Umherrennen nach vergessenen Kleinigkeiten, und alle sehen in ihren hellen Farben und Bändern wie ein Gartenbeet aus. Mein Liebling wird fast von Blumen erdrückt und kommt endlich, halb lachend, halb weinend in meine eifersüchtigen Arme.

Ich will Jip tragen, doch Dora muß es selbst tun, sonst würde er denken, sie habe ihn nicht mehr gern, seit sie verheiratet ist, und das würde ihm das Herz brechen.

Arm in Arm gehen wir fort, und Dora bleibt noch einmal stehen, sieht sich um und sagt: »Wenn ich je unfreundlich oder undankbar gewesen bin, so laßt es vergessen sein.« Und sie bricht in Tränen aus.

Und noch einmal bleiben wir stehen, sie sieht sich um, eilt zu Agnes und gibt ihr vor allen andern die letzten Küsse und Abschiedsworte.

Wir fahren zusammen fort, und ich erwache aus dem Traum. Endlich glaube ich es. Ich habe wirklich meine teure kleine Gattin neben mir, die ich so sehr liebe.

»Bist du jetzt glücklich, du närrischer Junge«, fragt Dora, »und wirst du es auch nicht bereuen?«

44. Kapitel Unser Haushalt


44. Kapitel Unser Haushalt

Es war so seltsam, als die Flitterwochen vorbei und die Brautjungfern heimgereist waren und ich in meinem eigenen Häuschen allein mit Dora saß, ganz aus der Bahn gebracht, sozusagen, aus der Bahn der alten, herrlichen Beschäftigung der Brautwerbung.

Wie merkwürdig, daß Dora immer da war! Ich konnte es gar nicht fassen, daß ich nicht mehr ausgehen mußte, um sie zu sehen, und mich ihretwegen zu peinigen brauchte oder nur den Kopf zu zermartern, um Gelegenheiten, mit ihr allein sein zu können, auszuhecken. Manchmal abends, wenn ich von meinem Schreibtisch aufblickte und sie mir gegenübersitzen sah, lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und dachte bei mir, wie seltsam es sei, daß wir so ganz selbstverständlich allein beisammen wären, daß die ganze Romantik unseres Verhältnisses weggelegt war, um zu rosten, – daß wir niemand anders mehr zu gefallen hatten als uns selbst fürs ganze Leben.

Wenn Parlamentsdebatten stattfanden und ich erst spät heimkam, war es so sonderbar, daß Dora zu Hause wartete; so wunderlich am Anfang, wenn sie leise herabkam, um mit mir zu plaudern, während ich mein Abendessen verzehrte. Es war so wunderbar zu wissen, daß sie ihr Haar in Papilloten wickelte, und noch wunderbarer, ihr dabei zuzusehen.

Ich weiß nicht, ob zwei junge Vögel weniger vom Haushalten wissen konnten als ich und meine hübsche Dora. Wir hielten natürlich eine Dienstmagd. Sie besorgte für uns das Hauswesen. Ich kann mich immer noch nicht von dem Verdachte losmachen, daß sie eine verkleidete Tochter Mrs. Crupps war, so Schreckliches hatten wir von Mary Anne auszustehen.

Sie hieß Mary Anne Vorbild. Ihr Name wäre, sagte man uns, als wir sie aufnahmen, nur ein schwaches Abbild ihres Charakters. Sie besaß ein Zeugnis so lang wie eine Proklamation und konnte laut diesem Dokument in häuslichen Dingen alles vollbringen, wovon ich jemals gehört hatte, und noch vieles andere, was mir gänzlich unbekannt war. Sie stand in der Blüte der Jahre, war von strengem Gesichtsausdruck und, vorzüglich auf den Armen, einer Art beständiger Masern unterworfen. Sie hatte einen Vetter in der Leibgarde mit so langen Beinen, daß er wie der Nachmittagschatten eines gewöhnlichen Menschen aussah. Sein Uniformrock war ihm um so viel zu klein, wie er zu groß für das Haus war. Da überdies die Wände nicht besonders dick waren, vernahmen wir, wenn er abends immer in der Küche weilte, ein beständiges Brummen.

Da unser Hausgeist verbürgtermaßen nüchtern und ehrlich war, muß sie wohl krank gewesen sein, als wir sie einmal bewußtlos unter dem Herd liegen fanden, und offenbar trug an dem Fehlen der Teelöffel der Kehrichtmann die Schuld.

Unsere Seelenruhe fiel ihr in erschreckender Weise zum Opfer. Wir fühlten unsere Unerfahrenheit und sahen uns außerstande, uns selbst zu helfen. Wir waren ihr völlig preisgegeben, und sie trug die Schuld an unserm ersten kleinen Zwist.

 

»Herzensschatz«, sagte ich eines Tages zu Dora, »glaubst du, Mary Anne hat einen Begriff von der Zeit?«

»Warum, Doady?« fragte Dora und sah unschuldig von ihrem Zeichenbrett auf.

»Weil es fünf Uhr ist, Liebling, und wir um vier Uhr essen wollten.«

Dora sah betroffen auf die Wanduhr und meinte, sie ginge vor.

»Im Gegenteil, Liebling«, sagte ich und zog meine Uhr heraus, »sie geht ein paar Minuten nach.«

Mein kleines Frauchen setzte sich mir auf den Schoß, um mich schmeichelnd zu besänftigen, und zog mit dem Bleistift eine Linie auf der Mitte meiner Nase; aber davon konnte ich nicht zu Mittag essen, so angenehm es auch war.

»Meinst du nicht, Schatz, es wäre besser, wenn du Mary Anne deshalb Vorstellungen machtest?«

»O nein! Das könnte ich nicht, Doady!«

»Warum nicht, Liebling?« fragte ich sanft.

»Ach, weil ich so eine kleine Gans bin«, sagte Dora, »und weil sie das genau weiß.«

Mir erschien diese Ansicht so unvereinbar mit irgendeinem System, Mary Anne zu bändigen, daß ich die Stirn ein wenig kraus zog.

»Was das für häßliche Falten auf der Stirn meines bösen Jungen sind!« sagte Dora und zeichnete sie mit dem Bleistift nach, und ich mußte wider Willen lachen.

»So. Jetzt ist das Kind wieder gut«, sagte Dora. »Das Gesicht sieht viel hübscher aus, wenn es lacht.«

»Aber mein Liebling!«

»Nein, nein, ich bitte dich«, rief Dora und gab mir einen Kuß. »Sei kein böser Blaubart. Sei nicht ernsthaft!«

»Mein Herzensschatz«, sagte ich, »wir müssen manchmal ernsthaft sein. Komm! Setz dich hier neben mich! Gib mir den Bleistift! So! Nun wollen wir einmal vernünftig miteinander reden. Du weißt, liebes Kind, wie hübsch die kleine Hand mit dem allerliebsten Trauring war, du weißt, Schatz, es ist nicht sehr angenehm, ohne Mittagessen fortgehen zu müssen, nicht wahr?«

»N-n-nein«, erwiderte Dora beklommen.

»Aber liebes Kind, wie du zitterst!«

»Weil ich weiß, daß du mich ausschelten willst«, rief Dora mit kläglicher Stimme aus.

»Aber ich will doch bloß vernünftig mit dir sprechen!«

»Vernünftig sprechen ist noch viel schlimmer als ausschelten«, rief Dora voll Verzweiflung. »Ich habe doch nicht geheiratet, um vernünftig zu sprechen. Wenn du mit so einem armen kleinen Geschöpf wie ich vernünftig zu sprechen beabsichtigtest, hättest du es mir vorher sagen sollen, du grausamer Junge.«

Ich versuchte Dora zu beruhigen, aber sie wandte ihr Gesicht weg und schüttelte ihre Locken und sagte: »Du grausamer, grausamer Junge« so oft, daß ich wirklich nicht wußte, was ich tun sollte. Ich ging in meiner Hilflosigkeit ein paar Mal im Zimmer auf und ab und trat wieder vor sie hin.

»Dora, mein Liebling!«

»Nein, ich bin nicht dein Liebling. Denn es muß dir leid tun, mich geheiratet zu haben, sonst würdest du nicht vernünftig mit mir reden.«

Ich fühlte mich so verletzt von der Inkonsequenz dieser Beschuldigung, daß ich Mut faßte, ernsthaft zu sein.

»Meine liebste Dora«, sagte ich, »du bist sehr kindisch und redest dummes Zeug. Du wirst dich gewiß erinnern, daß ich gestern schon fort mußte, ehe ich mit dem Mittagessen halb fertig war, und daß es mir am Tag vorher ganz übel wurde, weil ich halbgares Kalbfleisch mit aller Hast herunterschlingen mußte. Heute kann ich gar nichts essen, und wie lange wir auf das Frühstück warten mußten, während das Wasser nicht einmal kochte, will ich gar nicht erwähnen. Ich mache dir gewiß keine Vorwürfe darüber, Liebling, aber angenehm ist es wahrhaftig nicht.«

»O du grausamer, grausamer Junge; zu sagen, ich wäre ein garstiges Weib«, jammerte Dora.

»Aber liebste Dora, das habe ich doch niemals gesagt.«

»Du sagtest, ich sei nicht angenehm.«

»Ich sagte, dieses Wirtschaften sei nicht angenehm.«

»Das ist doch genau dasselbe«, rief Dora aus. Offenbar glaubte sie es auch, denn sie weinte bitterlich.

 

Ich ging noch einmal im Zimmer auf und ab, erfüllt von Liebe für mein hübsches Frauchen und gequält von Selbstanklagen und dem Wunsch mit dem Kopf an die Tür zu rennen. Ich setzte mich wieder nieder und sagte: »Ich mache dir gewiß keine Vorwürfe, Dora. Wir haben beide noch viel zu lernen. Ich versuche nur, dir klarzumachen, daß du dich gewöhnen mußt – wirklich mußt –, ein wenig hinter Mary Anne herzusein und auch selbst etwas für dich und mich zu tun.«

»Daß du nur so undankbare Reden führen kannst«, schluchzte Dora, »wo du doch weißt, daß ich neulich, als du gern Fisch essen wolltest, selber meilenweit ging, um dich zu überraschen.«

»Und das war sehr lieb von dir, Herzensschatz«, sagte ich; ich fühlte es so innig, daß ich um keinen Preis erwähnt hatte, daß der Lachs viel zu groß für uns beide war und daß ein Pfund und sechs Schillinge, die er kostete, mehr waren, als wir ausgeben konnten.

»Und du freutest dich noch so sehr darüber«, schluchzte Dora, »und nanntest mich eine Maus.«

»Das werde ich noch tausendmal wieder sagen, Liebste!«

Aber ich hatte Doras weiches Herzchen verletzt, und sie ließ sich nicht trösten. Sie sah so rührend in ihrem Schluchzen und Klagen aus, daß ich das Gefühl hatte, sie schwer verletzt zu haben. Ich mußte forteilen, kam erst spät nach Hause und wurde die ganze Zeit von solchen Gewissensbissen gefoltert, daß ich mich ganz elend fühlte. Mir war zumute wie einem Mörder, und ein unbestimmtes Gefühl maßloser Verderbtheit wollte mich nicht verlassen.

Ich kam erst zwei oder drei Stunden nach Mitternacht nach Hause. Meine Tante wartete auf mich.

»Ist etwas vorgefallen, Tante?« fragte ich voll Unruhe.

»Nichts, Trot«, gab sie zur Antwort. »Setz dich doch, setz dich doch! Blümchen ist etwas betrübt gewesen, und ich habe ihr Gesellschaft geleistet. Das ist alles.«

Ich stützte den Kopf in die Hand und fühlte mich bedrückter und niedergeschlagener, wie ich in das Feuer blickte, als ich es so kurz nach der Erfüllung meiner schönsten Hoffnungen für möglich gehalten hätte. Wie ich nachdenklich so dasaß, begegnete ich zufällig den Augen meiner Tante, die auf meinem Gesicht ruhten. Sie hatten einen besorgten Ausdruck, der aber sogleich wieder verschwand.

»Ich versichere dir, Tante«, sagte ich, »der Gedanke, daß Dora betrübt ist, hat mich die ganze Nacht unglücklich gemacht. Aber ich beabsichtigte weiter nichts, als mit ihr in aller Liebe über unsere häuslichen Angelegenheiten zu sprechen.«

Meine Tante nickte mir ermutigend zu.

»Du mußt Geduld haben, Trot«, sagte sie.

»Natürlich. Der Himmel weiß, daß ich nicht unverständig sein wollte, Tante.«

»Nein, nein«, sagte meine Tante, »aber Blümchen ist eine sehr zarte kleine Blüte, und der Wind muß sanft mit ihr umgehen.«

Ich dankte meiner guten Tante im Herzen für ihre Zärtlichkeit gegen meine Gattin, und ich bin überzeugt, sie wußte, was ich fühlte.

»Meinst du nicht, Tante«, sagte ich, nachdem ich eine Weile ins Feuer geblickt hatte, »daß du dann und wann zu unserm gemeinsamen Vorteil Dora einen kleinen Rat geben könntest.«

»Trot«, antwortete meine Tante bewegt, »nein! verlange das nicht von mir!«

Sie sprach in so ernstem Ton, daß ich überrascht aussah.

»Ich blicke auf mein Leben zurück, Kind, und denke an so manche, die in ihren Gräbern liegen, mit denen ich auf freundlicherem Fuße hätte stehen können. Wenn ich die Irrtümer anderer Leute bei ihren Heiraten hart beurteilte, so kam dies vielleicht daher, daß ich selbst leider Grund genug hatte, meine eignen hart zu beurteilen. Schweigen wir davon. Ich bin eine launische, mürrische Frau seit vielen Jahren und werde es immer sein. Aber du und ich haben einander einiges Gute getan, Trot, – jedenfalls hast du mir viel Liebe entgegengebracht, mein Sohn, und es darf keine Uneinigkeit zwischen uns entstehen.«

»Eine Uneinigkeit zwischen uns, Tante?!«

»Kind, Kind«, sagte meine Tante und strich ihr Kleid glatt. »Wie bald sie entsteht, oder wie unglücklich ich unser liebes Blümchen machen würde, wenn ich mich in irgend etwas dreinmischte, vermag nicht einmal ein Prophet voraussagen. Ich will, daß unser Liebling mich gern hat und so sorglos ist wie ein Schmetterling. Denke an dein eignes Vaterhaus nach jener zweiten Heirat und tue niemals mir und dir zum Schaden, was du erwähnt hast.«

Ich begriff sofort, daß meine Tante recht hatte und verstand ihre Fürsorge für meine liebe Gattin in ihrer ganzen Fülle.

»Ihr seid noch nicht lange verheiratet, Trot, und Rom wurde nicht in einem Tag erbaut und auch nicht in einem Jahre. Du hast frei gewählt!« – Mir kam es vor, als ob für einen Augenblick ein Schatten ihr Gesicht überfliege – »Und du hast ein sehr hübsches und dich zärtlich liebendes Mädchen gewählt. Es ist deine Pflicht und wird auch deine Freude sein das weiß ich natürlich, und ich will dir keine Vorlesung halten –, sie gemäß den Eigenschaften zu schätzen, die sie hat, und nicht nach denen, die ihr fehlen. Die letzteren mußt du in ihr entwickeln, wenn du kannst. Und wenn du es nicht kannst, Kind«, – hier rieb sich meine Tante die Nase – »so mußt du dich eben gewöhnen, auch so auszukommen. Niemand kann euch beistehen, und ihr müßt euch eure Zukunft selber schaffen. So ist die Ehe, Trot, und der Himmel segne die eure, ihr beiden armen Kinderchen im Walde.«

Meine Tante sagte dies in einem fast heitern Tone und gab mir einen Kuß, um ihren Segen zu bekräftigen.

»Jetzt zünde mir meine Laterne an und bring mich durch den Garten in mein Putzkästchen. Grüße unser Blümchen von Betsey Trotwood, wenn du zurückkommst, und was du immer tun magst, Trot, niemals denke daran, Betsey als Vogelscheuche aufzustellen, denn wenn der Spiegel recht hat, sieht sie grimmig und abschreckend genug auch sowieso aus.«

Damit wickelte sie ihren Kopf in ein Taschentuch, machte wie immer bei solchen Gelegenheiten ein Bündel daraus, und ich geleitete sie nach Hause. Als sie in ihrem Garten stand und ihre Laterne, um mir zurückzuleuchten, in die Höhe hielt, glaubte ich wieder jenen bekümmerten Ausdruck in ihrem Auge zu erkennen.

 

Dora kam in ihren Pantöffelchen heruntergeschlichen, um mich zu begrüßen, und sank weinend an meine Schulter und sagte, ich sei hartherzig und sie nichtsnutzig, und ich glaube, ich sagte dasselbe, und wir söhnten uns aus und kamen überein, daß unser erster kleiner Zwist auch unser letzter sein sollte. Und wenn wir hundert Jahre alt würden.

 

Unsere nächste häusliche Prüfung war die Feuertaufe der Dienstboten. Mary Annes Vetter desertierte und wurde von einem Piquet seiner Kameraden mit Handschellen aus unserer Kohlenkammer geholt und in einer Prozession, die unsern Hausgarten mit Schmach bedeckte, abgeführt. Das gab mir den Mut, mich von Mary Anne loszumachen, die nach Empfang ihres Lohnes so sanft schied, daß ich mich wunderte, bis ich die Geschichte mit den Teelöffeln entdeckte und dahinterkam, daß sie kleine Summen in meinem Namen bei den Kaufleuten in der Nachbarschaft schuldig geblieben war. Nach einem Interregnum der Mrs. Kidgerbury – der ältesten Einwohnerin von Kentish Town, die sich als Zugeherin vermietete, aber zu schwach war, um diese Kunst auszuüben, – gewannen wir ein anderes Kleinod, ein außerordentlich liebenswürdiges Frauenzimmer, das es sich aber für gewöhnlich zur Aufgabe machte, mit dem Präsentierbrett die Küchentreppe hinauf- oder herunterzufallen, und sich stets mit dem Teeservice in das Zimmer wie in ein Bad stürzte. Nachdem die Verwüstungen, die diese Unglückliche anrichtete, ihre Entlassung notwendig gemacht hatten, folgte ihr – wieder nach einem Interregnum der Mrs. Kidgerbury – eine lange Reihe gänzlich Unfähiger, deren Schluß ein junges Mädchen von feinem Aussehen bildete, das schließlich mit Doras Hut auf den Jahrmarkt von Greenwich ging. Nach diesem Vorfall weiß ich nur von einer durchschnittlichen Gleichförmigkeit von Mißgriffen zu berichten.

Jedermann, der mit uns in Berührung kam, schien uns zu betrügen. Unser Eintritt in einen Laden gab das Signal, auf das alle verdorbenen Waren sogleich herbeigeschleppt wurden. Wenn wir einen Hummer kauften, war er voll Wasser. Unser Fleisch war immer zäh und auf dem Brot niemals Rinde. Um das Prinzip herauszufinden, nach dem eine Keule gebraten werden mußte, um gerade richtig gar zu sein, sah ich selbst im Kochbuch nach und fand dort eine Viertelstunde für jedes Pfund angegeben. Aber das Prinzip gelangte durch seltsames Mißgeschick niemals in Anwendung, und niemals konnten wir den Mittelweg zwischen rohem Fleisch und Kohle treffen.

Ich glaube, daß wir bei all diesen Fehlschlägen teuerer lebten, als wenn wir jeden Tag ein Siegesgepränge veranstaltet hätten. Wenn ich die Rechnungen durchsah, kam es mir vor, als ob wir das ganze untere Stockwerk mit Butter hätten pflastern können, so entsetzlich viel verbrauchten wir von diesem Artikel. Ich weiß nicht, ob die Steuerberichte dieser Zeit eine vermehrte Nachfrage nach Pfeffer nachgewiesen haben; aber wenn unser Konsum wirklich keinen Einfluß auf den Markt ausübte, so müssen wahrscheinlich zahllose Familien gleichzeitig die Verwendung von Pfeffer ganz aufgegeben haben.

Und das Allerwunderbarste war, daß wir nie etwas im Hause hatten.

Daß die Waschfrau unsere Kleider versetzte und in reuiger Betrunkenheit uns um Verzeihung bitten kam, will ich nicht erwähnen, ebenso nichts über den Schornsteinbrand und die Kirchspielspritze und den Amtsmeineid des Ortsdieners.

 

Eine unserer ersten Niederlagen bildete ein kleines Mittagessen für Traddles. Ich traf ihn in der Stadt und lud ihn ein, zum Essen mit mir zu kommen. Da er annahm, schrieb ich an Dora, daß ich ihn mitbringen würde. Mein häusliches Glück bildete unterwegs unser Gesprächsthema. Traddles war ganz benommen davon und sagte, er könne sich keine größere Wonne denken, als sich eine solche Häuslichkeit mit Sophie auszumalen.

Ich konnte mir kein hübscheres Frauchen am Tisch wünschen, hätte aber gern mehr Platz gehabt, als wir uns hinsetzten. Ich weiß nicht, wie es kam, selbst wenn wir nur zu zweit aßen, waren wir wie eingezwängt, und doch fehlte es nie an Platz, wenn es galt, etwas zu verlieren. Ich vermute, die Ursache war, daß nie etwas an seinem richtigen Orte stand, außer daß Jips Pagode stets den Eingang versperrte. Diesmal saß Traddles so eingeklemmt zwischen der Pagode, dem Gitarrenfutteral, Doras Staffelei und meinem Schreibtisch, daß ich wirklich zweifelte, ob er Messer und Gabel würde gebrauchen können. Aber er wollte es mit der ihm eigenen guten Laune nicht eingestehen. »Ein Weltmeer von Platz, Copperfield. Ich versichere dir, ein Weltmeer.«

Noch etwas anderes hätte ich gerne gesehen, nämlich daß Jip nicht während des Essens auf dem Tischtuch hätte herumlaufen dürfen. Es kam mir so vor, als ob sich das überhaupt nicht gehörte, selbst wenn er nicht die Gewohnheit gehabt hätte, mit dem Fuß in das Salzfaß oder in die zerlassene Butter zu treten. Diesmal schien er sich ausdrücklich für berufen zu halten, Traddles einzuschüchtern, denn er bellte meinen alten Freund an und machte mit solcher Hartnäckigkeit Ausfälle gegen seinen Teller, daß er die Unterhaltung fast allein in Anspruch nahm.

Da ich aber wußte, wie schmerzlich meine liebe Dora jede Beeinträchtigung ihres Lieblings empfand, wagte ich keinen Einwand. Ich konnte auch nicht umhin mich zu fragen, als ich die Schöpsenkeule tranchierte, warum unsere Fleischstücke immer so seltsam geformt seien; – als ob unser Fleischer alle mißgestalteten Hammel, die auf die Welt kamen, zusammenkaufte. Aber ich behielt meine Gedanken für mich.

»Liebling«, sagte ich zu Dora, »was ist in dieser Schüssel?«

Ich verstand nicht, warum Dora mir immer ein Gesichtchen schnitt, als ob sie mich küssen wollte.

»Austern, Schatz!« sagte Dora schüchtern.

»Bist du auf den Einfall gekommen?« fragte ich ganz erfreut.

»J-ja, Doady.«

»Ein brillanter Einfall!« rief ich aus und legte das Tranchiermesser hin. »Traddles ißt sie außerordentlich gern.«

»J-ja, Doady. Ich habe ein kleines Fäßchen gekauft, und der Mann sagte, sie wären sehr gut. Aber ich – ich fürchte, es ist etwas nicht ganz in der Ordnung damit.« Sie senkte den Kopf, und Diamanten glitzerten in ihren Augen.

»Man muß sie aufmachen«, sagte ich. »Nimm die oberste Schale weg, Liebling.«

»Aber sie geht nicht auf«, sagte Dora, machte mit großer Anstrengung einen Versuch und sah sehr betrübt drein.

»Weißt du was, Copperfield«, lachte Traddles fröhlich, »die Ursache ist – es sind vortreffliche Austern, aber ich glaube die Ursache ist –, sie sind noch nicht aufgebrochen worden.«

So war es. Wir hatten kein Austernmesser und hätten es auch nicht zu gebrauchen verstanden. So sahen wir denn die Austern bloß an und aßen das Schöpsenfleisch. Das heißt den Teil, der nicht roh war, und vervollständigten das Mahl mit Kapern. Wenn ich es gestattet hätte, würde Traddles aus sich einen wahren Wilden gemacht und einen Teller rohen Fleisches gegessen haben, um die Schmackhaftigkeit des Gerichtes zu beweisen; aber ein solches Opfer auf dem Altar der Freundschaft wollte ich nicht dulden, und zum Glück fand sich zufällig Schinken in der Speisekammer.

Mein armes kleines Frauchen war so betrübt, als es glaubte, ich ärgere mich, und so erfreut, als es sah, daß es nicht der Fall war, daß die Mißstimmung bald verschwand und wir einen sehr fröhlichen Abend verlebten. Während Traddles und ich ein Glas Wein tranken, ergriff sie jede Gelegenheit, um mir zuzuflüstern, es sei hübsch von mir, daß ich mich nicht wie ein alter, böser, zänkischer Mann benähme. Später goß sie Tee für uns auf und sah dabei so hübsch aus, daß ich mich um die Beschaffenheit des Getränks nicht sehr kümmerte. Dann spielte ich mit Traddles eine Partie Cribbage, und Dora sang dabei zur Gitarre, und mir war, als ob unser Brautstand und unsere Heirat nur ein schöner Traum seien und ich immer noch wie damals an jenem ersten Abend ihrer Stimme lauschte.

Als Traddles fort war, setzte sie sich dicht neben mich und sagte:

»Ich bin so unglücklich; möchtest du nicht versuchen, Doady, mir etwas beizubringen?«

»Ich muß selbst erst lernen, Dora«, sagte ich. »Ich bin auch nicht klüger als du, Schatz.«

»Aber du kannst lernen und bist ein sehr, sehr gescheiter Mann.«

»Unsinn, meine kleine Maus!«

»Ich wollte«, begann sie nach einem langen Schweigen wieder, »ich hätte einige Jahre aufs Land gehen und mit Agnes zusammenwohnen können.«

Ihre Hände lagen gefaltet auf meiner Schulter, ihr Kinn ruhte darauf, und ihre blauen Augen sahen still in die meinen.

»Warum?« fragte ich.

»Ich glaube, es hätte mir viel nützen können, und ich hätte viel von ihr gelernt.«

»Du mußt bedenken«, sagte ich, »daß Agnes viele Jahre für ihren Vater die Wirtschaft führte. Als Kind schon war sie die Agnes, die wir kennen.«

»Willst du mir einen Namen geben, den ich gerne haben möchte, Doady?«

»Was für einen Namen?« fragte ich lächelnd.

»Es ist ein dummer Name«, sagte sie und schüttelte einen Augenblick die Locken: »kindisches Frauchen.«

Ich fragte sie lachend, was sie sich bei diesem Wunsche denke.

»Ich meine nicht etwa, du närrischer Junge, daß du mich so rufen sollst, anstatt Dora. Ich will nur, daß du so an mich denken sollst. Wenn du mir bös bist, so denk dir: ich wußte schon lange, daß sie auch als Gattin nur ein kindisches Frauchen sein wird. Wenn du an mir vermissest, was ich gern sein möchte und vielleicht nie werden kann, so sag dir nur: mein kindisches Frauchen liebt mich doch.«

Ich hatte nicht ernsthaft mit ihr gesprochen, denn ich ahnte nicht, daß sie selbst in vollem Ernste war. Aber ihr weiches Gemüt war so glücklich über das, was ich ihr jetzt aus vollem Herzen sagte, daß ihr Gesicht vor Freude strahlte, ehe noch ihre Augen trocken wurden. Sie war bald wieder das kindische Frauchen und setzte sich auf den Fußboden neben die Pagode und läutete nacheinander alle die kleinen Glocken, um Jip für eine Unfolgsamkeit zu bestrafen, während er blinzelnd auf dem Boden lag, zu träge, um sich necken zu lassen.

 

Doras Bitte machte einen großen Eindruck auf mich. Ich blickte auf die Zeit zurück, von der ich schreibe; ich beschwöre die unschuldvolle Gestalt, die ich so innig liebte, herauf aus dem Schatten der Vergangenheit, damit das sanfte Antlitz sich noch einmal mir zuwende, und immer noch leben ihre Worte in meinem Gedächtnis. Ich habe sie mir vielleicht nicht so sehr zu Herzen genommen, wie ich sollte – ich war jung und unerfahren –, aber niemals blieb mein Ohr taub gegen die schlichte Bitte.

Kurz darauf sagte mir Dora, daß sie auf dem besten Wege sei, eine ausgezeichnete Hausfrau zu werden. Wirklich polierte sie die Schreibtäfelchen blank, spitzte den Bleistift, kaufte ein ungeheures Rechenbuch, nähte sorgfältig die Blätter des Kochbuchs, die Jip zerrissen hatte, wieder zusammen und nahm einen geradezu verzweifelten Anlauf »gut zu sein«, wie sie es nannte. Aber die Ziffern blieben störrisch wie früher und »wollten sich nicht addieren lassen.« Wenn sie mit großer Mühe zwei oder drei Posten in das Rechnungsbuch eingetragen hatte, geruhte Jip mit wedelndem Schweif über die Seite zu schreiten und alles zu verwischen. Doras kleiner Mittelfinger war bis zur Wurzel schwarz von Tinte, und ich glaube, das war der einzig bleibende Erfolg des Unternehmens.

Manchmal abends, wenn ich zu Hause war und arbeitete – denn ich schrieb jetzt viel und mein Ruf als Schriftsteller wuchs, – legte ich die Feder hin und sah zu, wie mein kindisches Frauchen versuchte, »gut zu sein«. Zuerst holte sie das große Rechnungsbuch hervor und legte es mit einem tiefen Seufzer auf den Tisch. Dann schlug sie die Stellen auf, die Jip am Abend vorher unleserlich gemacht hatte, und er mußte seine Missetat selbst ansehen. Das verursachte eine Abschweifung zu Jips Gunsten und brachte ihm schlimmstenfalls als Strafe einen Tintenstrich auf die Nase ein. Dann befahl sie ihm, sich sofort auf den Tisch zu legen »wie ein Löwe«, – eins seiner Kunststücke, wenn auch die Ähnlichkeit nicht sehr groß war –; und wenn er gelaunt war, gehorchte er. Dann nahm sie eine Feder, um anzufangen, und fand ein Haar drin. Dann nahm sie eine andere Feder und fing wieder an zu schreiben und fand, daß sie spritzte. Dann nahm sie eine dritte, fing an zu schreiben und sagte leise: die hört man und das stört Doady. Und dann gab sie es als ein schlechtes Geschäft auf und legte das Rechnungsbuch weg, nachdem sie vorher noch getan hatte, als wollte sie den »Löwen« damit erdrücken.

Einmal, als sie sehr ernst und pflichteifrig gestimmt war, setzte sie sich mit der Schreibtafel und einem kleinen Korb voll Rechnungen und andern Papieren, die mehr wie Lockenwickel als sonst etwas aussahen, hin und bestrebte sich, ein Resultat herauszubekommen. Nachdem sie alles aufmerksam miteinander verglichen, Notizen auf die Täfelchen geschrieben, sie wieder weggewischt und alle Finger ihrer linken Hand vorwärts und rückwärts gezählt hatte, machte sie ein so verdrießliches und entmutigtes Gesicht und sah so unglücklich drein, daß es mich ordentlich schmerzte und ich leise zu ihr ging und sagte: »Was ist denn, Dora?«

Dora blickte mit hoffnungsloser Miene auf und antwortete: »Sie wollen nicht stimmen. Sie machen mir Kopfweh. Sie tun nicht, was ich will.«

»Wir wollen es zusammen versuchen, ich will dirs zeigen, Dora«, tröstete ich sie.

Ich fing einen praktischen Kursus an, dem Dora vielleicht fünf Minuten lang mit tiefster Aufmerksamkeit zuhörte; aber dann wurde es ihr zu langweilig, und sie brachte Abwechslung in das trockne Thema, indem sie mir die Locken drehte oder versuchte, wie mein Gesicht mit umgeschlagnem Hemdkragen aussähe. Wenn ich ihr stillschweigend wehrte und im Rechnen fortfuhr, machte sie ein so erschrockenes und unglückliches Gesicht, daß die Erinnerung an ihre Worte wie ein Vorwurf über mich kam und ich den Bleistift hinlegte und sie um die Gitarre bat.

Ich hatte viel zu tun und manche Sorge, doch dieselben Rücksichten veranlaßten mich, sie für mich zu behalten. Aber es verbitterte mein Leben nicht. Wenn ich bei schönem Wetter allein meine täglichen Wege ging und an die Sommertage dachte, wo die ganze Luft erfüllt gewesen war mit dem Zauber meiner Kinderjahre, da fehlte mir wohl etwas an der Verwirklichung meiner Träume, aber ich glaubte, es sei der mildernde Glanz der Vergangenheit, den nichts in die Gegenwart herüberbringen kann. Manchmal wünschte ich mir fast, meine Gattin wäre meine Beraterin und besäße mehr Selbständigkeit und Charakter, mich aufrechtzuerhalten und mir beizustehen, – besäße die Kraft, die Leere auszufüllen, die, ich weiß nicht wie, in mir zu wohnen schien.

Ich war den Jahren nach ein fast knabenhafter Ehemann. Wenn ich manchmal etwas Unrechtes getan habe, so geschah es aus mißverstandner Liebe und aus Mangel an Einsicht.

So hatte ich denn die Mühen und Sorgen unseres Lebens auf mich allein genommen, und niemand half mir dabei. Wir lebten fast ganz wie zuvor hinsichtlich der Unordnung unseres Haushaltes, aber ich hatte mich daran gewöhnt und es freute mich, jetzt Dora selten betrübt zu sehen. Sie war in ihrer alten, kindischen Art lustig und heiter, liebte mich zärtlich und fühlte sich glücklich bei ihren gewohnten Spielereien.

Wenn die politischen Debatten von Bedeutung waren ? nämlich der Länge nach, nicht der Qualität – und ich spät nach Hause kam, schlief Dora nicht, sondern kam stets die Treppe herab, wenn sie meine Schritte hörte. War ich abends frei und arbeitete zu Hause, saß sie ruhig neben mir, wie spät es auch immer werden mochte, und verhielt sich so still, daß ich oft glaubte, sie sei eingeschlafen. Aber fast immer, wenn ich aufblickte, sah ich ihre blauen Augen mit ruhiger Aufmerksamkeit auf mich gerichtet.

»O, wie müde du sein mußt, Liebling«, sagte sie eines Nachts, als ich meine Schreibmappe zumachte und ihren Blicken begegnete.

»O, wie müde mein Herzensschatz sein muß«, sagte ich. »Das paßt besser. Ein anderes Mal mußt du zu Bett gehen. Es ist viel zu spät für dich geworden.«

»Nein, schicke mich nicht zu Bett«, bat Dora und schmiegte sich an mich. »Bitte, tu das nicht!«

»Dora!« Zu meinem Erstaunen schluchzte sie an meiner Schulter.

»Bist du nicht wohl, Liebling? nicht glücklich?«

»Ja! Ganz wohl und sehr glücklich. Aber laß mich immer bei dir bleiben und dir zusehen, wenn du schreibst.«

»Aber was ist das für so helle Augen um Mitternacht für ein Anblick!«

»Sind sie wirklich hell?« fragte Dora lächelnd. »Ich bin so froh, wenn sie hell sind.«

»Kleine Eitelkeit!« sagte ich.

Aber es war nicht Eitelkeit, es war bloß harmlose Freude an meiner Bewunderung. Ich wußte das genau, und sie hätte es mir nicht erst versichern brauchen.

»Wenn du meinst, sie sind hübsch, so laß mich doch dableiben und dir beim Schreiben zusehen«, sagte sie. »Meinst du wirklich, sie sind hübsch?«

»Sehr hübsch!«

»Dann laß mich dableiben und dir beim Schreiben zusehen.«

»Ich fürchte sehr, daß das zu ihrem Glanz nicht beiträgt, Dora.«

»Doch! Doch! Weil du mich dann nicht vergessen wirst, du gescheiter Mann, während du von stillen Phantasien erfüllt bist. Wirst du böse sein, wenn ich etwas sehr, sehr Albernes sage?« fragte Dora, mir über die Schulter ins Gesicht blickend.

»Was denn?«

»Bitte laß mich die Federn halten, Doady. Ich möchte etwas zu tun haben während der vielen Stunden, wo du so fleißig bist. Darf ich die Federn halten?«

Die Erinnerung an ihren allerliebsten Freudenausbruch, als ich Ja sagte, treibt mir die Tränen in die Augen. Schon beim nächsten Mal und von da an jeden Abend, wenn ich schrieb, saß sie auf ihrem alten Platze mit einem Bündel Federn neben sich. Ihr Triumph, auf diese Art an meiner Arbeit teilzunehmen, und ihre Freude, wenn ich eine neue Feder brauchte, brachte mich auf einen neuen Gedanken. Ich tat, als müßte ich ein paar Seiten Manuskript abschreiben lassen. Und dann strahlte Dora. Die Vorbereitungen, die sie zu solchen großen Arbeiten traf, sind für mich liebe rührende Erinnerungen. Die Schürzen, die sie vornahm, die Lätzchen, die sie aus der Küche borgte, um sich nicht Tintenflecke zu machen, die Zeit, die sie dazu brauchte! Die unzähligen Pausen, die sie einflocht, um Jip anzulachen, als ob er alles verstünde, – wie sie überzeugt war, daß die Arbeit nicht fertig sei, wenn nicht ihr voller Name darunter stünde! Und die Art, mit der sie mir die Schrift überreichte, als wäre es eine Schularbeit, und mir dann, wenn ich sie lobte, um den Hals fiel!

Nicht lange später nahm sie eines Tages die Schlüssel in Besitz und klimperte mit dem ganzen Bund in einem kleinen Körbchen an ihrer schlanken Taille im Hause herum. Nur selten fand ich die Schränke verschlossen und nur selten waren sie zu etwas anderm gut als zu einem Spielzeug für Jip; aber Dora hatte ihre Freude dran, und das machte auch mir Freude. Sie war fest überzeugt, daß durch dieses Spiel viel für die Wirtschaft geschähe, und war so fröhlich, als ob wir zum Spaß haushielten und eine Puppenwirtschaft führten.

So lebten wir fort. Dora war gegen meine Tante kaum weniger zärtlich als gegen mich und erzählte ihr oft, wie sie sich einst vor ihr gefürchtet habe als vor einer mürrischen alten Frau. Noch nie habe ich meine Tante so systematisch milde gegen jemand auftreten sehen wie gegen Dora. Sie hätschelte Jip, obgleich er es ihr nie vergalt, hörte Tag für Tag dem Gitarrenspiel zu, obgleich sie, fürchte ich, keinen Sinn für Musik hatte. Nie fiel sie über unsere unfähigen Dienstboten her, so stark die Versuchung gewesen sein muß. Sie legte erstaunliche Strecken zurück, um Dora mit manchen nötigen Kleinigkeiten zu überraschen, und kam nie, ohne unten an der Treppe mit einer Stimme, die fröhlich durch das ganze Haus klang, zu rufen:

»Wo ist das kleine Blümchen?«