Kapitel 11

 

Die Hilferufe, die aus dem Gartenhause drangen, wurden zuerst von dem Kind eines Arbeiters gehört; es wagte sich nicht näher, holte aber Leute herbei. Diener rannten nach dem Arzt. Als er kam, fand er die Gräfin mit blutbespritztem Kleide halb ohnmächtig zusammengesunken an der Leiche Wolfis. Sie war nicht zu bewegen, von der Stelle zu weichen, bevor jeder denkbare Wiederbelebungsversuch unternommen worden.

Wie Doktor Weise vorausgesagt hatte, blieb alles vergeblich. Er durfte sich auf seinen Fräulein Lisette gegenüber oft getanen Ausspruch berufen: eine heftige Erhitzung und dergleichen oder einer der Zornanfälle, denen Herr Forster unterworfen war und bei denen er zu schreien pflegte wie besessen, könne einen Blutsturz herbeiführen, während er vielleicht ein alter Mann geworden wäre, wenn er sich nur entschlossen haben würde, jetzt schon den »Duktus« eines solchen anzunehmen. Das Gelächter, mit dem der Patient diese Verheißung zu beantworten pflegte, hatte den Doktor immer gekränkt.

»Und kränkt mich noch«, sagte er zu den Herrschaften Wilhelm, denen er am Nachmittag in seinem Einspänner ein Stück Weges entgegengefahren war, um ihnen pflichtgemäß zuerst von dem traurigen Ereignis in Dornach und den Umständen, unter welchen es stattgefunden, Mitteilung zu machen. Auch legte er ihnen die Frage zur Entscheidung vor, ob nicht an die telegraphische Berufung des Herrn Grafen gedacht werden solle, und zwar aus Rücksicht für die Frau Gräfin, die sich infolge des ausgestandenen Schreckens in einem Zustande hochgradiger Aufregung befände.

»Sehr irritiert, wenn auch bemüht, Selbstbeherrschung zu üben. Ich habe unvermerkt den Puls gegriffen – kaum zu zählen. Es wäre nicht unmöglich, daß sich da etwas entwickelte«, sprach er mit dem traditionellen ärztlichen Kopfschütteln.

»Daß sich was entwickelte?« fragte Wilhelm, in höchster Bestürzung aus dem Wagen springend, ergriff den Arm des Doktors und blickte angstvoll zu ihm empor.

»Je nun«, versetzte dieser mit wichtiger Miene, »ein leichter Typhus oder etwa Entzündung – cordis basis – cordis conus …«

»Ist das gefährlich? – – Hol der Kuckuck diese Namen, die niemand versteht und die einem nur bang machen«, wandte er sich an seine Frau. Sie war gleichfalls ausgestiegen, an seine Seite getreten und suchte ihn zu trösten.

»Fasse dich, es wird nicht so schlimm sein. Aber die Buben« meinte sie, »müssen wir nach Hause schicken.«

»Freilich«, und Wilhelm überblickte die Häupter seiner Lieben, die aus dem weitläufigen Jagdwagen hervorguckten wie aus einem Pferche. »Wenn ihrer zwei waren oder drei, es ginge noch. Acht Stück in einem solchen Moment – unmöglich. Fahr sie heim«, sprach er zu dem alten Kutscher, der sein ganzes Vertrauen besaß, weil er selbst zehn Kinder hatte.

Eine Revolution, die im Wagen ausbrechen wollte, wurde durch wenige Machtworte des Vaters und die sanften Vorstellungen der Mutter unterdrückt. Willi, der Älteste, erhielt die Erlaubnis, sich auf den Bock zu setzen und zu kutschieren, die andern überließ man ihrer Enttäuschung.

Wilhelmine nahm den Platz nicht an, den ihr der Doktor neben sich in seiner auf Räder gesetzten Muschel anbot. Sie schritt, ein immer treuer Kamerad, an der Seite ihres tief bekümmerten Gatten dem Schlosse zu. In der Halle trafen sie Lisette. Sie fahndete auf den Doktor, sie begriff ihn heute zum erstenmal nicht ganz. Wie konnte er das Haus verlassen während eines sorgenerregenden Unwohlseins Marias und eine so schöne Gelegenheit versäumen, sich unentbehrlich zu machen. – Und wo blieb er denn jetzt?

»Ins Dorf ist er gefahren«, antwortete Wilhelm und eilte die Treppe hinauf.

Seine Frau folgte ihm und hatte Mühe, ihn zu bewegen, im Salon zu warten, bis sie ihm Nachricht bringen würde, ob die Kusine ihn sehen könne.

Maria war in ihrem Schlafzimmer, das sie seit Stunden rastlos, mit raschen, regelmäßigen Schritten durchmaß. Beim leisen Pochen Wilhelminens blieb sie stehen und rief, als diese sich genannt hatte: »Komm, komm! nach dir habe ich mich gesehnt, deine Nähe ist mir ein Trost.«

»Wär es so, vermöcht ich dich zu trösten, armes, armes Kind!« Sie faßte ihre Hand, drückte sie liebreich und kämpfte mit dem Bedauern und dem Schmerz, die sie beim Anblick der Vernichtung und Trostlosigkeit im Gesichte Marias überwältigen wollten.

Ihrer mütterlichen Zärtlichkeit und Überredungskunst gelang es endlich, die Erschöpfte zu bewegen, sich in einem Fauteuil niederzulassen und sogar etwas Nahrung zu nehmen.

»Der heute gestorben ist, war mein Bruder«, sprach Maria plötzlich. »Weißt du es?«

Wilhelmine antwortete einfach: »Jawohl, es ist ja kein Geheimnis daraus gemacht worden.«

»Und ich bin hart und stolz gegen ihn gewesen, begreifst du? – ich!« Sie brach in Tränen aus, sie schluchzte, die furchtbare Spannung ihrer Seele hatte sich gelöst.

Allmählich wurde sie wieder Herrin ihrer selbst, verlangte Wilhelm zu sehen und geriet nur vorübergehend in heftige Aufregung, als er den Vorschlag machte, an Hermann zu telegraphieren.

»Unter keiner Bedingung! – er würde kommen.«

»Und soll er nicht?«

»Nein, die Mutter bedarf seiner. Ich schreibe ihm«, setzte sie hastig hinzu, »verlaßt euch auf mich. – Niemand sonst schreibt ihm. Gebt mir euer Wort darauf.«

»Welche Frau!« sagte Wilhelmine im Nachhausefahren zu ihrem Manne. »Sie beweist mir von neuem, daß der ganz edle und gute Mensch sich nie genugtut. Ist nicht das Außerordentliche für den unglücklichen Forster geschehen? Nun, Maria macht sich noch Vorwürfe. Dergleichen gibt einen Maßstab für den Wert einer Seele. Welche Frau! Ich habe sie wie ein neuntes Kind in mein Herz geschlossen.«

Der Brief Marias an Hermann mußte mit Ruhe und Überlegung geschrieben worden sein, denn in dem ausführlichen Telegramme, das Wilhelm am folgenden Abend von seinem Vetter erhielt, sprach dieser nicht die leiseste Besorgnis um seine Frau aus. Er bat Wilhelm, Anordnungen zur würdigen Bestattung Wolfis zu treffen, und hoffte, zu Ende der nächsten Woche in Dornach sein zu können.

Die Leiche Forsters war kaum der Erde übergeben, und schon tauchten allerlei Gerüchte über die unmittelbare Ursache seines Todes auf. Ein Jäger behauptete, ihn kurz zuvor gesehen zu haben, nahe an der Waldgrenze auf einem Fußsteig, der nach der Nordbahnstation führte. Er befand sich im Streite mit einem langen Schwarzen, den der Jäger aus der Entfernung für den Adjunkten gehalten. Der Adjunkt wurde zur Rede gestellt, konnte aber leicht nachweisen, daß er sich am selben Tage, zur selben Stunde im benachbarten Städtchen befunden, wohin der Herr Oberförster ihn geschickt hatte, Grassamen einzukaufen. Offenbar irrte der Jäger in der Person des Individuums, mit dem Wolfi jüngst in einer für ihn verhängnisvollen Weise verkehrt. Daß es einen solchen Menschen gab, das bezweifelte niemand.

»Es könnte«, meinte der Doktor, wie immer vorbehaltlich, »wohl ein Pascher gewesen sein, durch welchen sich mein Patient hinter meinem Rücken vielleicht Zigarren verschaffen wollte. Oder vielleicht ein Gläubiger, der einen Versuch machte, sein Geld einzutreiben.«

Lisette hingegen erklärte, bei ihr stände es fest, daß es derselbe Schwindler gewesen, der – sie merkte ihm gleich etwas Verdächtiges an – »den armen, guten Jungen« am Tage vorher ganz offenkundig besucht hatte und dann, Gott weiß warum, im geheimen wiedergekehrt sein dürfte. Damit war aber noch immer nicht Klarheit in die Sache gebracht. Und trotz aller Nachforschungen blieb das Rätsel, wer der Fremde gewesen, in welchen Beziehungen er zu Forster gestanden, ungelöst.

Maria hatte sich in eine an Stumpfheit grenzende Ergebung eingesponnen. Möchten sie doch auf die Wahrheit kommen! – sie würde nicht leugnen, sie würde sterben. In vermessener Zuversicht baute sie auf die Gnade des Allbarmherzigen. Er wird sie zugrunde gehen lassen an dem Gefühl ihrer Schuld, sie büßen, sühnen lassen durch den Tod. Es war ihr ein Trost, sich das zu wiederholen. Mit einem Gefühl der Schmach wie dasjenige, das sie in ihrer Brust trägt, kann man ja nicht leben … Ihr steht etwas bevor, unfaßbar, das nicht auszudenken ist – das Wiedersehen mit ihrem Manne. Sie wird seinen Blick nicht ertragen können, sie wird ihn empfangen mit dem Geständnis: Ich habe dich betrogen, einmal in einer fluchenswerten Stunde, in schnödem Taumel. Aber dich wieder betrügen, mit Bewußtsein und Berechnung; meinen entweihten Mund deinem Kusse bieten – das werde ich nie.

Er kam und war unsagbar glücklich, wieder da zu sein, und sie stand regungslos vor ihm – und schwieg.

Wie die anderen schrieb er ihr übles Aussehen, ihre düstere Stimmung dem fürchterlichen Eindruck zu, den der Tod Wolfis auf sie hervorgebracht hatte. Der Doktor beglückwünschte ihn zu der Richtigkeit dieser Ansicht und gebrauchte dabei viele Fremdwörter, wie es sich geziemt für einen Landarzt, der eine vornehme Patientin behandelt.

Fräulein Lisette nahm zu jener Zeit etwas Gehaltenes und Siegreiches in ihrem Gang und ihren Gebärden an. Ihr Herz, das nie eine heißere Neigung gekannt hatte als die zu dem »Kinde«, machte im Spätherbste Frühlingsrechte geltend. Sie liebte, sie schmeichelte sich, geliebt zu werden; scharenweise umflogen ihre Gedanken den teuren Gegenstand, und nur hier und da stellten sich einzelne von ihnen bei der einst ausschließlich Verehrten und Verhimmelten ein. Lisette fand es überflüssig, ihre Leidenschaft zu verhehlen, und sprach unbefangen von dem, der sie ihr einflößte.

»Er schwebt halt immer auf meinen Lippen«, sagte sie einmal schalkhaften Tones zu der Gebieterin mitten in einem Bericht über die Ankunft einer Sendung Tischzeugs, in den sie den Doktor ungemein kunstvoll eingeflochten hatte.

»Wer?« fragte Maria.

Und nun legte die alte Jungfrau ihr längst angekündigtes Geständnis ab, und die geringe Aufmerksamkeit, die ihr anfangs geschenkt wurde, steigerte sich allmählich, und plötzlich geschah das Außerordentliche – Maria lachte.

Hermann, der eben eintrat, hörte es, und seine Freude kannte keine Grenzen. »Wer hat dich lachen gemacht? – Sie, Lisette? Goldene Lisette! – was soll ich für Sie tun?… Ich gründe ein Kammerdamenstift, und Sie werden Oberregentin.« Er stürzte auf sie zu und küßte sie auf jede Wange, daß es schallte. »Was hat sie dir vorgebracht?« wandte er sich an seine Frau, rückte einen Sessel neben das Kanapee, auf dem sie saß, und nahm Platz. »Ich will es wissen, ich will Unterricht bei ihr nehmen.«

Maria fragte: »Darf ich antworten, Lisette?« und diese, ein klein wenig verschämt, erwiderte: »Ich bitt.«

»Mit deiner Erlaubnis also. – Sie möchte den Doktor heiraten.«

Die Betroffenheit Hermanns, die Anstrengung, die er machte, sie zu verbergen, die fröhliche, unendliche Güte, die aus seinen Augen sprach und aus dem unbezwinglichen und harmlosen Lächeln, das seinen Mund umspielte, erregten von neuem Marias Heiterkeit.

– So war es möglich, noch – ja, schon so bald konnte sie sich vorübergehend zerstreuen lassen aus ihrer lastenden, berechtigten, ihrer gebotenen Seelenpein?

Einmal lag sie des Nachts, wie so oft, wachend auf ihrem Lager, lauschte den ruhigen Atemzügen ihres Mannes und sann und sann.

Und jetzt drang durch die Stille aus dem Zimmer nebenan, in dem das Kind schlief, ein heiserer Ton, ein lautes, rauhes Husten aus kleiner Brust an ihr Ohr. Sie erhob sich sachte, warf ihr Morgenkleid um, glitt mit nackten Füßen, die Pantoffel in der Hand, über den Teppich, trat bei dem Kleinen ein und schob den Vorhang seines Bettchens zurück. Der Schein der Nachtlampe flackerte auf dem glühenden Gesicht des Knäbleins, es röchelte schwer im Fieberschlafe. Maria weckte ihn und die Wärterin und leistete die erste Hilfe, während jene auf ihren Befehl das Kindermädchen aufrüttelte und nach einem Diener läutete, der den Doktor herbeiholte. Dieser kam, sprach kein Wort, sondern handelte still und energisch; er war in dieser Nacht ein Held an Mut und Besonnenheit. Vorübergehend nur brachte ihn die Wärterin in Zorn, weil sie fassungslos herumstürzte und durchaus den Grafen rufen wollte.

»Alberne Person«, rief Weise, sich der Höflichkeit begebend, die ihn sonst auszeichnete. »Der Doktor verbietet es, der Doktor braucht keine Leute, die Angst haben, im Krankenzimmer … Da – so eine Ruhe! Das ist das Richtige, da nehmen Sie sich ein Beispiel.« Er deutete auf Maria, die das Knäblein auf dem Schoß hielt.

Weiß in ihren schneeweißen Gewändern, unverwandten Blickes jede Veränderung beobachtend und anzeigend, welche bei dem Kleinen vorging, führte sie des Doktors Anordnungen selbst aus und hielt ein stummes Gespräch mit ihrem Kinde. -Willst du voran – mich drüben zu erwarten? Ich folge dir bald nach. – Aber dein armer Vater, soll ihm beides zugleich genommen werden – ein echtes Gut: du! und ein wertloses, falsches, das er in seinem lauteren Glauben betrauern wird, als wäre es wirklich ein köstlicher Besitz gewesen?… Bleibe bei ihm, mein Liebling, biete ihm überreichen Ersatz. – Sie drückte ihn an ihre Brust, und er richtete seine großen Augen auf sie und murmelte: »Liebe Mutter.«

»Es geht besser, Doktor, nicht wahr?« fragte Maria.

»Wenn nicht alle Zeichen trügen«, gab er zur Antwort.

Sie verstand ihn. Er gebrauchte wieder eine bedingte Redeweise; die ernste Sorge, die ihn seiner kleinlichen Vorsicht untreu gemacht hatte, war geschwunden.

Am Morgen erst erfuhr Hermann, daß sein Söhnchen in Lebensgefahr gewesen sei und daß es gerettet war.

Dir gerettet, dachte Maria, zu deinem Troste, wenn ich nicht mehr bei dir sein werde. Sie war im reinen mit sich. Gott erhörte sie nicht, überantwortete sie der Verzweiflung, so faßte sie denn einen Entschluß der Verzweiflung.

Ein schöner Spaziergang im Walde führte bequem zu einer Burgruine hinan, welche die Felsenspitze eines bis weit über die Mitte mit Schmuck-Edeltannen bewachsenen Berges krönte. Man konnte jedoch von der entgegengesetzten Seite auf einem viel kürzeren Wege zu der Ruine gelangen. Dieser ging über einen schmalen, geländerlosen Steg und mündete am Fuße des beinahe senkrecht abfallenden Felsens, unweit von halbzerbröckelten, in den Stein gehauenen Stufen. Ein kühner und geschickter Kletterer durfte sie immerhin noch benützen, um zur Kuppe zu gelangen; wenn er nämlich schwindelfrei war. Sonst konnte ihm ein Blick zurück in die Tiefe gefährlich werden. Dasselbe Flüßchen, das einige hundert Schritte weiter zwischen Wiesen dahinglitt als friedliches, mit Kähnen befahrbares Gewässer, wurde in der Enge zum Wildbach. Kochend und brausend stob der Gischt, bildete Wirbel, drehte und drehte sich kreisförmig, trichterförmig, stieg auf in Säulen aus Schaum, warf sich wieder wie toll in sein steiniges Bett und lockte herab zur Teilnahme an seiner sprudelnden, unerschöpflichen Lebenslust.

In ihrem ersten Ehejahre hatte Maria die Ruine besucht. Angewandelt von einer Regung der unbezähmbaren Freude an der Gefahr, von der sie in früher Jugendzeit gar oft ergriffen worden, war sie die Felsentreppe herabgestiegen und hatte den Steg festen und sicheren Ganges überschritten.

Hermann, dem sie ihr Wagnis eingestanden, war erst durch ihr förmliches Versprechen, es nie zu wiederholen, zu beruhigen gewesen. – Nun mußte das gegebene Wort gebrochen werden.

Mit peinlich erfinderischer Genauigkeit malte Maria sich alles aus, sah sich den Fuß setzen auf den Steg und wandern und langsam mit Bedacht ausgleiten an der rechten Stelle … wanken, sinken, zerschellt werden an den ewig blanken, ewig feucht glänzenden Klippen, die aus dem Wasser herausragten. Vorahnend gab sie sich Rechenschaft von dem Schmerze Hermanns, er würde nicht frei sein von Groll – und das war recht. Ein reines Andenken zu hinterlassen, hatte die Schuldige nicht verdient.

Sie bereitete sich vor auf die entsetzliche Trennung von ihrem kleinen Kinde, das der Mutter noch so sehr bedurfte, nahm Abschied von ihm Tag um Tag. Morgen geschieht’s, sagte sie sich, bis der Morgen kam, an dem sie begriff, daß sie nicht sterben könne, ohne einen zweifachen Mord zu begehen.

Und davor schauderte sie zurück. Wohl lohte es in ihr auf: Begrabe die Frucht des Frevels mit dir!… Aber töten, um zu sühnen? – Noch war sie fromm und gläubig und fragte in ihrer Seelenqual: Wie würdest du die Kindesmörderin empfangen, ewiger Richter, Herr, mein Gott?

Der mächtigste Instinkt im Weibe erhob seine gewaltige Stimme … Vielleicht auch rang der nun verzweifachte Lebenstrieb – ihr unbewußt – gegen die Vernichtung.

Sie kam wieder auf den Ausweg zurück, der ihr zuerst als der selbstverständliche, der einzige erschienen war: Hermann alles zu gestehen, ihm zu sagen: So bin ich, behandle mich, wie ich es verdiene. Ich ertrage deine Güte nicht mehr, ich lechze nach Strafe, nach Buße. Die strengste wird die beste sein, gönne sie mir, gönne mir das Labsal, zu büßen. Sei unbarmherzig, nur verehre mich nicht mehr.

Und während sie in Gedanken also zu ihm sprach, rief ihr Verstand ihr zu: Phrasen, hohle Worte! Du weißt es wohl, daß er dich nicht verstoßen, dich nicht der Geringschätzung preisgeben wird; er wird, auch wenn sein Glück den Todesstreich durch dich empfangen, den Fuß nicht auf deinen Nacken setzen, Gesunkene. Er wird unerschütterlich bleiben in seiner Langmut. Von dir getrennt, dir im Innersten entfremdet, wird er von anderen noch Achtung für dich verlangen. Dann hast du eine neue Last der Dankbarkeit auf dich geladen und vergeblich das Beste zerstört, woran sein Herz sich erquickt und seine Seele sich erbaut. Du hast nichts zu verlieren, er alles. Du hättest ihn umsonst unselig gemacht … Du darfst es nicht! – So tat sie das, wogegen alles Frühere nicht zählte. Sie vollzog den Betrug, der die Schande zu bemänteln hatte. Hermann mußte getäuscht werden. Das war so leicht und darum gar so schlecht … Und geschah, und Maria duldete die Erniedrigung, die sie für unausdenkbar gehalten hatte, die ganze! Nichts ward ihr geschenkt – nicht der Freudenausbruch, mit dem der hintergangene Mann die in tiefdunkler Nacht gestammelte Kunde aufnahm, nicht seine erhöhte Zärtlichkeit, nicht Wilhelms gutmütige Scherze, nicht Helmis treue Teilnahme, nicht Gräfin Agathens feierliche Segenswünsche.

Maria spielte eine jammervolle Komödie, heuchelte Interesse an gleichgültigen Dingen, Freude an den harmlosen Vergnügungen, den Landpartien und Waldfesten, die Hermann und Wilhelm veranstalteten, um sie zu zerstreuen. Nicht immer, aber doch meistens ließ Hermann sich täuschen. All sein Glück ging von dem Bilde aus, das er sich von ihrem Glücke machte.

Sie aber lebte in der Liebe zu ihrem Kinde, pflegte eifrig ihre Kunst, die sie nie schöner und hinreißender als jetzt ausgeübt hatte, und grübelte sich allmählich in eine eigentümliche Sophistik hinein. Die Sühne, nach der sie rief, lag gewiß in der Einsicht, daß es ihr verwehrt sei zu sühnen. Der verdammende Schicksalsschluß, der über sie gefällt war, lautete: Du liebst die Wahrheit, wandle in der Lüge.