Neuntes Kapitel


Fortsetzung meiner Liebelei mit dem reizenden Fräulein X. C. V. – Vergebliche Abtreibungsversuche. – Das Aroph. – Flucht des Fräuleins und Eintritt in ein Kloster.

Durch die Schwierigkeiten und den Zwang, den ich mir antun mußte, wuchs nur noch meine Liebe zu der reizenden Engländerin. Ich besuchte sie jeden Morgen, und da ich wirklich an ihrem Zustand Anteil nahm, meine Rolle eine ganz natürliche war, so konnte sie meinen Eifer, sie aus der Verlegenheit zu befreien, nur für das nehmen, was er war; denn da ich von der Glut, die ich für sie empfand, nichts mehr merken ließ, so mußte sie alles dem zartesten Gefühl zuschreiben. Sie ihrerseits schien mit meiner Veränderung zufrieden zu sein; aber es war recht wohl möglich, daß ihre Zufriedenheit nur eine scheinbare war; ich kannte die Frauen gut genug, um zu wissen, daß sie, selbst wenn sie mich nicht liebte, sich darüber ärgern mußte, daß ich mich so leicht mit meinem Schicksal abgefunden hatte.

Eines Morgens machte sie mir inmitten eines leichtfertigen und unzusammenhängenden Geplauders ein Kompliment darüber, daß ich die Kraft gehabt hätte, mich zu überwinden; dann fügte sie lächelnd hinzu, meine Leidenschaft müßte nicht sehr stark gewesen sein, da sie in kaum acht Tagen so friedlich geworden wäre. Ich antwortete ihr ruhig: »Ich verdanke meine Heilung nicht der Schwäche meiner Leidenschaft, sondern meinem Selbstgefühl. Ich kenne mich, Fräulein, und glaube keine zu hohe Meinung von meinem Wert zu haben, wenn ich mich für würdig halte, geliebt zu werden. Natürlich habe ich mich gedemütigt und empört gefühlt, als ich mich überzeugte, daß Sie solchen Wert mir nicht zuerkennen. Kennen Sie, Fräulein, die Wirkung dieses doppelten Gefühls?«

»Leider nur zu gut. Ihm folgt die Verachtung des Gegenstandes, der es hervorgerufen hat.«

»Dies geht doch zu weit; wenigstens insofern ich in Betracht komme. Meiner Empörung folgte nur eine Rückkehr zur Besinnung und ein Plan, mich zu rächen.«

»Sich zu rächen? Auf welche Art denn?«

»Ich wollte Sie nötigen mich zu achten und Ihnen dabei zugleich beweisen, daß ich mich selbst zu beherrschen weiß und ein Glück, das ich heiß ersehnt habe, zu entbehren verstehe. Ob mir dies vollständig gelungen ist, weiß ich nicht; ich kann aber doch wenigstens heute Ihre Reize ansehen, ohne deren Besitz zu wünschen.«

»Und ich denke mir, Sie finden die Erfüllung Ihrer Rache in meiner Achtung. Aber Sie haben sich getäuscht; denn Sie haben annehmen müssen, daß ich Sie nicht achte, und das ist falsch, denn ich achtete Sie vor acht Tagen nicht weniger als heute. Ich habe Sie nicht einen einzigen Augenblick für fähig gehalten, mich im Stich zu lassen, um mich dafür zu bestrafen, daß ich mich Ihrer Leidenschaft nicht hingeben wollte, und ich freue mich, Sie richtig erkannt zu haben.«

Hierauf sprach sie mit mir von dem Opiat, das ich sie einnehmen ließ, und da sie keine Veränderung ihres Zustandes bemerkte, ihr Umfang vielmehr mit jedem Tag stärker wurde, so bat sie mich, ihr eine größere Dosis zu geben; aber ich hütete mich wohl, auf diese Bitten einzugehen; denn ich wußte, daß mehr als ein halbes Gran ihr das Leben hätte kosten können. Auch verbot ich ihr, sich zum drittenmal zur Ader zu lassen, weil sie sich damit sehr hätte schaden können, ohne doch ihren Zweck zu erreichen. Ihre Kammerzofe, die sie hatte ins Vertrauen ziehen müssen, hatte ihr zweimal durch einen Zögling von St.-Côme, der ihr Liebhaber war, die Ader schlagen lassen. Ich sagte ihr, sie müßte gegen solche Leute freigebig sein, um sich ihre Verschwiegenheit zu sichern; aber sie antwortete mir, solche Freigebigkeit sei für sie eine Unmöglichkeit. Ich bot ihr Geld an, und sie nahm fünfzig Louis an, indem sie mir sagte, sie würde mir diesen Betrag, dessen sie für ihren Bruder Richard bedürfte, zurückerstatten. Ich hatte das Geld nicht bei mir, schickte ihr aber noch am selben Tage eine Rolle von zwölfhundert Franken mit einem Briefe, worin ich sie herzlich bat, sich in jeder Notlage nur an mich zu wenden. Ihr Bruder erhielt wirklich den Betrag und hielt sich dadurch für berechtigt, mich um einen viel wichtigeren Dienst zu bitten; er kam nämlich am nächsten Tage zu mir, um sich zu bedanken, und bat mich um meinen Beistand in einer Angelegenheit, die für ihn von der größten Wichtigkeit sei. Als junger und ausschweifender Mensch war er an einen schlechten Ort geraten und hatte sich dort angesteckt. Er beklagte sich bitter über Herrn Farsetti, der ihm nicht einmal vier Louis hätte leihen wollen, unter dem Vorwande, daß er mit einer so ekelhaften Geschichte nichts zu tun haben möchte. Er bat mich, mit seiner Mutter darüber zu sprechen, damit sie ihn heilen ließe. Ich erfüllte seinen Wunsch; als aber seine Mutter erfuhr, worum es sich handelte, sagte sie mir, er befände sich schon zum dritten Male in diesem Zustand, darum wäre es besser, ihn darin zu lassen, als unnützerweise für seine Heilung Geld auszugeben; kaum geheilt, würde er sofort wieder den alten Lebenswandel beginnen.

Sie hatte recht. Ich ließ ihn auf meine Kosten von einem geschickten Wundarzt behandeln, aber es dauerte nicht einen Monat, so fiel er in seine alte Sünde zurück. Der Jüngling hatte einen natürlichen Hang zu schmachvollen Ausschweifungen, denn schon mit vierzehn Jahren war er ein zügelloser Wüstling.

Seine Schwester war nun im sechsten Monat schwanger, und ihre Verzweiflung wuchs in demselben Maße wie ihr Leib. Sie hatte den Entschluß gefaßt, ihr Bett nicht mehr zu verlassen, und ich war untröstlich, ihr nicht helfen zu können. Da sie mich von meiner Leidenschaft für sie vollkommen geheilt hatte, verkehrte sie mit mir wie mit einer vertrauten Freundin; sie ließ mich alle Teile ihres Leibes betasten, um mich zu überzeugen, daß sie es nicht mehr wagen könne, sich vor den Leuten sehen zu lassen. Ich spielte bei ihr die Rolle einer Hebamme; aber welche Überwindung kostete es mir, ruhig und gleichgültig zu erscheinen, während das Feuer, das mich verzehrte, aus allen meinen Poren drang! Ich konnte es nicht mehr aushalten. Sie sprach von Selbstmord in jenem Tone der Entschlossenheit, vor dem man erschaudert, weil er für eine reifliche Überlegung spricht. Ich war in einer schwer zu beschreibenden Verlegenheit, als plötzlich das Glück mir auf die scherzhafteste Art meine Ruhe wieder gab.

Als ich eines Tages mit Frau von Urfé allein speiste, fragte ich sie, ob sie ein sicheres Mittel kenne, um ein junges Mädchen, das sich mit ihrem Liebhaber zu weit eingelassen, vor Schande zu bewahren. »Ein unfehlbares,« antwortete sie mir, »nämlich das Aroph des Paracelsus! Es ist nicht schwer anzuwenden. Sind Sie neugierig es kennen zu lernen?« Mit diesen Worten stand sie auf, ohne meine Antwort abzuwarten, und holte ein Manuskript, das sie mir übergab. Dieses starke Abtreibungsmittel war eine Art Salbe, bestehend aus Safran, Myrrhe und anderen Krautersäften, die mit Jungfernhonig gemischt waren. Um die erwartete Wirkung zu erzielen, war ein zylinderförmiges Instrument erforderlich, das mit einer sehr weichen Haut überzogen war, es mußte dick genug sein, um den ganzen Raum der Scheide auszufüllen, und lang genug, um den Eingang des Beckens zu berühren, das den Fötus enthält. Das Ende dieses Zylinders mußte reichlich mit Aroph bestrichen sein, und da dieser nur im Augenblick einer Erregung des Uterus wirken konnte, so mußte diese durch eine beischlafähnliche Bewegung hervorgerufen werden. Außerdem mußte die Operation eine ganze Woche lang mindestens fünf bis sechsmal täglich wiederholt werden. Ich fand das Rezept und die Operation so lächerlich, daß es mir unmöglich war, ernst zu bleiben. Ich lachte herzlich darüber, verbrachte aber trotzdem reichlich zwei Stunden damit, die spaßhaften Träumereien des Paracelsus zu lesen, woran Frau von Urfé fester glaubte als an die Wahrheiten des Evangeliums; hierauf las ich mit Vergnügen Boerhave, der von diesem Aroph wie ein vernünftiger Mensch spricht.

Da ich, wie gesagt, das reizende Fräulein täglich mehrere Stunden und in voller Freiheit sah, da ich immer verliebt war und mir unaufhörlich Zwang antun mußte, so drohte das Feuer, das unter der Asche glomm, jeden Augenblick in helle Flammen auszuschlagen. Ihr Bild verfolgte mich ohne Unterlaß, sie war immerzu der Gegenstand meiner Gedanken, und ich überzeugte mich jeden Tag mehr, daß ich nicht eher Ruhe finden würde, als bis es mir gelänge, durch den völligen Besitz aller ihrer Reize meine Leidenschaft zu befriedigen.

Als ich allein zu Hause war, beschloß ich dem Fräulein, an das ich unaufhörlich dachte, meine Entdeckung mitzuteilen, in der Hoffnung, daß sie vielleicht zur Einführung des Zylinders meiner bedürfen möchte. Ich begab mich gegen zehn Uhr zu ihr und fand sie wie gewöhnlich im Bett; sie weinte darüber, daß das Opiat, das ich sie nehmen ließ, keine Wirkung hatte. Der Augenblick erschien mir günstig, um mit ihr von dem Aroph des Paracelsus zu sprechen, das ich ihr als ein unfehlbares Mittel zum Erreichen des von ihr gewünschten Zweckes schilderte. Während ich ihr die Wirksamkeit dieses Mittels pries, kam mir der Einfall, hinzuzufügen, daß das Aroph, um ganz sicher zu wirken, mit männlichem Samen vermischt sein müsse, der noch nicht seine natürliche Wärme verloren habe. »Wenn diese Mischung«, sagte ich ihr, »täglich mehrere Male den Gebärmuttermund benetzt, so schwächt sie ihn dermaßen, daß die Leibesfrucht durch ihr eigenes Gewicht heraustritt.«

An diese Einzelheiten schloß ich lange Reden an, um sie von der Wirksamkeit des Mittels zu überzeugen. Als ich sie nachdenklich geworden sah, sagte ich ihr: da ihr Geliebter abwesend sei, so müsse sie einen sicheren Freund haben, der bei ihr weile und ihr die Dosis so oft verabreiche, wie Paracelsus es vorschreibe.

Plötzlich lachte sie laut auf und fragte mich, ob wirklich das von mir Gesagte nicht ein bloßer Spaß wäre.

Ich gab mich verloren, denn die Albernheit des Mittels war handgreiflich, und wenn ihr gesunder Verstand sie dies erraten ließ, so mußten ihr unfehlbar auch meine Absichten verdächtig erscheinen. Aber was glaubt nicht eine Frau in ihrem Zustande!

»Wenn Sie es wünschen, mein gnädiges Fräulein,« sagte ich zu ihr im Tone der Überzeugung, »werde ich Ihnen das kostbare Manuskript anvertrauen, worin alles, was ich Ihnen gesagt habe, ganz genau aufgezeichnet ist; außerdem können Sie das bündige Urteil sehen, das Boerhave darüber abgibt.« Diese Worte überzeugten sie, sie hatten auf sie wie mit Zaubergewalt gewirkt, und ich ließ ihre Überzeugung sich nicht abkühlen. »Das Aroph«, sagte ich zu ihr, »ist das stärkste Mittel zur Beförderung der monatlichen Reinigung.«

»Und die monatliche Reinigung kann nicht eintreten, solange eine Frau schwanger ist; demnach muß das Aroph ein hervorragendes Mittel sein, um eine geheime Entbindung herbeizuführen. Können Sie es anfertigen?«

»Gewiß; dies ist nicht schwer, denn es sind dazu nur einige Bestandteile nötig, die ich kenne, und aus denen man mit Honig oder frischer Butter eine Salbe bereiten muß. Aber es ist notwendig, daß diese Mischung den Gebärmuttermund gerade im Augenblick der höchsten Erregung berührt.«

»Aber dann scheint mir, daß auch derjenige, der es verabreicht, lieben muß.«

»Ohne Zweifel – wenn er nicht einfach ein Tier ist, das nur der körperlichen Erregung bedarf.«

Sie schwieg lange Zeit. Obwohl sie ein kluges Mädchen war, hinderte sie doch die natürliche weibliche Schamhaftigkeit und die Unbefangenheit ihres Gemütes, an eine List zu denken, die ich ohne Schonung angewendet hatte, wie ich gestehen muß. Ich schwieg ebenfalls, weil ich erstaunt war, eine solche Fabel ohne vorherige Überlegung mit allem Anschein der Wahrheit vorgebracht zu haben.

Endlich brach sie das Schweigen und sagte traurig zu mir: »Das Mittel scheint mir natürlich und wundervoll zu sein; aber ich muß darauf verzichten.«

Hierauf fragte sie mich, ob die Zubereitung des Arophs längere Zeit beanspruche.

»Höchstens zwei Stunden, wenn man englischen Safran haben kann, den Paracelsus dem orientalischen vorzieht.«

In diesem Augenblick trat ihre Mutter mit dem Ritter Farsetti ein; nachdem wir einige nichtssagende Bemerkungen gewechselt hatten, lud sie mich zum Essen ein. Ich wollte ablehnen, aber das Fräulein sagte mir, sie würde mit uns speisen. Infolgedessen nahm ich die Einladung an, und wir verließen das Zimmer, um ihr Zeit zum Ankleiden zu lassen. Sie ließ nicht auf sich warten und erschien mit einer Nymphentaille. Ich war starr; kaum konnte ich meinen Augen trauen, und es fehlte nicht viel, so hätte ich geglaubt, von ihr angeführt zu sein; denn ich begriff nicht, wie sie es angefangen haben konnte, um bis zu einem solchen Grade die Fülle zu verbergen, die ich mit meinen eigenen Händen hatte berühren dürfen.

Farsetti saß neben mir, und ich neben ihrer Mutter. Beim Nachtisch fragte das Fräulein, dem das Aroph im Sinn lag, ihren Tischnachbar, der sich für einen großen Chemiker ausgab, ob er es kenne.

»Ich glaube,« sagte Farsetti mit selbstgefälliger Miene, »ich kenne es besser als irgend einer.«

»Wozu dient es?«

»Diese Frage ist zu unbestimmt.«

»Was bedeutet das Wort?«

»Aroph ist ein arabisches Wort, das ich nicht kenne. Man müßte im Paracelsus nachsehen.«

»Das Wort«, sagte ich zu ihm, »ist weder arabisch noch hebräisch; es gehört eigentlich keiner Sprache an. Es ist aus zwei Wörtern zusammengezogen.«

»Könnten Sie uns«, sagte der Ritter, »diese Worte nennen?«

»Nichts leichter als das: Aro kommt von Aroma, und ph ist der Anfangsbuchstabe von philosophorum

»Hat Paracelsus«, fragte Farsetti spitzig, »Ihnen diese Belehrung gegeben?«

»Nein, mein Herr, ich verdanke sie Boerhave.«

»Das ist ja komisch! Boerhave sagt dies nirgends; aber es gefällt mir, wenn man recht zuversichtlich zitiert!«

»Lachen Sie nur, mein Herr,« rief ich stolz, »das steht Ihnen natürlich frei; aber hier ist der Prüfstein: nehmen Sie eine Wette an, wenn Sie es wagen. Ich mache niemals falsche Zitate, wie gewisse Leute, die von arabischen Wörtern sprechen.«

Mit diesen Worten warf ich eine Börse voll Gold auf den Tisch, aber Farsetti, der seiner Sache nichts weniger als sicher war, antwortete mir verächtlich: er wette niemals.

Das junge Fräulein freute sich über seine Verwirrung und sagte ihm, das sei das richtige Mittel, niemals zu verlieren, und neckte ihn mit seinem arabischen Wort. Ich steckte meine Börse wieder in die Tasche, tat, als ob ich einmal hinausgehen müßte, und schickte meinen Bedienten zu Frau d’Urfé, um den Boerhave zu holen.

Dann setzte ich mich wieder zu Tisch und unterhielt mich heiter, bis mein Merkur zurückkam und mir das Buch brachte. Ich schlug es auf, und da ich es erst am Tage vorher benutzt hatte, fand ich sofort die Stelle wieder. Ich zeigte sie dem Ritter Farsetti und bat ihn, sich zu überzeugen, daß ich nicht mit angemaßter Zuversicht, sondern mit voller Gewißheit zitiert hätte. Anstatt das Buch zu nehmen, stand er auf und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.

»Er ist ärgerlich fortgegangen,« sagte die Mutter, »und ich möchte wetten, er wird nicht wieder kommen.«

»Ich wette auf das Gegenteil!« rief die Tochter; »der morgige Tag wird nicht vorübergehen, ohne daß er uns mit seiner angenehmen Gegenwart beehrt.«

Sie hatte richtig geraten. Farsetti wurde von diesem Tage an mein unversöhnlicher Feind und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, mir dies zu beweisen.

Nach dem Essen gingen wir alle nach Passy zu einem Konzert, das Herr de la Popelinière veranstaltete. Er lud uns zum Abendessen ein. Ich fand dort Sylvia und ihre reizende Tochter, die mit mir schmollte, und nicht ohne Grund, denn ich hatte sie vernachlässigt. Der berühmte Wundermann, St.-Germain, erheiterte die Tischgesellschaft durch seine Prahlereien, die er sehr geistvoll und mit allem Anstande vorbrachte. Ich habe niemals einen geistreicheren, geschickteren und unterhaltenderen Betrüger gekannt.

Am nächsten Tage schloß ich mich in meinem Hause ein und war für niemanden zu sprechen, weil ich eine Menge Fragen beantworten mußte, die Esther an mich gerichtet hatte. Auf alle jene, die den Handel betrafen, antwortete ich sehr dunkel, denn abgesehen von der Furcht, mein Orakel bloßzustellen, hätte ich es mir nie verzeihen können, ihrem Vater durch Erregung von Irrtümern einen Schaden zuzufügen. Der brave Mann war der anständigste von allen holländischen Millionären, aber er hätte sich zugrunde richten oder zum mindesten eine starke Bresche in sein Vermögen legen können, wenn er im Vertrauen auf meine Unfehlbarkeit sich Hals über Kopf in gewagte Unternehmungen gestürzt hätte. Esther war für mich, ich muß es gestehen, nur noch eine angenehme Erinnerung.

Fräulein X. C. V. beschäftigte mich ganz und gar trotz meiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit, und ich sah nicht ohne Unruhe den Augenblick herannahen, wo sie ihren Zustand nicht mehr vor ihrer Familie hätte verbergen können. Ich bereute es, mit ihr von dem Aroph gesprochen zu haben, denn seit drei Tagen war es nicht mehr erwähnt worden, und es kam nicht mir zu, ein so zartes Thema wieder zur Sprache zu bringen; ich befürchtete sogar, daß ich ihren Verdacht erregt hätte und daß bei ihr das Gefühl der Achtung sich in ein für mich viel weniger schmeichelhaftes Gefühl verwandelt haben möchte. Ihre Verachtung hätte ich nicht ertragen können. Ich fühlte mich dermaßen gedemütigt, daß ich nicht den Mut hatte, sie aufzusuchen, und ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt dazu entschlossen hätte, wenn sie mir nicht entgegengekommen wäre. Sie schrieb mir in einem Briefchen: sie habe keinen anderen Freund als mich und bitte um keinen anderen Freundschaftsbeweis, als daß ich sie jeden Tag besuche, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Ich beeilte mich, ihr meine Antwort mündlich zu sagen. Ich versprach ihr, sie nicht im Stich zu lassen, und versicherte ihr, meine Freundschaft sei beständig und sie könne unter allen Umständen auf mich zählen. Ich hatte gehofft, sie würde von dem Aroph sprechen, aber vergebens. Ich glaubte, sie würde wohl reiflich darüber nachgedacht und es ganz richtig als eine Chimäre erkannt haben. Ich entschloß mich daher, auf dieses Hilfsmittel nicht mehr zu rechnen.

»Ist es Ihnen recht,« fragte ich sie, »wenn ich Ihre Mutter und die ganze Familie einlade, in meinem Hause zu speisen?«

»Dies würde mir viel Freude machen; es wäre ein Genuß, den ich mir etwas später nicht mehr werde verschaffen können.«

Das Essen war prächtig und zugleich fein; ich hatte an den Kosten nichts gespart, und alles war für den feinsten Geschmack berechnet. Meine Gäste waren außer der Familie X. C. V. Sylvia, deren Tochter, die reizend war, ein italienischer Musiker namens Magali, in den eine Schwester meines Fräuleins verliebt war, und der Bassist Lagarde, den man in allen gewählten Gesellschaften traf. Das Fräulein war die ganze Zeit über von einer entzückenden Heiterkeit. Witzworte, gute Einfälle, pikante Anekdoten belebten das Mahl, und die Freude war in jeder Beziehung die Göttin des Festes. Wir trennten uns erst um Mitternacht, und vor dem Abschiednehmen fand das Fräulein Gelegenheit mich zu bitten, am nächsten Morgen in der Frühe bei ihr vorzusprechen, da sie mir etwas Wichtiges zu sagen habe.

Wie man sich denken kann, versäumte ich es nicht, der Einladung zu folgen. Schon vor acht Uhr war ich bei ihr. Ich fand sie sehr traurig, und sie sagte mir, sie sei in Verzweiflung: »Herr de la Popelinière verlangt den Abschluß der Heirat, und meine Mutter drängt mich dazu. Sie hat mir angekündigt, ich müsse den Vertrag unterzeichnen; ein Schneider werde kommen und mir zu neuen Kleidern Maß nehmen. Hierzu kann ich nicht einwilligen, denn es ist unmöglich, daß ein Schneider nicht meinen Zustand bemerkt. Ich bin entschlossen, mir lieber das Leben zu nehmen als mich vor meiner Niederkunft zu verheiraten oder mich meiner Mutter anzuvertrauen.«

»Der Tod ist ein Hilfsmittel, das man immer noch anwenden kann; zu ihm darf man erst dann seine Zuflucht nehmen, wenn man andere Rettungsmittel erfolglos versucht hat. Von Herrn de la Popelinière können Sie sich, scheint mir, leicht frei machen: vertrauen Sie ihm Ihren Zustand an; er ist ein Ehrenmann und wird zurücktreten, ohne Sie bloßzustellen, denn es liegt in seinem eigenen Vorteil, das Geheimnis zu bewahren.«

»Aber werde ich damit viel weiter sein? Und meine Mutter?«

»Ihre Mutter? Ich übernehme es, sie zur Vernunft zu bringen.«

»O mein Freund! wie wenig kennen Sie sie! Um der Ehre willen würde sie genötigt sein, mich verschwinden zu lassen; aber vorher würde ich von ihr Leiden zu erdulden haben, denen der grausamste Tod vorzuziehen wäre. – Aber wie kommt es, daß Sie gar nicht mehr vom Aroph sprechen? Sollte es nur ein Scherz gewesen sein? Das wäre grausam.«

»Nein, ich halte es im Gegenteil für ein unfehlbares Mittel, obgleich ich seine wunderbaren Wirkungen niemals selber beobachtet habe. Aber welchen Zweck hätte es, mit Ihnen darüber zu sprechen? Sie haben gewiß erraten, daß mich Zartgefühl zum Schweigen zwang. Vertrauen Sie Ihren Zustand Ihrem Geliebten an; er ist in Venedig; schreiben Sie ihm, und ich erbiete mich, ihm die Botschaft in fünf oder sechs Tagen durch einen sicheren Mann zustellen zu lassen. Wenn er nicht reich ist, werde ich Ihnen das nötige Geld geben, damit er unverzüglich hierher kommen kann, um Ihnen Ehre und Leben zu retten, indem er Ihnen das Aroph beibringt.«

»Der Plan ist schön, und Ihr Anerbieten ist großmütig, aber es läßt sich nicht ausführen. Sie würden daran nicht zweifeln, wenn Ihnen der Zusammenhang der ganzen Geschichte besser bekannt wäre. An ihn dürfen wir nicht denken, lieber Freund, aber nehmen wir an, ich könnte mich entschließen, das Aroph von einem anderen als von ihm zu empfangen – so sagen Sie mir: wie könnte ich es? Wenn nun wirklich mein Geliebter sich in Paris verborgen hielte, wäre es möglich, daß er acht Tage in aller Freiheit mit mir verbrächte, wie es doch ohne Zweifel nötig sein würde, um mir das Mittel beizubringen? Und selbst wenn dies ausführbar wäre, wie könnte er mir eine ganze Woche lang fünf- oder sechsmal täglich die Dosis verabfolgen! Sie sehen wohl, es ist nicht möglich, an dieses Heilmittel zu denken.«

»Sie würden also, mein liebes Fräulein, um Ihre Ehre zu retten, sich entschließen, sich einem anderen hinzugeben?«

»Ja, ganz gewiß – wenn ich sicher wäre, daß niemand etwas davon erführe. Aber wo ist dieser Mann? Halten Sie es für möglich, einen solchen zu finden, und glauben Sie, daß ich selbst in diesem Fall mich entschließen könnte, ihn holen zu lassen?«

Ich wußte nicht, wie ich diese Worte auslegen sollte; denn Fräulein X. C. V. kannte meine Liebe zu ihr, und es erschien mir unnatürlich, daß sie daran denken sollte, mit großer Unbequemlichkeit in der Ferne zu suchen, was sie doch ganz in der Nähe finden konnte. Ich war geneigt zu glauben, daß sie gerne von mir gebeten wäre, mich zum Verabreicher des Mittels zu wählen, sei es um ihrem Schamgefühl ein so heikles Anerbieten zu ersparen, sei es, um sich das Verdienst zu erwerben, nur meiner Liebe nachzugeben, und mich dadurch zu größerer Dankbarkeit zu verpflichten. Aber ich konnte mich täuschen, und wollte mich nicht dem Schimpf und der Demütigung einer abschlägigen Antwort aussetzen. Andererseits konnte ich mir kaum vorstellen, daß sie die Absicht haben sollte, mich zu beleidigen. Da ich nicht wußte, zu welchem Heiligen ich meine Zuflucht nehmen sollte, um sie zu einer Erklärung zu zwingen, so stand ich mit einem schweren Seufzer auf, nahm meinen Hut, ging auf die Tür zu und rief: »Grausames Fräulein, ich bin unglücklicher als Sie!« Sie richtete sich in ihrem Bett auf und flehte mich an, zu bleiben, indem sie mich mit Tränen in den Augen fragte, wie ich mich für unglücklicher halten könne als sie. Eine gekränkte, aber gefühlvolle Miene annehmend, antwortete ich ihr, sie habe mich ihre Geringschätzung zu deutlich merken lassen, indem sie in ihrer traurigen Notlage mir einen Unbekannten vorzöge, den ich ihr ganz sicherlich nicht verschaffen würde.

»Wie grausam Sie sind! wie ungerecht!« rief sie weinend. »Jetzt sehe ich wohl, daß Sie keine Liebe zu mir empfinden, da Sie aus meiner entsetzlichen Lage einen Triumph für sich machen wollen. Ich kann Ihr Vorgehen nur als einen Racheakt ansehen, der eines großmütigen Mannes wenig würdig ist.«

Ihre Tränen rührten mich, und ich warf mich vor ihr auf die Knie und rief: »Da Sie doch wissen, liebes Fräulein, daß ich Sie anbete – wie können Sie mir wohl Rachepläne zutrauen? Sie müssen mich doch für unempfindlich halten, indem Sie mir mit klaren Worten sagen, daß Sie nicht wissen, an wen Sie sich in Abwesenheit Ihres Liebhabers wenden sollen, um sich aus der Verlegenheit zu retten!«

»Aber sagen Sie mir, ob ich schicklicherweise nach meiner ersten Ablehnung mich an Sie wenden sollte? Mußte ich nicht befürchten, daß Sie der Notwendigkeit verweigern würden, was Ihre Liebe nicht hatte erreichen können?«

»Sie glauben also, ein leidenschaftlich liebender Mann könne wegen einer Abweisung, deren Grund nur die Tugend sein kann, zu lieben aufhören? Lassen Sie mich Ihnen mein Herz offenbaren: ich habe allerdings glauben können, daß Sie mich nicht lieben – aber jetzt glaube ich gewiß zu sein, daß ich mich getäuscht habe und daß Sie mich unabhängig von der Zwangslage, in der Sie sich befinden, auch aus Gefühl glücklich gemacht haben würden; und weiter: Sie sind mir ohne Zweifel böse, daß ich mir das Gegenteil hatte einbilden können.«

»Sie sind, mein lieber Freund, der getreue Dolmetsch meiner Gefühle. Aber wir müssen noch feststellen, wie wir in aller erforderlichen Freiheit zusammenkommen können.«

»Sorgen Sie sich darum nicht; da ich Ihrer Zustimmung sicher bin, werde ich bald ein Auskunftsmittel gefunden haben. Unterdessen werde ich das Aroph zubereiten.«

Ich hatte beschlossen, wenn es mir je gelingen sollte, das schöne Fräulein zur Anwendung meines Mittels zu überreden, nur Honig zu gebrauchen; die Anfertigung des Aroph konnte mich also nicht in Verlegenheit bringen. In dieser Beziehung war ich also beruhigt; andererseits aber befand ich mich in einem Labyrinth, aus dem ich mich nicht herauszufinden wußte. Ich sollte ohne Unterbrechung mehrere Nächte in beständiger Arbeit verbringen; ich fürchtete, mich über meine Kraft hinaus verpflichtet zu haben, und es war nicht möglich, etwas davon abzudingen, ohne die Schäferstündchen zu gefährden, die ich so mühsam in die Wege geleitet hatte; an den Erfolg des Aroph dachte ich natürlich nicht. Außerdem konnte die Operation nicht in ihrem Schlafzimmer stattfinden, da ihre jüngere Schwester ebenfalls dort schlief und deren Bett nicht weit von dem ihrigen entfernt stand; sie acht Nächte hintereinander in einen Gasthof zu führen, war unmöglich. Die Gottheit des Zufalls, die den Liebesverhältnissen gewöhnlich günstig ist, kam mir zu Hilfe.

Als ich einmal hinaufgehen mußte, begegnete ich dem Küchenjungen; er erriet, was ich wollte, und bat mich, nicht weiter zu gehen, weil der Platz besetzt wäre.

»Aber du kommst ja eben heraus.«

»Allerdings, mein Herr; aber ich bin nur eingetreten und gleich wieder hinausgegangen.«

»Nun, so werde ich warten, bis der Ort wieder frei ist.«

»Oh! bitte, warten Sie nicht!«

»Aha, ich verstehe, du Spitzbube; ich werde nichts sagen, aber ich will sie sehen.«

»Sie wird nicht herauskommen; den»sie hat Sie gehört und sich eingeschlossen.«

»Sie kennt mich also?«

»Ja, und Sie kennen sie ebenfalls.«

»Gut, geh nur und sei deinetwegen und ihretwegen unbesorgt.«

Der Küchenjunge ging; ich begriff sofort, daß ich von dieser Begegnung Nutzen haben konnte. Ich ging hinauf und bemerkte durch eine Spalte des Fräuleins Kammerzofe Madeleine. Ich beruhigte sie, indem ich ihr zu schweigen versprach; sie öffnete; ich drückte ihr einen Louis in die Hand, und sie lief ein bißchen verlegen schnell weg. Gleich darauf ging ich wieder hinunter, und der Küchenjunge, der mich auf dem Treppenabsatz erwartete, bat mich, Madeleine zu veranlassen, daß sie ihm die Hälfte von dem Louis abgäbe.

»Ich verspreche dir einen ganzen,« sagte ich zu ihm, »wenn du alles gestehen willst.«

Dies tat der Bursche herzlich gern. Er erzählte mir seine Liebesgeschichte und sagte mir, er verbringe mit ihr alle Nächte in der Dachkammer; seit drei Tagen jedoch seien sie ihres Vergnügens beraubt, weil die gnädige Frau jetzt Wildbret dort aufbewahre und darum den Schlüssel abgezogen habe. Ich ließ mich von ihm hinführen und sah durch das Schlüsselloch, daß eine Matratze sehr gut Platz hatte. Ich gab dem Küchenjungen einen Louis und entfernte mich, um mir meinen Plan reiflich zu überlegen.

Ich war der Meinung, daß das Fräulein im Einverständnis mit Madeleine leicht die Nacht in dieser Dachkammer verbringen könnte. Ich versah mich mit einem Dietrich und mehreren falschen Schlüsseln und legte in eine Blechdose mehrere Gaben des angeblichen Aroph, das heißt: Honig, den ich mit Hirschhorn vermischt hatte, um ihm Festigkeit zu geben. Am nächsten Morgen ging ich in das Hotel de Bretagne, um sofort meinen Dietrich zu versuchen, ich brauchte ihn nicht, denn schon der erste Schlüssel, den ich probierte, genügte, um das schadhafte Schloß zu öffnen.

Stolz auf meine Entdeckung und auf meinen Erfolg ging ich zum Fräulein hinunter und sagte ihr mit ein paar Worten von allem Bescheid.

»Aber, lieber Freund, ich kann mein Zimmer nur verlassen, indem ich durch die Kammer gehe, worin Madeleine schläft.«

»Nun, mein Herz, so müssen wir das Mädchen auf unsere Seite bringen.«

»Ihr mein Geheimnis anvertrauen?«

»Ganz recht.«

»Das würde ich niemals wagen.«

»So übernehme ich es; der goldene Schlüssel öffnet alle Türen.«

Sie war mit allem einverstanden, nur der Küchenjunge setzte sie in Verlegenheit; denn wenn er hinter unser Geheimnis gekommen wäre, so hätte er uns schaden können. Ich glaubte, ich würde ihn durch Madeleine gewinnen können, oder diese würde als kluges Mädchen uns den Jungen vom Halse schaffen können.

Bevor ich ging, sagte ich dem Mädchen, ich hätte etwas Wichtiges mit ihr zu sprechen, und bestellte sie nach dem Kreuzgang der Augustinerkirche. Sie kam pünktlich, und ich setzte ihr meinen Plan in allen Einzelheiten auseinander. Er war nicht schwer zu begreifen. Sie sagte mir, sie würde dafür sorgen, daß ihr eigenes Bett zur bestimmten Stunde in dem Boudoir von ganz neuer Art sei; aber sie fügte hinzu, damit wir ganz ruhig sein könnten, wäre es unbedingt notwendig, den Küchenjungen für uns zu gewinnen. »Er ist ein kluger Bursche, und ich glaube für seine Treue bürgen zu können; überlassen Sie es nur mir, die Sache in Ordnung zu bringen.«

Ich gab ihr den Schlüssel und sechs Louis und befahl, ihre Herrin von allem zwischen uns Verabredeten zu unterrichten, sich mit ihr zu verständigen und die Dachkammer zu unserer Aufnahme bereit zu machen. Sie ging ganz vergnügt nach Hause. Eine Kammerzofe, die einen Liebsten hat, ist niemals so glücklich, wie wenn sie ihre Herrin in die Notwendigkeit versetzen kann, ihre Liebschaft zu beschützen.

Am nächsten Morgen suchte der Küchenjunge mich in Klein-Polen auf; ich hatte dies erwartet. Bevor er sprechen konnte, sagte ich ihm, er solle vor der Neugier meiner Dienstboten auf der Hut sein und nicht ohne zwingenden Grund zu mir kommen. Er versprach mir, vorsichtig zu sein, und versicherte mir seine Ergebenheit. Er gab mir den Schlüssel zur Dachkammer und sagte mir, er habe sich einen anderen verschafft. Ich bewunderte und lobte seine Umsicht und schenkte ihm sechs Louis, die, wie ich sah, mehr wirkten als die schönsten Worte.

Am nächsten Vormittag sah ich das Fräulein nur einen Augenblick, um ihr zu sagen, daß sie mich abends um zehn Uhr am bewußten Ort finden werde. Ich ging ziemlich frühzeitig dort hin, ohne von einem Menschen gesehen zu werden. Ich war im Überrock und hatte in den Taschen meine Schachtel mit dem Aroph, ein ausgezeichnetes Feuerzeug und eine Kerze. Ich fand in der Dachkammer eine gute Matratze, zwei Kopfkissen und eine warme Steppdecke, einen sehr nützlichen Gegenstand, denn die Nächte waren kalt, und wir mußten in den Pausen der Operation schlafen können.

Um elf Uhr hörte ich ein leises Geräusch. Mir klopfte das Herz, was immer ein gutes Vorzeichen ist. Ich ging auf den Fußspitzen hinaus und meinem Fräulein entgegen. Ich beruhigte sie durch einen zärtlichen Kuß, führte sie in unser Schlafgemach, verrammelte die Tür und verhängte das Schlüsselloch, um für alle Fälle vor Überraschungen sicher zu sein und mich vor Neugierigen zu schützen.

Als ich dann meine Kerze anzündete, wurde mein Fräulein unruhig. »Das Licht kann uns verraten, wenn jemand nach dem vierten Stock heraufkommt,« sagte sie zu mir.

»Es ist nicht anzunehmen, daß jemand kommt; aber abgesehen davon, müssen wir es eben doch wagen; denn wie könnten Sie ohne Licht mir das Aroph auflegen?«

»Nun, so werden wir die Kerze unmittelbar darauf auslöschen.«

Ohne uns mit jenen Vorspielen zu unterhalten, die sonst, wenn man frei ist, in der Liebe so süß sind, entkleideten wir uns und gingen ernstlich an unsere Rollen, die wir mit der größten Vollkommenheit spielten. Ich sah aus wie ein Zögling von St. Côme, der eine Operation vornehmen will, sie wie eine Kranke, die sich in ihr Schicksal ergibt, nur mit dem Unterschied, daß in diesem Fall die Kranke die Vorbereitungen traf. Als der Opferpriester mit allem Nötigen ausgerüstet war, das heißt, als die weißen Hände meiner Engländerin mir das Aroph wie ein Priesterkäppchen aufgelegt hatten, nahm sie die günstigste Lage ein und erweiterte mit beiden Händen die Mündung, durch die das Mittel an den Ort gelangen sollte, wo sich die Vermischung mit dem Lebenssaft vollziehn sollte.

Wirklich komisch würde einem Dritten, der uns hätte sehen können, der doktorale Ernst erschienen sein, den wir beide zur Schau trugen.

Als die Einfühlung vollständig bewerkstelligt war, löschte das ängstliche Fräulein die Kerze aus; aber einige Minuten später mußte sie mir gestatten, sie wieder anzuzünden. Ich hatte mein Werk meisterhaft vollbracht, aber zu schnell, so daß meine Agnes, die im Anfang noch mit ihrer Angst zu tun hatte, im Rückstand geblieben war. Ich sagte ihr dienstfertig, ich sei hocherfreut noch einmal beginnen zu müssen, und der Ton, worin ich dieses Kompliment vorbrachte, brachte uns beide zu lautem Lachen.

Bei der zweiten Operation ging es nicht so schnell wie bei der ersten, und diesmal hatte das Fräulein vollkommen Zeit, auch ihrerseits tüchtig mitzuarbeiten.

Die Scham war dem Vertrauen gewichen, und als sie das an seinem Platze gebliebene Aroph untersuchte, machte sie mit der Spitze ihres hübschen Fingers auf den sehr deutlich erkennbaren Anteil ihrer Mitwirkung aufmerksam. Sodann sagte sie mir mit zärtlicher und zufriedener Miene, wir hätten, um den erhofften Erfolg zu erreichen, noch einen weiten Weg vor uns, und forderte mich auf, mich etwas auszuruhen. »Wie Sie sehen,« antwortete ich ihr, »bedarf ich dessen nicht, und ich denke, wir tun gut, wenn wir gleich wieder anfangen.«

Sie fand ohne Zweifel diesen Grund überzeugend, denn sie machte sich sofort, ohne ein Wort zu erwidern, von neuem an die Arbeit. Hierauf überließen wir uns einem ziemlich langen Schlummer. Als ich erwachte, fühlte ich mich vollkommen frisch und beantragte eine neue Operation. Nachdem diese von ihr bewilligt und von mir tadellos ausgeführt worden war, bestimmte eine ökonomische Betrachtung meines vorsichtigen Fräuleins mich, meine Kräfte zu schonen, denn wir mußten uns auch für die folgenden Nächte bei Kräften erhalten. Gegen vier Uhr morgens verließ sie mich daher und ging leise nach ihrem Zimmer zurück; ich verließ mit Tagesanbruch das Haus unter dem Schutz meines Küchenmerkurs, der mich durch eine bis dahin unbekannte Nebentür entschlüpfen ließ.

Nachdem ich ein Kräuterbad genommen hatte, machte ich gegen Mittag wie gewöhnlich dem Fräulein X. C. V. meine Aufwartung. Ich fand sie in einem eleganten Morgenkleide, das Lächeln des Glückes auf ihren Lippen, in ihrem Bett sitzen. Sie sprach mir von ihrer Dankbarkeit und dankte mir sofort und so feurig, daß ich, der ich mich mit Recht für ihren Schuldner hielt, allen Ernstes ärgerlich zu werden begann.

»Begreifen Sie denn wirklich nicht, liebes Fräulein,« rief ich aus, »daß Ihre Danksagungen mich demütigen? Sie beweisen mir, daß Sie mich nicht lieben, oder, wenn Sie mich lieben, daß Sie meine Liebe nicht für so groß halten wie die Ihrige.«

Schließlich wurden wir beide gerührt und hätten unsere gegenseitige Liebe ohne die Beihilfe des Arophs besiegelt, wenn nicht die Vorsicht uns zu Hilfe gekommen wäre. Wir waren in dem Schlafzimmer nicht sicher und wir hatten ja noch viel Zeit vor uns. So begnügten wir uns denn in Erwartung der Nacht mit den zärtlichsten Küssen.

Meine Lage war sonderbar; denn obwohl ich das anziehende Mädchen sehr lieb hatte, machte ich mir doch nicht den geringsten Vorwurf darüber, sie getäuscht zu haben, um so weniger, da die Folgen nicht von Bedeutung sein konnten, denn der Platz war ja schon besetzt. Nur aus einem kleinen Rachegefühl verletzter Eitelkeit freute ich mich darüber, daß ich mir durch einen Betrug so hohe Genüsse verschaffte. Sie sagte mir, sie fühle sich gedemütigt, daß sie meinen Wünschen Widerstand geleistet habe, als sie mir durch ihre Hingabe einen echten Beweis ihrer Liebe hätte ablegen können, während sie jetzt voll Bitterkeit fühle, daß ich über ihre wirklichen Empfindungen einigen Zweifel hegen könne. Ich bemühte mich nach Kräften, sie zu beruhigen, und in Wirklichkeit machten meine Gefühle jeden Zweifel unnütz, denn ich hatte meinen Zweck so vollständig erreicht, wie ich es nur wünschen konnte. Aber einen Erfolg erreichte ich, zu welchem ich mir noch heute Glück wünsche: Während meiner nächtlichen Arbeiten, die freilich für den von ihr verfolgten Zweck sehr nutzlos waren, hatte ich das Glück, ihr soviel Vertrauen und Ergebung einzuflößen, daß sie aus eigenem Antriebe mir versprach, sich nicht mehr der Verzweiflung zu überlassen, sondern allem was kommen könnte zum Trotz sich nur mir zu überlassen und nur meine Ratschläge zu befolgen. Während unserer nächtlichen Gespräche wiederholte sie mir oft, sie fühle sich glücklich und werde es auch selbst dann sein, wenn das Aroph keine Wirkung haben sollte. Nicht als ob sie nicht das größte Vertrauen dazu gehabt hätte, denn sie hörte mit der Anwendung des unschuldigen Mittels erst bei den letzten Kämpfen auf, die wir mit einem beinahe fanatischen Eifer uns lieferten, wie wenn wir die Schale der Wollust bis auf den letzten Tropfen hätten leeren wollen.

»Mein lieber Freund,« sagte sie zu mir, als wir uns zum letzten Male trennten, »was wir getan haben, scheint mir viel mehr geeignet zu schaffen, als zu zerstören, und wenn die Tür nicht schon hermetisch verschlossen gewesen wäre, so hätten wir wahrscheinlich dem kleinen Einsiedler gute Gesellschaft verschafft.«

Ein Doktor der Sorbonne hätte nicht besser reden können.

Drei oder vier Tage später fand ich sie nachdenklich, aber ruhig, sie sagte mir, sie habe alle Hoffnung verloren, ihrer Bürde vor der Zeit ledig zu werden; sie werde fortwährend von ihrer Mutter bedrängt und binnen sehr wenigen Tagen bleibe ihr keine andere Wahl mehr, als entweder ihren Zustand einzugestehen oder den Heiratsvertrag zu unterzeichnen. Sie könnte sich jedoch für keine dieser Möglichkeiten entschließen und wolle deshalb entfliehen. Sie bat mich, ihr dies zu ermöglichen.

Ich war entschlossen, ihr behilflich zu sein. Dieser Entschluß stand völlig fest, aber ich wollte den äußeren Schein retten, denn ich hätte mir eine böse Geschichte an den Hals ziehen können, wenn man die Gewißheit erlangt hätte, daß ich sie empfing oder ihr die Mittel zur Flucht aus Frankreich verschafft hätte. Übrigens hatten wir beide niemals daran gedacht, uns durch unlösbare Bande für das ganze Leben zu vereinigen. Ich verließ sie sehr nachdenklich und begab mich nach den Tuilerien, wo ein geistliches Konzert stattfand. Es wurde eine von Mondonville komponierte Motette gespielt; der Text war vom Abbé Voisenon, dem ich den Stoff angegeben hatte: die Israeliten auf dem Berge Horeb. Die Dichtung war in freien Versen geschrieben und machte als etwas Neues in dieser Art Aufsehen. Als ich aus meinem Wagen stieg, bemerkte ich Frau du Rumain, welche allein aus dem ihrigen stieg. Ich eilte auf sie zu und wurde von ihr als ein guter Bekannter begrüßt: »Ich freue mich, Sie hier zu finden; es ist wirklich ein Glücksfall. Ich will mir die Neuigkeit anhören, und habe zwei reservierte Plätze; Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie den einen annehmen.« Ich fühlte den ganzen Wert einer so ehrenvollen Einladung und nahm sie natürlich an, obwohl ich meine Eintrittskarte in der Tasche hatte. Ich reichte ihr ehrerbietig meinen Arm, und wir nahmen zwei der besten Plätze ein.

Man plaudert in Paris nicht, wenn man geistliche Musik hört, besonders wenn es etwas Neues ist. Frau du Rumain konnte also aus meinem notgedrungenen Schweigen während des Konzertes nicht auf den Zustand meiner Seele schließen, aber sie erriet ihn an meinen Gesichtszügen, als alles zu Ende war; denn ich sah niedergeschlagen und sorgenvoll aus, und dies war bei mir etwas Ungewöhnliches.

»Herr Casanova,« sagte sie zu mir, »erweisen Sie mir den Gefallen, auf eine Stunde zu mir zu kommen, ich habe Ihnen einige kabbalistische Fragen zu stellen; Sie müssen sie mir lösen, denn sie liegen mir am Herzen; aber wir müssen uns beeilen, weil ich heute Abend außerhalb des Hauses speise.«

Begreiflicherweise ließ ich mich nicht bitten; ich fuhr mit ihr nach Hause, und in weniger als einer halben Stunde waren meine Antworten fertig. Hierauf sagte die liebenswürdige Dame in wohlwollendstem Ton zu mir: »Was haben Sie denn, Herr Casanova? Sie sind nicht in Ihrer gewöhnlichen Stimmung, und wenn ich mich nicht täusche, erwarten Sie irgend ein großes Unglück. Sollten Sie vielleicht in der Lage sein, einen wichtigen Entschluß fassen zu müssen? Ich bin nicht neugierig; aber wenn ich Ihnen bei Hofe nützlich sein kann, so verfügen Sie über meinen Einfluß und zählen Sie auf mich. Ich werde, wenn die Sache dringlich ist, nötigenfalls morgen früh nach Versailles fahren; ich bin bei allen Ministern gut angeschrieben. Teilen Sie mir Ihren Kummer mit, lieber Freund; wenn ich ihn nicht lindern kann, werde ich ihn wenigstens teilen, verlassen Sie sich auf meine Verschwiegenheit.«

Diese Ansprache kam mir vor wie eine himmlische Stimme, wie eine Ermahnung eines guten Genius, mich dieser Dame anzuvertrauen, die beinahe meine Gedanken gelesen und mir in unzweideutigen Ausdrücken erklärt hatte, daß sie an meinem Glück großen Anteil nehme. Nachdem ich schweigend, aber mit dem Ausdruck unfehlbarer Dankbarkeit sie einige Augenblicke angesehen hatte, sagte ich zu ihr: »Ja, gnädige Frau, ich befinde mich in einer sehr kritischen Lage und stehe vielleicht im Begriff, mich zugrunde zu richten; aber Ihr Wohlwollen gibt mir meine Ruhe wieder, indem es mich einige Hoffnung schöpfen läßt; ich werde Ihnen meine Lage schildern. Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, das die Ehre unverletzlich macht; ich kann an Ihrer Verschwiegenheit so wenig zweifeln wie an Ihrer Güte. Wenn Sie dann mir gnädigst einen Rat erteilen wollen, so verspreche ich Ihnen, diesen zu befolgen, und ich schwöre Ihnen, niemals zu sagen, von wem ich ihn erhalten habe.«

Nach dieser Einleitung, die sie mit der größten Aufmerksamkeit anhörte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten. Ich verschwieg ihr weder den Namen des Fräuleins noch irgend einen der Umstände, die mich nötigten, für sie einzutreten. Nur von dem Aroph und dessen Anwendung schwieg ich: die Sache erschien mir zu komisch, um sie in dieses ernste Drama hineinzumischen; aber ich gestand ihr, daß ich ihr in der Hoffnung, sie von ihrer Last zu befreien, Heilmittel verschafft hätte.

Nach dieser wichtigen Mitteilung schwieg ich, und Frau du Rumain blieb fast eine halbe Stunde lang in Gedanken versunken. Endlich stand sie auf und sagte zu mir: »Ich werde bei Frau de la Marck erwartet; ich muß unbedingt hingehen, denn ich soll dort den Bischof von Montrouge treffen, mit dem ich etwas zu besprechen habe. Ich hoffe jedoch, ich werde Ihnen nützlich sein können. Bitte kommen Sie übermorgen um acht Uhr wieder; Sie werden mich allein finden; vor allen Dingen tun Sie keine Schritte, bevor Sie mich gesehen haben; leben Sie wohl.«

Ich verließ sie voller Hoffnung und fest entschlossen, bei dieser heiklen Angelegenheit mich nur von ihrem Rat leiten zu lassen. Der Bischof von Montrouge, mit dem sie wegen einer wichtigen, mir sehr wohl bekannten Angelegenheit zu sprechen hatte, war der Abbé von Voisenon, den man so nannte, weil er oft dorthin ging. Montrouge ist ein Landhaus in der Nähe von Paris, das damals dem Herzog de la Vallière gehörte.

Am nächsten Morgen besuchte ich mein liebes Fräulein; ich sagte ihr jedoch nur, daß ich die Hoffnung hätte, ihr in ein paar Tagen gute Nachrichten geben zu können. Ich war mit ihr zufrieden; denn sie zeigte sich gefaßt und vertrauensvoll.

Den Tag darauf stellte ich mich pünktlich um acht Uhr bei meiner edlen Gönnerin ein. Der Schweizer sagte mir lächelnd, ich würde den Arzt bei der gnädigen Frau finden, dies hielt mich nicht ab, hinaufzugehen; er entfernte sich, sobald sie erschien. Es war der Doktor Herrenschwand, um den sich alle hübschen Frauen von Paris rissen. Der unglückliche Poinsinet brachte ihn im Cercle auf die Bühne, einem kleinen Einakter von sehr müßigem Werte, der jedoch zu seiner Zeit einen großen Erfolg hatte.

»Mein lieber Betrübter,« sagte Frau du Rumain zu mir, sobald wir allein waren, »ich habe Ihre Sache in Ordnung gebracht. Nun aber müssen Sie mir ein unverletzliches Geheimnis bewahren. Nachdem ich über den Gewissensfall, den Sie mir anvertraut hatten, reiflich nachgedacht hatte, begab ich mich nach dem Kloster C., dessen Äbtissin meine Freundin ist. Ich vertraute ihr das Geheimnis an, da ich vollkommen sicher bin, daß sie nicht imstande ist, es zu mißbrauchen. Wir haben abgemacht, daß sie das Fräulein in ihr Kloster aufnehme und ihr eine gute Laienschwester zuteile, um sie im Wochenbett zu pflegen. Sie werden nicht leugnen,« bemerkte sie lachend, »daß die Klöster doch für etwas gut sind. Ihre Schutzbefohlene wird allein nach dem Kloster gehen und durch die Pförtnerin der Äbtissin einen Brief überreichen lassen, den ich Ihnen geben werde. Sie wird sofort eingelassen und in ein anständiges Zimmer gebracht werden. Sie wird niemals Besuche empfangen, und alle Ihre Briefe müssen durch meine Hände gehen. Die Äbtissin wird mir ihre Antworten schicken, und ich werde Ihnen diese eigenhändig übergeben. Sie begreifen, daß sie nur mit Ihnen Briefe wechseln darf, und Sie nur durch meine Vermittlung Nachrichten von ihr erhalten können. Sie müssen auf die gleiche Weise verfahren, und Ihre Briefe dürfen nicht adressiert sein. Ich habe der Äbtissin den Namen Ihres Fräuleins sagen müssen, aber den Ihrigen habe ich ihr nicht genannt, weil sie mich nicht danach gefragt hat. – Teilen Sie dies alles Ihrem jungen Fräulein mit; sobald sie bereit ist, melden Sie es mir, und ich werde Ihnen meinen Brief geben. Sagen Sie ihr, sie solle nur das Allernotwendigste mitnehmen und vor allen Dingen keine Diamanten oder wertvolle Schmucksachen mitbringen. Sie können ihr versichern, daß die Äbtissin sie von Zeit zu Zeit in freundschaftlicher Weise besuchen und daß sie ihr anständige Bücher geben wird. Sie wird, mit einem Wort, vorzüglich gepflegt und behandelt werden. Sagen Sie ihr auch, sie möge sich der Laienschwester, die sie bedienen wird, in keiner Weise anvertrauen; denn obwohl sie anständig und gut ist, ist sie doch eine Nonne, und das Geheimnis wäre vielleicht bei ihr nicht sicher; nach ihrer Niederkunft wird sie zur Beichte gehen und hierauf das Osterabendmahl erhalten. Die Äbtissin wird ihr ein Zeugnis in aller Form ausstellen, mit dem sie ohne Schwierigkeit sich wieder zu ihrer Mutter begeben kann; diese wird nur zu glücklich sein, sie wieder zu haben, und von der Heirat wird nicht mehr die Rede sein, um so weniger, da sie diese als Grund ihrer Entfernung angeben wird.«

Nachdem ich ihr tausendmal gedankt und ihre kluge Vorsicht gelobt hatte, bat ich sie, mir den Brief sofort zu geben, da keine Zeit mehr zu verlieren sei. Dienstbereit setzte sie sich sofort an ihren Schreibtisch und schrieb folgendes:

»Meine liebe Äbtissin! Die junge Dame, die Ihnen diesen Brief überbringen wird, ist jene, von der ich das Vergnügen hatte, mit Ihnen zu sprechen. Sie wünscht drei oder vier Monate unter Ihrem Schütze in Ihrem Kloster zu verbringen, um ihre Seelenruhe wieder zu erlangen, ihre Andacht zu verrichten und sicher zu sein, daß bei ihrer Rückkehr zu ihrer Mutter nicht mehr von einer Heirat die Rede sein wird, zu der sie sich nicht entschließen kann und die sie veranlaßt hat, sich für einige Zeit von ihrer Familie zu entfernen.«

Nachdem sie mir den Brief vorgelesen hatte, übergab sie mir ihn unversiegelt, damit das Fräulein ihn lesen könnte. Die Äbtissin war eine Prinzessin, das Kloster daher vor jedem Verdacht sicher. Als ich den Brief von der Gräfin empfing, fühlte ich mich so von Dankbarkeit erfüllt, daß ich mich vor ihr auf die Knie warf. Die großmütige Dame wurde mir auch in der Folge noch sehr nützlich, wie ich später erzählen werde.

Von Frau du Rumain begab ich mich stracks nach dem Hotel de Bretagne; das Fräulein hatte nur gerade soviel Zeit, mir zu sagen, daß sie für den ganzen Tag beschäftigt sei; sie werde aber abends um elf Uhr in die Dachkammer kommen, wo wir Zeit genug haben würden, uns zu unterhalten. Diese Mitteilung freute mich sehr, denn ich sah voraus, daß unser schöner Traum zu Ende sein und daß ich keine Gelegenheit mehr haben würde, mit ihr allein zu sein. Ehe ich das Haus verließ, sagte ich noch Madeleine ein Wörtchen; sie übernahm es, unserem Merkur Bescheid zu sagen, daß er alles in besten Stand setzen solle.

Pünktlich war ich da und brauchte nicht lange auf meine Schöne zu warten. Nachdem ich ihr den Brief der Frau du Rumain vorgelesen hatte, deren Namen ich ihr verschwieg, ohne daß sie etwas Arges dabei fand, löschte ich das Licht aus. Ohne von dem Aroph noch zu reden, überließen wir uns dem Vergnügen, uns gegenseitig unsere Liebe zu beweisen. Als es am Morgen Zeit wurde, uns zu trennen, gab ich ihr mündlich alle Weisungen, die ich selber empfangen hatte. Wir verabredeten, daß sie um acht Uhr mit den notwendigen Sachen das Haus verlassen und in einem Fiaker bis zur Place Maubert fahren solle; von dort solle sie einen anderen bis zur Porte St.-Antoine nehmen, und von dort endlich einen dritten, der sie auf dem nächsten Wege zum Kloster zu bringen hätte. Ich bat sie, nicht zu vergessen, alle von mir empfangenen Briefe zu verbrennen und mir vom Kloster aus so oft wie möglich zu schreiben, ihre Briefe zu versiegeln, aber nicht zu adressieren. Sie versprach mir, meine Anordnungen pünktlich zu befolgen; hierauf nötigte ich sie, eine Rolle von zweihundert Louis anzunehmen, für die sie vielleicht Bedarf haben konnte, obgleich wir nicht voraussahen, auf welche Weise. Sie weinte, aber weniger über ihre eigene, sehr schwierige Lage, als über die bittere Verlegenheit, worin sie mich zurückließ. Ich beruhigte sie jedoch, indem ich ihr sagte, ich hätte viel Geld und mächtige Gönner. »Ich werde übermorgen zur verabredeten Stunde fortgehen,« sagte sie. Ich versprach ihr, am Tage zu ihrer Mutter zu gehen, wie wenn ich von nichts wüßte, und darauf ihr alles zu schreiben, was man über ihre Flucht sagen würde. Hierauf umarmten wir uns zärtlich, und ich ging.

Ihr Schicksal beunruhigte mich sehr; sie war klug und entschlossen; aber wenn die Erfahrung fehlt, veranlaßt gerade unsere Klugheit uns sehr oft, große Dummheiten zu begehen.

Am übernächsten Tage nahm ich einen Fiaker und ließ diesen an einer Straßenecke halten, wo sie vorbeikommen mußte. Ich sah sie ankommen, aus dem Wagen steigen, den Kutscher bezahlen und in einen Hausgang eintreten. Einige Augenblicke darauf kam sie heraus; sie trug ihr Päckchen in der Hand und hatte ihren Kopf in ein Tuch gehüllt. Ich sah sie in einen anderen Fiaker steigen, der sich sofort in der zwischen uns verabredeten Richtung entfernte. Hierdurch beruhigt und einigermaßen sicher, daß sie meine Weisungen genau befolgen würde, ging ich meinen Geschäften nach. Der nächste Tag war der Sonntag Quasimodo. Ich hielt mich für verpflichtet, mich im Hotel Bretagne sehen zu lassen; denn da ich vor der Flucht des Fräuleins täglich hingegangen war, konnte ich meine Besuche nicht einstellen, ohne den Verdacht zu bestärken, den man ohnehin gegen mich haben mußte. Aber wie peinlich war diese Aufgabe. Ich mußte heiter, mit ruhigem und völlig unverändertem Gesicht an einem Ort erscheinen, wo ich sicher war, Traurigkeit und Unruhe zu finden! Ich gestehe, dazu gehörte eine eiserne Stirn.

Ich wählte die Stunde, wo die ganze Familie bei Tisch zusammen sein mußte, und ging sofort in den Speisesaal. Ich trat wie gewöhnlich mit lachendem Gesicht ein und setzte mich etwas rückwärts neben Frau X. C. V. Ich tat, wie wenn ich ihre Überraschung nicht bemerkte, obgleich diese deutlich genug war, denn ihr Gesicht war glühend rot. Einen Augenblick darauf fragte ich sie, wo das Fräulein sei. Sie drehte sich um, sah mich fest an und sagte kein Wort.

»Sollte sie krank sein?« fragte ich sie.

»Davon weiß ich nichts.«

Ihr schroffer Ton war mir ganz recht, denn er berechtigte mich, eine ernste Miene anzunehmen. Ich blieb eine Viertelstunde lang nachdenklich und schweigend sitzen, indem ich den Überraschten und Erstaunten spielte. Hierauf stand ich auf und fragte sie, ob ich ihr irgendwie gefällig sein könnte; da ich nur einen kühlen Dank erhielt, verließ ich das Speisezimmer und ging zum Fräulein, wie wenn ich geglaubt hätte, sie in ihrem Zimmer zu finden. Ich fand dort nur Madeleine, die ich mit einem bedeutungsvollen Blick fragte, wo ihre Herrin sei. Sie antwortete mit der inständigen Bitte, ich selber möchte es ihr sagen, wenn ich es wüßte.

»Ist sie allein ausgegangen?«

»Ich weiß durchaus nichts, mein Herr, aber man glaubt, Sie wüßten alles. Ich bitte Sie, mich allein zu lassen.«

Mich höchst erstaunt stellend, verließ ich langsamen Schrittes das Haus und stieg in meinen Wagen. Ich war sehr froh, daß ich diese peinliche Aufgabe hinter mir hatte. Es war natürlich, daß ich nach der Aufnahme, die ich gefunden hatte, mich für beleidigt hielt und mich in dieser Familie nicht mehr sehen ließ; denn mochte ich nun schuldig oder unschuldig sein, so wußte doch Frau X. C. V. ganz genau, daß die Art ihres Empfanges zu bedeutungsvoll war, als daß ich nicht hätte wissen sollen, woran ich wäre.

Als ich zwei Tage darauf zu sehr früher Stunde an meinem Fenster stand, hielt ein Fiaker vor meinem Hause, und einen Augenblick darauf stiegen Frau X. C. V. und Herr Farsetti aus. Ich beeilte mich hinauszugehen, um sie zu empfangen, und dankte ihnen, daß sie gekommen seien, um sich zum Frühstück einzuladen. Ich tat, wie wenn sie nur zu diesem Zwecke gekommen sein könnten. Ich lud sie ein, vor einem guten Feuer Platz zu nehmen, und erkundigte mich nach der Gesundheit der gnädigen Frau. Sie antwortete jedoch nicht auf meine Frage, sondern sagte mir, sie sei nicht gekommen, um bei mir zu frühstücken, sondern um ernstlich mit mir zu reden.

»Gnädige Frau, ich stehe Ihnen vollständig zur Verfügung; aber erweisen Sie mir doch die Ehre, Platz zu nehmen.«

Sie setzte sich, Farsetti aber blieb stehen; ich drang nicht weiter in ihn, sondern beschäftigte mich nur mit Frau X. C. V. und bat diese, mir freundlichst zu sagen, womit ich ihr gefällig sein könnte.

»Ich möchte Sie bitten, mir meine Tochter zurückzugeben, wenn sie in Ihrer Gewalt ist, oder mir zu sagen, wo sie ist.«

»Ihre Tochter, gnädige Frau? Das weiß ich nicht. Haben Sie mich etwa in Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben?«

»Ich beschuldige sie nicht einer Entführung; ich will Ihnen weder ein Verbrechen vorwerfen noch Ihnen drohen; ich will Sie ganz einfach bitten, mir einen Beweis Ihrer Freundschaft zu geben. Helfen Sie mir, meine Tochter heute noch wiederzufinden; Sie geben mir das Leben wieder! Ich bin überzeugt, Sie wissen alles. Sie waren Ihr einziger Vertrauter, ihr einziger Freund; sie verbrachte jeden Tag mehrere Stunden mit Ihnen. Es ist also unmöglich, daß sie Ihnen nicht alles anvertraut haben sollte. Haben Sie Mitleid mit einer trostlosen Mutter! Noch weiß kein Mensch etwas; geben Sie mir sie zurück, und alles soll vergeben und vergessen sein. Ihre Ehre wird gerettet werden.«

»Gnädige Frau, ich begreife vollkommen Ihre Lage; Ihr Kummer rührt mich; aber ich wiederhole Ihnen: ich weiß von nichts.«

Der Schmerz der armen Frau schnitt mir wirklich in die Seele; unter strömenden Tränen stürzte sie sich mir zu Füßen. Ich wollte sie aufheben, als Farsetti ihr in einem Tone der Entrüstung zurief, sie müßte sich schämen, sich vor einem Menschen von meiner Sorte zu demütigen. Sofort richtete ich mich auf, maß ihn von oben bis unten und sagte zornig: »Unverschämter! Erklären Sie sich: was meinen Sie mit dem Menschen von meiner Sorte!«

»Man ist überzeugt, daß Sie alles wissen.«

»Diejenigen, die davon überzeugt sind wie Sie, sind unverschämte Dummköpfe. Verlassen Sie augenblicklich mein Haus und erwarten Sie mich unten; Sie werden mich in einer Viertelstunde erscheinen sehen.«

Mit diesen Worten hatte ich den Chevalier bei den Schultern gepackt; ich ließ ihn zwei- oder dreimal um sich selber drehen und warf ihn hinaus. Er kehrte sich um und rief Frau X. C. V. zu, sie solle mitkommen; diese aber, die sich inzwischen erhoben hatte, suchte mich zu beruhigen.

»Sie müssen einem Manne verzeihen, der in meine Tochter verliebt ist; er will sie trotz ihrer Verirrung durchaus heiraten.«

»Ich weiß es, gnädige Frau; aber er ist ohne Zweifel viel daran schuld, daß Ihre Tochter den traurigen Entschluß gefaßt hat, das mütterliche Haus zu verlassen; denn sie verabscheut ihn noch mehr wie den Generalpächter, den sie nicht leiden kann.«

»Sie hat unrecht, aber ich verspreche Ihnen, es soll von dieser Heirat nicht mehr die Rede sein. Sie wissen alles, denn Sie haben ihr fünfzig Louis gegeben. Ohne diese hätte sie sich nirgendwohin wenden können.«

»Das stimmt nicht, gnädige Frau.«

»Leugnen Sie nicht, wir haben tatsächliche Beweise. Hier ist ein Stück Ihres Briefes!«

Sie zeigte mir einen Fetzen von dem Brief, den ich ihrer Tochter geschrieben hatte, als ich ihr die fünfzig Louis für ihren ältesten Bruder schickte. Er enthielt folgende Zeilen:

»Ich wünsche, diese elenden fünfzig Louis können Sie überzeugen, daß ich alles, selbst mein Leben gerne opfern würde, um Sie von meinen zärtlichen Gefühlen zu überzeugen.«

»Ich bin weit entfernt, gnädige Frau, diesen Beweis meiner Neigung zu Ihrer Tochter ableugnen zu wollen; ich muß Ihnen aber zu meiner Rechtfertigung jetzt sagen, was ich sonst Ihr Leben lang vor Ihnen würde geheim gehalten haben: ich habe dem Fräulein diese Summe nur geschickt, um die Schulden Ihres ältesten Sohnes bezahlen zu können; er hat mir dafür in einem Briefe gedankt, den ich Ihnen zeigen könnte, falls Sie es wünschen sollten.«

»Mein Sohn?«

»Ihr Sohn, gnädige Frau.«

»Ich werde Ihnen volle Genugtuung geben lassen.«

Ohne mir zu einer Einwendung Zeit zu lassen, lief sie hinaus zu Farsetti, der im Hofe auf sie wartete, nötigte ihn wieder herein zu kommen und sagte ihm in meiner Gegenwart, was ich ihr eben vorhin mitgeteilt hatte.

»Das ist nicht wahrscheinlich«, rief der Unverschämte.

Ich sah ihn mit verächtlichem Blick an und sagte ihm, daß ich es verschmähe, ihn zu überzeugen, daß ich jedoch die gnädige Frau bitte, die Tatsache durch ihren Sohn selber bestätigen zu lassen. »Ich versichere Ihnen,« fügte ich hinzu, »daß ich Ihrer Tochter stets zugeredet habe, Herrn de la Popelinière zu heiraten.«

»Wie können Sie es wagen, dies zu behaupten!« fiel Farsetti mir ins Wort; »Sie sprechen ja in Ihrem Brief von Ihren zärtlichen Gefühlen!«

»Dies bestreite ich nicht; ich liebte sie und sagte es ihr gerne. Ich strebte nach der Ehre, ihrem Gemahl Hörner aufzusetzen und legte auf meine Weise die Grundlage zu meinem Bau. Meine Liebe, einerlei von welcher Art sie gewesen sein mag – und dies geht ja den Herrn nichts an – bildete für gewöhnlich den Stoff unserer langen Unterhaltungen. Wenn sie mir anvertraut hätte, daß sie fliehen wollte, so hätte ich sie entweder davon abgebracht, oder ich wäre mit ihr gegangen; denn ich war in sie verliebt, wie ich es noch jetzt bin. Niemals aber würde ich ihr Geld gegeben haben, um ohne mich fortzugehen.

»Mein lieber Casanova,« sagte hierauf die Mutter, »ich will an Ihre Unschuld glauben, wenn Sie sich mit mir vereinigen wollen, um ihren Aufenthalt zu entdecken.«

»Ich bin von Herzen gern bereit, Ihnen zu dienen, gnädige Frau, und ich verspreche Ihnen, meine Nachforschungen schon heute zu beginnen.«

»Sobald Sie irgend etwas erfahren, so kommen Sie, bitte, zu mir und teilen Sie es mir mit.«

»Sie können sich darauf verlassen.«

Hiermit trennten wir uns.

Um meine Rolle zu spielen, mußte ich als guter Schauspieler auftreten. Es war für mich wichtig, meinen öffentlichen Handlungen einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit zu geben, der zu meinen Gunsten sprach. Ich begab mich deshalb gleich am nächsten Tage zum Ersten Polizeirat, Herrn Chaban, um ihn aufzufordern, Nachforschungen wegen der Flucht des Fräuleins X. C. V. anzustellen. Ich hatte gedacht, durch diesen Schritt würde ich mich besser decken; aber der Beamte, der sein Geschäft gründlich verstand und der mich gern hatte, seitdem ich vor fünf oder sechs Jahren bei Sylvia seine Bekanntschaft gemacht hatte, lachte laut auf, als er hörte, zu welchem Zweck ich seine Dienste in Anspruch nehmen wollte.

»Wünschen Sie wirklich allen Ernstes, daß die Polizei sich bemüht, den Ort zu erfahren, wo die hübsche Engländerin sich aufhält?«

»Gewiß, mein Herr.«

Ich begriff sofort, daß er mich zum Sprechen bringen wollte, damit ich mir eine Blöße gäbe; dies wurde mir zweifellos, als ich beim Hinausgehen Farsetti traf.

Am nächsten Tage ging ich zu Frau X. C. V., um ihr über meine bisher erfolglosen Bemühungen Bericht zu erstatten.

»Ich bin glücklicher als Sie,« sagte sie zu mir, »und wenn Sie mich nach dem Ort begleiten wollen, wo meine Tochter sich befindet, und mir helfen wollen, sie zur Rückkehr in mein Haus zu überreden, so bin ich des Erfolges sicher.«

»Von ganzem Herzen, gnädige Frau,« antwortete ich ihr mit dem größten Ernst; »ich bin bereit, Sie überall hin zu begleiten.«

Sie nahm mich beim Wort, zog ihren Mantel an, ließ sich meinen Arm geben und führte mich zu einem Fiaker. Dort gab sie mir eine Adresse und bat mich, ich möchte dem Kutscher befehlen, uns nach dem auf dem Zettel bezeichneten Ort zu fahren.

Ich war wie auf glühenden Kohlen! Mir klopfte das Herz; ich hatte ein Gefühl, wie wenn ich ersticken sollte, denn ich erwartete die Adresse des Klosters zu lesen. Ich weiß nicht, was ich getan haben würde, wenn meine Befürchtung sich als richtig erwiesen hätte; aber ganz gewiß wäre ich nicht mit nach dem Kloster gegangen. Endlich las ich den Zettel, und meine Seele beruhigte sich, als ich darauf die Worte Place Maubert fand.

Ich gab dem Kutscher die Adresse an, und wir fuhren ab; bald hielten wir vor einem dunklen unsauberen Gange, der keinen hohen Begriff von den Bewohnern des Hauses gab. Ich reichte ihr meinen Arm und verschaffte ihr durch viele höfliche Bitten die Befriedigung, sämtliche Wohnungen des fünfstöckigen Hauses besichtigen zu dürfen. Da diese vergebliche Nachforschung ihr nicht zur Auffindung der gesuchten Tochter verhelfen konnte, so erwartete ich, sie niedergebeugt zu sehen. Dem war jedoch nicht so; denn sie sah mich zwar betrübt, aber befriedigt an, und ihre Augen schienen mich um Verzeihung zu bitten. Sie hatte von dem Droschkenkutscher selber, dessen ihre Tochter sich bei der Abfahrt bedient hatte, erfahren, daß er sie vor diesem Hause abgesetzt hätte und daß sie in dem Gange verschwunden wäre. Sie sagte mir, der Küchenjunge habe ihr verraten, er sei zweimal bei mir gewesen, um mir Briefe von dem Fräulein zu bringen, und Madeleine behaupte unaufhörlich, sie wisse bestimmt, daß die Entflohene in mich und daß ich in sie verliebt sei. Sie spielten ihre Rollen vortrefflich.

Sobald ich Frau X. C. V. nach Hause gebracht hatte, begab ich mich zu Frau du Rumain und erzählte ihr alle meine Erlebnisse; hierauf schrieb ich an die junge Eingesperrte und teilte ihr bis auf die geringsten Einzelheiten mit, was seit ihrem Verschwinden vorgefallen war.

Nach drei oder vier Tagen schickte Frau du Rumain mir den ersten Brief des Fräuleins: sie schilderte die Ruhe, die sie genösse, und die lebhafte Dankbarkeit, die sie mir schuldig zu sein glaubte. Sie lobte die Äbtissin und die Laienschwester und nannte mir die Bücher, die man ihr gegeben hatte und die sie nach ihrem Geschmack fand. Sie teilte mir auch mit, was sie ausgegeben hatte, und sagte, sie sei vollkommen glücklich, abgesehen davon, daß sie auf Wunsch der Äbtissin ihr Zimmer nicht verlassen dürfe.

Dieser Brief machte mir Freude; noch mehr aber freute ich mich, als ich den Brief las, den die Äbtissin an Frau du Rumain geschrieben hatte. Das junge Mädchen hatte ihre Zuneigung gewonnen; sie war unerschöpflich in ihrem Lob, pries ihre Sanftmut, ihren Geist und ihr edles Benehmen und versicherte ihrer Freundin, sie werde das unglückliche Kind jeden Tag besuchen.

Ich war erfreut über die Zufriedenheit, die Frau du Rumain mir aussprach, und ihre Freude vermehrte sich noch, als sie den Brief des Fräuleins gesehen hatte, den ich ihr gab, nachdem ich ihn gelesen hatte. Kurz, unzufrieden waren nur die arme Mutter, der greuliche Farsetti und der alte Generalpächter, dessen Mißgeschick man sich schon in den Klubs, im Palais-Royal und in den Kaffeehäusern erzählte. Überall brachte man mich in die Geschichte hinein; da ich mich jedoch völlig sicher fühlte, so lachte ich über das müßige Geschwätz.

Herr de la Popelinière fand sich bald als vernünftiger Mann mit seinem Schicksal ab, denn er machte aus diesem Abenteuer einen Einakter, den er selber schrieb und auf seiner kleinen Bühne in Paris aufführen ließ. Dieser Zug entsprach dem Charakter des Mannes, der sich drei Monate später durch Prokuration mit einem sehr hübschen Fräulein, der Tochter eines Ratsherrn in Bordeaux, verheiratete. Er starb ungefähr zwei Jahre später; seine Witwe war mit einem Sohne schwanger, der sechs Monate nach dem Tode seines Vaters zur Welt kam. Die unwürdige Erbin des reichen Mannes wagte es, die Witwe des Ehebruchs zu beschuldigen, und ließ das Kind für unrechtmäßig erklären, zur Schmach des Parlaments, das diesen ungerechten Spruch fällte, und zum großen Ärgernis für alle anständigen Leute in ganz Frankreich. Dieses Urteil war um so schändlicher, da der Leumund der Beschuldigten tadellos war und da das Parlament, das dieses allen göttlichen und menschlichen Gesetzen widersprechende Urteil erließ, kurz vorher sich nicht geschämt hatte, ein Kind für ehelich zu erklären, das elf Monate nach dem Tode des Gatten der Mutter geboren war.

Etwa zehn Tage lang fuhr ich fort, die Mutter des Fräuleins zu besuchen; die kühle Aufnahme jedoch, die ich bei ihr fand, bestimmte mich zu dem Entschluß, nicht mehr hinzugehen.

Viertes Kapitel


Abbé de la Ville. – Abbé Galiani. – Charakter der neapolitanischen Mundart. – Ich reise mit einem geheimen Auftrag nach Dünkirchen. – Ich fahre über Amiens nach Paris zurück. – Unbesonnene Streiche. – Herr de la Bretonnière. – Mein Bericht gefällt; ich erhalte fünfhundert Louis. – Betrachtungen.

Eine neue Bahn eröffnete sich mir. Wiederum war mir das Glück hold. Ich besaß alle Mittel, um der blinden Göttin zu Hilfe zu kommen; aber mir fehlte eine wesentliche Eigenschaft: Ausdauer. Mein Leichtsinn, meine maßlose Vergnügungssucht zerstörten die guten Gaben, die ich von der Natur empfangen hatte.

Herr von Bernis empfing mich wie gewöhnlich, das heißt weniger als Minister denn als Freund. Er fragte mich, ob ich nicht geneigt wäre, geheime Aufträge zu übernehmen.

»Werde ich auch das nötige Talent dazu haben?«

»Daran zweifle ich nicht.«

»Ich fühle mich zu allem geneigt, womit ich auf anständige Weise Geld verdienen kann. Was mein Talent anbetrifft, so verlasse ich mich recht gern auf das Urteil Eurer Exzellenz.«

Über diesen Schlußsatz lächelte er; das wollte ich gerade.

Nach einigen beiläufigen Worten über alte Erinnerungen, die die Zeit noch nicht ganz verwischt hatte, sagte der Minister mir, ich möchte in seinem Namen den Abbé de la Ville aufsuchen.

Dieser Abbé war sein erster Geheimrat, ein kalter, tiefer Politiker, die Seele des Ministeriums, und Seine Exzellenz hielt große Stücke auf ihn. Als Geschäftsträger im Haag hatte er dem Staat gute Dienste geleistet, und der dankbare König belohnte ihn, indem er ihm an seinem Todestage ein Bistum verlieh. Die Belohnung kam ein bißchen zu spät; aber Könige haben nicht immer Zeit, Gedächtnis zu haben. Der Erbe dieses braven Mannes war ein gewisser Garnier, ein Glückspilz. Er war früher Koch bei Herrn d’Argenson gewesen und hatte die beständige Freundschaft des Abbé de la Ville zu benutzen gewußt, um ein reicher Mann zu werden. Die beiden Freunde, die ungefähr gleichalterig waren, hatten ihre Testamente bei demselben Notare hinterlegt und sich gegenseitig zu Universalerben eingesetzt.

Der Abbé de la Ville hielt mir einen kurzen Vortrag über die Natur der geheimen Aufträge. Nachdem er mir auseinandergesetzt hatte, wie klug damit betraute Personen sich benehmen müßten, sagte er mir, er werde mir Bescheid geben, sobald sich etwas Passendes für mich böte; hierauf lud er mich zum Essen ein.

Bei Tische machte ich die Bekanntschaft des neapolitanischen Gesandtschaftssekretärs,Abbé Galiani. Er war ein Bruder des Marchese Galiani, von dem ich erzählen werde, wenn wir bei meiner Reise nach jenem schönen Lande angekommen sind. Abbé Galiani war ein sehr geistreicher Mann. Er besaß ein hervorragendes Talent, seinen ernsthaften Bemerkungen einen komischen Anstrich zu geben. Er sprach gut und stets ohne zu lachen und gab seinem Französisch den unwiderstehlichen neapolitanischen Akzent; daher war er in allen Gesellschaften, die er seiner Gegenwart würdigte und deren Zierde er war, außerordentlich beliebt. Der Abbé sagte ihm, Voltaire beklage sich, daß man seine Henriade in neapolitanische Verse so übersetzt habe, daß sie lächerlich geworden sei.

»Voltaire hat unrecht,« sagte Galiani, »denn es liegt in der Natur der neapolitanischen Sprache, daß man sie nicht in Verse bringen kann, ohne daß etwas Lächerliches herauskommt. Wozu übrigens sich ärgern, wenn man Lachen erregt? Dieses ist nicht gleichbedeutend mit Spott; wer die Menschen vor Vergnügen zum Lachen bringt, ist stets sicher, geliebt zu werden. Stellen Sie sich nur den eigentümlichen Charakter der neapolitanischen Mundart vor! Wir haben eine Übersetzung der Bibel und eine der Ilias, und beide reizen zum Lachen.«

»Von der Bibel will ich es gern glauben; aber von der Ilias überrascht es mich.«

»Es ist aber doch wahr.«

Ich kehrte erst am Tage vor der Abreise des Fräuleins de la Meure, die inzwischen Frau P. geworden war, nach Paris zurück. Ich glaubte nicht umhin zu können, Frau *** aufzusuchen, um meiner früheren Geliebten Glück und gute Reise zu wünschen. Ich fand sie fröhlich und vollkommen zufrieden; weit entfernt, mich zu ärgern, freute ich mich darüber; dies war ein sicheres Zeichen meiner völligen Heilung. Wir sprachen ganz ungezwungen miteinander, und ihr Gatte schien ein vortrefflicher Mann zu sein. Auf ihr Bitten versprach ich ihr, sie in Dünkirchen zu besuchen, obwohl ich nicht im entferntesten daran dachte, mein Wort zu halten; aber die Umstände fügten es anders.

Tiretta blieb nun also allein mit seinem Püppchen. Sie wurde von Tag zu Tag verrückter und immer mehr in ihren Lindor verliebt, der ihr so zahlreiche Beweise seiner Liebe und Treue gab.

Ich selber machte in dem ruhigen Leben, das ich nun führte, wie ein Schüler in platonischer Liebe meiner Manon Baletti den Hof, und diese gab mir täglich irgendeinen neuen Beweis der Fortschritte, die ich in ihrem Herzen machte.

Die Gefühle der Freundschaft und Achtung, die mich mit ihrer Familie verbanden, schlossen jeden Gedanken an Verführung aus; da ich aber immer verliebter wurde und nicht daran dachte, um ihre Hand anzuhalten, so wurde es mir schwer, mir selber Rechenschaft zu geben, was ich eigentlich bezweckte; ich ließ mich gedankenlos gehen, wie ein unbewegter Körper, der von der Strömung fortgetrieben wird.

Im Anfang des Monats Mai schrieb Abbé de Bernis mir, ich möchte ihn in Versailles aufsuchen, mich aber vorher beim Abbé de la Ville einfinden. Dieser empfing mich mit der Frage, ob ich mir wohl zutraue, acht oder zehn Kriegsschiffe, die auf der Reede von Dünkirchen lägen, zu besuchen, indem ich auf geschickte Weise mit den befehligenden Offizieren Bekanntschaft machte, so daß ich imstande wäre, ihm einen ausführlichen Bericht über die Verproviantierung jeder Art, die Anzahl der Matrosen jedes Schiffes, den Vorrat an Munition, die Verwaltung, die Polizei usw. einzureichen.

»Ich werde den Versuch machen; nach meiner Rückkehr werde ich Ihnen den Bericht einreichen, und Sie werden mir sagen, ob ich meine Sache gut gemacht habe.«

»Da es sich um eine geheime Sendung handelt, kann ich Ihnen keinen Brief geben; ich kann Ihnen nur eine glückliche Reise wünschen und Geld geben.«

»Ich will kein Geld zum voraus, Herr Abbé; wenn ich wieder zurück bin, können Sie mir geben, was ich nach Ihrer Meinung verdient habe. Bis zur Abreise brauche ich mindestens drei Tage; denn ich muß mir erst einige Empfehlungsbriefe verschaffen.«

»Nun, suchen Sie nur bis Ende des Monats wieder hier zu sein. Weiter ist nichts nötig.«

An demselben Tage hatte ich im Palais Bourbon eine Unterhaltung mit meinem Beschützer; er bewunderte mein Zartgefühl, daß ich keine Vorauszahlung hatte annehmen wollen, und benutzte sogleich den Umstand, um mich in seiner vornehmen Weise zu nötigen, eine Rolle von hundert Louis anzunehmen. Seitdem habe ich mich nicht mehr in der Notwendigkeit befunden, die Börse des freigebigen Mannes in Anspruch zu nehmen, nicht einmal in Rom, wo ich ihn vierzehn Jahre später traf.

»Da es sich um einen geheimen Auftrag handelt, mein lieber Casanova, so kann ich Ihnen keinen Paß geben; es tut mir leid, aber Sie würden sich dadurch verdächtig machen. Um diesem Übelstande abzuhelfen, werden Sie sich leicht unter irgendeinem Vorwand einen Paß vom Ersten Edelmann der Kammer verschaffen können. Am besten wird Ihnen hierbei Sylvia behilflich sein können. Sie sehen wohl ein, wie vorsichtig Sie sich benehmen müssen. Vermeiden Sie besonders, sich in irgendwelche Händel einzulassen; denn Sie wissen wohl, daß Ihnen eine Berufung auf Ihren Auftraggeber nichts nützen würde, falls Ihnen irgendetwas zustoßen sollte. Man würde gezwungen sein, Sie zu verleugnen; denn die einzigen anerkannten Spione sind die Gesandten. Vergessen Sie nicht, daß Sie mehr Zurückhaltung und Umsicht beobachten müssen als diese; daß Sie aber, wenn Sie Erfolg haben wollen, diese beiden Eigenschaften nicht merken lassen dürfen, sondern daß Sie ungezwungen und natürlich auftreten müssen, um Vertrauen zu erwecken. Wenn Sie mir nach Ihrer Rückkehr Ihren Bericht vorlegen wollen, ehe Sie ihn dem Abbé de la Ville einreichen, so werde ich Ihnen sagen, was etwa gestrichen oder hinzugefügt werden könnte.«

Ganz voll von dieser Angelegenheit, von deren Bedeutung ich mir eine um so übertriebenere Vorstellung machte, als ich ein villiger Neuling war, sagte ich zu Sylvia, ich wünschte einige mir bekannte Engländer nach Calais zu begleiten und sie würde mir ein Vergnügen machen, wenn sie mir vom Herzog von Gesvres einen Paß verschaffte. Die würdige Dame, die mir gern in allen Dingen gefällig war, schrieb sofort einen Brief an den Herzog; sie sagte mir, ich müßte diesen selbst bestellen, weil derartige Pässe nur mit einer genauen Beschreibung der empfohlenen Person ausgestellt würden. Sie galten nur für die sogenannte Isle-de-France, aber sie wurden im ganzen Norden des Reiches anerkannt.

Mit Sylvias Empfehlung versehen und von ihrem Mann begleitet, begab ich mich zum Herzog, der auf seinem Landgut St. Quen war; kaum hatte er den von mir überreichten Brief angesehen, so ließ er mir den Paß ausstellen. Nachdem dieses in Ordnung war, fuhr ich nach La Villette, um Frau *** zu fragen, ob sie mir etwas für ihre Nichte aufzutragen hätte. »Sie könnten ihr«, antwortete sie, »den Kasten mit den Porzellanfiguren bringen, wenn Herr Corneman sie noch nicht geschickt hat.« Ich suchte den Bankier auf, erhielt den Kasten und gab ihm hundert Louis gegen einen Kreditbrief auf ein Dünkirchener Haus, indem ich ihn bat, mich ganz besonders zu empfehlen, da ich zu meinem Vergnügen hinginge. Herr Corneman tat dies alles mit Vergnügen und ich reiste denselben Abend ab; drei Tage später stieg ich in Dünkirchen im Gasthof zur Conciergerie ab.

Eine Stunde nach meiner Ankunft überraschte ich die liebenswürdige Frau P. auf die angenehmste Weise, indem ich ihr den Kasten nebst Grüßen von ihrer Tante überbrachte. Während sie mir ihren Mann lobte, der sie glücklich mache, trat dieser ein. Er war hocherfreut, mich zu sehen, und bot mir ein Zimmer an, ohne mich zu fragen, ob ich mich längere oder kürzere Zeit in Dünkirchen aufhalten werde. Ich dankte ihm natürlich, versprach ihm zuweilen zum Essen zu kommen und bat ihn, mich zu dem Bankier zu führen, an welchen mich Herr Corneman empfohlen hatte.

Der Bankier hatte kaum meinen Brief gelesen, so zählte er mir hundert Louis auf und bat mich, ihn gegen Abend in meinem Gasthof zu erwarten; er werde mich mit dem Kommandanten abholen. Dieser, ein Herr de Barail, war sehr höflich, wie es die Franzosen im allgemeinen sind, und bat mich, nachdem er die üblichen Fragen an mich gerichtet hatte, mit ihm und seiner Gemahlin, die noch im Theater war, zu Abend zu speisen. Die Dame nahm mich ebenso freundlich auf wie ihr Mann. Nach dem ausgezeichneten Abendessen erschienen noch mehrere Personen, und man begann zu spielen; ich nahm jedoch nicht daran teil, da ich zuerst die Anwesenden studieren wollte, besonders mehrere Land- und Seeoffiziere, die sich unter der Gesellschaft befanden. Indem ich mit Vorliebe von allen europäischen Flotten sprach und mich für einen Kenner ausgab, da ich im Seeheere meiner kleinen Republik gedient hätte, so brauchte ich nur drei Tage, um nicht nur alle Linienschiffskapitäne persönlich kennen zu lernen, sondern sogar mit ihnen befreundet zu werden. Ich sprach ins Blaue hinein über den Bau von Kriegsschiffen und über die venetianische Art des Manövrierens und ich bemerkte, daß die braven Seeleute mir mit noch größerer Teilnahme zuhörten, wenn ich Dummheiten sagte, als wenn ich etwas Gutes vorbrachte.

Am vierten Tage lud einer von diesen Kapitänen mich zum Essen an Bord seines Schiffes ein, und dies genügte für mich, um von allen anderen ebenfalls eingeladen zu werden. Der Kapitän, der mir die Ehre erwies, behielt mich den ganzen Tag bei sich. Ich zeigte mich neugierig nach allem, und Seeleute sind so vertrauensselig! Ich stieg in den Schiffsraum hinunter, stellte hundert Fragen und fand so viele junge Offiziere, die gerne wichtig taten, daß es mir keine Mühe machte, sie zum Plaudern zu bringen. Ich ließ mir im Vertrauen alles sagen, was ich für meinen Bericht nötig hatte; sobald ich am Abend zu Hause war, brachte ich sehr sorgfältig alle meine Beobachtungen, gute wie schlechte, zu Papier. Ich schlief nur vier oder fünf Stunden, und in vierzehn Tagen glaubte ich genügend Bescheid zu wissen.

Von Liebeleien, Spiel und den Leichtfertigkeiten, denen ich mich für gewöhnlich hingab, war auf dieser Reise gar nicht die Rede; meine Sendung beschäftigte mich ganz und gar und lenkte alle meine Schritte. Ich dinierte nur ein einziges Mal bei Cornemans Bankier, einmal bei Frau P. in der Stadt und ein anderes Mal in einem hübschen Landhause eine Stunde von Dünkirchen, das ihr Gatte besaß. Sie fuhr mit mir hinaus, und bei meinem Zusammensein mit dieser Frau, die ich so sehr geliebt hatte, entzückte ich sie durch mein zartfühlendes Benehmen; denn ich bezeigte ihr nur meine ehrfurchtvolle Freundschaft. Da ich sie reizend fand und meine Verbindung mit ihr erst seit sechs Wochen zu Ende war, so war ich erstaunt über die Ruhe meiner Sinne, denn ich kannte mich selber zu gut, um meine Zurückhaltung meiner Tugend zuzuschreiben. Woher kam das? Ein italienisches Sprichwort, das die Natur erklärt, gibt den richtigen Grund an: La monna non vuol pensiere – Die Frau verträgt keinen anderen Gedanken, und mein Kopf war voll von solchen.

Da ich mit meinem Auftrage fertig war, verabschiedete ich mich von allen Bekannten und setzte mich in meinen Postwagen, um nach Paris zurückzufahren. Zu meinem Vergnügen wählte ich einen anderen Weg als den, auf welchem ich gekommen war. Gegen Mitternacht verlangte ich auf irgendeiner Poststation Pferde, aber man machte mich darauf aufmerksam, daß die nächste Poststelle die Festung Aire sei, und daß man dort bei Nacht nicht Einlaß finde. »Pferde her!« rief ich; »ich werde mir öffnen lassen.« Man gehorchte mir, und bald waren wir vor dem Tor der Festung. Der Kutscher knallte mit der Peitsche.

»Wer da?«

»Kurier!«

Nachdem man mich eine Stunde hatte warten lassen, öffnete man das Tor und sagte, ich müßte mit dem Kommandanten sprechen. Fluchend, wie wenn ich eine Person von Bedeutung wäre, gehorchte ich. Man führte mich vor den Alkoven eines Mannes, der mit einer eleganten Nachtmütze auf dem Kopf an der Seite einer sehr hübschen Frau im Bett lag.

»Für wen sind Sie Kurier?«

»Für niemanden; aber da ich es eilig habe…«

»Genug. Wir werden morgen darüber sprechen; einstweilen bleiben Sie in der Wachtstube. Lassen Sie mich schlafen!«

»Aber, Herr Kommandant…«

»Bitte, jetzt kein aber; gehen Sie.«

Man führte mich in die Wachtstube, wo ich die Nacht sitzend auf der Erde verbrachte. Sobald der Tag erscheint, mache ich Lärm. Ich schreie, ich fluche: ich will abreisen. Kein Mensch antwortet mir.

Es schlägt zehn Uhr. Über alle Maßen ungeduldig, schreie ich den Offizier an und sage ihm: der Kommandant habe es allerdings in der Macht, mich ermorden zu lassen; aber man könne mir nicht Schreibzeug verweigern und müsse mir die Freiheit lassen, einen Kurier nach Paris zu schicken.

»Bitte, wie ist Ihr Name, mein Herr?«

»Hier ist mein Paß.«

Er sagt mir, er werde ihn dem Kommandanten bringen; ich reiße ihm das Papier aus der Hand.

»Wünschen Sie, daß ich Sie zu ihm führe?«

»Gern.«

Wir gehen. Der Offizier tritt zuerst ein und holt mich zwei Minuten darauf, um mich vorzustellen. Ich überreiche mit stolzer Miene und schweigend meinen Paß. Der Kommandant liest ihn, sieht mich prüfend an, um sich zu überzeugen, daß die Beschreibung stimmt, gibt mir den Paß zurück, sagt mir, ich sei frei, und befiehlt dem Offizier, mir Postpferde verabfolgen zu lassen.

»Jetzt, Herr Kommandant, habe ich es nicht mehr so eilig. Ich werde einen Kurier nach Paris schicken und dessen Rückkehr abwarten. Indem Sie meine Reise verzögerten, haben Sie das Völkerrecht verletzt.«

»Im Gegenteil, Sie haben es verletzt, indem Sie sich für einen Kurier ausgaben.«

»Ich habe Ihnen im Gegenteil gesagt, ich sei es nicht.«

»Ja, aber Sie haben es dem Postillon gesagt, und das genügt.«

»Der Postillon hat gelogen; denn ich habe ihm nichts weiteres gesagt, als daß ich mir würde öffnen lassen.«

»Warum haben Sie mir nicht Ihren Paß gezeigt?«

»Warum haben Sie mir nicht die Zeit dazu gelassen? Übrigens werden wir ja in drei oder vier Tagen sehen, wer von uns beiden recht hat.«

»Tun Sie, was Ihnen beliebt.«

Ich ging; der Offizier führte mich nach der Post, und gleich darauf sah ich meinen Wagen kommen. Die Post war zugleich Gasthof; ich wandte mich an den Posthalter und sagte ihm, er solle mir einen Boten bereit halten, mir ein gutes Zimmer mit einem guten Bett geben und mir eine gute Fleischbrühe auftragen lassen. Später würde ich zu Mittag essen, und ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich gewohnt sei, gut zu leben. Ich ließ meinen Koffer und alle Sachen, die ich in meinem Wagen hatte, auf mein Zimmer bringen. Nachdem ich mich ausgezogen und gewaschen hatte, setzte ich mich zum Schreiben hin; nur wußte ich nicht, an wen ich schreiben sollte, denn im Grunde hatte ich unrecht. Aber ich hatte mich nun einmal darauf eingelassen, den Wichtigen zu spielen, und ich glaubte es meiner Ehre schuldig zu sein, die Rolle durchzuführen; zurückweichen konnte ich ja immer noch. Nur ärgerte ich mich, daß ich mich verpflichtet hatte, in Aire zu bleiben, bis der Kurier zurückkehrte, den ich in den Mond schicken wollte. Indessen, da ich die ganze Nacht kein Auge hatte schließen können, so hatte ich immerhin die Aussicht, zu Bett zu gehen und mich auszuruhen. Ich war im Hemde und trank gerade die Fleischbrühe, die man mir gebracht hatte, als ich den Kommandanten ganz allein eintreten sah. Sein Erscheinen überraschte mich und machte mir Vergnügen.

»Das Vorgefallene tut mir leid, mein Herr, besonders deshalb, weil Sie Grund zur Klage zu haben glauben, während ich doch nur meine Pflicht getan habe; denn wie in aller Welt konnte ich annehmen, daß Ihr Postkutscher Sie ohne Ihren Befehl als Kurier ausgegeben hätte?«

»Dies ist alles sehr schön, Herr Kommandant; aber Ihre Pflicht ging nicht so weit, mich aus Ihrem Zimmer zu weisen.«

»Ich hatte Schlaf nötig.«

»Ich befinde mich jetzt in dem gleichen Fall, aber die Höflichkeit verhindert mich, es ebenso zu machen wie Sie.«

»Darf ich mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie jemals gedient haben?«

»Ich habe zu Lande und zu Wasser gedient, und ich verließ den Dienst in einem Alter, wo viele erst anfangen.«

»Dann müssen Sie wissen, daß man bei Nacht die Tore einer Festung nur königlichen Kurieren oder höheren militärischen Befehlshabern öffnet.«

»Allerdings; aber sobald man das Tor einmal geöffnet hatte, war es geschehen; und wenn etwas nicht mehr zu ändern ist, kann man höflich sein.«

»Sind Sie der Mann, sich anzukleiden und einen Spaziergangs, mit mir zu machen?«

Sein Vorschlag gefiel mir um so mehr, als der Gedanke mich geärgert hatte, daß er mich mit hochmütigem Stolz behandelte. Schnell einen Degenstoß auszuteilen oder zu empfangen, hatte für mich großen Reiz, zumal da hierdurch alle Schwierigkeiten beseitigt wurden und ich aus aller Verlegenheit herauskam. Ich antwortete ihm ruhig und ehrerbietig, die Ehre mit ihm einen Spaziergang zu machen veranlasse mich, jedes andere Geschäft aufzuschieben. Ich bat ihn höflich, solange Platz nehmen zu wollen, bis ich mich schnell angezogen hätte.

Ich zog meine Hosen an und warf die prachtvollen Pistolen, die ich in den Taschen hatte, auf das Bett; ich ließ den Friseur heraufkommen, und in zehn Minuten war ich mit dem Anziehen fertig. Ich schnallte meinen Degen um, und wir gingen.

Ziemlich schweigsam durchschritten wir zwei oder drei Straßen, traten durch einen Torweg in einen Hof, den ich für einen Durchgang hielt, und hielten in der Ecke vor einer Türe still. Mein Führer lud mich ein, einzutreten, und ich sah mich plötzlich in einem schönen Saal mit zahlreicher Gesellschaft. Ich dachte gar nicht daran, mich zurückzuziehen, sondern fühlte mich sofort wie zu Hause.

»Dies, mein Herr, ist meine Frau; und dies«, fuhr er ohne Unterbrechung fort, »ist Herr von Casanova, der mit uns speisen wird.«

»Es freut mich außerordentlich, mein Herr; denn sonst würde ich Ihnen nie verziehen haben, daß Sie mich heute Nacht haben wecken lassen.«

»Mein Vergehen habe ich allerdings grausam gebüßt, gnädige Frau; aber nachdem ich ein solches Fegefeuer überstanden habe, erlauben Sie mir nun, mich in diesem Paradiese glücklich zu fühlen.«

Sie sah mich mit einem reizenden Lächeln an und lud mich ein, neben ihr Platz zu nehmen. Sie setzte ihre Spielpartie fort, zugleich aber auch die Unterhaltung mit mir, soweit eben die Aufmerksamkeit auf die Karten es erlaubte.

Ich sah, daß ich nach allen Regeln der Kunst angefühlt worden war, aber die Mystifikation war so anmutig, daß ich nicht daran denken konnte, mich darüber zu ärgern. Mir blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zu machen, und dies fiel mir um so leichter, da ich mich auch mit aufrichtigem Vergnügen von der törichterweise auf mich genommenen Verpflichtung befreit sah, einen Kurier ins Blaue hineinzuschicken.

Der Kommandant, seines Sieges froh und im geheimen stolz darauf, war plötzlich heiter geworden; er sprach von Kriegs-, Hof- und Staatsangelegenheiten und richtete oft das Wort an mich, mit jener Liebenswürdigkeit und Ungezwungenheit, die die gute Gesellschaft Frankreichs so trefflich mit der Beobachtung der Formen zu vereinigen weiß; man hätte schwerlich erraten können, daß jemals ein Streit zwischen uns vorgefallen war. Er hatte diese angenehme Lage herbeizuführen gewußt und war dadurch zum Helden des Stückes geworden; aber wenn ich auch nur in zweiter Reihe stand, so glänzte ich darum doch nicht weniger; denn aus allem ging hervor, daß ich einen alten höheren Offizier zu nötigen gewußt hatte, mir eine Genugtuung zu geben, die um so schmeichelhafter war, da sie bewies, daß ich ihm trotz meiner jugendlichen Unbesonnenheit Achtung eingeflößt hatte.

Das Essen wurde aufgetragen. Da der Erfolg meiner Rolle nur davon abhing, wie ich sie spielte, so bin ich selten besser aufgelegt gewesen als bei diesem Essen, wo nur angenehme Gespräche geführt wurden; besonders ließ ich es mir angelegen sein, die Frau Kommandantin glänzen zu lassen. Sie war eine reizende Frau, sehr hübsch und noch jung, denn sie war mindestens dreißig Jahre jünger als ihr teurer Gatte. Von dem Mißverständnis, dem ich einen sechsstündigen Aufenthalt in der Wachtstube verdankte, wurde kein Wort gesprochen; aber beim Nachtisch hätte der Kommandant durch eine überflüssige Frozzelei beinahe etwas Böses angerichtet.

»Es war sehr gütig von Ihnen, zu glauben, daß ich mich mit Ihnen schlagen würde. Ich habe Sie auf einen Leim gelockt.«

»Wer sagt Ihnen, daß ich an ein Duell geglaubt habe?«

»Gestehen Sie, Sie haben daran geglaubt.«

»Ich bestreite es; denn zwischen glauben und vermuten ist ein großer Unterschied. Das eine ist positiv, das andere rechnet nur mit einer gewissen Möglichkeit, übrigens gebe ich zu, daß Ihre Einladung zu einem Spaziergang mich neugierig gemacht hatte, zu erfahren, worauf Sie hinauswollten, und ich bewundere Ihren Geist. Indessen werden Sie mir wohl glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß ich mich durchaus nicht für angeführt halte; ich fühle mich ganz im Gegenteil so befriedigt, daß ich Ihnen dankbar bin.«

»Und wenn mir, mein Herr, nach dem Vorgefallenen noch ein Bedauern bleibt, so ist es das, Sie nicht noch länger besitzen zu können.«

Das Kompliment war schmeichelhaft und ich würde darauf erwidert haben, wenn man nicht im selben Moment von Tische aufgestanden wäre. Am Nachmittag gingen wir spazieren; ich reichte der gnädigen Frau den Arm, und sie war entzückend; am Abend aber verabschiedete ich mich, und am nächsten Tage reiste ich in der Frühe ab, nachdem ich vorher noch meinen Bericht ins Reine geschrieben hatte.

Um fünf Uhr morgens schlief ich in meinem Wagen, als ich geweckt wurde. Wir waren am Tore von Amiens. Der Lästige, der an meinem Wagenschlage stand, war ein Zollbeamter, gehörte also zu einer überall und nicht ohne Grund verabscheuten Menschenklasse; denn abgesehen davon, daß diese Leute im allgemeinen unhöflich und schikanös sind, so macht nichts die Sklaverei so fühlbar, wie ihr zudringliches Nachspüren, das sich sogar auf das Handgepäck und auf die geheimsten Kleidungsstücke erstreckt. Der Beamte fragte mich, ob ich nichts Verbotenes bei mir habe. Ich war schlechter Laune, wie jeder Mensch, der aus süßem Schlaf gerissen wird, um eine lästige Frage beantworten zu müssen; ich antwortete ihm fluchend: »Nein! Sie hätten mich wohl auch schlafen lassen können.«

»Da Sie grob sind,« versetzte der Kerl, »so wollen wir doch mal sehen.«

Er befahl dem Postillon, mit meinem Wagen hineinzufahren, und ließ meine Koffer abschnallen. Ich konnte ihn daran nicht hindern, ballte die Fäuste im Sack und schwieg.

Ich merkte, welchen Fehler ich gemacht hatte, aber daran war nichts mehr zu ändern, übrigens hatte ich nichts Steuerpflichtiges und brauchte deshalb auch nichts zu befürchten; aber mein Ungestüm sollte mir zwei langweilige Stunden kosten. Das Vergnügen der Rache stand auf ihren unverschämten Gesichtern geschrieben. Zu jener Zeit waren die Steuerbeamten in Frankreich der Abschaum des gemeinsten Gesindels; aber wenn sie sich von vornehmen Leuten höflich behandelt sahen, setzten sie eine Ehre darein, umgänglich zu sein. Ein Vierundzwanzigsousstück freundlich ihnen in die Hand gedrückt, machte sie geschmeidig wie einen Handschuh. Sie machten den Reisenden ihre Verbeugung und wünschten ihnen gute Reise, ohne sie zu belästigen. Ich wußte das; aber es gibt Augenblicke, wo der Mensch ohne Überlegung handelt, und dies war mir passiert; dafür mußte ich nun leiden.

Die Henkersknechte packten meine Koffer aus und breiteten sogar meine Hemden aus, weil ich nach ihrer Behauptung zwischen diesen englische Spitzen versteckt haben könnte.

Nachdem sie alles durchsucht hatten, gaben sie mir meine Schlüssel wieder; aber damit war die Sache noch nicht zu Ende: mein Wagen mußte auch noch durchsucht werden. Der Halunke, der dies zu besorgen hatte, rief plötzlich Viktoria! Er hatte den Rest von einem Pfund Tabak gefunden, das ich nach der Hinreise nach Dünkirchen in St. Omer gekauft hatte.

Sofort befahl der Cartouche der Bande mit triumphierender Stimme, meinen Wagen mit Beschlag zu belegen, und sagte mir, ich hätte außerdem zwölfhundert Franken Buße zu bezahlen.

Nun war aber meine Geduld zu Ende. Ich überlasse es dem Leser, die Namen zu erraten, mit denen ich die Spitzbubengesellschaft belegte; aber gegen Worte waren sie gepanzert. Ich befahl ihnen, mich zum Intendanten zu führen.

»Gehen Sie hin, wenn Sie Lust haben,« antworteten Sie mir; »hier haben Sie keinem was zu befehlen.«

Umgeben von einer großen Anzahl von Neugierigen, die der Lärm angelockt hatte, lief ich mit langen Schritten wie ein Rasender in die Stadt. Ich trat in den ersten Laden ein, den ich offen fand, und bat den Besitzer, mich zum Intendanten führen zu lassen. Ich erzählte, was mir zugestoßen war, und ein anständig aussehender Mann, der sich in dem Laden befand, sagte mir, er werde das Vergnügen haben, mich selber zu ihm zu begleiten, indessen würde ich ihn wahrscheinlich nicht finden, weil man ihn ohne Zweifel schon benachrichtigt hätte.

»Wenn Sie nicht bezahlen oder Bürgschaft stellen, werden Sie schwerlich aus dieser üblen Lage herauskommen.«

Ich bat ihn, mich nur in die Stadt zu führen und im übrigen mich machen zu lassen. Er riet mir, nur das Gesindel, das mich begleitete, vom Halse zu schaffen, indem ich den Leuten einen Louis zum Vertrinken gäbe. Ich bat ihn, dies zu besorgen, gab ihm den Louis, und die Sache war bald in Ordnung. Der Herr war ein ehrenwerter Sachwalter, der seine Leute kannte.

Wir kamen zum Intendanten; aber der Herr war nicht da, wie mein Führer richtig vorausgesehen hatte. Der Hausmeister sagte uns, der Intendant sei allein ausgegangen und würde erst nachts nach Hause kommen; wo der Herr speise, wisse er nicht.

»Nun, so ist der Tag verloren,« sagte der Sachwalter.

»Lassen Sie uns überall suchen, wo er sein kann; er muß doch bestimmte Gewohnheiten, er muß Freunde halben; wir werden ihn entdecken. Ich gebe Ihnen einen Louis für Ihren Tag; wollen Sie mir das Vergnügen machen, ihn mir zu opfern?«

»Sie haben über mich zu verfügen.«

Vier oder fünf Stunden lang suchten wir ihn vergeblich in zehn oder zwölf Häusern. Überall sprach ich mit den Herren und schilderte in übertriebenen Ausdrücken die Geschichte, die man mir auf den Hals geladen hatte. Man hörte mich an, man bedauerte mich; aber man konnte mir zum Troste nichts anderes sagen, als daß er ganz gewiß zum Schlafen nach Hause kommen würde und daß er mich dann wohl anhören müsse. Das konnte mir natürlich nichts nützen, und so setzte ich denn mein Suchen fort.

Um ein Uhr führte mein Sachwalter mich zu einer alten Dame, die in der Stadt ein großes Ansehen genoß. Sie saß ganz allein bei Tisch. Nachdem sie mich aufmerksam angehört hatte, sagte sie mir sehr ruhig, sie glaube keine Indiskretion zu begehen, wenn sie einem Fremden den Aufenthaltsort eines Mannes verrate, der von Berufs wegen niemals unzugänglich sein dürfe.

»Ich kann Ihnen also enthüllen, was kein Geheimnis ist. Meine Tochter sagte mir gestern Abend, sie sei bei Frau N. zum Mittagessen eingeladen, und der Intendant werde ebenfalls dort sein. Gehen Sie also sofort dorthin; Sie werden ihn bei Tische in der allerbesten Gesellschaft von Amiens finden; aber«, fügte sie lächelnd hinzu, »ich rate Ihnen unangemeldet einzutreten. Die Bedienten, die zur Aufwartung bei Tische aus- und eingehen, werden Ihnen den Weg zeigen, ohne daß Sie zu fragen brauchen. Sie werden einfach gegen seinen Willen mit ihm sprechen, und obgleich er Sie nicht kennt, wird er doch von Ihnen die ganz entsetzliche Geschichte hören, die Sie mir in Ihrem gerechten Zorn erzählt haben. Es tut mir nur leid, daß ich bei diesem hübschen Knalleffekt nicht zugegen sein kann.«

Ich empfahl mich der ehrenwerten Dame, indem ich ihr meinen besten Dank aussprach, und begab mich in aller Eile mit meinem Sachwalter, der vor Müdigkeit kaum noch weiter konnte, nach dem mir bezeichneten Ort. Ohne die geringste Schwierigkeit trat ich mit der Dienerschaft und meinem Führer in den Saal, wo mehr als zwanzig Personen an einer reich besetzten Tafel saßen.

»Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren, wenn ich in dem schrecklichen Zustand, worin Sie mich sehen, mich gezwungen sehe, Ihre Ruhe und die Freude Ihres Festes zu stören!«

Bei dieser Ansprache, die ich mit der Stimme eines Jupiters Tonans vorbrachte, sprangen alle Anwesenden auf. Meine Haare hingen mir um den Kopf; ich war schweißüberströmt; meine Blicke mußten denen einer Tisiphone gleichen. Man stelle sich die Überraschung vor, die mein Erscheinen in dieser zahlreichen Gesellschaft reizender Frauen und eleganter Kavaliere hervorbringen mußte.

»Seit sieben Uhr früh suche ich von Tür zu Tür in allen Straßen dieser Stadt den Herrn Intendanten, den ich glücklicherweise endlich hier finde, denn ich weiß bestimmt, daß er hier ist, und wenn er Ohren hat, so weiß ich, daß er in diesem Augenblick mich hört. Daher sage ich ihm: er befehle sofort seinen niederträchtigen Trabanten, die meinen Wagen mit Beschlag belegt haben, daß sie mich freilassen, damit ich meine Reise fortsetzen kann. Wenn die Steuergesetze befehlen, daß ich für sieben Unzen Tabak, den ich zu meinem eigenen Gebrauch bei mir habe, zwölfhundert Franken bezahlen soll, so erkenne ich diese Gesetze nicht an und erkläre dem Herrn, daß ich keinen Heller bezahlen will. Ich werde hier bleiben und werde einen Kurier an meinen Gesandten schicken, der sich darüber beschweren wird, daß man an meiner Person in der Isle de France das Völkerrecht verletzt hat. Ich werde Genugtuung erhalten. Ludwig der Fünfzehnte ist so groß, daß er sich nicht zum Mitschuldigen eines so ungeheuerlichen Meuchelmordes wird machen wollen. Wenn man mir nicht die Genugtuung gewährt, die ich mit vollem Recht verlange, so wird hieraus eine Staatsangelegenheit entstehen; denn meine Republik wird Vergeltung üben, nicht, indem sie Franzosen wegen einiger Prisen Tabak ermorden läßt, sondern indem sie sie ohne Ausnahme ausweist. Hier steht geschrieben, wer ich bin; lesen Sie!«

Schäumend vor Wut werfe ich meinen Paß auf den Tisch. Ein Herr ergreift ihn und liest ihn; ich weiß also, daß dies der Intendant ist. Mein Dokument ging von Hand zu Hand, und ich bemerkte Überraschung und Unwillen auf allen Gesichtern. Der Herr Intendant jedoch sagte mir hochfahrend: er sei in Amiens, um die Verordnungen ausfühlen zu lassen; ich könnte daher nur abreisen, wenn ich bezahlte oder Bürgschaft stellte.

»Wenn dies Ihres Amtes ist, so müssen Sie meinen Paß als eine Verordnung betrachten, und ich fordere Sie auf, selber für mich Bürgschaft zu leisten, wenn Sie ein Edelmann sind.«

»Leistet bei Ihnen der Adel Bürgschaft für Gesetzesübertreter?«

»Bei uns erniedrigt der Adel sich nicht so weit, entehrende Ämter auszuüben.«

»Im Dienste des Königs gibt es kein entehrendes Amt.«

»Wenn ich zum Henker spräche, würde er mir dasselbe antworten.«

»Mäßigen Sie Ihre Ausdrücke.«

»Mäßigen Sie Ihre Handlungen! Erfahren Sie, mein Herr, daß ich ein freier Mann bin, daß ich Gefühl habe, daß man mich beschimpft hat, und vor allem, daß ich keine Furcht habe. Ich fordere Sie heraus, mich zum Fenster hinauswerfen zu lassen!«

»Mein Herr,« sagt jetzt eine Dame in bestimmtem Ton zu mir, »in meinem Hause wirft man niemanden zum Fenster hinaus.«

»Gnädige Frau, in seinem Zorn braucht der Mensch Ausdrücke, die sein Herz und sein Geist verleugnen; ich leide unter der Aufregung, in die eine schreiende Ungerechtigkeit mich versetzt hat, und ich bitte Sie fußfällig um Verzeihung, daß ich Sie beleidigt habe. Bedenken Sie gütigst, daß ich zum erstenmal in meinem Leben mich unterdrückt und beschimpft sehe, und zwar in einem Reiche, wo ich nur gegen gewalttätige Angriffe der Straßenräuber auf der Hut sein zu müssen glaubte. Für diese habe ich Pistolen, für die Herren da habe ich einen Paß; aber ich finde, daß er wertlos ist. Übrigens habe ich gegen Unverschämte stets meinen Degen. Wegen sieben Unzen Tabak, die ich vor drei Wochen in St. Omer gekauft habe, plündert dieser Herr mich aus und unterbricht meine Reise, während der König mir verbürgt, daß kein Mensch sie zu unterbrechen wagen darf; man verlangt von mir fünzig Louis; man liefert mich der Wut unverschämter Beamter aus, dem Gelächter einer frechen Volksmenge, von der der brave Mann, den Sie hier sehen, mich nur durch Geld befreit hat; ich sehe mich wie einen Verbrecher behandelt, und der Mann, der mich verteidigen, ja mich beschützen soll, verbirgt sich, versteckt sich vor mir, und fügt den von mir erlittenen Beschimpfungen noch neue hinzu! Seine Sbirren, die am Tor dieser Stadt Wache halten, haben meine Kleider durchwühlt, meine Wäsche und meine Spitzen zerknittert, um sich zu rächen und mich dafür zu bestrafen, daß ich ihnen nicht ein Vierundzwanzigsousstück gegeben habe. Was mir widerfahren ist, wird morgen die große Neuigkeit für das diplomatische Korps in Versailles, für ganz Paris sein, und in einigen Tagen wird man es in allen Zeitungen lesen. Ich will nichts bezahlen, weil ich nichts schuldig bin. Sprechen Sie, Herr Intendant: Soll ich einen Kurier an den Herzog von Gesvres schicken?«

»Bezahlen Sie! Und wenn Sie das nicht wollen, so machen Sie, wozu Sie Lust haben.«

»Leben Sie wohl, meine Damen und Herren, und Ihnen, Herr Intendant, sage ich: Auf Wiedersehen!«

Im Augenblick, wo ich wie ein Rasender hinausstürzen wollte, hörte ich eine Stimme, die mir in gutem Italienisch zurief, ich möchte noch einen Augenblick warten. Ich kehrte um und erblickte einen Herrn in reiferen Jahren, der zum Intendanten sagte: »Befehlen Sie, den Herrn abreisen zu lassen; ich bürge für ihn. Verstehen Sie mich, Herr Intendant? Ich bürge für den Herrn. Sie kennen den Hitzkopf eines Italieners nicht. Ich habe in Italien den ganzen letzten Krieg mitgemacht, und da habe ich Gelegenheit gehabt, den Charakter des Volkes kennen zu lernen; übrigens finde ich, daß der Herr recht hat.«

»Sehr wohl,« sagte der Intendant zu mir, »bezahlen Sie nur dreißig oder vierzig Franken im Bureau; denn es sind bereits Schreibgebühren aufgelaufen.«

»Ich glaube Ihnen gesagt zu haben, daß ich keinen Heller bezahlen will, und ich wiederhole es Ihnen. Aber wer sind denn Sie,« wandte ich mich an den freundlichen alten Herrn, »daß Sie für mich Bürgschaft leisten wollen, ohne mich zu kennen?«

»Ich bin Kriegskommissär, mein Herr, und heiße de la Bretonnière. Ich wohne in Paris im Hotel de Saxe, in der Rue du Colombier; übermorgen werde ich dort sein und Sie alsdann mit Vergnügen sehen. Wir werden zusammen zu Herrn Britard gehen, der mich, sobald ihm Ihre Angelegenheit auseinandergesetzt wird, von der Bürgschaft entbinden wird, die ich mit großem Vergnügen für Sie angeboten habe.«

Nachdem ich ihm meine herzliche Dankbarkeit ausgesprochen und ihm versichert hatte, daß ich mich bestimmt bei ihm einfinden würde, richtete ich einige Worte der Entschuldigung an die Herrin des Hauses und an die übrigen Gäste und ging.

Ich nahm meinen ehrenwerten Sachwalter mit mir zum Essen in den besten Gasthof der Stadt und gab ihm aus Dankbarkeit einen Doppellouisdor für seine Mühe. Ohne diesen Mann und den braven Kriegskommissär wäre ich in großer Verlegenheit gewesen: ich hätte den Krieg des irdenen Topfes gegen den eisernen geführt; denn gegen hohe Beamte bekommt man niemals recht, sobald die Willkür sich hineinmischt. Obgleich es mir nicht an Geld fehlte, hätte ich mich niemals dazu entschließen können, mir vor meinen offenen Augen von den elenden Spitzbuben fünfzig Louis stehlen zu lassen.

Mein Wagen stand fertig eingespannt vor der Tür des Gasthofes; im Augenblick, wo ich einstieg, erschien einer von den Beamten, die mich visitiert hatten, und sagte mir, ich würde in meinem Wagen alles vorfinden, was darin gewesen wäre.

»Das würde mich von Leuten Eures Schlages überraschen: werde ich auch meinen Tabak finden?«

»Der Tabak, mein Prinz, ist konfisziert worden.«

»Das tut mir Euretwegen leid; denn ich hätte Euch einen Louis gegeben.«

»Ich werde den Tabak augenblicklich holen.«

»Ich habe keine Zeit mehr zu warten. Los, Kutscher!«

Am nächsten Tage kam ich in Paris an, und am vierten Tage ging ich zu Herrn de la Bretonnière, der mich aufs beste aufnahm. Er führte mich zum Generalpächter Britard, der ihn von seiner Bürgschaft entband. Herr Billard war ein sehr liebenswürdiger junger Mann; er errötete über die Behandlung, die ich erduldet hatte. Ich brachte meinen Bericht dem Minister ins Hotel Bourbon, und Seine Exzellenz widmete mir zwei Stunden und ließ mich alles Überflüssige streichen. Die ganze Nacht hindurch schrieb ich den Bericht ins Reine, und am nächsten Morgen brachte ich ihn nach Versailles zum Abbé de la Ville, der ihn mit kalter Miene durchlas und mir dann sagte, er werde mir das Ergebnis mitteilen. Einen Monat später erhielt ich fünfhundert Louis und hatte das Vergnügen, zu erfahren, daß der Marineminister, Herr de Crémille, meinen Bericht nicht nur vollkommen genau, sondern sogar sehr belehrend gefunden habe. Mehrere begründete Bedenken hielten mich ab, mich als Verfasser zu nennen, obwohl Herr von Bernis mir diese Ehre verschaffen wollte.

Als ich ihm die beiden Abenteuer erzählte, die mir unterwegs zugestoßen waren, lachte er darüber; aber er sagte mir, die Tüchtigkeit eines Menschen, der mit einem geheimen Auftrag betraut sei, bestehe darin, sich niemals in Händel einzulassen; denn selbst wenn er das Talent habe, sich herauszuziehen, mache er doch von sich reden; und gerade dies müsse er sorgfältig vermeiden.

Dieser Auftrag kostete der Marine zwölftausend Franken, und der Minister hätte alle Auskünfte, die ich ihm lieferte, sich leicht verschaffen können, ohne einen Heller dafür auszugeben. Der erste beste Offizier hätte ihn ebenso gut bedienen können wie ich und würde allen Eifer und alle Vorsicht aufgeboten haben, um sich sein Lob zu erwerben. Aber so waren damals in Frankreich alle Minister. Sie verschwendeten das Geld, das ihnen nichts kostete, um ihre Kreaturen zu bereichern. Sie waren Despoten; das Volk wurde mit Füßen getreten und kam für sie nicht in Betracht; der Staat war überschuldet, und die Finanzen befanden sich in dem schlechten Zustande, der unter diesen Umständen unvermeidlich war. Eine Revolution war notwendig, das glaube ich wohl; aber es brauchte keine blutige Revolution zu sein, es mußte eine moralische und patriotische sein. Doch der Adel und die Geistlichkeit fühlten nicht hochherzig genug, um einige für den König, den Staat und sie selber notwendige Opfer zu bringen.

Sylvia fand meine Abenteuer in Aire und Amiens sehr scherzhaft, und ihre reizende Tochter zeigte sich sehr teilnehmend wegen der schlechten Nacht, die ich in der Wachtstube verbracht hatte. Ich sagte ihr, ich würde sie viel schmerzhafter gefunden haben, wenn ich eine Frau bei mir gehabt hätte. Sie antwortete mir, wenn diese Frau gut gewesen wäre, würde sie sich beeilt haben, meine Leiden mit mir zu teilen und dadurch zu lindern. Ihre Mutter machte sie jedoch darauf aufmerksam, daß eine ordentliche und kluge Frau zunächst meinen Wagen und meine Sachen in Sicherheit gebracht und dann sofort die nötigen Schritte getan hätte, um mir meine Freiheit zu verschaffen. Ich pflichtete ihr bei und machte der Tochter begreiflich, daß auf diese Art eine Frau am besten ihre Pflicht erfüllt.

Fünftes Kapitel


Graf de la Tour d’Auvergne und Frau d’Urfé. – Camilla. – Meine Leidenschaft für die Geliebte des Grafen; lächerliches Abenteuer, das mich heilt – Der Graf von St.-Germain

Trotz meiner Liebe zur jungen Baletti verkehrte ich auch mit den käuflichen Schönheiten, die auf dem Straßenpflaster glänzten und von sich sprechen machten; am meisten aber beschäftigten mich die ausgehaltenen Frauen und jene, die nur als Sängerinnen und Tänzerinnen oder weil sie jeden Abend auf der Bühne Königinnen oder Zofen spielten, dem Publikum angehörten.

Obwohl sie Anspruch auf guten Ton machten, beanspruchten sie auch große Freiheit und genossen ihre sogenannte Unabhängigkeit, indem sie sich bald Amor, bald Plutus ergaben, und häufig beiden zugleich. Da es nicht schwer ist, mit diesen Priesterinnen der Freude und der Verschwendung bekannt zu werden, so hatte ich mich bei mehreren eingenistet.

Die Foyers der Theater sind Basare, wo die Liebhaber ihre Talente üben, um Liebesränke anzuspinnen, und ich hatte in dieser edlen Schule recht leidliche Fortschritte gemacht.

Ich begann damit, daß ich der Freund ihrer anerkannten Liebhaber wurde, und dies gelang mir oft durch die Kunst, unbedeutend zu erscheinen. Allerdings mußte ich bei Gelegenheit als Günstling des Plutus erscheinen können; eine Börse in der Hand gleicht einem Fläschchen, dem für gewisse Nasen ein köstlicherer Duft entströmt als der Rose; und wenn es sich um einige goldene Knospen handelte, so war die Mühe stets geringer als das Vergnügen; denn ich war stets sicher, auf die eine oder andere Art meinen Lohn zu erhalten.

Die Schauspielerin und Tänzerin bei der italienischen Komödie Camilla, die ich schon vor sieben Jahren in Fontainebleau geliebt hatte, fesselte mich besonders durch die Annehmlichkeiten, die ihr hübsches kleines Häuschen an der Barrière Blanche mir bot. Sie lebte dort mit dem Grafen Aigreville, der mir sehr zugetan war und meine Gesellschaft liebte. Er war ein Bruder des Marquis de Gamache und der Gräfin du Rumain; ein hübscher Junge, sehr gutmütig und ziemlich reich.

Er war niemals so zufrieden, wie wenn er viele Besucher bei seiner Geliebten sah; ein eigentümlicher Geschmack, dem man selten begegnet, zugleich aber ein sehr bequemer Geschmack, der auf einen vertrauensvollen und wenig eifersüchtigen Charakter schließen läßt. Camilla liebte von Herzen nur ihn – eine ziemlich seltene Sache bei einer Schauspielerin und galanten Frau; aber geistvoll und weltgewandt wie sie war, brachte sie auch von den anderen, die Geschmack an ihr fanden, niemanden zur Verzweiflung. Sie war mit ihren Gunstbezeigungen weder geizig, noch verschwenderisch, und sie verstand das Geheimnis, sich von allen anbeten zu lassen; sie brauchte nicht zu befürchten, durch Mangel an Verschwiegenheit betrübt oder durch Treulosigkeiten gekränkt zu werden.

Nächst ihrem Liebhaber zeichnete sie den Grafen de la Tour-d’Auvergne am meisten aus. Dieser Herr von sehr vornehmer Geburt vergötterte sie, und da er nicht reich genug war, um sie allein zu besitzen, so schien er mit dem Anteil, den sie ihm bewilligte, einigermaßen zufrieden zu sein. Er stand in dem Rufe, als Zweiter aufrichtig geliebt zu werden. Camilla unterhielt ihm so ziemlich ein kleines Mädchen, das sie ihm geschenkt hatte, als sie zu bemerken glaubte, daß er in sie verliebt sei; die Kleine war nämlich früher in ihrem Dienst gestanden. La Tour-d’Auvergne unterhielt sie in einem möblierten Zimmer in der Rue de Taranne in Paris, und er pflegte zu sagen, er liebe sie, wie man ein Bild liebe, weil er sie von seiner teuren Camilla habe. Der Graf brachte das junge Mädchen oft zu Camilla zum Essen mit. Sie war fünfzehn Jahre alt, einfach, arglos und ohne jeden Ehrgeiz. Sie sagte ihrem Liebhaber, sie würde ihm niemals eine Untreue verzeihen, außer mit Camilla; dieser glaubte sie ihn abtreten zu müssen, weil sie wußte, daß sie ihr ihr Glück verdankte.

Ich wurde so verliebt in dieses junge Mädchen, daß ich oftmals nur deshalb zu Camilla ging, weil ich hoffte, sie dort zu finden und mich an ihren naiven Reden zu erfreuen, durch die sie die ganze Gesellschaft entzückte. Ich suchte meine Liebe nach Möglichkeit zu verbergen, aber sie war so groß, daß ich oft ganz traurig nach Hause ging; denn ich sah, daß ich auf den gewöhnlichen Wegen unmöglich von meiner Leidenschaft genesen konnte. Wenn man etwas geahnt hätte, so würde ich mich lächerlich gemacht haben, und Camilla hätte mich erbarmungslos ausgelacht. Ein spaßhafter Vorfall heilte mich auf ganz unerwartete Weise.

Das Häuschen der liebenswürdigen Camilla lag an der Barrière Blanche. Als es eines Abends stark regnete, ließ ich einen Fiaker holen, um nach Hause zu fahren. Aber es war schon ein Uhr nachts, und an der Haltestelle war kein Wagen mehr zu finden. »Mein lieber Casanova,« sagte la Tour-d’Auvergne zu mir, »ich werde Sie mitnehmen und bei Ihrer Wohnung absetzen; dies wird mir keine Unbequemlichkeiten machen, obgleich mein Wagen nur zwei Plätze hat; meine Kleine wird sich auf unsere Knie setzen.«

Natürlich nahm ich das Anerbieten an, und bald saßen wir im Wagen, der Graf zu meiner Linken und Babet auf unseren Knien.

In meiner Liebesglut gedachte ich die Gelegenheit auszunutzen, und ohne Zeit zu verlieren – denn der Kutscher fuhr schnell – ergriff ich ihre Hand und gab ihr einen sanften Druck. Ich fühlte einen leisen Gegendruck; o Glück! Ich zog sie an meine Lippen und bedeckte sie mit stummen zärtlichen Küssen. Ich war ungeduldig, sie von meiner Glut zu überzeugen, und ich glaubte, ihre Hand würde mir einen süßen Dienst nicht verweigern … aber im entscheidenden Augenblick sagte La Tour-d’Auvergne zu mir: »Ich bin Ihnen recht dankbar für eine in Ihrem Lande übliche Höflichkeit, deren ich nicht mehr würdig zu sein glaubte; hoffentlich ist es kein Mißverständnis.«

Betroffen von diesen schrecklichen Worten streckte ich die Hand aus und fühlte seinen Rockärmel. Die größte Geistesgegenwart konnte mir in einem solchen Augenblicke nichts nutzen, zumal da ein stürmisches Gelächter unmittelbar auf diese Worte folgte; so etwas genügt, um den Unerschrockensten still zu machen. Ich konnte weder lachen, noch die Tatsache leugnen, und diese Lage war entsetzlich; sie wäre noch entsetzlicher gewesen, wenn nicht glücklicherweise die Dunkelheit meine Verwirrung verdeckt hätte. Babet fragte unaufhörlich den Grafen, warum er so lache; aber so oft er zu sprechen beginnen wollte, packte ihn das Gelächter von neuem, was mir im Grunde meines Herzens sehr angenehm war. Endlich hielt der Wagen vor meiner Tür; mein Bedienter öffnete den Schlag, und ich stieg eiligst aus, indem ich ihnen gute Nacht wünschte, was La Tour-d’Auvergne unter beständigem Lachen erwiderte. Ganz verdutzt ging ich auf mein Zimmer, und erst eine halbe Stunde später begann ich über den eigentümlichen Vorfall ebenfalls zu lachen. Unangenehm war mir nur die Aussicht auf die schlechten Witze, die man darüber machen würde; denn ich konnte natürlich vom Grafen keine Verschwiegenheit erwarten. Vernünftigerweise faßte ich den Entschluß, wenn auch nicht mit den Lachenden zu lachen, so doch wenigstens mich nicht über die Scherze zu ärgern, deren Zielscheibe ich werden mußte. Dies ist in Paris stets das beste Mittel, die Lacher auf seine Seite zu bringen.

Ich ließ drei Tage hingehen, ohne den liebenswürdigen Grafen zu sehen; am vierten aber beschloß ich, gegen neun Uhr ihn aufzusuchen und um ein Frühstück zu bitten; denn Camilla hatte zu mir geschickt und sich nach meinem Befinden erkundigen lassen. Diese Geschichte durfte mich nicht von ferneren Besuchen bei ihr abhalten. Auch hätte ich gerne gewußt, wie man den Spaß aufgenommen hatte.

Sobald la Tour-d’Auvergne mich sah, lachte er laut auf; ich stimmte ein, und wir umarmten uns herzlich, wobei er scherzhafterweise so tat, als ob er ein Mädchen wäre.

»Mein lieber Graf, vergessen Sie diese Dummheit; es wäre kein Ruhm für Sie, mich anzugreifen; denn ich weiß nicht, wie ich mich verteidigen soll.«

»Wie kommen Sie, mein Lieber, auf den Gedanken, sich verteidigen zu wollen? Wir alle haben Sie lieb und finden das komische Abenteuer köstlich; wir lachen jeden Abend darüber.«

»Die Geschichte ist also allgemein bekannt?«

»Zweifeln Sie daran? Das ist ja ganz selbstverständlich. Camilla lacht sich darüber zu Tode. Kommen Sie heute abend; ich bringe Babet mit, und wir werden über Sie lachen; denn sie behauptet, Sie hätten sich nicht getäuscht.«

»Sie hat recht.«

»Recht? Das erzählen Sie anderen! Sie sind zu gütig, aber ich glaube nichts davon. Aber tun Sie, was Sie für recht halten.«

»Es ist das beste, was ich tun kann; aber in der Tat, nicht Ihnen wollte meine fiebernde Phantasie eine so glühende Huldigung darbringen.«

Bei Tische scherzte ich, stellte mich erstaunt über die Indiskretion des Grafen und rühmte mich, von meiner Leidenschaft geheilt zu sein. Babet war darüber etwas verschnupft; sie nannte mich einen häßlichen Menschen und behauptete, ich sei durchaus nicht geheilt. Aber tatsächlich war ich es; denn nach dieser Geschichte fand ich keinen Geschmack mehr an ihr, knüpfte aber dafür eine innige Freundschaft mit dem Grafen an, der alle Eigenschaften besaß, um von jedem Menschen geliebt zu werden. Diese Freundschaft wäre indessen fast verhängnisvoll für mich geworden, wie der Leser sehen wird.

Eines Abends bat mich La Tour-d’Auvergne im Foyer der italienischen Komödie, ihm hundert Louis zu leihen, die er mir am nächsten Samstag wiederzugeben versprach.

»Ich habe nicht so viel; aber hier ist meine Börse; ihr Inhalt steht Ihnen zu Diensten.«

»Ich brauche hundert Louis, mein Lieber, und zwar sofort; denn ich habe sie gestern abend bei der Fürstin von Anhalt verloren.«

»Aber ich habe sie nicht.«

»Ein Lotterieeinnehmer muß stets mehr als hundert Louis haben.«

»Ganz recht; aber meine Kasse ist mir heilig, ich muß sie heute über acht Tage dem Kassierer abliefern.«

»Dies hindert Sie ja nicht, sie Montag abzuliefern; denn Samstag werde ich Ihnen das Geld wieder geben. Nehmen Sie hundert Louis aus Ihrer Kasse und legen Sie mein Ehrenwort hinein. Glauben Sie, daß es hundert Louis wert ist?«

»Hiergegen habe ich kein Wort einzuwenden; warten Sie hier einen Augenblick auf mich.«

Ich eilte in mein Bureau, nahm die hundert Louis und brachte sie ihm.

Der Samstag kam; kein Graf. Da ich zufällig gerade kein Geld hatte, versetzte ich am Sonntag morgen meinen Solitär und zahlte die hundert Louis zurück, die ich meiner Kasse schuldete. Am nächsten Tage übergab ich diese dem Kassierer. Drei oder vier Tage später kam la Tour-d’Auvergne im Amphitheater der Comédie française auf mich zu und entschuldigte sich bei mir. Ich zeigte ihm meine Hand und antwortete, ich hätte meinen Ring versetzt, um meine Ehre zu retten. Er sagte mir traurig, man habe ihm nicht Wort gehalten; aber er sei sicher, mir meine hundert Louis am nächsten Samstag wiedergeben zu können. »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf.«

»Ihr Ehrenwort liegt in meiner Kasse; gestatten Sie mir also, darauf nicht zu rechnen. Sie können mir die hundert Louis wiedergeben, wann Sie wollen.«

Der Graf wurde bleich wie der Tod.

»Mein Ehrenwort, lieber Casanova, ist mir teurer als mein Leben. Ich gebe Ihnen die hundert Louis morgen früh um neun, hundert Schritte vor dem Kaffeehause am Ende der Champs-Elysees. Ich werde sie Ihnen unter vier Augen geben; kein Mensch wird uns sehen. Ich hoffe, Sie werden kommen, um sie in Empfang zu nehmen, und werden Ihren Degen mitbringen. Auch ich werde meinen Degen haben.«

»Wahrhaftig, Herr Graf, da lassen Sie mich einen Witz zu teuer bezahlen! Sicherlich erweisen Sie mir eine große Ehre; aber ich will Sie lieber um Verzeihung bitten, wenn dadurch dieser ärgerliche Handel beigelegt werden kann.«

»Nein, ich habe viel mehr Unrecht als Sie, und dieses Unrecht kann nur mit der Klinge wieder gut gemacht werden. Werden Sie kommen?«

»Ich kann es Ihnen nicht verweigern, so peinlich es mir auch ist, Ihnen ein solches Versprechen geben zu müssen.«

Ich ging zu Sylvia, bei der ich traurig zu Abend speiste; ich hatte den vornehmen jungen Mann wirklich lieb, und die ganze Geschichte war doch nicht der Mühe wert. Wenn ich die Überzeugung hätte gewinnen können, daß ich im Unrecht wäre, so würde ich mich nicht geschlagen haben; aber von welcher Seite ich auch die Sache betrachtete, ich sah stets, daß nur die übergroße Empfindlichkeit des Grafen schuld war. Ich beschloß daher, ihm Genugtuung zu geben. Jedenfalls konnte ich nicht daran denken, das Stelldichein zu verfehlen.

Ich betrat das Kaffeehaus einen Augenblick nach ihm; wir frühstückten, er bezahlte; hierauf gingen wir in der Richtung nach dem Stern zu. Als wir an einer Stelle waren, wo kein Mensch uns sehen konnte, zog er aus seiner Tasche eine Rolle von hundert Louis und gab mir diese mit sehr vornehmem Anstand. Dann sagte er mir, ein Degenstich müsse dem einen wie dem anderen genügen. Es war mir nicht möglich, ihm ein Wort zu erwidern.

Er trat vier Schritte zurück und zog den Degen. Ohne ein Wort zu sprechen, machte ich es wie er. Ich legte mich aus, wir kreuzten die Klingen und im selben Augenblick stieß ich geradeaus. Ich war sicher, ihn an der Brust verwundet zu haben, trat zwei Schritte zurück und erinnerte ihn an sein Wort.

Sanft wie ein Lamm senkte er den Degen, steckte die Hand in den Busen und zog sie blutbedeckt wieder hervor. Dann sagte er freundlich: »Ich bin zufrieden.«

Ich sagte ihm die freundlichsten Worte, die ich finden konnte, während er sich sein Taschentuch auflegte. Ich untersuchte die Spitze meines Degens und sah zu meiner größten Zufriedenheit, daß er höchstens eine Linie tief eingedrungen sein konnte. Ich sagte es ihm und erbot mich, ihn zu begleiten. Er dankte mir und bat mich, verschwiegen zu sein und ihn in Zukunft als meinen aufrichtigen Freund anzusehen. Nachdem ich ihn unter Tränen umarmt hatte, ging ich sehr traurig nach Hause. Ich hatte eine derbe Lehre empfangen.

Der Handel blieb völlig unbekannt, und acht Tage darauf soupierten wir zusammen bei Camilla. Einige Tage später erhielt ich von Abbé de la Ville für meine Mission nach Dünkirchen die bereits erwähnte Belohnung von fünfhundert Louis.

Bei einem Besuch, den ich bei der liebenswürdigen Camilla machte, sagte sie zu mir, la Tour-d’Auvergne müsse wegen eines Hüftwehs zu Bett liegen. Wenn ich wollte, könnten wir ihm am nächsten Tage einen Besuch machen. Ich erklärte mich einverstanden und wir gingen hin. Nachdem wir gefrühstückt hatten, sagte ich in ernstem Tone zu ihm: wenn er mich gewähren lassen wollte, würde ich ihn heilen; denn sein Leiden wäre kein eigentliches Hüftweh, sondern ein feuchter Wind, den ich durch den Zauber Salomons und fünf Worte vertreiben würde. Er lachte, sagte mir aber, ich möchte nur tun, was ich wollte.

»Ich werde also einen Pinsel kaufen.«

»Ich werde einen Diener ausschicken.«

»Nein, das geht nicht; denn ich muß sicher sein, daß nicht dabei gefeilscht worden ist; außerdem brauche ich noch einige Sachen aus der Apotheke.«

Ich kaufte Salpeter, Schwefelblüte, Quecksilber und einen kleinen Pinsel. Als ich mit allen Sachen wieder da war, sagte ich zu ihm:

»Ich brauche jetzt ein bißchen von Ihrem…; diese Flüssigkeit ist mir unentbehrlich, und zwar muß sie ganz frisch sein.«

Camilla und er lachten aus vollem Halse. Ich aber blieb meiner Rolle als Scharlatan getreu und bewahrte meinen vollen Ernst. Ich gab ihm einen Becher und zog ehrbar den Bettvorhang zu. Er tat, was ich verlangte.

Aus allen diesen Bestandteilen machte ich eine Mischung. Dann sagte ich zu Camilla, sie müßte ihm den Schenkel einreiben, während ich eine Beschwörung murmeln würde; aber ich machte sie darauf aufmerksam, daß alles verloren sein würde, wenn sie unglücklicherweise während der Handlung lachen sollte. Diese Drohung vermehrte noch die Heiterkeit der beiden, und ihr Gelächter war nicht mehr auszulöschen; denn im Augenblick, wo sie ihre Selbstbeherrschung wieder erlangt zu haben glaubten, sahen sie einander an und lachten schließlich nach einigen vergeblichen Anstrengungen von neuem los, so daß ich schon zu glauben begann, ich hätte etwas Unmögliches verlangt. Nachdem sie sich eine halbe Stunde lang die Seiten gehalten hatten, überwanden sie sich endlich, ernst zu werden und die unerschütterliche Ruhe nachzuahmen, deren Beispiel ich ihnen gab. La Tour-d’Auvergne war der erste, der sich beherrschte. Mit ernstem Gesicht bot er seinen Schenkel Camillen dar, die, mit einem Gesicht, wie wenn sie auf der Bühne eine Rolle spielte, den Kranken einzureiben begann, während ich halblaut Worte murmelte, die sie niemals hätten verstehen können, selbst wenn ich sie ganz deutlich ausgesprochen hätte; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ich sie selber nicht verstand.

Beinahe hätte ich selbst die Wirksamkeit der ganzen Handlung zerstört, als ich die Grimassen sah, die das Pärchen schnitt, um ernst zu bleiben. Nichts konnte komischer sein als Camillens Gesicht. Endlich sagte ich ihnen, es sei jetzt genug gerieben, tauchte meinen Pinsel in die Mischung und zeichnete in einem Zuge den fünfzackigen Stern, das sogenannte Zeichen Salomons, auf den Schenkel, den ich hierauf mit drei Handtüchern umwickelte. Ich sagte ihm: wenn er vierundzwanzig Stunden ruhig im Bett liegen könnte, ohne die Tücher abzunehmen, so stände ich für seine völlige Heilung ein.

Das Lächerlichste bei dem Ganzen war, daß weder der Graf noch Camilla mehr lachten, als ich fertig war. Sie sahen ganz verwundert aus; ich aber – ich glaubte das schönste Ding von der Welt vollbracht zu haben. Wenn man eine Lüge oft wiederholt, kann man schließlich dahin kommen, sie für Wahrheit zu halten.

Einige Augenblicke nach dieser Operation, die ich ohne jede vorherige Absicht gewissermaßen instinktmäßig gemacht hatte, fuhren Camilla und ich in einem Fiaker ab; ich erzählte ihr tausend alberne Geschichten, die sie so aufmerksam anhörte, daß sie schließlich ganz verdutzt war, als ich sie bei ihrem Hause verließ.

Einige Tage nachher, als ich diese Posse schon fast ganz vergessen hatte, hörte ich einen Wagen vor meiner Tür halten; ich blickte aus dem Fenster und sah la Tour-d’Auvergne leichtfüßig aus dem Wagen springen und in mein Haus hineingehen.

»Sie waren Ihrer Sache sicher, lieber Freund,« sagte er, indem er mich umarmte; »deshalb haben Sie mich am Morgen nach Ihrer erstaunlichen Operation nicht einmal besucht, um nach meinem Befinden zu sehen.«

»Natürlich war ich meiner Sache sicher, aber wenn ich Zeit gehabt hätte, würden Sie mich trotzdem gesehen haben.«

»Sagen Sie mir, ob ich ein Bad nehmen darf.«

»Kein Bad, solange Sie nicht wieder ganz hergestellt zu sein glauben.«

»Ich werde Ihnen gehorchen. Alle Welt ist erstaunt über diese Heilung, lieber Freund, denn ich habe mich nicht enthalten können, dieses Wunder allen meinen Bekannten zu erzählen. Ich stoße allerdings auch auf Freigeister, die sich über mich lustig machen, aber ich lasse sie reden.«

»Sie hätten verschwiegen sein sollen, denn Sie kennen doch Paris. Man wird mich als Scharlatan behandeln.«

»Nicht alle denken so, und ich bin gekommen, um Sie um eine Gefälligkeit zu bitten.«

«Worum handelt es sich?«

»Ich habe eine Tante, die wegen ihrer Kenntnisse in allen abstrakten Wissenschaften bekannt und anerkannt ist, eine große Chemikerin, geistvoll, sehr reich und alleinige Herrin über ihr Vermögen; ihre Bekanntschaft kann Ihnen nur nützlich sein. Sie stirbt vor Begierde, Sie zu sehen; denn sie behauptet, Sie zu kennen, und sagt, Sie seien nicht der, für den man Sie halte. Sie hat mich beschworen, Sie ihr zum Essen zu bringen, und ich hoffe, Sie werden die Güte haben, die Einladung anzunehmen. Meine Tante ist die Marquise d’Urfé.«

Ich kannte diese Dame nicht, aber der Name d’Urfé machte sofort großen Eindruck auf mich; denn ich kannte die Geschichte des berühmten Anne d’Urfé, der am Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts geglänzt hatte. Die Dame war die Witwe seines Urenkels, und ich begriff sehr wohl die Möglichkeit, daß sie durch ihren Eintritt in diese Familie alle erhabenen Lehrsätze einer Wissenschaft in sich aufgenommen hatte, für die ich mich sehr interessierte, obgleich ich sie für ein reines Hirngespinst hielt. Ich antwortete also meinem Freunde, ich stände ihm zu Befehl, doch nur unter der Bedingung, daß wir bei Tisch nur zu dritt wären.

»Sie hält täglich offene Tafel von zwölf Gedecken, und Sie werden mit der allerbesten Gesellschaft der Hauptstadt speisen.«

»Das wünsche ich eben gerade nicht, mein lieber Graf; denn ich verabscheue den Ruf eines Zauberers, in den Sie mich natürlich gebracht haben werden.«

»Darum handelt es sich nicht; Sie sind bekannt und werden mit Leuten zusammen sein, die eine hohe Meinung von Ihnen haben.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Die Herzogin von Lauraguais hat mir erzählt, daß Sie vor vier oder fünf Jahren oft ins Palais-Royal gekommen seien und dort ganze Tage bei der Herzogin von Orléans verbracht haben; Frau von Boufflers, Frau von Blois und sogar Frau von Melfort haben mir von Ihnen gesprochen. Sie haben unrecht, daß Sie nicht Ihre alten Gewohnheiten wieder aufnehmen. Was Sie an meinem Leibe gemacht haben, läßt keinen Zweifel daran zu, daß Sie ein glänzendes Vermögen erwerben können. Ich kenne in Paris hundert Personen von höchstem Range, Herren und Damen, die an derselben Krankheit leiden, von der Sie mich geheilt haben, und die Ihnen die Hälfte ihres Vermögens geben würden, wenn Sie sie heilten.«

La Tour-d’Auvergne hatte ganz recht; aber da ich selber wohl wußte, daß die Wunderkur nur einem eigentümlichen Zufall zuzuschreiben war, so fühlte ich durchaus keine Lust, mich vor der Öffentlichkeit lächerlich zu machen. Ich sagte ihm daher, ich wolle durchaus nicht auffallen; er möge daher der Frau d’Urfé nur sagen, ich würde die Ehre haben sie zu besuchen, aber nur wenn keine andere Gesellschaft käme; sonst nicht.

»Sie können mir Tag und Stunde anzeigen, zu denen es ihr angenehm wäre, meine Huldigungen anzunehmen.«

Am selben Abend schon fand ich beim Nachhausekommen ein Briefchen des Grafen vor: er bestellte mich für den nächsten Mittag zwölf Uhr in die Tuilerien; er werde dort sein und dann mit mir zu seiner Tante gehen, die mich voll Ungeduld erwarte; das Diner werde nur für uns drei sein und die Marquise werde für keinen Menschen außer uns zu sprechen sein.

Ich erschien ebenso pünktlich wie der Graf am verabredeten Ort, und wir gingen zur Frau von Urfé, die am Theatinerquai neben dem Hotel Bouillon wohnte.

Frau d’Urfé war trotz ihrem Alter schön. Sie empfing mich mit der schönen Ungezwungenheit des alten Hofes zur Zeit der Regentschaft. Wir plauderten anderthalb Stunden von gleichgültigen Dingen, aber beiderseitig in der Absicht, uns zu studieren, wir wollten uns gegenseitig die Würmer aus der Nase ziehen.

Es kostete mir keine Mühe, den Unwissenden zu spielen, denn ich war es in der Tat; Frau d’Urfé zeigte sich nicht neugierig, aber sie verriet, ohne es zu wollen, ihre Lust, gelehrt zu erscheinen. Dies war mir außerordentlich angenehm, denn ich war gewiß, daß sie mit mir zufrieden sein würde, wenn es mir gelänge, sie zufrieden mit sich selber zu machen.

Um zwei Uhr trug man an einem Tisch zu drei Gedecken dasselbe Diner auf, woran sonst jeden Tag zwölf teilnahmen; über unser Tischgespräch läßt sich nicht viel sagen, denn wir sprachen nach dem Brauch der guten Gesellschaft, oder vielmehr der vornehmen Welt, nur über Nichtigkeiten.

Nach dem Nachtisch verließ la Tour-d’Auvergne uns, um den Prinzen Turenne zu besuchen, der am Morgen ein starkes Fieber gehabt hatte. Als er fort war, begann Frau von Urfé mit mir über Chemie, Magie und ihren ganzen Kultus oder besser gesagt: über ihren ganzen Wahnwitz zu sprechen. Als wir auf das Große Werk zu sprechen kamen und ich aus Gutmütigkeit sie fragte, ob sie den Urstoff kenne, lachte sie nur aus Höflichkeit mich nicht aus, sondern sagte mir mit einem anmutigen Lächeln, sie besitze bereits den sogenannten Stein der Weisen und sei in allen großen Operationen bewandert. Hierauf zeigte sie mir ihre Bibliothek, die dem großen d’Urfé und seiner Frau Renata von Savoyen gehört hatte; aber sie hatte sie um Handschriften vermehrt, für die sie mehr als hunderttausend Franken ausgegeben hatte. Paracelsus war ihr Lieblingsautor; er war nach ihrer festen Überzeugung weder Mann noch Weib, aber auch kein Zwitter gewesen, und hatte das Unglück gehabt, sich mit einer zu starken Gabe seiner Panacee oder Universalmedizin zu vergiften. Sie zeigte mir ein kleines Manuskript, worin das Große Werk in französischer Sprache und in sehr deutlichen Ausdrücken beschrieben wäre. Sie sagte mir, sie halte es nicht unter Verschluß, weil es in Chiffern geschrieben sei, zu denen sie allein den Schlüssel besitze.

»Sie glauben also nicht an die Steganographie, gnädige Frau?«

»Nein, mein Herr; und wenn Sie es annehmen wollen, so schenke ich Ihnen gerne die Abschrift, die ich hier habe.«

»Ich nehme sie um so dankbarer an, da ich ihren ganzen Wert kenne.«

Von der Bibliothek gingen wir in das Laboratorium, das mich tatsächlich in Erstaunen setzte. Sie zeigte mir einen Stoff, den sie seit fünfzehn Jahren über dem Feuer hatte, und der noch vier oder fünf Jahre gekocht werden mußte. Es war ein Projektionspulver, das augenblicklich alle Metalle in das reinste Gold verwandeln sollte. Sie zeigte mir ein Rohr, durch welches die Kohle in den Ofen gelangte, um das Feuer stets in gleicher Stärke zu erhalten. Die Kohle gelangte durch ihr eigenes Gewicht stets nach und nach und in gleicher Menge in den Ofen, so daß sie diesen oft drei Monate lang nicht untersuchte, ohne daß das Feuer die geringste Veränderung erlitt. Die Asche wurde durch ein anderes sehr geschickt angebrachtes Rohr entfernt, das zugleich zur Luftzufuhr diente.

Die Oxydierung des Quecksilbers war für diese wahrhaft erstaunliche Frau wirklich nur ein Kinderspiel. Sie zeigte mir oxydiertes Quecksilber und erbot sich, mir das Verfahren zu zeigen, wenn ich es wünschte. Hierauf zeigte sie mir den Baum der Diana, von dem berühmten Taliamed, dessen Schülerin sie war. Dieser Taliamedes war der Gelehrte Maillot, der nach ihrer Behauptung nicht in Marseille gestorben war, wie der Abbé le Mascrier fälschlich behauptet hatte; denn er lebte, und sie erhielt, wie sie mit einem leisen Lächeln hinzufügte, oftmals Briefe von ihm. »Wenn der Regent von Frankreich«, sagte sie, »auf ihn gehört hätte, so wäre er noch heute am Leben. Der liebe Regent! Er war mein erster Freund, von ihm erhielt ich den Namen Egeria, und er vermittelte meine Heirat mit dem Herrn d’Urfé.«

Sie besaß einen Kommentar zum Raimundus Lullus, worin alles erklärt war, was Armand de Villeneuve nach Roger Baco und Geber, die nach ihrer Behauptung nicht tot waren, geschrieben hatten. Dieses kostbare Manuskript befand sich in einem Elfenbeinkasten, dessen Schlüssel sie sorgfältig verwahrt hielt; übrigens war ihr Laboratorium keinem Menschen zugänglich. Sie zeigte mir ein Fäßchen voll von Platina del Pinto, das sie in Gold verwandeln zu können behauptete, sobald sie Lust hätte. Herr Wood hatte es ihr im Jahre 1743 geschenkt. Sie zeigte mir Proben des Metalls in vier verschiedenen Gefäßen. In dreien lag das Platin unangegriffen von Vitriol-, Salpeter- und Salzsäure; im vierten jedoch hatte es der Einwirkung von Scheidewasser nicht widerstehen können. Sie schmolz es mittels eines Brennspiegels und behauptete, es sei das einzige Metall, das man nicht auf andere Weise schmelzen könne, und dies beweise, daß es über dem Golde stehe. Sie zeigte mir Platin, das mit Ammoniaksalz niedergeschlagen war, womit man Gold nicht niederschlagen kann.

Sie hatte einen Faulen Heinz, der seit fünfzehn Jahren brannte. Ich sah, daß die Röhre mit schwarzen Kohlen gefüllt war, und schloß daraus, daß sie ihn vor ein paar Tagen nachgesehen hatte. Beim Hinausgehen trat ich an ihren Baum der Diana heran und fragte sie ehrerbietig, ob sie nicht zugebe, daß dies nur eine Spielerei zur Unterhaltung von Kindern sei. Sie antwortete voll Würde, sie habe ihn nur zur Unterhaltung aufgebaut, indem sie Silber, Quecksilber und Salpetersäure habe kristallisieren lassen; sie betrachte ihren Baum nur als eine metallische Vegetation, die im kleinen zeige, was die Natur im großen machen könne; aber sie fügte allen Ernstes hinzu, sie könne einen Baum der Diana machen, der ein wirklicher Baum der Sonne sein und goldene Früchte hervorbringen würde, die man ernten könnte und die wieder neue Früchte hervorbringen würden, bis ein gewisser Bestandteil ausginge, den sie den sechs Aussätzigen im Verhältnis zu ihrer Menge beimischen würde. Ich antwortete ihr in bescheidenem Tone, ich hielte die Sache nicht für möglich ohne das Projektionspulver. Frau von Urfé antwortete nur durch ein Lächeln.

Hierauf zeigte sie mir eine Porzellanschüssel, worin sich Salpeter, Quecksilber und Schwefel befanden, und einen Teller, worauf ein kristallisiertes Salz lag. »Ich denke mir,« sagte die Marquise zu mir, »diese Bestandteile sind Ihnen bekannt?«

»Ich kenne sie, wenn dieses Salz ein Niederschlag von Urin ist.«

»Ganz recht.«

»Ich bewundere Ihren Scharfsinn, gnädige Frau. Sie haben die Mischung analysiert, womit ich Ihrem Neffen den Fünfstern auf die Lende zeichnete; aber es gibt keinen Weinstein, durch den Sie die Worte erfahren könnten, durch die das Pentagramma erst Kraft erhält.«

»Dazu ist kein Weinstein nötig, sondern nur das Manuskript eines Adepten, das ich in meinem Zimmer habe und Ihnen zeigen werde. Sie werden darin Ihre eigenen Worte finden.«

Ich antwortete nur durch eine Neigung des Kopfes, und wir verließen das seltsame Laboratorium.

Kaum waren wir in ihrem Zimmer angekommen, so nahm Frau d’Urfé ein kleines schwarzes Buch aus einem hübschen Kasten, legte es auf einen Tisch und begann einen Phosphor zu suchen. Während sie suchte, öffnete ich hinter ihrem Rücken das Buch und sah, daß es lauter Fünfecke enthielt; durch einen glücklichen Zufall stieß ich sofort auf den Talisman, den ich dem Grafen auf die Hüfte gemalt hatte. Rund herum standen die Namen der Planetengeister, mit Ausnahme des Saturn und des Mars. Schnell machte ich das Buch wieder zu. Die Planetengeister waren die des Agrippa, die ich kannte. Wie wenn ich nichts gesehen hätte, trat ich an sie heran, und bald fand sie den gesuchten Phosphor, bei dessen Anblick ich wirklich überrascht war; ich werde jedoch an einem anderen Orte davon sprechen.

Die Marquise setzte sich auf ihr Kanapee, bat mich, neben ihr Platz zu nehmen, und fragte mich, ob ich die Talismane des Grafen von Trier kenne. »Von diesen habe ich niemals ein Wort gehört; aber ich kenne die des Polyphilus.«

»Man behauptet, es seien dieselben.«

»Das glaube ich nicht.«

»Wir werden es erfahren, wenn Sie die Worte aufschreiben wollen, die Sie aussprachen, als Sie den Fünfstern auf die Lende meines Neffen zeichneten. Das Buch wird das gleiche sein, wenn ich in diesem hier Ihre Worte im Kreise um den selben Talisman herum geschrieben sehe.«

»Dies wäre allerdings ein Beweis; ich werde sie aufschreiben.« Ich schrieb die Namen der Planetengeister auf. Die Marquise fand das Pentagramma und nannte mir die Namen. Ich spielte den Erstaunten, gab ihr mit einer Miene der Bewunderung mein Papier, und sie zeigte die größte Befriedigung, als sie die gleichen Namen las.

»Wie Sie sehen, besaßen Polyphilus und der Graf von Trier die gleiche Wissenschaft.«

»Ich werde dies zugeben, gnädige Frau, wenn Ihr Buch die Methode angibt, die unaussprechlichen Namen auszusprechen. Kennen Sie die Theorie der Planetenstunden?«

»Ich glaube ja; aber diese sind hierbei nicht nötig.«

»Unentbehrlich! Denn von ihnen hängt die Unfehlbarkeit ab. Ich habe das Salomonische Fünfeck dem Grafen de la Tour-d’Auvergne in der Stunde der Venus auf die Lende gemalt, und wenn ich nicht mit Araël, dem Geiste dieses Planeten, begonnen hätte, wäre mein Werk wirkungslos geblieben.«

»Dies wußte ich nicht, und wer kommt nach Araël?«

»Von der Venus muß man zum Merkur übergehen, vom Merkur zum Mond, vom Monde zum Jupiter und vom Jupiter zur Sonne. Wie Sie sehen, ist es der magische Kreis des Zoroasterschen Systems; ich überspringe Saturn und Mars, die die Wissenschaft bei dieser Operation ausschließt.«

»Und wenn Sie nun zum Beispiel in der Stunde des Mondes begonnen hätten?«

»Dann wäre ich vom Monde zum Jupiter gegangen, von diesem zur Sonne, von dieser zu Araël, das heißt: Venus, und hätte mit Merkur geschlossen.«

»Wie ich sehe‘ mein Herr, handhaben Sie die Planetenstunden mit überraschender Leichtigkeit.«

»Ohne dieses, gnädige Frau, kann man in der Magie nichts machen, denn zum Nachrechnen hat man keine Zeit. Aber es ist nicht so schwierig; ein Studium von einem Monat gibt jedem Anfänger die erforderliche Übung. Viel schwieriger ist der Kultus; denn er ist viel komplizierter. Aber auch ihn beherrscht man mit der Zeit. Ich gehe niemals aus, ohne vorher auszurechnen, wieviele Minuten die Stunde an dem betreffenden Tage hat, und ich achte stets darauf, daß meine Uhr vollkommen richtig geht; denn eine Minute mehr oder weniger ist entscheidend.«

»Würden Sie die Gefälligkeit haben, mich diese Theorie zu lehren?«

»Sie haben sie im Artephius und noch klarer bei Sandivoye.«

»Ich besitze sie, aber sie sind lateinisch geschrieben.« »Ich werde sie Ihnen übersetzen.«

»Wollen Sie so gütig sein? Sie werden mich glücklich machen.«

»Sie haben mich Dinge sehen lassen, gnädige Frau, die mich zwingen. Ihnen nichts zu verweigern, und zwar aus Gründen, die ich Ihnen vielleicht morgen werde sagen können.«

»Warum nicht heute?«

»Weil ich zuvor den Namen Ihres Genius wissen muß.«

»Sie wissen, daß ich einen Genius habe?«

»Sie müssen einen haben, wenn Sie wirklich den Stein der Weisen besitzen!«

»Ich besitze ihn.«

»Leisten Sie mir den Ordenseid!«

»Ich wage es nicht, und Sie wissen warum.«

»Vielleicht morgen schon werde ich Ihnen jede Möglichkeit des Zweifels benehmen.«

Dieser lächerliche Eid war kein anderer als der der Rosenkreuzer, den man sich gegenseitig nur ablegt, wenn man sich kennt. Frau von Urfé befürchtete also und mußte befürchten, eine Indiskretion zu begehen, und ich meinerseits mußte mich stellen, wie wenn ich dasselbe befürchtete. Der wahre Grund, weshalb ich ihn verlangte, war der, daß ich glaubte, Zeit gewinnen zu müssen; denn ich wußte ganz genau, was es mit diesem Eide auf sich hatte. Männer können ihn einander ablegen, ohne unanständig zu werden; aber einer Frau wie der Marquise d’Urfé mußte es einigermaßen widerstreben, ihn einem Manne zu leisten, den sie zum erstenmal sah. Sie sagte zu mir: »Wo wir diesen Eid in der Heiligen Schrift erwähnt finden, wird er durch die Worte bezeichnet: ›Er schwor, indem er ihm die Hand auf die Lende legte. Aber es ist nicht die Lende damit gemeint; daher findet man niemals, daß ein Mann einem Weibe auf die angegebene Weise schwört; denn das Weib hat kein Verbum.«

Es war neun Uhr abends als der Graf de la Tour-d’Auvergne zu uns in das Zimmer trat, und er war nicht wenig erstaunt, mich noch bei seiner Tante zu finden. Er sagte uns: »Das Fieber meines Vetters ist stärker geworden; die Blattern sind ausgebrochen, und ich werde mich daher, liebe Tante, für mindestens einen Monat von Ihnen verabschieden; denn ich beabsichtige, mich mit dem Kranken einzuschließen.«

Frau d’Urfé lobte seinen Eifer und gab ihm ein Säckchen gegen das Versprechen, es nach der Heilung des Prinzen ihr wiederzugeben. »Hänge es ihm um den Hals und verlasse dich darauf, daß der Ausbruch der Blattern glücklich vonstatten gehen und eine vollkommene Heilung erfolgen wird.«

Er versprach es ihr, wünschte uns guten Abend und ging.

»Ich weiß nicht, Frau Marquise, was Ihr Säckchen enthält; aber wenn es ein magisches Mittel ist, so habe ich kein Vertrauen zu seiner Wirkung, denn Sie haben ihm keine Vorschrift über die Stunde gegeben.«

»Diesmal ist es ein Elektrum, und Magie und Planetenstunden haben nichts damit zu schaffen.«

»Sie werden mir meine Bemerkung verzeihen.«

Sie sagte mir, sie könne meine Zurückhaltung nur loben; aber sie sei überzeugt, daß ich mit ihrem kleinen Kreise nicht unzufrieden sein werde, wenn ich an demselben teilnehmen werde. »Ich werde Sie mit allen meinen Freunden bekannt machen, indem wir mit jedem einzelnen selbdritt speisen; so können Sie sich mit allen verständigen.«

Ich nahm ihren Vorschlag an.

Dieser Anordnung gemäß speiste ich am nächsten Tage mit einem Herrn Gérin und seiner Nichte, die das wissenschaftliche Trio nicht störte; aber weder er noch sie machten meine Eroberung. Am zweiten Tage speiste ich mit einem Irländer, namens Macartney, einem Physiker von der alten Art, der mich sehr langweilte. Am darauffolgenden Tage war mein Mitgast ein Mönch, der über Literatur redete; er sagte tausend Unverschämtheiten gegen Voltaire, den ich damals sehr liebte, und gegen den Geist der Gesetze, den ich bewunderte, und den der dumme Kuttenträger dem großen Montesquieu abstritt, um das erhabene Werk einem Mönch zuzuschreiben! Mit demselben Rechte hätte er die Schöpfung der Welt einem Kapuziner zuschreiben können. Am nächsten Tage ließ Frau von Urfé mich mit dem Chevalier d’Arzigny speisen, einem achtzigjährigen eitlen, geckenhaften und folglich lächerlichen Greise, den man den Alterspräsidenten der Stutzer nannte; aber da er am Hofe Ludwigs des Fünfzehnten gewesen war, so war er ziemlich interessant, denn er besaß die ganze Höflichkeit jener Zeiten, und sein Gedächtnis war voll von Anekdoten über den Hof des despotischen und prunkliebenden Königs.

Der alte Herr ergötzte mich sehr durch seine Lächerlichkeit; er hatte sich rot geschminkt, seine Kleider waren mit Blumen bestickt und mit Flittern geschmückt, wie zu den Zeiten der Frau von Sévigné. Er behauptete, seiner Geliebten zärtlich ergeben zu sein; diese hielt für ihn ein Lusthäuschen, wo er täglich in Gesellschaft seiner Freundinnen zu Abend speiste, lauter reizender junger Mädchen, die um seinetwillen alle anderen Gesellschaften aufgaben; trotzdem geriet er nicht in Versuchung, ihr untreu zu werden, denn er schlief regelmäßig bei ihr. Trotz seiner Altersschwäche war der Chevalier d’Arzigny liebenswürdig. Er besaß eine Milde des Charakters, die allen seinen Worten den Anstrich einer Wahrheit verlieh, die er in seiner Laufbahn als Höfling wohl niemals gekannt hatte. Er war außerordentlich reinlich. Sein Knopfloch war stets von einem Strauß von stark duftenden Blumen geschmückt, z. B. Tuberosen, Narzissen und spanischem Jasmin. Seine falschen Haare waren mit Ambrapomade gesalbt; seine gemalten und parfümierten Augenbrauen und sein Elfenbeingebiß verbreiteten einen starken Duft, der der Marquise d’Urfé nicht unangenehm war, den ich jedoch kaum ertragen konnte. Ohne diese Unannehmlichkeit hätte ich mir wahrscheinlich seine Gesellschaft so oft wie möglich verschafft. Er war Epikuräer aus Überzeugung und besaß eine erstaunliche Gemütsruhe. Er sagte, er würde die Verpflichtung eingehen, sich jeden Morgen vierundzwanzig Stockschläge geben zu lassen, wenn er dadurch die Sicherheit erlangte, daß er innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden nicht sterben würde; und je älter er würde, desto mehr Prügel würde er auf sich nehmen. Ich denke, dies heißt man Lebenslust.

Eines anderen Tages speiste ich mit Herrn Charon, Rat beim Höchsten Gericht und Berichterstatter in einem Prozeß der Frau von Urfé gegen ihre herzlich von ihr gehaßte Tochter, Frau du Châtelet. Der alte Rat war vierzig Jahre früher glücklicher Liebhaber der gelehrten Marquise gewesen; dank diesen alten Erinnerungen hielt er sich für verpflichtet, die Sache seiner früheren Geliebten zu unterstützen. In Frankreich glaubten damals die Beamten berechtigt zu sein, ihren Freunden oder Schützlingen aus Freundschaft oder Habsucht recht zu geben; sie hatten ihre Ämter gekauft und glaubten deshalb von Rechts wegen die Gerechtigkeit verkaufen zu können.

Herr Charon langweilte mich wie die anderen, und dies war natürlich; denn der Unterschied zwischen uns war zu groß.

Am nächsten Tage gab es ein anderes Bild: Ich unterhielt mich sehr gut mit einem jungen Rat, Herrn de Viarme, der mit seiner Frau zum Essen kam. Er war ein Neffe der Frau von Urfé und seine sehr hübsche Frau hatte Geist. Kurz und gut, es war ein liebenswürdiges Paar. Er war Verfasser der Vorstellungen an den König, eines Werkes, das ihm große Ehre eingetragen hatte und von ganz Paris eifrig gelesen worden war. Er sagte mir, ein Parlamentsrat habe sich von Berufs wegen allem zu widersetzen, was der König tun könne, selbst im Guten. Zur Rechtfertigung dieses Grundsatzes führte er dasselbe an, was die Minderheiten aller Volksvertretungen stets zur Begründung des Widerstandes vorbringen; ich brauche wohl meine Leser damit nicht zu langweilen.

Die angenehmste Mahlzeit hatte ich in der Gesellschaft der Frau de Gergi, die mit dem unter dem Namen des Grafen St.-Germain berühmten Abenteurer kam. Er aß nicht, sondern sprach von dem Beginn der Mahlzeit bis zum Ende, und ich hätte es beinahe zum Teil ebenso gemacht wie er, denn ich aß ebenfalls nichts, sondern hörte ihm mit der grüßten Aufmerksamkeit zu. Es war allerding schwierig, einen Menschen zu finden, der besser gesprochen hätte als er. St.-Germain gab sich für einen Wundermann aus; er wollte verblüffen, und oft gelang ihm dies. Er sprach in bestimmtem Ton, aber so sorgfältig, daß er nicht mißfiel. Er war gelehrt, sprach tadellos die meisten Sprachen; war ein großer Musiker und Chemiker; hatte ein angenehmes Gesicht und wußte alle Frauen gefügig zu machen; denn er gab ihnen Schminken und Schönheitsmittel und erweckte in ihnen die Hoffnung, nicht etwa sie jünger zu machen – denn so bescheiden war er doch, daß er gestand, dies wäre ihm unmöglich –, wohl aber sie in dem Zustande zu erhalten, in dem er sie vorfand, und zwar mittels eines Wassers, das ihm nach seiner Behauptung viel Geld kostete, trotzdem aber von ihm nur verschenkt wurde.

Er hatte die Gunst der Frau von Pompadour zu erwerben gewußt; sie hatte ihm eine Unterredung mit dem König verschafft, und er hatte für diesen ein hübsches Laboratorium eingerichtet; denn der liebenswürdige Monarch, der sich überall langweilte, glaubte sich zu unterhalten oder wenigstens ein bißchen die Langeweile zu vertreiben, indem er Farben herstellte. Der König hatte ihm eine Wohnung in Chambord angewiesen und ihm hunderttausend Franken zum Bau eines Laboratoriums gegeben; nach St.-Germains Behauptung wollte der König durch seine chemischen Produkte alle Fabriken Frankreichs zur Blüte bringen.

Dieser eigentümliche Mann, der zum Betrüger allerersten Ranges wie geschaffen war, sagte im zuversichtlichsten Ton und so ganz beiläufig, er sei dreihundert Jahre alt, besitze das Allheilmittel, mache mit der Natur, was er wolle; er besitze das Geheimnis, Diamanten zu schmelzen und aus zehn oder zwölf kleinen ohne Gewichtsverlust einen großen vom reinsten Wasser zu machen. Alle diese Operationen waren für ihn nur Kleinigkeiten. Trotz seinen Aufschneidereien, lächerlichen Lügen und übertriebenen Seltsamkeiten konnte ich mich doch nicht überwinden, ihn unverschämt zu finden. Allerdings fand ich ihn auch nicht achtungswert, aber beinahe wider Willen und unbewußt fand ich ihn erstaunlich; denn ich war wirklich erstaunt über ihn. Ich werde noch Gelegenheit haben, von diesem Original zu sprechen.

Nachdem mich Frau von Urfé alle diese Bekanntschaften hatte machen lassen, sagte ich ihr, ich würde die Ehre haben, bei ihr zu speisen, so oft sie es wünschte; aber ich bäte, daß wir nur unter vier Augen wären, ausgenommen wenn sie ihre Verwandten oder Herrn von St.-Germain zu Tisch hätte. Dessen Beredsamkeit und Prahlereien hatten nur wirklich Spaß gemacht; der sonderbare Mann kam oft in die besten Häuser der Hauptstadt zum Diner, rührte aber niemals etwas an, weil, wie er sagte, sein Leben von der Art seiner Nahrung abhinge, die außer ihm selber niemand kennen könnte. Man paßte sich dieser Schrulle ziemlich willig an, denn man war nur auf seine Reden neugierig, durch die er allerdings die Seele aller Gesellschaften wurde, an denen er teilnahm.

Ich hatte inzwischen Frau von Urfé gründlich kennen gelernt. Sie glaubte steif und fest, ich sei ein vollendeter Adept, der sich nur nicht zu erkennen geben wolle. Fünf oder sechs Wochen darauf wurde sie in dieser phantastischen Idee vollends bestärkt, als sie mich fragte, ob ich das Manuskript mit der angeblichen Erklärung des Großen Werkes entziffert hätte.

»Ja, ich habe es entziffert und folglich auch gelesen; aber ich gebe es Ihnen zurück und versichere Ihnen auf mein Ehrenwort, daß ich keine Abschrift davon genommen habe; denn ich habe nichts Neues darin gefunden.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ohne den Schlüssel scheint mir dies unmöglich zu sein.«

»Soll ich Ihnen den Schlüssel nennen?«

»Ich bitte Sie darum.«

Ich nannte ihr das Wort, das keiner Sprache angehörte. Meine Marquise war völlig starr vor Erstaunen und rief: »Das ist zu viel! das ist zu viel! Ich glaubte allein im Besitz dieses geheimnisvollen Wortes zu sein; denn ich bewahre es nur in meinem Gedächtnis, habe es niemals niedergeschrieben und bin völlig sicher, es niemals einem Menschen mitgeteilt zu haben.«

Ich hätte ihr sagen können, daß die Berechnung, durch die ich das Manuskript entziffert hatte, mir natürlich auch den Schlüssel angegeben hätte; aber ich bekam den Einfall ihr zu sagen, ein Genius habe ihn mir enthüllt. Dieser Unsinn brachte eine sonst wirklich gelehrte und wirklich vernünftige Frau völlig unter meine Herrschaft. Wie dem auch sein möge, mein falsches Eingeständnis verlieh mir einen ungeheuren Einfluß auf Frau von Urfé; von diesem Augenblick an wurde ich der Herrscher ihrer Seele, und ich habe oft die Macht mißbraucht, die ich über sie hatte. Jetzt, da ich selber von den Illusionen zurückgekommen bin, die einst mein Leben begleiteten, denke ich nur noch errötend daran und büße dafür, indem ich mir die Verpflichtung auferlegt habe, in diesen Erinnerungen die volle Wahrheit zu sagen.

Die große Selbsttäuschung der guten Marquise bestand darin, daß sie fest an die Möglichkeit glaubte, mit den Genien, den sogenannten Elementargeistern, Verkehr haben zu können. Sie hätte all ihr Hab und Gut dafür gegeben, um dieses Ziel zu erreichen, und sie hatte schon mit Betrügern zu tun gehabt, die sie bereits durch die falsche Hoffnung getäuscht hatten, ihr zur Erfüllung ihres Wunsches behilflich sein zu können.

»Ich wußte nicht,« sagte sie zu mir, »daß Ihr Genius die Macht hat, den meinigen zur Enthüllung meiner Geheimnisse zu zwingen.«

»Es war nicht nötig, Ihren Genius zu etwas zu zwingen; denn mein Genius ist seiner Natur nach allwissend.«

»Weiß er auch, was ich als das größte Geheimnis in meiner Seele verschlossen halte?«

»Ohne Zweifel; und er muß es mir sagen, wenn ich ihn frage.«

»Können Sie ihn fragen, wann Sie wollen?«

»Immer; vorausgesetzt, daß ich Papier und Tinte habe. Ich kann ihn sogar durch Sie befragen lassen, indem ich Ihnen seinen Namen sage.«

»Und Sie würden ihn mir sagen?«

»Es steht in meiner Macht, gnädige Frau; und um Sie davon zu überzeugen, sage ich Ihnen hiermit: mein Genius heißt Paralis. Stellen Sie schriftlich eine Frage an ihn, wie an irgend einen beliebigen Menschen; fragen Sie ihn z. B., wie ich Ihr Manuskript habe entziffern können, und Sie werden sehen, wie ich ihn zwingen werde, Ihnen zu antworten.«

Vor Freude zitternd, stellt Frau von Urfé ihre Frage, schreibt sie in Zahlen nieder und bildet nach meiner Anweisung eine Pyramide. Ich lasse sie die Antwort finden, die sie selber in Buchstaben überträgt.

Zunächst erhielt sie nur Konsonanten; aber mittels einer zweiten Operation, die die Vokale gab, fand sie die Antwort in sehr klarer Form. Die höchste Überraschung malte sich auf ihren Zügen: sie hatte aus der Pyramide das Wort gezogen, das den Schlüssel zu ihrem Manuskript bildete. Als ich ging, nahm ich ihre Seele, ihr Herz, ihren Geist, und was ihr noch an gesundem Menschenverstand geblieben war, mit mir.

Sechstes Kapitel


Frau von Urfé macht sich irrtümliche und widerspruchsvolle Begriffe von meiner Gewalt. – Mein Bruder verheiratet sich; ich entwerfe an seinem Hochzeitstag einen neuen Plan. – Ich gehe im Auftrage der Regierung in Geldangelegenheiten nach Holland. – Der Jude Boas gibt mir eine Lehre. – Herr von Affry. – Esther. – Ein anderer Casanova. – Ich finde Teresa Imer wieder.

Der Prinz von Turenne war von den Blattern völlig genesen; Graf de la Tour-d’Auvergne hatte ihn daher wieder verlassen, und da er die Vorliebe seiner Tante für die abstrakten Wissenschaften kannte, so wunderte er sich nicht, daß ich bei ihr wie zu Hause war und ihr einziger Freund geworden war.

Ich sah ihn, wie überhaupt alle Verwandten der Marquise mit um so größerem Vergnügen als Tischgäste, da mich ihr edles Benehmen gegen mich entzückte. Es waren ihre Brüder, die Herren von Pont-carré und de Viarme, der soeben zum Vorsteher der Kaufmannschaft erwählt worden war, sowie dessen Sohn. Die Tochter der Marquise war, wie ich bereits erzählte, Frau du Châtelet; aber ein unglücklicher Prozeß hatte sie zu unversöhnlichen Feindinnen gemacht; ihr Name wurde niemals erwähnt.

Nachdem la Tour-d’Auvergne zu seinem Regiment hatte abgehen müssen, das in der Bretagne in Garnison lag, speisten die Marquise und ich fast alle Tage unter vier Augen, und ihre Leute sahen mich als ihren Mann an, obgleich dieses kaum denkbar erschien; aber sie glaubten es sich nur auf diese Weise erklären zu können, daß wir so lange Stunden miteinander verbrachten. Frau von Urfé hielt mich für reich und hatte sich in den Kopf gesetzt, ich hätte nur deshalb die Stellung bei der Lotterie angenommen, um unerkannt zu bleiben.

Nach ihrer Meinung besaß ich nicht nur den Stein der Weisen, sondern stand auch mit allen Elementargeistern in Verkehr. Sie zog daraus den ganz natürlichen Schluß, daß es nur von mir abhinge, die ganze Welt auf den Kopf zu stellen und Frankreich glücklich oder unglücklich zu machen. Daß ich inkognito bleiben mußte, erklärte sie sich aus meiner berechtigten Furcht, verhaftet und eingesperrt zu werden; denn dieses Schicksal mußte mir nach ihrer Meinung unfehlbar widerfahren, sobald der Minister erführe, wer ich in Wirklichkeit wäre. Diese Ungeheuerlichkeiten wurden ihr nachts von ihrem Genius offenbart; mit anderen Worten, es waren Träume ihrer erhitzten Phantasie, die ihr dann von ihrer betörten Vernunft als Wirklichkeiten dargestellt wurden. Auf den allereinfachsten Gedanken verfiel sie nicht – nämlich darauf, daß keine Macht der Erde mich hätte festhalten können, wenn ich wirklich die von ihr vermutete Gewalt gehabt hätte. Denn dann hätte ich ja alles vorausgesehen und gewußt; außerdem konnte meine Macht durch Schloß und Riegel nicht beschränkt werden, denn meine Kraft beruhte auf meinem Wissen, und dieses konnte kein Tyrann mir entreißen, ohne mich zu vernichten; mich zu vernichten aber mußte unmöglich sein, wenn mir die Macht der Geister zu Gebote stand. Alle diese Erwägungen waren ungeheuer einfach; aber Leidenschaft und Voreingenommenheit sind der Vernunft unzugänglich.

Bei einem unserer Gespräche sagte sie mir eines Tages allen Ernstes, ihr Genius habe sie überzeugt, daß ich ihr den Verkehr mit den Geistern nicht verschaffen könne, weil sie Weib sei; denn die Geister könnten nur mit Männern Verkehr pflegen, deren Natur weniger unvollkommen sei. Ich könne aber mittels einer Operation, die mir bekannt sei, ihre Seele in den Leib eines männlichen Kindes übergehen lassen, das aus der philosophischen Paarung eines Unsterblichen mit einer Sterblichen oder eines gewöhnlichen Mannes mit einem Weibe von göttlicher Art hervorgegangen sei.

Wenn ich geglaubt hätte, der Marquise ihren Irrtum benehmen und sie zu einem vernünftigen Gebrauch ihrer Kenntnisse und ihres Geistes zurücklenken zu können, so würde ich dies wahrscheinlich versucht haben, und dies wäre ein verdienstliches Wert gewesen; aber ich war überzeugt, daß ihre Betörung unheilbar war, und glaubte daher nichts Besseres tun zu können, als auf ihren verrückten Gedanken einzugehen und meinen Nutzen daraus zu ziehen.

Wenn ich ihr als anständiger Mensch gesagt hätte, alle ihre Ideen seien albern, so würde sie mir nicht geglaubt haben; sie hätte angenommen, ich wäre neidisch auf ihre Kenntnisse; und wenn sie mich auch darum nicht für weniger gelehrt gehalten haben würde, so hätte ich doch in ihren Augen eingebüßt. Hiervon überzeugt, wußte ich nichts Besseres zu tun, als die Sache ihren Gang gehen zu lassen.

Übrigens konnte ich mich in meinem Selbstgefühl nur geschmeichelt fühlen, daß eine berühmte Frau, die im Rufe bedeutender Kenntnisse stand, die mit den ersten Familien Frankreichs verwandt war, und außerdem aus ihren Wertpapieren ein noch höheres Einkommen hatte als die achtzigtausend Lires Rente, die ein herrliches Landgut und eine Anzahl schöner Häuser in Paris ihr eintrugen – daß eine solche Frau, sage ich, mich als den tiefsinnigsten Rosenkreuzer und als den Mächtigsten aller Sterblichen ansah. Ich wußte auf das bestimmteste, daß sie im Notfalle mir nichts hätte verweigern können; und obgleich ich keinen bestimmten Plan hatte, um mir ihre Reichtümer ganz oder zum Teil zunutze zu machen, so empfand ich doch ein gewisses Vergnügen bei dem Gedanken, daß es in meiner Macht stände, dies zu tun.

Trotz ihrem ungeheuren Vermögen und ihrem Glauben, daß sie Gold machen könne, war Frau von Urfé geizig; denn sie gab jährlich kaum dreißigtausend Franken aus und spielte mit ihren Ersparnissen, die mehr als das Doppelte betrugen, an der Börse. Ein Börsenmakler brachte ihr Staatspapiere, wenn diese niedrig standen, und verkaufte sie wieder für sie, wenn der Kurs stieg. Da sie in der Lage war abzuwarten und die günstigsten Augenblicke der Baisse und Hausse benutzen konnte, so hatte sie ein beträchtliches Vermögen in Papieren erworben.

Mehrere Male hatte sie gesagt, sie sei bereit, mir ihr ganzes Vermögen zu geben, um Mann zu werden, und sie wisse, daß dies nur von mir abhänge. Als sie eines Tages wieder in jenem Tone der Überzeugung, der so leicht ansteckt, mit mir darüber sprach, sagte ich ihr: ich müsse ihr gestehen, daß ich allerdings imstande sei, diese Operation zu vollziehen; ich könne mich aber nicht entschließen, sie an ihr vorzunehmen, weil ich zu diesem Zwecke genötigt sein würde, sie sterben zu lassen. Ich glaubte, diese Erklärung würde ihr die Lust benehmen, einen solchen Versuch zu machen; man stelle sich meine Überraschung vor, als ich sie sagen hörte: »Ich weiß es. Ich kenne sogar die Todesart, die mir beschieden sein würde, aber ich bin bereit.«

»Wirklich? Und was für eine Todesart wäre dieses?«

»Ich werde an demselben Gift sterben, woran Paracelsus starb.«

»Und glauben Sie, daß Paracelsus zur Hypostase gelangt ist?«

»Nein; aber ich weiß auch, warum nicht.«

»Wollen Sie mir dies wohl sagen?«

»Weil er weder Mannn noch Weib war und weil eine gemischte Natur die Hypostase ausschließt; man muß um diese zu erreichen ganz das eine oder das andere sein.«

»Das ist wahr. Aber wissen Sie, wie man dieses Gift bereitet? Wissen Sie, daß dies ohne Beihilfe eines Salamanders nicht möglich ist?«

»Das kann sein; ich wußte es nicht. Ich bitte Sie, die Kabbala zu befragen, ob es in Paris eine Person gibt, die dieses Gift besitzt.«

Ich konnte leicht erraten, daß sie im Besitze des Giftes zu sein glaubte; und ich ließ es ohne Zögern sie in der Antwort finden, die die Pyramide erteilte. Ich stellte mich erstaunt; sie aber sagte ganz stolz: »Sie sehen, es ist nur noch das Kind nötig, das das aus einem unsterblichen Geschöpf entsprossene männliche Verbum enthält. Ich habe die Belehrung empfangen, daß dieses nur von Ihnen abhängt, und ich glaube nicht, daß es Ihnen aus falschem Mitleid mit meinem alten Leichnam an dem nötigen Mut dazu fehlen kann.«

Bei diesen Worten stand ich auf und trat an das nach dem Quai hinausgehende Fenster ihres Zimmers; dort stand ich eine gute Viertelstunde und dachte über ihre Tollheit nach. Als ich wieder an den Tisch zurückkam, wo sie sitzen geblieben war, sah sie mich aufmerksam an und sagte ganz gerührt: »Ist es möglich, lieber Freund? Ich sehe. Sie haben geweint.«

Ich suchte ihr nicht ihren Irrtum zu benehmen, nahm meinen Degen und Hut und ging mit einem Seufzer hinaus. Ihr Wagen, der stets zu meiner Verfügung stand, hielt vor der Tür; ich stieg ein und fuhr auf den Boulevards spazieren, bis es Zeit war, ins Theater zu gehen; aber ich konnte mich nicht von dem Erstaunen erholen, in das diese außerordentliche Frau mich versetzt hatte.

Mein Bruder war nach der Ausstellung eines von allen Kennern bewunderten Schlachtenbildes einstimmig in die Malerakademie aufgenommen worden. Die Akademie kaufte das Bild für fünfhundert Louis.

Er hatte sich in Coralina verliebt und würde sie geheiratet haben, wenn sie ihm nicht untreu geworden wäre. Dies brachte ihn so sehr gegen sie auf, daß er acht Tage darauf, um ihr jede Hoffnung auf eine Aussöhnung zu benehmen, eine Figurantin vom Ballett der italienischen Komödie heiratete. Der Schatzmeister der geistlichen Pfründen, Herr von Sanci, richtete die Hochzeit aus; er hatte das Mädchen sehr gern, und aus Dankbarkeit für die gute Tat, die mein Bruder vollbrachte, indem er sie heiratete, verschaffte er ihm bei allen seinen Freunden Bestellungen auf Bilder; dadurch bahnte er ihm den Weg zu dem großen Vermögen und hohen Ansehen, die er sich erwarb.

Der Bankier Corneman war auf der Hochzeit meines Bruders; er beschäftigte sich viel mit mir und sprach unaufhörlich von dem großen Geldmangel. Er bat mich dringend, mit dem Generalkontrolleur zu sprechen, um Mittel zur Abhilfe ausfindig zu machen, und sagte mir: wenn man einer Vereinigung von Amsterdamer Kaufleuten königliche Papiere zu einem anständigen Preise gäbe, so könnte man dafür Papiere irgend eines anderen Staates nehmen, dessen Kredit weniger erschüttert wäre als der französische; solche Papiere würden dann leicht zu verkaufen sein. Ich bat ihn, mit keinem anderen Menschen über die Sache zu sprechen, und versprach ihm, mich zu bemühen.

Der Gedanke hatte mir eingeleuchtet, und ich beschäftigte mich die ganze Nacht damit. Schon am nächsten Tage begab ich mich nach dem Palais Bourbon, um mit Herrn von Bernis darüber zu sprechen. Er fand die Idee ausgezeichnet und riet mir, mit einem Empfehlungsbrief des Herzogs von Choiseul an den Gesandten im Haag, Herrn d’Affry, nach Holland zu reisen; man könnte diesem einige Millionen in königlichen Staatspapieren überweisen, um sie in bares Geld umzusetzen, wenn es mir gelänge, günstige Bedingungen zu erlangen. Er forderte mich auf, mich zunächst mit Herrn de Boulogne zu beraten, jedoch vor allen Dingen mit Zuversicht aufzutreten. »Sobald Sie nur kein Geld zum voraus verlangen, wird man Ihnen so viele Empfehlungsbriefe geben, wie Sie nur wünschen können.«

Diese Unterredung stieg mir in den Kopf; noch am gleichen Tage suchte ich den Generalkontrolleur auf, der meinen Plan sehr gut fand und mir sagte, der Herzog von Choiseul würde am nächsten Tage im Invalidenhause sein; ich müßte ihn unverzüglich aufsuchen und ihm einen Brief übergeben, den er schreiben würde. »Ich werde unverzüglich für zwanzig Millionen Schatzanweisungen an unseren Gesandten schicken; sollte Ihr Unternehmen nicht den erhofften Erfolg haben, so wird er diese Papiere nach Frankreich zurücksenden.«

»Er wird sie nicht zurückschicken, wenn man sich mit einem anständigen Preise begnügt.«

»Der Friede wird geschlossen werden, das ist sicher; daher dürfen Sie die Papiere auch nur mit einem sehr geringen Verlust abgeben. Doch über diesen Punkt werden Sie sich mit dem Botschafter verständigen, der von uns alle erforderlichen Weisungen erhalten wird.«

Ich fühlte mich von diesem Auftrag so geschmeichelt, daß ich die ganze Nacht vor Nachdenken nicht schlafen konnte. Ich ging ins Invalidenhaus, und Herr von Choiseul, der ja wegen seiner schnellen Entschlüsse berühmt war, hatte kaum den Brief des Herrn von Boulogne gelesen und sich einige Minuten mit mir über die Sache unterhalten, so ließ er einen Brief an Herrn d’Affro aufsetzen, den er las und unterzeichnete, ohne mir von dem Inhalt Kenntnis zu geben. Sobald der Brief versiegelt war, übergab er ihn mir und wünschte mir glückliche Reise.

Ich beeilte mich, mir von Herrn von Berkenrode einen Paß ausstellen zu lassen, und verabschiedete mich an demselben Tage von Frau Baletti und allen meinen Freunden, außer der Marquise d’Urfé, mit der ich den ganzen nächsten Tag verbringen sollte. Ferner gab ich meinem treuen Geschäftsführer Vollmacht, alle Lose meines Lotteriebureaus zu unterzeichnen.

Etwa einen Monat vorher hatte ein sehr hübsches und anständiges Mädchen aus Brüssel sich unter meiner Protektion mit einem italienischen Bildertrödler, namens Gaetano, verheiratet. Dieser eifersüchtige rohe Mensch mißhandelte sie ohne Sinn und ohne Verstand, und die reizende unglückliche Frau kam daher jeden Augenblick zu mir und beklagte sich. Ich hatte sie mehrere Male miteinander versöhnt und war gewissermaßen ihr Mittelsmann. Gerade an dem Tage, an dem ich meine Vorbereitungen zur holländischen Reise traf, kamen sie zu mir und luden sich bei mir zum Essen ein. Mein Bruder und Tiretta waren zufällig bei mir, und da ich noch immer als Junggeselle lebte, so nahm ich sie alle zu Laudel mit, wo man ausgezeichnet aß. Tiretta hatte seinen eigenen Wagen; er ruinierte seine Exjansenistin, die immer noch über alle Maßen in ihn verliebt war.

Tiretta, der ein hübscher, lustiger Junge war und gerne einen Spaß machte, fing während des Essens an, mit der schönen Vlamin, die er zum erstenmal sah, zu kokettieren. Die gute Kleine dachte sich nichts Böses dabei und ging darauf ein; wir alle hätten darüber gelacht und alles wäre vortrefflich gegangen, wenn der Ehemann vernünftig und höflich gewesen wäre; aber der Unglückselige war eifersüchtig wie ein Tiger und schwitzte vor Wut. Er aß nicht, wechselte zehnmal in einer Minute die Farbe und warf seiner armen Frau fürchterliche Blicke zu, die ihr andeuten sollten, daß er keinen Spaß verstände. Zur Vervollständigung seines Unglücks trieb Tiretta auch noch seinen Spaß mit ihm. Ich sah voraus, daß es zu unangenehmen Auftritten kommen würde, und suchte seine Heiterkeit und seine Spottlust zu mäßigen; aber vergebens. Eine Auster fiel auf den schönen Busen der Frau Gaetano, und Tiretta, der neben ihr saß, schlürfte sie schnell und gewandt mit seinen Lippen fort. Wütend sprang Gaetano auf und versetzte seiner Frau eine so kräftige Ohrfeige, daß seine Hand nicht nur ihre Wange, sondern auch die ihres Nachbarn berührte. Nun wurde auch Tiretta wütend; er sprang auf, packte den Eifersüchtigen um den Leib und warf ihn zu Boden. Gaetano, der keine Waffe hatte, stieß mit Händen und Füßen um sich; wir ließen ihn machen, weil er uns nicht treffen konnte. Als der Kellner hinzukam, warfen wir den Flegel hinaus, um der Sache ein Ende zu machen.

Seine Frau weinte bittere Tränen; sie blutete, wie auch Tiretta, aus der Nase und bat mich, sie irgendwo unterzubringen; denn sie fürchtete für ihr Leben, wenn sie zu ihrem Mann zurückkehrte. Ich ließ Tiretta und meinen Bruder zurück, stieg mit ihr in einen Fiaker und begleitete sie auf ihren Wunsch zu einem Verwandten, einem alten Sachwalter, der am Quai de Gèvres im vierten Stock eines sechsstöckigen Hauses wohnte. Der brave Mann empfing uns höflich, ließ sich die Geschichte erzählen und sagte: »Arm wie ich bin, kann ich leider für die Unglückliche nichts tun; aber wenn ich nur hundert Taler hätte, so würde ich alles in Ordnung bringen.«

»Darauf soll es nicht ankommen«, sagte ich, zog dreihundert Franken aus der Tasche und gab sie ihm.

»Hiermit, mein Herr, werde ich den Ehemann zu Grunde richten; es wird ihm niemals gelingen, zu erfahren, wo seine Frau ist.«

Die Frau versicherte mir, der Alte werde sein Versprechen halten. Nachdem sie mich ihrer Dankbarkeit versichert hatte, verließ ich sie.

Wenn ich wieder von meiner Reise zurück bin, wird der Leser erfahren, was aus ihr wurde.

Als ich der Marquise d’Urfé mitteilte, daß ich im Interesse Frankreichs nach Holland ginge und in den ersten Tagen des Februars wieder zurück sein würde, bat sie mich, mehrere Aktien der Indischen Kompagnie von Gotenburg mitzunehmen und für sie zu verkaufen. Sie besaß Aktien im Werte von sechzigtausend Franken, die sie an der Pariser Börse nicht verkaufen konnte, weil dort kein Geld war. Außerdem wollte man ihr die Zinsen nicht mitbezahlen, und diese waren beträchtlich, denn seit drei Jahren war keine Dividende bezahlt worden.

Da ich einverstanden war, ihr diesen Dienst zu leisten, so mußte sie mich zum Inhaber und sogar durch einen Verkaufsvertrag zum Eigentümer dieser Aktien machen; dies tat sie noch am gleichen Tage durch Erklärung vor einem Notar, zu dem wir uns zusammen begaben.

In ihre Wohnung zurückgekehrt, wollte ich ihr eine Bescheinigung ausstellen, wodurch ich ihr das Eigentum an diesen Papieren sicherte und mich verpflichtete, bei meiner Umkehr nach Frankreich ihr den Wert zu übergeben; aber hiervon wollte sie nichts wissen, denn sie war fest von meiner Ehrlichkeit überzeugt.

Ich ging zu Herrn Corneman, der mir einen Wechsel von dreitausend Gulden für den israelitischen Hofbankier Boas im Haag gab. Hierauf reiste ich ab. In zwei Tagen kam ich nach Antwerpen, wo ich eine segelfertige Jacht fand; ich schiffte mich ein und schlief am nächsten Tage in Rotterdam. Den Tag darauf begab ich mich nach dem Haag, wo ich im »Englischen Hof« abstieg und mich sodann Herrn d’Affry vorstellte. Als ich ankam, las er gerade den Brief von Herrn de Choiseul, der ihn von dem mir erteilten Auftrag unterrichtete. Er behielt mich zum Essen da, an welchem auch Herr von Kauderbach, der Resident des Königs von Polen und Kurfürsten von Sachsen, teilnahm. Er forderte mich auf, mir die größte Mühe zu geben, sagte mir jedoch, daß er am Erfolg zweifle, weil die Holländer aus guten Gründen glaubten, daß der Friede nicht so bald geschlossen werden würde.

Von der Wohnung des Gesandten ließ ich mich zu Boas führen, den ich bei Tische im Kreise seiner zahlreichen und häßlichen Familie fand. Er las meinen Brief und sagte mir, er habe soeben auch von Herrn Corneman empfangen, der sich sehr lobend über mich ausspreche. Er sagte mir im Scherz, da es Weihnachtsabend wäre, würde ich ohne Zweifel das Jesuskindlein wiegen wollen; aber ich antwortete ihm, ich sei gekommen, um mit ihm das Fest der Makkabäer zu feiern; diese Bemerkung fand den Beifall der ganzen Familie, und er lud mich ein, ein Zimmer in seinem Hause anzunehmen. Ich nahm sein Anerbieten ohne Zögern an und sagte meinem Lakai, er solle mein Gepäck zum Bankier bringen lassen. Ehe ich ging, bat ich ihn noch, während der paar Tage, die ich in Holland zu bleiben gedächte, mich bei irgend einem guten Geschäft so etwa zwanzigtausend Gulden verdienen zu lassen.

Er nahm die Sache ernst und antwortete mir, er wolle daran denken; die Sache sei sehr wohl möglich.

Am anderen Morgen nach dem Frühstück sagte Boas zu mir: »Ich habe das gewünschte Geschäft für Sie; kommen Sie mit, ich will darüber mit Ihnen sprechen.«

Er ging mit mir in sein Arbeitszimmer, wo er mir dreitausend Gulden in Gold und Wechseln auszahlte; dann sagte er, es läge nur an mir, binnen acht Tagen die bewußten zwanzigtausend Gulden zu verdienen.

Ich war sehr überrascht über die Leichtigkeit, womit man in Holland Geld verdient, denn ich hatte mir mit dem Juden nur einen Spaß machen wollen; ich dankte ihm für diesen Beweis des Wohlwollens und hörte ihm zu.

»Hier sehen Sie«, begann Boas, »eine Mitteilung, die ich vorgestern von der Münze erhielt. Man meldet mir, daß man vierhunderttausend Dukaten frisch geprägt hat und bereit ist, sie zum laufenden Preise des Goldes zu verkaufen, der glücklicherweise augenblicklich nicht hoch ist. Jeder Dukaten ist fünf Gulden und zwei und drei Fünftel Stüber wert. Hier ist der Wechselkurs auf Frankfurt am Main. Kaufen Sie die vierhunderttausend Dukaten, bringen oder schicken Sie sie nach Frankfurt, nehmen Sie dort Wechsel nach Amsterdam und Ihr Geschäft ist gemacht. Sie verdienen an jedem Dukaten ein und ein Neuntel Stüber, das macht 22 222 holländische Gulden. Sichern Sie sich die Dukaten noch heute; in acht Tagen haben Sie Ihren Gewinn flüssig. Da haben Sie, was Sie wünschen.«

Ich war ein wenig erstaunt und sagte zu ihm: »Aber werden denn die Herren von der Münze nicht einige Schwierigkeiten machen, mir eine solche Summe anzuvertrauen, die mehr als vier Millionen Livres Tournois beträgt?«

»Das werden sie natürlich tun, wenn Sie nicht gegen bar kaufen oder den Betrag in guten Papieren hinterlegen.«

«Ich besitze, mein werter Herr, weder so viel Geld noch so viel Kredit.«

»In diesem Falle werden Sie niemals zwanzigtausend Gulden in acht Tagen verdienen. Nach der Bemerkung, die Sie gestern machten, habe ich Sie für einen Millionär gehalten.«

»Es tut mir wirklich sehr leid, daß Sie sich geirrt haben.«

»Ich werde das Geschäft noch heute von einem meiner Kinder machen lassen.«

Nachdem Herr Boas mir diese etwas derbe Lektion gegeben hatte, ging er in sein Kontor, und ich ging auf mein Zimmer, um mich umzukleiden.

Herr d’Affry war in den englischen Hof gegangen, um mir einen Besuch zu machen; da er mich nicht gefunden hatte, schrieb er mir ein Briefchen und bat mich bei ihm vorzusprechen. Ich ging hin; er behielt mich zum Essen und teilte mir einen soeben erhaltenen Brief des Herrn de Boulogne mit. Dieser beauftragte ihn, mich die zwanzig Millionen nur mit einem Verlust von höchstens acht Prozent hergeben zu lassen, weil der Friede, so schrieb er, unmittelbar vor dem Abschluß stände. Wir lachten beide über diese scherzhafte Versicherung eines Pariser Verwaltungsbeamten, während wir in einem Lande, wo das Interesse den Blick für die Staatsangelegenheiten schärfte, das Gegenteil erfuhren.

Als Herr d’Affry erfuhr, daß ich bei einem Israeliten wohnte, riet er mir, mich nicht mit Juden einzulassen; »denn«, sagte er, »im Handel ist der ehrlichste Jude nur der geringste Betrüger. Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen eine Empfehlung an Herrn Pels in Amsterdam geben.« Dies nahm ich dankbar an. In der Hoffnung, mir beim Verkauf meiner Gotenburger Aktien behilflich sein zu können, stellte er mich dem schwedischen Gesandten vor, der mir eine Empfehlung an Herrn d’O. gab.

Da ich die große Freimaurerversammlung am Johannes-Winterfest mitmachen wollte, so blieb ich bis zum Tage nach den Festen.

Graf Tott, den ich im Haag traf, ein Bruder des Barons, der sein Glück im Serail verfehlte, führte mich ein. Es war mir sehr angenehm, diese Versammlung mitzumachen, zu der sich die Auslese der besten Gesellschaft von ganz Holland eingefunden hatte.

Herr d’Affry stellte mich der Regentin vor, der Mutter des Statthalters, der erst zwölf Jahre alt war und den ich viel zu ernst für sein Alter fand. Die Mutter war eine sehr ehrenwerte und sehr leidende gute Frau; sie schlief beim Sprechen jeden Augenblick ein. Sie starb bald darauf, und als man die Leiche öffnete, fand man, daß sie die Gehirnwassersucht hatte, wodurch jedenfalls ihre große Schlafsucht veranlaßt worden war. Ich fand bei der hohen Dame den Grafen Philipp von Zinzendorf, der für die Kaiserin zwölf Millionen suchte, die er ohne Mühe zu fünf Prozent Zinsen fand. Im Theater saß ich neben dem türkischen Gesandten, der Herrn de Bonneval gekannt hatte. Ich glaubte, er würde sich totlachen, und das ging folgendermaßen zu:

Man gab Iphigenie, das schöne Meisterwerk Racines. Mitten auf der Bühne stand die Statue der Diana. Am Ende eines Aktes ging Iphigenie mit ihren Priesterinnen hinaus, und als sie an dem Bilde der Göttin vorüberkamen, machten alle eine tiefe Verbeugung. Der Lampenputzer, ein guter holländischer Christ und vielleicht ein Spaßvogel, kam einen Augenblick darauf und machte der Bildsäule dieselbe Verbeugung. Hierüber erfreuten sich Parkett und Logen, und von allen Seiten des Theaters erscholl lautes Gelächter. Ich mußte dem Türken den Anlaß der Heiterkeit erklären, und er wurde darüber von einem solchen Lachkrampf ergriffen, daß ich glaubte, er würde platzen. Man mußte ihn fast besinnungslos, aber fortwährend lachend, hinaustragen und in seinen Gasthof schaffen.

Ich gebe zu, es wäre vielleicht ein Zeichen von Dummheit gewesen, bei dem plumpen Spaß des Holländers vollkommen gleichgültig zu bleiben; aber nur ein Türke konnte darüber dermaßen lachen. Man könnte freilich mir vielleicht einwenden, daß ein großer griechischer Philosoph vor Lachen gestorben ist, als er ein zahnloses altes Weib Feigen essen sah. Hierauf würde ich antworten, daß zwischen einem Türken und einem Griechen, und besonders einem Griechen des Altertums, ein ungeheurer Unterschied ist. Wer viel lacht, ist glücklicher als einer, der gar nicht lacht; denn das Lachen erschüttert das Zwerchfell und wirkt günstig auf das Blut; aber ein jedes Ding will seine Zeit und alles muß mit Maß und Ziel geschehen.

Ich fuhr in einem zweiräderigen Postwagen mit meinem Bedienten nach Amsterdam. Zwei Meilen vor der Stadt begegneten wir einem vierräderigen Wagen, der wie der meinige mit zwei Pferden bespannt war, und worin ein schöner junger Mann mit seinem Bedienten saß. Der Kutscher dieses Wagens rief dem meinigen zu, er solle ausweichen; mein Kutscher aber erwiderte, er könne dies nicht tun, weil er Gefahr laufe, mich in den Graben zu werfen. Der andere bestand jedoch auf seinem Verlangen. Ich wandte mich an den Herrn und bat ihn, seinem Kutscher zu befehlen, daß er mir ausweiche. »Ich fahre mit der Post, mein Herr; außerdem bin ich ein Fremder.«

»Mein Herr,« erwiderte jener, »wir in Holland erkennen kein Postrecht an, und wenn Sie Fremder sind, so müssen Sie doch zugeben daß Sie weniger Rechte haben als ich, da ich mich in meinem Lande befinde.«

Das Blut schoß mir ins Gesicht; ich öffnete mit der einen Hand den Wagenschlag, während ich mit der anderen den Degen ergriff, sprang in den knietiefen Schnee, zog blank und forderte den sonderbaren Holländer auf, mir Platz zu machen oder sich zu verteidigen.

Er war ruhiger als ich und antwortete mir lächelnd, wegen einer so lächerlichen Ursache schlage er sich nicht; ich könne wieder einsteigen, er werde mir Platz machen. Der sichere, aber freundliche Ton des jungen Mannes hatte etwas an sich, was meine Teilnahme erregte. Ich stieg wieder in meinen Wagen und kam mit Einbruch der Nacht in Amsterdam an, wo ich im »Morgenstern«, einem ausgezeichneten Gasthofe, abstieg. Am nächsten Morgen ging ich auf die Börse, wo ich Herrn Pels fand, der mir sagte, er wolle sich meinen Vorschlag überlegen. In demselben Augenblick kam Herr d’O. dazu, der mich mit einem Kaufmann aus Gotenburg bekannt machte. Dieser erbot sich, mir meine sechzehn Obligationen mit zwölf Prozent Zinsen zu diskontieren; Herr Pels sagte mir jedoch, ich möchte warten, und versprach mir, mir fünfzehn zu verschaffen. Er lud mich zum Essen ein, und als er sah, daß ich seinen Kapwein ausgezeichnet fand, sagte er mir lachend, er mache ihn selber, indem er Bordeauxwein mit Malaga mische.

Da Herr d’O. mich für den nächsten Tag eingeladen hatte, begab ich mich zu ihm und fand ihn mit seiner Tochter Esther, einem jungen Mädchen von vierzehn Jahren, die für ihr Alter sehr reif entwickelt und eine vollkommene Schönheit war, abgesehen von ihren Zähnen, welche unregelmäßig standen. Herr d’O. war Witwer und hatte nur diese Tochter, so daß Esther die Erbin eines ungeheuren Vermögens war. Ihr Vater, ein ausgezeichneter und sehr liebenswürdiger Mann, liebte sie abgöttisch, und sie verdiente es. Esther hatte eine sehr weiße, leicht gerötete Haut, ebenholzschwarzes Haar und die schönsten Augen, die man sich denken kann. Sie bezauberte mich. Ihr Vater hatte ihr eine glänzende Erziehung geben lassen; sie sprach tadellos französisch, spielte ausgezeichnet Klavier und las leidenschaftlich gern.

Nach dem Essen zeigte Herr d’O. mir den unbewohnten Teil seines Hauses; denn seit dem Tode seiner immer noch geliebten Frau bewohnte er nur das sehr bequem eingerichtete Erdgeschoß. Er zeigte mir mehrere Zimmer, wo er einen wahren Schatz von altem Porzellan verwahrte. Wände und Fensterrahmen waren mit Marmortafeln verkleidet, jedes Zimmer von verschiedener Farbe, und die Fußböden, die mit herrlichen Perser Teppichen bedeckt waren, bestanden aus Mosaik. Der sehr große Speisesaal war ganz mit Alabaster bekleidet; die Tische und Kredenzschränke waren von Zedernholz. Das ganze Haus glich einem Marmorblock; denn das Äußere war ebenso wie das Innere damit bekleidet; es mußte ungeheure Summen gekostet haben. Am Sonnabend standen ein halbes Dutzend Mägde auf Leitern und wuschen die prachtvollen Mauern. Da diese Mädchen große Reifröcke trugen, mußten sie Hosen anziehen, denn sonst würden sich die neugierigen Vorübergehenden zu sehr für sie interessiert haben.

Nachdem wir das Haus besichtigt hatten, gingen wir hinunter, und Herr d’O. ließ mich in dem Vorzimmer, wo er sonst mit seinen Schreibern arbeitete, mit Esther allein; an jenem Tage war niemand anwesend, weil Neujahrstag war.

Nachdem sie mir eine Sonate auf dem Klavier vorgespielt hatte, fragte Fräulein d’O. mich, ob ich ins Konzert gehen würde. Ich antwortete ihr: da ich das Glück habe, bei ihr zu weilen, so könne das Konzert mich nicht anziehen. »Aber Sie, mein Fräulein, gedenken Sie hinzugehen?«

»Ich würde es sehr gern besuchen, aber ich kann nicht allein gehen.«

»Wenn ich es wagen dürfte, Ihnen meine Begleitung anzubieten …aber ich darf ja nicht hoffen, daß Sie dies annehmen würden.«

»Sie würden mir das größte Vergnügen machen. Und wenn Sie meinen Vater um Erlaubnis bäten, so bin ich fest überzeugt, er würde sie Ihnen nicht abschlagen.«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Vollkommen; denn da er Sie kennt, würde ein abschlägiger Bescheid eine Unhöflichkeit sein, und einer solchen ist mein Vater nicht fähig. Aber ich sehe. Sie kennen unsere Landessitten nicht.«

»Das muß ich zugeben.«

»Die jungen Mädchen genießen hier einer großen Freiheit; sie verlieren diese erst mit ihrer Verheiratung, Kommen Sie mit, Sie werden sehen.«

Mir war unbehaglich zu Mute. Indessen eilte ich sofort zu Herrn d’O. und trug ihm mein Anliegen vor, wobei ich innerlich vor Furcht zitterte, er könnte es mir abschlagen.

»Haben Sie einen Wagen?«

»Jawohl.«

»So brauche ich also nicht anspannen zu lassen, Esther!«

»Lieber Vater!«

»Zieh dich an, liebes Kind. Herr Casanova will die Freundlichkeit haben, dich ins Konzert zu führen.«

»Das ist sehr liebenswürdig. Ich danke Ihnen, mein guter Papa.«

Sie umarmte ihn und eilte hinaus, um sich umzukleiden. Nach einer Stunde erschien sie wieder, schön wie die Freude, die sich in allen ihren Zügen aussprach. Ich hätte sie gerne ein wenig gepudert gesehen; aber Esther war stolz auf das Ebenholzschwarz ihrer herrlichen Haare, die die Weiße ihrer Haut wundervoll zur Geltung brachten. Hauptsächlich um den Männern zu gefallen, legen die Frauen Wert auf eine sorgfältige Toilette; aber wie schlecht wissen die Männer im allgemeinen die Wirkung eines schönen Kleides zu beurteilen, im Vergleich zu dem angeborenen Geschmack der meisten Frauen!

Ein Spitzentuch von höchster Schönheit verschleierte einen Alabasterbusen, bei dessen Anblick mir das Herz klopfte.

Wir gingen hinunter; ich reichte ihr die Hand, um ihr beim Einsteigen in den Wagen zu helfen, und blieb stehen, weil ich glaubte, eine Kammerzofe oder Anstandsdame werde ihr folgen; als ich aber niemanden sah, stieg ich ebenfalls ein, und nachdem der Bediente den Wagenschlag geschlossen hatte, fuhren wir ab. Ich war ganz starr! Ein solcher Schatz allein mit mir! Ich war kaum imstande, einen Gedanken zu fassen. Ich fragte mich, ob ich mich erinnern solle, daß ich ein ausgemachter Wüstling sei, oder ob die Ehre von mir verlange, dies zu vergessen. Esther sagte mir fröhlich, wir würden eine Italienerin hören, die eine köstliche Stimme hätte; und als sie meine Einsilbigkeit bemerkte, fragte sie mich nach der Ursache. Ich wußte nicht, was ich ihr sagen sollte, und machte Ausflüchte; schließlich aber sagte ich ihr, sie erschiene mir als ein Schatz, dessen Hüter zu sein ich mich nicht würdig fühlte.

»Ich weiß, daß man sonst überall ein junges Mädchen nicht allein mit einem jungen Mann ausgehen läßt; aber hier in Holland lehrt man uns tugendhaft zu sein und uns selber zu beschützen.«

»Glücklich der Sterbliche, dem die Sorge für Ihr Glück zufallen wird! Und dreimal glücklich, wenn Sie Ihre Wahl schon getroffen haben!«

»Nicht an mir ist es, diese Wahl zu treffen; dies geht meinem Vater an.«

»Und wenn der, den er für Sie auswählt. Ihnen nicht gefällt, oder wenn Sie einen anderen lieben?«

»Es ist nicht erlaubt, einen Mann zu lieben, bevor man weiß, ob er der bestimmte Gatte sein wird.«

»Sie lieben also niemanden?«

»Nein, ich habe noch nicht das Bedürfnis gefühlt.«

»Ich kann Ihnen also die Hand küssen.«

»Warum nur die Hand?«

Sie zog ihre Hand zurück und bot mir ihre köstlichen Lippen. Ich erhielt einen Kuß, den sie mir in aller Bescheidenheit gab, der mir aber ins Herz drang. Meine Freude wurde allerdings ein wenig herabgestimmt, als sie mir sagte, sie würde auf meinen Wunsch dasselbe in Gegenwart ihres Vaters tun.

Im Konzertsaal fand Esther eine Menge junger Freundinnen, lauter Töchter reicher Kaufleute, die einen hübsch, die anderen häßlich, alle aber neugierig zu erfahren, wer ich sei. Die schöne Esther, die weiter nichts als meinen Namen wußte, konnte keine befriedigende Antwort geben. Plötzlich bemerkte sie in einiger Entfernung ein blondes junges Mädchen; sie machte mich auf sie aufmerksam und fragte mich, wie ich sie fände. Natürlich antwortete ich ihr, ich möchte die Blonden nicht.

»Trotzdem will ich Sie ihr vorstellen, denn möglicherweise ist sie Ihre Verwandte. Sie heißt wie Sie; der Herr dort ist ihr Vater. – »Herr Casanova,« sagte sie zu einem Herrn, »ich stelle Ihnen Herrn Casanova, einen Freund meines Vaters, vor.«

»Ist es möglich? Mein Herr, ich möchte wohl, Sie wären der meinige, denn wir sind vielleicht Verwandte. Ich stamme aus der neapolitanischen Familie.«

»Dann sind wir also Verwandte, obgleich nur entfernte; denn mein Vater war aus Parma. Haben Sie Ihren Stammbaum?«

»Ich werde ihn wohl haben; aber ich lege offen gestanden keinen besonderen Wert darauf. Die Münze törichten Geburtsstolzes hat in einer Kaufmannsrepublik keinen hohen Kurs.«

»Für vernünftige Leute ist es allerdings etwas sehr Nichtiges; aber trotzdem können wir uns wohl eine Viertelstunde unterhalten, nicht um damit zu prunken, sondern um nachher darüber zu lachen.«

»Nun gewiß, gern!«

»Ich werde die Ehre haben. Ihnen morgen einen Besuch zu machen, und werde Ihnen meine Ahnenreihe mitbringen. Würde es Ihnen unlieb sein, darin die Wurzel Ihres Stammbaumes zu finden?«

»Im Gegenteil, es würde mir Vergnügen machen. Ich werde selber die Ehre haben, morgen bei Ihnen vorzusprechen. Dürfte ich Sie fragen, ob Sie zu Hause ein Geschäft haben?«

»Nein, ich bin bei den Finanzen angestellt und diene der französischen Regierung. Ich bin an Herrn Pels empfohlen.«

Herr Casanova winkte nun seiner Tochter und stellte sie mir vor. Sie war eng befreundet mit meiner reizenden Esther; ich setzte mich zwischen die beiden, und das Konzert begann.

Nach einer schönen Symphonie, einem Violin- und einem Oboen-Konzert erschien die viel gerühmte Italienerin, die man Madame Trenti nannte. Man stelle sich meine Überraschung vor, als ich Teresa Imer erkannte, die Frau des Tänzers Pompeati, deren der Leser sich wohl noch erinnert. Ich hatte sie vor achtzehn Jahren kennen gelernt, und damals hatte der alte Senator Malipiero mir Stockschläge gegeben, weil wir kindliche Spiele miteinander getrieben hatten. Im Jahre 1753 hatte ich sie in Venedig wiedergesehen, und damals hatten wir uns ein bißchen ernsthafter belustigt. Sie war dann nach Bayreuth gereist, wo sie die Maitresse des Markgrafen war. Ich hatte ihr versprochen, sie zu besuchen, aber C. C. und meine schöne Nonne M. M. hatten mir weder Zeit noch Lust dazu gelassen. Da ich bald nachher unter die Bleidächer kam, so hatte ich an andere Sachen zu denken gehabt, als an mein Versprechen.

Ich wußte mich zu beherrschen und ließ mir meine Überraschung nicht merken. Sie sang mit einer Engelsstimme eine Arie, die mit den Worten begann:

Ecoti giunta alfiu, donna infelice!
So bist du endlich da, unseliges Weib!

– Worte, die eigens für die Gelegenheit gemacht zu sein schienen.

Der Beifall wollte nicht enden. Esther erzählte mir, man wisse nicht, wer sie sei, aber man behaupte, sie habe eine berühmte Vergangenheit und befinde sich in sehr schlechten Umständen. »Sie bereist die holländischen Städte, singt in allen öffentlichen Konzerten und bekommt weiter nichts, als was die Zuhörer ihr auf den Teller legen, mit welchem sie zwischen den Sitzreihen herumgeht.«

»Findet sie ihre Einnahme leidlich?«

»Das bezweifle ich, denn alle haben schon das Eintrittsgeld bezahlt. Wenn sie dreißig oder vierzig Gulden einnimmt, so ist es viel, übermorgen wird sie im Haag sein, den Tag darauf in Rotterdam, darauf kehrt sie wieder hierher zurück. Seit mehr als sechs Monaten führt sie dieses Leben, und man hört sie stets wieder mit Vergnügen.«

»Hat sie einen Liebhaber?«

»Man behauptet, sie habe junge Leute in allen drei Städten; aber diese Geliebten bereichern sie nicht, sondern machen sie arm. Sie geht stets in schwarz, nicht nur weil sie Witwe ist, sondern auch wegen eines großen Kummers, den sie nach ihrer Behauptung gehabt hat. Sie werden sie bald durch die Reihen gehen sehen.«

Ich zog meine Börse und zählte in meinem Muff zwölf Dukaten ab, die ich in Papier wickelte. Dabei klopfte mir das Herz auf eine Weise, die lächerlich war; denn ich sah keinen Anlaß zu irgend welcher Aufregung.

Als Teresa an der Reihe vor der unserigen vorüberkam, heftete ich einen Augenblick meine Blicke auf sie und bemerkte, daß sie mich überrascht ansah. Ich wandte unauffällig den Kopf ab, um etwas zu Esther zu sagen. Als sie vor mir stand, legte ich ohne sie anzusehen mein Goldröllchen auf ihren Teller, und sie ging vorüber. Ein kleines Mädchen von vier bis fünf Jahren folgte ihr und kam, als sie am Ende der Reihe waren, zurück, um mir die Hand zu küssen. Ich konnte nicht verkennen, daß es mein Ebenbild war; aber ich verbarg das Gefühl, das ich empfand. Die Kleine stand unbeweglich vor mir und sah mich fest an. Ich war beinahe in Verlegenheit und fragte sie: »Willst du Zuckerplätzchen, mein schönes Kind?« Mit diesen Worten gab ich ihr meine Bonbonniere, die ich gerne hätte in Gold verwandeln mögen. Die Kleine nahm sie mit anmutigem Lächeln, machte mir einen Knix und ging.

»Wissen Sie auch, Herr Casanova,« sagte Esther lächelnd zu mir, »daß dieses Kind Ihnen ähnelt, wie ein Tropfen Wasser dem anderen?«

»Das ist wahr,« sagte nun auch Fräulein Casanova, »die Ähnlichkeit ist auffallend.«

»Der Zufall bringt oft ohne jeden Grund Ähnlichkeiten hervor.«

»Das ist möglich,« sagte Esther boshaft; »aber Sie erkennen doch die Tatsache als richtig an?«

»Ich bin selber überrascht gewesen, obgleich ich über die Ähnlichkeit nicht so gut urteilen kann wie Sie.«

Nach dem Konzert übergab ich Herrn d’O., der sich ebenfalls eingefunden hatte, seine Tochter und ging in meinen Gasthof. Ich wollte vor dem Schlafengehen noch eine Schüssel Austern essen, als plötzlich Teresa, ihre Kleine an der Hand haltend, vor mir stand. Obgleich ich ihren Besuch nicht am selben Abend erwartet hatte, war ich doch nicht überrascht, sie zu sehen. Natürlich stand ich auf, um sie willkommen zu heißen und zu umarmen, als sie plötzlich ohnmächtig auf ein Sofa sank. Ihre Ohnmacht konnte echt sein; jedenfalls tat ich, was die Umstände erheischten: ich brachte sie wieder zum Bewußtsein, indem ich sie mit frischem Wasser bespritzte und sie an Lucienwasser riechen ließ. Als sie wieder zu sich gekommen war, sah sie mich an, ohne ein Wort zu sprechen. Ihr Schweigen wurde mir unangenehm, und ich fragte sie, ob sie zu Nacht speisen wolle. Sie bejahte, ich klingelte und bestellte drei Gedecke und ein gutes Abendessen. Wir saßen bis sieben Uhr morgens bei Tische und erzählten uns unsere Glücks- und Unglücksfälle. Sie kannte meine letzten Abenteuer zum größten Teil; ich wußte von den ihrigen gar nichts, und sie brauchte fünf oder sechs Stunden, um sie mir zu erzählen.

Sophie, so hieß die Kleine, schlief bis zum Morgen fest in meinem Bette; ihre Mutter sparte den besten Bissen ihrer langen Geschichte bis zum Schluß auf: sie sagte mir, Sophie sei meine Tochter, und zeigte mir ihren Taufschein. Die Geburt des Kindes stimmte mit der Zeit, zu der ich mit Teresa Umgang gehabt hatte, und die vollkommene Ähnlichkeit konnte mir kaum einen Zweifel lassen. Ich machte daher durchaus keine Schwierigkeiten, sondern sagte der Mutter, ich sei überzeugt, daß Sophie mir ihr Leben verdanke; und da ich mich in der Lage befinde, ihr eine gute Erziehung geben zu lassen, so sei ich bereit, dafür zu sorgen und Vaterstelle bei ihr zu vertreten.

»Sie ist für mich ein zu kostbares Kleinod; ich müßte sterben, wenn ich mich von ihr trennen sollte.«

»Aber wenn ich mich der Kleinen annehme, sichere ich ihr ein glückliches Los.«

»Mein Sohn ist zwölf Jahre alt, lieber Freund; ich bin nicht in der Lage, ihm eine gute Erziehung zu geben; sorgen Sie für ihn anstatt für Sophie.«

»Wo ist er?«

»Er ist in Pension, oder vielmehr als Pfand in Rotterdam.«

»Wieso als Pfand?«

»Ja; denn man will ihn mir nicht herausgeben, wenn ich nicht dem, der ihn zu sich genommen hat, meine ganze Schuld bezahle.«

»Wieviel sind Sie schuldig?«

»Achtzig Gulden. Sie haben mir zweiundsiebzig gegeben; geben Sie mir noch vier Dukaten, so gehört mein Sohn Ihnen, und ich werde die glücklichste Mutter. Ich werde Ihnen meinen Sohn nächste Woche im Haag übergeben, wohin Sie ja kommen.«

»Gut, meine teure Teresa; und hier haben Sie zwanzig Dukaten statt vier.«

»Wir werden uns im Haag wiedersehen.«

Ihre Dankbarkeit hatte keine Grenzen, aber ich empfand für sie nur Teilnahme und Mitleid, und meine Sinne blieben trotz ihren lebhaften Umarmungen kalt. Als sie sah, daß ihre leidenschaftlichen Ergüsse an mir verloren waren, seufzte sie, vergoß Tränen, nahm ihre Tochter und verließ mich mit einem Lebewohl, worin Zärtlichkeit und Verdruß sich mischten. Nachdem sie noch einmal wiederholt hatte, daß sie mir bestimmt ihren Sohn im Haag übergeben würde, entfernte sie sich.

Teresa war zwei Jahre älter als ich; sie war noch hübsch, sogar schön; sie war blond, voller Geist und Talent; aber ihre Reize besaßen nicht mehr die erste Frische, und da ich für sie niemals etwas anderes empfunden hatte, als ein vorübergehendes Begehren, so war es nicht zu verwundern, daß sie keine Macht mehr über mich hatte. Ihre Erlebnisse während der sechs Jahre, seitdem ich sie zuletzt gesehen hatte, würden sicherlich meine Leser interessieren und würden eine meiner eigenen Geschichte würdige Episode bilden; ich würde sie gerne niederschreiben, wenn ich sicher wäre, mich der Umstände genau zu erinnern; aber da ich keinen Roman schreibe, so will ich, daß meine Schriften nur Wahres enthalten. Von dem verliebten und eifersüchtigen Markgrafen der Untreue überführt, war sie von ihm fortgeschickt worden. Sie hatte sich von ihrem Gatten Pompeati getrennt und war mit ihrem neuen Liebhaber nach Brüssel gegangen. Dort hatte Prinz Karl von Lothringen eine vorübergehende Laune für sie empfunden; durch ihn hatte sie ein eigentümliches Privilegium erhalten: er verschaffte ihr nämlich die Direktion aller Theater in den österreichischen Niederlanden. Dies war ein riesiges Unternehmen, das ihr ungeheure Kosten verursachte, so daß sie allmählich alle ihre Diamanten und Spitzen verkaufte und schließlich gezwungen war, nach Holland zu flüchten, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Ihr Mann hatte sich in Wien in einem Wutanfalle infolge von Schmerzen in seinen Eingeweiden auf eine schreckliche Art das Leben genommen; er hatte sich mit einem Rasiermesser den Bauch aufgeschlitzt und sich selber die Eingeweide herausgerissen.

Die Geschäfte, die ich hatte, gestatteten mir nicht, mich zu Bett zu legen. Herr Casanova machte mir einen Besuch und lud mich zum Mittagessen ein; er bat mich, ihn auf der Börse abzuholen. Dieses ist für einen Fremden wirklich ein wunderbarer Ort. Es gibt dort viele Millionäre, die wie Knoten aussehen. Jemand, der nur hunderttausend Gulden besitzt, ist so arm, daß er nicht für eigene Rechnung Geschäfte zu machen wagt. Ich fand auf der Börse Herrn d’O., der mich für den nächsten Tag zum Mittagessen nach seinem Lusthäuschen an der Amstel einlud. Herr Casanova bewirtete mich fürstlich. Nachdem er meinen Stammbaum gelesen hatte, der mir in Neapel so große Vorteile verschaffte, holte er den seinigen, der sich als genau gleich erwies; aber er machte sich nichts daraus und lachte nur darüber, ganz im Gegensatz zu Don Antonio in Neapel, der so hohen Wert darauf legte, und mir dies in so freundschaftlicher Weise bewies. Indessen bot mir auch Herr Casanova seine Dienste an und bat mich, in allen Fragen, die den Handel beträfen, mich um Auskunft an ihn zu wenden, wenn ich es nötig haben sollte. Seine Tochter erschien mir hübsch, und sie war es in der Tat; aber weder die Reize ihrer Person noch die ihres Geistes machten Eindruck auf mich. Mich beschäftigte nur Esther, und ich sprach beim Essen so viel von ihr, daß ich meine Kusine zu der Bemerkung veranlaßte, sie sei nicht hübsch. O Weiber! was ihr durchaus nicht verzeiht, ist die Schönheit. Eine Frau, welche weiß, daß sie hübsch ist, triumphiert, wenn sie einen Mann zum Schweigen bringen kann, der ihr eine andere rühmt, die nach ihrer Meinung sich mit ihr nicht vergleichen läßt. Fräulein Casanova war Esthers Freundin; trotzdem konnte sie nicht vertragen, daß ich ihre Vollkommenheiten pries.

Nach dem Essen suchte ich wieder Herrn d’O. auf; er sagte mir, wenn ich ihm meine Obligationen mit fünfzehn Prozent geben wollte, würde er sie nehmen; ich würde dadurch die Kosten für Makler und Notar ersparen, und er würde einen günstigen Augenblick abwarten, um die Papiere wieder loszuschlagen. Da ich das Angebot vorteilhaft fand, schloß ich sofort ab; ich verkaufte ihm die Papiere unter Privatsiegel und nahm einen Wechsel an seine Ordre auf Tourton & Baur. Nach dem Hamburger Wechselkurs erhielt ich zweiundsiebzigtausend Franken, während ich für die Obligationen mit den fünfzehn Prozent nur neunundsechzigtausend erwartet hatte. Dieser Extragewinn machte mir die größte Ehre bei Frau von Urfé, die vielleicht eine so große Uneigennützigkeit von meiner Seite nicht erwartet hatte.

Am Abend fuhr ich mit Herrn Pels in einem Segelschlitten nach Zaandam. Ich fand diese Fahrt seltsam, aber wirklich köstlich. Der Wind war ziemlich stark und wir hatten fünfzehn englische Meilen in der Stunde machen können. Die Bewegung scheint so schnell wie die eines Pfeiles, der die Luft durchschneidet. Man kann sich kein bequemeres, solideres und gefahrloseres Fahrzeug denken. Niemand würde etwas dagegen haben, in einem solchen Segelschiff auf einem vollkommen glatten Eismeer eine Fahrt um die ganze Erde zu machen. Allerdings muß man den Wind von hinten haben, denn gegen den Wind oder mit Seitenwind kann man nicht segeln, da kein Steuerruder vorhanden ist. Ein großes Vergnügen und zugleich eine wirkliche Überraschung bereitete mir die Genauigkeit, womit die beiden Matrosen das Segel gerade im richtigen Augenblicke einzogen; denn der Schlitten lief noch eine weite Strecke fort und blieb genau am Ufer stehen. Hätte man das Segel eine Minute später heruntergelassen, so hätte der Schlitten am Ufer zerschellen können, so groß ist die Schnelligkeit der Bewegung. Wir aßen ausgezeichnete Barsche. Leider verhinderte der allzuheftige Wind uns, einen Spaziergang zu machen. Ich kam noch ein zweites Mal nach Zaandam; aber da dieser Ort allgemein bekannt ist als Zufluchtsstätte der holländischen Kaufleute, die, wenn sie Millionäre geworden sind, sich des Lebens auf ihre Art freuen wollen, so brauche ich nicht davon zu sprechen. Die Rückfahrt machten wir in einem schönen zweispännigen Schlitten, der Herrn Pels gehörte. Er behielt mich zum Abendessen bei sich, und ich verließ ihn erst um Mitternacht. Dieser Ehrenmann, dem Aufrichtigkeit und Freimut auf der Stirn geschrieben standen, sagte zu mir: da ich sein Freund und der des Herrn von O. geworden sei, so solle ich mich nicht der Gefahr aussetzen, mit meinem großen Geschäft in die Hände der Juden zu fallen, sondern solle mich rückhaltslos an sie beide wenden. Diese Mitteilung war mir angenehm; sie ebnete viele Schwierigkeiten für einen Neuling auf dem Gebiete der Finanzen. Man wird später sehen, welche Folgen daraus entstanden.

Am nächsten Morgen ging ich schon in der Frühe bei dichtem Schneegestöber zum Herrn von O. und fand Esther in einer entzückenden Stimmung. Sie empfing mich sehr gut und zog mich in Gegenwart ihres Vaters damit auf, daß ich die ganze Nacht mit Madame Trenti verbracht hätte.

Vielleicht hätte dies mich ein bißchen verlegen gemacht; aber ihr Vater sagte ihr, es sei nichts dabei, worüber man sich zu schämen hätte; denn nichts hindere einen Ehrenmann, das Talent zu lieben.

Hierauf wandte er sich an mich: »Sagen Sie mir, bitte, Herr Casanova, wer ist diese Frau?«

»Sie ist eine Venetianerin, deren Mann sich vor kurzer Zeit das Leben genommen hat; wir kannten uns schon als Kinder, aber seit sechs Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen.«

»Sie sind gewiß angenehm überrascht gewesen, als Sie so unvermutet Ihre Tochter sahen?« fragte Esther mich.

»Warum soll denn dies Kind meine Tochter sein? Madame Trenti hatte damals ihren Mann.«

»O! die Ähnlichkeit ist zu auffallend! Außerdem sind Sie ja gestern Abend bei Herrn Pels eingeschlafen.«

»Mein Einschlafen war sehr natürlich; denn ich hatte eine schlaflose Nacht verbracht.«

»Ich beneide jeden, der sich einen süßen Schlaf zu verschaffen weiß; denn seit längerer Zeit wird ein solcher mir erst zu teil, nachdem ich stundenlang vergeblich auf ihn gewartet habe; und auch dann ist er mir nicht willkommen, denn beim Erwachen finde ich meinen Geist nicht freier, sondern fühle mich betäubt und von der Unlust bedrückt, die eine Folge der Ermüdung ist.«

»Versuchen Sie einmal, Fräulein, sich eine Nacht hindurch die lange Geschichte von jemand, der Sie interessiert, und zwar aus seinem eigenen Munde, erzählen zu lassen, und ich verspreche Ihnen, Sie werden die nächste Nacht mit Vergnügen einschlafen.«

»Dieser Jemand existiert nicht.«

»Ja, weil Sie erst vierzehn Lenze zählen; später wird dieser Jemand vorhanden sein.«

»Vielleicht; aber jetzt, glaube ich, brauche ich Bücher und den Beistand von jemand, der meine Wahl leiten könnte.«

»Dies wäre nicht schwierig für jemand, der Ihren Geschmack kennt.«

»Ich liebe Geschichte und Reiseschilderungen; aber wenn ein Buch mir gefallen soll, so muß ich sicher sein, daß keine Fabelei darin ist; denn beim geringsten Zweifel in dieser Hinsicht werfe ich das Buch fort.«

»Nun, so glaube ich, Ihnen meine Dienste anbieten zu können; und wenn Sie diese freundlich annehmen wollen, so hoffe ich, Ihren Geschmack zu treffen.«

»Ich nehme Ihr Anerbieten an; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich es niemals verzeihe, wenn man mir nicht Wort hält.«

»So etwas brauchen Sie nicht zu befürchten; ich werde Ihnen vor meiner Rückkehr nach dem Haag bewiesen haben, daß ich halte, was ich verspreche.«

Sie machte noch einige Scherze über das Vergnügen, das mir im Haag bevorstände, wo ich Madame Trenti wiedersehen würde. Ihre Offenheit und Fröhlichkeit und ihre außerordentliche Schönheit entflammten mich, und Herr d’O. lachte herzlich über den Krieg, den seine reizende Tochter gegen mich führte. Um elf Uhr bestiegen wir einen sehr bequemen und eleganten Schlitten und fuhren nach dem Lusthäuschen. Sie sagte mir, ich würde dort Fräulein Casanova mit ihrem Bräutigam finden.

»Nichts,« erwiderte ich ihr, »kann mich so sehr interessieren wie Sie.« – Sie antwortete mir nicht, aber ich konnte leicht merken, daß meine Versicherung ihr angenehm war.

Das Brautpaar kam uns trotz dem Schnee auf der Straße entgegen. Wir stiegen aus, legten unsere Pelze ab und betraten einen Salon. Ich sah den Bräutigam an; dieser musterte mich einen Augenblick und sagte dann Fräulein Casanova etwas ins Ohr. Diese lächelte und flüsterte Esther etwas zu. Esther aber ging zu ihrem Vater und sagte leise etwas zu ihm. Plötzlich lachten alle. Ich war überzeugt, daß es sich um mich handelte; aber ich spielte den Gleichgültigen, ich durfte mich durch ihr Lachen nicht verlegen machen lassen, und die Höflichkeit verlangte von mir, sie anzureden.

»Man kann sich auch irren,« sagte Herr d’O.; »es ist sogar notwendig, die Sache aufzuklären. – Herr Casanova, ist Ihnen auf Ihrer Reise vom Haag nach Amsterdam nicht etwas Merkwürdiges begegnet?«

Bei diesen Worten werfe ich meinen Blick auf den Bräutigam und errate, worum es sich handelt.

»Nichts Merkwürdiges weiter als ein Zusammentreffen mit einem netten Herrn, der gerne mein Wägelchen im Graben sehen wollte, und den ich jetzt hier zu sehen glaube.«

Bei diesen Worten verdoppelte sich das Lachen, und wir umarmten uns; nachdem er aber unser Zusammentreffen getreulich geschildert hatte, nahm seine Geliebte eine etwas zornige Miene an und sagte ihm, er hätte sich schlagen müssen. Esther war vernünftiger als sie und sagte, ihr Freund habe mehr Tapferkeit bewiesen, indem er Vernunft angenommen habe. Herr d’O. trat mit aller Entschiedenheit der Meinung seiner Tochter bei; die kriegerische Geliebte aber brüstete sich mit allerlei romantischen Ideen und fing an, mit ihrem Bräutigam zu schmollen. Infolgedessen eröffnete ich einen Krieg gegen sie, an welchem Esther viel Vergnügen fand.

Um die frohe Stimmung wieder herzustellen, rief die reizende Esther lustig: »Vorwärts, hinaus! Legen wir unsere Schlittschuhe an und schnell hinaus auf die Amstel; denn ich fürchte, das Eis wird schmelzen.«

Ich schämte mich, sie zu bitten, sie mögen mir dies erlassen, obwohl ich es sehr gerne getan hätte; aber was vermag nicht die Liebe! Herr d’O. verließ uns. Der Bräutigam des Fräulein Casanova schnallte mir Schlittschuhe an. Die Damen trugen kurze Röcke und zum Schutz gegen gewisse Unfälle schwarze Samthosen. Wir gingen nach dem Fluß hinunter, und da ich ein völliger Neuling war, so kann der Leser sich wohl vorstellen, welche Figur ich spielte. Da ich trotz meiner Ungeschicklichkeit durchaus weiter laufen wollte, so fiel ich zwanzigmal auf den Rücken und war in Gefahr, mir das Kreuz zu brechen. Ich hätte es aufgeben sollen; aber davon hielt die Scham mich ab, und ich hörte erst auf, als man zu meiner großen Freude uns zum Essen rief. Ich mußte das Vergnügen teuer bezahlen; denn als wir vom Tisch aufstehen wollten, war ich wie gelähmt an allen Gliedern. Esther bedauerte mich und sagte mir, sie würde mich wieder heilen. Sie lachten sehr, und ich ließ sie lachen, denn ich merkte, daß die ganze Schlittschuhpartie nur unternommen worden war, um auf meine Kosten zu lachen. Ich wollte Esther in mich verliebt machen, und deshalb spielte ich den Liebenswürdigen; denn ich war überzeugt, daß meine Gefälligkeit mich sicher zum Ziel führen würde. Den Nachmittag verbrachte ich mit Herrn d’O., während die jungen Leute bis zum Dunkelwerden allein auf der Amstel Schlittschuh liefen.

Wir sprachen von meinen zwanzig Millionen, und ich erfuhr, daß ich sie nur bei einer Gesellschaft von Kaufleuten würde diskontieren können, die mir dafür andere Papiere in Tausch geben würden, und daß ich selbst bei dieser Operation gewärtig sein müßte, starke Verluste zu erleiden. Als ich ihm sagte, ich würde das Geschäft gerne mit der Indischen Kompagnie von Gotenburg abschließen, sagte er mir, er wolle mit einem Makler darüber sprechen und Herr Pels könne mir dabei sehr nützlich sein.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, glaubte ich dem Tode nahe zu sein. Ich litt ein wahres Martyrium. Es kam mir vor, wie wenn der untere Teil des Rückgrates, das sogenannte Os sacurum, in Stücke zerbrochen sei, obwohl ich beinahe einen ganzen Topf Pomade, welche Esther mir zu dem Zweck gegeben hatte, zu Einreibungen verbraucht hatte. Trotz meinen Schmerzen hatte ich jedoch nicht das Versprechen vergessen, das ich ihr gegeben hatte. Ich ließ mich zu einem Buchhändler tragen und kaufte alle Bücher, von denen ich glaubte, daß sie sie unterhalten könnten. Ich schickte sie ihr, mit der Bitte, mir diejenigen, die sie vielleicht schon gelesen hätte, wieder zurückzusenden. Sie tat dies sofort und ließ mir mit vielem Dank sagen: wenn ich ein schönes Geschenk haben wolle, möchte ich sie vor meiner Abreise noch einmal besuchen, um sie zu umarmen.

Es wäre unnatürlich gewesen, einer solchen Einladung nicht zu folgen. Ich besuchte sie daher in aller Frühe und ließ meine Postkutsche vor ihrer Tür warten.

Ihre Gouvernante führte mich an ihr Bett, worin sie lachend und schön wie eine Venus lag. »Ich bin überzeugt,« sagte sie zu mir, »Sie wären nicht gekommen, wenn ich Ihnen nicht hätte sagen lassen, Sie möchten mich umarmen.« Kaum hatte sie dies gesagt, so preßte ich meine Lippen auf ihren Mund, auf ihre Augen und auf alle Züge ihres schönen Gesichtes. Als sie sah, daß während dieses süßen Liebesspiels meine Blicke auf ihren Busen fielen, erriet sie, daß ich den Versuch machen würde, mich desselben zu bemächtigen. Sofort hörte sie auf zu lachen, setzte sich zur Wehre und sagte boshaft zu mir: »Gehen Sie doch! Gehen Sie nach dem Haag und amüsieren Sie sich mit der schönen Trenti, die ein so hübsches Pfand Ihrer Zärtlichkeit besitzt.«

»Teure Esther, ich reise nach dem Haag nur, um mit dem Gesandten über Geschäfte zu sprechen; spätestens in sechs Tagen werden Sie mich wiedersehen, und dann wird es mein einziges Bestreben sein, Ihnen meine Liebe zu beweisen und Ihnen zu gefallen.«

»Ich rechne auf Ihr Wort; täuschen Sie mich nicht!«

Sie reichte mir ihren Mund und gab mir einen so feurigen und süßen Abschiedskuß, daß ich mit der Gewißheit abreiste, ich würde nach meiner Rückkehr glücklich sein.

Am Abend kam ich um die Stunde des Essens bei Boas an.

Siebentes Kapitel


Mein Glück in Holland. – Ich kehre mit dem jungen Pompeati nach Paris zurück.

Unter den Briefen, die ich auf der Post fand, war auch einer vom Generalkontrolleur, der mir schrieb, Herr d’Affry habe für zwanzig Millionen königliche Wertpapiere in Händen und werde sie mit einem Verlust von höchstens acht Prozent hergeben. In einem zweiten Brief riet mir mein freundlicher Beschützer, Abbé von Bernis, die Papiere so vorteilhaft wie möglich zu verwenden; ich könne mich darauf verlassen, daß der Gesandte auf seinen Bericht vom Minister Befehl erhalten werde, dem Abschluß zuzustimmen, wenn der Preis nur nicht hinter dem zurückbliebe, was man an der Pariser Börse würde erhalten können. Boas war erstaunt über den vorteilhaften Verkauf meiner sechzehn Gotenburger Aktien; er sagte mir, er wolle sich verpflichten, mir die zwanzig Millionen gegen Aktien der Schwedisch-Indischen Kompagnie zu diskontieren, wenn ich den Gesandten veranlassen wollte, ein Schreiben zu unterzeichnen, wodurch ich mich verpflichten müßte, die französischen Staatspapiere mit zehn Prozent Verlust herzugeben und dafür die schwedischen Aktien zum Kurse von 115 zu übernehmen, wie ich meine sechzehn verkauft hätte. Ich würde seinem Vorschlage zugestimmt haben, wenn er nicht verlangt hätte, daß ich ihm drei Monate Zeit ließe, und daß mein Vertrag auch dann in Kraft bleiben müßte, wenn während dieser Zeit der Friede geschlossen werden sollte. Ich bemerkte bald, daß meine Interessen mich nach Amsterdam zurückriefen, aber ich hatte Teresa versprochen, sie im Haag zu erwarten, und ich wollte ihr mein Wort nicht brechen. Zum Glück kam sie schon am nächsten Tage; sie schrieb mir sofort, sie erwarte mich zum Souper. Ich erhielt ihr Briefchen im Theater, und der Bediente, der es mir überbrachte, sagte mir, er würde auf mich warten, um mich zu ihr zu führen. Ich schickte meinen Lakaien nach Hause und begab mich zu ihr.

Der Führer ließ mich in einem armseligen Hause bis zum vierten Stock emporsteigen, und dort sah ich die seltsame Frau in einem Kämmerchen mit ihrer Tochter und mit ihrem Sohn. Ein Tisch, der mitten im Zimmer stand, war mit einem schwarzen Tuch bedeckt und zwei Kerzen zierten diese Art von Traueraltar. Da der Haag eine Residenzstadt ist, so war ich reich gekleidet, und mein glänzender Luxus bildete einen sehr traurigen Kontrast zu meiner ganzen Umgebung. Teresa in ihrem schwarzen Kleide, zwischen ihren beiden Kindern hinter diesem Tische sitzend, kam mir vor wie eine Medea. Man konnte nichts Schöneres und Interessanteres sehen, als diese beiden jungen Geschöpfe, die gewissermaßen der Schande und dem Elend geweiht waren. Ich schloß den Knaben in meine Arme und drückte ihn zärtlich gegen meinen Busen, indem ich ihn meinen Sohn nannte. Seine Mutter sagte ihm, von diesem Augenblick an müßte er in mir seinen Vater sehen. Der kluge Knabe erkannte mich wieder. Er erinnerte sich, mich in Venedig im Mai 1753 bei Frau Manzoni gesehen zu haben, und dies machte mir eine große Freude. Er war klein, schien aber von ausgezeichneter Körperbildung zu sein. Er war gut gewachsen und hatte ein kluges Gesicht. Er war dreizehn Jahre alt.

Seine Schwester saß unbeweglich da und schien darauf zu warten, daß auch sie an die Reihe käme. Ich setzte sie auf meinen Schoß und erblickte in dem Vergnügen, das es mir machte, sie zu küssen, einen Fingerzeig, daß sie meine Tochter sei. Sie nahm meine Liebkosungen schweigend hin, aber es war leicht zu sehen, daß sie sich darüber freute, meine Teilnahme mehr zu erregen als ihr Bruder. Sie hatte nur ein sehr leichtes Röckchen an. Ich fühlte ihre hübschen Formen und küßte alle Teile ihres reizenden Körpers, entzückt, daß ein so liebenswürdiges Geschöpf mir sein Dasein verdankte.

»Nicht wahr, liebe Mama, dieser schöne Herr ist derselbe, den wir in Amsterdam gesehen haben und den man für meinen Papa gehalten hat, weil ich ihm ähnlich sehe? Aber das ist nicht möglich, denn Papa ist ja tot.«

»Das ist wahr, meine reizende Freundin, aber ich kann doch dein allerbester Freund sein; willst du mich?«

»Oh, gewiß!«

Und mit diesen Worten umschlang das liebe Kind mich mit seinen hübschen Ärmchen und gab mir tausend Küsse, die ich ihr mit Wonne zurückgab.

Nachdem wir gelacht und gescherzt hatten, setzten wir uns zu Tisch, und die Heldin gab mir ein ausgezeichnetes Souper mit den allerbesten Weinen.

»Ich habe«, sagte sie zu mir, »selbst den Markgrafen bei den kleinen Soupers, die ich ihm unter vier Augen gab, niemals besser bewirtet.«

Um den Charakter ihres Sohnes keimen zu lernen, den ich mit nach Paris zu nehmen versprochen hatte, richtete ich oft das Wort an ihn und sah bald, daß er falsch, verschlossen und immer auf der Hut war; daß er seine Antworten sorgfältig überlegte, und daß sie infolgedessen niemals so klangen, wie sie gelautet haben würden, wenn er sich der Natur überlassen hätte. Alles, was er sagte, trug einen Anstrich von Höflichkeit und Zurückhaltung, der von ihm ohne Zweifel darauf berechnet war, mir zu gefallen. Ich sagte ihm, sein System könnte unter Umständen wohl gut sein, aber es gebe Augenblicke, wo der Mensch nur glücklich sein könne, wenn er sich von jedem Zwange frei mache, und nur in solchen Augenblicken könne man ihn liebenswürdig finden, wenn er es wirklich seiner Charakteranlage nach wäre.

Seine Mutter sagte mir, im Glauben, ihn damit zu loben: seine vorzüglichste Eigenschaft sei die Verschwiegenheit; sie habe ihn daran gewöhnt, in allen Dingen und zu jeder Zeit verschwiegen zu sein; sie würde es daher ohne Schmerz ertragen, wenn er gegen sie ebenso zurückhaltend wäre wie gegen alle Welt.

»Das ist abscheulich,« sagte ich ziemlich schroff zu ihr, »Sie haben vielleicht in Ihrem Sohn die kostbarsten Eigenschaften erstickt, mit denen möglicherweise die Natur ihn begabt hat. Er hätte ein Engel sein können, und Sie haben ihn auf den Weg gebracht, ein Ungeheuer zu werden. Ich kann nicht begreifen, wie ein Vater, und wäre er noch so zärtlich, Neigung für einen beständig zugeknöpften Sohn empfinden könnte.«

Dieser etwas heftige Ausfall, der aber nur einem Gefühl der Liebe entsprang, die ich gerne für das Kind hätte empfinden mögen, schien die Mutter ganz betroffen zu machen.

»Sage mir, liebes Kind, ob du dich imstande fühlst, zu mir das volle Vertrauen zu haben, das ein Vater von einem guten Sohne erwarten darf, und ob du versprechen zu können glaubst, mir gegenüber kein Geheimnis zu haben und keine Zurückhaltung zu üben?«

»Ich verspreche Ihnen, daß ich lieber sterben als Sie belügen werde.«

»Dies ist sein Charakter!« sagte die Mutter zu nur. »So groß ist der Abscheu vor der Lüge, den ich ihm einzuflößen verstanden habe.«

»Sehr schön; aber indem Sie Ihrem Sohn einen berechtigten Abscheu vor der Lüge einflößten, konnten Sie ihm eine bessere Richtung geben, die ihn viel sicherer zum Glück geführt haben würde.«

»Könnte man es denn besser machen?«

»Sehr einfach. Man muß nicht Abscheu vor der Lüge einflößen, sondern man muß die Wahrheit lieben lehren, indem man sie im vollen Glänze ihrer Schönheit strahlen läßt. Dies ist das einzige Mittel, sich liebenswürdig zu machen, und wenn man in dieser Welt glücklich sein will, so muß man geliebt sein.«

»Aber«, sagte der Kleine mit lachender Miene, die mir nicht gefiel, seine Mutter aber entzückte, »nicht lügen und die Wahrheit sagen ist das nicht dasselbe?«

»Nein, gewiß nicht! Da fehlt sehr viel daran, denn um nicht zu lügen, brauchtest du nur nichts zu sagen, und würdest du damit die Wahrheit sagen? Du mußt mir deine Seele öffnen, mein lieber Sohn, mußt mir sagen, was in dir und um dich vorgeht, und mußt mir selbst das offenbaren, worüber du zu erröten hättest. Ich werde dir helfen das Erröten zu lernen, und in kurzem wirst du nicht mehr in Gefahr sein, die Enthüllung aller deiner Handlungen und Gefühle befürchten zu müssen. Wenn wir uns besser kennen lernen, mein Sohn, werden wir sehr bald sehen, ob wir zueinander passen. Denn du mußt wissen, es wäre mir unmöglich, dich als meinen Sohn anzusehen, bevor wir uns zärtlich lieben, und ich könnte niemals zugeben, daß du mich als deinen Vater ansähest, wenn du nicht in mir deinen besten Freund erblicktest. Du begreifst, daß ich die Aufgabe habe, dies alles zu entdecken; denn sei überzeugt, ich werde alle deine Gedanken zu erraten wissen, so fein du es auch anstellen magst, sie mir zu verbergen. Sollte ich dich als falsch oder mißtrauisch erkennen, so würde ich dich nicht lieben; und sicherlich würde dies zu deinem Nachteil sein. Sobald ich meine Geschäfte in Amsterdam erledigt habe, werden wir nach Paris abreisen. Ich fahre morgen und hoffe dich bei meiner Rückkehr von deiner Mutter selber über eine Anschauung belehrt zu sehen, die meinen Gefühlen und deinem Glück besser entspricht als deine jetzige.«

Meine Tochter hatte ganz still allen meinen Worten zugehört; als ich zufällig sie ansah, bemerkte ich, daß ihre Augen schwer von Tränen waren, die sie nur mit Mühe zurückhielt.

»Warum weinst du?« sagte ihre Mutter zu ihr; »das ist eine Dummheit.«

Das Kind fiel ihr um den Hals und küßte sie. Da sah ich unzweifelhaft, daß ihr Lachen ebenso falsch gewesen war, wie ihre Tränen echt waren, denn diese entsprangen aus dem Gefühl.

»Willst du auch mit mir nach Paris kommen?« fragte ich sie.

»O gewiß, mein teurer Freund, von ganzem Herzen gern; aber nur mit Mama, denn ohne mich würde sie sterben.«

»Und wenn ich es dir befehle?« sagte die Mutter.

»Dann würde ich gehorchen; wie könnte ich aber fern von dir leben?«

Bei diesen Worten tat meine liebe Tochter, wie wenn sie weinte. Ich sage: sie tat so; denn augenscheinlich sprach die Kleine gegen ihre Überzeugung, und ihre Mutter mußte dies ebenso gut bemerken wie ich.

Mich schmerzte aufrichtig die falsche Erziehung, die die Mutter diesem kleinen Geschöpf gab, das mir viel Verstand und viel Gefühl zu haben schien. Ich nahm die Mutter beiseite und sagte ihr: »Wenn Sie Ihre Kinder dazu erzogen haben, um beständig Komödie zu spielen, so haben Sie dies sehr gut angefangen und Ihren Zweck nach Wunsch erreicht; wenn Sie aber wünschen, daß aus ihnen brauchbare Mitglieder der Gesellschaft werden, so haben Sie es verkehrt angefangen; denn Sie haben aus ihnen zwei angehende Ungeheuer gemacht.« Ich machte ihr die härtesten Vorwürfe, bis ich sah, daß sie trotz ihren Anstrengungen, sich zu beherrschen, in Tränen ausbrach. Sie erholte sich jedoch bald wieder und bat mich noch einen Tag im Haag zu bleiben, aber ich sagte ihr, es sei mir unmöglich ihren Wunsch zu erfüllen, und ging hinaus. Als ich gleich darauf wieder hinein kam, lief Sophiechen mir entgegen und sagte mit zärtlichem und liebevollem Ausdruck: »Wenn Sie mein Freund sind, so müssen Sie mir einen Beweis davon geben.«

»Und welchen Beweis verlangst du, Kleine?«

»Daß Sie morgen Abend mit mir speisen.«

»Das kann ich nicht, liebe Sophie; denn ich habe es eben deiner Mutter abgeschlagen, und sie müßte natürlich beleidigt sein, wenn ich dir zusagte, was ich ihr verweigert habe.«

»O nein, nein, lieber Freund! Sie wird nicht beleidigt sein, denn sie selber hat mir gesagt, ich solle Sie darum bitten.«

Natürlich fing ich an zu lachen. Als aber ihre Mutter sie eine kleine Einfalt nannte und ihr Herr Bruder hinzufügte, er würde niemals eine derartige Indiskretion begangen haben, da wurde das arme Kind ganz bestürzt und fing beinahe an zu zittern. Ich beeilte mich sie zu beruhigen, wobei ich mich wenig darum bekümmerte, ob ich ihrer Mutter mißfiel; ich wies sie auf Grundsätze hin, die von den ihr bisher eingeimpften sehr verschieden waren; sie hörte sie mit einer Art von Begier an, welche bewies, daß ihr junges Herz noch dem Einfluß moralischer Erziehung zugänglich war. Nach und nach heiterten ihre Augen sich wieder auf; ich sah, daß ich Eindruck auf sie gemacht hatte; und obwohl ich nicht hoffen durfte, daß dieser Eindruck dauerhaft sein würde, da sie ja immer unter dem traurigen Einfluß ihrer Mutter blieb, so versprach ich ihr schließlich doch, am nächsten Abend bei ihr zu speisen. »Aber,« sagte ich zu ihr, »nur unter der Bedingung, daß du mir ein ganz einfaches Essen gibst mit einer einzigen Flasche Chambertin; denn du bist nicht reich.«

»Das weiß ich wohl, mein lieber Freund; aber Mama hat mir gesagt, Sie werden alles bezahlen.«

Über diese naive Antwort lachte ich laut auf, und ihre Mutter mußte trotz ihrem Ärger einstimmen. Die arme Frau hielt trotz ihrer Geriebenheit diese Naivität für Dummheit; ich aber erkannte in dem Kinde einen rohen Diamanten, der nur geschliffen werden mußte.

Teresa sagte mir, der Wein koste ihr nichts; denn der Sohn des Bürgermeisters von Rotterdam liefere ihn ihr, und er werde am nächsten Abend mit uns speisen, wenn ich es erlaube. Ich antwortete ihr lachend, ich würde ihn mit Vergnügen sehen, und ging, nachdem ich meine Tochter, zu der ich große Liebe empfand, zärtlich geküßt hatte. Ich würde die größten Opfer gebracht haben, um sie von ihrer Mutter ausgeliefert zu erhalten; aber meine Bitten würden nutzlos gewesen sein, denn ich konnte mir wohl denken, daß sie sich in ihr eine Hilfsquelle für die Tage des Alters aufbewahrte. So denken fast alle Abenteuerinnen, und eine solche war Teresa in der vollen Bedeutung des Wortes. Ich gab Teresa zwanzig Dukaten, um meinen Adoptivsohn und meine kleine Sophie neu kleiden zu lassen. Meine Tochter warf sich, dem Gefühl ihrer Dankbarkeit folgend, in meine Arme und küßte mich mit Tränen in den Augen. Joseph wollte mir die Hand küssen, aber ich sagte ihm, ein Mann erniedrige sich, indem er einem anderen die Hand küsse; in Zukunft solle er mir seine Dankbarkeit nur bezeigen, indem er mich umarme, wie ein Sohn seinen Vater umarmen müsse.

Im Augenblick, wo ich gehen wollte, zeigte Teresa mir eine kleine Kammer, worin die beiden Kinder schliefen. Ich erriet die Aufforderung, die darin lag, aber die Zeiten waren vorüber … Esther beschäftigte mich ganz und gar.

Am nächsten Abend fand ich bei meiner Komödiantin den Sohn des Bürgermeisters, einen hübschen Jungen von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren, aber ohne Lebensart. Ich erlaubte ihm ja gerne Teresas Liebhaber zu sein, aber er mußte doch mir gegenüber ein Benehmen beobachten, auf das ich nach meiner Haltung und nach meinem Tone Anspruch erheben durfte. Sobald Teresa sah, daß er die Rolle des Herrn spielen wollte und daß sein Benehmen mich verletzte, behandelte sie ihn wie einen Schuhputzer, und er bemerkte dies sehr bald. Nachdem er die Speisen wegen ihrer Spärlichkeit bemäkelt und die Vorzüglichkeit der von ihm gelieferten Weine gepriesen hatte, ging er beim Nachtisch fort und ließ uns allein. Ich selber ging gegen elf Uhr, indem ich ihr versicherte, ich würde sie vor meiner Abreise noch einmal besuchen. Eine Fürstin Galitzin, geborene Cantimir, hatte mich zum Diner eingeladen, und diese Ehre kostete mir einen zweiten Tag.

Am nächsten Morgen erhielt ich einen Brief von Frau d’Urfé mit einem Wechsel von zwölftausend Franken auf Boas. Sie schrieb mir, da ihre Aktien ihr nur sechzigtausend Franken kosteten, so wolle sie nichts daran verdienen; sie hoffe, ich werde ihr das Vergnügen machen und diese freundschaftliche Maklergebühr annehmen. Das Anerbieten war so vornehm gemacht, daß ich es nicht ablehnen konnte. Der ganze Rest ihres Berichtes war ein Mischmasch verrückter Hirngespinste. Sie schrieb mir, ihr Genius habe ihr offenbart, ich werde nach Paris mit einem jungen Knaben zurückkehren, der aus einer philosophischen Paarung entsprossen sei, und sie hoffe, ich werde Mitleid mit ihr haben. Eigentümlicher Zufall, der wohl dazu angetan war, die arme Frau in ihren Phantasien zu bestärken. Ich lachte im voraus über den Eindruck, den auf sie das Erscheinen von Teresas Sohn machen würde, der gewiß weder einer philosophischen noch einer einfachen Paarung entsprossen war.

Boas zahlte mir meine zwölftausend Franken in Dukaten aus, und ich machte ihn mir dadurch zum Freunde; denn er dankte mir für diese Gunst, die ihm wahrscheinlich irgend einen Vorteil einbrachte. In Holland ist nämlich das Gold eine Ware, und alle Zahlungen werden dort in Silber oder in Papier gemacht. In jenem Augenblick stand das Agio ein wenig hoch, und deshalb wollte kein Mensch Dukaten haben.

Nachdem ich bei der Fürstin Galitzin köstlich gespeist hatte, zog ich einen Überrock an und ging ins Kaffeehaus. Ich fand dort den jungen Bürgermeisterssohn, der gerade eine Partie Billard beginnen wollte. Er flüsterte mir ins Ohr, ich könnte auf ihn wetten. Da ich glaubte, er sei seiner Sache sicher, so dankte ich ihm und befolgte seinen Rat; nachdem er aber drei Partien hintereinander verloren hatte, so daß ich sein Spiel beurteilen konnte, begann ich gegen ihn zu wetten, ohne daß er es bemerkte. Nach drei Stunden hatte er etwa vierzig Partien verloren; er hörte auf und trat auf mich zu, um mir sein Bedauern auszusprechen. Er machte aber ein unbeschreiblich verblüfftes Gesicht, als ich ihm eine Handvoll Dukaten zeigte und ihm sagte, ich hätte gegen ihn gewettet und auf diese Weise meinen Nachmittag gut angewandt. Alle Anwesenden lachten ihn aus und machten sich über ihn lustig; er aber verstand keinen Spaß und lief in hellem Zorn über meine stichelnden Bemerkungen hinaus. Gleich darauf ging ich ebenfalls und begab mich zu Teresa, weil ich es ihr versprochen hatte. Am nächsten Morgen mußte ich nach Amsterdam abreisen. Teresa erwartete ihren Weinlieferanten, als ich ihr aber das Vorgefallene erzählt hatte, erwartete sie ihn nicht mehr. Ich nahm mein Töchterchen auf den Schoß und überhäufte sie mit Liebkosungen.

Beim Abschied sagte ich ihnen, wir würden uns in drei Wochen oder spätestens in einem Monat wiedersehen.

Als ich ganz allein, meinen Degen unter dem Arm, nach Hause ging, sah ich mich plötzlich beim schönsten Mondenschein von meinem armen gefoppten Bürgermeisterssohn angegriffen.

»Ich bin neugierig,« sagte er zu mir, »ob Ihr Degen ebenso spitzig ist wie Ihre Zunge.«

Ich suchte ihn zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen und behielt meinen Degen in der Scheide, obgleich er blankgezogen und die Spitze gegen mich gerichtet hatte.

»Sie haben unrecht,« sagte ich zu ihm, »den Scherz so übel zu nehmen; ich bitte Sie um Entschuldigung.«

»Keine Entschuldigungen! Verteidigen Sie sich!«

»Warten Sie bis morgen; beruhigen Sie sich; wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen im Billardsaal vor allen Anwesenden durch eine Ehrenerklärung Genugtuung geben.«

»Ich will keine andere Genugtuung, als daß Sie sich schlagen; ich will Sie töten.«

Um mir seinen festen Entschluß zu zeigen und mich auf eine Weise herauszufordern, daß ich nicht mehr zurückweichen konnte, gab er mir einen Schlag mit der flachen Klinge. Es ist der einzige, den ich in meinem Leben erhalten habe. Jetzt zog ich endlich den Degen; aber in der Hoffnung, daß er doch noch Vernunft annehmen werde, parierte ich nur zurückweichend und unter wiederholten Aufforderungen, von diesem törichten Kampf abzulassen. Mein Holländer aber hielt mein Benehmen für Furcht und stach wie besessen auf mich los. Schließlich brachte er mir einen Stoß bei, daß mir die Haare zu Berge standen: er durchstieß mir die Halsbinde auf der linken Seite, so daß der Degen hinten wieder herausfuhr; einen Drittel Zoll weiter einwärts, und es war um mich geschehen!

Ich sprang zur Seite, und da die Gefahr mich zu einem anderen Verhalten zwang, so führte ich einen Primstoß und verwundete ihn an der Brust. Da ich sicher war, ihn getroffen zu haben, so fühlte ich meinen Zorn besänftigt und forderte ihn auf, aufzuhören.

»Ich bin noch nicht tot,« schrie mein Gegner; »ich will Sie töten!«

Dies war offenbar ein Lieblingsausdruck von ihm. Mit einer Art von Wut, aber wie ein wahrer Narr, stürzte er sich auf mich, und ich verwundete ihn viermal. Beim vierten Stich trat er zurück, sagte mir, er habe genug, und bat mich, ich möchte gehen.

Ich entfernte mich mit großen Schritten und freute mich, als ich bei einer Untersuchung meines Degens sah, daß seine Wunden nur leicht waren. Ich fand Boas noch wach; nachdem er die Geschichte von mir gehört hatte, riet er mir, sofort nach Amsterdam abzureisen, obwohl ich ihm versicherte, daß die Wunden nicht tödlich seien. Ich folgte endlich seinen dringenden Bitten, und da meine Kutsche beim Stellmacher war, so gab er mir seinen Wagen, und ich befahl meinem Bedienten, am nächsten Morgen mit allen meinen Sachen mir nachzureisen und sie mir in den »Gasthof zur Alten Bibel« in Amsterdam zu bringen, wo ich wohnen wollte. Ich kam mittags in Amsterdam an, und mein Bedienter war am Abend da. Ich war neugierig, ob mein Zweikampf Lärm gemacht hatte; da er jedoch schon in der Frühe abgereist war, so hatte er nichts gehört. Es war mir sehr angenehm, daß man in Amsterdam erst nach acht Tagen etwas erfuhr. Dies war ein Glück für mich; denn obwohl der Vorfall sehr einfach war, so hätte er mir doch schaden können; der Ruf eines Raufboldes ist niemals eine gute Empfehlung bei Kaufleuten, mit denen man Geschäfte von einiger Wichtigkeit abschließen will. Wie der Leser sich denken kann, galt mein erster Besuch Herrn d’O. oder vielmehr seiner reizenden Tochter Esther; ihr brachte ich also meine Huldigung dar. Man wird sich erinnern, daß die Art unserer Trennung meine Glut noch mehr hatte anfachen müssen. Herr d’O. war nicht zu Hause; Esther aber saß an einem hübschen Tisch und schrieb.

»Was machen Sie da, reizende Esther?«

»Eine Rechenaufgabe.«

»Lieben Sie solche Aufgaben?«

»Ich liebe leidenschaftlich alles, was Schwierigkeiten bietet und merkwürdige Resultate liefert.«

»Ich werde Ihnen etwas zeigen.«

Aus Scherz machte ich ihr zwei magische Quadrate, die ihr sehr gefielen. Zum Dank zeigte sie mir einige Kleinigkeiten, die ich bereits kannte, aber sehr interessant zu finden vorgab. Mein guter Geist brachte mich auf den Gedanken, ihr eine kabbalistische Berechnung zu machen. Ich sagte ihr, sie möchte schriftlich etwas fragen, was sie nicht wüßte und gerne erfahren möchte; sie würde nach einer gewissen Berechnung eine zufriedenstellende Antwort erhalten. Sie lächelte und fragte, weshalb ich so schnell nach Amsterdam zurückgekommen sei. Ich lehrte sie die Worte in Zahlen umsetzen, eine Pyramide daraus bauen und alles was dazu gehörte. Hierauf ließ ich sie die Zahlenantwort finden und diese in französische Worte umsetzen. Zu ihrer großen Überraschung fand sie, daß nichts anderes mich so schnell nach Amsterdam zurückgeführt habe als die Liebe.

Ganz außer sich sagte sie zu mir: »Das ist erstaunlich, selbst wenn die Antwort nicht wahr sein sollte. Bitte sagen Sie mir, bei welchen Lehrern man eine so wunderbare Rechenkunst lernen kann.«

»Diejenigen, die sie kennen, können sie keinem Menschen mitteilen.«

»Woher kennen Sie sie denn?«

»Ich habe sie ganz von selber aus einem kostbaren Manuskript gelernt, das mein Vater mir hinterlassen hat.«

»Verkaufen Sie mir dieses Manuskript!«

»Ich habe es verbrannt, und ich bin nicht berechtigt, mein Wissen einem anderen Menschen mitzuteilen, bevor ich das fünfzigste Lebensjahr erreicht habe.«

»Warum gerade das fünfzigste?«

»Das weiß ich nicht; aber ich weiß, daß ich Gefahr laufen würde, es zu verlieren, wenn ich vor diesem Alter es lehrte. Der Elementargeist, der zu dem Orakel gehört, würde sich davon trennen.«

»Woher wissen Sie dies?«

»Ich habe es aus demselben Manuskript erfahren.«

»Sie können also alles erfahren, auch das Geheimste, was es auf der Welt gibt?«

»Ja, ich könnte es, wenn nicht zuweilen die Antworten so dunkel wären, daß sie nicht zu verstehen sind.«

»Da ja die Operation nicht lange dauert, würden Sie vielleicht die Gefälligkeit haben, mich die Antwort auf eine andere Frage finden zu lassen?«

»Sehr gern; Sie können vollständig über mich verfügen, soweit nicht mein Genius es mir verbieten wird.«

Sie fragte, welches ihr Schicksal sein würde, und das Orakel antwortete ihr, sie habe noch nicht den ersten Schritt getan, um ihrem Schicksal entgegenzugehen. Verwundert rief Esther ihre Gouvernante herbei; sie glaubte sie in Erstaunen zu setzen, indem sie ihr die beiden Orakel zeigte, aber die gute Schweizerin fand nichts Wunderbares darin. Esther ärgert sich, nannte sie einen Dickkopf und beschwor mich, ihr zu erlauben, noch eine Frage zu stellen. Da ich sicher war, ihr zu gefallen, so ermutigte ich sie dazu, und sie stellte folgende Frage: »Welche Person in Amsterdam liebt mich am meisten?«

Das Orakel antwortete, kein Mensch liebe sie so zärtlich wie jener, der ihr das Leben gegeben habe.

Die arme Esther, die doch sonst so klug war, sagte mir, ich hätte sie unglücklich gemacht und sie würde vor Kummer sterben, wenn es ihr nicht gelänge, diese Berechnung zu lernen. Ich antwortete nichts und tat, wie wenn ich sehr traurig wäre. Sie schrieb eine andere Frage nieder, wobei sie die Hand über das Papier hielt. Ich stand auf, wie wenn ich sie nicht belästigen wollte; aber während sie ihre Pyramide zurecht machte, warf ich im Auf- und Abgehen einen Blick auf das Papier und las ihre Frage. Nachdem sie alles so gemacht hatte, wie ich es ihr gezeigt, sagte sie zu mir, ich könnte wohl die Antwort ausziehen, ohne daß ich ihre Frage zu lesen brauchte. Ich gab dies zu, und sie bat mich errötend, ich möchte so freundlich sein. Ich erklärte mich einverstanden, aber nur unter der Bedingung, daß sie so etwas nicht zum zweitenmal von mir verlangen solle. Dies versprach sie mir.

Da ich ihre Frage gelesen hatte, so war es mir leicht, darauf zu antworten. Sie hatte das Orakel um Erlaubnis gebeten, ihrem Vater alle von ihr gestellten Fragen zu zeigen, und das Orakel antwortete ihr: sie würde glücklich sein, solange sie es nicht für nötig hielte, vor ihrem Vater etwas geheim zu halten.

Als sie diese Antwort sah, schrie sie laut auf vor Bewunderung und fand keine Ausdrücke stark genug, um mir meine Dankbarkeit auszusprechen. Ich verließ sie und ging auf die Börse, wo ich mit Herrn Pels lange über meine große Angelegenheit sprach.

Am nächsten Morgen brachte ein schöner und sehr höflicher Mann mir einen Brief von Teresa; sie schrieb mir, er könnte mir vielleicht in meinen Handelsgeschäften nützlich sein. Er hieß Rigerboos. Sie schrieb mir, die Wunden des Bürgermeistersohnes wären sämtlich leicht, und ich hätte nichts zu befürchten, weil kein Mensch etwas von der Sache wüßte. Wenn ich Geschäfte im Haag hätte, sollte ich mich nur nicht abhalten lassen. Sie schrieb mir ferner, meine kleine Sophie spräche unaufhörlich von mir, und wenn ich wiederkäme, würde ich mit ihrem Sohn viel besser zufrieden sein. Ich bat Herrn Rigerboos, mir seine Adresse zu geben, und versicherte ihm, ich würde, wenn sich die Gelegenheit böte, volles Vertrauen in seine Rechtlichkeit setzen.

Bald nachdem Rigerboos gegangen war, erhielt ich ein Briefchen von Esther, die mich im Namen ihres Vaters bat, den Tag bei ihr zu verbringen, wenn nicht etwa ein wichtiges Geschäft mich abhielte. Ich antwortete ihr: außer dem einen Geschäft, das ihr Vater kenne, hätte ich auf der ganzen Welt nichts Wichtigeres zu tun, als sie zu überzeugen, daß die Hoffnung, einen Platz in ihrem Herzen zu finden, mir das Höchste sei; sie könne daher sicher sein, daß ich nicht verfehlen würde, ihrer freundlichen Einladung Folge zu leisten.

Ich ging also um die Mittagszeit zu Herrn d’O. und fand Esther und ihren Vater beschäftigt, die Berechnung zu prüfen, durch welche vernünftige Antworten aus der Pyramide hervorgingen. Sobald er mich sah, umarmte ihr Vater mich mit freudigem Gesicht und sagte mir, er sei sehr glücklich, eine Tochter zu besitzen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken gewußt habe.

»Ihre liebe Tochter wird leicht jeden Mann anziehen, der sie zu schätzen weiß.«

»Sie schätzen sie also?«

»Ich bete sie an.«

»Umarmen Sie sie.«

Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich mich nicht lange hätte bitten lassen; aber Esther ließ mir keine Zeit; ihre Arme ausbreitend und einen Ruf des Entzückens ausstoßend, fiel sie mir um den Hals und erwiderte mit naiver Lebhaftigkeit alle Küsse, die ich in wollüstigem Entzücken ihr gab.

»Ich habe alle meine Geschäfte erledigt,« sagte Herr d’O. zu mir, »und ich habe den ganzen Tag für mich. Seit meiner Kindheit, lieber Freund, weiß ich, daß die Wissenschaft besteht, die Sie besitzen, und ich habe einen Juden gekannt, der mit ihrer Hilfe ein glänzendes Vermögen erwarb. Er sagte wie Sie, er könne seine Wissenschaft, bei Strafe sie selber zu verlieren, nur einer einzigen Person mitteilen; aber er schob diese Mitteilung so lange hinaus, daß er schließlich starb, ohne einem anderen seine Wissenschaft zu vererben; denn ein hitziges Fieber raffte ihn in wenigen Tagen hinweg. Ich hoffe, Sie werden es nicht machen wie dieser Jude. Inzwischen gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht wissen, was Sie besitzen wenn Sie sich diesen Schatz nicht zunutze zu machen wissen.«

»Sie nennen meine Wissenschaft einen Schatz; aber Sie besitzen einen tausendmal größeren.« Bei diesen Worten sah ich Esther an.

»Sprechen wir jetzt nicht davon! Ja, ich nenne Ihre Wissenschaft einen großen Schatz.«

»Aber verehrter Herr, mein Orakel gibt sehr dunkle Antworten.«

»Dunkle Antworten! Die, die meine Tochter mir gezeigt hat, sind sehr klar.«

»Offenbar ist sie glücklich im Fragestellen; denn davon hängt die Antwort ab.«

»Wir werden nach Tisch sehen, ob ich dasselbe Glück habe, das heißt, wenn Sie die Gefälligkeit haben wollen, für mich zu arbeiten.«

»Ich habe Ihnen nichts abzuschlagen, denn für mich ist der Vater untrennbar von seiner liebenswürdigen Tochter.«

Bei Tische sprachen wir von allen möglichen anderen Dingen, nur nicht von meiner Wissenschaft, denn die Prokuristen aßen am Tische des Herrn d’O., unter ihnen sein Premierminister, ein plumper und häßlicher Mensch, der augenscheinlich Absichten auf meine schöne Esther hatte. Nach dem Essen zogen wir uns in Herrn d’O.s Privatkontor zurück, wo er zwei sehr lange Fragen aus der Tasche zog. Durch die erste wollte er erfahren, was er zu tun hätte, um in einer wichtigen Angelegenheit, deren Einzelheiten er auseinander setzte, von den Generalstaaten einen günstigen Urteilsspruch zu erlangen. Ich antwortete in wenig Worten und so dunkel, wie nur eine mit den betrügerischen Geheimnissen des Dreifußes innig vertraute Pythia, und ich überließ Esther die Mühen, diese Antwort zu übersetzen und einen Sinn herauszufinden.

Anders mit der zweiten Frage! Ich war gewohnt, mich meinen ersten Eindrücken zu überlassen, und da es mir einfiel, eine klare Antwort zu geben, so tat ich es. Herr d’O. fragte, was mit einem Schiff der indischen Kompagnie geschehen sei; man kenne den Hafen, aus dem es abgesegelt sei, den Tag, an dem es ihn verlassen habe, aber man habe niemals wieder etwas davon gehört. Vor zwei Monaten schon hätte es ankommen müssen, und aus der Verzögerung schließe man, daß es untergegangen sei. Herr d’O. wollte nun wissen, ob das Schiff noch vorhanden oder ob es untergegangen sei usw. Da man keine Nachrichten habe, so wünsche die Gesellschaft, der es gehöre, einen Versicherer zu finden, der ihr zehn Prozent zahle; aber es finde sich niemand, der sich auf ein so gewagtes Unternehmen einlassen wolle, um so mehr, da ein vielleicht echter oder auch untergeschobener Brief von einem Kapitän der englischen Marine existiere, welcher behaupte, das Schiff sei vor seinen Augen auf offener See untergegangen.

Ich muß hier meinen Lesern etwas gestehen, was ich natürlich Herrn d’O. nicht sagte. Getrieben von einer Unbesonnenheit, die ich mir selber nicht erklären kann, faßte ich meine Antwort so ab, daß sie im wesentlichen keinen Zweifel darüber ließ, daß das Schiff noch existiere, daß es keinen Schaden erlitten habe und daß man in sehr wenigen Tagen von ihm hören werde. Wohl nur, weil ich augenblicklich ein Bedürfnis spürte, mein Orakel bis zu den Wolken zu erheben, brachte ich es in Gefahr, um all sein Ansehen zu kommen. Wenn ich die Absichten des guten, leichtgläubigen Herrn d’O. hätte voraussehen können, so glaube ich allerdings, ich würde meine Prahlsucht im Zaum gehalten haben; denn ganz gewiß konnte mir nichts daran liegen, ohne jeden Nutzen für mich eine beträchtliche Bresche in sein Vermögen zu legen.

Als er meine Antwort sah, wurde er ganz blaß und zitterte vor Freude. Er sagte uns, es sei von der größten Wichtigkeit, die Sache geheim zu halten; denn er sei entschlossen, sich so billig wie möglich die Versicherung des Schiffes zu verschaffen. Erschrocken über seinen Entschluß, von dem ich nur unangenehme Folgen voraussah, beeilte ich mich ihm zu sagen, ich könnte durchaus nicht dafür bürgen, daß das Orakel nicht vielleicht vollständig gelogen hätte. Ich würde vor Kummer sterben, wenn ich die unfreiwillige Ursache eines ungeheuren Verlustes sein sollte, den er erleiden könnte, wenn er einem Orakel traute, dessen geheimer Sinn vielleicht gerade das Gegenteil von dem Wortlaut bedeuten könnte.

»Täuscht das Orakel Sie zuweilen?«

»Ich bin oft sein Opfer gewesen.«

Als Esther meine Unruhe sah, bat sie ihren Vater, doch lieber keinen Schritt zu unternehmen. Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen.

Herr d’O. war nachdenklich; sein Kopf schien voll zu sein von dem Projekt, das seine Phantasie ihm als so aussichtsvoll hatte erscheinen lassen. Er sprach viel über die angebliche Macht der Zahlen und befahl seiner Tochter, ihm noch einmal alle ihre Fragen an das Orakel und die erhaltenen Antworten vorzulesen. Es waren sechs oder sieben, alle kurz und alle entweder scherzhafter oder moralischer, bestimmter oder zweifelhafter Auslegung fähig. Esther, die alle Pyramiden gemacht hatte, hatte durch meine mächtige Beihilfe bei der Erlangung der Antworten geglänzt, die ich sie nach meiner Laune hatte finden lassen. In der Freude seines Herzens über ihre Geschicklichkeit bildete ihr Vater sich ein, sie würde sich die geheime Wissenschaft leicht nur durch ihren Scharfsinn aneignen können. Die reizende Esther war von dieser Spielerei so eingenommen, daß sie ebenfalls beinahe von dieser Möglichkeit überzeugt war.

Nachdem wir tödlich langweilige Stunden damit verbracht hatten, alle diese Antworten, die meine Wirte köstlich fanden, noch einmal durchzusprechen, speisten wir zu Abend. Beim Abschied sagte Herr d’O. zu mir: »Da morgen Sonntag ist, und dieser Tag dem Vergnügen und nicht der Arbeit geweiht sein muß, so hoffe ich, Sie werden uns das Vergnügen machen, den Tag mit uns in unserem hübschen Hause an der Amstel zu verbringen.«

Sie waren hocherfreut, als ich die Einladung annahm.

Ich mußte unwillkürlich über den Handelsgeist nachdenken, der das Denken einengt oder vielmehr es sozusagen ganz auf Spekulation und Gewinn beschränkt. Herr d’O. war doch sicherlich ein Ehrenmann, aber trotz seinem großen Reichtum beseelte ihn die Habsucht seines Standes. Ich fragte mich, ob ein Mann, der sich für entehrt halten würde, wenn er einen Dukaten stähle oder einen auf der Straße gefundenen dem bekannten Eigentümer nicht zurückgäbe – ob ein solcher Mann wirklich glauben könnte, ehrlich zu handeln, indem er mit einer kleinen Summe einen sehr großen Gewinn zu machen suchte, obwohl er die kleine Summe nicht riskierte, da er ja die Gewißheit hätte, daß ihm durch das Orakel die Existenz des Schiffes dargetan wäre und da dieses Orakel, an das er ja glaubte, sagte, daß man in wenigen Tagen Nachrichten von dem Schiff haben würde? Ganz gewiß war in seinem Vorgehen etwas Betrügerisches; denn es ist moralisch nicht erlaubt, ein Spiel zu spielen, bei welchem man des Gewinnes sicher ist.

Aber dies ist der Geist des Handels. Ein Kaufmann verkauft eine Ware zum Zehnfachen des Ankaufspreises. Er rühmt sie als ausgezeichnet, obgleich er weiß, daß sie nichts taugt; aber er glaubt von Berufs wegen dieses Vorrecht zu haben, und infolgedessen ist sein Gewissen vollkommen ruhig. Die Juden, die Christen betrügen, denken genau so wie diese Kaufleute.

Auf dem Heimwege kam ich bei einer Kneipe vorüber, und da ich viele Leute aus- und eingehen sah, so beschloß ich, mir einmal anzusehen, wie diese Lokale in Holland beschaffen wären. Großer Gott! es war eine entsetzliche Orgie; in einer Art von Kellerloch eine wahre Kloake des Lasters und der ekelhaftesten Ausschweifung. Der rauhe, mißtönende Klang von zwei oder drei Instrumenten, die das Orchester bildeten, versetzte die Seele in eine Art von widerstrebender Traurigkeit, wodurch diese Höhle vollends gräßlich wurde. Dazu war sie von dichtem Qualm schlechten Tabaks erfüllt und von einem erstickenden Geruch von Knoblauch und Bier, der jedem Munde entströmte. Nehmt dazu einen Haufen Matrosen und Männer aus der Hefe des Volkes, vermischt mit feilen Dirnen niedrigster Art, und ihr habt die Umrisse des gemeinsten Gemäldes, das die Augen eines Menschen beleidigen kann. Für die armen Matrosen und die Hefe des Volkes war dies ein Ort der Wonne, wo sie sich für ihre Entbehrungen während langer und mühevoller Seefahrt oder für das Elend ihrer täglichen Fronarbeit zu entschädigen glaubten. Unter den Weibern war nicht eine einzige erträgliche. Ich betrachtete stillschweigend dieses niederträchtige Schauspiel, als ein dicker Kerl von verdächtiger Miene, der wie ein Kesselflicker aussah und wie ein Bauer sprach, mich in schlechtem Italienisch fragte, ob ich für einen Stüber tanzen wolle. Ich sagte nein; aber ehe ich ging, zeigte er mir eine Venetianerin und sagte mir, ich könnte sie hinauf kommen lassen und mit ihr ein Glas Wein trinken.

Neugierig, ob sie mir vielleicht bekannt wäre, trat ich auf sie zu; ich musterte sie aufmerksam und glaubte Züge zu sehen, die mir nicht unbekannt waren; doch konnte ich mich genauerer Umstände nicht erinnern. Ein Gefühl der Neugier trieb mich, neben ihr Platz zu nehmen und sie zu fragen, ob sie wirklich eine Venetianerin und ob sie schon lange von ihrer Heimat fort sei. – »Ungefähr achtzehn Jahre«, antwortete sie mir. Man brachte eine Flasche Wein; ich fragte sie, ob sie trinken wolle; sie nahm an und sagte mir: wenn ich Lust hätte, würde sie mit mir nach oben gehen.

»Ich habe keine Zeit,« sagte ich; mit diesen Worten gab ich dem Kellner einen Dukaten; den Rest, den er mir herausgab, drückte ich der Unglücklichen in die Hand. Voller Dankbarkeit wollte sie mich umarmen; aber ich wehrte ab.

»Sind Sie lieber in Amsterdam als in Venedig?«

»Ach, nein! wenn ich in meiner Heimat wäre, würde ich nicht dieses schändliche Gewerbe treiben.«

»Wie alt waren Sie, als Sie fortgingen?«

»Erst vierzehn Jahre; und ich lebte glücklich bei meinem Vater und bei meiner Mutter, die vielleicht vor Kummer gestorben sind.«

»Wer hat Sie verführt?«

»Ein Schurke von einem Läufer.«

»In welchem Stadtteil von Venedig wohnten Sie?«

»Ich wohnte nicht in Venedig, sondern nicht weit von der Hauptstadt auf einem Landgut im Friaul.«

Ein Landgut im Friaul … vor achtzehn Jahren … ein Läufer … ich fühlte mich ergriffen … ich sah das arme unglückliche Weib näher an und erkannte bald Lucia von Paseano. Unbeschreiblich peinlich war das Gefühl, das ich empfand. Ich nahm mich wohl in acht, mich ihr zu erkennen zu geben, und bemühte mich, eine gleichgültige Miene zu bewahren. Die Ausschweifung hatte ihr eigentlich noch jugendliches Gesicht gebrandmarkt und ihre Reize zerstört. Lucia, die zärtliche, hübsche, unschuldige, naive Lucia, die ich so sehr geliebt hatte, deren Unschuld ich aus Gefühl geschont hatte – sie war jetzt eine häßliche Vettel in einem Bordell! Dieser Gedanke war entsetzlich. Die Unglückliche trank wie ein Matrose, ohne mich anzusehen, ohne sich im geringsten darum zu bekümmern, wer ich sein möchte! Ich zog einige Dukaten aus meiner Börse und entfloh aus dieser ekelhaften Lasterhöhle, bevor sie nachsehen konnte, wieviel ich ihr gegeben hatte.

In traurigster Stimmung legte ich mich zu Bett. Selbst unter den Bleidächern habe ich vielleicht niemals einen so unglücklichen Tag verbracht. Es kam mir vor, wie wenn ich an diesem Tage unter dem Einfluß eines unheilbringenden Gestirnes aufgestanden wäre. Ich war mir selber zum Ekel. Wenn ich an die unglückliche Lucia dachte, glaubte ich Gewissensbisse zu fühlen; aber wenn ich an Herrn d’O. dachte, verabscheute ich mich selbst. Ich sah in mir den Urheber eines ungeheuren Verlustes von drei- oder vierhunderttausend Gulden, den er erleiden würde, weil meine Kabbala ihn betört hatte. Die Furcht vor diesem Verlust machte mich mir selber hassenswert und entmutigte sozusagen die zärtliche Liebe, die ich für Esther empfand. Ich glaubte schon zu sehen, wie sie und ihr Vater meine unversöhnlichen Feinde geworden waren. Man kann nur lieben, wenn man Hoffnung hegt; mag diese mehr oder weniger begründet sein, immerhin muß sie die Aussicht bieten, daß die Liebe erwidert wird.

Ich verbrachte die abscheulichste Nacht. Lucia, Esther, ihr Vater, – sie alle erschienen mir in meinen Träumen, sie alle haßten mich, und ich haßte mich selber. Ich sah Esther und ihren Vater durch meine Schuld, wenn auch nicht zu Grunde gerichtet, so doch beträchtlich in ihrem Vermögen geschädigt; ich sah Lucia, im Alter von nur zweiunddreißig Jahren durch das Laster vernichtet, eine Zukunft von Elend und Schmach vor sich!

Mit Freuden sah ich den Morgen dämmern, denn das Licht machte mich ein wenig ruhiger. Wie entsetzlich ist die Finsternis für ein Herz, das von Gewissensbissen gefoltert wird!

Ich stand auf, legte eine prunkvolle Kleidung an und ließ eine Kutsche kommen, um der Fürstin Galitzin, die im »Morgenstern« wohnte, meine Aufwartung zu machen. Sie war bereits ausgegangen und befand sich im Admiralitätshause. Ich fuhr dorthin und fand in ihrer Gesellschaft Herrn von Reischach und den Grafen Tott, welcher neue Nachrichten von meinem Freunde Pesselier empfangen hatte; bei diesem hatte ich seine Bekanntschaft gemacht, und er war bei meiner Abreise von Paris gefährlich krank gewesen.

Da ich meine Kutsche fortgeschickt hatte, verließ ich das Admiralitätsgebäude zu Fuß und ging nach der Wohnung des Herrn d’O. an der Amstel. Meine überaus prächtigen Kleider ärgerten den holländischen Pöbel; ich wurde verhöhnt und ausgepfiffen. So ist ja die Canaille in allen Ländern!

Esther sah mich vom Fenster aus, zog die Schnur und öffnete mir die Tür. Schnell sprang ich ins Haus und schloß die Tür wieder zu. Als ich eine Holztreppe hinaufging, stieß ich auf der vierten oder fünften Stufe gegen einen weichen Gegenstand. Ich sah hin und bemerkte eine grüne Brieftasche. Ich bückte mich, um sie aufzuheben, benahm mich aber dabei so ungeschickt, daß ich sie durch eine Öffnung stieß, die hinten an der Stufe, wahrscheinlich zur Beleuchtung einer darunter befindlichen Treppe, angebracht war. Ich hielt mich nicht weiter auf, sondern ging nach oben. Man empfing mich wie gewöhnlich, und da mein glänzender Anzug ihnen auffällig sein konnte, so erklärte ich ihnen die Veranlassung. Esther sagte mir lächelnd, ich sähe wie ein ganz anderer Mensch aus; aber trotz ihrem Lächeln glaubte ich zu bemerken, daß sie traurig waren. Die Gouvernante der hübschen Esther kam herein und sagte ihnen etwas auf holländisch, worüber meine Schöne augenscheinlich betrübt war; sie stand auf und gab ihrem Vater tausend Küsse.

»Ich sehe, meine Freunde, Ihnen ist irgend ein Unglück zugestoßen. Wenn meine Gegenwart Ihnen lästig ist, so sagen Sie es mir ohne Umstände und erlauben Sie mir, mich zurückzuziehen.«

»Das Unglück ist nicht so groß, ich habe mich schon damit abgefunden. Mir bleibt noch ein hinreichendes Vermögen, um meinen Verlust mit Geduld zu ertragen.«

»Was für einen Verlust haben Sie erlitten, wenn ich fragen darf?«

»Ich habe eine ziemlich reich gefüllte Brieftasche verloren, die ich vorsichtigerweise hätte zu Hause lassen sollen, denn ich brauchte sie erst morgen.«

»Und Sie können sich nicht denken, wo Sie sie verloren haben?«

»Ich kann sie nur auf der Straße verloren haben, und ich weiß nicht, wie das zuging. Sie enthält Wechsel auf hohe Summen, deren Bezahlung ich verhindern kann; außerdem aber auch Noten der Bank von England in hohem Werte, und diese sind verloren, denn sie lauten auf den Inhaber. Danken wir Gott für alles, liebe Tochter, und bitten wir ihn, uns den Rest zu erhalten und vor allen Dingen unsere Gesundheit; denn uns könnte wohl größeres Unglück zustoßen. Ich habe in meinem Leben viel größere Schläge erlitten und habe sie nicht nur überstanden, sondern auch den Verlust wieder gut gemacht. Sprechen wir also nicht mehr von diesem Unfall; ich will annehmen, ich hätte diesen Verlust durch einen Bankerott erlitten.«

Während Herr d’O. so sprach, fühlte ich mein Herz von Freude überströmt, aber ich bewahrte den Ernst, der den Umständen entsprach. Ich hatte die fast sichere Gewißheit, daß die Brieftasche keine andere wäre, als jene, die ich ungeschickterweise durch das Treppenloch hindurchgestoßen hatte. Diese konnte also jedenfalls nicht verloren sein. Man begreift wohl, daß ich sofort auf den Gedanken kam, die Ehre für meine prachtvolle Entdeckung meiner kabbalistischen Wissenschaft zukommen zu lassen. Die Gelegenheit war zu schön, um sie zu vernachlässigen, besonders da ich noch die Folgen der während der Nacht ausgestandenen Ängste verspürte. Ich hatte gefürchtet, den Ehrenmann zu einem ungeheuren Verlust verleitet zu haben; nun aber wollte ich meinen Wirten einen großen Beweis von der Unfehlbarkeit meines Orakels geben. Wie viele Wunder sind auf dieselbe Weise zustande gekommen! Dieser Gedanke versetzte mich in gute Laune; ich begann zu scherzen und machte in meiner Fröhlichkeit so drollige Bemerkungen, daß Esther herzlich darüber lachte. Wir aßen köstlich und tranken Weine, die des feinsten Kenners würdig waren. Nach dem Kaffee sagte ich ihnen: wenn sie das Spiel liebten, könnte wir spielen; aber Esther antwortete, damit wäre eine kostbare Zeit verloren; sie wäre zu leidenschaftlich für die Pyramiden eingenommen und schlüge mir vor, uns damit zu unterhalten, wenn es mir recht wäre. Dies wollte ich gerade. Ich sagte also zu ihr: »Recht gern; es geschehe nach Ihrem Wunsche.«

»Soll ich fragen, wo mein Vater seine Brieftasche verloren hat?«

»Warum nicht? Es ist eine ganz angemessene Frage; stellen Sie sie.«

Sie machte die Pyramide und erhielt die Antwort, die Brieftasche sei von keinem Menschen gefunden worden. Sie sprang vor Freude auf und fiel dem Vater um den Hals.

»Wir werden die Brieftasche wieder finden, lieber Papa!«

»Ich hoffe es wie du, liebe Tochter, denn diese Antwort ist recht tröstlich.«

Esther überhäufte ihn mit Liebkosungen.

»Ja,« sagte ich, »es ist allerdings einige Hoffnung vorhanden; aber das Orakel wird bei allen Fragen stumm bleiben …«

»Stumm? warum denn?«

»… wenn Sie mir nicht so viele Küsse geben, wie Sie Ihrem lieben Papa gegeben haben!«

»Oh! ich werde es schon zum Sprechen bringen!« sagte sie lachend; und mit diesen Worten fiel sie mir um den Hals und herzte und küßte mich, und ich erwiderte ihre Liebkosungen.

Glückliche Zeiten! wenn ich an sie denke – und trotz dem abscheulichen Alter, das mich so wenig geeignet zur Liebe macht, denke ich so gerne an sie – wenn ich an sie denke, fühle ich mich verjüngt, und mein Leben schmückt sich wieder mit dem Zauber der Jugend, trotz der Wirklichkeit, die mich soweit davon entfernt.

Endlich setzte Esther sich wieder hin und fragte, wo die Brieftasche sei. Die Pyramide antwortete mir, die Brieftasche sei in die Öffnung der fünften Treppenstufe gefallen.

Herr d’O. sagte zu seiner Tochter: »Laß uns nachsehen, liebe Esther, ob das Orakel Wahrheit spricht!«

Mit freudigen und hoffnungsvollen Gesichtern gingen beide nach der Treppe; ich folgte ihnen. Herr d’O. zeigte uns selber das Loch, durch das die Brieftasche gefallen sein sollte. Er zündete eine Kerze an, und wir stiegen in einen Keller hinunter, wo er bald die Brieftasche aufhob, die ins Wasser gefallen war. Hoch erfreut gingen wir wieder nach oben und nun sprachen wir eine Stunde lang in vollem Ernste über die Göttlichkeit des Orakels, das nach ihrer Meinung den Besitzer zum glücklichsten aller Menschen machen mußte.

Er öffnete die Brieftasche und zeigte uns vierzig englische Schatzscheine zu je tausend Pfund Sterling. Zwei davon gab er seiner Tochter, und mich nötigte er ebenfalls zwei anzunehmen; aber ich nahm sie mit der einen Hand und gab sie mit der anderen an Esther weiter, indem ich sie bat, sie aufzubewahren; hierin willigte sie jedoch erst ein, als ich ihr drohte, ich würde sonst nicht mehr mit ihr an der Kabbala arbeiten. Ich sagte Herrn d’O., daß ich mehr auf seine Freundschaft Wert lege; er umarmte mich und schwor mir Freundschaft auf Tod und Leben.

Indem ich der schönen Esther meine zweitausend Pfund Sterling übergab, war ich sicher, sie an mich zu fesseln; nicht durch Rücksicht auf ihren Vorteil, sondern durch Vertrauen. Das reizende Mädchen hatte in ihrem Wesen etwas so Sieghaftes, daß es mir vorkam, wie wenn mein Dasein an das ihrige gebunden wäre.

Ich sagte zu Herrn d’O., am meisten läge mir am Herzen, meine zwanzig Millionen unterzubringen, aber mit geringem Verlust.

»Ich hoffe Sie zufriedenstellen zu können,« sagte er zu mir; »aber Sie müssen oft bei mir sein, und darum, mein lieber Freund, müssen Sie von nun an in meinem Hause wohnen; betrachten Sie es als das Ihrige.«

»Ich würde Ihnen zur Last fallen.«

»Fragen Sie danach meine Tochter!«

Da Esther ihre Bitten mit denen ihres Vaters vereinigte, so nahm ich den Vorschlag an; ich hütete mich wohl, ihnen zu verraten, wie glücklich mich dies machte, sondern begnügte mich damit, ihnen meine Dankbarkeit auszusprechen. Sie antworteten auf eine Weise, die mich überzeugte, daß ich ihnen wirklich einen Gefallen tat.

Herr d’O. ging in sein Arbeitszimmer, und ich befand mich mit Esther allein. Ich gab ihr einen zärtlichen Kuß und sagte ihr, ich könnte nur glücklich sein, wenn sie mir ihr Herz schenkte.

»Sie lieben mich also?«

»Auf das allerzärtlichste, und ich bin zu allem bereit, um Sie davon zu überzeugen, wenn ich hoffen darf, daß Sie meine Liebe teilen werden.«

Sie gab mir ihre Hand, die ich mit Küssen bedeckte, und sagte zu mir: »Sobald Sie bei uns wohnen, werden Sie leicht einen günstigen Augenblick finden, um meinen Vater um meine Hand zu bitten, und Sie werden keinen abschlägigen Bescheid zu befürchten haben; vor allen Dingen aber müssen Sie bei uns wohnen.«

»Oh! geliebtes Weib, schon morgen werde ich kommen.«

So unterhielten wir uns von unserer Liebe, Hoffnung und Zukunft in der süßesten Hingebung gegenseitigen Vertrauens; ich mußte wirklich aufrichtig verliebt sein, denn nicht der geringste unzüchtige Gedanke kam mir in der Gesellschaft dieses schönen Mädchens, von dem ich mich geliebt fühlte.

Herr d’O. kam zurück und sagte uns beim Eintreten, wir würden am nächsten Tage eine große Börsennachricht hören.

»Was für eine Nachricht denn, lieber Papa?«

»Ich bin entschlossen, ganz allein für dreihunderttausend Gulden das verloren geglaubte Schiff zu übernehmen. Man wird sagen, ich sei verrückt; aber verrückt ist gerade, wer das sagt. Verrückt wäre ich, wenn ich noch den geringsten Zweifel hegen könnte, nachdem ich so augenscheinlich die Göttlichkeit des Orakels erkannt habe.«

»Mein lieber Herr d’O., Sie machen mich zittern; ich habe Ihnen gesagt, daß das Orakel mich oft getäuscht hat.«

»Dies hat nur dann der Fall sein können, lieber Freund, wenn Sie den richtigen Sinn nicht erfaßt hatten, wenn die Antworten zweideutig waren; aber in dem vorliegenden Falle lautet sie zum Greifen deutlich. Ich werde die drei Millionen Gulden gewinnen oder eine Summe verlieren, die mich nicht zu Grunde richtet.«

Esther, die durch das Wiederfinden der Brieftasche begeistert und geblendet war, sagte ihrem Vater, er solle sich beeilen. Ich konnte nun nicht mehr zurück, aber meine Traurigkeit war wieder über mich gekommen. Herr d’O. bemerkte dies, streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Wenn auch das Orakel dieses Mal gelogen hätte, so bliebe ich trotzdem Ihr Freund.«

»Diese Versicherung tröstet mich,« sagte ich zu ihm; »aber da es sich hier um eine Angelegenheit von größter Bedeutung handelt, so erlauben Sie mir noch einmal das Orakel zu befragen, bevor Sie sich einem Verlust von dreihunderttausend Gulden aussetzen.«

Dieser Vorschlag entzückte Vater und Tochter; sie wußten gar nicht, wie sie mir ihre Freude und ihre Dankbarkeit ausdrücken sollten, daß ich um ihre Interessen so besorgt wäre. Nun habe ich eine wirklich überraschende Tatsache zu berichten, die zum Glauben an eine unmittelbare Einwirkung des Schicksals verleiten könnte. Ohne Zweifel werde ich manchen ungläubigen Leser finden; aber da diese Erinnerungen erst an den Tag kommen werden, wenn ich nicht mehr auf dieser Welt bin, so habe ich kein Interesse daran, die Wahrheit zu schminken, zumal da ich nur schreibe, um mir meine Mußestunden zu verschönen. Mag daran glauben, wer will – folgendes ist die Tatsache in ihrer ganzen Einfachheit: ich schrieb selber die Frage nieder, baute die Pyramide und traf alle kabbalistischen Vorbereitungen, ohne mir von Esther dabei helfen zu lassen. Ich war erfreut, noch zur rechten Zeit eine große Unbesonnenheit verhindern zu können, und ich war fest entschlossen, dies zu tun. Es stand in meiner Macht, eine doppelsinnige Antwort aus meiner Feder fließen zu lassen; diese mußte Herrn d’O. den Mut nehmen und seinen Plan zum Scheitern bringen; ich hatte diesen Doppelsinn mir ausgedacht und glaubte bestimmt ihn in Zahlen ausgedrückt zu haben. Hiervon überzeugt, sagte ich zu Esther, die das Alphabet genau kannte, sie möchte selber die Antwort ausziehen und in Worte übertragen. Sie tat dies im Handumdrehen, und mam denke sich meine Überraschung, als ich sie die Worte lesen hörte:

Quand il s’agit, d’un fait pareil, on ne doit ni craindre ni hésiter. Votre repentir serait trop douloureux.

Wenn es sich um eine solche Sache handelt, darf man nicht fürchten noch zögern. Ihre Reue würde zu schmerzlich sein.

Man wird begreifen, daß es eines weiteren nicht bedurfte. Vater und Tochter umarmten mich, und Herr d’O. sagte mir, sobald das Schiff erschiene, würde ich den zehnten Teil des Gewinnes erhalten. Ich konnte vor Überraschung nicht antworten; denn ich glaubte ganz bestimmt statt craindre und hésiter geschrieben zu haben: croire und hasarder. Aber so stark wirkt die Selbstverblendung auf einen voreingenommenen Geist, daß Herr d’O. in meinem Schweigen nur die Bestätigung der Unfehlbarkeit meines Orakels erblickte. Jedenfalls konnte ich nicht mehr zurück, und so ergab ich mich darein und überließ dem Zufall den Anteil, den er trotz allem unserem Streben nun einmal an unserem Geschick hat.

Am nächsten Tage zog ich zu Esther in eine herrliche Wohnung, und am Tage darauf ging ich mit ihr allein ins Konzert, wo sie aufs geistreichste mich damit neckte, daß die Abwesenheit der Madame Trenti und meiner Tochter mir gewiß großen Schmerz machen müsse. Esther besaß mich ganz und gar; ich lebte nur in ihrer Anbetung und konnte mir ihre augenscheinliche Liebe nicht verhehlen; aber Esther hatte Grundsätze; ich besaß sie nicht und verging vor Sehnsucht und Schmachten.

Fünf oder sechs Tage später teilte Herr d’O. mir das Ergebnis einer Besprechung mit, die er mit Herrn Pels und den Inhabern von sechs anderen Handelshäusern über meine zwanzig Millionen gehabt hatte. Sie boten zehn Millionen bar und sieben Millionen in fünf- und sechsprozentigen Papieren mit Abzug von einem Prozent Maklergebühr. Außerdem verzichteten sie auf eine Million zweihunderttausend Gulden, die die Französisch-Indische Gesellschaft der Holländischen Gesellschaft schuldete.

Zu solchen Bedingungen konnte ich nicht abschließen, obgleich ich sie im Grunde in Anbetracht der Geldnot, worin sich damals der Staatsschatz Ludwigs des Fünfzehnten befand, für recht vernünftig hielt. Ich beeilte mich, eine Abschrift des Vorschlages an Herrn de Boulogne und an Herrn d’Affry zu schicken, indem ich sie um schnelle Antwort bat. Nach acht Tagen erhielt ich im Auftrage des Herrn de Boulogne einen eigenhändigen Brief von Herrn de Courteuil: ich solle derartige Vorschläge rundweg ablehnen und nach Paris zurückkommen, wenn ich keine besseren Bedingungen finden könnte. Man wiederholte mir, der Friede sei sicher, obwohl man in Holland darüber ganz entgegengesetzter Meinung war.

Wahrscheinlich wäre ich sofort nach Paris abgereist, wenn nicht ein Umstand eingetreten wäre, der allerdings in der Familie, deren Mitglied ich sozusagen geworden war, nur mich allein in Erstaunen setzte. Herrn d’O.’s Mut war außerordentlich gewachsen, und wie wenn das Schicksal mich wider meinen Willen zum Propheten hätte machen wollen, hatte man seit drei Tagen an der Börse Nachrichten von dem verloren geglaubten Schiff erhalten, das Herr d’O. im Vertrauen auf mein Orakel für dreihunderttausend Gulden gekauft hatte. Das Schiff lag bei Madeira. Man denke sich Esthers Freude und besonders die meinige, als wir den braven Mann triumphierend eintreten sahen und von ihm die Glücksbotschaft vernahmen! »Ich habe«, sagte er zu uns, »das Schiff von Madeira nach dem Texel für eine Kleinigkeit versichert; Sie können also, lieber Freund, von diesem Augenblick an über ein Zehntel des Gewinnes verfügen, den ich Ihnen verdanke.«

Der Leser kann sich vorstellen, wie angenehm mir dies war; was er sich jedoch nicht vorstellen kann – er müßte mich denn so genau kennen wie ich selber, und das ist unmöglich – ist die Verlegenheit, in die mich die folgenden Worte des Herrn d’O. versetzten:

»Sie sind jetzt reich genug, um sich bei uns selbständig zu machen, und Sie sind sicher, in wenigen Jahren, bloß durch die Beschäftigung mit Ihrer Kabbala, ungeheuer reich zu werden. Ich werde Ihr Agent sein, lieber Freund; werden Sie mein Teilhaber, und wenn meine Tochter Ihnen gefällt und Sie haben will, so können Sie mein Sohn sein, sobald Sie wollen.«

Freude und Glück leuchteten aus Esthers Augen; ich aber, der sie anbetete, ließ sie in den meinigen nur Überraschung lesen. Das Glück und der Zwang, den ich mir antun mußte, hatten mich stumpfsinnig gemacht. Ich konnte mir meine Gefühle selber nicht erklären, aber ohne Zweifel wirkte unbewußt in mir meine unüberwindliche Abneigung gegen die Ehe. Nach einem ziemlich langen Schweigen fand ich endlich die Sprache wieder und erging mich in Versicherungen der Dankbarkeit, des Glückes und der Liebe. Ich schloß mit der Bemerkung, daß ich trotz meiner zärtlichen Liebe zu Esther mich noch nicht binden könnte, sondern wegen der ehrenvollen Vertrauensangelegenheit, die die Regierung in meine Hände gelegt, erst nach Paris zurückkehren müßte; aber nach meiner Rückkehr nach Amsterdam wäre ich sicher, über mein Schicksal entscheiden zu können.

Diese lange Auseinandersetzung hatte das Glück, ihnen zu gefallen. Esther zeigte sich sehr zufrieden, und wir verbrachten den Rest des Tages in fröhlicher Stimmung. Am nächsten Tage gab Herr d’O. mehreren Freunden ein prachtvolles Mittagessen; sie wünschten ihm Glück zu seinem glänzenden Geschäft, aber sie konnten sich seinen Mut nur dadurch erklären, wie sie sagten, daß er von der Anwesenheit des Schiffes bei Madeira Kenntnis gehabt haben müßte, obgleich sie andererseits nicht begreifen konnten, auf welche Weise er sich vor allen anderen diese Kenntnis verschafft haben möchte. Acht Tage nach diesem glücklichen Ereignis sagte er mir das Ultimatum in der Angelegenheit der zwanzig Millionen. Frankreich sollte bei dem Verkauf seiner Papiere nur neun Prozent verlieren, und ich sollte keine Maklergebühr erhalten.

Ich schickte sofort eine Abschrift des Vertrages an Herrn d’Affry und bat ihn, sie unverzüglich auf meine Kosten an den Herrn Generalkontrolleur weiter zu befördern. Zugleich schrieb ich diesem, das Geschäft würde unwiderruflich scheitern, wenn er einen einzigen Tag zögerte, an Herrn d’Affry die Vollmacht zu schicken, deren ich zum Abschluß des Vertrages bedürfte. In demselben Sinne schrieb ich an Herrn de Courteuil und an den Herzog von Choiseul, indem ich sie darauf aufmerksam machte, daß ich selber bei dem Geschäft nichts verdiente, trotzdem aber es abzuschließen riete, weil es mir vorteilhaft schiene; übrigens wäre ich überzeugt, daß man mir in Versailles meine Kosten ersetzen und mir die Belohnung, die ich beanspruchen dürfte, nicht vorenthalten würde.

Da Karneval war, fand Herr d’O. es angezeigt, einen Ball zu geben. Er lud dazu die ganze vornehme Gesellschaft von Amsterdam ein. Ball und Essen waren prachtvoll; Esther, mit Diamanten bedeckt, tanzte alle Kontertänze mit mir und bezauberte alle Gäste ebenso sehr durch ihre Anmut wie durch ihre Schönheit.

Ich verbrachte alle meine Tage nur mit Esther, und jeden Tag wurden wir verliebter und unglücklicher, denn wir verzehrten uns einer Enthaltsamkeit, die uns immer mehr erregte, indem sie die Begierden steigerte.

Esther liebte mich innig; aber sie war mehr aus Grundsatz als aus Temperament tugendhaft und gewährte mir nur unbedeutende Freiheiten. Verschwenderisch war sie nur mit Küssen; aber Küsse sind für die Liebe durchaus kein Heilmittel, sondern nur ein Reizmittel. Die Liebe machte mich rasend. Sie sagte mir, wie alle angeblich anständigen Mädchen, sie wäre überzeugt, daß ich sie nicht heiraten würde, wenn sie einwilligte, mich glücklich zu machen; sobald sie meine Frau wäre, würde sie ganz und gar die meine sein. Sie glaubte nicht, daß ich verheiratet wäre, denn ich hätte ihr zu bestimmt das Gegenteil versichert und diese Versicherung entspräche nur zu sehr ihren eigenen Wünschen; aber sie wäre überzeugt, daß ich in Paris ein inniges Verhältnis hätte. Ich gab dies zu und versicherte ihr, ich würde das Verhältnis gänzlich lösen, um nur noch ihr anzugehören und unsere Geschicke durch ein unauflösliches Band zu verknüpfen. Leider war dies eine Lüge; denn Esther und ihr Vater waren unzertrennlich, und dieser war erst vierzig Jahre alt. Ich konnte mich aber nicht mit dem Gedanken befreunden, mich unwiderruflich in Holland niederzulassen.

Zehn oder zwölf Tage nach der Absendung des Ultimatums erhielt ich einen Brief von Herrn de Boulogne; er schrieb mir, Herr d’Affry habe alle von mir gewünschten Anweisungen erhalten, damit ich den Austausch der zwanzig Millionen abschließen könne. Der Herr Gesandte schickte mir einen Brief, der die Mitteilungen des Generalkontrolleurs bestätigte. Er ersuchte mich, meine Maßregeln genau zu treffen, denn er würde die königlichen Anweisungen nur gegen Empfang von achtzehn Millionen zweihunderttausend Franken in barem Gelde herausgeben.

Da nun der schmerzliche Augenblick der Trennung nahe war, taten wir uns in den Ausdrücken unseres Bedauerns keinen Zwang mehr an und vergossen reichliche Tränen miteinander. Esther übergab mir den Wert der zweitausend Pfund Sterling, die ich durch das Wiederfinden der Brieftasche so leicht und unerwartet verdient hatte. Ihr Vater gab mir auf meinen Wunsch hunderttausend Gulden in Wechseln auf Tourton & Baur und auf Pâris de Montmartel, und außerdem eine Quittung, die mich ermächtigte, bis zum Betrage von zweihunderttausend Gulden auf ihn selber zu ziehen. Im Augenblick der Abreise schenkte meine Esther mir fünfzig Hemden aus feinster holländischer Leinwand und fünfzig Taschentücher von Mazulipatam. Nicht die Liebe zu Manon Baletti, sondern eine dumme und lächerliche Eitelkeit, in dem prachtvollen Paris eine Rolle zu spielen, veranlaßte mich, Holland zu verlassen. Aber ich hatte nun einmal von Mutter Natur eine solche Anlage empfangen, daß fünfzehn Monate unter den Bleidächern nicht genügt hatten, mich von meiner Krankheit zu heilen. Wenn ich übrigens noch mehr darüber nachdenke, kann ich mich darüber nicht wundern; denn selbst die zahllosen Schicksalsschläge, die ich seither erlitt, haben diese Heilung nicht bewirkt. Es gibt körperliche und moralische Krankheiten, die unheilbar sind. Schicksal ist ein sinnloses Wort; denn wir selber bereiten uns unser Schicksal – trotz dem Wahlspruch der Stoiker: Volentem ducit, nolontem trahit – Willst du, so führt es dich; willst du nicht, so reißt es dich fort. Ich wäre zu nachsichtig gegen mich selber, wenn ich diesen Satz auf mich anwenden wollte. – Nachdem ich Esther geschworen hatte, ich würde vor dem Ende des Jahres zurückkehren, reiste ich mit einem Bevollmächtigten der Gesellschaft, die die französischen Papiere gekauft hatte, nach dem Haag. Boas empfing mich mit Erstaunen und Bewunderung. Er sagte mir, ich hätte ein Wunder vollbracht und sollte mich beeilen, nach Paris zurückzukehren, wäre es auch nur, um mich an dem Weihrauch der Glückwünsche zu berauschen. »Aber«, setzte er hinzu, »Sie können unmöglich diesen schönen Erfolg gehabt haben, wenn Sie nicht das Geheimnis besaßen, die Herren zu überzeugen, daß der Abschluß des Friedens nahe bevorstehe.«

»Nein, ich habe ihnen durchaus nichts eingeredet, denn sie sind vom Gegenteil überzeugt; aber ich kann Ihnen versichern, daß der Friede in der Tat unmittelbar bevorsteht.«

»Wenn Sie mir diese Versicherung schriftlich geben wollen, so schenke ich Ihnen fünfzigtausend Gulden in Diamanten.«

»Ich bin der Sache ebenso gewiß wie der Gesandte; indessen glaube ich doch nicht, daß sie so sicher ist, daß Sie Ihre Diamanten riskieren könnten.«

Am nächsten Tage brachte ich bei dem Gesandten alles in Ordnung und der Bevollmächtigte reiste nach Amsterdam zurück.

Ich ging zu Teresa zum Abendessen und fand ihre Kinder sehr sauber gekleidet. Ich bat sie, mich am nächsten Tage in Rotterdam zu erwarten, um mir dort ihren Sohn zu übergeben; denn ich wollte den bösen Zungen keinen Anlaß zum Geschwätz geben, indem ich ihn vom Haag aus mitnahm.

Bei Boas kaufte ich für vierzigtausend Gulden Diamanten und andere Kleinodien und versprach ihm, bei ihm abzusteigen, wenn ich wieder nach dem Haag käme. Ich habe ihm nicht Wort gehalten.

Teresa sagte mir in Rotterdam, sie wisse, daß ich in Amsterdam eine halbe Million verdient habe; sie würde ihr Glück machen, wenn sie aus Holland fortgehen und sich in London niederlassen könnte. Sie hatte Sophie dazu abgerichtet, mir zu sagen, mein Glück sei eine Wirkung der Gebete, die sie an den lieben Gott gerichtet habe, damit er mich glücklich machen möge. Ich merkte die Absicht und lachte herzlich über die Schlauheit der Mutter und über die fromme Einfalt des Kindes; aber ich gab ihr nur hundert Dukaten und versprach ihr, ihr noch hundert zu schicken, sobald sie mir von London aus schriebe. Ich sah wohl, daß die Komödiantin die Summe recht bescheiden fand; aber ich ließ mich nicht rühren und gab ihr nicht mehr. Sie wartete den Augenblick ab, wo ich in den Wagen stieg, um mich zu bitten, ihr noch hundert Dukaten zu geben. Ich sagte ihr ins Ohr, ich würde ihr sofort tausend zahlen, wenn sie mir ihre Tochter herausgeben wollte. Sie dachte einen Augenblick nach, sagte mir aber dann, es wäre ihr unmöglich, sich von ihr zu trennen.

»Ich weiß wohl warum«, antwortete ich ihr; dann zog ich eine Uhr aus der Westentasche, gab sie Sophie, küßte sie und fuhr ab. Am zehnten Februar kam ich in Paris an. Dort nahm ich mir eine prachtvolle Wohnung neben der Rue Montorgeuil.

Achtes Kapitel


Schmeichelhafter Empfang von Seiten meiner Gönner. – Frau von Urfé verliert die Besinnung. – Frau X. C. V. und ihre Familie. – Frau du Rumain.

Während meiner kurzen Reise vom Haag nach Paris hatte ich vollkommen Zeit genug, zu bemerken, daß die Seele meines Pflegesohnes nicht so schön war wie sein Persönchen.

Seine Mutter hatte, wie ich bereits erwähnte, besonders Wert darauf gelegt, ihn zur Verschwiegenheit zu erziehen. Es lag in ihrem eigenen Interesse, an ihrem Sohn diese Eigenschaft ganz besonders auszubilden; den Grund brauche ich meinen Lesern nicht zu sagen. Der Knabe war der Leitung seiner Mutter gefolgt; aber er hatte noch nicht Vernunft genug, um Maß zu halten. Er hatte die Verschwiegenheit übertrieben, und infolgedessen hatten sich dieser Eigenschaft bald drei große Fehler beigesellt: Verstellung, Mißtrauen und falsche Vertraulichkeit – ein schönes Trio von Lügen bei einem Menschen, der sich kaum dem Beginn der Geschlechtsreife näherte. Er sagte nicht nur nicht, was er wußte, sondern er stellte sich, wie wenn er wüßte, was er nicht wußte. Er fühlte, daß er undurchdringlich sein müßte, wenn ihm dies gelingen sollte; darum hatte er sich daran gewöhnt, seinem Herzen Schweigen zu gebieten und niemals etwas zu sagen, was er sich nicht zuvor im Geiste zurecht gelegt hatte. Er glaubte klug zu sein, wenn er Irrtum erregte, und da sein Herz keiner edlen Regung fähig war, so war der unglückliche Knabe allem Anschein nach dazu verdammt, niemals die Freundschaft kennen zu lernen und niemals einen Freund zu haben.

Ich sah voraus, daß Frau von Urfé auf ihn rechnen würde, um ihre phantastische Mannwerdung zu vollbringen, und daß ihr Geist um so tollere Dinge aushecken würde, je mehr ich ihr aus seiner Herkunft ein Geheimnis machte. Deshalb befahl ich ihm, von seinen Verhältnissen nichts zu verbergen, wenn eine Dame, der ich ihn vorstellen würde, ihn im geheimen ausfragen würde. Er versprach mir Gehorsam; aber mein Befehl, aufrichtig zu sein, kam ihm unerwartet.

In Paris galt mein erster Besuch meinem Gönner, den ich in zahlreicher Gesellschaft fand. Ich sah in seinem Kreise den venetianischen Gesandten, der so tat, als kenne er mich nicht.

»Seit wann sind Sie in Paris?« sagte der Minister, indem er mir die Hand schüttelte.

»Seit diesem Augenblick, ich steige eben aus dem Postwagen.«

»Gehen Sie doch nach Versailles; Sie werden dort den Herzog von Choiseul und den Generalkontrolleur finden. Sie haben Wunder vollbracht; lassen Sie sich bewundern und besuchen Sie mich nachher. Sagen Sie dem Herrn Herzog, ich habe Voltaire einen Paß des Königs geschickt, der ihn zu seinem wirklichen Kammerherrn ernennt.«

Man fährt nicht mittags nach Versailles; aber so redeten die Minister, wenn sie in Paris waren, wie wenn Versailles am Ende der Straße gelegen sei.

Statt mich nach der prunkvollen Residenz der französischen Könige zu begeben, ging ich zur Frau von Urfé.

Die Dame empfing mich mit den Worten: »Mein Genius hatte mir enthüllt, daß ich Sie noch heute sehen würde; ich bin entzückt über seine Zuverlässigkeit. Corneman hat mir gesagt, daß man das Gelingen Ihres Geschäftes in Holland als ein Wunder ansehe. Ich aber erblicke darin ein Wunder von ganz anderer Art; denn ich bin überzeugt, daß Sie selber die zwanzig Millionen übernommen haben. Die Staatspapiere sind im Steigen, und es werden im Laufe der Woche mindestens hundert Millionen umgesetzt werden. Sie werden keine Beleidigung darin erblicken, daß ich es gewagt habe, Ihnen ein so armseliges Geschenk zu machen; denn zwölftausend Franken sind für Sie eine Kleinigkeit. Sie werden darin nur meine Freundschaft erblicken, die sich gerne äußern wollte.«

»Ich weiß ihre Sprache vollkommen zu würdigen.«

»Ich werde dem Schweizer befehlen, niemanden vorzulassen; denn Ihre Rückkehr macht mich so glücklich, daß ich Sie ganz für mich allein haben muß.«

Ich antwortete auf dieses schmeichelhafte Kompliment nur mit einer tiefen Verbeugung, und sie zitterte vor Freude, als ich ihr sagte, daß ich einen zwölfjährigen Knaben aus Holland mitgebracht hätte, den ich in der besten Schulanstalt von Paris unterzubringen gedächte, um ihm eine gute Erziehung geben zu lassen.

»Ich nehme es auf mich, ihn bei Viar unterzubringen, wo meine Neffen sind. Wie heißt er? wo ist er? Ich weiß wohl, was dies für ein Knabe ist! Ich kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen. Warum, Herr Casanova, sind Sie nicht bei mir abgestiegen?«

Ihre Fragen und Antworten folgten einander blitzschnell; es wäre mir unmöglich gewesen, auch nur eine Silbe dazwischen zu sprechen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Aber es war mir ganz recht, daß sie ihr erstes Feuer verprasselte; daher unterbrach ich sie auch nicht. Als ein Augenblick des Schweigens eingetreten war, sagte ich ihr, ich würde die Ehre haben, ihr am zweitnächsten Tag meinen Jüngling vorzustellen, denn der folgende Tag wäre für Versailles bestimmt.

»Spricht dieser kostbare Knabe französisch? Sie müssen ihn unbedingt bei mir lassen, bis ich wegen der Erziehungsanstalt alles in Ordnung gebracht habe.«

»Darüber werden wir übermorgen sprechen, gnädige Frau.«

»Wäre doch dieses Übermorgen erst da!«

Von Frau d’Urfé begab ich mich nach meinem Bureau, wo ich zu meiner Befriedigung alles vollkommen in Ordnung fand. Hierauf ging ich in die italienische Komödie. Sylvia spielte an diesem Abend; ich suchte sie in ihrem Ankleidezimmer auf, wo sie und ihre Tochter waren.

»Lieber Freund,« sagte sie bei meinem Anblick, »ich weiß, Sie haben in Holland sehr gute Geschäfte gemacht, und ich wünsche Ihnen Glück dazu.«

Ich überraschte sie angenehm, indem ich ihr sagte, ich hätte für die Tochter gearbeitet; Manon errötete und schlug auf recht bezeichnende Art die Augen nieder.

»Zum Abendessen bin ich bei Ihnen; dann können wir in aller Behaglichkeit plaudern.«

Ich verließ sie und ging ins Amphitheater. Welche Überraschung! In einer der ersten Logen sah ich Frau X. C. V. mit ihrer ganzen Familie. Ich werde meinen Lesern ein Vergnügen machen, indem ich hier ihre Geschichte erzähle.

Frau X. C. V. war eine Griechin von Geburt und Witwe eines Engländers, von dem sie sechs Kinder hatte, darunter vier Töchter. Auf seinem Totenbett trat er zum katholischen Glauben über, da er nicht die Kraft hatte, den Tränen seiner Frau zu widerstehen. Da aber seine Kinder ein Kapital von vierzigtausend Pfund Sterling, das der Verstorbene in England hinterlassen hatte, nicht erben konnten, wenn sie sich nicht zur anglikanischen Kirche bekannten, so war die Familie nach London gegangen, wo die Witwe alle von den englischen Gesetzen verlangten Formalitäten erfüllt hatte. Was tut man nicht um des Geldes willen! Übrigens darf man Personen die wie in diesem Fall nur gesetzlich festgelegten Vorurteilen fremde, Nationen nachgeben, keinen Vorwurf machen.

Wir befanden uns damals im Jahre 1758; fünf Jahre vorher hatte ich mich in Padua in die älteste Tochter verliebt, mit der ich Theater gespielt hatte, aber einige Monate später in Venedig befand Frau X. C. V. es für gut, mich von ihrer Gesellschaft auszuschließen. Ihre Tochter veranlaßte mich durch einen reizenden Brief, den ich noch jetzt mit Vergnügen lese, den mir von ihrer Mutter angetanen Schimpf ruhig zu ertragen. Ich muß übrigens gestehen, daß es mir damals um so leichter wurde, mich in Geduld zu fassen, weil ich mit meiner schönen Nonne M. M. und mit meiner reizenden C. C. beschäftigt war. Fräulein X. C. V. war damals freilich erst fünfzehn Jahre alt, aber eine vollkommene Schönheit und um so entzückender, da sie nicht nur ein reizendes Gesicht, sondern auch alle Vorzüge eines gebildeten Geistes besaß, der oft eine größere Anziehungskraft besitzt als alle körperlichen Vollkommenheiten.

Graf Algarotti, der Kammerherr des Königs von Preußen, gab ihr Unterricht, und mehrere junge Patrizier suchten ihr Herz zu erobern. Der Bevorzugte schien der älteste Sohn der Familie Memmo di San Marcuola zu sein. Der junge Mann starb ein Jahr darauf als Prokurator von San Marco.

Man kann sich denken, wie erstaunt ich war, diese Familie wieder zu sehen, die ich bereits aus den Augen verloren hatte. Fräulein X. C. V. erkannte mich sofort und zeigte mich ihrer Mutter; diese winkte nur mit dem Fächer, und ich suchte sie in ihrer Loge auf.

Sie empfing mich auf das liebenswürdigste und sagte mir, sie seien nicht mehr in Venedig, und sie hoffe daher, daß ich ihr nicht das Vergnügen abschlagen werde, sie oft im Hotel de Bretagne in der Rue St.-André-des-Arts zu besuchen. Ich sagte ihr, ich wolle an Venedig nicht mehr denken, und da die Tochter ihre Bitten mit denen der Mutter vereinigte, so versprach ich ihrer Einladung Folge zu leisten.

Ich fand Fräulein X. C. V. außerordentlich schön geworden, und meine Liebe, die fünf Jahre lang geschlummert hatte, erwachte mit einer Stärke, die ich nur der Vollendung vergleichen kann, zu der die Geliebte während dieser Zeit aufgeblüht war. Sie sagten mir, sie wollten vor ihrer Rückkehr nach Venedig sechs Monate in Paris verbringen. Ich erzählte ihnen, daß ich die Absicht hätte, mich dauernd in Paris niederzulassen, daß ich soeben von Holland zurück käme und daß ich am nächsten Tage nach Versailles fahren müßte, ihnen daher erst am folgenden Tage meine Aufwartung machen könnte. Zugleich bot ich ihnen meine Dienste an, indem ich durchblicken ließ, daß ich unter Umständen in der Lage wäre, ihnen sehr bedeutende zu leisten.

Fräulein X. C. V. sagte mir, sie wisse, daß mein Erfolg in Holland mir Anspruch auf den Dank Frankreichs gebe; sie habe stets gehofft, mich wieder zu sehen, und meine berühmte Flucht aus den Bleikammern habe ihnen die größte Freude gemacht; »denn wir haben Sie immer geliebt.«

»Von Seiten Ihrer Frau Mutter habe ich dies nicht immer bemerkt«, sagte ich leise zu ihr.

»Sprechen wir nicht mehr davon,« antwortete sie halblaut; »wir haben alle Umstände Ihrer wunderbaren Flucht aus einem sechzehn Seiten langen Brief erfahren, den Sie an Herrn Memmo schrieben. Wir haben vor Freude gebebt und vor Furcht geschaudert.«

»Und wie haben Sie erfahren, daß ich in Holland war?«

»Herr de la Popelinière hat es uns gestern erzählt.«

Der Generalpächter de la Popelinière, den ich sieben Jahre vorher in seinem Hause in Passy kennen gelernt hatte, kam gerade in dem Augenblicke, als Fräulein X. C. V. seinen Namen aussprach, in die Loge. Nachdem er mir eine leichte Verbeugung gemacht hatte, sagte er zu mir: »Wenn Sie auf dieselbe Art der Indischen Kompagnie zwanzig Millionen verschaffen können, werde ich Sie zum Generalpächter ernennen lassen, übrigens rate ich Ihnen, Herr Casanova, sich in Frankreich naturalisieren zu lassen, bevor man erfährt, daß Sie eine halbe Million verdient haben.«

»Eine halbe Million! Ich möchte wohl, daß dies wahr wäre.«

»Weniger können Sie nicht verdient haben.«

»Ich versichere Ihnen, mein Herr, dies Geschäft richtet mich zugrunde, wenn man mir meine Maklergebühr vorenthält.«

»Sie haben recht, daß Sie so sprechen. Übrigens möchte alle Welt Sie gerne kennen lernen, denn Frankreich hat Ihnen viel zu verdanken. Sie haben ein glückliches Steigen der Kurse bewirkt.«

Nach dem Theater ging ich zu Sylvia und wurde dort wie ein Kind vom Hause gefeiert; aber auch ich gab ihnen Beweise, daß ich als solches angesehen werden wollte. Ich hatte das Gefühl, dem Einfluß ihrer beständigen Freundschaft mein ganzes Glück zu verdanken. Ich bat Vater, Mutter, Tochter und die beiden Söhne, die Geschenke anzunehmen, die ich für sie bestimmt hätte. Das reichste, das ich schon in der Tasche hatte, bot ich der Mutter, die es sofort ihrer Tochter gab. Es waren ein Paar Ohrringe mit Diamanten von größter Schönheit; ich hatte fünfzehntausend Franken dafür bezahlt. Drei Tage später gab ich ihr eine Kiste voll von prachtvollem Calencar, holländischer Leinewand und feinen Mechelner, und Alençonspitzen. Mario, der gerne rauchte, erhielt eine schöne goldene Pfeife. Eine schöne goldene Tabaksdose mit Emaille gab ich meinem Freunde, und dem jüngeren Sohn, den ich leidenschaftlich gerne hatte, eine Repetieruhr. Ich werde noch Gelegenheit haben, von diesem schönen Jungen zu sprechen, den seine natürlichen Eigenschaften weit über seinen Stand erhoben.

War ich aber auch reich genug, um solche Geschenke zu machen? Nein. Ich wußte dies auch sehr gut; aber ich machte diese Geschenke in der Befürchtung, es später nicht mehr zu können, wenn ich mir die Gelegenheit entgehen ließe.

Mit Tagesanbruch fuhr ich nach Versailles, und Herr von Choiseul empfing mich wie das erste Mal: er wurde gerade frisiert. Diesmal aber legte er die Feder hin, was mir bewies, daß ich in seinen Augen gewachsen war. Nachdem er mir eine anmutige leichte Verbeugung gemacht hatte, sagte er mir: wenn ich imstande zu sein glaubte, eine Anleihe von hundert Millionen Gulden zu vier Prozent zustande zu bringen, würde er mir einen ehrenvollen Rang zuweisen lassen, um mich bei meinen Unterhandlungen zu unterstützen. Ich antwortete ihm, ich würde mir die Sache überlegen, sobald ich gesehen hätte, welche Belohnung man für das bereits abgeschlossene Geschäft gäbe.

»Aber man sagt allgemein, Sie haben zweihunderttausend Gulden verdient.«

»Das wäre nicht übel; ein halbe Million Franken wäre ein hübscher Anfang; aber ich kann Eurer Exzellenz versichern, daß am Gerede nichts ist. Man bringe mir den geringsten Beweis bei, und ich werde mich bescheiden. Ich glaube die Maklergebühr beanspruchen zu können.«

»Das ist wahr. Setzen Sie sich mit dem Generalkontrolleur darüber auseinander.«

Herr von Boulogne unterbrach seine Arbeit, um mich auf das liebenswürdigste zu empfangen; als ich ihm aber sagte, er sei mir hunderttausend Gulden schuldig, lächelte er ironisch und sagte: »Ich wußte, daß Sie dreihunderttausend Franken in Wechseln auf Ihre Ordre bei sich haben.«

»Allerdings; dies hat aber nicht das geringste damit zu tun, daß ich meinen Auftrag ausgeführt habe. Dies ist eine bewiesene Tatsache, und ich beziehe mich auf Herrn d’Affry. Übrigens habe ich einen unfehlbaren Plan, die königlichen Einkünfte um zwanzig Millionen zu vermehren, ohne daß diejenigen, die sie bezahlen werden, sich darüber beklagen können.«

»Vortrefflich! Bringen Sie den Plan zur Ausführung, und ich verpflichte mich, Ihnen vom König ein Jahrgeld von hunderttausend Franken geben zu lassen und Ihnen den Adelsbrief zu verschaffen, wenn Sie Franzose werden wollen.«

»Dies will überlegt sein.«

Von Herrn de Boulogne begab ich mich nach den kleinen Gemächern, wo die Marquise von Pompadour gerade eine Ballettprobe abhalten ließ.

Sobald sie mich sah, grüßte sie mich; ich trat näher, und sie sagte mir, ich sei ein geschickter Unterhändler, und die Herren da unten hätten mich nicht zu würdigen gewußt. Sie erinnerte sich immer noch der Worte, die ich in Fontainebleau vor acht Jahren im Theater zu ihr gesagt hatte. Ich antwortete ihr: alles Gute komme von oben, und ich hoffe, ebenfalls meinen Anteil zu erhalten, wenn ich so glücklich sei, ihre Billigung zu finden.

Ich fuhr nach Paris zurück und begab mich in das Hotel Bourbon, um meinem Beschützer über dns Ergebnis meiner Reise zu berichten. Er riet mir, auch weiterhin gute Geschäfte für die Regierung zu machen; denn dies sei das sicherste Mittel, auch für mich selber gute Geschäfte zu machen. Ich erzählte ihm hierauf, daß ich im Theater die Familie X. C. V. getroffen habe, und er sagte mir, Herr de la Popelinière werde die älteste Tochter heiraten.

Als ich nach Hause kam, fand ich meinen Sohn nicht mehr. Meine Wirtin sagte mir, eine vornehme Dame habe dem Herrn Grafen einen Besuch gemacht und ihn mitgenommen. Ich erriet, daß es Frau von Urfé war, und legte mich ohne Unruhe zu Bett. Am anderen Morgen in aller Frühe brachte mein Geschäftsführer mir einen Brief; er war von dem alten Sachwalter, dem Oheim von Gaetanos Frau, der ich mitgeholfen hatte, sich den Mißhandlungen ihres eifersüchtigen, rohen Gatten zu entziehen. Er bat mich, ihn im Gerichtspalast zu einer Besprechung aufzusuchen oder ihm einen Ort zu bestimmen, wo er mich treffen könne. Ich suchte ihn im Palast auf und der brave alte Mann sagte mir: »Meine Nichte hat sich in ein Kloster begeben müssen, von wo aus sie mit der Hilfe eines Parlamentsrates, der alle Kosten übernimmt, den Prozeß gegen ihren Gatten führt. Damit dieser einen guten Ausgang nehme, brauchen wir Sie, den Grafen Tiretta und die Bedienten, die bei dem blutigen Auftritt, der den Anlaß zur Klage bildet, zugegen waren.«

Ich besorgte alles Notwendige, und vier Monate später machte Gaetano selber der Sache ein Ende durch einen betrügerischen Bankerott, der ihn nötigte, Frankreich zu verlassen. Ich werde später sagen, wo ich den unglücklichen Menschen wiederfand. Seine junge hübsche Frau bezahlte ihren Freund, den Parlamentsrat, in Liebesmünze. Sie zog in sein Haus und lebte glücklich mit ihm; vielleicht ist sie es noch – aber ich habe sie gänzlich aus den Augen verloren.

Nach meiner Unterredung mit dem alten Sachwalter ging ich zu Frau ***, um ihr einen Besuch zu machen und Tiretta zu sehen. Ich fand ihn nicht zu Hause. Die Dame war immer noch verliebt in ihn, und er machte immer noch eine Tugend aus der Not. Ich hinterließ ihm meine Adresse und begab mich in das Hotel de Bretagne, um Frau X. C. V. meinen ersten Besuch zu machen. Sie liebte mich nicht, aber sie empfing mich trotzdem sehr wohlwollend. In Paris und in meinen augenblicklichen glücklichen Umständen mochte ich in ihren Augen wohl etwas mehr sein als in Venedig. Wer wüßte nicht, daß das Glänzende den Blick verblendet und bei den meisten Menschen den Platz einnimmt, der nur dem Verdienst gebührt!

Bei Frau X. C. V. befand sich ein alter Grieche namens Zandiri, ein Bruder des kürzlich verstorbenen Haushofmeisters des Herrn von Bragadino. Ich sprach ihm mein Beileid aus, aber das dumme Vieh antwortete mir nicht. Für seine alberne Kälte entschädigten mich die Liebkosungen, mit denen die ganze Familie mich überhäufte. Das Fräulein, ihre Schwestern und ihre beiden Brüder überschütteten mich mit Freundschaftsbeweisen. Der älteste war erst vierzehn Jahre alt; er war ein reizender Junge, aber er überraschte mich durch die Unabhängigkeit, die er in seinem ganzen Wesen an den Tag legte. Er sehnte bereits den Augenblick herbei, wo er sich in dem Besitz seines Vermögens sehen würde, um sich allen Ausschweifungen zu überlassen, zu denen er die besten Anlagen hatte. Fräulein X. C. V. verband mit einer seltenen Schönheit die Ungezwungenheit und den Ton der besten Gesellschaft, und besaß außerdem noch Anlagen und gründliche Kenntnisse, die sie stets nur am rechten Ort und ohne jede Anmaßung zur Geltung brachte. Man konnte kaum näher mit ihr bekannt werden, ohne das zärtlichste Gefühl für sie zu empfinden; aber sie war keine Kokette, und ich bemerkte bald, daß sie in solchen, die nicht das Glück hatten, ihr zu gefallen, keine Hoffnung aufkommen ließ. Sie verstand es ohne Unhöflichkeit kalt zu sein; um so schlimmer für diejenigen, denen nicht durch ihre Kälte ihre Einbildungen benommen wurden.

Während der einen Stunde, die ich bei ihr verbrachte, fesselte sie mich an ihren Wagen; ich gestand es ihr, und sie sagte mir, es sei ihr recht angenehm. Sie nahm in meinem Herzen den Platz ein, den acht Tage vorher Esther gehabt hatte; aber ich gestehe offen, daß Esther nur darum zurücktrat, weil sie abwesend war. Meine Neigung für Sylvias Tochter war von der Art, daß sie mich nicht abhalten konnte, mich in eine andere zu verlieben. In dem Herzen eines Wüstlings stirbt die Liebe, wenn sie keine Nahrung erhält, an einer Art von Auszehrung. Alle Frauen, die einige Erfahrung besitzen, wissen dies sehr wohl. Die junge Baletti war noch ganz neu in der Welt und konnte nichts davon wissen.

Um ein Uhr kam ein edler Venetianer, Herr Farsetti, Komtur des Malteserordens, ein Gelehrter, der im Wahne der abstrakten Wissenschaften befangen war und ziemlich gute lateinische Verse schrieb. Wir sollten gerade zu Tisch gehen, und Frau X. C. V. beeilte sich, ein Gedeck für ihn auflegen zu lassen. Sie bat auch mich zu bleiben; da ich jedoch bei Frau von Urfé speisen wollte, so schlug ich für diesen Tag die Ehre aus.

Herr Farsetti, der in Venedig viel mit mir verkehrt hatte, sah mich kaum an, und ich zahlte ihm in gleicher Münze heim, ohne jedoch den Hoffärtigen zu spielen. Er lächelte, als das Fraulein meinen Mut pries. Sie bemerkte es und fügte, gleichsam um ihn zu strafen, hinzu: ich hätte alle Venetianer gezwungen, mich zu bewundern, und die Franzosen legten Wert darauf, mich zu ihren Mitbürgern zählen zu dürfen. Herr Farsetti fragte mich, ob mir meine Stelle als Lotterieeinnehmer viel einbrächte. Ich antwortete ihm in gleichgültigem Ton: »Vollkommen genug, um meine Schreiber glücklich zu machen.« Er fühlte die Bedeutung meiner Antwort, und das Fräulein lächelte darüber.

Ich fand meinen angeblichen Sohn bei Frau von Urfé, oder besser gesagt, in den Armen meiner lieben Geisterseherin. Sie bat mich tausendmal um Entschuldigung, daß sie ihn entführt habe, und ich gab der Sache eine scherzhafte Wendung, da dies das beste war, was ich tun konnte. Ich sagte zu dem kleinen Mann, er müsse Frau d’Urfé als seine Königin ansehen und dürfe nichts vor ihr geheim halten. »Ich habe ihn«, sagte sie zu mir, »bei mir schlafen lassen; aber ich werde mir dieses Vergnügen versagen müssen, wenn er mir nicht verspricht, in Zukunft artiger zu sein.« Ich fand dies köstlich, und der kleine Mann wurde dunkelrot, bat sie aber trotzdem, ihm zu sagen, womit er sie beleidigt haben könnte.

»Wir werden«, sagte die Marquise zu mir, »den Grafen St. Germain zu Tische haben; ich weiß, daß dieses Original Ihnen Spaß macht, und ich wünsche, daß es Ihnen bei mir gefalle.«

»Damit es mir bei Ihnen gefalle, gnädige Frau, brauche ich nur Sie selber; indessen bin ich Ihnen dankbar für Ihre freundlichen Aufmerksamkeiten.«

St.-Germain kam und setzte sich, nach seiner Gewohnheit, nicht um zu essen zu Tisch, sondern um zu sprechen. Er erzählte mit unerschütterlicher Sicherheit unglaubliche Dinge; man mußte sich so stellen, als glaube man sie, denn er war stets Augenzeuge gewesen oder war selber der Held der Geschichte. Ich mußte aber doch laut auflachen, als er uns etwas erzählte, was ihm begegnet war, als er mit den Vätern des Konzils von Trient zusammen speiste.

Frau von Urfé trug an ihrem Halse als Schmuckstück einen großen Magneten. Sie behauptete, dieser Magnet würde eines Tages den Blitz anziehen, und sie würde auf diese Weise zur Sonne aufsteigen. Ich hatte Lust, ihr zu sagen, daß sie dort sich nicht höher befinden würde, als auf unserem Planeten; aber ich beherrschte mich. Der berühmte Betrüger beeilte sich, ihr zu versichern, die Tatsache sei unbestreitbar, aber nur er besitze die Macht, die Stärke des Magneten um das tausendfache zu vermehren. Ich sagte ihm kühl, ich wäre bereit, um zwanzigtausend Taler zu wetten, daß er die Stärke des Magneten, den Frau von Urfé an ihrem Halse trüge, nicht einmal um das Doppelte vermehren würde. Frau von Urfé legte sich ins Mittel, um die Wette zu verhindern, und sagte mir nach Tisch unter vier Augen, ich würde verloren haben, denn St.-Germain wäre Magier. Wie man sich wohl denken kann, gab ich ihr recht.

Einige Tage später reiste der angebliche Magier nach Chambord; der König hatte ihm dort eine Wohnung angewiesen und hunderttausend Franken ausgesetzt, um in aller Freiheit an seinen Farben arbeiten zu können, die den französischen Tuchfabriken die Überlegenheit gegenüber den Fabriken aller anderen Länder sichern sollten. St.-Germain hatte den Herrscher verführt, indem er ihm im Trianon ein chemisches Laboratorium einrichtete, wo er sich zuweilen amüsierte, obgleich seine Kenntnisse in der Chemie sehr unbedeutend waren; aber der König langweilte sich überall, ausgenommen auf der Jagd; der Hirschpark betäubte ihn nur, indem er ihn immer mehr abstumpfte; denn um eines Harems zu genießen, in den fortwährend die anziehendsten Schönheiten und oftmals Jungfrauen von zartestem Alter, bei denen der Genuß nicht so leicht war, aufgenommen wurden, hätte er ein Gott sein müssen, und Ludwig der Fünfzehnte war nur ein Mensch.

Die Bekanntschaft des Adepten war dem Herrscher von der gefälligen Marquise vermittelt worden; sie hoffte, ihm die Langeweile zu vertreiben, indem sie ihm Geschmack an der Chemie beibrachte. Übrlgens glaubte Frau von Pompadour, von St.-Germain das Wasser der Jugend empfangen zu haben, und wollte ihm dafür irgend einen großen Vorteil verschaffen. Dieses Wunderwasser, von dem man genau die von dem Betrüger vorgeschriebene Menge einnehmen mußte, besaß nicht die Kraft, das Alter rückgängig zu machen, um neue Jugend zu verleihen (denn er gab zu, daß dies unmöglich sei), aber es besaß die Gabe – wenn man ihm glauben wollte – einen Menschen mehrere Jahrhunderte in statu quo zu erhalten.

Dieses Wasser oder der Erfinder desselben hatte in der Tat, wenn auch nicht auf den Körper, so doch auf den Geist der berühmten Frau eingewirkt; sie hatte dem Monarchen versichert, sie fühle, daß sie nicht altere. Der König war ebenfalls von dem erhabenen Verdienste des Betrügers gänzlich eingenommen; denn er zeigte eines Tages dem Herzog von Zweibrücken einen zwölf Karat schweren Diamanten von reinstem Wasser, den er selber gemacht zu haben glaubte. »Ich habe«, sagte Ludwig der Fünfzehnte, »vierundzwanzig Karat kleinere Diamanten geschmolzen; daraus erhielt ich diesen hier, der durch das Schleifen auf zwölf Karat verkleinert worden ist.« Infolge dieser Voreingenommenheit hatte der König einem berühmten Abenteurer dieselbe Wohnung gegeben, die er vorher dem Marschall von Sachsen angewiesen hatte. Ich habe diese Anekdote aus dem eigenen Munde des Herzogs von Zweibrücken, der sie mir erzählte, als ich eines Tages in Metz die Ehre hatte, mit Seiner Hoheit und dem schwedischen Grafen Löwenhaupt zu Nacht zu speisen.

Bevor ich Frau d’Urfé verließ, sagte ich ihr, der junge Knabe könnte wohl derjenige sein, durch den ihre Wiedergeburt bewirkt werden würde; aber sie würde alles verderben, wenn sie nicht seine Mannbarkeit abwartete. Der Leser wird sich wohl denken können, in welcher Absicht ich so sprach, nachdem ich den leisen Vorwurf gehört hatte, den sie ihm machte. Sie brachte ihn in der Anstalt von Viar unter, ließ ihm die besten Lehrer geben und schmückte ihn mit dem Namen eines Grafen Aranda, obwohl er in Bayreuth geboren war, und seine Mutter niemals mit einem Spanier dieses Namens Umgang gehabt hatte. Ich ließ drei oder vier Monate verstreichen, ehe ich ihn besuchte; denn ich befürchtete stets irgen welche Unannehmlichkeit wegen des Namens, den die Geisterseherin ihm ohne mein Wissen gegeben hatte.

Tiretta besuchte mich in einer hübschen Kutsche. Er sagte mir, seine alte Geliebte wolle seine Frau werden, aber darein wolle er niemals willigen, obgleich sie ihm ihr ganzes Vermögen anbiete. Er hätte mit ihr nach Treviso gehen, dort seine Schulden bezahlen und ein angenehmes Leben führen können. Ich riet ihm dies, aber sein Schicksal hielt ihn ab, meinem Rat zu folgen.

Ich wollte ein Landhaus mieten und entschied mich für eins, die Petite Pologne, das mir besser gefiel als mehrere andere, die ich mir ansah. Es war gut eingerichtet und lag nur hundert Schritte vor der Barrière de la Madeleine. Das Haus lag auf einer kleinen Anhöhe in der Nähe des königlichen Jagdreviers hinter dem Garten des Herzogs von Gramont, und der Besitzer hatte es Varsovie en bel air genannt. Es hatte zwei Gärten, von denen der eine in der Höhe des ersten Stockes lag, drei herrschaftliche Wohnungen, große Ställe, Remisen, Bäder, einen guten Keller und eine prachtvolle Küche mit vollständiger Einrichtung. Der Besitzer wurde der Butterkönig genannt und unterschrieb stets mit diesem Namen. Ludwig der Fünfzehnte hatte ihn ihm eines Tages gegeben, als er bei ihm abgestiegen war und seine Butter ihm ausgezeichnet gefallen hatte. Es war ein Seitenstück zum Dinde en Val des guten Heinrich. Der Butterkönig vermietete mir sein Haus für hundert Louis jährlich und gab mir eine ausgezeichnete Köchin, die Perle genannt, und in der Tat ein wirkliches Großkreuz des Küchenordens; er übergab ihr alle Möbel und das Tischgerät, das für ein großes Diner zu sechs Personen nötig war; außerdem verpflichtete er sich, mir jederzeit so viel Silbergeschirr, wie ich wünschte, zu einem Sou für die Unze, zu leihen. Ferner versprach er mir, alle von mir gewünschten Weine in erster Güte und billiger, als ich sie in Paris haben könnte, zu liefern. Dies konnte er tun, weil er keinen Eingangszoll zu bezahlen brauchte, der in Paris sehr hoch ist. Ich halte solche Zölle für höchst unpolitisch, weil sie besonders schwer auf den niederen Klassen lasten, denen man im Gegenteil stets die Mittel, möglichst billig zu leben, erleichtern sollte.

Nachdem dies alles in Ordnung war, verschaffte ich mir in weniger als einer Woche einen guten Kutscher, zwei schöne Wagen, einen Stallknecht und zwei Lakaien. Die Marquise d’Urfé, der ich mein erstes Diner gab, war entzückt von meiner Wohnung; sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ich hätte alle diese Anordnungen nur ihr zuliebe getroffen, und ich beließ sie bei diesem Irrtum, der ihr angenehm war; denn ich bin der Meinung, man soll den Sterblichen nicht die Illusionen rauben, die sie glücklich machen. Ich ließ sie bei dem Glauben, der kleine Aranda, der junge Graf von ihrer eigenen Mache, gehöre zum Großen Orden; er sei für eine allen übrigen Menschen unbekannte Operation geboren, deren Geheimnis nur mir anvertraut sei – worüber allerdings kein Zweifel sein kann – und er müsse sterben, werde aber trotzdem weiterleben. All dieses aberwitzige Zeug entsprang ihrem Gehirn, das sich nur in den Regionen des Unmöglichen bewegte; man konnte nichts Besseres tun, als ihr in allem beizustimmen; hätte ich versucht, ihr ihren Irrtum zu benehmen, so würde sie mich des Mangels an Vertrauen beschuldigt haben; denn sie war überzeugt, daß sie alles nur durch die Enthüllungen ihres Genius wisse, der nur nachts zu ihr spreche. Ich begleitete sie nach ihrem Hause zurück, und sie schwelgte in der höchsten Seligkeit.

Camilla schickte mir den Zettel eines kleinen Ternos, den sie in meinem Bureau gewonnen hatte; sie bat mich, zu ihr zum Abendessen zu kommen und das Geld mitzubringen; es waren, glaube ich, ungefähr tausend Taler. Ich folgte der Einladung und fand bei ihr alle ihre hübschen Freundinnen und deren Liebhaber. Nach dem Essen lud man mich ein, mit nach der Oper zu gehen; kaum waren wir dort angekommen, so verlor ich in dem Gedränge meine Gesellschaft. Ich war nicht maskiert. Bald sah ich mich von einem schwarzen Domino angegriffen, den ich leicht als eine weibliche Maske erkannte. Sie sagte mir mit Falsettstimme hundert Wahrheiten; dadurch machte sie mich neugierig, und ich wollte sie kennen lernen. Schließlich überredete ich sie, mit mir in eine Loge zu kommen; dort nahm sie ihre Maske ab, und ich sah zu meiner großen Überraschung X.C.V. »Ich bin«, sagte sie mir, »mit meiner Schwester, meinem ältesten Bruder und Herrn Farsetti auf den Ball gekommen; ich habe sie verlassen, um in einer Loge einen anderen Domino anzuziehen.«

»Sie müssen unruhig sein.«

»Ich glaube es, aber ich werde ihrer Unruhe erst mit dem Schluß des Balles ein Ende machen.«

Da ich mit ihr allein war und sicher sein konnte, daß sie die ganze Nacht bei mir bleiben würde, so fing ich an von meiner alten Liebe zu sprechen, und sagte ihr natürlich, diese sei stärker denn je wieder erwacht. Sie hörte mich mit der größten Sanftmut an und entzog sich nicht meinen Armen. Da sie meinen Angriffen nur schwachen Widerstand entgegensetzte, so merkte ich, daß das Schäferstündchen nur hinausgeschoben war. Ich glaubte daher mich für diesen Abend zurückhaltend zeigen zu müssen, und sie ließ mich merken, daß sie mir dafür dankbar war.

»Ich vernahm in Versailles, mein liebes Fräulein, daß Sie Herrn de la Popelinière heiraten werden.«

»Man glaubt es, und meine Mutter wünscht es. Der alte Generalpächter glaubt mich schon zu besitzen; aber er ist weit vom Ziel, denn ich werde niemals einwilligen.«

»Er ist alt, aber sehr reich.«

»Sehr reich und sogar freigebig; denn er setzt mir eine Million als Witwengeld aus, falls er ohne Kinder stirbt, und hinterläßt mir sein ganzes Vermögen, wenn ich ihm einen Nachkommen schenke.«

»Es wird Ihnen nicht schwer werden, sich sein ganzes Vermögen zu verschaffen.«

»Ich werde es niemals erhalten, denn ich will mich nicht unglücklich machen mit einem Manne, den ich nicht liebe und der mir mißfällt. Mein Herz ist anderswo gefesselt.«

»Anderswo! Und wer ist der glückliche Sterbliche, dem Sie diesen Schatz geschenkt haben?«

»Ich weiß nicht, ob der Mann, der meine Liebe besitzt, ein glückliches Schicksal hat. Ich liebe in Venedig, und meine Mutter weiß es; aber sie behauptet, ich würde nicht glücklich werden und jener, der mein Herz besitzt, dürfe nicht mein Gatte werden.«

»Eine eigentümliche Frau, Ihre Mutter! Sie durchkreuzt stets Ihre Neigungen.«

»Ich kann ihr darum nicht böse sein; sie irrt sich vielleicht, aber sie hat mich lieb. Es wäre ihr lieber, wenn ich die Frau des Herrn Farsetti würde, der sehr geneigt ist, seinem Malteserkreuz zu entsagen, um sich mir hinzugeben; aber ich verabscheue diesen Menschen.«

»Hat er sich bereits erklärt?«

»In sehr deutlichen Ausdrücken, und die Zeichen der Verachtung, die ich ihm unaufhörlich gebe, haben ihn nicht bewogen, von mir abzulassen.«

»Er ist hartnäckig; aber ohne Zweifel haben Ihre Reize seine Augen verblendet.«

»Dies mag sein, aber ich glaube, er ist zarten und edlen Gefühlen wenig zugänglich. Er ist ein widerwärtiger abergläubischer Mensch, boshaft, eifersüchtig und neidisch. Als er mich bei Tisch in den Ausdrücken, die Sie verdienen, von Ihnen sprechen hörte, hat er die Unverschämtheit so weit getrieben, in meiner Gegenwart meiner Mutter zu sagen, sie dürfte Sie nicht in ihrem Hause empfangen.«

»Er verdiente, daß ich ihm Höflichkeit beibrächte, aber es gibt andere Mittel, ihn zu bestrafen. Ich biete Ihnen in allem, was in meiner Macht steht, ohne jeden Rückhalt meine Dienste an.«

»Ach! Ich wäre überglücklich, wenn ich auf Ihre ganze Freundschaft rechnen könnte.« Der Seufzer, den sie ausstieß, setzte mich ganz in Feuer und Flammen. Ich versicherte ihr meine Ergebenheit und sagte ihr, ich stände mit fünfzigtausend Talern zu ihrer Verfügung und wäre bereit, mein Leben zu wagen, um mir ein Anrecht auf ihr Herz zu erwerben. Sie antwortete mir mit der lebhaftesten Dankbarkeit und umschlang mich zärtlich mit ihren Armen; unsere Lippen begegneten sich, aber ich fühlte einige Tränen ihren schönen Augen entrinnen, und aus Achtung für sie mäßigte ich das Feuer, das ihre Küsse in meinen Adern entzündeten. Sie bat mich, sie oft zu besuchen, und versprach mir, sie würde mit mir allein sein, so oft sie nur könnte. Dies war alles, was ich wünschen konnte, und nachdem ich ihr versprochen hatte, am nächsten Tage zu ihnen zum Essen zu kommen, trennten wir uns.

Ich blieb noch eine Stunde im Saal; ich folgte ihren Schritten und schwelgte in dem Glück, ihr vertrauter Freund geworden zu sein. Hierauf kehrte ich zu meiner Petite Pologne zurück. Die Fahrt dauerte nicht lange; denn obwohl ich auf dem Lande wohnte, konnte ich in einer Viertelstunde in jedem beliebigen Viertel von Paris sein. Mein Kutscher war sehr tüchtig, und ich hatte ausgezeichnete Pferde, die ich nicht zu schonen brauchte. Sie waren aus dem königlichen Marstall, wahre Luxuspferde, und wenn ich eins verlor, konnte ich es für zweihundert Franken augenblicklich ersetzen. Dies war zuweilen nötig, denn eins der größten Vergnügen in Paris besteht im Schnellfahren.

Da ich mich verpflichtet hatte, zu Frau X.C.V. zum Mittagessen zu kommen, so konnte ich nur wenige Stunden schlafen und ging dann im Überrock und zu Fuß aus. Der Schnee fiel in großen Flocken, und ich war vom Kopf bis zu den Füßen ganz weiß, als ich vor der gnädigen Frau erschien. Sie nahm mich lachend sehr gut auf und sagte mir, ihre Tochter habe ihr erzählt, wie sie mich gefoppt habe, und es sei ihr eine große Freude gewesen zu hören, daß ich an ihrem Familientisch teilnehmen wolle. »Leider ist heute Freitag, und Sie werden mager essen; indessen haben wir ausgezeichneten Fisch. Seien Sie so freundlich, bis angerichtet wird, meine Tochter zu besuchen, die noch im Bett liegt.«

Ich ließ mir dies, wie man sich denken kann, nicht zweimal sagen; denn besonders im Bett ist ein hübsches Weib schön. Ich fand Fräulein X.C.V. aufrecht im Bette sitzend und schreibend, aber sie hörte sofort auf, als sie mich sah.

»Wie, liebenswürdige Faulenzerin, noch im Bett?«

»Ja, mein Freund, aus Faulheit und um freier zu sein.«

»Ich fürchtete, Sie wären unwohl.«

»Ich bin es wirklich ein bißchen, aber sprechen wir heute nicht davon. Ich werde eine Tasse Fleischbrühe trinken, weil die Leute, die dummerweise für den Freitag Fastenspeisen vorgeschrieben haben, mir nicht die Höflichkeit erwiesen haben, mich um meine Meinung zu befragen. Die Fastenkost sagt weder meinem Geschmack noch meiner Gesundheit zu; ich werde darum auch nicht aufstehen und nicht zu Tisch gehen, obgleich ich mich dadurch des Vergnügens berauben muß, Sie zu sehen.« Natürlich sagte ich ihr, ohne sie würde das Essen mir fade erscheinen, und ich log nicht.

Da die Gegenwart ihrer Schwester sie nicht störte, nahm sie aus ihrer Brieftasche einen Brief in Versen, den ich ihr geschrieben hatte, als ihre Mutter mir ihr Haus verbot. Sie sagte ihn auswendig her und vergoß dann ganz gerührt einige Tränen.

»Dieser verhängnisvolle Brief,« sagte sie zu mir, »den Sie ›Der Phönix‹ betitelt hatten, hat mein Schicksal bestimmt und wird vielleicht die Ursache meines Todes sein.«

Ich hatte das Gedicht so genannt, weil ich darin, nachdem ich mein hartes Los beklagt, mit poetischer Übertreibung ihr geweissagt hatte, sie würde ihr Herz einem Sterblichen schenken, den man wegen seiner hervorragenden Eigenschaften den Phönix nennen würde. In hundert Versen beschrieb ich diese eingebildeten körperlichen und geistigen Vorzüge, und sicherlich konnte der Mensch, der sie alle in sich vereinigte, wohl angebetet werden, denn er mußte mehr einem Gott als einem Menschen gleichen.

»Nun, ich verliebte mich in dieses Phantasiewesen«, fuhr Fräulein X.C.V. fort, »Überzeugt, daß es auf der Welt sein müsse, begann ich es zu suchen. Nach sechs Monaten glaubte ich diesen Mann gefunden zu haben. Ich schenkte ihm mein Herz, ich empfing das seine. Wir beten uns an; aber seit vier Monaten sind wir getrennt. Seit unserer Abreise von Venedig, während unseres Aufenthaltes in London und jetzt in Paris, wo wir uns seit sechs Wochen befinden, habe ich von ihm nur einen einzigen Brief erhalten. Aber ich klage ihn nicht an; ich weiß, es ist nicht seine Schuld. Ich bin in einer Zwangslage, kann keine Nachrichten von ihm erhalten und ihm keine geben.«

Die Erzählung bestärkte meine Anschauung, daß die Handlungen, die den entscheidendsten Einfluß auf unser ganzes Dasein haben, gewöhnlich den unbedeutendsten Anlaß haben. Meine Epistel war nur eine mehr oder weniger gut ausgeführte poetische Laune, und das von mir geschilderte Wesen konnte unmöglich gefunden werden, denn es stand weit von allen menschlichen Vollkommenheiten. Aber ein Frauenherz schweift so weit und so schnell! Fräulein X.C.V. faßte meine Schilderung wörtlich auf. Sie hatte sich in eine Chimäre verliebt und wollte an deren Stelle ein lebendes Wesen setzen, ohne zu bedenken, daß ihre Phantasie unwissentlich einen unermeßlichen Schritt rückwärts machen mußte. Sobald sie sich aber eingebildet hatte, daß sie das Original des von meiner Muse gezeichneten phantastischen Porträts gefunden hatte, wurde es ihr nicht schwer, an ihm alle von mir geschilderten Eigenschaften zu entdecken, denn ihre Liebe legte sie ihm nach Herzenswunsch bei. Auch ohne meinen Brief würde Fräulein X.C.V. sich verliebt haben, aber auf eine andere Art, und ihre Liebe würde wahrscheinlich andere Folgen gehabt haben. Hienieden, und vielleicht da oben, ist alles Zusammentreffen; wir veranlassen Ereignisse, ohne dazu mitzuwirken. Alles, was uns geschieht, ist durchaus nur das, was uns geschehen muß; denn wir sind nur denkende Atome, und der Wind treibt uns dahin. Ich weiß wohl, daß mein Leser mich beschuldigen wird, mich zum Fatalismus zu bekennen; aber ich mache nur vom Naturrecht des Urteilens Gebrauch und bestreite keinem Menschen das gleiche Recht.

Als angerichtet war, wurde ich gerufen, und wir hatten eine köstliche Mahlzeit von ausgezeichneten Seefischen, die Herr de la Popelinière geschickt hatte. Frau X.C.V. konnte als Griechin von beschränktem Geiste nur eine abergläubische Frömmlerin sein. Die an meisten entgegengesetzten Wesen, Gott und der Teufel, sind unfehlbar in dem Kopfe eines eitlen, schwachen, sinnlichen und ängstlichen Weibes vereinigt. Ein Priester hatte ihr gesagt, sie würde sich die ewige Seligkeit sichern, wenn sie ihren Gatten bekehrte; denn die heilige Schrift verspricht in aller Form Seele für Seele jedem Bekehrer, der einen Ketzer oder einen Heiden in den Schoß der Kirche führt. Da nun Frau X.C.V. ihren Gatten bekehrt hatte, so war sie über ihre Zukunft vollkommen beruhigt; sie brauchte nichts weiter dazu zu tun. Sie aß allerdings an den vorgeschriebenen Tagen Fastenspeisen, aber nur, weil sie diese der Fleischkost vorzog.

Nach dem Essen begab ich mich wieder an das Bett des Fräuleins und blieb bei ihr bis um neun Uhr; ich hatte genügend Selbstbeherrschung, um meine Begierde zu zügeln. Meine Eitelkeit veranlaßte mich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle nicht weniger heftig seien als meine Liebesglut, und ich wollte mich nicht weniger zurückhaltend zeigen als sie, obwohl ich schon damals wie jetzt wußte, daß dies bei einem Mann eine falsche Berechnung ist. Von der Gelegenheit gilt dasselbe wie vom Glück: man muß sie beim Schopf packen, sobald sie sich darbietet; sonst entschwindet sie für gewöhnlich ohne Wiederkehr.

Da ich Farsetti nicht bei Tisch gesehen hatte, so vermutete ich einen Bruch und bat das Fräulein um Auskunft darüber; sie benahm mir jedoch meinen Irrtum, indem sie mir sagte, ihr Verfolger sei bis zum Wahnwitz abergläubisch und nichts könne ihn dazu bewegen an einem Freitag sein Haus zu verlassen. Der verrückte Mensch hatte sich von einer Zigeunerin wahrsagen lassen und hatte erfahren, ihm sei vom Schicksal bestimmt, an einem Freitag ermordet zu werden; um das ihm drohende Unglück abzuwenden, müsse er sich am Freitag völlig von der Welt abschließen. Man machte sich über ihn lustig, aber er blieb standhaft, und er hatte recht, die Leute reden zu lassen; denn er ist vor vier Jahren im Alter von siebzig Jahren ruhig in seinem Bette gestorben. Er glaubte beweisen zu können, daß das Schicksal des Menschen von seiner guten Aufführung, von seiner Klugheit und von seinen Vorsichtsmaßregeln zur Vermeidung vorausgesehenen Unglücks abhänge. Dies trifft für alle Fälle zu, nur nicht für den Fall, daß es sich um ein Horoskop im Sinne der Astrologen handelt: denn entweder ist das prophezeite Unglück vermeidlich – dann ist die Weissagung kindisch, oder das Horoskop gibt den Willen des Schicksals kund – dann können alle Vorsichtsmaßregeln nichts nützen. Der Ritter Farsetti war also ein Dummkopf, wenn er sich einbildete, irgend etwas bewiesen zu haben. Er hätte in den Augen vieler Leute viel bewiesen, wenn er jeden Tag ausgegangen und zufällig an einem Freitag ermordet worden wäre. Picus von Mirandola, der an die Astrologie glaubte, sagte: Astra influent, non cogunt – Die Gestirne üben einen Einfluß, aber keinen zwingenden. Daran zweifle ich nicht, aber hätte man an die Astrologie glauben müssen, wenn Farsetti an einem Freitag wäre ermordet worden? Nein, gewiß nicht.

Graf d’Aigreville hatte mich seiner Schwester, der Gräfin du Rumain vorgestellt, die mich gerne kennen lernen wollte, seitdem sie von meinem Orakel gehört hatte. In wenigen Tagen gewann ich die Freundschaft ihres Mannes und ihrer jungen Töchter, von denen die älteste, Cotenfeau genannt, später Herrn von Polignac heiratete. Frau du Rumain war nicht nur hübsch, sondern sogar schön, aber man liebte sie besonders wegen ihrer Sanftmut, der Güte ihres Charakters, wegen ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Bereitwilligkeit, ihren Freunden gefällig zu sein. Von herrlichem Wuchs, war sie eine Bittstellerin, deren Erscheinen allen Beamten in Paris imponierte. Ich machte bei ihr die Bekanntschaft der Frau de Valbelle, der Frau de Roncerolles, der Fürstin de Chimay und mehrerer anderer Damen, die damals in der sogenannten guten Gesellschaft die erste Rolle spielten. Obgleich Frau du Rumain sich nicht mit den abstrakten Wissenschaften beschäftigte, brauchte sie mein Orakel noch mehr als Frau von Urfé. Sie wurde mir sehr nützlich bei einer bösen Angelegenheit, die ich berichten werde.

Am Tage nach meiner langen Unterhaltung mit Fräulein X.C.V. sagte mir mein Kammerdiener, ein junger Mensch wünsche mir einen Brief zu eigenen Händen zu übergeben. Ich ließ ihn eintreten. Auf meine Frage, wer ihn mit der Bestellung beauftragt habe, antwortete er mir, der Brief werde mich über alles aufklären, und er habe Befehl, auf meine Antwort zu warten. Der Brief lautete folgendermaßen:

»Es ist jetzt zwei Uhr nach Mitternacht; ich habe Ruhe nötig, aber eine Last, unter der ich erliege, verhindert mich Schlaf zu finden. Das Geheimnis, das ich Ihnen, mein Freund, anvertrauen will, wird für mich keine Last mehr sein, sobald ich es in Ihren Busen niedergelegt habe. Ich werde mich erleichtert fühlen, sobald Sie der Mitwisser dieses Geheimnisses sind. Ich bin schwanger, und meine Lage bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe mich entschlossen, Ihnen dies zu schreiben, weil ich fühle, daß es mir unmöglich sein würde, es Ihnen mündlich zu sagen. Gönnen Sie mir ein Wort der Erwiderung!«

Man kann sich denken, wie mir beim Lesen dieses Briefes zumute war. Ich war wie versteinert und konnte nur die folgenden Worte schreiben:

»Ich werde um elf Uhr bei Ihnen sein.« Ein Unglück kann nur dann wirklich groß genannt werden, wenn der, den es trifft, den Kopf darüber verliert. Das Eingeständnis, das Fräulein X.C.V. nur schriftlich machte, bewies mir, daß ihre wankende Vernunft einer Stütze bedurfte. Ich fühlte mich glücklich, daß sie vor allen anderen Menschen an mich gedacht hatte, und ich nahm mir vor, ihr beizustehen, und wenn ich mit ihr zugrunde gehen sollte. Kann man anders denken, wenn man liebt?

Allerdings konnte ich mir die Unklugheit ihres Schrittes nicht verhehlen. Man muß auf alle Fälle entweder sprechen oder schweigen; das Gefühl, das einen unter ähnlichen Umständen die Feder dem Worte vorziehen läßt, kann nur einer falschen Scham entspringen, die im Grunde nur Feigheit ist. Wäre ich nicht in das liebenswürdige, unglückliche Mädchen verliebt gewesen, so wäre es mir leichter gewesen, ihr meine Dienste schriftlich zu verweigern als mündlich. Aber ich betete sie an.

»Ja«, rief ich aus, »sie kann um so mehr auf mich rechnen, da ihr Unglück sie mir noch teurer macht.« Außerdem sagte mir ein geheimes Gefühl – ein Gefühl, das nicht weniger laut spricht, weil es scheinbar schweigt – daß mir meine Belohnung sicher wäre, wenn ich das Glück hätte, sie retten zu können. Ich weiß wohl, mehr als ein strenger Moralist wird dadurch einen Stein auf mich werfen; aber ich darf wohl bezweifeln, daß ein solcher je verliebt war; ich aber war es sehr.

Ich stellte mich pünktlich ein und fand meine schöne Betrübte vor der Tür des Hotels.

»Sie gehen aus? wohin?«

»Zu den Augustinern in die Messe.«

»Ist denn heute Freitag?«

»Nein, aber meine Mutter verlangt, daß ich jeden Tag zur Messe gehe.«

»Ich werde Sie begleiten,«

»Ja, bitte. Geben Sie nur den Arm; wir wollen im Kreuzgang miteinander sprechen.«

Fräulein X. C. V. war von ihrer Zofe begleitet, aber diese störte uns nicht; wir ließen sie in der Kirche und gingen in den Kreuzgang. Dort fragte das Fräulein mich sofort:

»Haben Sie meinen Brief gelesen?«

»Ja, gewiß! aber hier ist er, ich gebe ihn Ihnen zurück, verbrennen Sie ihn!«

»Nein, ich will ihn nicht; verbrennen Sie selber ihn.«

»Ich sehe. Sie haben viel Vertrauen zu mir; aber ich werde es auch nicht mißbrauchen.«

»Davon bin ich überzeugt. Ich bin im vierten Monat schwanger; die Sache ist gewiß, und das bringt mich zur Verzweiflung.«

»Seien Sie getrost, wir werden ein Mittel dagegen finden.«

»Ja, ich überlasse mich ganz Ihnen; suchen Sie mich abortieren zu lassen!«

»Niemals, meine Liebe; das ist eine Schändlichkeit.«

»Ach, ich »weiß es wohl; aber es ist keine größere, als sich das Leben zu nehmen. Mir bleibt nur die Wahl, entweder den unglücklichen Zeugen meiner Schande zu vernichten oder mich zu vergiften. Das Mittel, um einen zweiten Plan auszuführen, besitze ich. Sie sind mein einziger Freund; von Ihnen hängt mein Schicksal ab. Sprechen Sie! Tut es Ihnen leid, daß ich Ihnen nicht den Ritter Farsetti vorgezogen habe?«

Da sie mich sprachlos sah, schwieg sie plötzlich und hielt ihr Taschentuch an die Augen, um die Tränen zu trocknen, die diesen entströmten. Mir blutete das Herz.

»Abgesehen von der Schändlichkeit, mein liebes Fräulein,« sagte ich zu ihr, »steht es nicht in unserer Gewalt, eine Frühgeburt herbeizuführen. Wenn die Mittel, die man anwendet, nicht gewaltsam sind, ist ihre Wirkung zweifelhaft; sind sie aber gewaltsam, so bringen sie das Leben der Mutter in die größte Gefahr. Niemals werde ich mich der Möglichkeit aussetzen, Ihr Henker zu werden; aber zählen Sie auf mich, ich werde Sie nicht verlassen. Ihre Ehre ist mir ebenso teuer wie Ihr Leben. Beruhigen Sie sich und nehmen Sie von Stund an an, ich befände mich in Ihrer Lage. Verlassen Sie sich darauf, ich werde Sie aus Ihrer üblen Lage befreien, ohne daß Sie nötig haben, Ihr Leben, für dessen Erhaltung ich das meinige hergeben würde, in Gefahr zu bringen. Unterdessen gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß ich beim Lesen Ihres Briefes unwillkürlich ein Gefühl der Freude darüber empfunden habe, daß Sie bei diesem so wichtigen Anlaß mir den Vorzug vor allen anderen gegeben haben. Sie haben sich nicht getäuscht, indem Sie Ihr Vertrauen auf mich setzten, denn in ganz Paris ist kein Mensch, der Sie so zärtlich liebt wie ich; und auf der ganzen Welt kann kein Mensch so lebhaft wünschen, Ihnen nützlich zu sein, wie ich. Spätestens morgen werden Sie beginnen, die Heilmittel einzunehmen, die ich Ihnen zubereiten werde; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie gar nicht vorsichtig genug in der Wahrung des Geheimnisses sein können; denn es handelt sich für uns darum, die strengsten Gesetze zu verletzen, es gilt unser Leben. Haben Sie sich vielleicht schon irgend jemandem anvertraut, etwa Ihrer Kammerzofe oder einer Ihrer Schwestern?«

»Keinem Menschen außer Ihnen, mein Freund; nicht einmal dem Urheber meines Unglückes, ich schaudere, wenn ich daran denke, was meine Mutter sagen, was sie tun würde, sobald sie von meinem Zustande erführe. Ich fürchte, sie wird ihn erraten, wenn sie meine Taille beobachtet.«

»Ihre Taille verrät noch gar nichts; sie hat noch nichts von ihrer Feinheit verloren.«

»Aber sie wird mit jedem Tage unförmlicher werden, und darum müssen wir uns beeilen. Sie werden mir einen Wundarzt ausfindig machen, der mich nicht kennt, und werden mich zu ihm führen; er wird mir nach Belieben zu Ader lassen können.«

»Solcher Gefahr werde ich mich nicht aussetzen; denn er könnte uns verraten. Ich selber werde Ihnen zu Ader lassen, die Sache ist leicht.«

»Wie dankbar bin ich Ihnen! Mir ist schon, wie wenn Sie mir das Leben wieder schenkten; aber um eine Gefälligkeit bitte ich Sie: Führen Sie mich zu einer Hebamme, um sie um Rat zu fragen. Während des nächsten Opernballes können wir uns leicht zu einer solchen begeben, ohne bemerkt zu werden.«

»Ja, liebe Freundin, aber es ist nicht notwendig, und ein solcher Schritt könnte uns bloßstellen.«

»Durchaus nicht. In der Riesenstadt gibt es überall Hebammen, und wir können unmöglich erkannt werden, da es ja in unserer Macht steht, maskiert zu bleiben. Tun Sie mir den Gefallen! Die Ratschläge einer Hebamme können mir nur nützlich sein.«

Ich hatte nicht die Kraft, ihr ihre Bitte abzuschlagen; aber ich bewog sie, bis zum letzten Ball zu warten, weil auf diesem gewöhnlich die Menge größer ist, wir also Aussicht hatten, ihn sicherer verlassen zu können. Ich versprach ihr, im schwarzen Domino mit einer weißen venezianischen Maske zu erscheinen, auf welche neben dem linken Auge eine Rose gemalt wäre. Sobald sie mich hinausgehen sähe, sollte sie mir folgen und in denselben Fiaker steigen, in den ich einsteigen würde. Alles ging so vor sich; aber wir werden noch darauf zurückkommen.

Ich ging mit ihr nach Hause und speiste mit der Familie, ohne auf Farsetti zu achten, der ebenfalls mitaß, und der mich mit ihr hatte zurückkommen sehen. Wir sprachen kein Wort miteinander; er liebte mich nicht, und ich verachtete ihn.

Ich muß hier einen schweren Fehler berichten, den ich beging und den ich mir heute noch nicht verziehen habe.

Da ich mich verpflichtet hatte, Fräulein X. C. V. zu einer Hebamme zu begleiten, so hätte ich sie natürlich zu einer anständigen Matrone führen sollen; denn es handelte sich nur darum, diese wegen der Verhaltungsmaßregeln zu befragen, die eine Frau während ihrer Schwangerschaft beobachten mußte. Leider veranlaßte mich ein böser Geist eines Tages, als ich nach den Tuilerien wollte, durch die Rue St.-Louis zu fahren. Ich sah die Montigny mit einer hübschen Person, die ich nicht kannte, in ihr Haus eintreten. Aus Neugier ließ ich meinen Wagen halten und ging zu ihr hinauf. Nachdem ich mich amüsiert hatte, fiel mir die Angelegenheit des Fräulein X. C. V. ein, und ich bat die Frau, mir die Wohnung einer Hebamme zu sagen, da ich eine solche nach etwas fragen müßte. Sie bezeichnete mir ein Haus im Marais und sagte, ich würde dort die Perle aller Hebammen finden. Hierauf erzählte sie mir eine Menge Heldentaten, wodurch diese sich ausgezeichnet hätte, und die mir alle bewiesen, daß es ein nichtswürdiges Weib war. Da ich jedoch wußte, daß ich sie nicht zu unerlaubten Zwecken gebrauchen wollte, so wählte ich sie. Ich ließ mir ihre Adresse geben, und da ich nachts hingehen wollte, so sah ich mir gleich am nächsten Tage ihr Haus von außen an.

Fräulein X. C. V. begann die Arzneien zu nehmen, die ich ihr brachte und die sie schwächen und dadurch das Werk der Liebe zerstören sollten; da sie aber gar keine Wirkung bemerkte, so war sie ungeduldig, eine Hebamme zu Rate zu ziehen.

Die Nacht des letzten Opernballs kam heran; sie erkannte mich an dem verabredeten Zeichen, folgte mir hinaus und stieg mit mir in einen Fiaker. In kaum einer Viertelstunde befanden wir uns in der Wohnung des alten niederträchtigen Weibes.

Eine Frau von etwa fünfzig Jahren empfing uns sehr beflissen und bot uns sofort ihre Dienste an.

Das Fräulein sagte ihr, sie glaube schwanger zu sein und wolle gerne wissen, wie sie ihre Schwangerschaft bis zur Entbindung nach Möglichkeit verbergen könne. Das Weib antwortete ihr lächelnd, sie könne ihr ohne Umschweife sagen, daß sie gerne das Kind abtreiben möchte. »Für fünfzig Louis bin ich bereit, Ihnen zu dienen; davon ist die Hälfte im voraus zahlbar, um die Mittel einzukaufen, der Rest aber sofort nach dem glücklichen Gelingen. Da ich Ihrer Ehrlichkeit vertraue, so werden Sie auch der meinigen vertrauen. Geben Sie mir zuerst die fünfundzwanzig Louis und kommen Sie morgen wieder oder lassen Sie die Mittel mit der Gebrauchsanweisung abholen.«

Nachdem sie dies gesagt hatte, hob sie dem Fräulein ohne Umstände die Röcke hoch, und diese bat mich schüchtern, ich möchte nicht hinsehen. Nachdem die Alte sie mit den Fingern untersucht hatte, ließ sie den Vorhang wieder fallen und sagte zu ihr, sie könne höchstens im vierten Monat schwanger sein. »Sollten meine Mittel unwirksam bleiben, was ich nicht glaube, so werde ich Ihnen andere Mittel angeben; auf alle Fälle gebe ich Ihnen Ihr Geld zurück, wenn es mir nicht gelingt, Sie vollkommen zufriedenzustellen.«

»Daran zweifle ich nicht,« sagte ich zu ihr; »aber was sind das, bitte, für andere Mittel?«

»Ich werde Ihnen Anweisung geben, den Fötus zu zerstören.«

Ich hätte ja antworten können, daß es unmöglich ist, das Kind zu töten, ohne die Mutter tödlich zu verletzen; aber ich fühlte keine Lust, mich mit einem so gemeinen Geschöpf herumzustreiten. »Wenn Madame sich entschließt, Ihre Mittel zu nehmen,« sagte ich zu ihr, »so werde ich Ihnen morgen das zum Ankauf der Kräuter notwendige Geld bringen.«

Ich gab ihr zwei Louis, und wir gingen.

Fräulein X.C.V. sagte mir, sie halte das Weib für eine verruchte Verbrecherin; denn sie sei überzeugt, daß man die Frucht nicht zerstören könne, ohne das Leben der Trägerin in Gefahr zu bringen. Sie habe nur zu mir allein Vertrauen. Ich bestärkte sie in dieser Ansicht und suchte sie von dem Gedanken an strafbare Eingriffe immer mehr abzubringen; zugleich versicherte ich ihr abermals, daß ich ihr Vertrauen rechtfertigen würde. Plötzlich beklagte sie sich über die Kälte und sagte zu mir: »Hätten wir nicht noch Zeit, uns in der Petite Pologne ein wenig zu wärmen? Ich habe große Lust, Ihre hübsche Wohnung zu sehen.«

Diese Laune überraschte mich und gefiel mir. Da die Nacht sehr dunkel war, konnte sie von den äußerlichen Schönheiten des Ortes nichts sehen; das Innere mußte ihr genügen, aber die Phantasie fliegt ja so schnell und so weit. Ich hütete mich, ihr meine Gedanken mitzuteilen; denn in der Liebe gibt es gewisse Gedanken, die man für sich behalten muß; aber ich glaubte tatsächlich, der Augenblick des Glückes sei da. Ich ließ den Fiaker am Pont-au-change halten, und wir stiegen aus; an der Ecke der Rue de la Feronnerie nahmen wir einen anderen Wagen; ich versprach dem Kutscher sechs Franken Trinkgeld, und in einer Viertelstunde hielt er vor meiner Tür.

Ich klingle als Hausherr, die Küchenperle macht mir auf und meldet mir, es sei niemand dort. Ich wußte das sehr gut; aber es war bei uns so Gewohnheit.

»Schnell, zünde ein Bündel Reiser an und gib uns irgend etwas, um dazu eine Flasche Champagner zu trinken.«

»Einen Eierkuchen?«

»Gut.«

»Einen Eierkuchen, ausgezeichnet!« sagte das Fräulein.

Sie war entzückend, und ihr lachendes Gesicht schien mir einen köstlichen Augenblick zu verkünden.

Vor einem guten Feuer sitzend, nehme ich sie auf den Schoß, bedecke sie mit Küssen, die sie zärtlich erwidert, und bin dem Augenblick des Triumphes nahe, als sie mich mit der sanftesten Miene bittet, mich zu mäßigen. Ich glaubte ihr zu gefallen, indem ich ihr gehorchte, denn ich war überzeugt, sie wolle meinen Sieg nur verzögern, um ihn schöner zu machen, und werde sich nach dem Champagner ergeben. In ihren Zügen las ich Liebe, Sanftmut, Vertrauen und größte Dankbarkeit, und ich hätte mich geärgert, wenn sie hätte glauben können, ich wünschte Beweise der Zärtlichkeit oder einfache Gefälligkeit als Belohnung von ihr. Ich war so großmütig, nur Liebe zu verlangen.

Als wir unser letztes Glas Champagner geleert hatten, standen wir auf, und halb mit Leidenschaft, halb mit sanfter Gewalt lege ich sie auf ein Sofa und umschlinge sie liebend mit meinen Armen; aber anstatt sich zu ergeben, widersetzt sie sich meinem Willen, zunächst durch sanfte Bitten, die ja für gewöhnlich den Angreifer nur noch unternehmender machen, dann durch ernsthafte Vorstellungen und endlich durch Anwendung ihrer Körperkräfte. Dies war zuviel; der bloße Gedanke an Vergewaltigung hat mich stets empört; denn ich denke noch heute, daß zwei Liebende in ihrer Vereinigung nur glücklich sein können, wenn sie sich in völligem Vertrauen einander hingeben. Ich führe alle möglichen Wunder an; ich spreche als Liebhaber, der zuerst bevorzugt, dann getäuscht, endlich verschmäht worden ist, schließlich sage ich ihr, sie habe mich auf grausame Weise enttäuscht; ich sehe sie schmerzlich bewegt, ich falle ihr zu Füßen, bitte sie um Verzeihung.

»Ach«, sagte sie in traurigstem Tone zu mir, »ich bin nicht mehr Herrin meines Herzens und darum bin ich tausendmal mehr zu beklagen als Sie.«

Ihre Tränen flossen in Strömen; ihr Kopf sank auf den meinigen, und mein Mund heftete sich an ihre Lippen. Aber das Stück war aus. Ich dachte nicht einmal an einen neuen Angriff, ich hätte einen solchen Gedanken mit Verachtung von mir gewiesen. Es folgte ein ziemlich langes Schweigen, dessen wir beide gleich sehr bedurften – sie, um das Gefühl der Scham zu ersticken; ich, um meiner Vernunft die Zeit zu geben, den Zorn zu beschwichtigen, der mir wohl berechtigt erschien. Dann legten wir unsere Masken wieder an und kehrten nach dem Opernhause zurück. Unterwegs wagte sie mir zu sagen, sie würde genötigt sein, auf meine Freundschaft zu verzichten, wenn ich einen solchen Preis dafür verlangte.

»Die Gefühle der Liebe, mein Fraulein, müssen denen der Ehre nachstehen, und Ihre Ehre sowohl wie die meinige zwingt mich, Ihr Freund zu bleiben, wäre es auch nur, um Sie in Ihren eigenen Augen der Ungerechtigkeit zu überführen. Ich werde aus Ergebenheit tun, was ich gerne aus Liebe getan hätte, und ich werde lieber sterben, als mich in Zukunft noch einmal um Gunstbezeigungen zu bewerben, von denen ich annahm, daß Sie mich ihrer für würdig hielten.«

Wir trennten uns im Opernhause, wo ich sie in dem ungeheuren Gedränge sofort aus den Augen verlor. Am nächsten Tage sagte sie mir, sie habe die ganze Nacht hindurch getanzt: vielleicht hoffte sie in der heftigen körperlichen Bewegung ein Heilmittel zu finden, das sie von der Medizin wohl nicht mehr erwartete.

Ich kam in sehr schlechter Laune nach Hause. Vergeblich suchte ich nach Gründen, um meine Abweisung zu erklären, die mir demütigend und beinahe unglaublich erschien. Ich konnte die Beweggründe des Fräuleins X. C. V. mir nur erklären, indem ich Sophismen auf Sophismen häufte. Die gesunde Vernunft zeigte mir, daß ich schnöde beschimpft war, allen Anstandsrücksichten und sittlichen Vorurteilen unserer gesellschaftlichen Erziehung zum Trotz. Ich dachte an den Witz der Populia, die sich Verstöße gegen die eheliche Treue nur erlaubte, wenn sie schwanger war:

Non tollo vectorem nisi navi plena – Ich nehme keinen Schiffer auf, wenn das Schiff nicht schon voll ist.

Ich ärgerte mich, die Überzeugung erlangt zu haben, daß ich nicht geliebt wurde, und es schien mir meiner unwürdig zu sein, noch weiterhin ein Weib zu lieben, das ich nicht mehr zu besitzen hoffen konnte. Ich schlief mit dem Entschluß ein, mich dadurch zu rächen, daß ich sie ihrem Schicksal überließe; im entgegengesetzten Benehmen hätte sie allerdings Heroismus finden müssen, aber dies war mir gleichgültig. Ich glaubte, meine Ehre erfordere, mich von keinem Menschen zum besten haben zu lassen.

Aber guter Rat kommt über Nacht. Als ich erwachte, war ich wieder ruhig und immer noch verliebt. Ich faßte einen neuen Entschluß: mich großmütig gegen die Unglückliche zu benehmen. Ohne mich war sie sicherlich verloren; ich mußte ihr also auch fernerhin meine Dienste widmen und mich gleichgültig gegen ihre Gunst zeigen. Die Rolle war nicht leicht; aber ich hatte den Mut, sie ausgezeichnet zu spielen, und die Belohnung kam später von selbst.

Zweites Kapitel


Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten. – Der Generalkontrolleur Herr de Boulogne. – Der Herzog von Choiseul. – Der Abbé de la Ville. – Herr du Vernay. – Einrichtung der Lotterie. – Mein Bruder kommt von Dresden nach Paris und wird in die Malerakademie aufgenommen.

So bin ich also wieder in meinem einzigen Paris, das ich von nun an als meine Heimat betrachten muß, da ich an Rückkehr in jene andere, die mir der Zufall der Geburt gegeben hat, nicht mehr denken darf – eine undankbare Heimat, die ich aber trotzdem immer noch liebe, sei es, daß das Vorurteil unsere Gedanken und unsere Liebe mit Zaubermacht an jene Orte fesselt wo unsere Kinderjahre verflossen sind und wo wir unsere erste Eindrücke empfangen haben, sei es, daß Venedig in der Tat Reiz hat, die nur ihm allein eigen sind. Aber dieses ungeheure Paris ist ein Ort des Elends oder des Glücks, je nachdem man sich zu benehmen weiß; auf mich wird es ankommen, den günstigen Wind zu benutzen.

Paris war mir nicht fremd; wie meine Leser wissen, hatte ich mich schon zwei Jahre lang dort aufgehalten. Aber ich muß gestehen, daß ich damals nichts anderes zu tun gehabt hatte, als die Zeit tot zu schlagen; ich hatte mich nur um mein Vergnügen bekümmert, und demgemäß war mein Leben verlaufen. Ich hatte die Göttin des Glücks nicht umworben, und deshalb hatte sie mir auch nicht ihr Heiligtum geöffnet. Jetzt aber fühlte ich, daß ich sie mit größerer Ehrerbietung behandeln mußte; ich mußte mich an ihre Günstlinge heranmachen, die sie mit ihren Gaben überhäufte. Je näher man der Sonne kommt, desto mehr verspürt man die wohltätigen Wirkungen ihrer Strahlen. Dies wußte ich, und ich sah, daß ich, um etwas zu erreichen, alle meine körperlichen und geistigen Kräfte aufbieten mußte. Ich durfte es nicht versäumen, Bekanntschaften mit großen und einflußreichen Persönlichkeiten anzuknüpfen. Ich mußte Selbstbeherrschung üben und mich zu der Partei derer halten, deren Wohlwollen meinen Interessen nützlich sein konnte. Um mich mit Erfolg diesen Betrachtungen entsprechend verhalten zu können, war es für mich wichtig, alles zu vermeiden, was man in Paris schlechte Gesellschaft nennt. Ich mußte auf alle meine alten Gewohnheiten verzichten und alle Ansprüche fallen lassen, wodurch ich mir hätte Feinde machen können; denn diese hätten natürlich nicht verfehlt, mich als einen wenig zuverlässigen Menschen hinzustellen, den man nicht wohl mit Aufträgen von einiger Bedeutung betrauen könnte. Diese Gedanken waren, wie ich glaube, sehr richtig, und ich hoffe, daß der Leser vollkommen meiner Meinung sein wird. »Ich werde«, sagte ich zu mir, »zurückhaltend in meinem Benehmen und in meinen Reden sein; dadurch werde ich mir einen guten Ruf erwerben, dessen Früchte nicht ausbleiben können.«

Meine augenblicklichen Bedürfnisse machten mir keine Sorgen; denn ich konnte auf ein Monatsgeld von dreihundert Franken rechnen, die mein Adoptiv-Vater, der gute und freigebige Herr von Bragadino, mir schicken wollte. Diese Summe mußte mir in Erwartung eines Bessern einstweilen genügen; denn in Paris kann man mit geringen Kosten leben und doch eine gute Figur spielen, wenn man sich etwas einzuschränken versteht. Das Wesentliche war für mich, stets gut gekleidet zu sein und eine anständige Wohnung zu haben, denn in allen großen Städten kommt es auf das äußere Auftreten an: nach diesem wird man zunächst beurteilt. In Verlegenheit brachten mich nur die dringlichen Bedürfnisse des Augenblicks; denn ich hatte, offen herausgesagt, weder Kleider noch Wäsche – mit einem Wort: nichts.

Wenn man sich meiner Beziehungen zum französischen Gesandten in Venedig erinnert, so wird man es ganz natürlich finden, daß mein erster Gedanke war, mich an ihn zu wenden. Er war damals im Glück, und ich kannte ihn gut genug, um auf ihn rechnen zu können.

Überzeugt, daß der Schweizer mir sagen würde, Seine Exzellenz sei beschäftigt, bewaffnete ich mich mit einem Brief und begab mich gleich am nächsten Morgen in das Palais Bourbon. Der Schweizer nahm meinen Brief, und ich gab ihm meine Adresse an; weiter war nichts nötig, und ich ging wieder.

Überall, wohin ich kam, mußte ich meine Flucht erzählen; das wurde für mich eine wahre Anstrengung, die beinahe ebenso ermüdend war wie die Flucht selbst; denn ich brauchte zu meiner Erzählung zwei Stunden, selbst wenn ich gar nichts ausschmückte. Meine Lage verlangte jedoch von mir, gefällig gegen die Neugierigen zu sein; denn ich mußte annehmen, daß sie alle die freundlichste Teilnahme für mich empfänden. Wenn man gefallen will, so ist es im allgemeinen gewiß das sicherste Mittel, bei allen, mit denen man zu tun hat, eine wohlwollende Gesinnung vorauszusetzen.

Ich speiste bei Sylvia zu Abend. Es ging dort ruhiger her als am Abend zuvor, und ich konnte mit den Zeichen der Freundschaft, die man mir erwies, sehr wohl zufrieden sein.

Ich ging früh nach Hause; denn ich war ungeduldig, zu sehen, was der Minister auf meinen Brief mir antworten würde. Ich brauchte nicht lange zu warten; schon um acht Uhr erhielt ich von ihm ein Briefchen, worin er mich auf zwei Uhr nachmittags zu sich bat. Wie man sich denken kann, war ich pünktlich. Ich wurde von Seiner Exzellenz auf das zuvorkommendste empfangen. Herr von Bernis sprach seine Freude darüber aus, daß ich meine Schwierigkeiten siegreich überwunden hätte und daß er in der Lage wäre, mir nützlich sein zu können. Er sagte mir, M. M. habe ihm meine Flucht mitgeteilt und er habe stets gehofft, daß mein erster Besuch in Paris, wohin ich natürlich mich hätte begeben müssen, ihm gelten würde. Er zeigte mir den Brief, worin M. M. ihm meine Verhaftung meldete, und einen andern, worin sie ihm meine glückliche Flucht mitteilte; aber alle Einzelheiten beruhten auf reiner Phantasie. M. M. war entschuldbar, denn sie hatte nur schreiben können, was man ihr gesagt hatte, und es war nicht leicht, in Venedig etwas Wahres über meine Flucht zu erfahren. Die reizende Nonne schrieb ihm: jetzt, da sie keine Hoffnung mehr habe, einen der beiden Männer wieder zu sehen, die allein sie an das Leben fesselten und auf deren Liebe sie hätte rechnen können, sei ihr das Dasein zur Last geworden, und sie fühle sich unglücklich, daß sie keine Zuflucht mehr bei der Frömmigkeit finden könnte. »C. C. besucht mich oft,« schrieb sie; »aber leider ist meine liebe Freundin mit ihrem Mann durchaus nicht glücklich.«

Ich sagte Herrn von Bernis, die Umstände meiner Flucht aus den Bleikammern, wie unsere Freundin sie ihm mitgeteilt habe, seien durchaus falsch; ich würde mir daher die Freiheit nehmen, eine ausführliche Schilderung niederzuschreiben. Er bat mich dringend, dieses Versprechen zu halten, und versicherte mir, er werde M. M. eine Abschrift schicken. Zugleich drückte er mir auf die anmutigste Art eine Rolle von hundert Louis in die Hand, indem er mir sagte, er werde an mich denken und mir sofort Bescheid geben, wenn er mir etwas mitzuteilen habe.

Im Besitze genügender Mittel, dachte ich nunmehr zunächst an meine Ausstattung. Sobald ich die nötigen Einkäufe gemacht hatte, ging ich an die Arbeit. Acht Tage darauf schickte ich meinem großmütigen Beschützer meine Geschichte zu. Ich schrieb ihm, er möchte davon so viele Abschriften machen lassen, wie er wünschte, und von diesen nach seinem Gutdünken Gebrauch machen, um die Persönlichkeiten, die mir nützlich sein könnten, zu meinen Gunsten zu interessieren.

Drei Wochen später ließ der Minister mich rufen und sagte mir, er habe mit dem venetianischen Gesandten, Herrn Erizzo, über mich gesprochen. Dieser habe ihm gesagt, er werde mir keine Unannehmlichkeiten bereiten; aber er habe keine Lust, sich mit den Staatsinquisitoren zu überwerfen, und werde mich deshalb nicht empfangen. Da ich ihn nicht brauchte, war diese Zurückhaltung mir keineswegs unangenehm. Herr von Bernis teilte mir hierauf mit, er habe meine Geschichte der Frau Marquise de Pompadour gegeben, die sich meiner noch erinnere; er versprach mir, die erste Gelegenheit zu benützen, um mich der einflußreichen Dame vorzustellen. »Sie können, mein lieber Casanova, sich Herrn de Choiseul und dem Generalkontrolleur de Boulogne vorstellen; Sie werden gut aufgenommen werden, und wenn Sie ein bißchen Kopf haben, können Sie von dem letzteren große Vorteile erwarten. Er selber wird Ihnen die nötigen Hinweise geben, und Sie werden die Wahrheit des Sprichwortes erkennen: Wer angehört wird, erreicht seinen Zweck.

Trachten Sie irgend etwas zu erfinden, was den königlichen Finanzen günstig ist, aber vermeiden Sie verwickelte und chimärische Sachen; schreiben Sie es auf, und wenn es nicht allzu lang ist, werde ich Ihnen meine Meinung darüber sagen.«

Ich verließ den Minister zufrieden und dankbar, aber ich war in großer Verlegenheit, wie ich passende Mittel ausfindig machen sollte, um die Einkünfte des Königs zu vermehren.

Ich verstand von den Finanzen gar nichts. Soviel ich auch meine Einbildungskraft abquälte, alles, was mir einfiel, lief auf neue Steuern hinaus, also auf verhaßte oder törichte Mittel, die ich nach gründlicher Überlegung selber wieder verwarf.

Mein erster Besuch galt Herrn von Choiseul, sobald ich erfuhr, daß er in Paris war. Er empfing mich an seinem Putztisch, an dem er schrieb, während sein Kammerdiener ihn frisierte. Er trieb die Höflichkeit so weit, seine Arbeit mehrere Male zu unterbrechen, um Fragen an mich zu richten. Aber während ich diese beantwortete, schrieb Seine Exzellenz ruhig weiter, wie wenn ich gar nicht vorhanden wäre, und ich bezweifle sehr, daß er den Sinn meiner Auseinandersetzungen erfaßte, obgleich er zuweilen so tat, als ob er mich ansähe. Offenbar waren seine Augen und seine Gedanken nicht mit dem gleichen Gegenstand beschäftigt. Trotz dieser sonderbaren Art, Leute oder wenigstens mich zu empfangen, war Herr von Choiseul ein sehr geistvoller Mann.

Als sein Brief fertig war, sagte er mir italienisch: »Herr von Bernis hat mir einen Teil der Geschichte Ihrer Flucht erzählt; sagen Sie mir doch, wie Sie es angefangen haben, um glücklich herauszukommen?«

»Gnädiger Herr, die Geschichte ist ein bißchen lang; ich brauche mindestens zwei Stunden dazu, und Eure Exzellenz scheinen mir sehr beschäftigt zu sein.«

»Erzählen Sie sie mir abgekürzt.«

»Wenn ich es auch noch so kurz mache, brauche ich trotzdem zwei Stunden.«

»Sparen Sie die Einzelheiten für ein anderes Mal auf.«

»Das einzige Interessante bei der Geschichte sind gerade die Einzelheiten.«

»Oho, man kann alles abkürzen, soviel man will, und eine Geschichte braucht deshalb fast gar nicht an Interesse zu verlieren.«

»Sehr wohl. Es würde mir übel anstehen, hiergegen den geringsten Einwand zu erheben. Ich werde also dem gnädigen Herrn erzählen, daß die Staatsinquisitoren mich in die Bleikammern einsperren ließen; daß es mir nach fünfzehn Monaten und fünf Tagen gelang, das Dach zu durchbrechen; daß ich unter tausend Schwierigkeiten durch eine Dachluke in die Kanzlei geriet, deren Tür ich erbrach; daß ich hierauf auf den Markusplatz ging, mich nach der Anlegestelle begab und eine Gondel nahm, die mich nach dem Festland brachte, von wo ich nach Paris kam, wo ich die Ehre habe, Ihnen meine Verbeugung zu machen.«

»Aber was sind die Bleikammern?«

»Gnädiger Herr, um dies zu erklären, brauche ich mindestens eine Viertelstunde.«

»Wie haben Sie es gemacht, um nach dem Dach durchzubrechen?«

»Das kann ich Ihnen in weniger als einer halben Stunde nicht sagen.«

»Warum ließ man Sie gefangen setzen?«

»Die Erzählung dieses Umstandes würde lang sein, gnädiger Herr.«

»Ich glaube. Sie haben recht. Das Interessanteste der Geschichte kann nur auf den Einzelheiten beruhen.«

»Wie ich mir die Freiheit nahm, Eurer Exzellenz zu bemerken.«

»Ich muß nach Versailles; aber Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie mich zuweilen besuchen. Unterdessen, Herr Casanova, überlegen Sie sich, worin ich Ihnen gefällig sein kann.«

Die Art, wie Herr von Choiseul mich empfing, hatte mich gekränkt, und ich war sehr ärgerlich darüber gewesen; aber das Ende unseres Gesprächs und besonders der herzliche Ton seiner letzten Worte beruhigten mich, und als ich ihn verließ, war ich, wenn auch nicht ganz zufrieden, so doch wenigstens nicht mehr ärgerlich.

Ich begab mich von dem hohen Herrn unmittelbar zum Herrn von Boulogne und fand in ihm einen ganz anderen Mann als den Herzog, sowohl in seinen Manieren wie in seiner Haltung. Er empfing mich sehr höflich und machte mir sofort ein Kompliment über die hohe Meinung, die Herr von Bernis von mir und von meinen Kenntnissen auf dem Gebiete der Finanzen habe. Ich fühlte, daß niemals ein Kompliment weniger begründet gewesen war, und es fehlte nicht viel, so hätte ich laut aufgelacht. Mein guter Geist ließ mich ernst bleiben.

Bei Herrn von Boulogne war ein alter Herr, dessen Züge den Stempel des Genies trugen und der mir Ehrfurcht einflößte.

»Teilen Sie mir Ihre Ansichten schriftlich oder mündlich mit,« sagte der Generalkontrolleur zu mir. »Sie werden mich sehr geneigt finden, auf Ihre Ideen einzugehen. Herr Paris du Vernay hier braucht zwanzig Millionen für seine Militärschulen. Es handelt sich darum, diese Summe zu finden, ohne den Staat zu belasten und ohne den königlichen Schatz zu leeren.«

»Nur ein Gott, mein Herr, hat schöpferische Gewalt.«

»Ich bin kein Gott,« fiel Herr du Vernay ein; »trotzdem habe ich zuweilen etwas geschaffen; aber alles ist ganz anders geworden.«

»Alles ist schwieriger geworden, das weiß ich; aber trotz den Schwierigkeiten habe ich eine Operation im Kopf, die dem König jährlich hundert Millionen einbringen würde.«

»Und wieviel würde diese Einnahme dem Könige kosten?«

»Nichts als die Kosten des Einziehens.«

»So würde also die Nation diese Einnahme liefern?«

»Gewiß, natürlich; aber freiwillig.«

»Ich weiß, woran Sie denken.«

»Das würde mich sehr wundern, mein Herr; denn ich habe über meinen Gedanken mit keinem Menschen gesprochen.«

»Wenn Sie sich nicht anderweitig verpflichtet haben, so erweisen Sie mir die Ehre, morgen bei mir zu dinieren. Ich werde Ihnen Ihren Plan zeigen, den ich schön finde, der aber nach meiner Meinung auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen wird. Trotzdem können wir ja einmal darüber plaudern, und wir werden dann sehen. Werden Sie kommen?«

»Ich werde die Ehre haben.«

»Schön; ich werde Sie in Plaisance erwarten.«

Als er fort war, pries Herr von Boulogne mir das Talent und die Rechtschaffenheit des alten Herrn. Er war der Bruder des Herrn de Montmartel, der nach einer geheimen Chronik der Vater der Frau von Pompadour war, denn er liebte Frau Poisson zu gleicher Zeit wie Herr le Normand.

Vom Hause des Generalkontrolleurs begab ich mich nach den Tuilerien, um im Park spazieren zu gehen und über die letzte Schicksalsfügung nachzudenken. Man sagt mir, man brauche zwanzig Millionen; ich rühme mich, hundert geben zu können, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie dies möglich sein werde – und ein berühmter Finanzkünstler ladet mich zum Diner ein, um mir zu beweisen, daß er meinen Plan kennt: es war etwas scherzhaft Seltsames dabei; aber das Ganze entsprach meiner Denk- und Handlungsweise. »Wenn er mir die Würmer aus der Nase ziehen will, so kann ich es mit ihm aufnehmen. Wenn er mir seinen Plan mitteilt, so steht es völlig bei mir, zu sagen, daß er sich geirrt, oder daß er richtig geraten habe, je nach dem, was mir der Augenblick eingeben wird. Wenn ich von dem Gegenstand etwas zu verstehen glaube, werde ich vielleicht irgend etwas Neues vorbringen; wenn ich nichts davon verstehe, werde ich mich in ein geheimnisvolles Schweigen hüllen, und zuweilen tut auch dieses seine Wirkung. Auf jeden Fall darf ich das Glück nicht von mir stoßen, wenn es mir günstig sein will.«

Abbé Bernis hatte mich Herrn von Boulogne gegenüber nur deshalb als Kenner des Finanzwesens bezeichnet, um ihn leichter zugänglich zu machen; denn sonst würde er mich vielleicht nicht empfangen haben. Es tat mir leid, daß ich nicht wenigstens die Fachausdrucke beherrschte; denn damit kann man sich oft aus der Verlegenheit ziehen, und gar mancher hat seinen Weg gemacht, der anfangs auch nicht mehr wußte. Aber gleichviel, ich hatte mich einmal darauf eingelassen: es galt gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und im übrigen war ich der Mann dazu, zuversichtlich aufzutreten. Immerhin war ich etwas traurig und nachdenklich, als ich am nächsten Tage in einen Lohnwagen stieg und dem Kutscher sagte, er solle mich nach Plaisance zu Herrn du Vernay fahren. Plaisance liegt eine kurze Strecke jenseits von Vincennes.

Bald hielt ich vor der Tür des berühmten Mannes, der vor vierzig Jahren Frankreich vor dem Abgrund gerettet hatte, in den das Lawsche System es hinabzustürzen drohte. Ich trat ein und fand ihn vor einem großen Feuer, umgeben von sieben oder acht Personen, denen er mich vorstellte, indem er ihnen meinen Namen nannte und mich als Freund des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten und des Generalkontrolleurs bezeichnete. Hierauf stellte er mir die Herren einzeln vor, indem er mir eines jeden Namen und Titel sagte; ich bemerkte, daß vier Finanzintendanten unter ihnen waren. Nachdem ich jedem meine Verbeugung gemacht hatte, weihte ich mich dem Kultus des Harpokrates und war ganz Auge und Ohr, ohne mir jedoch meine Aufmerksamkeit allzu sehr merken zu lassen.

Die Unterhaltung war allerdings nicht besonders interessant; denn man sprach zuerst von der Seine, die damals zugefroren war und fußdickes Eis hatte. Dann kam der Tod des Herrn von Fontenelle an die Reihe; hierauf wurde davon gesprochen, daß Tamins nicht gestehen wolle und daß der Prozeß dem Könige fünf Millionen kosten werde. Endlich sprach man vom Kriege und rühmte Herrn von Soubise, den der König zum Oberbefehlshaber seiner Heere ausersehen hatte. Ein natürlicher Übergang führte auf die Kosten, die der Krieg verursachen würde, und auf die Mittel, wie diese Kosten gedeckt werden könnten.

Ich hörte zu und langweilte mich; denn alle ihre Reden waren dermaßen mit Fachausdrücken gespickt, daß ich niemals recht ihren Sinn erfassen konnte. Wenn jemals Schweigen einem Menschen Nichtigkeit hat verleihen können, so mußte meine anderthalbstündige Ausdauer mich in den Augen der Herren als eine sehr bedeutende Persönlichkeit erscheinen lassen. Gerade in dem Augenblick, wo ich das Gähnen nicht mehr zurückhalten konnte, wurde zur Tafel gerufen; wieder saß ich anderthalb Stunden bei Tisch, ohne den Mund zu einem anderen Zweck zu öffnen, als um einer ausgezeichneten Mahlzeit reichliche Ehre anzutun. Einen Augenblick, nachdem der Nachtisch aufgetragen war, lud Herr du Vernay mich ein, mit ihm in ein Nebenzimmer zu kommen, während die anderen Gäste bei Tische blieben. Ich folgte ihm, und wir gingen durch einen Saal, wo wir einen gut aussehenden Mann von etwa fünfzig Jahren fanden, der uns in ein Kabinett begleitete, wo Herr du Vernay ihn mir unter dem Namen Casalbigi vorstellte. Nachdem unmittelbar darauf noch zwei Finanzintendanten eingetreten waren, überreichte Herr du Vernay mir lächelnd und mit der liebenswürdigsten Miene ein Folioheft mit den Worten: »Hier, Herr Casanova, ist Ihr Plan.«

Ich nahm das Heft und las die Aufschrift: Lotterie von neunzig Zahlen, deren Gewinne bei monatlicher Ziehung nur auf fünf Zahlen fallen können usw.

Ich gab ihm das Heft zurück und sagte mit der größten Sicherheit: »Mein Herr, ich gestehe, dies ist allerdings mein Plan.«

»Mein Herr, man ist Ihnen zuvorgekommen; der Plan ist von Herrn Casalbigi, den Sie hier sehen.«

»Ich bin entzückt – nicht, daß man mir zuvorgekommen ist, sondern daß ich, wie ich sehe, ebenso denke wie Herr von Casalbigi. Aber wenn Sie den Plan nicht angenommen haben, darf ich es wagen, Sie nach Ihren Gründen zu fragen?«

»Man führt gegen den Plan mehrere sehr triftige Gründe an, auf die uns nur sehr unbestimmte Antworten gegeben worden sind.«

»Ich sehe,« sagte ich kühl, »in der ganzen Welt nur einen einzigen Grund, der dagegen sprechen könnte: daß nämlich der König seinen Untertanen das Spielen nicht erlauben wollte.«

»Dieser Grund kommt, wie Sie begreifen werden, nicht in Betracht; der König wird seinen Untertanen erlauben zu spielen, soviel sie wollen. Aber werden sie spielen?«

»Ich wundere mich, daß man daran zweifeln kann – vorausgesetzt natürlich, daß die Gewinner sicher sind, ihr Geld zu erhalten.«

»Nehmen wir also an, daß sie spielen werden, sobald sie sicher sind, daß eine Kasse zur Auszahlung vorhanden ist – aber wie wollen Sie die Mittel beschaffen?«

»Die Mittel? Nichts einfacher als dies: königlicher Schatz; Verfügung des Ministerrats. Mir genügt es, wenn die Nation annimmt, daß der König imstande sei, hundert Millionen zu zahlen.«

»Hundert Millionen?«

»Jawohl! man muß blenden.«

»Aber damit Frankreich glaubt, oder damit wir Frankreich zu dem Glauben bringen, daß der König hundert Millionen bezahlen könne, muß man die Möglichkeit annehmen, daß er sie verlieren kann. Nehmen Sie diese Möglichkeit an?«

»Ja, gewiß nehme ich sie an; aber dieser Fall könnte erst dann eintreten, nachdem man mindestens hundertfünfzig Millionen eingenommen hätte, und dann wäre die Verlegenheit nicht groß. Als Kenner politischer Berechnungen, mein Herr, können Sie dies nicht leugnen.«

»Ich stehe nicht allein. Geben Sie zu, daß schon bei der ersten Ziehung der König eine ungeheure Summe verlieren kann?«

»Ich gebe es zu, mein Herr; aber zwischen der Möglichkeit und der Tatsache liegt ein unendlicher Spielraum; und ich wage zu behaupten, daß es für einen völligen Erfolg der Lotterie keinen größeren Glücksfall geben könnte, als wenn der König bei der ersten Ziehung eine erhebliche Summe verlöre.«

»Wie, mein Herr? Aber dies wäre ja ein großes Unglück!«

»Ein wünschenswertes Unglück. Man rechnet mit moralischen Einflüssen wie mit anderen Möglichkeiten. Wie Sie wissen, sind alle Versicherungsgesellschaften reich. Ich werde Ihnen vor allen Mathematikern Europas beweisen, daß, da Gott sich neutral verhält, der König unbedingt bei dieser Lotterie eins auf fünf gewinnen muß. Dies ist das Geheimnis. Geben Sie zu, daß gegen einen mathematischen Beweis die Vernunft nichts einwenden kann?«

»Das gebe ich zu. Aber sagen Sie mir, warum das Castelletto nicht für einen sicheren Gewinn des Königs garantieren kann.«

»Das Castelletto so wenig wie irgend ein Mensch auf der Welt kann eine offenkundige und vollkommene Sicherheit dafür geben, daß der König stets gewinnen wird. Übrigens ist das Castelletto nur dazu da, eine, zwei oder drei Nummern vorläufig in einem gewissen Gleichgewicht zu halten, wenn sie übermäßig besetzt sind, so daß ihr Herauskommen dem Lotteriehalter einen beträchtlichen Verlust verursachen könnte. Das Castelletto erklärt dann die Nummern für gesperrt; für einen sicheren Gewinn könnte es Ihnen nur dann garantieren, wenn die Ziehung solange hinausgeschoben würde, bis alle Chancen gleichmäßig besetzt wären. Aber dann würde die Lotterie nicht gehen; denn man müßte vielleicht ganze Jahre warten. Außerdem muß man bekennen, daß in diesem Fall die Lotterie zu einer Halsabschneidern, zum offenbaren Diebstahl würde. Was sie davor schützt, daß ein ehrenrühriger Vorwurf gegen sie erhoben werden kann, ist die Bestimmung, daß jeden Monat unbedingt eine Ziehung stattfindet; denn dadurch ist das Publikum sicher, daß der Lotteriehalter verlieren kann.«

»Werden Sie die Güte haben, in voller Versammlung ebenso zu sprechen und Ihre Gründe geltend zu machen?«

»Mit großem Vergnügen werde ich dies tun.«

»Werden Sie auf alle Einwendungen antworten?«

»Ich glaube, es versprechen zu können.«

»Wollen Sie mir Ihren Plan einreichen?«

»Ich werde diesen erst hergeben, wenn man sich entschlossen hat, ihn anzunehmen, und wenn man mir die angemessenen Vorteile zugesichert hat, um die ich bitten werde.«

»Aber Ihr Plan kann doch nur derselbe sein wie dieser hier.«

»Das bezweifle ich. Ich sehe Herrn Casalbigi zum ersten Male, und da er mir seinen Plan nicht mitgeteilt hat und von dem meinigen keine Kenntnis hat haben können, so ist es gewiß schwierig, wenn nicht gar unmöglich, daß wir in allen Punkten übereinstimmen sollten. Übrigens gebe ich in meinem Plan an, wieviel der König ungefähr jährlich gewinnen muß, und weise dies unwiderleglich nach.«

»Man könnte also die Unternehmung an eine Gesellschaft abgeben, die dem König eine bestimmte Summe bezahlen würde?«

»Ich bitte um Verzeihung.«

»Warum nicht?«

»Aus folgendem Grunde: Die Lotterie kann nur gedeihen, wenn das Publikum zu ihren Gunsten eingenommen ist. Dies wird unfehlbar der Fall sein. Ich möchte mit der ganzen Sache nichts zu tun haben, wenn sie von einer Gesellschaft ausginge, die, um ihren Gewinn zu vermehren, vielleicht daran denken könnte, alle möglichen Operationen vorzunehmen; dadurch würde der Zuspruch des Publikums vermindert werden.«

»Ich sehe nicht ein, inwiefern.«

»Auf tausend verschiedene Arten, die ich Ihnen ein anderes Mal auseinandersetzen werde und worüber Sie, dessen bin ich sicher, dasselbe Urteil fällen werden wie ich. Kurz und gut, wenn ich mich mit der Sache befassen soll, muß es eine königliche Lotterie sein oder gar keine.«

»Herr von Casalbigi ist derselben Meinung wie Sie.«

»Dies freut mich außerordentlich, aber es wundert mich durchaus nicht; denn indem er wie ich darüber nachgedacht, hat er zu dem gleichen Ergebnis kommen müssen.«

»Haben Sie das Personal für das Castelletto zur Hand?«

»Dazu brauche ich nur intelligente Maschinen, und an diesen fehlt es in Frankreich nicht.«

»Wie hoch nehmen Sie den Gewinn an?«

»Auf zwanzig vom Hundert. Wer dem König einen Taler von sechs Franken bringt, bekommt fünf zurück, und ich verspreche Ihnen, daß ceteris paribus der Zulauf ein derartiger sein wird, daß die ganze Nation dem König zum mindesten 500 000 Franken zahlen wird. Ich werde dies vor einem Komitee nachweisen, vorausgesetzt, daß dieses aus Mitgliedern besteht, die keine Umschweife machen, sondern gerade aufs Ziel losgehen, sobald ich die Richtigkeit meiner Berechnungen greifbar nachgewiesen habe.«

Ich fühlte mich imstande, Wort halten zu können, und diese innere Gewißheit beglückte mich. Ich ging einen Augenblick hinaus und fand, als ich wieder eintrat, alle Herren in Gruppen beieinander stehen und sehr ernsthaft über den Plan sprechen. Casalbigi trat auf mich zu und fragte mich freundschaftlich, ob ich in meinen Plan auch den Quaterno vorgesehen habe.

»Das Publikum,« antwortete ich ihm, »muß sogar das Recht haben, den Quino zu spielen; ich mache jedoch in meinem Plan die Einsätze stärker, denn man wird auf den Viertreffer und Fünftreffer nur spielen können, wenn man gleichzeitig auch die Ternos besetzt.«

»In meinem Plan lasse ich den einfachen Quaterno zu, mit einem Gewinn von fünfzigtausend auf eins.«

»Es gibt in Frankreich gute Rechner, mein Herr, und wenn sie nicht den Gewinn für alle Chancen gleich finden, werden sie sich diesen Umstand zunutze machen.«

Casalbigi schüttelte mir herzlich die Hand und sagte mir, er wünschte, wir könnten einmal miteinander sprechen. Ich erwiderte seinen Händedruck und sagte, ich würde es mir zur Ehre anrechnen, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Nachdem ich Herrn du Vernay meine Adresse gegeben hatte, verabschiedete ich mich von der Gesellschaft; ich sah mit Befriedigung auf allen Gesichtern, daß ich den Anwesenden einen vorteilhaften Begriff von meiner Intelligenz beigebracht hatte.

Drei Tage später ließ Herr von Casalbigi sich bei mir melden; ich empfing ihn auf das liebenswürdigste und versicherte ihm, ich hätte mich nur deshalb noch nicht bei ihm eingefunden, weil ich befürchtet hätte, ihm lästig zu fallen. Er erwiderte meine höflichen Komplimente und sagte mir, die freie Art, wie ich gesprochen, hätte auf die Herren Eindruck gemacht. Er wäre überzeugt, daß wir die Lotterie unter sehr vorteilhaften Bedingungen durchsetzen könnten, wenn ich mich beim Generalkontrolleur darum bemühen wollte.

»Dies glaube ich; aber der Vorteil, den sie selber davon haben würden, wäre noch viel größer, und trotzdem haben die Herren es gar nicht eilig damit, denn sie haben mich noch nicht rufen lassen. Die Sache steht bei ihnen; denn für mich ist sie nur von untergeordneter Bedeutung.«

»Sie werden unzweifelhaft heute etwas Neues hören; denn ich weiß, daß Herr de Boulogne mit Herrn de Courteuil über Sie gesprochen hat.«

»Schön; aber ich versichere Ihnen, ich habe ihn nicht darum gebeten.«

Nachdem wir noch einige Augenblicke geplaudert hatten, bat er mich in freundschaftlichster Weise, bei ihm zu speisen. Ich nahm die Einladung an, denn sie war mir im Grunde sehr angenehm. Im Augenblick, wo wir fortgehen wollten, überbrachte man mir einen Brief von Herrn de Bernis. Der liebenswürdige Abbé schrieb mir: wenn ich am nächsten Tage nach Versailles kommen könnte, würde er mich der Frau Marquis de Pompadour vorstellen, und ich würde auch Herrn de Boulogne sehen.

Dieser Zufall war mir außerordentlich angenehm. Weniger aus Eitelkeit als aus Berechnung zeigte ich diesen Brief Herrn von Casalbigi, und ich sah mit Vergnügen, daß er große Augen machte, als er ihn las. »Sie haben«, sagte er, »alles was Sie brauchen, um Herrn du Vernay sogar zwingen zu können, Ihre Lotterie zu genehmigen, und Ihr Glück ist gemacht, falls Sie nicht etwa so reich sind, daß es für Sie nicht darauf ankommt.«

»Man ist niemals reich genug, um einen großen Vorteil von sich zu weisen, besonders wenn man sich schmeicheln kann, ihn nicht der Protektion zu verdanken.«

»Das ist vernünftig gedacht. Wir geben uns schon seit zwei Jahren eine unmenschliche Mühe, um unser Projekt durchzusetzen; aber man kommt uns immer nur mit dummen Einwänden, die Sie im Nu zu Staub zerrieben haben. Ihr Plan kann aber doch unmöglich von dem unsrigen abweichen. Folgen Sie meinem Rat und vereinigen Sie sich mit uns, denn allein werden Sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Seien Sie überzeugt, die intelligenten Maschinen, die Sie brauchen, werden Sie in Paris nicht finden. Mein Bruder wird die ganze Last der Arbeit auf sich nehmen, und Sie können alle Vorteile der Direktion genießen und dabei ein lustiges Leben führen.«

»Ich bin nicht habsüchtig, und die Teilung des Gewinns würde keine Schwierigkeiten machen. Aber sind denn Sie nicht der Urheber des Plans, den ich gesehen habe?«

»Er ist von meinem Bruder.«

»Werde ich die Ehre haben, ihn zu sehen?«

»Selbstverständlich. Er ist körperlich krank, aber sein Geist ist vollkommen frisch. Wir wollen sofort zu ihm gehen.«

Ich fand einen Mann von wenig appetitlichem Aussehen, denn er war von einer Art Aussatz bedeckt; aber dieser verhinderte ihn nicht, gut zu essen, zu schreiben und alle körperlichen und geistigen Geschäfte vollkommen zu verrichten; er sprach gut und war von sehr heiterer Laune. Er ließ sich vor keinem Menschen sehen, nicht nur deshalb, weil seine Krankheit ihn entstellte, sondern auch, weil er sehr häufig ein unwiderstehliches Bedürfnis hatte, sich bald hier, bald da zu kratzen. Und da es in Paris für etwas Entsetzliches gilt, sich zu kratzen, einerlei ob dies aus Bedürfnis oder aus Gewohnheit geschieht, so zog er den Annehmlichkeiten eines geselligen Verkehrs das Glück vor, nach Herzenslust seine Nägel zu gebrauchen. Er sagte gerne, er glaube an Gott und dessen Werke, und er sei überzeugt, Gott habe ihm die Nägel nur gegeben, um sich durch sie die einzige mögliche Erleichterung zu verschaffen, wenn ihn das Jucken beinahe rasend mache.

»Sie glauben also an einen Zweck der Schöpfung, und ich wünsche Ihnen Glück dazu; aber ich glaube, Sie würden sich auch dann kratzen, wenn Gott vergessen hätte, Ihnen Nägel zu geben.« Über meine Bemerkung lachte er und sprach dann von unserer Angelegenheit. Ich sah bald, daß er ein sehr kluger Mann war. Er war der ältere der beiden Brüder und unverheiratet. Er war ein großer Rechner, gewandt in allen Finanzoperationen, kannte den Handel aller Nationen, war Gelehrter, Historiter, Schöngeist, Dichter und großer Freund der Weiber. Er war gebürtig aus Livorno, war bei der Gesandtschaft in Neapel Attaché gewesen und mit Herrn de l’Hôpital nach Paris gekommen. Sein Bruder war ebenfalls talentvoll und kenntnisreich; aber er erkannte mit Recht die Überlegenheit des älteren an.

Er zeigte mir einen Haufen Schriften, worin er alle Probleme seiner Lotterie gelöst hatte, und sagte zu mir: »Wenn Sie glauben, alles machen zu können, ohne meiner zu bedürfen, so mache ich Ihnen mein Kompliment, aber ich denke, Sie werden sich da einer trügerischen Hoffnung hingeben. Denn wenn Sie keine praktische Erfahrung haben, und nicht über Leute verfügen, die bereits eingearbeitet sind, so wird Ihre Theorie nicht hinreichend sein. Was werden Sie machen, wenn Sie die Bewilligung durchgesetzt haben? Ich erlaube mir, Ihnen einen Rat zu geben: Wenn Sie vor dem Komitee sprechen, so setzen Sie einen bestimmten Termin fest, über welchen hinaus Sie alle Verantwortlichkeit ablehnen; mit andern Worten, drohen Sie sofort damit, sich von der Sache gänzlich zurückzuziehen; sonst bekommen Sie es sicherlich mit kleinlichen und widerhaarigen Geistern zu tun, und die Sache wird von einem Termin zum anderen, bis zu den griechischen Kalenden verschoben werden. Anderseits kann ich Ihnen versichern, daß es Herrn du Vernay sehr angenehm sein wird, wenn wir zusammenhalten. Was Ihre Theorie anbetrifft, daß die Gewinne bei allen Chancen verhältnismäßig gleich sein müssen, so hoffe ich Sie zu überzeugen, daß dies beim Quaterno nicht der Fall sein darf.«

Ich war sehr gerne bereit, mich mit den Herren zu einigen, schon aus dem sehr triftigen Grunde, weil ich sie gar nicht entbehren konnte; aber ich hütete mich wohl, sie dies merken zu lassen. Ich ging mit dem jüngeren Bruder nach dessen Privatwohnung hinunter, und er hatte die Freundlichkeit, mich vor dem Essen seiner Frau vorzustellen. Ich fand bei ihr eine in Paris sehr bekannte alte Dame, die Generalin La Mothe, berühmt durch ihre frühere Schönheit und ihre Gicht; und eine andere bejahrte Dame, die man in Paris Baronin Blanche nannte und die noch die Geliebte des Herrn de Vaux war; eine andere, die als Frau Präsidentin angeredet wurde, und eine vierte, schön wie der Tag, eine Piemontesin Frau Razzetti, die Gattin eines Geigers von der Oper; man sagte von ihr, daß der Intendant der Oper, Herr de Fondpertuis, ihr den Hof mache.

Wir setzten uns zu Tisch, aber ich spielte eine traurige Figur, weil der Lotterieplan alle meine Gedanken beherrschte. Am Abend bei Sylvia fand man mich zerstreut und unaufmerksam, und ich war es auch, trotz dem zärtlichen Gefühl, das mir die junge Baleti einflößte, und das mit jedem Tage neue Kraft gewann.

Am nächsten Morgen fuhr ich zwei Stunden vor Sonnenaufgang nach Versailles. Herr de Bernis empfing mich lachend mit den Worten, er möchte wetten, daß ich ohne ihn von meinen hohen Kenntnissen auf dem Gebiete der Finanzen niemals eine Ahnung gehabt haben würde. »Wie mir Herr de Boulogne sagte, haben Sie Herrn du Vernay in Erstaunen gesetzt, und dieser gilt im allgemeinen für einen der besten Köpfe in ganz Frankreich. Ich rate Ihnen, mein lieber Casanova, diese Bekanntschaft nicht zu vernachlässigen, sondern ihm in Paris fleißig den Hof zu machen. Übrigens kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß die Lotterie genehmigt weiden wird; dies wird auf Ihre Anregung geschehen, und Sie müssen darauf bedacht sein, für sich Vorteil daraus zu ziehen.

Sobald der König auf die Jagd gegangen ist, finden Sie sich in den kleinen Gemächern ein; ich werde Sie der berühmten Marquise vorstellen, sobald mir der Augenblick günstig erscheint. Hierauf dürfen Sie nicht versäumen, sich in das Ministerium des Auswärtigen zu begeben und sich in meinem Auftrage dem Herrn Abbé de la Ville vorzustellen. Er ist der erste Geheimrat, und Sie werden von ihm gut aufgenommen werden.«

Herr von Boulogne versprach mir, er werde das Dekret wegen Einrichtung der Lotterie erscheinen lassen, sobald Herr du Vernay ihm mitgeteilt hätte, daß das Komitee der Militärschule einverstanden wäre. Er forderte mich auf, ihm auch etwaige andere Vorschläge auf dem Gebiete der Finanzen mitzuteilen.

Um zwölf Uhr begab Frau von Pompadour sich mit dem Prinzen Soubise nach den kleinen Gemächern, und mein Beschützer beeilte sich, die große Dame auf mich aufmerksam zu machen. Sie machte mir eine tiefe Verbeugung, trat auf mich zu und sagte mir, die Geschichte meiner Flucht hätte sie sehr interessiert.

»Die Herren da oben,« sagte sie lächelnd zu mir, »sind sehr zu fürchten. Gehen Sie zuweilen zum venetianischen Gesandten?«

»Ich kann ihm meine Ehrerbietung nicht deutlicher bezeugen, Madame, als indem ich ihn nicht brauche.«

»Ich hoffe. Sie werden jetzt daran denken, sich dauernd bei uns niederzulassen.«

»Es wäre mein sehnlichster Wunsch, Madame; aber ich habe Protektion nötig, und ich weiß, daß man solche in diesem Lande nur dem Talent gewährt. Dies entmutigt mich.«

»Ich glaube im Gegenteil, Sie können alles hoffen; Sie haben gute Freunde. Ich werde mit Vergnügen die Gelegenheit ergreifen, Ihnen nützlich zu sein.«

Da mit diesen Worten die schöne Marquise sich zum Gehen wandte, hatte ich kaum noch Zeit, meinen Dank zu stammeln.

Ich begab mich dann zum Abbé de la Ville, der mich außerordentlich freundlich empfing und mir versicherte, er würde an mich denken, sobald sich die Gelegenheit böte.

Versailles war ein wundervoller Ort, aber ich konnte dort nur Komplimente und keine Einladung erwarten; daher ging ich denn von Herrn de la Ville sogleich in einen Gasthof, um dort zu essen. Als ich mich zu Tisch setzen wollte, redete ein sehr gut aussehender Abbé, wie man in Frankreich sie zu Dutzenden findet, mich an und fragte mich, ob es mir recht wäre, wenn wir zusammen speisten. Die Gesellschaft eines liebenswürdigen Menschen ist mir niemals unangenehm gewesen. Ich nahm daher seinen Vorschlag höflich an. Sobald wir einander gegenüber saßen, machte er mir ein Kompliment über die zuvorkommende Art, womit Herr de la Ville mich behandelt hätte. »Ich war zugegen und schrieb gerade einen Brief; so konnte ich alle verbindlichen Worte hören, die der Herr Abbé Ihnen sagte. Dürfte ich mir erlauben, Sie zu fragen, mein Herr, wer Ihnen Zutritt bei dem liebenswürdigen Herrn verschafft hat?«

»Wenn Herr Abbé großen Wert darauf legen, dies zu erfahren, so kann ich es Ihnen wohl sagen.«

»Einfache Neugier.«

»Und von meiner Seite einfache Diskretion, wenn ich schweige.«

»Ich bitte Sie, mich zu entschuldigen.«

»Recht gern.«

Ich hatte dem indiskreten Neugierigen den Mund gestopft; er sprach nur noch von gleichgültigen und unangenehmen Dingen. Da ich in Versailles nichts mehr zu tun hatte, traf ich gleich nach dem Essen meine Vorbereitungen zur Rückfahrt, als der Abbé mich um Erlaubnis bat, mit mir fahren zu dürfen. Obgleich die Gesellschaft von Abbés kaum besser als die von Dirnen ist, sagte ich ihm: ich beabsichtige nach Paris in einem öffentlichen Wagen zu fahren und hätte ihm daher durchaus keine Erlaubnis zu geben; ich würde im Gegenteil mit Vergnügen sehen, wenn er mein Reisegefährte wäre. In Paris angekommen, trennten wir uns, nachdem wir uns gegenseitig einen Besuch versprochen hatten, und ich ging zu Sylvia, bei der ich zu Abend speiste. Die ebenso gute wie interessante Dame wünschte mir Glück zu meinen Bekanntschaften und forderte mich dringend auf, mir diese warm zu halten. In meiner Wohnung fand ich einen Brief von Herrn du Vernay, der mich bat, am nächsten Tage um elf Uhr in die Militärrschule zu kommen. Schon um neun Uhr erschien Casalbigi, um mir guten Morgen zu sagen und mir im Auftrag seines Bruders ein großes Blatt zu überbringen, woraus die ganze Berechnung der Lotterie in einer Form stand, daß ich sie ohne weiteres dem Komitee vorlegen konnte. Es war eine Wahrscheinlichkeitsrechnung, die auf bekannte Zahlen angewendet war, so daß durch sie bewiesen wurde, was ich bisher nur behauptet hatte. Die Sache lief darauf hinaus, daß das Lotteriespiel in Verlust und Gewinn vollkommen im Gleichgewicht gewesen wäre, wenn man statt fünf Zahlen ihrer sechs gezogen hätte. Indem man nur fünf zog, hatte man die mathematische Gewißheit, zwanzig auf hunder zu gewinnen. Hieraus folgte natürlich, daß die Lotterie nicht hätte bestehen können, wenn man sechs Nummern gezogen hätte; denn vom Gewinn mußten vor allen Dingen die Regiekosten bestritten werden, die sich damals auf hunderttausend Taler belaufen mußten.

Das Glück schien es sich zur Aufgabe zu machen, mich auf den richtigen Weg zu bringen; denn diese Tabelle war für mich ein wahres Geschenk vom Himmel. Ich war also fest entschlossen, mir dieses willkommene Hilfsmittel zunutze zu machen. Nachdem ich noch von Casalbigi einige Auskünfte erhalten hatte, die ich mit einer Miene anhörte, wie wenn mir alles längst bekannt sei, begab ich mich nach der Militärschule, wo sofort nach meiner Ankunft die Konferenz eröffnet wurde. Herr d’Alembert war in seiner Eigenschaft als großer Arithmetiker gebeten worden, der Sitzung beizuwohnen. Dies wäre nicht für notwendig gehalten worden, wenn Herr du Vernay allein gewesen wäre; aber es waren im Komitee eigensinnige Köpfe, die das Ergebnis einer politischen Berechnung nicht anerkennen wollten, und daher den offenbaren Augenschein leugneten.

Die Konferenz dauerte drei Stunden. Nachdem ich in kaum einer halben Stunde mit meinem Vortrag fertig geworden war, faßte Herr von Courteuil alles von mir Gesagte zusammen; hierauf machte man mir eine halbe Stunde lang alle möglichen Einwendungen, die ich mit der größten Leichtigkeit widerlegte. Ich sagte: die Kunst des Rechnens sei im allgemeinen nichts anderes als die Kunst, aus mehreren bekannten Größen eine andere bis dahin unbekannte Größe zu bestimmen. Dieselbe Erklärung treffe auch für eine moralische Berechnung genau so zu wie für eine mathematische. Ich wies nach, daß ohne diese Gewißheit niemals Versicherungsgesellschaften auf der Welt hätten sein können; diese seien alle reich und blühend und lachten über das Glück und über die Schwachköpfe, die dessen Einwirkung fürchteten.

Zum Schluß sagte ich den Herren, deren Mehrzahl noch zu schwanken schien: kein Gelehrter und ehrenwerter Mann könne die Leitung einer solchen Lotterie übernehmen, wenn er dafür garantieren sollte, daß sie bei jeder Ziehung gewinnen würde. Sollte jemand so kühn sein, mit solcher Versicherung vor sie hinzutreten, so müßten sie ihn hinauswerfen. Denn entweder würde er sein Wort nicht halten, oder, wenn er es hielte, so wäre er ein Schelm.

Dies wirkte. Niemand erwiderte etwas, und Herr du Vernay stand auf und sagte, man könne ja auf alle Fälle die Lotterie jederzeit wieder eingehen lassen. Als ich diese Worte hörte, fühlte ich, daß die Sache gewonnen war. Alle Anwesenden unterzeichneten das Protokoll, das Herr du Vernay ihnen vorlegte, und entfernten sich. Ich selber machte einen Augenblick später Herrn du Vernay meine Verbeugung; er schüttelte mir freundschaftlich die Hand, und ich ging.

Am nächsten Tage kam Casalbigi zu mir und brachte mir die angenehme Nachricht, die Sache sei beschlossen und man warte nur noch auf die Ausfertigung des Dekrets.

»Ich bin entzückt über den Erfolg,« sagte ich zu ihm, »und verspreche Ihnen alle Tage zu Herrn von Boulogne zu gehen, um die Übertragung der Regie an Sie zu betreiben, sobald ich von Herrn du Vernay erfahren habe, was man mir bewilligen wird.«

Wie man sich denken kann, ließ ich mich keine Mühe verdrießen; denn ich wußte wohl, daß bei großen Herren Versprechen und Halten zweierlei ist. Man bot mir sechs Lotteriebureaus an, die ich natürlich gerne annahm, dazu ein Jahrgeld von viertausend Franken, die auf den Ertrag der Lotterie angewiesen wurden. Diese Summe entsprach den Zinsen eines Kapitals von hunderttausend Franken, das ich mir auszahlen lassen konnte, sobald ich auf meine Bureaus verzichtete; denn dieses Kapital diente als Bürgschaft für mich.

Acht Tage darauf erschien die Verordnung. Die Regie erhielt Casalbigi mit einem Gehalt von dreitausend Franken für jede Ziehung, einem Jahrgeld von viertausend Franken wie ich, und dem Hauptbureau der Unternehmung im Gebäude der Lotterie selbst in der Rue Montmartre.

Casalbigis Bezüge waren viel höher als die meinigen, aber ich war nicht neidisch darauf, denn ich wußte recht wohl, daß er ein Anrecht darauf hatte.

Von meinen sechs Bureaus verkaufte ich sofort fünf für je zweitausend Franken. Das sechste eröffnete ich mit großem Luxus in der Rue St. Denis und übergab es meinem Kammerdiener als Geschäftsführer. Er war ein sehr intelligenter junger Italiener, der beim Gesandten in Neapel, dem Fürsten de la Catolica, Kammerdiener gewesen war.

Der Tag der ersten Ziehung wurde festgesetzt, und man zeigte an, daß die Gewinne acht Tage nach der Ziehung im Hauptbureau der Lotterie ausbezahlt würden.

Um die Kundschaft anzulocken und mein Bureau vor den anderen auszuzeichnen, ließ ich Plakate anschlagen, daß die Gewinne der von mir unterzeichneten Lose schon vierundzwanzig Stunden nach der Ziehung in meinem Bureau erhoben werden könnten. Dadurch vermehrte ich den Zuspruch der Spieler und zugleich in sehr beträchtlicher Weise meine Einkünfte; denn ich hatte sechs Prozent von der Einnahme. Etwa fünfzig Vorsteher der anderen Bureaus waren dumm genug, sich bei Casalbigi zu beschweren, daß ich durch mein Verfahren ihre Einnahmen schmälere; aber der Regisseur wies sie ab, indem er ihnen sagte, sie brauchten es ja nur ebenso zu machen wie ich, wenn sie die Mittel dazu hätten.

Meine erste Einnahme betrug vierzigtausend Franken. Eine Stunde nach der Ziehung brachte mein Geschäftsführer mir die Liste und zeigte mir, daß wir siebzehn bis achtzehntausend Franken zu bezahlen hatten. Alle Gewinne waren Auszüge oder Amben, und ich übergab ihm das erforderliche Geld, um sie auszuzahlen.

Durch meine Maßregel machte, ohne daß ich daran gedacht hatte, mein Geschäftsführer sein Glück; denn jeder Gewinner gab ihm ein Trinkgeld, und ich verlangte von ihm natürlich nicht, daß er dieses mit mir teilte.

Die Gesamteinnahme betrug zwei Millionen, und die Regie gewann sechshunderttausend Franken. Paris allein hatte vierhunderttausend Franken zur Einnahme beigetragen. Für das erstemal ein recht schöner Erfolg.

Am Tage nach der Ziehung speisten Casalbigi und ich bei Herrn du Vernay, und ich hatte das Vergnügen, ihn sich darüber beklagen zu hören, daß wir zuviel gewonnen hätten. Paris hatte nur achtzehn oder zwanzig Ternen, aber diese brachten der Lotterie einen glänzenden Ruf ein, obgleich sie nur klein waren. Schon begann die Spielwut zu wirken, und es war leicht vorauszusehen, daß bei der nächsten Ziehung die Einnahme doppelt so groß sein würde. Der scherzhafte Krieg, den man bei Tisch gegen mich führte, versetzte mich in gute Laune; Casalbigi sagte, ich hätte durch einen kühnen Gedanken mir ein Jahreseinkommen von hunderttausend Franken verschafft; aber die anderen Lotterieeinnehmer würden den Schaden davon haben.

»Solche Schläge habe ich oft gemacht,« sagte Herr du Vernay, »und habe mich für gewöhnlich gut dabei gefunden; übrigens steht es jedem Einnehmer frei, es ebenso zu machen wie Herr Casanova, und dadurch kann der Ruf an einer Einrichtung, die wir ihm ebensowohl wie Ihnen verdanken, nur gewinnen.«

Bei der zweiten Ziehung nötigte ein Terno von vierzigtausend Franken mich, Geld zu leihen; meine Einnahme hatte sechstausend betragen; da ich aber am Tage vor der Ziehung meine Kasse abliefern mußte, konnte ich nur aus meinen eigenen Mitteln zahlen, und ich erhielt das Geld erst acht Tage darauf zurück.

In allen großen Häusern, die ich besuchte, und in den Theatern gaben alle möglichen Leute mir Geld und baten mich, nach meinem Gutdünken für sie zu spielen und ihnen Lose zu geben; denn kein Mensch verstand noch etwas von dem Spiel. Infolgedessen nahm ich die Gewohnheit an, Lose von allen Arten oder vielmehr zu allen Preisen bei mir zu tragen und davon jedem nach seiner Wahl abzugeben. Jeden Abend kam ich mit goldgefüllten Taschen nach Hause.

Dies war ein ungeheurer Vorteil, eine Art Vorrecht, das ich allein genoß; denn die anderen Lotterieeinnehmer waren keine Angehörigen der guten Gesellschaft und fuhren nicht im eigenen Wagen wie ich. In großen Städten beurteilt man im allgemeinen den Wert eines Menschen nach dem Glanz, der ihn umgibt. Mein Luxus verschaffte mir überall Eintritt, und ich hatte überall offenen Kredit.

Die Lotterie ist für den Privatmann eine beschwerliche Last; denn die Lockmittel, die sie bietet, entbehren fast jeden tatsächlichen Inhaltes; aber sie ist sehr gewinnbringend für die Regierungen, die in aller Bequemlichkeit die Habsucht oder Begehrlichkeit des Publikums ausbeuten. Ich habe jetzt meinen Lesern von meinem Erfolg auf diesem Gebiete genug gesagt und werde von der Lotterie erst wieder sprechen, wenn ich etwas zu berichten habe, was für meinen Lebenslauf von Wichtigkeit ist. Ich muß jetzt einmal für einen Augenblick umkehren.

Ich hielt mich kaum seit einem Monat in Paris auf, als mein Bruder Francesco, mit dem ich im Jahre 1752 von dort abgereist war, bei mir anlangte. Er kam mit Frau Silvestre aus Dresden, wo er vier Jahre lang nur seiner Kunst gelebt und alle schönen Schlachtenbilder der berühmten kurfürstlichen Galerie kopiert hatte. Wir sahen uns beide mit gleicher Freude wieder. Als ich ihm aber anbot, durch den Einfluß meiner vornehmen Bekannten seine Aufnahme in die Akademie zu erleichtern, sagte er mir mit dem Stolz eines Künstlers, der sich seines Wertes bewußt ist: er danke mir, aber er wolle seinen Erfolg nur seinem Talent verdanken. »Die Franzosen haben mich einmal zurückgewiesen, und ich bin weit entfernt, ihnen dies übel zu nehmen, denn heute würde ich mich selber ablehnen, wenn ich nicht mehr könnte als damals; aber ich weiß, wie sehr sie das Talent lieben, und ich rechne daher heute auf eine bessere Aufnahme.«

Seine Zuversicht gefiel mir, und ich wünschte ihm Glück dazu; denn ich bin stets der Meinung gewesen, daß das wahre Verdienst zuerst sich selber Gerechtigkeit widerfahren lassen muß.

Francesco malte wirklich ein schönes Bild, das er im Louvre ausstellte; er wurde daraufhin einstimmig in die Akademie aufgenommen. Sie erwarb das Gemälde für zwölftausend Franken. Mein Bruder wurde berühmt und verdiente in sechsundzwanzig Jahren beinahe eine Million; trotzdem richteten unvernünftige Ausgaben, ein übertriebener Luxus und zwei unglückliche Heiraten ihn zugrunde.

Zwanzigstes Kapitel


Albrecht von Haller. – Mein Aufenthalt in Lausanne. – Lord Roxburgh. – Die junge Saconai. – Bemerkungen über die Schönheit. – Die junge Theologin.

Herr von Haller war sechs Fuß hoch, breit im Verhältnis und von schönem Angesicht. Er war körperlich wie geistig eine Art Riese. Er empfing mich höflich; als er aber den Brief des Herrn von Muralt gelesen hatte, zeigte er mir die größte Liebenswürdigkeit – was mir bewies, daß eine gute Empfehlung niemals von Übel ist. Der große Gelehrte öffnete mir alle Schatzkammern seiner Wissenschaft; er beantwortete alle meine Fragen mit Bestimmtheit, namentlich aber mit einer seltenen Bescheidenheit, die mir beinahe übertrieben erschien; denn während er mir die schwierigsten Fragen erklärte, gab er sich den Anschein eines Schülers, der sich zu belehren sucht; wenn er dagegen wissenschaftliche Fragen an mich richtete, geschah dies mit einer sozusagen zarten Kunst, die mich zwang, die genaueste Antwort zu finden.

Herr von Haller war ein großer Physiologe, ein großer Arzt und ein großer Anatom. Er nannte Morgagni seinen Lehrer, obgleich er ebenso zahlreiche Entdeckungen im Mikrokosmos gemacht hatte wie dieser. Während meines Aufenthaltes bei ihm zeigte er mir eine Menge Briefe von Morgagni und dem Botaniker Professor Pontedera; in der Wissenschaft der Botanik nahm Haller den größten Rang ein. Als ich von diesen großen Männern sprach, die ich gekannt hatte, als ich in Padua an den Brüsten der Wissenschaft sog, beklagte er sich über Pontevera, dessen Briefe fast unleserlich und in einem sehr dunklen Latein geschrieben wären. Er zeigte mir einen Brief von einem Berliner Akademiker, dessen Namen ich vergessen habe; dieser schrieb ihm: seitdem der König seinen Brief gelesen habe, denke er nicht mehr daran, die lateinische Sprache zu unterdrücken. Haller hatte an Friedrich den Großen geschrieben: ein Herrscher, dem der unglückselige Plan gelänge, die Sprache Ciceros und Virgils aus der Republik der Wissenschaft zu verbannen, würde seiner eigenen Unwissenheit ein unvergängliches Denkmal errichten. Und in der Tat, wenn die Gelehrten einer gemeinsamen Sprache bedürfen, um einander ihre Entdeckungen mitzuteilen, so ist von den toten Sprachen die lateinische sicherlich dazu am besten geeignet, denn die griechische und arabische passen sich nicht annähernd so gut wie sie dem Geiste der neueren Völker an.

Haller war ein guter Dichter im pindarischen Stil; seine Verse atmeten Kraft und Geist; er war auch ein ausgezeichneter Staatsmann und leistete seinem Vaterlands große Dienste. Seine Sitten waren untadelig, und ich erinnere mich, daß er mir sagte: es gebe nur ein einziges gutes Mittel, Vorschriften zu erlassen, nämlich das gute Beispiel. Da er ein guter Bürger war, so mußte er ein ausgezeichneter Hausvater sein; denn wie hätte er wohl dem Vaterland seine Liebe sicherer beweisen können, als dadurch, daß er ihm in seinen Kindern tüchtige und tapfere Untertanen gab! Dies aber läßt sich nur durch eine gute Erziehung erreichen. Seine Frau, die er in zweiter Ehe geheiratet hatte, war noch jung und trug auf ihrem schönen Antlitz den Ausdruck des Wohlwollens und der Sittsamkeit. Er hatte eine reizende Tochter von etwa achtzehn Jahren; sie war von bescheidenem Wesen und öffnete bei Tisch ihren Mund nur ein paarmal, um leise mit einem neben ihr sitzenden jungen Mann zu sprechen. Als ich nach Tisch mit Haller allein war, fragte ich ihn, wer dieser junge Mann sei. Er antwortete mir, es sei der Lehrer seiner Tochter.

»Ein solcher Lehrer und eine so hübsche Schülerin könnten leicht ein Liebespaar werden.«

»Das wolle Gott.«

Diese sokratische Antwort machte mir fühlbar, wie wenig angebracht meine Bemerkung gewesen war, und ich wurde darüber etwas verlegen. Um mich zu sammeln, öffnete ich ein Buch, das ich in meiner Nähe liegen sah. Es war ein Oktavband von seinen Werken, und ich las darin die Überschrift: Utrum memoria post, mortem dudito – Ich bezweifle, daß es nach dem Tode ein Gedächtnis gebe.

»Sie glauben also nicht,« fragte ich ihn, »daß das Gedächtnis ein wesentlicher Teil der Seele sei.«

Was war darauf zu antworten? Herr Haller wich aus; denn er hatte seine Gründe, keine Zweifel an seiner Rechtgläubigkeit aufkommen zu lassen.

Bei Tisch fragte ich ihn, ob Herr von Voltaire oft zu ihm zu Besuch komme. Als Antwort sagte er mir nur den bekannten Vers des Dichters der Vernunft her: Vetabo qui Cereris sacrum vulgaret arcanum sub iisdem sit trabibus – Der Mann, der das heilige Geheimnis der Ceres verraten hat, darf nicht unter einem Dache mit mir weilen.

Ich blieb drei Tage bei dem berühmten Mann, aber ich konnte keine Frage über religiöse Dinge an ihn richten, so große Lust ich auch dazu hatte; denn es wäre mir angenehm gewesen, zu erfahren, wie er über einen so zarten Punkt urteilte; doch glaube ich genug zu wissen, um annehmen zu dürfen, daß Herr Haller auf diesem Gebiete nur seinem Herzen folge. Als ich ihm sagte, ich sähe mit fröhlicher Erwartung dem Besuch entgegen, den ich bei Voltaire zu machen gedächte, antwortete er mir, ich hätte recht, und fügte ohne die geringste Bitterkeit hinzu: »Herr von Voltaire ist ein Mann, der verdient, daß man seine Bekanntschaft sucht, obgleich manche Leute, den Gesetzen der Physik zum Trotz, ihn von ferne größer gefunden haben als in der Nähe.«

Herrn von Hallers Tisch war gut und reichlich, obgleich er selber sehr nüchtern war, denn er trank nur Wasser. Nur beim Nachtisch erlaubte er sich ein kleines Gläschen Likör, das er in ein großes Glas Wasser schüttete. Er erzählte mir viel von Boerhave, dessen Lieblingsschüler er gewesen war, und sagte mir, nächst Hippokrates sei Boerhave der größte Arzt und überhaupt der größte Chemiker gewesen, den die Welt jemals gesehen habe.

»Wie kommt es,« fragte ich ihn, »daß er nicht zur Reife des Alters hat gelangen können?«

»Weil es gegen den Tod kein Mittel gibt. Boerhave war ein geborener Arzt, wie Homer ein geborener Dichter war; sonst würde der große Mann schon vor seinem vierzehnten Jahre an einem giftigen Geschwür gestorben sein, das der Kunst der damaligen Ärzte widerstanden hat. Er heilte sich selber, indem er sich oft mit seinem eigenen Urin einrieb, worin er eine gewisse Menge Salz aufgelöst hatte.«

»Man hat mir gesagt, er habe den Stein der Weisen besessen.«

»Man hat es gesagt, aber ich glaube es nicht.«

»Halten Sie es für möglich?«

»Ich arbeite seit dreißig Jahren daran, die Überzeugung vom Gegenteil zu gewinnen; dies ist mir noch nicht gelungen, aber ich bin überzeugt, daß niemand ein guter Chemiker sein kann, wenn er nicht die Möglichkeit anerkennt, daß das große Werk im Bereiche der Natur liegt.«

Als ich Abschied von ihm nahm, bat er mich, ihm mein Urteil über den großen Voltaire zu schreiben, und dies war der Beginn unseres Briefwechsels in französischer Sprache. Ich besitze zweiundzwanzig Briefe von diesem mit Recht berühmten Mann, und der letzte war sechs Monate vor seinem allzu frühen Tode geschrieben. Je älter ich werde, desto mehr tut es mir um meine Papiere leid. Sie sind der wahre Schatz, der mich an das Leben fesselt und mir den Tod verhaßter macht.

Ich hatte in Bern Rousseaus Héloise gelesen und wünschte zu wissen, was Herr Haller von diesem Werke denke. Er sagte mir, das Wenige, was er von diesem Roman gelesen habe, um einem Freunde einen Gefallen zu tun, habe ihn instand gesetzt, das ganze Werk zu beurteilen: »Es ist der schlechteste aller Romane, weil er der beredtste ist. Sie werden jetzt das Waadtland sehen; erwarten Sie aber nicht, dort die Originale der glänzenden Porträts zu erblicken, die Jean-Jacques zeichnet. Er hat geglaubt, in einem Roman sei es erlaubt zu lügen, und er hat mit diesem Vorrecht Mißbrauch getrieben. Petrarca war ein Gelehrter und hat nicht gelogen, indem er von seiner Liebe zur ehrsamen Laura sprach, die er liebte, wie ein jeder Mann die Frau liebt, in die er verliebt ist; und wenn Laura ihren erlauchten Liebhaber nicht glücklich gemacht hätte, so würde er sie nicht gefeiert haben.«

So sprach Haller von Petrarca, indem er einer Erklärung über Rousseau auswich; er liebte nicht einmal dessen Beredsamkeit, weil diese nach seiner Ansicht nur durch Antithesen und Paradoxe glänzte. Haller war ein Gelehrter ersten Ranges, aber er ließ dieses niemals sehen, besonders nicht in seinem Familienkreise oder in Gesellschaft von Leuten, die keiner wissenschaftlichen Gespräche bedürfen, um sich zu unterhalten. Niemand verstand es besser als er, sich dem geistigen Verständnis eines jeden anzupassen; er war liebenswürdig gegen jeden und mißfiel keinem. Aber wodurch gefiel er denn allen? Das weiß ich nicht. Es wäre leichter zu sagen, welche Eigenschaften er nicht hatte, als welche er hatte. Er hatte keinen Hochmut, keine Selbstgefälligkeit und nicht den Ton der Überlegenheit, mit einem Wort, keinen jener Fehler, die man gemeiniglich mit Recht den sogenannten gelehrten und geistreichen Männern vorwirft.

Seine Tugenden waren von strenger Art, aber er wußte die Strenge zu verbergen, und sie verschwand unter dem Schleier wirklichen Wohlwollens, das er für alle hatte. Ohne Zweifel hielt er wenig von jenen Unwissenden, die fortwährend über alles Mögliche sprechen wollen, anstatt in der durch ihren Geisteszustand gebotenen Dürftigkeit zu verharren, und die im Grunde nur andere Leute, die wirklich etwas verstehen, lächerlich zu machen wissen; aber er drückte seine Verachtung nur durch Schweigen aus. Er wußte, daß der verachtete Ignorant ein Feind ist, und Haller wollte geliebt sein, übrigens hielt er seinen Geist nicht geheim, wenn er sich auch nicht damit brüstete; er ließ ihn frei sich ergießen, etwa wie ein Bächlein, das in der Ebene durch den Rasen dahinzieht, der es zuweilen den Blicken verbirgt, aber seinen Lauf nicht aufhält. Niemals brachte er das Gespräch auf seine Werke, und wenn man mit ihm über diese sprach, so schlug er ein anderes Thema ein, sobald er es in unauffallender Weise tun konnte. Ungern widersprach er der Überzeugung von Leuten, die sich mit ihm unterhielten.

Da ich in Lausanne zum mindesten für einen Tag inkognito bleiben durfte, so ließ ich natürlich vor allem anderen mein Herz sprechen. Ich ging stracks zu meiner Freundin, nach deren Wohnung ich mich nicht zu erkundigen brauchte, so gut hatte sie mir die Straßen beschrieben, die zu ihrem Hause führten. Ich fand sie bei ihrer Mutter, und zu meiner nicht geringen Verwunderung war auch Lebel bei ihnen. Indessen konnte man meine Verwunderung nicht bemerken; denn meine Haushälterin sprang mit einem Freudenschrei von ihrem Stuhl auf, fiel mir um den Hals, küßte mich zärtlich und stellte mich dann ihrer guten Mutter vor, die mich auf das freundschaftlichste empfing. Ich fragte Lebel, wie es dem Botschafter gehe und seit wann er selber in Lausanne sei.

Der brave Mann antwortete mir in freundschaftlichem und sehr höflichem Tone, sein Herr befinde sich sehr gut; er selber sei erst seit ein paar Stunden in Lausanne, wo er Geschäfte habe; er habe der Mutter der Frau Dubois seine Aufwartung machen wollen und zu seiner angenehmen Überraschung die Tochter bei ihr gefunden. »Sie kennen meine Absichten,« fuhr er fort; »ich muß morgen wieder abreisen, und wenn Sie Ihren Entschluß gefaßt haben und mir diesen schreiben, werde ich sie mir nach Solothurn holen und dort heiraten.«

Die Erklärung war so deutlich und ehrenwert, wie man sie nur wünschen konnte. Ich sagte ihm, ich würde mich niemals dem Willen meiner Freundin entgegenstellen; meine Dubois aber unterbrach mich und rief, sie würde mich niemals verlassen, wenn ich ihr nicht ihren Abschied gäbe.

Lebel fand meine Antworten zu unbestimmt und sagte mir mit dem edelsten Freimut, wir müßten ihm notwendigerweise eine endgültige Antwort geben; denn in solchen Dingen wäre Ungewißheit das Schlimmste von allem. Ich war in jenem Augenblicke fest entschlossen, seine Vorschläge durchaus abzulehnen, aber ich sagte ihm, ich würde ihm in etwa zehn Tagen unsere günstige oder ungünstige Entscheidung mitteilen.

Hiermit war er zufrieden.

Als er fort war, machte die Mutter meiner Freundin, die zwar keinen Geist, dafür aber viel gesunden Menschenverstand hatte, uns vernünftige Vorstellungen in einem Ton, der unserem Herzenszustand angemessen war; denn, verliebt wie wir waren, schien es uns unmöglich zu sein, an Trennung überhaupt nur zu denken. Vorläufig machte ich mit meiner Freundin ab, daß sie mich jeden Tag bis Mitternacht erwarten sollte, und daß wir mit ruhigem Blut beschließen wollten, was dem Bewerber zu antworten wäre.

Meine Dubois hatte ein Zimmer für sich, mit gutem Bett und sehr hübschen Möbeln. Sie gab mir ein ausgezeichnetes Abendessen, und wir verbrachten eine köstliche Nacht. Am Morgen waren wir verliebter denn je und befanden uns durchaus nicht in der Stimmung, Lebels Wunsch zu entsprechen. Ein Zwischenfall führte jedoch zu einer ernsten Unterhaltung.

Der Leser wird sich erinnern, daß meine Freundin mir versprochen hatte, mir jede Untreue zu erlauben unter der Bedingung, daß ich sie ihr eingestände. Ich hatte keine zu beichten, aber ich erzählte ihr bei unserem Geplauder die Geschichte von Raton.

»Wir müssen uns recht glücklich schätzen, lieber Freund,« sagte sie; »denn wenn nicht eine Reihe von Zufällen eingetreten wäre, so befänden wir uns jetzt in einem schönen Zustand.«

»Ja, und ich wäre in Verzweiflung darüber.«

»Daran zweifle ich nicht, und du würdest um so unglücklicher darüber sein, da ich mich nicht beklagen würde.«

»Ich sehe nur ein Mittel, um uns gegen solches Unglück zu schützen. Wenn ich eine Untreue gegen dich begangen habe, werde ich mich selber dafür bestrafen, indem ich mich des Vergnügens, dir meine Zärtlichkeit zu bekunden, so lange beraube, bis ich sicher bin, es ohne Gefahr tun zu können.«

»Und so, lieber Freund, wirst du mich für deine Schuld bestrafen! Wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe – glaube mir, du würdest ein besseres Mittel kennen.«

»Nun? und dieses wäre?«

»Du würdest keine Untreue mehr gegen mich begehen.«

»Du hast vollkommen recht. Ich schäme mich, nicht zuerst an dieses Mittel gedacht zu haben, und ich verspreche dir, es in Zukunft anzuwenden.«

»Versprich nichts!« sagte sie mit einem Seufzer, »es würde dir zu schwer fallen, Wort zu halten.«

Nur die Liebe kann solche Gespräche eingeben, aber leider gewinnt sie nichts dabei.

Als ich am nächsten Morgen gerade ausgehen wollte, um meine Briefe abzugeben, sah ich den Baron de Verci, den Oheim meines Freundes Bavois, bei mir eintreten.

»Ich weiß,« sagte er, »daß mein Neffe Ihnen sein Glück verdankt.

Er steht vor der Ernennung zum General, und die ganze Familie wird gleich mir hoch erfreut sein über die Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin gekommen, mein Herr, um Ihnen meine Dienste anzubieten und Sie zu bitten, mir die Ehre zu erweisen und gleich heute bei mir zu speisen; später kommen Sie, bitte, so oft Sie wollen, wenn Sie sonst nichts Besseres zu tun haben, und betrachten Sie sich ganz als ein Mitglied unserer Familie. Zugleich bitte ich Sie: Fügen Sie zu den großen Diensten, die wir Ihnen verdanken, noch die Güte hinzu, niemanden zu sagen, daß mein Neffe katholisch geworden ist; denn nach den Vorurteilen unseres Landes ist dies ein entehrendes Vergehen, das auf die ganze Familie zurückfallen würde.«

Ich versprach ihm, niemals darüber zu sprechen, und nahm seine Einladung an.

Hierauf gab ich meine Empfehlungsbriefe ab und hatte das Vergnügen, überall mit der größten Auszeichnung empfangen zu werden. Frau von Gentil-Langalerie schien mir die liebenswürdigste von allen Damen zu sein, aber ich hatte keine Zeit, einer von ihnen besonders den Hof zu machen. Alle Tage Diners, Soupers, Bälle, Gesellschaftsabende, die ich aus Höflichkeit mitmachen mußte; dies fiel mir über alle Maßen lästig, und ich war in der Lage, sagen zu müssen, wie langweilig es doch ist, so gut aufgenommen zu werden! Ich verbrachte vierzehn Tage in dieser kleinen Stadt, wo man sich etwas darauf zugute tut, einer vollen Freiheit zu genießen, und ich habe niemals in meinem Leben einen solchen Frondienst durchgemacht, denn ich hatte keinen Augenblick für mich. Ich konnte nur eine einzige Nacht bei meiner Freundin zubringen, und es drängte mich, mit ihr nach Genf abreisen zu können. Jeder wollte mir Briefe an Herrn von Voltaire mitgeben, und aus dieser Beeiferung hätte man schließen können, daß der große Mann von allen geliebt werde, während er in Wirklichkeit wegen seines satirischen Witzes von allen verabscheut wurde.

»Wie, meine Damen?« sagte ich zu ihnen, »Herr von Voltaire ist nicht liebenswürdig, freundlich, galant und zuvorkommend gegen Sie, die Sie die Gefälligkeit haben, seine Stücke mit ihm aufzuführen?«

»Nein, nicht im geringsten. Wenn er uns unsere Rollen einüben ließ, schimpfte er unaufhörlich. Niemals sagten wir etwas so, wie er es wünschte. Hier war ein Wort schlecht ausgesprochen, dort gab eine Betonung nicht den Geist der Leidenschaft wieder; bald sprachen wir zu leise, bald zu laut. Und wenn wir erst spielten, dann war es noch schlimmer! Welchen Lärm machte er, wenn eine Silbe hinzugefügt oder ausgelassen und dadurch einer seiner Verse verdorben wurde! Er machte uns angst. Da hatte eine ungeschickt gelacht, da hatte eine andere in der Alziere nur so getan, als ob sie weine.«

»Verlangte er, daß Sie allen Ernstes weinen sollten?«

»Ganz gewiß. Er verlangte wirkliche Tränen. Er behauptete, ein Schauspieler, der zu Tränen rühren solle, müsse selber Tränen vergießen.«

»Ich glaube, mit diesem Verlangen hatte er nicht unrecht; aber er hätte gegen Dilettanten und besonders gegen so liebenswürdige Gelegenheitsschauspielerinnen wie Sie nicht so streng sein sollen. Man kann solche Vollkommenheit nur von Leuten verlangen, die berufsmäßig der Bühne angehören; aber dies ist eine Schwäche, woran alle Theaterdichter leiden. Sie finden stets, der Schauspieler habe ihren Worten nicht die notwendige Kraft verliehen, um den Sinn wiederzugeben, den sie hineingelegt haben.«

»Eines Tages sagte ich ihm, es sei nicht meine Schuld, wenn seine Worte nicht die Kraft hätten, die sie haben sollten.«

»Ich bin überzeugt, er hat darüber nur gelacht.«

»Gelacht? Nein, verhöhnt hat er mich, denn er ist grob und sogar unverschämt.«

»Aber Sie haben ihm gewiß alle diese Fehler hingehen lassen.«

»Durchaus nicht; wir haben ihn fortgejagt.«

»Fortgejagt?«

»Ja, das ist der richtige Ausdruck. Er verließ plötzlich die von ihm gemieteten Häuser und zog sich an den Ort zurück, wo Sie ihn finden werden. Er besucht uns nicht mehr, selbst wenn wir ihn einladen.«

»Sie laden ihn also ein, obgleich Sie ihn fortgejagt haben?«

»Wir können uns nicht des Vergnügens berauben, sein Talent zu bewundern, und wenn wir ihn geärgert haben, so geschah es nur, um uns zu rächen und ihm Lebensart beizubringen.«

»Sie haben einem großen Meister eine Lehre gegeben.«

»Allerdings; aber wenn Sie ihn sehen, so sprechen Sie nur von Lausanne, und Sie werden hören, was er über uns sagt! Aber er wird es lachend sagen, das ist so seine Art.«

Während meines Aufenthaltes war ich oft mit einem Lord Roxburgh zusammen, der sich vergebens um meine, reizende Dubois beworben hatte. Ich habe niemals einen schweigsameren jungen Mann gekannt. Man hat mir gesagt, er habe Geist und sei sehr gut unterrichtet, ja sogar fröhlichen Sinnes; aber er konnte seine Schüchternheit nicht überwinden, und diese gab ihm das Ansehen unbeschreiblicher Dummheit. Auf dem Ball, in Gesellschaft, kurz überall, bestand seine Höflichkeit in einer Menge von Verbeugungen. Wenn man ihn anredete, erwiderte er in gutem Französisch, aber mit so wenig Worten wie möglich, und seine verlegene Haltung zeigte deutlich, daß alle Fragen ihm lästig waren. Als ich eines Tages bei ihm speiste, stellte ich an ihn eine Frage in betreff seines Vaterlandes, worauf eine Antwort von fünf oder sechs kleinen Sätzen nötig war. Er antwortete mir sehr gut, errötete aber dabei wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal in der Gesellschaft erscheint. Der berühmte Fox, der damals etwa zwanzig Jahre alt war und an diesem Essen teilnahm, brachte ihn zum Lachen, aber mit einer englischen Bemerkung, von der ich kein Wort verstand. Acht Monate später fand ich den Herzog in Turin wieder; da war er in die Frau eines Bankiers verliebt, und diese verstand es, ihm die Zunge zu lösen.

Ich sah in Lausanne ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, dessen Schönheit einen tiefen Eindruck auf mich machte. Sie war die Tochter einer Frau von Saconai, die ich in Bern kennen gelernt hatte. Ich weiß nicht, welches Schicksal sie gehabt hat; aber der Eindruck, den sie auf mich machte, hat sich nie verwischt. In der ganzen Natur hat nichts je auf mich solchen Einfluß ausgeübt wie ein schönes Frauen- oder auch nur Kindergesicht. Das Schöne, hat man mir gesagt, ist mit dieser Macht begabt; ich will es wohl glauben, denn was mich anzieht, muß notwendigerweise in meinen Augen schön sein; aber ist es auch in Wirklichkeit schön? Ich zweifle daran; denn das, was mich anzieht, hat nicht immer die allgemeine Beistimmung. Die allgemeine Schönheit, oder besser gesagt: die vollkommene Schönheit, gibt es nicht, oder sie ist jedenfalls nicht mit dieser Kraft ausgestattet. Alle, die sich mit dem Begriff Schönheit beschäftigt haben, drücken sich zweideutig aus; dies aber hätten sie nicht getan, wenn sie sich an das Wort Form gehalten hätten, das unsere Lehrer, die Griechen und Römer, statt der Bezeichnung Schönheit anwandten. Schönheit ist nach meiner Meinung und kann nichts anderes sein als Form in der eigentlichen Bedeutung; denn was nicht schön ist, hat eigentlich keine Form, und das Mißgeformte oder Ungeformte ist das Gegenteil von pulchrum oder formosum. Wir haben recht, wenn wir die Definition aller Dinge suchen; aber wenn wir sie schon in den Wörtern haben, wozu brauchen wir sie noch anderswo zu suchen? Wenn das Wort Form, forma, lateinisch ist, so brauchen wir nur die lateinische Bedeutung zu betrachten, nicht die französische, obwohl man auch im Französischen oft déforme oder difforme für häßlich sagt; man bemerkt dabei nicht, daß das Gegenteil ein Wort sein muß, das das Vorhandensein der Form ausdrückt, die nichts anderes sein kann als Schönheit. Informe bedeutet im Französischen gestaltlos; es bezeichnet einen Körper, der nach nichts aussieht.

Sagen wir also, daß das, was auf mich stets eine unwiderstehliche Herrschaft ausgeübt hat, die beseelte Schönheit einer Frau ist, und zwar jene Schönheit, die ihren Sitz im Gesicht hat. Hierin liegt der wahre Zauber, und darum machen die Sphinxe, die wir in Rom und Paris sehen, uns beinahe verliebt, obgleich sie in der vollen Bedeutung des Wortes mißgeformt sind. Indem wir die schönen Verhältnisse ihres Gesichtes betrachten, vergessen wir die Mißbildung ihres Körpers. Was ist also die Schönheit? Wir wissen es nicht, und wenn wir uns einfallen lassen, sie Gesetzen unterwerfen oder ihre Verhältnisse bestimmen zu wollen, so machen wir es wie Sokrates: wir machen Winkelzüge. Das einzige, was unser Geist erfassen kann, ist die Wirkung des Zaubers; dieser hat nur in der Oberfläche seinen Sitz, und was mich bezaubert, mich entzückt, mich verliebt macht – das eben nenne ich Schönheit. Sie wird mit dem Auge wahrgenommen, und was dieses wahrnimmt, das spreche ich aus. Wenn mein Auge sprechen könnte, würde es besser sprechen als ich, aber wahrscheinlich in demselben Sinne.

Kein Maler hat Raffael in der Schönheit der Gesichter übertroffen, die sein göttlicher Pinsel hervorgebracht hat; aber wenn man den großen Maler gefragt hätte, was Schönheit sei, so würde er ohne Zweifel geantwortet haben, er wisse es nicht; er habe sie inne, er glaube sie so wiedergegeben zu haben, wie er sie gesehen, aber er wisse nicht, worin sie bestehe. »Dieses Gesicht gefällt mir,« wird er gesagt haben; »also ist es schön.« Er wird Gott dafür gedankt haben, daß er ihn mit einem ausgezeichneten Schönheitssinn ließ geboren werden, aber omne pulchrum difficile – alles Schöne ist schwer.

Alle mit Recht geschätzten Maler, alle jene, deren Werke den Stempel des Genies tragen, haben sich im Schönen ausgezeichnet; aber ihre Zahl ist so klein im Vergleich mit jenem Haufen von Malern, die sich bemüht haben, Schönes zu schaffen, und sich kaum bis zur Mittelmäßigkeit haben emporschwingen können!

Wenn man die Maler der Verpflichtung entheben wollte, ihren Werken den Charakter der Schönheit zu verleihen, so könnte jedermann Maler werden; denn nichts ist leichter, als etwas Häßliches zu machen; man kann ja den Pinsel über die Leinwand hingleiten lassen, wie die Maurerkelle über den Mörtel.

Obgleich die Bildnismalerei der materiellste Teil der Kunst ist, so ist es doch bemerkenswert, wie gering die Zahl der Maler ist, die sich auf diesem Gebiet ausgezeichnet haben. Es gibt drei Arten von Porträts: solche, die ähnlich sind, aber häßlicher machen; solche, die vollkommen ähnlich sind, ohne der Natur etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen, und solche, die zur vollkommenen Ähnlichkeit noch ein kaum merkbares Kennzeichen von Schönheit hinzufügen. Die ersten verdienen nur Verachtung, und ihre Verfertiger sollten gesteinigt werden, denn sie sind nicht nur talent- und geschmacklos, sondern auch unverschämt, da sie niemals ihr Unrecht eingestehen. Den zweiten kann man, ohne ungerecht zu sein, ein wahres Verdienst nicht absprechen; die Palme aber gebührt den letztgenannten, die leider außerordentlich selten sind. Ihre Schöpfer verdienen mit Recht das glänzende Vermögen, das ihnen zuteil wird. Solcher Art war der berühmte Notier, den ich im Jahre 1750 in Paris kennen lernte. Der große Künstler war damals achtzig Jahre alt, aber trotz seinem hohen Alter schien sein schönes Talent noch die erste Jugendfrische bewahrt zu haben. Er malte das Bildnis einer häßlichen Frau, er malte sie sprechend ähnlich, und trotzdem fanden Leute, die nur dieses Porträt sahen, sie schön. Dabei konnte die gewissenhafteste Prüfung keine Ungenauigkeit an dem Bildnis nachweisen; aber irgend etwas nicht zu Bezeichnendes gab dem Ganzen eine wirkliche, unerklärliche Schönheit. Woher hatte er diese Zauberkunst? Ich fragte ihn hiernach eines Tages, als er die häßlichen Mesdames de France gemalt hatte, die auf der Leinwand wie zwei Aspasien aussahen. Er antwortete mir: »Es ist etwas Zauberhaftes, das der Gott des Geschmacks aus meinem Geist in meine Pinsel hinüberleitet. Es ist die Göttlichkeit der Schönheit, die jedermann anbetet und die niemand erklären kann, weil kein Mensch weiß, worin sie besteht. Dies zeigt, wie unmerklich der Übergang zwischen Häßlichkeit und Schönheit ist, und doch erscheint denen, die nichts von unserer Kunst verstehen, dieser Unterschied so groß.«

Die griechischen Maler gefielen sich darin, Venus, die Göttin der Schönheit, schielend zu malen, und dieser seltsame Einfall hat sogar Lobredner gefunden; aber mögen die Kunstschreiber sagen, was sie wollen – die Künstler hatten unrecht. Zwei schielende Augen können schön sein, aber sie sind gewiß weniger schön, als wenn sie nicht schielten; denn die Schönheit, die ihnen vielleicht eigen ist, kann nicht die Wirkung eines Fehlers sein.

Nach dieser langen Abschweifung, für die der Leser mir vielleicht nicht dankbar ist, wird es Zeit, zu meiner Freundin zurückzukehren.

Am zehnten Tage meines Aufenthalts in Lausanne soupierte und schlief ich bei ihr, und diese Nacht war die glücklichste, deren ich mich erinnern kann. Als ich am Morgen mit ihr und ihrer Mutter Kaffee trank, sagte ich ihr, wir würden bald abreisen. Da nahm die Mutter, die sonst nicht viel sprach, das Wort und sagte mir freundlich und würdevoll, ich müsse aus Zartgefühl vor meiner Abreise Herrn Lebel jede Täuschung benehmen. Zugleich gab sie mir einen Brief, den sie tags zuvor von ihm erhalten hatte. Der wackere Mann bat sie, mich darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn ich mich nicht entschließen könnte, mich vor meiner Abreise von Lausanne von ihrer Tochter zu trennen, mir dies in weiter Entfernung noch viel schwerer fallen würde, besonders wenn sie, wie es ja wahrscheinlich wäre, mir ein lebendes Unterpfand ihrer Liebe geben würde. Er dächte keineswegs daran, sein Wort zurückzunehmen, aber er würde sich glücklich schätzen, sagen zu können, er habe seine Frau aus den Händen ihrer Mutter empfangen.

Als ich diesen Brief laut vorgelesen hatte, stand die Mutter weinend auf und ließ uns allein. Wir schwiegen beide einen Augenblick, dann stieß meine liebe Dubois einen Seufzer aus, der mir sagte, welche Gewalt sie sich antun mußte, und fand den Mut, mir zu sagen, wir müßten sofort an Lebel schreiben, entweder daß er nicht mehr an sie denken dürfe oder daß er sie sofort abholen solle.

»Wenn ich ihm schreibe, er dürfe nicht mehr an dich denken, so muß ich dich heiraten.«

»Nein.«

Mit diesem Nein stand sie auf und ließ mich allein. Ich dachte eine Viertelstunde lang nach und erwog das Für und Wider; immer sträubte sich die Liebe gegen dieses Opfer. Endlich aber bedachte ich, daß meine Haushälterin niemals wieder eine solche glückliche Gelegenheit finden würde, und daß ich nicht sicher wäre, sie beständig glücklich machen zu können. Und so entschloß ich mich in einer edlen Aufwallung, an Lebel zu schreiben, daß die Witwe Dubois, die ihre eigene Herrin sei, sich entschlossen habe, seine Frau zu werden, daß ich kein Recht habe, mich ihrer Entschließung zu widersetzen, und daß ich mich darauf beschränken müsse, ihm zu einem Glück zu gratulieren, um das ich ihn beneide. Ich bat ihn sofort von Solothurn abzureisen, um sie in meiner Gegenwart aus den Händen ihrer achtbaren Mutter zu empfangen.

Nachdem ich meinen Brief unterzeichnet hatte, brachte ich ihn meiner Freundin, die in dem Zimmer ihrer Mutter war. »Hier, meine Liebe, lies diesen Brief, und wenn du mit ihm einverstanden bist, so setze deine Unterschrift neben die meinige.«

Sie las ihn mehrere Male, während ihre gute Mutter in Tränen zerfloß. Hierauf sah sie mich zärtlich und schmerzbewegt an, ergriff die Feder und unterschrieb. Ich bat die Mutter, sofort einen sicheren Boten zu besorgen, um den Brief an seine Adresse zu bestellen, bevor mein Entschluß durch Reue erschüttert würde.

Der Bote kam; sobald er fort war, umarmte ich meine Freundin mit Tränen in den Augen und sagte zu ihr: »Leb wohl! wir werden uns wiedersehen, sobald Lebel da ist.«

Von Kummer verzehrt, ging ich in meinen Gasthof. Das Opfer hatte meiner Liebe zu dem entzückenden Geschöpf einen neuen Antrieb gegeben, und ich fühlte eine Art Krampf, der so stark war, daß ich krank zu werden befürchtete. Ich schloß mich in meinem Zimmer ein und befahl meinem Diener, allen Besuchern zu sagen, ich sei krank und könne niemand empfangen.

Am Abend des vierten Tages ließ Lebel sich melden. Ich empfing ihn; er umarmte mich und sagte mir, er werde mir sein Glück verdanken; hierauf verließ er mich mit den Worten, er werde mich bei seiner Zukünftigen erwarten.

»Erlassen Sie mir dies für heute, mein Lieber,« antwortete ich ihm; »aber morgen werde ich mit Ihnen beiden zu Mittag essen.«

Sobald er fortgegangen war, befahl ich Leduc, alle Vorbereitungen zu treffen, um am nächsten Tage gleich nach dem Essen abreisen zu können.

Am anderen Morgen ging ich in aller Frühe aus, um bei allen Bekannten Abschiedsbesuche zu machen, und gegen Mittag holte mich Lebel zu der grausamen Mahlzeit ab, die jedoch, wenn auch nicht gerade heiter, immerhin weniger traurig war, als ich gefürchtet hatte.

Im Augenblick des Abschieds bat ich die zukünftige Frau Lebel, mir den Ring zurückzugeben, den ich ihr gegeben hatte, und überreichte ihr unserer Abrede gemäß dafür eine Rolle von hundert Louis, die sie mit sehr traurigem Gesicht annahm.

»Ich würde den Ring niemals verkauft haben,« sagte sie zu mir, »denn ich habe kein Geld nötig.«

»In diesem Falle gebe ich ihn Ihnen wieder; aber versprechen Sie mir, sich nie von ihm zu trennen, und behalten Sie die hundert Louis als eine schwache Belohnung für die Dienste, die Sie mir geleistet haben.«

Sie drückte mir zärtlich die Hand, steckte mir den Trauring ihres ersten Gatten an den Finger und ging hinaus, um mir den Anblick ihres Schmerzes zu entziehen. Nachdem ich meine Tränen getrocknet hatte, sagte ich zu Lebel: »Sie bekommen einen Schatz, den ich Ihnen nicht warm genug empfehlen kann. Sie sind ein Ehrenmann; Sie werden ihre ausgezeichneten Eigenschaften zu schätzen und sie glücklich zu machen wissen. Sie wird nur Sie allein lieben, wird Ihrem Haushalt sorgsam vorstehen und kein Geheimnis vor Ihnen haben. Sie ist voll von Geist und reizender Heiterkeit; sie wird Ihnen leicht den leisesten Schatten schlechter Laune verscheuchen.«

Nachdem ich mit ihm in das Zimmer ihrer Mutter gegangen war, bat Frau Dubois mich, meine Abreise zu verschieben, damit sie das Glück haben könnte, noch einmal mit mir zu Abend zu speisen. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß mein Wagen bereits angespannt vor meiner Tür hielte und daß daher dieser Aufschub Anlaß zu böser Nachrede geben würde; aber wenn sie es wünschte, würde ich sie mit ihrem Bräutigam und ihrer Mutter in einem Gasthof zwei Meilen von Lausanne, an der Genfer Landstraße, erwarten, wo wir bleiben könnten, so lange wir Lust hätten. Da Lebel mit diesem Ausflug einverstanden war, so wurde mein Vorschlag angenommen.

Ich ging nach meinem Gasthof, fand meinen Wagen bereit, stieg ein und fuhr nach dem verabredeten Ort. Ich bestellte ein gutes Abendessen für vier, und eine Stunde darauf kamen meine Gäste an. Das freie, fröhliche, ja sogar glückliche Wesen der Braut fiel mir auf; aufs höchste aber erstaunte mich die Ungezwungenheit, womit sie sich in meine Arme warf, sobald sie mich erblickte. Dies brachte mich ganzlich außer Fassung; aber sie hatte mehr Geist als ich. Ich besaß freilich Kraft genug, mich zu beherrschen und mich ihrer Stimmung anzugewöhnen; doch schien mir, sie hätte unmöglich so plötzlich von Liebe zu einfacher Freundschaft übergehen können, wenn sie mich wirklich geliebt hätte. Indessen folgte ich ihrem Beispiel und ließ mir die Äußerungen gefallen, die man der Freundschaft gestattet und die nach der Behauptung der Leute ihre Grenzlinien nicht überschreiten.

Während des Essens glaubte ich zu bemerken, daß Lebel mehr über den Besitz einer solchen Frau glücklich war, als über das Recht, ihrer Schönheit zu genießen und dabei eine heftige Leidenschaft zu befriedigen. Dies beruhigte mich. Auf einen Mann, der so dachte, konnte ich nicht eifersüchtig sein. Ich bemerkte auch, daß die fröhliche Stimmung meiner Freundin mehr erkünstelt als echt war; sie versuchte sie mir mitzuteilen, um uns unsere Trennung weniger bitter zu machen und um ihren künftigen Gatten über die Natur unserer Gefühle zu beruhigen, übrigens mußte ich, als Vernunft und Zeit mein Herz wieder beruhigt hatten, es sehr natürlich finden, daß die Sicherheit, in Zukunft unabhängig und im Besitz eines schönen Vermögens zu sein, ihr angenehm war.

Wir hatten ein ausgezeichnetes Abendessen, das wir reichlich mit Wein befeuchteten, so daß gegen das Ende die erheuchelte Fröhlichkeit einigermaßen echt wurde. Ich blickte mit Wohlgefallen auf die entzückende Dubois, ich betrachtete sie als einen Schatz, der mir angehört hatte und nun, nachdem er mich glücklich gemacht hatte, mit meinem vollen Einverständnis einen anderen glücklich machen sollte. Mir schien, daß ich sie großmütig nach ihrem Verdienst belohne, wie ein hochherziger Muselmann einem Lieblingssklaven als Lohn für seine Treue die Freiheit schenkt. Ihre Witze brachten mich zum Lachen und riefen die glücklichen Äugenblicke zurück, die ich an ihrer Seite verbracht hatte; aber der Gedanke an ihr sicheres Glück ließ es mich nicht bedauern, daß ich meine Rechte einem anderen abgetreten hatte.

Da Lebel durchaus nach Lausanne zurückfahren mußte, um am zweitnächsten Tage in Solothurn zu sein, so mußten wir uns trennen. Ich umarmte ihn und bat ihn um seine fortdauernde Freundschaft, die er mir mit aufrichtig gerührtem Herzen bis zum Tode versprach. Als wir die Treppe hinuntergingen, sagte meine reizende Freundin mit ihrer bezaubernden Aufrichtigkeit zu mir: »Ich bin nicht heiter, lieber Freund, aber ich bemühe mich, so auszusehen. Ich werde erst wieder glücklich sein, wenn die Wunde meines Herzens vernarbt ist. Lebel kann nur auf meine Achtung Anspruch machen, aber ich werde ganz und gar ihm allein angehören, obgleich meine Liebe ganz und gar nur dein ist. Wenn wir uns wiedersehen, wie du mich hoffen lassest, werden wir imstande sein, uns als wirkliche Freunde zu sehen, und dann werden wir uns vielleicht zu unserem vernünftigen Entschluß Glück wünschen. Du wirst meiner nie vergessen, aber ich bin überzeugt, daß binnen kurzem eine andere mehr oder weniger würdige Frau meine Stelle einnehmen und deinen Kummer verscheuchen wird. Ich wünsche es. Sei glücklich! Vielleicht bin ich schwanger, und wenn dies der Fall ist, so wirst du mit der Pflege, die ich deinem Kinde widmen werde, zufrieden sein, und du kannst es herausbekommen, sobald du es verlangst. Wir haben gestern eine Vereinbarung hierüber getroffen. Wir haben beschlossen, die Ehe erst in zwei Monaten zu vollziehen; auf diese Art werden wir sicher sein, ob das Kind dir gehört, und die Welt wird glauben, daß es die rechtmäßige Frucht unseres Ehebundes sei. Dieser weise Plan stammt von Lebel; wir werden auf diese Weise über die angebliche Macht des Blutes beruhigt sein, an die er nach seiner Versicherung ebensowenig glaubt wie ich. Übrigens hat er mir versprochen, dein Kind zu lieben, wie wenn er selber der Vater wäre. Wenn du mir schreiben willst, werde ich dich über alles auf dem Laufenden erhalten, und wenn ich das Glück habe, dir ein Kind zu schenken, so wird es mir weit teurer sein als dein Ring. Aber wir weinen, und Lebel sieht uns an und lacht.«

Ich konnte ihr nur dadurch antworten, daß ich sie in meine Arme schloß, und ich hielt sie noch umschlungen, als ich sie ihrem künftigen Gatten übergab, der mir beim Einsteigen in den Wagen sagte, unser langes Zwiegespräch habe ihm die größte Freude gemacht.

Ziemlich traurig ging ich zu Bett. Als ich am anderen Morgen aufgestanden war, bat ein Pastor der Genfer Kirche mich, ihm einen Platz im Wagen einzuräumen. Ich erklärte mich einverstanden und hatte es nicht zu bereuen.

Der Priester war ein Mann von großer Beredsamkeit und wußte als Theologe von Fach die schwierigsten religiösen Fragen zu beantworten, die ich ihm vorlegte. Für ihn gab es kein Mysterium, alles war Vernunft. Ich habe niemals einen Priester gefunden mit einem bequemeren Christentum als diesen braven Mann, dessen Sitten, wie ich später in Genf erfuhr, vollkommen rein waren. Aber ich hatte Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß seine Auffassung des Christentums nicht ihm allein eigentümlich war, denn alle seine Glaubensgenossen hatten die gleiche Lehre.

Als ich ihn überzeugen wollte, daß er nur dem Namen nach Calvinist wäre, da er nicht glaubte, daß Jesus Christus dem Gott Vater wesensgleich wäre, antwortete er mir: Calvin hat sich nur dann für unfehlbar erklärt, wenn er ex cathedra gesprochen. Ich brachte ihn aber zum Verstummen, indem ich die Worte des Evangeliums anführte. Er errötete, als ich ihm vorwarf, Calvin habe geglaubt, daß der Papst der Antichrist der Offenbarung sei. »Es ist unmöglich,« antwortete er mir, »in Genf dieses Vorurteil zu zerstören, solange die Regierung nicht eine Inschrift entfernen läßt, die ein jeder über einer Kirchentür liest und worin das Oberhaupt der römischen Kirche so bezeichnet wird. Das Volk ist überall unwissend; aber ich habe eine zwanzigjährige Nichte, die in dieser Hinsicht nicht zum Volk gehört. Ich werde die Ehre haben, Sie mit ihr bekannt zu machen; sie ist Theologin und hübsch.«

»Ich werde sie mit Vergnügen sehen, mein Herr, aber Gott soll mich davor bewahren, mit ihr zu disputieren.«

»Sie wird Sie zum Disputieren zwingen, aber ich glaube Ihnen zum voraus versichern zu können, daß es Ihnen nicht leid tun wird.«

»Wir werden sehen; haben Sie die Güte, mir Ihre Adresse zu geben.«

»Nein, mein Herr, aber ich werde die Ehre haben, Sie in Ihrem Gasthof abzuholen, und werde Ihnen als Führer dienen.«

Ich stieg in der »Wage« ab und erhielt dort eine sehr schöne Wohnung. Es war der 20. August 1760. Ich trat an das Fenster, und meine Blicke fielen auf eine Scheibe, auf welcher ich mit einem Diamanten eingeritzt die Worte las: »Du wirst Henrietten vergessen.« Sofort fiel mir der Augenblick ein, wo Henriette vor dreizehn Jahren diese Worte geschrieben hatte, und ich fühlte die Haare sich mir auf dem Kopfe sträuben. Wir hatten in diesem Zimmer gewohnt, als sie sich von mir trennte, um nach Frankreich zurückzukehren. Wie zerschmettert warf ich mich auf einen Lehnstuhl und überließ mich tausend Gedanken. Die edle und zärtliche Henriette, die ich so sehr geliebt hatte! Wo war sie jetzt? Ich hatte niemals etwas von ihr gehört und hatte mich niemals nach ihr erkundigt. Wenn ich mich mit mir selber verglich, so mußte ich mir gestehen, daß ich jetzt ihres Besitzes weniger würdig war als damals. Wohl vermochte ich noch zu lieben, aber ich fand in mir nicht mehr das Zartgefühl, das ich damals besaß, nicht die Gefühle, die die Verirrungen der Sinne entschuldbar machen, nicht mehr die Sanftmut des Charakters und endlich nicht mehr eine gewisse Redlichkeit, die sogar die Schwächen adelt. Am meisten aber erschreckte es mich, daß ich mich nicht mehr so kräftig fand wie früher. Doch schien es mir, als ob die bloße Erinnerung an Henriette mir die alte Kraft zurückgäbe. Da ich meine Dubois nicht mehr hatte, empfand ich eine große Leere, und es ergriff mich eine solche Begeisterung, daß ich augenblicklich mich aufgemacht hätte, um Henriette zu finden, wenn ich nur gewußt hätte, wo ich sie suchen sollte; und doch hatte ich ihr Verbot nicht vergessen.

Am nächsten Morgen ging ich in aller Frühe zum Bankier Tronchin, der all mein Geld hatte. Nachdem er mit mir abgerechnet hatte, gab er mir einen Kreditbrief auf Marseille, Genua, Florenz und Rom; an barem Gelds nahm ich nur zwölftausend Franken. Ich hatte kaum noch fünfzigtausend römische Taler, etwa dreihunderttausend Franken; aber damit konnte ich weit kommen. Sobald ich meine Briefe abgegeben hatte, ging ich nach der »Wage« zurück; ich war ungeduldig, Herrn von Voltaire zu sehen. Ich fand meinen Reisegefährten in meinem Zimmer. Er lud mich zum Mittagessen ein und sagte mir, ich würde mit Herrn Villars-Chaudieu zusammenspeisen, der mich nach Tisch zu Herrn von Voltaire führen würde, wo man mich schon seit einigen Tagen erwarte. Ich ging mit dem wackeren Pastor und fand bei ihm eine auserlesene Gesellschaft, darunter auch die junge Theologin, die ihr Oheim erst beim Nachtisch zum Sprechen brachte. Ich werde die Äußerungen dieses jungen Mädchens so getreu wie möglich berichten.

»Womit, liebe Nichte, hast du dich heute vormittag beschäftigt?«

»Ich habe den heiligen Augustin gelesen und habe ihn abgeschmackt gefunden; ich glaube ihn mit wenigen Worten widerlegt zu haben.«

»Worum handelt es sich?«

»Um die Mutter des Heilands.«

»Was sagt der heilige Augustin von ihr?«

»Etwas, das Sie vielleicht nicht bemerkt haben. Er sagt, die Jungfrau Maria habe Jesus Christus durch die Ohren empfangen.«

»Und du hast dies nicht geglaubt?«

»Ganz gewiß nicht, und zwar aus drei guten Gründen. Erstens ist Gott nicht materiell und braucht daher kein Loch, um an irgendeinen Ort zu gelangen oder ihn zu verlassen; zweitens haben die Gehörorgane keine Verbindung mit dem Platz eines Kindes im Schöße seiner Mutter; drittens endlich hätte Maria, wenn sie durch das Ohr empfangen hätte, auf demselben Wege auch gebären müssen. Dies wäre sehr gut für die Katholiken,« sagte sie mit einem Blick auf mich, »denn dann könnten sie sie mit Recht als Jungfrau vor, während und nach ihrer Schwangerschaft betrachten.«

Ich war aufs höchste überrascht, aber mein Erstaunen wurde von allen Gästen geteilt. Der göttliche Geist der Theologie weiß sich über jede fleischliche Sinnlichkeit zu erheben, und nach den eben gehörten Worten mußten wir entweder der jungen Theologin dieses Vorrecht zubilligen oder sie für eine schamlose Dirne halten. Die gelehrte Nichte hatte keine Furcht, dieses Vorrecht zu mißbrauchen, denn sie fragte mich, was ich davon hielte.

»Wenn ich Theologe wäre und mir erlaubte, die Wunder durch Vernunft erklären zu wollen, so würde ich vielleicht Ihrer Meinung sein, mein Fräulein. Da aber dieses durchaus nicht der Fall ist, so beschränke ich mich darauf, Sie zu bewundern und den heiligen Augustin zu verurteilen, weil er das Mysterium der Verkündigung hat erklären wollen. Soviel finde ich sicher; daß der heilige Augustin einen greifbaren Unsinn gesagt haben würde, wenn die junge Frau taub gewesen wäre; denn dann wäre die Fleischwerdung unmöglich gewesen, da die drei Nervenpaare, die das Gehör vermitteln, alsdann keine Verbindung mit der Gebärmutter hätten haben können; es wäre demnach unbegreiflich, wie die Sache hätte vor sich gehen können. Aber die Fleischwerdung, mein Fräulein, ist ein Wunder.«

Sie antwortete mir sehr artig, ich hätte mich in meiner Antwort als einen viel größeren Theologen denn sie erwiesen, und ihr Oheim dankte mir dafür, daß ich seiner Nichte eine Lehre gegeben hätte. Man ließ sie über verschiedene Gegenstände sprechen, aber was sie sagte, war nicht eben glänzend. Ihre Stärke war das Neue Testament. Ich werde gelegentlich meiner Rückkehr nach Genf von dem jungen Mädchen mehr zu erzählen haben.

Nach dem Essen gingen wir zu Voltaire, der gerade vom Tisch aufstand, als wir eintraten. Er war sozusagen von einem Hofe von Kavalieren und Damen umgeben, und dadurch erhielt meine Vorstellung etwas Feierliches; aber diese Feierlichkeit konnte mir bei dem großen Manne keineswegs günstig sein.

Einundzwanzigstes Kapitel


Herr von Voltaire; meine Unterhaltungen mit dem großen Mann. – Ein Auftritt gelegentlich einiger Verse des Ariosto. – Der Herzog von Villars. – Der Syndikus und die drei Schönen. – Wortgefecht bei Voltaire. – Aix in Savoyen. – Der Marquis Desarmoises.

»Dies, Herr von Voltaire, sagte ich zu ihm, ist der schönste Augenblick meines Lebens. Seit zwanzig Jahren bin ich Ihr Schüler, und mein Herz ist voller Freude über das Glück, meinen Lehrer zu sehen.«

»Mein Herr, erweisen Sie mir diese Ehre noch zwanzig Jahre lang und versprechen Sie mir nach Ablauf dieser Zeit mein Honorar zu bringen.«

»Sehr gern – vorausgesetzt, daß Sie so lange warten wollen.«

Voltaires Witz brachte alle Zuhörer zum Lachen; dies war ganz in der Ordnung, denn die Lacher sind dazu da, um die eine Partei auf Kosten der anderen in Atem zu halten, und die Partei, die die Lacher auf ihrer Seite hat, ist stets sicher zu gewinnen: so will es nun einmal die gute Gesellschaft.

Übrigens hatte ich mich nicht überrumpeln lassen; ich war auf etwas Derartiges gefaßt und hoffte es ihm heimzahlen zu können.

Unterdessen stellte man ihm zwei neu angekommene Engländer vor. »Die Herren sind Engländer,« sagte Voltaire; »ich möchte es auch wohl sein.« Ich fand das Kompliment falsch und unangebracht, denn er zwang dadurch die Engländer, aus Höflichkeit ihm zu antworten, sie möchten wohl Franzosen sein; wenn sie aber nicht Lust hatten, zu lügen, so mußte es sie in Verlegenheit bringen, die Wahrheit zu sagen. Ich glaube, es ist einem Ehrenmann erlaubt, seiner eigenen Nation den höchsten Rang anzuweisen, wenn es sich um eine Wahl handelt.

Einen Augenblick darauf richtete Voltaire abermals das Wort an mich und sagte, als Venetianer müsse ich den Grafen Algarotti kennen.

»Ich kenne ihn; freilich nicht als Venetianer, denn sieben Achtel meiner Landsleute wissen nicht, daß er auf der Welt ist.«

Ich hätte sagen sollen: »als wissenschaftlich gebildeten Mann.«

»Ich kenne ihn, weil ich vor sieben Jahren in Padua zwei Monate bei ihm verbracht habe; und was meine besondere Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, war seine Bewunderung für Herrn von Voltaire.«

»Das ist schmeichelhaft für mich, aber er braucht nicht der Bewunderer eines anderen Menschen zu sein, um die Achtung aller zu verdienen.«

»Wenn er nicht als Bewunderer begonnen hätte, würde Algarotti sich niemals einen Namen gemacht haben. Als Bewunderer Newtons wußte er die Damen instand zu setzen, vom Licht zu sprechen.«

»Ist es ihm gelungen?«

»Nicht so gut wie Herrn de Fontenelle in seiner Mehrheit der Welten; trotzdem kann man sagen, es sei ihm gelungen.«

»Sie haben recht! Wenn Sie ihn in Bologna sehen, bitte ich Sie, ihm zu sagen, daß ich seine Briefe über Rußland erwarte. Er kann sie nach Mailand an meinen Bankier Bianchi schicken; dieser wird sie mir zukommen lassen.«

»Wenn ich ihn sehe, werde ich es ihm gewiß sagen.«

»Man hat mir gesagt, die Italiener seien nicht mit seiner Sprache zufrieden.«

»Ich glaube es; alle seine Schriften wimmeln von Gallicismen. Sein Stil ist kläglich.«

»Aber machen denn nicht französische Wendungen Ihre Sprache noch schöner?«

»Sie machen sie unerträglich, gerade wie ein mit Italienisch oder Deutsch gespicktes Französisch unerträglich sein würde, selbst wenn ein Herr von Voltaire es geschrieben hätte.«

»Sie haben recht; jede Sprache muß rein geschrieben werden. Man hat Titus Livius beanstandet und gesagt, sein Latein habe einen patavinischen Beigeschmack.«

»Als ich begann, mir diese Sprache anzueignen, hat der Abbé Lazzarini mir gesagt, er ziehe Titus Livius dem Sallust vor.«

»Abbé Lazzarini – Verfasser der Tragödie Ulisse il giovine. Sie müssen damals sehr jung gewesen sein. – Ich möchte ihn wohl gekannt haben. Aber ich habe den Abbé Conti sehr gut gekannt, der Newtons Freund gewesen war und dessen vier Tragödien die ganze römische Geschichte umfassen.«

»Ich habe ihn ebenfalls gekannt und bewundert. Ich war jung, aber ich wünschte mir Glück, als ich mich zum Umgang mit diesen großen Männern zugelassen sah. Mir ist, als wäre es gestern gewesen, obgleich seither viele Jahre vergangen sind; auch jetzt, in Ihrer Gegenwart, demütigt meine geringe Bedeutung mich nicht; ich möchte der Jüngste des ganzen Menschengeschlechtes sein.«

»Sie wären als solcher ohne Zweifel glücklicher, als wenn Sie der Älteste wären. Darf ich es wagen, Sie zu fragen, welchem Gebiet der Literatur Sie sich gewidmet haben?«

»Keinem; aber vielleicht kommt dies noch. Einstweilen lese ich, soviel ich kann, und studiere zu meinem Vergnügen den Menschen, indem ich reise.«

»Dies ist das beste Mittel, ihn kennen zu lernen; aber das Buch ist zu groß. Es gelingt einem leichter, indem man die Weltgeschichte liest.«

»Ja, wenn sie nicht löge! Man ist der Tatsache nicht sicher, und darum langweilt sie; dagegen ergötzt es mich, die Welt zu studieren, indem ich sie durchwandere. Horaz, den ich auswendig weiß, ist mein Reisebegleiter, und ich finde, daß er überall Bescheid weiß.«

»Algarotti hat ebenfalls den ganzen Horaz in seinem Kopf. Gewiß lieben Sie die Poesie.«

»Sie ist meine Leidenschaft.«

»Haben Sie viele Sonette gemacht?«

»Zehn oder zwölf, die ich liebe, und zwei- bis dreitausend, die ich vielleicht niemals wieder gelesen habe.«

»Italien ist auf Sonette versessen.«

»Allerdings, wenn man es ›versessen‹ nennen kann, daß man die Neigung hat, einem Gedanken ein harmonisches Maß zu geben, das ihn zur Geltung bringt. Das Sonett ist schwierig, weil man den Gedanken weder in die Länge ziehen noch abkürzen darf, um die einzelnen Verse auszufüllen.«

»Es ist ein Prokrustesbett, und darum habt ihr so wenig gute Sonette. Wir Franzosen haben nicht ein einziges gutes, aber daran ist unsere Sprache schuld.«

»Und der französische Geist; man bildet sich ein, ein künstlich verlängerter Gedanke müsse alle Kraft und allen Glanz verlieren.«

»Und Sie sind nicht dieser Meinung?«

»Ich bitte um Verzeihung, es handelt sich nur um die Prüfung des Gedankens. Ein Witz zum Beispiel genügt nicht für ein Sonett; ein solcher gehört im Italienischen wie im Französischen in das Gebiet des Epigramms.«

»Welchen italienischen Dichter lieben Sie am meisten?«

»Ariosto; aber ich kann nicht sagen, daß ich ihn mehr liebe als die anderen, denn er ist der einzige, den ich liebe.«

»Sie kennen aber doch die anderen?«

»Ich glaube sie alle gelesen zu haben; aber alle erbleichen vor Ariosto. Als ich vor fünfzehn Jahren Ihr abfälliges Urteil über ihn las, sagte ich, Sie würden es zurücknehmen, wenn Sie ihn gelesen hätten.«

»Ich danke Ihnen, daß Sie geglaubt haben, ich hätte ihn nicht gelesen. Ich hatte ihn gelesen, aber ich war jung, besaß nur eine oberflächliche Kenntnis Ihrer Sprache, und war von italienischen Gelehrten voreingenommen, die den Tasso verehrten. So hatte ich das Unglück, ein Urteil zu veröffentlichen, das ich für das meinige hielt, während es nur das Echo der unüberlegten Voreingenommenheit jener anderen war, die mich beeinflußt hatten. Ich bete euren Ariosto an.«

»Ach, Herr von Voltaire, ich atme wieder auf! Aber lassen Sie doch, bitte, das Werk exkommunizieren, worin Sie den großen Mann lächerlich gemacht haben.«

»Wozu? meine Bücher sind alle exkommuniziert, aber ich werde Ihnen einen schönen Beweis meiner Urteilsänderung geben.«

Ich war starr vor Erstaunen; der große Mann begann die beiden langen Abschnitte des vierunddreißigsten und fünfunddreißigsten Gesanges auswendig herzusagen, in denen der göttliche Dichter Astolphs Gespräch mit dem Apostel St. Johannes besingt, und er tat es, ohne einen einzigen Vers auszulassen und ohne den geringsten Verstoß gegen die Prosodie zu begehen. Hierauf hob er mit seinem ganzen natürlichen Scharfsinn und mit der genialen Auffassung eines großen Mannes die Schönheiten hervor. Von den gelehrtesten Erklärern Italiens hätte man keine bessere Auslegung erwarten dürfen. Ich hörte ihm mit der größten Aufmerksamkeit zu und wagte kaum zu atmen; ich wünschte, ihn ein einziges Mal auf einer falschen Fährte zu ertappen – aber vergeblich. Ich wandte mich zur Gesellschaft und rief, ich sei außer mir vor Überraschung und würde ganz Italien von meiner gerechten Bewunderung in Kenntnis setzen.

»Und ich, mein Herr,« versetzte der große Mann, »ich werde ganz Europa davon in Kenntnis setzen, daß ich dem größten Geiste, den es hervorgebracht hat, eine Ehrenerklärung schulde.«

Unersättlich nach Lobsprüchen, die er in so vieler Hinsicht verdiente, gab Voltaire mir am nächsten Tage seine Übersetzung von der ariostoschen Stanze, die mit dem Verse beginnt:

Quindi avvien che tra principi e signori …

Die Übersetzung lautet: –

Les papes, les césars, apaisant leur querelle,
Jurent sur l’Evangile une paix éternelle:
Vous les voyez l’un de l’autre ennemis:
C’était pur se tromper qu’ils s’étaient réunis.
Nul serment n’est gardé, nul accord n’est sincère.
Quand la bouche a parlé, le coeur dit le contraire.
Du ciel qu’ils attestaeint, ils bravaient le courroux:
L’intérêt est le Dieu qui les gouverne tous.

Als Voltaire mit seiner Deklamation fertig war, klatschten alle Anwesenden Beifall, obgleich keiner von ihnen italienisch verstand, und seine Nichte, Madame Denis, fragte mich, ob ich das von ihrem Oheim rezitierte Stück für eines der schönsten des großen Dichters hielte.

»Ja, Madame, aber es ist nicht das schönste – bei weitem nicht; denn sonst würde man den Signor Lodovico nicht in den Himmel versetzt haben.«

»Man hat ihn also heilig gesprochen? Das wußte ich nicht.«

Bei diesen Worten waren die Lacher, und Voltaire an ihrer Spitze, auf Seiten der Frau Denis; alle lachten; nur ich bewahrte meinen vollen Ernst. Es schien Voltaire zu ärgern, daß ich nicht wie die anderen lachte, und er fragte mich nach dem Grunde. »Sie meinen,« sagte er, »er sei wegen einer übermenschlich schönen Stelle der Göttliche genannt worden?«

»Ganz gewiß.«

»Und was ist das für eine Stelle?«

»Es sind die letzten sechsunddreißig Stanzen des dreiunddreißigsten Gesanges, in denen der Dichter den mechanischen Hergang beschreibt, wie Roland wahnsinnig wurde. Solange wie die Welt besteht, hat niemals ein Mensch gewußt, wie man wahnsinnig wird – außer Ariosto, der es gegen Ende seines Lebens selber wurde. Diese Stanzen sind entsetzlich schön, Herr von Voltaire, und ich bin überzeugt, Sie haben gezittert, als Sie sie lasen.«

»Ja, ich erinnere mich ihrer; sie erregen Entsetzen vor der Liebe. Ich werde sie sofort wieder lesen.«

»Der Herr wird vielleicht die Gefälligkeit haben, sie uns herzusagen«, sagte Frau Denis mit einem Seitenblick auf ihren Oheim.

»Sehr gern, gnädige Frau, wenn Sie die Güte haben wollen, sie anzuhören.«

»Sie haben sich also die Mühe genommen, sie auswendig zu lernen?« fragte Voltaire mich.

»Sagen Sie: das Vergnügen – denn es hat mir keine Mühe gekostet. Seit meinem sechzehnten ist kein Jahr vergangen, daß ich nicht den Ariosto zwei- oder dreimal gelesen habe; er ist meine Leidenschaft und hat sich ganz natürlich meinem Gedächtnis eingeprägt, ohne daß ich mir die geringste Mühe zu geben brauchte. Ich weiß ihn ganz und gar auswendig, mit Ausnahme seiner langen Geschlechtsregister und seiner geschichtlichen Auseinandersetzungen, die den Geist ermüden, ohne das Herz zu erwärmen. Außer ihm gibt es für mich nur noch Horaz, dessen Verse sich alle meiner Seele eingegraben haben, obwohl seine Episteln oftmals zu prosaisch sind und sich mit den Boileauschen bei weitem nicht vergleichen lassen.«

»Boileau ist oftmals zu sehr Lobredner, Herr von Casanova. Horaz will ich gelten lassen, auch mich entzückt er; aber Ariosto! vierzig lange Gesänge – das ist zu viel!«

»Einundfünfzig, Herr von Voltaire.«

Der große Mann verstummte, aber Frau Denis sprang für ihn ein und rief: »Lassen Sie uns doch die sechsunddreißig Stanzen hören, die einen zum Zittern bringen und denen der Dichter den Namen des Göttlichen verdankt!«

Sofort begann ich in sicherem Tone, aber nicht in jener eintönigen deklamatorischen Weise der Italiener, die die Franzosen uns mit Recht zum Vorwurf machen. Die Franzosen würden die besten Deklamatoren sein, wenn sie nicht durch den Zwang des Reimes gehindert würden; denn von allen Völkern fühlen sie am tiefsten, was sie sagen. Sie haben weder den leidenschaftlichen und einförmigen Ton meiner Landsleute, noch den sentimentalen und übertriebenen der Deutschen, noch die ermüdende Manieriertheit der Engländer. Sie sprechen jeden Satz in dem Ton, mit dem Klang der Stimme, die am besten der Natur des auszudrückenden Gefühls entsprechen; aber durch die gezwungene Wiederholung derselben Klänge gehen ihnen diese Vorzüge zum Teil wieder verloren. Ich sprach die schönen Verse Ariostos wie eine schöne rhythmische Prosa, die ich durch den Klang meiner Stimme und durch die Sprache meiner Augen belebte, und ich modulierte den Tonfall je nach dem Gefühl, das ich meinen Hörern einflößen wollte. Man sah, man fühlte, wie ich mir Gewalt antun mußte, um meine Tränen zurückzuhalten, und Tränen standen in allen Augen. Aber als ich zu der Stanze kam:

Poiche allargare il freno al dolor puote
Che resta solo senza altrui rispetto
Giù dagli occhi rigando per le gote
Sparge un fiume de lacrime sul petto

da entströmten mir die Tränen so reichlich, daß alle meine Zuhörer zu schluchzen begannen. Voltaire und Madame Denis fielen mir um den Hals, aber ihre Umarmungen konnten mich nicht unterbrechen. Denn, um rasend zu werden, mußte Roland erst noch bemerken, daß er in demselben Bett lag, worin vor kurzem Angelica in den Armen des überglücklichen Medor geruht hatte. Und so mußte ich die folgende Stanze beginnen. Statt Klage und Trauer malte sich jetzt in meiner Stimme Schrecken ob der Wut, in der er vermöge seiner ungeheueren Kraft Verwüstungen anrichtete wie ein schrecklicher Sturm oder wie ein von Erdbeben begleiteter vulkanischer Ausbruch.

Als ich geendet hatte, empfing ich mit traurigem Gesicht die Glückwünsche der ganzen Gesellschaft. Voltaire rief: »Ich habe es immer gesagt: das Geheimnis, zum Weinen zu bringen, besteht darin, daß man selber weint; aber es sind echte Tränen nötig, und um solche vergießen zu können, muß die Seele tief gerührt sein. – Ich danke Ihnen, mein Herr,« fuhr er fort, indem er mich umarmte, »und ich verspreche Ihnen, morgen die gleichen Stanzen zu rezitieren und dabei zu weinen wie Sie.«

Er hielt Wort.

»Es ist erstaunlich,« sagte Frau Denis, »daß das unduldsame Rom niemals den Sänger des Orlando auf den Index gesetzt hat.«

»Ganz im Gegenteil,« rief Voltaire, »Leo der Zehnte ist dem zuvorgekommen, indem er jeden in den Kirchenbann tat, der es wagen sollte, ihn zu verdammen. Die beiden großen Familien Este und Medici hatten ein Interesse daran, ihn zu stützen. Ohne diesen Schutz hätte wahrscheinlich ein einziger Vers hingereicht, um das ganze Gedicht verbieten zu lassen, nämlich der Vers über Konstantins Schenkung des römischen Gebietes an Silvester, worin der Dichter sagte: puzza forte – sie stinkt gewaltig.«

»Ich glaube,« sagte ich, »der Vers, der den meisten Lärm gemacht hat, war jener, worin Ariosto die Auferstehung des Menschengeschlechtes und das Ende der Welt in Zweifel zieht. Ariosto spricht von dem Einsiedler, der den Rodomont davon abhalten wollte, sich der Witwe des Zerbino, Isabella, zu bemächtigen, und schildert, wie der Afrikaner, gelangweilt durch diese Predigt, ihn packt und so weit fortschleudert, daß er an einem Felsen zerschellt; an diesem Felsen liegt er nun tot, wie eingeschlafen – so daß al [?]vissimo di forse fia desto – daß er am jüngsten Tag vielleicht erstände.

über dieses forse, das der Dichter vielleicht nur als eine Redeblume oder zur Ausfüllung des Verses brauchte, erhob sich viel Geschrei, worüber der Dichter ohne Zweifel herzlich gelacht hätte, wenn er es erlebt hätte.«

»Es ist schade,« sagte Frau Denis, »daß Ariosto nicht etwas nüchterner in solchen bildlichen Ausdrücken war.«

»Still, liebe Nichte; sie sind voller Geist und Witz. Es sind wunderschöne Perlen, die der beste Geschmack über das ganze Werk verstreut hat.«

Wir sprachen hierauf von allen möglichen literarischen Dingen, und schließlich kam die Unterhaltung auf die Schottin, die wir in Solothurn gespielt hatten.

Man wußte alles.

Herr von Voltaire sagte mir: wenn ich bei ihm spielen wolle, werde er an Herrn von Chavigny schreiben, er möge meine Lindane überreden, die Rolle meiner Partnerin zu spielen, er selber werde den Montrose übernehmen. Ich entschuldigte mich und sagte ihm, Frau von *** sei in Basel, und ich selber müsse am nächsten Tage abreisen. Bei diesen Worten erhob er ein lautes Geschrei, hetzte die ganze Gesellschaft auf mich und sagte mir schließlich, mein Besuch sei eine Beleidigung für ihn, wenn ich nicht mindestens eine volle Woche ihm opfere.

»Herr von Voltaire,« antwortete ich ihm, »ich bin nur nach Genf gekommen, um die Ehre zu haben, Sie zu sehen; jetzt, da mir diese Huld zuteil geworden ist, habe ich hier nichts mehr zu tun.«

»Sind Sie hierher gekommen, um mit mir zu sprechen, oder damit ich mit Ihnen spreche?«

»Natürlich, auch um mit Ihnen zu sprechen, aber noch weit mehr, um Sie sprechen zu hören.«

»So bleiben Sie mindestens drei Tage hier; seien Sie alle drei Tage bei mir zu Tisch, und wir werden miteinander sprechen.«

Die Einladung war so dringend und so schmeichelhaft, daß es mir übel angestanden wäre, sie abzulehnen. Ich nahm sie also an und entfernte mich hierauf, weil ich zu schreiben hatte.

Ich war kaum eine Viertelstunde zu Hause, da kam ein Syndikus der Stadt, ein liebenswürdiger Mensch, den ich nicht nennen will, zu mir und bat mich, mit mir zu Abend speisen zu dürfen. Er sagte zu mir: »Ich habe Ihrem Gefecht mit dem großen Manne beigewohnt und die ganze Zeit über nicht ein einziges Mal den Mund aufgetan; aber ich habe den lebhaften Wunsch, eine Stunde mit Ihnen allein zu verbringen.«

Ich umarmte ihn, bat ihn um Verzeihung, daß er mich im Schlafrock fände, und sagte ihm, es würde mir ein Vergnügen machen, wenn er den ganzen Abend mit mir verbrächte.

Der liebenswürdige Mensch war zwei Stunden lang bei mir, ohne einen einzigen Augenblick von Literatur zu sprechen; aber er brauchte dies auch nicht, denn er war ein Jünger des Epikur und Sokrates, und der Abend verging mit hübschen Geschichtchen, mit lautem Gelächter und mit Erzählungen von all den Vergnügungen, die man sich in Genf verschaffen konnte. Beim Abschied lud er mich für den nächsten Tag zum Abendessen ein, indem er mir versprach, daß ich mich nicht langweilen würde.

»Ich werde Sie erwarten«, sagte ich.

»Gut, aber sagen Sie keinem Menschen etwas von unserer Partie.«

Ich versprach es ihm.

Am nächsten Morgen besuchte der junge Fox mich mit den beiden Engländern, die ich bei Herrn von Voltaire gesehen hatte. Sie schlugen mir eine Partie Quinze vor; ich nahm sie an; nachdem ich etwa fünfzig Louis verloren hatte, hörte ich auf, und wir trieben uns bis zum Mittagessen in der Stadt herum.

In den Délices fanden wir den Herzog von Villars; er war soeben angekommen, um den Doktor Tronchin zu befragen, der ihn seit zehn Jahren künstlich am Leben erhielt.

Während des Essens schwieg ich; aber beim Nachtisch brachte Herr von Voltaire das Gespräch auf die venetianische Regierung, da er wußte, daß ich keinen Anlaß hatte, mit ihr zufrieden zu sein; aber ich täuschte seine Erwartung, denn ich suchte nachzuweisen, daß es auf der ganzen Erde kein Land gebe, wo man eine vollständigere Freiheit genieße.

»Ja,« fagte er, »wenn man sich damit bescheidet, die Rolle des Stummen zu spielen.« Da er sah, daß das Thema mir nicht behagte, nahm er meinen Arm und führte mich in seinen Garten, dessen Schöpfer er war, wie er mir sagte. Die Hauptallee führte zu einem schönen fließenden Wasser. »Dies«, sagte er, »ist der Rhône, den ich nach Frankreich schicke.«

»Eine Sendung, die Ihnen wenig Kosten verursacht.«

Er lächelte freundlich und zeigte mir hierauf die schöne Genfer Straße und die Dent-blanche, die höchste Spitze der Alpen.

Hierauf brachte er das Gespräch wieder auf die italienische Literatur und begann mit Geist und viel Gelehrsamkeit Unsinn darüber zu reden, indem er stets mit einem falschen Urteil schloß. Ich ließ ihn reden. Er sprach über Homer, Dante und Petrarca, und man weiß ja, wie er über diese großen Geister dachte; er hat sich selber geschadet, indem er veröffentlichte, was er dachte. Ich begnügte mich damit, ihm zu sagen, daß diese großen Männer schon längst von dem hohen Platz, den die Bewunderung der Jahrhunderte ihnen angewiesen hat, herabgestiegen wären, wenn sie nicht der allgemeinen Verehrung würdig wären.

Der Herzog von Villars und der berühmte Arzt Tronchin traten zu uns. Der Doktor war groß, stattlich, schön von Gesicht, höflich, beredt, ohne Schwätzer zu sein. Ein gelehrter Physiker und ein geistreicher Mann. Er war ein Schüler Boerhaves, der ihn geliebt hatte, und da er weder das Kauderwelsch, noch den Scharlatanismus, noch die selbstgefällige Eitelkeit der medizinischen Größen an sich hatte, so gefiel er mir außerordentlich. Seine Heilkunst beruhte auf der Ernährungsweise, und um diese richtig zu verordnen, mußte er Philosoph sein. Man hat mir versichert – was ich aber doch kaum glauben kann – er habe einen Lungenkranken durch die Milch einer Eselin geheilt, der er von vier kräftigen Packträgern dreißig starke Quecksilbereinreibungen machen ließ.

Auch Villars erregte meine volle Aufmerksamkeit, jedoch ganz anders als Tronchin. Indem ich sein Gesicht und seine Haltung betrachtete, glaubte ich eine siebzigjährige Frau in Männerkleidern zu sehen – ein mageres, dürres Weib, das noch Ansprüche machte und in seiner Jugend wohl schön gewesen sein konnte. Seine kupferroten Wangen waren mit Schminke bekleistert, die Lippen mit Karmin bedeckt, die Augenbrauen schwarz gefärbt. Er hatte falsche Zähne, trug eine ungeheure Perücke, die einen starken Ambraduft ausströmte, und im Knopfloch einen Blumenstrauß, der ihm bis ans Kinn reichte. Seinen Bewegungen gab er etwas übertrieben Anmutiges und sprach dazu mit so sanfter Stimme, daß man oftmals nicht hören konnte, was er sagte, übrigens war er sehr höflich, liebenswürdig und geziert im Geschmack der Zeiten der Regentschaft. Alles in allem ein überaus lächerliches Wesen. Man hat mir erzählt, in seiner Jugend und in den Zeiten seiner Manneskraft habe er das schöne Geschlecht geliebt; als er aber zu nichts mehr getaugt, habe er den bescheidenen Entschluß gefaßt, Weib zu werden, und halte daher vier schöne Mignons in seinem Dienst, welche abwechselnd das ekelhafte Glück hätten, nachts sein altes Gerippe zu wärmen. Villars war Gouverneur der Provence und hatte einen Krebs am Rücken. Nach der natürlichen Ordnung hätte er schon seit zehn Jahren begraben sein sollen, aber Tronchin erhielt ihn am Leben, indem er die wunden Stellen mit Schnitten von Kalbfleisch nährte. Ohne diese Ernährung wäre der Krebs gestorben und hätte ihn mitgerissen. Dies kann man wohl ein künstliches Leben nennen.

Ich begleitete Herrn von Voltaire in sein Schlafzimmer, wo er die Perücke wechselte und eine andere Mütze aufsetzte; denn er trug stets Mützen, um sich gegen Erkältungen zu schützen, an denen er oftmals litt. Ich sah auf einem Tisch die Summa des heiligen Thomas und unter mehreren italienischen Gedichten auch die Secchia rapita von Tassoni. Voltaire sagte zu mir: »Dies ist das einzige tragikomische Gedicht, das Italien besitzt. Tassoni war Mönch, Schöngeist und ein ebenso großer Gelehrter wie Dichter.«

»Als Dichter mag er groß sein, aber als Gelehrter ist er es nicht; denn er hat sich über das System des Kopernikus lustig gemacht und behauptet, man könne danach nicht den Mondwechsel und die Mondfinsternisse bestimmen.«

»Wo hat er diese Dummheit gesagt?«

»In seinen akademischen Reden.«

»Ich habe sie nicht, aber ich werde sie mir verschaffen.«

Er ergriff eine Feder, um eine Notiz darüber zu machen, und sagte dann: »Aber Tassoni hat mit sehr viel Geist den Petrarca kritisiert.«

»Ja, aber dadurch hat er seinen Geschmack und seine Literaturkenntnisse entehrt; dasselbe gilt von Muratori.«

»Den habe ich hier. Geben Sie zu, daß seine Gelehrsamkeit unermeßlich ist.«

»Est ubi peccat – dies ist gerade sein Fehler.«

Voltaire öffnete eine Tür, und ich sah etwa hundert dicke Papierbündel. Er sagte: »Dies ist mein Briefwechsel. Sie sehen hier etwa fünfzigtausend Briefe, die ich beantwortet habe.«

»Besitzen Sie die Abschriften Ihrer Antworten?«

»Zum guten Teil. Ein Bedienter hat dies zu besorgen und hat nichts anderes zu tun.«

»Ich kenne eine Menge Buchhändler, die viel Geld dafür geben würden, diesen Schatz zu erwerben.«

»Allerdings; aber hüten Sie sich vor den Buchhändlern, wenn Sie etwas veröffentlichen wollen – falls Sie es nicht schon getan haben; es sind gefährlichere Seeräuber als die marokkanischen.«

»Mit diesen Herren werde ich erst zu tun haben, wenn ich alt bin.«

»Dann werden Sie die Plage Ihres Alters sein.«

Bei dieser Gelegenheit zitierte ich einen maccaronischen Vers von Merlino Cocci.

»Was ist das?«

»Ein Vers aus einem berühmten Gedicht von vierundzwanzig Gesängen.«

»Berühmt!«

»Ja, und sogar mit Recht berühmt; aber um seinen Wert zu schützen, muß man die Mundart von Mantua kennen.«

»Ich werde es verstehen, wenn Sie es mir beschaffen können.«

»Ich werde die Ehre haben, es Ihnen morgen zu bringen.«

»Sie werden mich über alle Maßen verbinden.«

Wir wurden geholt und verbrachten dann zwei Stunden in der Gesellschaft mit allen möglichen Gesprächen. Voltaire entfaltete den ganzen Reichtum seines glänzenden und fruchtbaren Geistes und entzückte alle, obgleich seine scharfen Pfeile selbst die Anwesenden nicht verschonten; aber er besaß eine unnachahmliche Kunst, seine Witze so zu schleudern, daß niemand sich verletzt fühlte. Wenn der große Mann seine Ausfälle mit einem anmutigen Lächeln begleitete, fehlte es ihm niemals an Lachern.

Sein Haushalt war aufs vornehmste eingerichtet, und man speiste sehr gut bei dem Dichter, was bei seinen Mitbrüdern in Apoll sehr selten vorkommt, da sie für gewöhnlich nicht wie er Günstlinge des Plutus sind. Er war damals sechsundsechzig Jahre alt und hatte Hundertzwanzigtausend Franken Rente. Man hat boshafterweise gesagt, der große Mann habe sich bereichert, indem er seine Verleger betrogen; tatsächlich ist es ihm aber in dieser Hinsicht nicht besser gegangen als dem geringsten Schriftsteller; weit entfernt, seine Buchhändler betrogen zu haben, ist er vielmehr häufig von ihnen betrogen worden. Hiervon auszunehmen sind die Cramer, die durch ihn reich geworden sind. Voltaire hatte sich durch andere Mittel als durch seine Feder zu bereichern gewußt, und da er ruhmbegierig war, verschenkte er oft seine Werke unter der einzigen Bedingung, daß sie gedruckt und verbreitet würden. Während der kurzen Zeit, die ich bei ihm verbrachte, wurde ich Zeuge einer solchen Großmut: er verschenkte die Prinzessin von Babylon, eine reizende Erzählung, die er in drei Tagen schrieb.

Mein epikuräischer Syndikus holte mich seinem Versprechen getreu pünktlich in der »Wage« ab und führte mich in ein nahegelegenes Haus, wo er mich drei jungen Damen vorstellte, die zwar nicht gerade Schönheiten im strengen Sinne des Wortes, aber entzückende Geschöpfe waren. Zwei von ihnen waren Schwestern. Sie empfingen uns auf ungezwungene und übermütige Weise, und da sie geistreiche Gesichter hatten und im Tone echter Fröhlichkeit sprachen, so erkannte ich sofort, daß wir einen köstlichen Abend verleben würden; ich hatte mich nicht getäuscht. Die halbe Stunde bis zum Essen verfloß in anständiger, aber zwangloser Unterhaltung; während der Mahlzeit gab der Syndikus den Ton an, und ich sah voraus, was sich nach dem Dessert ereignen würde.

Es war heiß und unter dem anständigen Vorwande, uns Kühlung zu verschaffen, versetzten wir uns beinahe in den Naturzustand, da wir sicher waren, durch keinen Besuch gestört zu werden. Welche Orgie! Ich bedaure, das Interessanteste verschleiern zu müssen. Als wir, in die ausgelassenste Heiterkeit versetzt, von Liebe, Champagner und wollüstigen Reden erhitzt waren, rezitierte ich Grécourts Y grec. Als ich dieses wollüstige Gedicht, das der Feder eines Abbés würdig ist, beendigt hatte und die Augen der drei Schönen Flammen sprühen sah, sagte ich zu ihnen: »Meine Damen, ich erbiete mich, Ihnen allen dreien, einer nach der anderen, zu zeigen, welchen Sinn der Satz hatte: gaudeant bene nati

Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm ich sie, eine nach der anderen, vor und machte sie glücklich, ohne jedoch das Spiel auf die Spitze zu treiben. Mein Syndikus strahlte vor Freude; er freute sich, mir ein Geschenk nach meinem Geschmack gemacht zu haben, und ich konnte bemerken, daß das Extravergnügen den drei Grazien nicht mißfiel; denn der Sybarit hielt sie bei magerer Kost, da er nur noch in seinen Begierden kräftig war. Die jungen Mädchen überschütteten mich mit endlosen Danksagungen, die ich meinerseits in gleichem Umfang erwiderte. Sie jauchzten vor Entzücken, als sie den Syndikus mich für den nächsten Abend einladen hörten. Als er mich nach meinem Gasthof zurückbrachte, dankte ich ihm für das Vergnügen, das er mir verschafft hatte, und er sagte mir, er habe das Verdienst, diese drei reizenden Geschöpfe ganz allein erzogen zu haben. »Sie sind, nebst mir, der einzige Mann, den sie kennen. Sie werden sie wiedersehen; aber ich bitte Sie recht sehr, hüten Sie sich, ihnen ein Andenken zu hinterlassen; denn das wäre in dieser Stadt voller Vorurteile für sie wie für mich ein Unglück, das nicht wieder gut zu machen wäre.«

»Sie halten also immer Maß?«

»Leider ist das kein Verdienst von meiner Seite. Ich bin für die Liebe geboren, aber Venus hat mich schon frühzeitig dafür bestraft, daß ich ihr zu früh gehuldigt habe.«

Nachdem ich eine köstliche Nacht verbracht hatte, erwachte ich frisch gestärkt und schrieb an Voltaire einen Brief in Blankversen, die mir viermal mehr Mühe kosteten, als wenn ich sie gereimt hätte. Ich schickte ihm diesen Brief mit dem Gedicht des Theophilo Folengo, aber ich tat übel daran; ich hätte voraus sehen können, daß er keinen Geschmack daran finden würde, denn man kann nur schätzen, was man wirklich versteht. Ich ging hierauf zu Herrn Fox hinunter und traf bei ihm die beiden Engländer, die mir Revanche anboten. Ich verlor hundert Louis und sah sie mit Vergnügen nach Lausanne abreisen.

Der Syndikus hatte mir gesagt, die drei jungen Damen seien aus anständigen Familien, aber nicht reich; ich zerbrach mir den Kopf, auf welche Weise ich ihnen ein nützliches Geschenk machen könnte, ohne sie zu demütigen. Schließlich verfiel ich auf etwas ganz Tolles, das ich dem Leser später erklären werde. Ich ging zu einem Goldschmied, gab ihm sechs Quadrupel und beauftragte ihn, mir sofort drei goldene Kugeln von je zwei Unzen zu machen.

Mittags ging ich zu Herrn von Voltaire; er war nicht sichtbar, aber Madame Denis entschädigte mich. Sie hatte viel Geist, Vernunft und Geschmack, ein reiches Wissen ohne Anmaßung und hegte einen grimmigen Haß gegen den König von Preußen, den sie einen Schurken nannte. Sie erkundigte sich nach meiner schönen Haushälterin und wünschte mir Glück, daß ich sie an einen ehrenwerten Mann verheiratet hätte. Obgleich ich heute anerkenne, daß sie vollkommen recht hatte, war ich damals doch keineswegs ihrer Meinung, denn der Eindruck war noch zu lebhaft. Frau Denis bat mich, ihr meine Flucht aus den Bleigefängnissen zu erzählen; da aber die Erzählung ein wenig lang gewesen wäre, so versprach ich ihr, den Wunsch ein anderes Mal zu erfüllen.

Herr von Voltaire speiste nicht mit uns; er erschien erst um fünf Uhr mit einem Brief in der Hand und fragte mich: »Kennen Sie den bolognesischen Senator Marchese Albergati Capracelli und den Grafen Paradisi?«

»Paradisi kenne ich nicht; Herrn Albergati aber kenne ich von Ansehen und habe von ihm gehört. Er ist nicht Senator, sondern einer von den Vierzig, und in Bologna sind die Vierzig fünfzig.«

»Barmherzigkeit! Das ist ein schwer zu lösendes Rätsel.«

»Kennen Sie ihn?«

»Nein, aber er schickt mir Goldonis Theater, Bologneser Würste und die Übersetzung des Tankred, und er wird mich besuchen.«

»Er wird nicht kommen; so dumm ist er nicht.«

»Wieso dumm? Ist es denn eine Dummheit, mich zu besuchen?«

»Nein, sonst ganz gewiß nicht, aber von ihm wäre es eine Dummheit.«

»Warum, bitte?«

»Er weiß, daß er zuviel dabei verlieren würde; denn er ist stolz auf die Meinung, die Sie anscheinend von ihm haben, und wenn er käme, würden Sie sehen, daß er eine Null ist, und mit der Illusion wäre es aus. Übrigens ist er ein braver Edelmann mit einem Einkommen von sechstausend Zechinen, dazu ein Theaternarr. Er ist ein ziemlich guter Schauspieler und hat einige Komödien in Prosa geschrieben; aber man kann sie weder lesen noch auf der Bühne sehen.«

»Sie geben ihm da wahrhaftig ein Kleid, das ihn nicht vergrößert.«

»Ich kann Ihnen versichern, es macht ihn noch nicht so klein, wie er in Wirklichkeit ist.«

»Aber sagen Sie mir, inwiefern die Vierzig fünfzig sein können?«

»Wie in Basel um elf Uhr Mittag ist.«

»Ich verstehe: wie Ihr Rat der Zehn aus siebzehn Mitgliedern besteht.«

»Ganz recht; aber die verdammten Vierzig von Bologna sind etwas anderes.«

»Warum verdammt?«

»Weil sie dem Fiskus nicht unterworfen sind; infolge dieser Freiheit begehen sie vollkommen straflos jedes beliebige Verbrechen; sie brauchen nur ihren Wohnsitz außerhalb des Staates zu nehmen und verzehren dort behaglich ihre Einkünfte.«

»Das ist etwas Gutes und nicht etwas Böses. Aber weiter; der Marchese Albergati ist ohne Zweifel Schriftsteller?«

»Er schreibt gut italienisch; aber er hört sich gerne reden, ist weitschweifig und hat nicht viel im Kopf.«

»Er ist Schauspieler, sagten Sie?«

»Sogar ein sehr guter, besonders in seinen eigenen Stücken, in Liebhaberrollen.«

»Ist er schön?«

»Ja, auf der Bühne, aber sonst nicht; denn sein Gesicht ist ausdruckslos.«

»Seine Stücke gefallen aber doch.«

»Den Kennern nicht; denn man würde sie auspfeifen, wenn man sie verstände.«

»Und was sagen Sie von Goldoni?«

»Was man von ihm sagen kann: Goldoni ist der italienische Molière.«

»Warum nennt er sich Hofdichter des Herzogs von Parma?«

»Ohne Zweifel, um zu beweisen, daß ein geistvoller Mann seine schwache Seite hat, so gut wie ein Dummkopf; der Herzog weiß wahrscheinlich nichts davon. Er nennt sich auch Advokat, obgleich er es auch nur in seiner Einbildung ist. Goldoni ist ein guter Lustspieldichter und weiter nichts. Ganz Venedig kennt mich als seinen Freund; ich kann also mit Sachkenntnis über ihn sprechen: in Gesellschaften glänzt er nicht, und obwohl er in allen seinen Schriften so fein sarkastisch ist, ist er doch von außerordentlich sanftem Charakter.«

»So hat man mir gesagt. Er ist arm, und man hat mir versichert, er wolle Venedig verlassen. Das wird den Theaterdirektoren, die seine Stücke spielen, recht unlieb sein.«

»Man hat davon gesprochen, ihm ein Jahrgeld auszusetzen; aber der Plan ist ins Wasser gefallen, denn man hat gedacht, wenn er ein Jahrgeld hätte, würde er nicht mehr schreiben.

»Cumae hat Homer ein Jahrgeld verweigert, weil man befürchtete, daß alsdann alle Blinden eines verlangen würden.«

Wir verbrachten den Tag sehr angenehm, und er dankte mir in überschwenglicher Weise für das Maccaronicon, das er mir zu lesen versprach. Er stellte mir einen Jesuiten vor, der in seinen Diensten stand und Adam hieß; nachdem er den Namen genannt hatte, setzte er hinzu: Er ist aber nicht Adam, der erste der Menschen.«

Wie man mir später erzählt hat, spielte er gerne Tricktrack mit ihm, und wenn er verlor, warf er ihm Würfel und Würfelbecher an den Kopf. Wenn man die Jesuiten überall mit so geringer Achtung behandelte, so würden wir zuletzt nur ungefährliche Jesuiten haben; aber von diesen glücklichen Zeiten sind wir noch weit entfernt.

Am Abend erhielt ich gleich nach meiner Rückkehr in den Gasthof meine drei goldenen Kugeln; sobald mein Syndikus gekommen war, brachen wir auf, um unsere wollüstige Orgie zu erneuern. Unterwegs plauderten wir über die Scham, und er sagte mir: »Dieses Gefühl, das uns abhält, Körperteile zu zeigen, die man von Kindesbeinen an bedeckt zu halten uns gelehrt hat, kann oft von einer Neigung zur Tugend herrühren; aber es ist schwächer als die Macht der Erziehung; denn es vermag einem Angriff nicht zu widerstehen, wenn der Angreifer sich richtig zu benehmen weiß. Am leichtesten besiegt man, glaube ich, die Scham, wenn man sie bei dem Gegenstande, den man angreifen will, nicht voraussetzt, wenn man sie lächerlich macht, besonders aber, wenn man ihr rücksichtslos zu Leibe geht, indem man sich über ein dummes Vorurteil einfach hinwegsetzt. Der Sieg ist gewiß. Die Schamlosigkeit des Angreifers besiegt den Angegriffenen, der für gewöhnlich nur besiegt werden will und fast immer zuletzt dem Sieger noch dankt. Der gelehrte Philosoph Clemens von Alexandrien hat gesagt, die Tugend, die anscheinend so tief im Geiste der Frauen wurzle, habe ihren Sitz eigentlich nur in dem Linnen, das sie bedecke, und verschwinde spurlos, wenn man dieses von ihnen wegziehe.«

Wir fanden unsere drei Fräuleins, in leichten Gewändern von feiner Leinwand, auf einem großen Sofa sitzend; wir setzten uns ihnen ganz dicht gegenüber auf Stühle. Unter hübschen Bemerkungen und tausend Küssen verstrich die halbe Stunde bis zum Souper, und unsere Liebeskämpfe begannen erst nach einem köstlichen Mahle, als uns der Champagner bereits etwas umnebelt hatte.

Als wir sicher waren, durch das Dienstmädchen nicht mehr gestört zu werden, machten wir es uns bequem, und unsere Liebkosungen wurden lebhafter und glühender. Der Syndikus zog als vorsichtiger Mann ein Päckchen feiner englischer Überzieher aus der Tasche und hielt eine lange Lobrede auf dies bewunderungswürdige Schutzmittel gegen einen Unfall, der eine schreckliche, aber unnütze Reue zur Folge haben könnte. Die Schönen kannten es und schienen mit der Vorsichtsmaßregel sehr zufrieden zu sein; sie brachen in ein schallendes Gelächter aus, als sie sahen, welche Form die Futterale annahmen, wenn man hineinblies. Nachdem ich sie einige Zeit mit diesem harmlosen Spiel sich hatte belustigen lassen, sagte ich zu ihnen: »Meine liebenswürdigen jungen Damen, ich schätze Ihre Ehre höher als Ihre Schönheit; aber erwarten Sie nicht von mir, daß ich mich in ein Stück toter Haut einzwängen werde, um Ihnen zu beweisen, daß ich völlig lebendig bin.« Ich zog die drei goldenen Kugeln aus der Tasche und fuhr fort: »Hier habe ich ein zuverlässigeres und weniger unangenehmes Mittel, um Sie gegen jeden verdrießlichen Zufall zu schützen. Nach einer fünfzehnjährigen Erfahrung kann ich Ihnen versichern, daß Sie mit Hilfe dieser goldenen Kugeln das Glück geben und empfangen können, ohne die geringste Gefahr zu laufen. Wenn Sie diese goldenen Kugeln probiert haben, werden Sie in Zukunft nicht mehr dieser demütigenden Futterale bedürfen. Schenken Sie mir volles Vertrauen und nehmen Sie dieses kleine Geschenk von einem Venetianer an, der Sie anbetet.«

»Wir sind Ihnen recht dankbar,« sagte die Älteste der beiden Schwestern, »aber wie wendet man denn diese hübsche Kugel an, um sich gegen das verhängnisvolle Dickwerden zu schützen?«

»Es genügt, daß die Kugel im Hintergrunde des Liebestempels ist, während das liebende Paar das Opfer vollzieht. Dem Metall ist durch eine alkalische Lösung, worin es eine gewisse Zeit gelegen hat, eine antipathische Kraft mitgeteilt worden, die jede Befruchtung verhindert.«

»Aber,« sagte die Base, »es kann doch vorkommen, daß vor dem Ende des Opfers die Kugel durch die Bewegung herausgetrieben wird?«

»Dieser Zufall ist nicht zu befürchten, wenn man nur die richtige Stellung einnimmt.«

»Zeigen Sie es uns doch mal!« sagte der Syndikus; zugleich ergriff er eine Kerze, um mir beim Einstecken der Kugel zu leuchten.

Die reizende Base hatte zuviel gesagt, um noch zurücktreten zu können; sie mußte ihren Freundinnen gestatten, sich zu überzeugen. Ich ließ sie eine solche Stellung einnehmen, daß die Kugel unmöglich herausfallen konnte, bevor ich mich mit dem Mädchen verbunden hatte. Zum Schluß fiel jedoch die Kugel heraus, das heißt, als ich die Bahn verließ. Das hübsche Opfer merkte wohl, daß ich sie getäuscht hatte; da sie jedoch für ihre eigene Rechnung nichts dabei verlor, so verstellte sie sich, hob die Kugel auf und forderte die beiden Schwestern auf, sich dem angenehmen Versuch ebenfalls zu unterziehen, was diese mit einer Miene höchster Neugier taten. Der Syndikus, der kein Vertrauen zur Kraft des Metalls hatte, beschränkte sich auf die Rolle des Zuschauers; er hatte übrigens keinen Anlaß, sich zu beklagen. Nachdem ich mich nach einer halben Stunde erholt hatte, begann ich das Fest von neuem, aber ohne Kugeln, indem ich ihnen versicherte, ich würde jeden Unfall vermeiden; ich hielt ihnen Wort, ohne sie um den geringsten Teil des Vergnügens zu bringen, das sie hätten haben können, wenn ich in voller Freiheit gehandelt hätte.

Als wir scheiden mußten, warfen die jungen Mädchen, die bis dahin nur Entbehrungen gehabt hatten, sich auf mich und überhäuften mich mit Liebkosungen; sie glaubten mir großen Dank schuldig zu sein. Der Syndikus sagte ihnen, ich wolle am übernächsten Tag abreisen, und forderte sie auf, mich einzuladen, ich möchte doch noch einen Tag länger in Genf bleiben. Ich brachte ihnen dieses Opfer mit Freuden. Der gute Syndikus war für den nächsten Tag eingeladen, und auch ich hatte einen Ruhetag sehr nötig. Er dankte mir fast ebenso lebhaft wie seine reizenden Nymphen und begleitete mich nach meinem Gasthof zurück.

Nachdem ein zehnstündiger sanfter Schlaf mich erquickt hatte, nahm ich ein stärkendes Bad; als ich mich angekleidet hatte, fühlte ich mich imstande, die angenehme Gesellschaft des Herrn von Voltaire zu genießen. Ich begab mich zu ihm, aber ich wurde in meiner Erwartung getäuscht, denn es beliebte dem großen Manne an diesem Tage streitsüchtig, spottlustig und boshaft zu sein. Er wußte, daß ich am nächsten Tage abreisen würde.

Bei Tisch dankte er mir zunächst für den Merlino Cocci, den ich ihm geschenkt hatte. »Sie haben ihn mir gewiß in guter Absicht angeboten; aber für Ihr Lob dieses Gedichtes danke ich Ihnen nicht, denn Sie sind schuld, daß ich vier Stunden mit dem Lesen von Dummheiten verbracht habe.«

Ich fühlte, wie sich mir die Haare auf dem Kopfe sträubten, aber ich beherrschte mich und antwortete ihm in ziemlich ruhigem Tone, er würde sich vielleicht einstmals selber genötigt sehen, das Gedicht noch höher zu preisen als ich. Ich führte mehrere Beispiele an, daß ein einmaliges Lesen ungenügend sei.

»Das ist wahr; aber Ihren Merlino gebe ich auf. Ich habe ihn neben Chapelains Pucelle gestellt.«

»Die allen Kennern gefällt, obgleich ihre Verse schlecht sind; denn es ist ein gutes Gedicht, und Chapelain war ein Dichter, obgleich er schlechte Verse machte. Ich habe seinen Genius wohl erkannt.«

Mein Freimut mußte ihn verletzen, und ich hätte dies ahnen können, da er mir gesagt hatte, er würde das Maccaronicon neben die Pucelle stellen. Ich wußte auch, daß ein schmutziges Gedicht desselben Titels Voltaire zugeschrieben wurde; doch wußte ich zugleich, daß er es verleugnete, und infolgedessen rechnete ich darauf, daß er den Ärger über meine Erklärung verbergen würde. Dem war jedoch nicht so; er widersprach mir in scharfem Ton, und ich erwiderte ihm in derselben Weise.

»Chapelain«, sagte ich, »hat das Verdienst gehabt, sein Thema auf angenehme Weise zu behandeln, ohne durch Mittel, die die Scham oder die Frömmigkeit verletzen, nach dem Beifall seiner Leser zu haschen. Dies ist die Ansicht meines Lehrers Crébillon.«

»Crébillon! Da nennen Sie mir einen großen Richter. Aber ich bitte Sie, sagen Sie mir, inwiefern ist denn mein Kollege Crébillon Ihr Lehrer?«

»Er hat mich in weniger als zwei Jahren französisch sprechen gelehrt, und ich habe, um ihm ein Zeichen meiner Dankbarkeit zu geben, seinen Rhadamiste in italienische Alexandriner übersetzt. Ich bin der erste Italiener, der dieses Metrum unserer Sprache anzupassen gewagt hat.«

»Der Erste? Ich bitte um Vergebung, diese Ehre gebührt meinem Freunde Pietro Giacomo Martelli.«

»Ich bedaure Ihnen sagen zu müssen, daß Sie sich irren.«

»Alle Wetter, ich habe in meinem Zimmer seine in Bologna gedruckten Werke.«

»Dies bestreite ich Ihnen keineswegs; ich bestreite Ihnen nur, daß Martelli Alexandriner angewandt hat. Sie können von ihm nur Verse von vierzehn Silben gelesen haben ohne Abwechselung von männlichen und weiblichen Reimen. Indessen gebe ich zu, daß er dummerweise geglaubt hat, eure Alexandriner nachgeahmt zu haben; ich habe über seine Vorrede laut aufgelacht. Vielleicht haben Sie sie nicht gelesen.«

»Nicht gelesen? Ich bin auf Vorreden erpicht. Martelli erweist in der seinigen, daß seine Verse auf italienische Ohren genau so wirken, wie unsere Alexandriner auf die unsrigen.«

»Ja, das ist gerade das Lächerliche dabei! Der gute Mann hat sich gröblich geirrt; ich bitte, urteilen Sie selber über meine Behauptung: Ihr männlicher Vers hat nur zwölf poetische Silben, und ihr weiblicher dreizehn. Alle Verse Martellis haben vierzehn, mit Ausnahme derjenigen, die mit einem langen Vokal endigen, der am Schluß eines Verses stets für zwei Silben gilt. Wollen Sie bemerken, daß der erste Halbvers bei Martelli stets sieben Silben hat, während der französische immer nur sechs hat. Ihr Freund Pietro Giacomo war entweder taub oder hatte ein falsches Gehör.«

»Sie befolgen also streng die Theorie unseres Versbaues?«

»Ganz streng, obgleich es sehr schwer ist; denn fast alle unsere Wörter endigen mit einer kurzen Silbe.«

»Und welche Wirkung hat Ihre Neuerung hervorgebracht?«

»Sie hat nicht gefallen, weil kein Mensch meine Verse deklamieren konnte; aber ich hoffe doch zu triumphieren, wenn ich selber sie in unseren literarischen Kreisen vortrage.«

»Haben Sie ein Bruchstück Ihres Rhadamiste im Gedächtnis?«

»Den ganzen.«

»Wunderbares Gedächtnis! Ich werde Ihnen gern zuhören.«

Ich deklamierte nun dieselbe Szene, die ich zehn Jahre vorher dem alten Crébillon vorgetragen hatte, und es kam mir vor, als ob Herr von Voltaire mir mit Vergnügen zuhörte. Er sagte: »Man bemerkt nicht die geringste Schwierigkeit.« Etwas Angenehmeres konnte er mir nicht sagen. Hierauf rezitierte der große Mann mir ein Stück aus seinem Tankred, den er damals, wie ich glaube, noch nicht veröffentlicht hatte und den man später mit Recht für ein Meisterwerk hielt.

Alles hätte ein gutes Ende genommen, wenn wir dabei stehen geblieben wären. Aber als ich ihm einen horazischen Vers anführte, um eines seiner Stücke zu loben, sagte er mir, Horaz sei an Bühnenkenntnis ein großer Meister gewesen und habe Vorschriften gegeben, die niemals veralten würden. Ich antwortete ihm, er selber habe nur eine einzige Regel verletzt, aber als großer Mann.

»Welche?«

»Sie schreiben nicht contentus paucis lectoribus

»Hätte Horaz die Hydra des Aberglaubens zu bekämpfen gehabt, er würde, wie ich, für die ganze Welt geschrieben haben.«

»Mir scheint. Sie könnten sich die Mühe ersparen, zu bekämpfen, was Sie doch niemals vernichten werden.«

»Was mir nicht gelingt, werden andere zu Ende führen, und ich werde stets den Ruhm haben, den Anfang gemacht zu haben.«

»Alles sehr schön – aber angenommen: es gelänge Ihnen, den Aberglauben zu zerstören – was würden Sie an dessen Stelle setzen?«

»Das höre ich gern! Wenn ich das Menschengeschlecht von einem wilden Tiere befreien will, das es verschlingt – kann man mich fragen, was ich an dessen Stelle setzen werde?«

»Er verschlingt es nicht; er ist im Gegenteil zum Bestehen des Menschengeschlechtes notwendig.«

»Zu seinem Bestehen notwendig! Das ist eine furchtbare Lästerung, die die Zukunft bestrafen wird! Ich liebe das ganze Menschengeschlecht; ich möchte es frei und glücklich sehen, wie ich es bin; doch Aberglaube und Freiheit lassen sich nicht vereinigen. Wo könnte denn wohl die Knechtschaft das Volk glücklich machen?!«

»Sie verlangen also die Souveränität des Volkes?«

»Gott bewahre! ein Herrscher ist notwendig, um die Massen zu lenken.«

»Dann ist also auch der Aberglaube notwendig, denn sonst wird das Volk niemals einem Menschen gehorchen, der den Namen eines Monarchen führt.«

»Nichts von Monarchen! Dies Wort drückt den Despotismus aus, den ich ebenso hasse wie die Knechtschaft.«

»Was wollen Sie denn also? Wenn nur ein einziger herrschen soll, kann ich diesen nur als einen Monarchen ansehen.«

»Ich will, daß der Herrscher einem freien Volk gebiete, daß er dessen Führer sei auf Grund eines Vertrages, der sie gegenseitig bindet und der ihn verhindert, jemals Willkür anzuwenden.«

»Addisson sagt Ihnen, daß dieser Herrscher, dieser Führer ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich bin für Hobbes. Von zwei Übeln muß man das kleinere wählen. Ein Volk ohne Aberglaube wäre ein Volk von Philosophen, und die Philosophen wollen nicht gehorchen. Das Volk kann nur glücklich sein, wenn es niedergedrückt, zu Boden getreten und an der Kette gehalten wird.«

»Das ist entsetzlich! Und Sie gehören zum Volk! Wenn Sie mich gelesen haben, müssen Sie gesehen haben, wie ich nachweise, daß der Aberglaube der Feind der Könige ist.«

»Ob ich Sie gelesen habe? Gelesen und wieder gelesen, besonders dann, wenn ich nicht Ihrer Meinung bin. Ihre Sie beherrschende Leidenschaft ist die Liebe zur Menschheit. Est ubi peccas. Diese Liebe macht blind. Lieben Sie die Menschheit, aber lieben Sie sie so, wie sie ist. Sie verträgt nicht die Wohltaten, die Sie an sie verschwenden wollen; Sie würden sie nur noch unglücklicher und verderbter machen. Lassen Sie ihr das Tier, das sie verschlingt: sie liebt dieses Tier. Ich habe nie so sehr gelacht, als wie ich Don Quijote genötigt sah, sich mühsam gegen die Galerensträflinge zu verteidigen, die er aus Großherzigkeit befreit hatte.«

»Es tut mir leid, daß Sie einen so schlechten Begriff von Ihresgleichen haben. Aber, da fällt mir ein – sagen Sie mir doch, sind Sie denn in Venedig sehr frei?«

»So frei, wie man unter einer aristokratischen Regierung überhaupt sein kann. Wir haben nicht so viel Freiheit wie die Engländer; aber wir sind zufrieden.«

»Selbst unter den Bleidächern?«

»Meine Gefangenhaltung war ein Willkürakt des Despotismus; aber da ich überzeugt war, mit vollem Bewußtsein meine Freiheit mißbraucht zu haben, so fand ich zuweilen, daß die Regierung recht gehabt hätte, mich ohne die gewöhnlichen Formalitäten einsperren zu lassen.«

»Aber Sie sind doch entflohen.«

»Ich machte von meinem Recht Gebrauch, wie sie von dem ihren.«

»Herrlich! Aber auf diese Art kann ja kein Mensch in Venedig sich frei nennen.«

»Das kann wohl sein; aber geben Sie zu, daß es, um frei zu sein, genügt, sich für frei zu halten.«

»Das werde ich durchaus nicht so leicht zugeben. Sie und ich betrachten die Freiheit von einem ganz verschiedenen Standpunkt aus. Die Aristokraten, sogar die Mitglieder der Regierung sind bei Ihnen nicht frei; denn sie können z. B. nicht einmal ohne Erlaubnis reisen.«

»Allerdings nicht; aber dies ist ein Gesetz, das sie sich freiwillig auferlegt haben, um ihre Herrschaft zu bewahren. Sie werden doch nicht sagen, ein Redner sei nicht frei, weil er den Luxusgesetzen unterworfen sei. Er hat sich ja selber seine Gesetze gegeben.«

»Nun, so mögen überall die Völker sich selber ihre Gesetze geben!«

Nach diesem lebhaften Ausruf fragte er mich ohne jeden Übergang, woher ich käme.

»Von Roche. Ich wäre in Verzweiflung gewesen, wenn ich die Schweiz hätte verlassen sollen, ohne den berühmten Haller gesehen zu haben. Auf meinen Wanderungen bringe ich meinen großen Zeitgenossen meine Huldigungen dar. Das schönste Andenken, das ich mitnehme, ist das an Sie!«

»Herr Haller wird Ihnen gefallen haben.«

»Ich habe drei meiner schönsten Tage bei ihm verlebt.«

»Mein Kompliment! Vor diesem großen Manne muß man niederknien.«

»Dies ist auch meine Meinung, und es freut mich, daß Sie ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen; ich bedaure ihn, daß er nicht ebenso gerecht gegen Sie ist.«

»Haha! Es ist möglich, daß wir uns beide geirrt haben.«

Diese Antwort, deren ganzes Verdienst nur in ihrer Schlagfertigkeit bestand, begrüßten alle Anwesenden mit lautem Lachen und Händeklatschen.

Es wurde nicht mehr von Literatur gesprochen, und ich spielte den stummen Zuhörer, bis Voltaire sich zurückzog. Nachdem ich noch Frau Denis gefragt hatte, ob sie mir etwas für Rom aufzutragen hätte, entfernte ich mich, recht zufrieden, an diesem letzten Tage, wie ich damals törichterweise glaubte, den Geistesriesen zur Vernunft gebracht zu haben; leider blieb eine verdrießliche Stimmung gegen den großen Mann zurück, die mich veranlaßte, zehn Jahre lang alles, was aus seiner unsterblichen Feder hervorgegangen war, zu kritisieren.

Heute bereue ich es, obwohl ich beim Wiederlesen meiner Kritiken finde, daß ich oft recht gehabt habe. Ich hätte schweigen, ihn verehren und an meinem eigenen Urteil zweifeln sollen. Ich hätte bedenken sollen, daß ich ihn ohne seine Spöttereien, die ihn mir an diesem dritten Tage verhaßt machten, in jeder Beziehung erhaben gefunden hätte. Schon dieser Gedanke hätte mir Schweigen gebieten sollen; aber im Zorn glaubt man immer recht zu haben. Die Nachwelt, die mich liest, wird mich für einen Zoilos halten, und die Ehrenerklärung, die ich heute, in aller Demut dem großen Manne gebe, wird vielleicht nicht gelesen werden. Wenn wir uns bei Pluto wiedersehen, befreit vielleicht von dem allzu Bissigen unserer irdischen Natur, so werden wir uns freundschaftlich einigen; er wird meine aufrichtigen Entschuldigungen annehmen; er wird mein Freund, ich werde sein aufrichtiger Bewunderer sein.

Ich verbrachte einen Teil der Nacht und fast den ganzen folgenden Tag damit, meine Gespräche mit Voltaire niederzuschreiben; es wurde beinahe ein Band, von dem ich hier nur einen schwachen Abriß gebe. Gegen Abend holte der epikuräische Syndikus mich ab; wir gingen zum Souper zu den drei Nymphen und trieben fünf Stunden lang alle tollen Scherze, die ich erfinden konnte; und auf diesem Gebiete war meine Phantasie damals außerordentlich fruchtbar. Beim Abschied versprach ich ihnen, auf meiner Rückreise von Rom sie wieder aufzusuchen, und ich habe ihnen Wort gehalten.

Am nächsten Tage speiste ich mit meinem lieben Syndikus zu Mittag und reiste dann ab. Er begleitete mich bis Annecy, wo ich über Nacht blieb. Am nächsten Tage aß ich in Aix in Savoyen zu Mittag mit der Absicht, in Chambéry zu übernachten; aber das Schicksal hatte es anders im Sinn.

Aix in Savoyen ist ein häßliches Nest; aber die Mineralquellen ziehen gegen Ende des Sommers die vornehme Welt dorthin. Das wußte ich damals nicht. Ich saß ruhig bei Tisch, um in aller Eile zu essen, da ich sofort nach Chambéry weiterreisen wollte, als plötzlich eine Menge Leute in sehr heiterer Laune in den Speisesaal eindrangen. Ich sah sie an, ohne mich zu rühren, und beantwortete mit einer Neigung des Kopfes die Verbeugungen, die einige von ihnen mir machten. Aus ihren Bemerkungen entnahm ich bald, daß sie Brunnengäste waren. Ein Herr von edlem und würdevollem Wesen trat sehr höflich zu mir heran und fragte mich, ob ich nach Turin ginge; ich antwortete ihm, ich ginge nach Marseille.

Das Essen kam; alle setzten sich zur Tafel. Ich sah mehrere sehr liebenswürdige Damen mit Kavalieren, die dem Anschein nach ihre Liebhaber oder Gatten waren. Ich bemerkte, daß man sich gut würde unterhalten können, denn alle sprachen französisch mit jener Leichtigkeit der guten Gesellschaft, die etwas so Anziehendes hat, und ich fühlte, daß ich gerne einwilligen würde, zum mindesten noch diesen einen Tag dazubleiben, wenn man mich nur bitten würde.

Da ich mit dem Essen fertig war, als die Gesellschaft noch beim ersten Gange war, und da mein Kutscher erst in einer Stunde weiterfahren konnte, so näherte ich mich einer hübschen Dame und machte ihr ein Kompliment, daß der Brunnen von Aix ihr augenscheinlich gut bekomme, denn ihr Appetit erwecke den Appetit aller ihr Zuschauenden.

»Ich fordere Sie heraus, mein Herr, mir zu beweisen, daß Sie die Wahrheit sprechen!« sagte sie in mutwilligem Ton und mit dem anmutigsten Lächeln.

Ich setzte mich neben sie, und sie reichte mir ein schönes Stück von dem Braten, den man eben aufgetragen hatte. Ich aß, wie wenn ich völlig nüchtern gewesen wäre.

Während ich mit der Schönen plauderte und dabei die Bissen vertilgte, die sie mir reichte, hörte ich eine Stimme sagen, ich säße auf dem Platze des Abbés, und eine andere Stimme antworten, der sei vor einer halben Stunde abgereist.

»Warum denn abgereist?« fragte eine dritte Stimme; »er hatte doch gesagt, er würde noch acht Tage bleiben.«

Hierauf wurde geflüstert und leise gesprochen; aber in der Abreise eines Abbés lag nichts, was mich hätte interessieren können, und ich fuhr daher fort zu essen und zu plaudern.

Ich befahl Leduc, der hinter meinem Stuhle stand, mir Champagner bringen zu lassen. Ich bot der Dame davon an; sie ging darauf ein, und nun verlangten alle Champagner. Da ich sah, daß meine Dame lustig wurde, tat ich schön mit ihr und fragte sie, ob sie immer bereit sei, ihre gewiß sehr zahlreichen Kurmacher herauszufordern.

»Ach, unter denen«, antwortete sie mir, »sind so viele, bei welchen es sich nicht der Mühe lohnt.«

Da sie hübsch und geistreich war, so fand ich Geschmack an ihr und suchte nur noch einen annehmbaren Vorwand, um meine Abreise zu verschieben; der Zufall kam mir zu Hilfe.

»Nun, da ist ja ein Platz grade zur rechten Zeit frei geworden!« sagte eine Dame zu meiner Schönen, als diese mit mir anstieß.

»Sehr zur rechten Zeit, denn mein Nachbar langweilte mich.«

»Hatte er keinen Appetit?« fragte ich.

»Bah! Spieler haben nur auf Geld Appetit!«

»Für gewöhnlich, ja, aber Sie besitzen eine außerordentliche Macht, denn ich habe bis heute noch nie zweimal an einem Tage zu Mittag gegessen.«

»Nun, Sie wollten sich eben zeigen; ich bin überzeugt, Sie werden nicht zu Abend essen.«

»Wetten wir!«

»Gern; wetten wir um das Abendessen.«

»Topp!«

Alle Gäste klatschten in die Hände, und meine Schöne errötete vor Freude. Ich befahl Leduc, dem Fuhrmanne zu sagen, daß ich erst am nächsten Tage weiterreisen würde.

»Meine Sache ist es, das Abendessen zu bestellen«, sagte die Dame.

»Ganz in der Ordnung: wer zahlt, bestellt. Meine Aufgabe ist es, Ihnen standzuhalten, und wenn ich ebenso viel esse wie Sie, habe ich gewonnen.«

»Ganz recht.«

Nach dem Essen verlangte der Herr, der mich zuerst angeredet hatte, Karten und legte eine kleine Pharaobank auf. Ich hatte dies erwartet. Er legte fünfundzwanzig Piemonteser Pistolen und etwas Silbergeld, um die Damen zu unterhalten, vor sich hin. Im ganzen war die Bank etwa vierzig Louis stark. Ich blieb während der ersten Taille Zuschauer und überzeugte mich, daß der Bankhalter sehr anständig spielte.

Wählend er zur zweiten Taille mischte, fragte mich die Schöne, warum ich nicht spiele. Ich flüsterte ihr ins Ohr, sie habe mir den Appetit auf Geld genommen. Sie belohnte dieses Kompliment mit einem anmutvollen Lächeln.

Nach dieser Erklärung glaubte ich spielen zu dürfen, zog vierzig Louis aus der Tasche und verlor sie in zwei Taillen. Ich stand auf, und als der Bankhalter mir sehr höflich sagte, er bedaure mein Unglück, sagte ich ihm, es habe nichts zu bedeuten, aber es sei mein Grundsatz niemals mehr als den Betrag der Bank zu riskieren. Irgend jemand fragte mich, ob ich einen gewissen Abbé Gilbert kenne.

»Ich habe einen Abbé dieses Namens in Paris gekannt,« antwortete ich; »er war ein Lyoner; er ist mir seine Ohren schuldig, und ich werde sie ihm abschneiden, wo ich ihn treffe!«

Der Frager antwortete nichts darauf, und alle schwiegen, wie wenn ich nichts gesagt hätte. Ich schloß daraus, daß der Abbé derselbe sein müsse, dessen Platz ich bei Tisch gehabt hatte. Ohne Zweifel hatte er mich ankommen sehen und sich aus dem Staube gemacht. Dieser Abbé war ein Gauner, der bei mir in der Petite-Pologne verkehrt hatte; ich hatte ihm einen Ring anvertraut, der mir fünftausend holländische Gulden gekostet hatte; am nächsten Tage war der Bursche verschwunden.

Als alle vom Tisch aufgestanden waren, fragte ich Leduc, ob ich eine gute Wohnung hätte.

»Nein,« sagte er, »wollen Sie Ihre Zimmer sehen?«

Er führte mich hundert Schritt vom Gasthof in ein großes Zimmer, dessen einziger Schmuck seine vier alten Wände waren. Alle anderen Zimmer waren besetzt. Ich beklagte mich lebhaft bei dem Wirt, der mir antwortete: »Das ist alles, was ich habe; aber ich werde ein gutes Bett, einen Tisch und Stühle hineinstellen lassen.« In Ermangelung eines besseren mußte ich mich wohl damit zufrieden geben.

»Du wirst in meinem Zimmer schlafen,« sagte ich zu Leduc; »versieh dich mit einem Bett und lasse mein Gepäck hineinschaffen.«

»Was sagen Sie zu Gilbert, gnädiger Herr?« fragte mein Spanier; »ich erkannte ihn erst im Augenblick, als er abfuhr, und hatte gute Lust, ihn am Kragen zu packen.«

»Das hättest du nur tun sollen.«

»Ein anderes Mal.«

Als ich mein großes Zimmer verließ, wurde ich von einem Herrn angesprochen, der mich sehr höflich grüßte und mir sagte, er wünsche sich Glück, mein Nachbar zu sein, und wolle mich gern begleiten, wenn ich den Brunnen zu sehen wünsche.

Ich nahm sein Anerbieten an. Er war lang wie eine Hopfenstange, etwa fünfzig Jahre alt, blond und mußte einmal schön gewesen sein. Seine übereifrige Höflichkeit hätte mir verdächtig sein müssen, aber ich brauchte jemanden zum Plaudern und um mir in unauffälliger Weise einige Auskünfte zu beschaffen, die ich für notwendig hielt. Unterwegs schilderte er mir die Herrschaften, die ich gesehen hatte, und ich erfuhr, daß niemand von ihnen der Bäder wegen in Aix sei.

»Ich bin«, sagte er, »der einzige, der sie zur Kur gebraucht, denn ich bin brustkrank; ich werde von Tag zu Tag magerer, und wenn ich kein Heilmittel gegen meine Leiden finde, so fühle ich, daß ich’s nicht lange mehr machen werde.«

»Die Herren sind also alle nur hier, um sich zu amüsieren?«

»Und um zu spielen; denn es sind lauter gewerbsmäßige Spieler.«

»Sind es Franzosen?«

»Es sind lauter Piemontesen oder Savoyarden; ich bin der einzige Franzose hier.«

»Aus welcher Gegend Frankreichs sind Sie?«

»Ich bin Lothringer; mein Vater, der schon achtzig Jahre alt ist, ist der Marquis Desarmoises. Sein langes Leben bringt mich zur Verzweiflung, denn da ich mich gegen seinen Willen verheiratete, hat er mich enterbt. Da ich jedoch sein einziger Sohn bin, so werde ich, ihm zum Trotz, sein Erbe sein, wenn ich ihn überlebe. Ich habe mein Haus in Lyon, aber ich bin niemals dort, meiner ältesten Tochter wegen, in die ich unglücklicherweise verliebt bin; meine Frau überwacht uns auf eine Weise, die mir jede Hoffnung benimmt.«

»Das ist ja sehr scherzhaft; Sie glauben also, daß sie ohne diese Überwachung Mitleid mit ihrem verliebten Vater haben würde.«

»Das könnte wohl sein, denn sie liebt mich sehr und hat ein ausgezeichnetes Herz.«

Dieser Mensch, der, ohne mich zu kennen, so aufrichtig zu mir sprach, dachte nicht im entferntesten, daß seine Verruchtheit mir Abscheu einflößen könnte, sondern glaubte mir wahrscheinlich eine große Ehre anzutun. Ich hörte ihm zu und bedachte, daß vielleicht seine Verderbtheit mit Gutmütigkeit verbunden sein könnte und daß seine Schwäche ihn, wenn auch nicht entschuldigen, so doch einiger Nachsicht wert machen könnte. Da ich ihn jedoch besser kennen zu lernen wünschte, so sagte ich zu ihm: »Aber trotz der Strenge Ihres Vaters leben Sie doch ganz behaglich?«

»Im Gegenteil, ich lebe sehr schlecht. Ich beziehe vom Ministerium des Auswärtigen eine Pension als früherer Kurier; diese überlasse ich ganz und gar meiner Frau. Ich selber schlage mich durch, indem ich stets auf Reisen bin. Ich spiele ausgezeichnet Tricktrack und alle Gesellschaftsspiele; ich gewinne öfter, als ich verliere, und davon lebe ich.«

»Aber ist denn das, was Sie mir erzählen, nicht allen hier Anwesenden bekannt?«

»Jedermann weiß es; warum sollte ich denn auch ein Geheimnis daraus machen? Ich bin ein Mann von Ehre; ich tue keinem Menschen was zu Leide, und außerdem führe ich eine gefährliche Klinge.«

»Das alles glaube ich wohl, aber gestatten Sie mir die Frage, ob Sie es erlauben würden, daß Ihr Fräulein Tochter einen Liebhaber hätte?«

»Ich würde mich dem nicht widersetzen, aber meine Frau ist fromm.«

»Ist Ihre Tochter hübsch?«

»Sehr hübsch; wenn Sie nach Lyon gehen, können Sie sie sehen; ich werde Ihnen einen Brief für sie mitgeben.«

»Ich danke Ihnen; ich gehe nach Italien. Könnten Sie mir sagen, wer der Herr ist, der die Bank gehalten hat?«

»Das ist der berühmte Parcalier, Marquis de Prié seit dem Tode seines Vaters, den Sie in Venedig, wo er Gesandter war, kennen gelernt haben können. Der Herr, der Sie fragte, ob Sie den Abbé Gilbert kennen, ist der Chevalier Zeroli, der Gatte der Dame, die Sie zum Abendessen eingeladen hat. Die anderen sind Grafen, Marquis, Barone, wie man sie überall findet, teils Piemontesen, teils Savoyarden, zwei oder drei sind Kaufmannssöhne und die Damen sind alle entweder Verwandte oder Freundinnen von diesem oder jenem, übrigens sind sie alle Spieler von Beruf und sehr gewandte Leute. Wenn ein Fremder hier durchkommt, wissen sie ihm Honig um den Mund zu schmieren, und wenn er spielt, wird er ihnen schwerlich entrinnen, denn sie stecken alle unter einer Decke wie Spitzbuben auf dem Jahrmarkt. Sie glauben Sie schon in der Schlinge zu haben; sehen Sie sich vor!«

Gegen Abend kehrten wir in den Gasthof zurück und fanden alle Spieler bei Gesellschaftsspielen. Mein Begleiter machte eine Partie Puff mit einem Grafen Skarnafisch. Da ich keine Partie hatte, bot der Chevalier Zeroli mir eine Partie Pharao zu zweien an, für jeden eine Taille, und um vierzig Zechinen, bis sie alle wären. Ich nahm an und hatte diese Summe gerade eben verloren, als man zu Tische rief. Mein Verlust ärgerte mich nicht, und da die Dame meinen Appetit ebenso vortrefflich fand wie meine Laune, so bezahlte sie sehr gerne die Wette. Während des Essens erhaschte ich einige verstohlene Blicke von ihr, die mich erraten ließen, daß sie mich anführen wollte. Gegen die Liebe glaubte ich gewappnet zu sein, aber ich mußte das Glück fürchten, das dem Pharaobankhalter ohnehin hold ist, und mußte es um so mehr fürchten, als es mir bereits ungünstig gewesen war. Ich hätte abreisen sollen; aber dazu besaß ich nicht die Kraft. So konnte ich denn nichts weiter tun, als mir große Vorsicht und Selbstbeherrschung vorzunehmen. Da ich große Summen in Papier und genug bares Geld besaß, so war ein vorsichtiges System nicht schwierig einzuhalten.

Gleich nach dem Abendessen legte der Marquis de Prié eine Bank von ungefähr dreihundert Zechinen auf. An der Armseligkeit des Betrages erkannte ich, daß ich viel verlieren und wenig verdienen konnte; denn offenbar hätte er eine Bank von tausend Zechinen aufgelegt, wenn er sie gehabt hätte. Ich legte fünfzig Lisbonninen vor mich hin und machte die bescheidene Anzeige, daß ich zu Bett gehen würde, wenn ich diese verloren hätte. In der Mitte der dritten Taille sprengte ich die Bank. »Ich komme noch für zweihundert Louis auf«, sagte der Marquis zu mir.

»Ich würde gerne annehmen,« antwortete ich, »wenn ich nicht morgen mit Tagesanbruch abzureisen gedächte.« Mit diesen Worten ging ich hinaus.

Im Augenblick, wo ich zu Bett gehen wollte, kam Desarmoise und bat mich, ihm zwölf Louis zu leihen. Ich war auf etwas Ähnliches gefaßt gewesen und zählte sie ihm auf. Er umarmte mich voller Dankbarkeit und sagte mir, Madame Zeroli habe sich verpflichtet, mich mindestens noch für einen Tag festzuhalten. Ich lächelte, rief Leduc und fragte ihn, ob er dem Kutscher Bescheid gesagt hätte. Er antwortete mir, um fünf werde er vor der Tür sein.

»Gut,« sagte Desarmoises; »aber ich möchte wetten, Sie werden nicht abreisen.«

Er ging; ich legte mich zu Bett und lachte über seine Prophezeiung.

Am anderen Morgen um fünf kam der Fuhrmann und sagte mir, eines seiner Pferde sei krank, und es sei ihm unmöglich weiterzufahren. Ich sah, daß Desarmoises ganz richtig eine Machenschaft geahnt hatte, aber ich lachte nur darüber.

Ich warf den Fuhrmann mit groben Worten hinaus und schickte Leduc nach dem Gasthof, um Postpferde zu verlangen. Der Wirt kam und sagte mir, er habe keine Pferde mehr und brauche den ganzen Vormittag, um welche aufzutreiben, denn der Marquis de Prié habe um ein Uhr nachts abreisen wollen und ihm den ganzen Stall leer gemacht. Ich sagte ihm, ich würde also in Aix noch zu Mittag speisen, rechnete aber auf sein Wort, daß ich um zwei Uhr abreisen könnte. Von meinem Zimmer ging ich in den Stall und sah den Fuhrmann weinend neben einem von seinen Pferden stehen, das auf der Streu ausgestreckt lag. Ich glaubte, er hätte wirklich einen Unfall gehabt, tröstete den armen Teufel und gab ihm Geld, wie wenn er die ganze Fahrt gemacht hätte, indem ich ihm sagte, ich brauchte ihn nicht mehr.

Dann ging ich nach dem Brunnen und da hatte ich eine ganz romanhafte Begegnung, die den Leser in Erstaunen setzen wird; aber was ich erzähle, ist der strengsten Wahrheit gemäß.

Drittes Kapitel


Graf Tiretta aus Treviso. – Abbé Ceste, – Die angebliche Nichte des Papstes, Gräfin Lambertini, – Tiretra bekommt einen Spitznamen. – Tante und Nichte. – Gespräch am Kaminfeuer. – Hinrichtung des Königsmörders Damiens, – Tiretas Irrtum, – Zorn der Frau *** – Versöhnung. – Ich bin glücklich mit Fräulein de la Meure. – Sylvias Tochter. – Fräulein de la Meure verheiratet sich, – Meine Eifersucht und verzweifelter Entschluß. – Glücklicher Umschlag.

Zu Anfang März des Jahres 1757 erhielt ich einen Brief von meiner teuren Frau Manzoni; er wurde mir von einem jungen Mann von gutem Aussehen, edlem und freundlichem Gesicht überbracht, den ich an seinem Auftreten sofort als Venetianer erkannte. Es war der junge Graf Tiretta aus Treviso, den Frau Manzoni mir empfahl, indem sie mir schrieb, er werde mir seine Geschichte erzählen, und ich könne mich darauf verlassen, daß er aufrichtig sein würde. Die verehrte Dame schickte mir durch den jungen Mann eine kleine Kiste, worin sich alle meine Papiere befanden; denn sie war überzeugt, daß sie mich nicht mehr wiedersehen könne.

Ich empfing Tiretta aufs beste und sagte ihm, er hätte mir keine bessere Empfehlung bringen können, als die einer Dame, der ich stets in Freundschaft und Dankbarkeit zugetan wäre.

»Und nun, Herr Graf, da Sie mir gegenüber vollkommen unbefangen sein können, wollen Sie mir sagen, wodurch ich ihnen nützlich sein kann.«

»Ich brauche Ihre Freundschaft und vielleicht Ihre Börse, oder zum mindesten Ihre Protektion.«

»Auf meine Freundschaft und Protektion können Sie rechnen, und meine Börse steht zu Ihrer Verfügung.«

Tiretta sprach mir seine Dankbarkeit aus und fuhr fort: »Vor einem Jahre vertraute der Magistrat meiner Vaterstadt mir ein Amt an, das für mein Alter gefährlich war. Man machte mich und zwei junge Edelleute von gleichem Alter zu Verwaltern des Leihhauses. Die Freuden des Karnevals verleiteten uns zu großen Ausgaben; wir hatten kein Geld und nahmen welches aus der Kasse, in der Hoffnung, das Geld vor der Rechnungsabnahme wieder hineinlegen zu können. Unsere Hoffnung war vergebens.

Die Väter meiner beiden Kameraden waren reicher als der meinige; sie retteten sie, indem sie sofort den von ihnen genommenen Teil bezahlten. Da ich nicht zahlen konnte, beschloß ich vor der mich erwartenden Schande und Strafe zu fliehen.

Frau Manzoni hat mir geraten, mich Ihnen in die Arme zu werfen, und hat mir eine kleine Kiste mitgegeben, die ich Ihnen noch heute zustellen werde. Ich bin erst gestern in Paris angekommen und besitze nur zwei Louis, etwas Wäsche und den Anzug, den ich auf dem Leibe trage. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, kerngesund und fest entschlossen, alles zu machen, um als anständiger Mensch leben zu können. Leider verstehe ich nichts; denn ich habe keine meiner Gaben in einer Weise ausgebildet, daß ich Nutzen daraus ziehen könnte. Ich spiele die Flöte, aber nur als gewöhnlicher Liebhaber. Ich kenne nur meine Muttersprache und besitze keine wissenschaftliche Bildung. Was glauben Sie unter diesen Umständen mit mir anfangen zu können? Ich muß noch hinzufügen, daß ich nicht hoffen darf, von irgend einem Menschen die geringste Hilfe zu empfangen, am allerwenigsten von meinem Vater; denn um die Ehre der Familie zu retten, wird er über mein Erbteil verfügen, und ich muß unwiderruflich auf dieses verzichten.«

Die Erzählung des Grafen hatte mich natürlich überrascht, aber seine Aufrichtigkeit hatte mir gefallen; übrigens war ich entschlossen, der Empfehlung der Frau Manzoni Folge zu geben, und ich fühlte mich außerdem geneigt, einem Landsmann nützlich zu sein, der im Grunde nur eine schwere Unbesonnenheit begangen hatte.

»Lassen Sie zunächst Ihr Gepäck in das Zimmer neben dem meinigen bringen und lassen Sie sich etwas zu essen und zu trinken geben. Ich trage alle Kosten, bis ich etwas Passendes für Sie finde, über das Geschäftliche sprechen wir morgen; denn da ich niemals zu Hause esse, komme ich gewöhnlich spät heim, und ich glaube kaum, daß ich heute noch einmal die Ehre haben werde, Sie zu sehen. Für den Augenblick bitte ich Sie, mich zu entschuldigen, denn ich muß arbeiten; sollten Sie spazieren gehen wollen, so hüten Sie sich vor schlechten Bekanntschaften; vor allen Dingen vertrauen Sie sich keinem Menschen an. Sie lieben wohl das Spiel?«

»Ich verabscheue es; denn es ist zur Hälfte an meinem Unglück schuld.«

»Und den Rest haben die Weiber gemacht, nicht wahr?«

»Oh! da haben Sie ganz recht geraten: die Weiber!«

»Tragen Sie es ihnen nicht nach, sondern lassen Sie sie für das bezahlen, was sie Ihnen zuleide getan haben.«

»Recht gern; wenn ich nur solche Frauen finde.«

»Wenn Sie in dieser Hinsicht nicht allzu zartfühlend sind, können Sie in Paris leicht Ihr Glück machen.«

»Was nennen Sie zartfühlend? Ich könnte niemals den gefälligen Freund des Fürsten machen.«

»Wer spricht denn davon? Unter einem zartfühlenden Menschen verstehe ich jemanden, der nicht ohne Liebe zärtlich sein kann, einen, der…«

»Ach so! In dieser Hinsicht ist das Zartgefühl bei mir nur Nebensache. Ich weiß, daß eine alte Schachtel mit goldenen Augen mich jederzeit zärtlich wie einen Seladon finden wird.«

»Bravo! Dann wird es sich machen.«

»Ich wünsche es.«

»Werden Sie zum Botschafter gehen?«

»Gott soll mich behüten! Was sollte ich bei ihm anfangen? Ihm meine Geschichte erzählen? Auf die kann ich nicht stolz sein. Außerdem könnte er sich’s vielleicht einfallen lassen, mir Scherereien zu bereiten.«

»Das könnte er auch tun, wenn Sie nicht zu ihm gingen; aber ich glaube nicht, daß er sich um Sie bekümmern wird.«

»Das ist die einzige Gnade, die ich von ihm wünsche.«

»Alle Welt trägt jetzt in Paris Trauer, mein lieber Graf. Alle gehen Sie zu meinem Schneider hinauf, der im zweiten Stock wohnt, und lassen Sie sich einen schwarzen Anzug machen. Sagen Sie ihm, daß ich Sie schicke, und daß Sie bis morgen bedient sein wollen. Leben Sie wohl.«

Gleich darauf ging ich aus; erst gegen Mitternacht ging ich nach Hause und fand in meinem Zimmer die mir von Frau Manzoni geschickte Kiste, worin sich meine Manuskripte befanden und alle Porträts, die mir teuer waren; denn ich habe niemals eine Tabaksdose verpfändet, ohne vorher das Bild herauszunehmen.

Am andern Morgen stellt sich mein Tiretta ganz in Schwarz gekleidet mir vor und spricht mir seine Genugtuung über sein verändertes Aussehen aus.

»Sehen Sie, in Paris ist man flink.«

»In Treviso hätte ich mindestens acht Tage auf den Anzug warten müssen.«

»Treviso, mein Lieber, ist nicht Paris.«

In diesem Augenblick meldet man mir den Abbé de la Coste. Ich erinnerte mich dieses Namens nicht, befahl jedoch, ihn eintreten zu lassen, und sah jenes Priesterchen, mit dem ich in Versailles zu Mittag gegessen hatte, als ich beim Abbé de la Ville gewesen war.

Nachdem wir die üblichen Höflichkeiten ausgetauscht hatten, beglückwünschte er mich zum Erfolge meiner Lotterie. Hierauf sagte er mir, er habe gehört, daß ich im Hotel de Cologne für mehr als sechstausend Franken Lose abgegeben hätte.

»Allerdings; ich trage stets für mehrere tausend Franken Lose in meiner Brieftasche.«

»Nun, so werde ich ebenfalls für tausend Taler nehmen.«

»Sobald es Ihnen beliebt. Wenn Sie in meinem Bureau vorsprechen wollen, können Sie sich die Nummern aussuchen.«

»Daraus mache ich mir nichts; geben Sie selber mir Lose, die Sie gerade hier haben.«

»Sehr gerne; Sie können sich unter diesen hier welche aussuchen.«

Er wählte Lose für dreitausend Franken und bat mich dann um Papier, um mir eine Anweisung zu schreiben.

»Wozu eine Anweisung? Davon kann nicht die Rede sein, Herr Abbé; ich gebe meine Lose nur gegen bares Geld.«

»Aber Sie können sich darauf verlassen, daß Sie morgen den Betrag haben werden.«

»Davon bin ich vollkommen überzeugt; aber Sie müssen ebenso fest überzeugt sein, daß Sie morgen die Lose haben werden. Diese sind in meinem Bureau eingetragen, ich kann also nicht anders handeln.«

»Geben Sie mir welche, die nicht eingetragen sind.«

»Unmöglich; solche habe ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich sie, wenn sie gewännen, aus meiner eigenen Tasche bezahlen müßte, und dazu habe ich nicht die geringste Lust.«

»Ich glaube. Sie könnten es riskieren.«

»Ich glaube doch wohl nicht. Es würde auf eine Gaunerei hinauslaufen.«

Der Herr Abbé merkte, daß er bei mir nichts erreichen konnte; er wandte sich nun an Tiretta, sprach mit ihm schlechtes Italienisch und schlug ihm zuletzt vor, ihn einer Frau von Lambertini, der Witwe eines Neffen des Papstes, vorzustellen. Der Name, die Verwandtschaft und das plötzliche Anerbieten des Abbé machten mich neugierig; ich sagte ihm, mein Freund wäre einverstanden und ich würde die Ehre haben, mit von der Partie zu sein. Wir fuhren hin.

Vor der Tür der angeblichen Nichte des heiligen Vaters in der Rue Christine stiegen wir aus und gingen hinauf. Ich sah eine Frau, der ich trotz ihrer jugendlichen Haltung unbedenklich ihre vierzig Jahre gab; sie war ein bißchen mager, hatte schöne schwarze Augen eine schöne Haut, war lebhaft, übermütig, sehr lachlustig und konnte recht wohl noch einen Liebhaber neugierig auf sie machen. Ich war schnell mit ihr vertraut, brachte sie zum Schwatzen und fand, daß sie weder Witwe noch eine Nichte des Papstes war. Sie war aus Modena und eine echte Abenteuerin von Beruf und Neigung. Diese Entdeckung zeigte mir zur Genüge, wes Geistes Kind der Abbé war, der uns bei ihr eingeführt hatte.

Ich glaubte in den Augen meines Trevisaners zu lesen, daß er neugierig auf die Schöne war. Ich lehnte daher ab, als sie uns zum Essen einlud, indem ich sagte, ich sei bereits gebunden; Tiretta aber, der meine Gedanken erraten hatte, nahm die Einladung an. Kurz darauf entfernte ich mich mit dem Abbé, den ich am Quai de la Ferraille absetzte, und fuhr zu Casalbigi, bei dem ich mich zum Essen einlud.

Nach Tisch nahm Casalbigi mich auf die Seite und sagte mir, Herr du Vernay habe ihn gebeten, mich darauf aufmerksam zu machen, daß es mir nicht erlaubt wäre, Lose für meine eigene Rechnung auszugeben.

»Herr du Vernay hält mich also für einen Dummkopf oder für einen Betrüger! Da ich weder das eine noch das andere bin, werde ich mich bei Herrn de Boulogne darüber beschweren.«

»Das wäre unrecht von Ihnen; denn es ist doch keine Beleidigung, wenn man Sie auf etwas aufmerksam macht.«

»Sie selber, mein Herr, beleidigen mich, indem Sie mir eine derartige Warnung geben; aber verlassen Sie sich darauf, dies wird nicht zum zweitenmal geschehen.«

Casalbigi gab sich die größte Mühe, mich zu beruhigen, und es gelang ihm schließlich, mich zu überreden, mit ihm zu Herrn du Vernay zu gehen. Der gute alte Herr entschuldigte sich bei mir, als er meinen Zorn sah, und sagte mir, ein Abbé namens de la Coste habe ihm mitgeteilt, daß ich mir solche Eigenmächtigkeit erlaube. Ich war empört und erzählte sofort den Vorfall von demselben Morgen, wodurch Herr du Vernay sich ein Urteil über den Charakter dieses Menschen bilden konnte. Ich habe den Abbé nicht wieder gesehen, sei es, daß er von meiner Entdeckung Wind bekommen hatte, sei es, daß ein glücklicher Zufall ihn davor bewahrte, mir zu begegnen; aber ich habe erfahren, daß er drei Jahre darauf zu lebenslänglicher Galerenstrafe verurteilt wurde, weil er Lose einer Lotterie von Trévaux verkauft hatte, die niemals existiert hatte.

Am andern Morgen suchte Tiretta mich auf und sagte mir, er komme erst gerade nach Hause.

»Sie haben also die Nacht hindurch gebummelt, Herr Leichtfuß?«

»Ja, die Gesellschaft der Päpstin hat mich gefesselt, und ich habe die ganze Nacht bei ihr zugebracht.«

»Sie haben nicht befürchtet, ihr lästig zu fallen?«

»Ich glaube, sie war im Gegenteil sehr befriedigt von dem Vergnügen, das meine Unterhaltung ihr bereitet hat.«

»Ich stelle mir vor, Sie haben Ihre ganze Beredsamkeit aufbieten müssen.«

»Sie ist mit meiner Beredsamkeit so zufrieden, daß sie mich gebeten hat, eine Wohnung bei ihr anzunehmen und ihr zu erlauben, daß sie mich dem Herrn le Noir, der, wie ich glaube, ihr Liebhaber ist, als ihren Vetter vorstelle.«

»Sie werden also ein Trio bilden; werden Sie aber auch untereinander harmonieren?«

»Das ist ihre Sache. Sie behauptet, der Herr werde mir eine gute Anstellung bei der Steuerverwaltung verschaffen.«

»Haben Sie angenommen?«

»Ich habe das Anerbieten nicht abgelehnt, aber ich habe ihr gesagt, ich könne keinen Entschluß fassen, ohne vorher Sie, meinen Freund, um Rat zu fragen. Sie beschwor mich, Sie einzuladen, am Sonntag bei ihr zu speisen.«

»Ich werde mit Vergnügen kommen.«

Wirklich ging ich am Sonntag mit meinem Freunde zu ihr, und sobald die tolle Päpstin uns sah, fiel sie Tiretta um den Hals und nannte ihn ihren lieben Grafen Sixfois; diesen Spitznamen behielt er während seines ganzen Pariser Aufenthaltes.

»Was hat meinem Freunde diesen schönen Titel verschafft, meine Gnädigste?«

»Seine erotischen Heldentaten! Er ist Herr eines Lehens, wie es in Frankreich wenige gibt, und ich bin stolz darauf, dessen Herrin zu sein.«

»Ich lobe Ihren edlen Ehrgeiz.«

Sie erzählte mir nun ihre Liebestaten mit einer Offenheit, die mir zeigte, daß die angebliche Nichte des Papstes gänzlich vorurteilsfrei war. Dann sagte sie mir, sie wolle ihren Vetter bei sich wohnen lassen und habe bereits die Einwilligung des Herrn le Noir, der ihr gesagt habe, daß er über diese Anordnung sehr erfreut sei.

»Herr le Noir,« so schloß die schöne Lambertini, »wird uns heute nach dem Essen besuchen, und ich brenne vor Ungeduld, ihn dem Herrn Grafen Sixfois vorzustellen.«

Nach dem Essen sprach sie immerzu von der Rüstigkeit meines Landsmanns, und es kam so weit, daß er, ohne sich zu genieren und vielleicht sogar recht zufrieden, mich zum Zeugen seiner Tapferkeit zu machen, sie zum Schweigen brachte. Ich gestehe, daß ich bei diesem Anblick nicht das geringste verspürte; da ich jedoch nicht umhin konnte, die athletische Körperbildung des Grafen zu sehen, so erkannte ich, daß er sicher sein konnte, überall sein Glück zu machen, wo er Frauen von unabhängigem Vermögen finden würde.

Gegen drei Uhr sah ich zwei Damen in reiferen Jahren erscheinen, denen die Lambertini mit Eifer ihren Grafen Sixfois vorstellte. Erstaunt über diese Benennung erkundigten sie sich nach der Bedeutung derselben, und nachdem die Heldin ihnen etwas abseits die Sache erklärt hatte, wurde mein Freund in ihren Augen eine sehr interessante Erscheinung.

»Unglaublich«, sagten die Matronen, den Grafen beäugelnd, und Tiretta schien ihnen mit seinen Blicken zu antworten: »Versuchen Sie’s nur, meine Damen.«

Bald darauf hielt ein Fiaker vor der Tür und eine ältere dicke Dame mit einem außerordentlich hübschen jungen Mädchen trat ein. Ein blasser Herr in schwarzem Anzug und runder Perücke folgte. Nach zärtlichem Umarmen stellte die Nichte des Papstes ihren Vetter, den Grafen Sixfois, vor. Der Name schien die alte Frau zu verwundern, aber die Lambertini ersparte sich diesmal eine Erklärung. Nur fand man es merkwürdig, daß ein Mann, der kein Wort französisch konnte, sich in Paris aufzuhalten wagte, und noch mehr, daß er trotz seiner Unkenntnis der Sprache mit der größten Zuversicht unaufhörlich kauderwelschte, worüber man sich um so mehr belustigte, da ihn kein Mensch verstand.

Nach einer kurzen gleichgültigen Unterhaltung schlug die angebliche Nichte des Papstes eine Partie Brelan vor. Sie bot mir an, mich zu beteiligen; da ich mich jedoch entschuldigte, bestand sie nicht weiter darauf, und verlangte nur, daß ihr lieber Vetter neben ihr säße und mit ihr Halbpart spielte. »Er kennt zwar die Karten nicht,« sagte sie, »aber das macht nichts; er wird es lernen, ich übernehme seine Erziehung.«

Da die junge Dame, deren Schönheit mir aufgefallen war, vom Spiel nichts verstand, bot ich ihr einen Stuhl vor dem Kaminfeuer an, indem ich um die Ehre bat, ihr Gesellschaft leisten zu dürfen. Sie nahm den Stuhl an, und die alte Dame, mit der sie gekommen war, sagte mir lachend, ich würde schwerlich einen geeigneten Gesprächsstoff für ihre Nichte finden. Dann setzte sie sehr höflich hinzu: »Ich zähle auf Ihre Liebenswürdigkeit und hoffe, daß Sie sie entschuldigen werden. Sie ist erst vor einem Monat aus dem Kloster gekommen.«

Ich versicherte ihr, es würde nach meiner Meinung wohl nicht schwierig sein, sich mit einer so liebenswürdigen Dame zu unterhalten; inzwischen begann das Spiel, und ich nahm neben der hübschen Nichte Platz.

Seit einigen Minuten saß ich neben ihr, ohne zu sprechen und nur ihre Schönheit bewundernd, als sie mich fragte, wer der schöne Herr wäre, der so komisch spräche,

»Es ist ein Kavalier aus meiner Heimat, der wegen eines Ehrenhandels seine Vaterstadt verlassen hat.«

»Er spricht eine schnurrige Sprache.«

»Das ist wahr; aber in Italien wird die französische Sprache wenig gepflegt. Hier wird er sie bald lernen, und dann wird man sich nicht mehr über ihn lustig machen. Es tut mir leid, ihn in dieses Haus geführt zu haben, denn in weniger als vierundzwanzig Stunden hat man ihn mir verdorben.«

»Wieso denn verdorben?«

»Das wage ich Ihnen nicht zu sagen; denn vielleicht möchte es Ihrer Tante nicht recht sein.«

»Ich glaube kaum, daß ich meiner Tante etwas wiedersagen werde; aber vielleicht finden Sie meine Frage indiskret.«

»O nein, mein gnädiges Fräulein, durchaus nicht! Da Sie es wünschen, so werde ich Ihnen aus der Sache kein Geheimnis mehr machen. Frau Lambertini hat ihn nach ihrem Geschmack gefunden; sie hat die Nacht mit ihm verbracht und hat ihm zum Zeichen der Befriedigung, die er ihr bereitet hat, den lächerlichen Spitznamen Graf Sixfois verliehen. Das ist die Geschichte. Ich ärgere mich darüber, denn mein Freund war bisher kein Wüstling.«

Man wird mit Recht erstaunt sein, daß ich es wagte, in solcher Weise mit einem jungen Mädchen zu sprechen, das kaum das Kloster verlassen hatte; aber ich selber wäre noch mehr erstaunt gewesen, ^) auch nur an die Möglichkeit zu denken, daß ich bei einer Lambertini ein anständiges Mädchen finden könnte. Ich heftete meine Augen auf die meiner schönen Gesprächspartnerin und sah ihr hübsches Gesicht sich mit der Röte der Scham überziehen; aber auch dieses Anzeichen erschien mir noch zweifelhaft. Man denke sich meine Überraschung, als ich zwei Minuten darauf sie fragen hörte: »Aber mein Herr, was hat denn der Name Graf Sixfois damit zu tun, daß er bei der gnädigen Frau geschlafen hat?«

»Gnädiges Fräulein, die Sache ist ganz einfach. Mein Freund hat in einer einzigen Nacht eine Leistung vollbracht, wozu ein Ehemann bei seiner Frau oft sechs Wochen nötig hat.«

»Und Sie halten mich für dumm genug, daß ich unser Gespräch meiner Tante hinterbringen würde; glauben Sie nur das nicht!«

»Aber ich habe mich noch über etwas anderes geärgert.«

»Sagen Sie es mir; aber warten Sie einen Augenblick.«

Man kann sich wohl denken, was die reizende Nichte nötigte, sich zu entfernen. Als sie wieder hereinkam, stellte sie sich hinter den Stuhl ihrer Tante und sah Tiretta scharf an. Mit flammenden Augen kam sie wieder zu mir, setzte sich auf ihren Stuhl und sagte: »Nun, was ist das andere, worüber Sie sich geärgert haben?«

»Darf ich es wagen, Ihnen alles zu sagen?«

»Sie haben mir soviel gesagt, daß Sie, wie mir scheint, keine Bedenken mehr zu haben brauchen.«

»Nun, so will ich Ihnen denn sagen: er hat heute gleich nach dem Essen in meiner Gegenwart sie…«

»Wenn Ihnen das mißfallen hat, so sind Sie offenbar eifersüchtig auf ihn.«

»Ganz und gar nicht! Aber ich habe mich beschämt gefühlt und zwar wegen eines Umstandes, den ich Ihnen nicht zu erklären wage.«

»Ich glaube, Sie machen sich mit Ihren ,»ich wage nicht« über mich lustig.«

»Gott soll mich behüten, nein, mein Fräulein! So will ich Ihnen also sagen: es hat mich beschämt, daß Frau Lambertini mich nötigte, mit eigenen Augen zu bemerken, daß mein Freund um zwei Zoll größer ist als ich.«

»Oh, da hat man Ihnen aber etwas weisgemacht, denn Sie sind größer als Ihr Freund.«

»Es handelt sich nicht um diese Größe, mein gnädiges Fräulein, sondern eine andere, die Sie sich wohl denken können; und in dieser Beziehung ist mein Freund wahrhaft ungeheuerlich.«

»Ungeheuerlich! Aber was tut denn das Ihnen? Ist es nicht besser, wenn man nicht ungeheuerlich ist?«

»Da haben Sie gewiß recht; aber gewisse Frauen, denen Sie nicht ähneln, lieben in dieser Hinsicht das Ungeheuerliche.«

»Dies finde ich lächerlich, sogar verrückt; oder ich müßte denn keine klare Vorstellung von der Sache haben, um mir eine Größe denken zu können, die man ungeheuerlich nennen kann. Ich finde es eigentümlich, daß so etwas Sie hat beschämen können.«

»Sie hätten es nicht geglaubt, als Sie mich sahen?«

»Als ich bei meinem Eintritt Sie sah, dachte ich natürlich nicht an dergleichen; übrigens sehen Sie so aus, als ob Sie sehr regelmäßig gebildet wären; wenn Sie jedoch wissen, daß Sie es nicht sind, so beklage ich Sie.«

»Es wäre für mich eine Demütigung, Sie hierüber im Zweifel zu belassen: bitte sehen Sie und urteilen Sie selber!«

»Aber jetzt sind Sie selber das Ungeheuer! Sie machen mir Angst!«

Bei diesen Worten schoß ihr das Feuer glühend ins Gesicht; sie stand auf und trat hinter den Stuhl ihrer Tante. Ich rührte mich niht, denn ich war sicher, daß sie bald wiederkommen würde. Für dumm oder auch nur unschuldig konnte ich sie durchaus nicht halten. Ich nahm an, daß sie sich nur als unverdorben aufspielen wollte, übrigens war ich entzückt, den Augenblick so geschickt benutzt zu haben. Ich hatte sie dafür bestraft, daß sie mich hatte hinters Licht führen wollen; und da ich sie reizend fand, so freute ich mich, daß die Strafe ihr unmöglich hatte unangenehm sein können. An ihrem Geist konnte ich nicht wohl zweifeln, denn unser ganzes Gespräch war von ihr gelenkt worden, und meine Worte und Handlungen waren nur eine Folge ihrer beharrlichen Fragen gewesen.

Sie stand noch keine fünf Minuten hinter dem Stuhl der dicken Tante, da verlor diese ein Brelan. Da sie doch irgend jemand dafür verantwortlich machen mußte, so sagte sie: »Geh‘ doch, kleines Dummchen, du bringst nur Unglück; außerdem ist es unartig von dir, den Herrn, der so freundlich ist, dir Gesellschaft zu leisten, allein zu lassen.«

Die liebenswürdige Nichte antwortete nichts; aber sie kam lächelnd zu mir zurück und sagte: »Wenn meine Tante wüßte was Sie getan haben, hätte sie mich nicht der Unhöflichkeit beschuldigt.«

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut. Ich möchte Ihnen meine Reue darüber beweisen; aber ich könnte es nur dadurch tun, daß ich mich entfernte. Wenn ich nun dies täte, würden Sie es mir übelnehmen?«

»Wenn Sie gehen, wird meine Tante sagen, ich sei ein ganz dummes Ding, ich langweile Sie.«

»Wünschen Sie also, daß ich bleibe?«

»Gehen können Sie nicht.«

»Sie hatten also bis zu diesem Augenblick keine klare Vorstellung von dem, was ich Ihnen gezeigt habe?«

»Ich hatte nur einen verworrenen Begriff davon. Erst vor einem Monat hat meine Tante mich aus dem Kloster genommen wo ich seit meinem siebenten Jahre war.«

»Und wie alt sind Sie jetzt?«

»Siebzehn. Man wollte mich überreden, den Schleier zu nehmen aber ich fühlte durchaus keine Lust zur Klostermuckerei und widersetzte mich.«

»Sind Sie mir böse?«

»Ich sollte es sein, aber ich erkenne an, daß es meine eigene Schuld ist, und bitte Sie nur, verschwiegen zu sein.«

»Darauf können Sie sich verlassen; wenn ich es nicht wäre würde ich selber zuerst darunter leiden.«

»Sie haben mir eine Lehre gegeben, die ich mir für die Zutunft merken werde. Aber so hören Sie doch auf oder ich gehe.«

»Nein, bleiben Sie; es ist schon zu Ende.«

Ich hatte ihre hübsche Hand ergriffen und sie hatte sie mir überlassen, ohne sich etwas dabei zu denken. Als sie sie zurückzog, war sie ganz erstaunt, daß sie ihr Taschentuch gebrauchen mußte.

»Was ist denn das?«

»Es ist das kostbarste Gut beider Geschlechter. Es ist das, was ewig die Welt erneut.«

»Ich verstehe. Sie sind ein ausgezeichneter Lehrer; bei Ihnen machen die Schüler schnelle Fortschritte, und Sie geben Ihnen Unterricht mit einem wahren Schulmelstergesicht. Muß ich Ihnen für Ihren Eifer danken?«

»Nein, aber Sie müssen mir nicht böse sein wegen allem Vorgefallenen. Ich würde es niemals gewagt haben, so weit zu gehen, sofern mich nicht schon bei Ihrem ersten Anblick das Gefühl überwältigt hätte.«

»Soll ich hierin eine Liebeserklärung sehen?«

»Ja, göttliche Freundin; sie ist kühn, aber aufrichtig. Wenn sie nicht gleichzeitig dem Herzen und einem unüberwindlichen Gefühl entspränge, wäre ich Ihrer und meiner selbst unwürdig.«

»Kann ich glauben, was Sie sagen?«

»Ja, mit vollem Vertrauen, aber sagen Sie mir, ob ich hoffen kann, daß Sie mich lieben werden?«

»Ich weiß es nicht. Nur soviel weiß ich jetzt, daß ich Sie verabscheuen sollte; denn durch Sie habe ich in weniger als einer Stunde einen Weg zurückgelegt, den ich erst nach meiner Heirat begehen zu dürfen glaubte.«

»Sind Sie böse darum?«

»Ich muß es wohl sein, obgleich ich fühle, daß ich über eine Sache, an die ich bis jetzt gar nicht zu denken gewagt hatte, nunmehr ganz genau Bescheid weiß. Aber wie kommt es, daß Sie jetzt ruhig und anständig geworden sind?«

»Weil wir jetzt vernünftig sprechen, und weil die Liebe nach dem Übermaß der Lust Ruhe verlangt. Aber sehen Sie mal!«

»Wie? Noch einmal? Ist das der Schluß des Unterrichts?«

»Es ist die natürliche Fortsetzung desselben.«

»Aber wie kommt es, daß Sie mir jetzt keine Angst mehr machen?«

»Der Soldat gewöhnt sich ans Feuer.«

»Ich sehe, das unserige wird erlöschen.«

Mit diesen Worten nahm sie ein Holzscheit, um das Feuer zu schüren, und da sie dabei in einer außerordentlich günstigen Stellung gebückt stand, wagte ich mit kühner Hand den Vorhof des Tempels zu berühren; ich fand die Tür so dicht verschlossen, daß ich sie hätte erbrechen müssen, um in das Heiligtum einzutreten. Meine Schöne stand voll Würde auf, setzte sich wieder hin und sagte sanft und mit tiefem Gefühl, sie sei ein Mädchen von Stande und glaube Achtung beanspruchen zu dürfen. Ich tat, als sei ich verwirrt, und entschuldigte mich tausendmal. Bald nahm denn auch ihr reizendes Gesicht wieder den Ausdruck von Ruhe und Heiterkeit an, der ihr so gut stand. Ich sagte ihr, trotz der Reue, die ich über meine Verfehlung empfände, wäre ich glücklich, die Gewißheit erlangt zu haben, daß sie bisher noch keinen Sterblichen glücklich gemacht hätte.

»Glauben Sie mir,« sagte sie, »wenn einmal ein Mann durch mich glücklich wird, so wird es nur der Gatte sein, dem ich mein Herz und meine Hand schenke.« Ich ergriff ihre Hand, die sie mir überließ, und bedeckte sie mit Küssen. Während dieser so angenehmen Beschäftigung meldete man Herrn le Noir, der sich erkundigen wollte, was die Nichte des Papstes ihm zu sagen hätte.

Herr le Noir war ein Mann in mittleren Jahren, von einfachem und bescheidenem Äußern. Er bat die Anwesenden höflich, sich nicht stören zu lassen. Als die Lambertini mich ihm vorstellte, fragte er mich, ob ich der Künstler sei; als er jedoch erfuhr, daß ich der ältere Bruder wäre, machte er mir ein Kompliment über die Lotterie und über die hohe Meinung, die Herr du Vernay von mir hätte. Am meisten interessierte ihn jedoch der Vetter, den die schöne Nichte des Papstes ihm unter seinem wahren Namen als Graf Tiretta vorstellte; denn seine neue Würde hätte ohne Zweifel auf Herrn le Noir keinen sehr günstigen Eindruck gemacht. Ich nahm das Wort und sagte ihm, der Graf sei mir ganz besonders von einer von mir hochverehrten Person empfohlen worden, und er sei genötigt gewesen, wegen eines Ehrenhandels seine Vaterstadt vorübergehend zu verlassen. Die Lambertini setzte hinzu, sie wünsche ihn in ihrem Hause wohnen zu lassen, habe es jedoch nicht tun wollen, bevor sie wisse, ob Herr le Noir damit einverstanden sei.

»Sie sind, Madame,« sagte der ehrenwerte Mann zu ihr, »unumschränkte Herrin in Ihrem Hause, und ich werde sehr erfreut sein, den Herrn Grafen in Ihrer Gesellschaft zu sehen.«

Da Herr le Noir sehr gut italienisch sprach, gab Tiretta die Spielpartie auf, und wir setzten uns zu vieren an das Kaminfeuer, wo meine neue Eroberung Gelegenheit erhielt, ihren Geist leuchten zu lassen. Herr le Noir besaß viel gesunden Menschenverstand und besonders eine große Welterfahrung. Er ließ sie von ihrem Kloster erzählen, und als sie ihren Namen genannt hatte, sprach er viel von ihrem Vater, den er sehr gut gekannt hatte. Er war Rat im Parlament zu Rouen gewesen und war sein ganzes Leben lang in sehr gutem Ruf gestanden. Das junge Mädchen war mehr als mittelgroß; ihre Haare waren von einem schönen Blond, und auf ihrem sehr regelmäßigen Gesicht malten sich, trotz der Lebhaftigkeit ihrer Augen, Unschuld und Bescheidenheit. Ihr Anzug gestattete alle Linien ihres schönen Körpers zu verfolgen und man bemerkte mit gleichem Vergnügen die Eleganz ihres Wuchses wie die vollkommene Schönheit zweier Halbkugeln, die über die Enge ihres Gefängnisses zu seufzen schienen.

Obgleich Herr le Noir kein Wort über alle diese Vollkommenheiten sagte, konnte ich doch leicht sehen, daß er sie auf seine Art nicht weniger lebhaft bewunderte als ich. Er verabschiedete sich Punkt acht Uhr, und eine halbe Stunde darauf entfernte sich die dicke Tante mit ihrer liebenswürdigen Nichte und dem blassen Herrn, der mit ihnen gekommen war. Ich blieb nun auch nicht länger und nahm Tiretta mit, der der Nichte des Papstes versprach, schon am nächsten Morgen zu ihr zu ziehen. Er hielt Wort.

Drei oder vier Tage darauf erhielt ich von Fräulein de la Meure – so hieß die schöne Nichte – einen Brief, den sie nach meinem Bureau adressiert hatte. Er lautete folgendermaßen: »Meine Tante, Frau ***, eine Schwester meiner verstorbenen Mutter, ist fromm, spielsüchtig, reich, geizig und ungerecht. Sie liebt mich nicht, und da es ihr nicht gelungen ist, mich zur Nonne zu machen, will sie mich an einen reichen Kaufmann in Dünkirchen verheiraten, den ich nicht kenne und den sie nebenbei bemerkt ebensowenig kennt wie ich. Der Heiratsvermittler hält große Lobreden über ihn; aber das ist ja nicht zu verwundern, denn ein Händler muß ja natürlich seine Ware loben. Der Herr in Dünkirchen begnügt sich mit einer Jahresrente von zwölfhundert Franken als Mitgift; dafür bietet er die Gewißheit, daß er mir bei seinem Tode ein Erbteil von hundertfünfzigtausend Franken hinterlassen wird. Sie müssen wissen, daß nach dem Testament meiner verstorbenen Mutter meine Tante verpflichtet ist, mir an meinem Hochzeitstage fünfundsiebzigtausend Franken auszuzahlen.

Wenn das, was zwischen uns vorgefallen ist, mich nicht in Ihren Augen verächtlich gemacht hat, so biete ich Ihnen meine Hand und mein Herz mit fünfundsiebzigtausend Franken und einer gleichen Summe beim Tode meiner Tante.

Antworten Sie mir nicht; denn ich wüßte nicht, wie oder durch wen ich Ihren Brief erhalten könnte. Sie können mir am Sonntag bei Frau Lambertini mündlich antworten. Dadurch erhalten Sie vier Tage Zeit, um sich diese wichtige Sache zu überlegen. Ich weiß zwar von mir nicht genau, ob ich Sie liebe; aber soviel weiß ich, daß ich um meiner selbst willen Sie jedem andern Manne vorziehen muß. Ich fühle, daß es mir ein Bedürfnis ist, Ihre Achtung zu gewinnen, wie Sie das Bedürfnis haben müssen, die meinige zu erlangen; aber ich bin sicher, daß Sie mir das Leben angenehm machen werden und daß ich stets meine Pflichten getreu werde zu erfüllen wissen.

Wenn Sie der Meinung sind, daß das Glück, wonach ich mich sehne, zu Ihrem Glück wird beitragen können, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Sie einen Advokaten nötig haben werden; denn meine Tante ist geizig und prozeßsüchtig.

Wenn Sie sich für die Annahme meines Vorschlages entscheiden, werden Sie mir, bevor Sie das geringste unternehmen, eine Zuflucht in einem Kloster beschaffen müssen, denn sonst würde ich mich schlechter Behandlung ausgesetzt sehen, und dies will ich vermeiden. Sollte mein Vorschlag Ihnen nicht passen, so bitte ich Sie um eine Gnade, die Sie mir nicht abschlagen werden und wofür ich Ihnen herzlich dankbar sein werde: Sie werden versuchen, mir nicht wieder zu begegnen, indem Sie sorgfältig alle Orte vermeiden, wo Sie annehmen können, mich zu treffen. So werden Sie mir helfen, Sie zu vergessen, und dies ist das mindeste, was Sie mir schuldig sind. Sie müssen fühlen, daß ich nur glücklich sein kann, wenn ich Ihre Gattin werde oder Sie vergesse. Leben Sie wohl! Ich bin sicher, Sie Sonntag zu sehen.«

Dieser Brief rührte mich. Ich fühlte, daß er von einem Gefühl von Tugend, Ehre und Klugheit eingegeben war. Ich entdeckte, daß das reizende Mädchen noch mehr Klugheit als Schönheit besaß. Ich errötete, daß ich sie verführt hatte, und hätte mich des Todes schuldig gefühlt, wenn ich ihre Hand ausgeschlagen hätte, die sie mir auf so vornehme Weise anbot. Übrigens ließ auch die Geldgier, obgleich erst in zweiter Linie, mich einen wohlgefälligen Blick auf eine Mitgift werfen, die größer war, als ich sie vernünftigerweise beanspruchen konnte. Trotz alledem schauderte ich bei dem Gedanken an die Ehe, für die ich mich nicht berufen fühlte.

Ich kannte mich zu gut, um nicht zu wissen, daß ich in einer regelrechten Ehe unglücklich werden müßte und daß es mir folglich trotz dem besten Willen von der Welt unmöglich sein würde, eine Frau glücklich zu machen, die vertrauensvoll die ganze Sorge um ihr Lebensglück in meine Hände gelegt hätte. Daß ich während der vier Tage, die sie mir verständigerweise als Bedenkzeit gelassen hatte, nicht zu einem Entschluß kommen konnte, gab mir die Gewißheit, daß ich nicht in sie verliebt war. Trotzdem war ich so schwach, daß es mir unmöglich war, mich zur Ablehnung ihres Anerbietens zu entschließen, wie ich es doch hätte tun sollen, und daß es mir noch weniger möglich war, ihr dies mit einem Freimut zu sagen, der mir in ihren Augen nur hätte Ehre machen können.

Während dieser vier Tage waren meine Gedanken ganz und gar von einem einzigen Umstand in Anspruch genommen; ich empfand bittere Reue, sie beschimpft zu haben, denn ich fühlte für sie Achtung und Ehrerbietung. Trotz alledem aber war es mir nicht möglich, zu dem Entschluß zu kommen, den ihr von mir angetanen Schimpf wieder gut zu machen. Der Gedanke, daß sie mich hassen würde, war mir unerträglich; aber der Gedanke, mich zu fesseln, war mir verhaßt. So befand ich mich denn in der Lage eines Menschen, der sich gezwungen sieht, einen Entschluß zu fassen, und sich doch nicht dazu überwinden kann.

Ich fürchtete, mein böser Geist könnte mich vielleicht verlocken, das Stelldichein zu versäumen, indem ich in meiner gedankenlosen Weise in die Oper oder anderswohin ginge. Ich beschloß daher, schon zum Mittagessen zu der Lambertini zu gehen, und behielt mir im übrigen meine Entscheidung vor.

Die fromme Nichte des Papstes war in der Messe, als ich in ihre Wohnung kam. Ich fand Tiretta, der zu seinem Vergnügen die Flöte blies. Sobald er mich sah, legte er das Instrument hin und eilte auf mich zu, um mich zu umarmen. Hierauf gab er mir das Geld wieder, das ich für seinen Anzug bezahlt hatte.

»Du hast also Geld in der Tasche, lieber Freund; ich spreche dir dazu meinen Glückwunsch aus.«

»Sprich mir lieber dein Beileid aus, mein Lieber; denn es ist gestohlenes Geld, und ich bereue, es angenommen zu haben, obgleich ich am Diebstahl nicht mitbeteiligt bin.«

»Wie? gestohlenes Geld?«

»Ja, hier wird betrogen, und ich bin abgerichtet worden, an dem Betrieb teilzunehmen; aus falscher Scham nehme ich meinen Anteil von dem traurigen Gewinn. Meine Wirtin und drei oder vier Weiber derselben Art nehmen den Freiern das Geld ab. Dieses Gewerbe ist mir widerwärtig, und ich fühle, daß ich es nicht lange mehr mitmachen werde. Eines oder des andern Tages wird man mich totschlagen oder ich werde irgend einen totschlagen, und in beiden Fällen wird es mir das Leben kosten; ich gedenke daher dieses Halsabschneiderhaus sobald wie möglich zu verlassen.«

»Dazu kann ich dir nur raten, lieber Freund; ja noch mehr, ich fordere dich dringend auf es zu tun. Gehe lieber heute als morgen.«

»Ich will nichts überstürzen; denn Herr le Noir ist ein Ehrenmann; er ist mein Freund und hält mich für den Vetter des unglückseligen Weibes. Er hat von ihrem niederträchtigen Gewerbe keine Ahnung; wenn er aber den Grund meines Fortgehens hörte, würde er natürlich etwas merken, vielleicht würde er sie sogar verlassen. In fünf oder sechs Tagen werde ich einen Vorwand finden; dann werde ich sofort zu dir zurückkehren.«

Die Lambertini dankte mir, daß ich mich so freundschaftlich ohne Umstände bei ihr zum Essen eingeladen hätte; sie sagte mir, Fräulein de la Meure und ihre Tante würden ebenfalls kommen. Ich fragte sie, ob sie noch immer mit meinem Freunde Sixfois zufrieden sei, und sie antwortete mir: »Er wohnt zwar nicht immer in seinem Lehen, aber trotzdem bin ich immer noch entzückt von ihm; übrigens verlange ich als gute Lehnsherrin nicht zu viel von meinen Vasallen.«

Ich lobte ihre Weisheit, und so fuhren wir fort zu scherzen, bis die beiden Gäste kamen.

Fräulein de la Meure konnte kaum das Vergnügen verhehlen, das mein Anblick ihr machte. Sie war in Halbtrauer und war in ihrem Kleide, das die Weiße ihrer Haut zur Geltung brachte, so schön, daß ich mich jetzt noch wundere, daß dieser Augenblick nicht über mein Schicksal entschieden hat.

Tiretta, der uns verlassen hatte, um sich umzuziehen, kam wieder zu uns. Da mich nichts hindern konnte, den liebenswürdigen Mädchen meine Neigung zu bezeigen, hatte ich für sie alle möglichen Aufmerksamkeiten. Ich sagte der Tante, ich fände ihre Nichte so hübsch, daß ich auf den Junggesellenstand verzichten würde, wenn ich eine Lebensgefährtin wie sie finden könnte.

»Meine Nichte ist höflich und freundlich, mein Herr, aber sie hat weder Geist noch Religion.«

»Vom Geist will ich nichts sagen,« rief die Nichte; »aber daß ich keine Religion haben soll, das, liebe Tante, ist ein Vorwurf, den man mir im Kloster niemals gemacht hat.«

»Das will ich gerne glauben; denn die Klosterdamen sind Jesuitinnen.«

»Aber was tut denn das, Tante?«

»Viel, liebe Nichte; man kennt die Jesuiten und ihre Anhänger; das sind lauter Leute ohne Religion, und es handelt sich um die göttliche Gnade. Aber sprechen wir lieber von etwas anderem. Ich wünsche nur, daß du deinem künftigen Gatten gefallen mögest.«

»Aber gnädige Frau, wird denn Fräulein de la Meure sich in nächster Zeit verheiraten?«

»Ihr Zukünftiger soll Anfang des nächsten Monats eintreffen.«

»Ist es ein Herr vom Parlament?«

»Nein, aber ein sehr wohlhabender Kaufmann.«

»Herr le Noir hat mir erzählt, das gnädige Fräulein sei die Tochter eines Parlamentsrats, und ich dachte nicht, daß Sie eine Mißheirat zulassen würden.«

»Es wird keine Mißheirat sein, mein Herr. Was heißt überhaupt Mißheirat? Der Zukünftige meiner Nichte ist adelig, denn er ist ein Ehrenmann. Ich bin überzeugt, es wird nur an ihr liegen, wenn sie nicht vollkommen glücklich mit ihm wird.«

»Gewiß; wenn das Fräulein ihn liebt.«

»Oh, die Liebe kommt mit der Zeit von selbst.«

Da diese Unterhaltung dem jungen Mädchen, das schweigend zuhörte, nur peinlich sein konnte, brachte ich das Gespräch darauf, daß eine außerordentlich große Menschenmenge der Hinrichtung des Königsmörders Damiens auf dein Grèveplatz beiwohnen würde. Da ich sie alle sehr neugierig fand, dieses entsetzliche Schauspiel anzusehen, so bot ich ihnen ein großes Fenster an, von wo wir alles beobachten könnten. Die Damen nahmen mein Anerbieten eifrig an, und ich versprach ihnen, sie rechtzeitig abzuholen.

Ich hatte kein Fenster, aber ich wußte, daß in Paris, wie überall, für Geld alles zu haben ist. Nach dem Essen schützte ich ein Geschäft vor und entfernte mich. Ich warf mich in den ersten Fiaker, der mir begegnete, und war eine Viertelstunde später Besitzer eines schönen Fensters im Zwischenstock, das ich für drei Louis mietete. Ich bezahlte voraus und ließ mir eine Quittung geben, worin ein Abstandsgeld von sechshundert Franken festgesetzt war.

Nachdem ich das Geschäft besorgt hatte, beeilte ich mich, zur Gesellschaft zurückzukehren, und fand sie beschäftigt, eine Partie Piquet zu spielen. Fräulein de la Meure, die nichts vom Spiel verstand, langweilte sich beim Zusehen. Und da ich mit ihr zu sprechen wünschte, trat ich zu ihr heran, und wir zogen uns nach dem andern Ende des Saales zurück.

»Ihr Brief, meine reizende Freundin, hat mich zum Glücklichsten der Sterblichen gemacht. Sie zeigen darin einen Geist und einen Charakter, die Ihnen die Verehrung jedes verständigen Menschen gewinnen müssen.«

»Mir liegt nur an der Liebe eines Einzigen; von den anderen genügt mir die Achtung.«

»Sie werden meine Frau werden, Engelsfreundin! Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich die glückliche Kühnheit segnen, der ich es verdanke, daß Sie mir den Vorzug vor so vielen anderen geben, von denen Sie keine Zurückweisung zu befürchten brauchten, selbst wenn Sie nicht eine Mitgift von fünfzigtausend Talern hätten; denn diese sind nichts im Vergleich mit Ihren persönlichen Eigenschaften und mit Ihrer verständigen Denkweise.«

»Es ist mir recht lieb, daß Sie eine so gute Meinung von mir haben.«

»Könnte es wohl anders sein? Jetzt, da Sie meine Gefühle kennen, brauchen wir nichts zu überstürzen. Vertrauen Sie sich mir nur an.«

»Sie werden meiner Lage eingedenk sein.«

»Wie könnte ich sie vergessen! Geben Sie mir Zeit, ein Haus zu mieten, es einzurichten und eine Stellung zu erlangen, die mich würdig erscheinen läßt, Ihnen meinen Namen zu geben. Bedenken Sie, daß ich jetzt nur bei anderen Leuten in einem Zimmer zur Miete wohne, daß Sie Verwandte haben und daß ich mich schämen müßte, bei einem so wichtigen Schritt als Abenteurer zu erscheinen.«

»Sie haben gehört, daß mein sogenannter Zukünftiger sehr bald kommen wird.«

»Gewiß, dies ist mir nicht entgangen.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß man das Geschäft sehr beschleunigen wird, sobald er hier ist.«

»Aber doch nicht so sehr, daß ich nicht in weniger als vierundzwanzig Stunden Sie von jeder Tyrannei befreien könnte, ohne daß Ihre Tante erführe, daß der Streich von mir ausginge. Ich kann Ihnen versichern, reizende Freundin, daß der Minister der auswärtigen Angelegenheiten Ihnen eine unverletzliche Zufluchtsstätte in einem der besten Klöster von Paris verschaffen wird, sobald er sicher ist, daß Sie nur mich zum Gatten haben wollen. Er wird Ihnen ebenfalls einen Anwalt besorgen, und wenn das Testament in richtiger Form abgefaßt ist, so wird Ihre Tante sehr bald Ihnen Ihre Mitgift auszahlen und den Rest der Erbschaft hypothekarisch sicherstellen müssen. Seien Sie ruhig und lassen Sie den Kaufmann aus Dünkirchcn nur kommen. Unter allen Umständen können Sie darauf zählen, daß ich Sie nicht in der Verlegenheit lassen werde, und daß Sie an dem Tage, den man für die Unterzeichnung des Vertrages ansetzen wird, nicht mehr im Hause Ihrer Tante sein werden.«

»Ich ergebe mich und vertraue mich Ihnen völlig an; aber führen Sie bitte nicht einen Umstand an, der mein Zartgefühl zu sehr verletzt. Sie haben gesagt, ich würde Ihnen den Vorschlag, mich entweder zu heiraten oder niemals wiederzusehen, nicht gemacht haben, wenn Sie sich nicht vorigen Sonntag jene Freiheit genommen hätten.«

»Hatte ich unrecht?«

»Ja, wenigstens in gewisser Hinsicht. Sie müssen fühlen, daß es von mir sehr unbesonnen gewesen wäre, Ihnen so geradezu meine Hand anzubieten, wenn ich nicht einen zwingenden Grund gehabt hätte. Aber unsere Heirat hätte auch auf einem ganz anderen Wege zustande kommen können; denn, jetzt darf ich es Ihnen sagen, ich würde Ihnen unter allen Umständen den Vorzug vor jedem anderen gegeben haben.«

Ihre Worte beschämten mich, ich ergriff ihre Hand und küßte sie mehrere Male zärtlich und achtungsvoll. Ich bin überzeugt, wenn in diesem Augenblick ein Notar und ein Priester dagewesen wären, um uns den ehelichen Segen zu erteilen, so hätte ich sie augenblicklich geheiratet.

Ganz in unsere Zärtlichkeit versunken und nur mit uns selber beschäftigt, wie Liebende es immer sind, hatten wir gar nicht auf einen entsetzlichen Lärm geachtet, der sich am anderen Ende des Saales erhoben hatte. Endlich glaubte ich jedoch, mich einmischen zu müssen, verließ meine Braut und trat zu der anderen Gesellschaft, um Tiretta zu beruhigen.

Ich sah auf dem Tisch einen offenen Kasten, der Kleinodien von verschiedenem Wert enthielt. Zwei Männer stritten sich mit Tiretta, der ein Buch in der Hand hielt. Ich sah sofort, daß es sich um eine Lotterie handelte; aber warum stritt man sich? Tiretta sagte mir, die beiden Herren seien Gauner, die ihm mit Hilfe dieses Buches, das er mir gab, dreißig oder vierzig Louis abgewonnen hätten.

»Mein Herr,« sagte einer der beiden Spieler zu mir, »dieses Buch enthält eine Lotterie, bei welcher alles auf das ehrlichste berechnet ist. Es besteht aus zwölfhundert Blättern, von denen zweihundert gewinnen; tausend sind leer. Auf jedes Gewinnblatt folgen fünf verlierende Blätter. Wer spielen will, muß einen Taler setzen und mit der Spitze einer Nadel auf gut Glück zwischen die Blätter des Buches stechen. Man öffnet das Buch an der Stelle, die die Nadel getroffen hat, und wenn es ein weißes Blatt ist, so hat der Spieler verloren; wenn dagegen das Blatt eine Nummer trägt, so gibt man ihm den entsprechenden Gegenstand oder zahlt ihm den Wert, der daneben vermerkt ist. Bedenken Sie mein Herr, daß der geringste Gewinn zwölf Franken kostet und daß Gewinne bis zu sechshundert Franken dabei sind und sogar ein Hauptgewinn von zwölfhundert Franken. Seit einer Stunde spielt die Gesellschaft, und wir haben mehrere wertvolle Gegenstände verloren. Die gnädige Frau – hierbei zeigte er auf die Tante meiner schönen Freundin – hat einen Ring im Werte von sechs Louis gewonnen; da sie aber bares Geld vorzog und weiterspielte, hat sie sie wieder verloren.«

»Jawohl,« rief die Tante, »ich habe sie verloren, und die Herren mit ihrem vermaledeiten Spiel haben von uns allen gewonnen. Das ist ein Beweis, daß ihr Spiel der reine Betrug ist.«

»Es ist ein Beweis,« sagte Tiretta, »daß die Herren Gauner sind.«

»Aber, meine Herren,« sagte einer von den Spielern, »in diesem Fall sind die Lotterieeinnehmer der Militärschule es ebenfalls.«

Auf diese Worte hin gab Tiretta ihm eine Ohrfeige. Ich warf mich zwischen die beiden Streiter und gebot ihnen Ruhe, um der Sache ein Ende zu machen.

»Alle Lotterien«, sagte ich, »sind vorteilhaft für die Spielhalter; aber an der Spitze der Lotterie der Militärschule steht der König, und ich bin ihr Haupteinnehmer. Kraft dieser Eigenschaft nehme ich den Kasten in Beschlag und lasse Ihnen die Wahl: entweder geben Sie der ganzen Gesellschaft das unrechtmäßig gewonnene Geld zurück und ich lasse Sie mit Ihrem Kasten ziehen; oder ich lasse einen Polizeigefreiten holen, der Sie auf mein Verlangen in das Gefängnis bringen wird. Morgen wird Herr Berryer über den Fall aburteilen; denn ihm selber werde ich morgen früh das Buch überbringen. Wir werden sehen, ob wir nötig haben, uns als Gauner zu betrachten, weil Sie welche sind.«

Da sie sahen, daß sie es mit einem Stärkeren zu tun hatten und bei längerem Widerstande nur verlieren könnten, so entschlossen sie sich mit ziemlich guter Miene, das ganze gewonnene Geld zurückzuzahlen und vielleicht sogar das doppelte; denn sie mußten vierzig Louis zurückerstatten, obgleich sie schworen, nur zwanzig gewonnen zu haben. Die Gesellschaft bestand aus so trefflichen Personen, daß ich mir kein Urteil erlauben will. Tatsächlich war ich ziemlich geneigt, der Behauptung der beiden Schwindler Glauben zu schenken. Aber ich war ärgerlich und wollte sie dafür bezahlen lassen, daß sie die Kühnheit gehabt hatten, einen Vergleich zu ziehen, der im Grunde sehr richtig war, mir aber im höchsten Grade mißfiel. Diese Gereiztheit war es ohne Zweifel, die mich veranlaßte, ihr Buch zurückzubehalten, obgleich ich durchaus kein Recht hatte, es zu behalten. Vergebens baten sie mich inständig, es ihnen zurückzugeben. Der Ton, den ich gegen sie anschlug, mein zuversichtliches Wesen, meine Drohungen, und vielleicht auch Furcht vor einer Einmischung der Polizei in unseren Streit – dies alles bewirkte, daß sie sich schließlich glücklich schätzten, wenigstens ihren Kasten wieder zu erhalten. Als sie fort waren, fingen die Damen, diese zarten Wesen, sie zu bemitleiden an.

»Sie hätten ihnen wohl auch ihre Fibel wieder geben können«, sagten sie zu mir.

»Gewiß, meine Damen, und Sie ihr Geld.«

»Aber sie hatten es uns unrechtmäßig abgenommen.«

»Alles? Außerdem war der Gebrauch ihres Buches ebenso unrechtmäßig. Indem ich es ihnen abnahm, habe ich ihnen einen Dienst geleistet.«

Sie verstanden die Ironie, und das Gespräch wandte sich anderen Gegenständen zu.

Am anderen Morgen in aller Frühe suchten meine beiden Lotteriespieler mich auf. Um mich zu erweichen, schenkten sie mir ein schönes Kästchen mit vierundzwanzig herrlichen Figuren von Meißner Porzellan. Eine solche Beredsamkeit war unwiderstehlich, und ich glaubte, ihnen ihr Buch wieder geben zu müssen. Doch tat ich es nicht ohne die Drohung, sie ins Gefängnis bringen zu lassen, wenn sie noch weiterhin ihr Gewerbe in Paris trieben. Sie versprachen mir, es künftighin unterlassen zu wollen, obgleich sie dabei ohne Zweifel die Absicht hatten, ihr Wort nicht zu halten; aber daraus machte ich mir wenig. Im Besitz eines für einen Liebhaber wertvollen Geschenkes beschloß ich nun, es dem Fräulein de la Meure anzubieten, und brachte es ihr noch an demselben Tage. Ich wurde ausgezeichnet empfangen, und die Tante überhäufte mich mit Danksagungen.

Der achtundzwanzigste März war der Tag, an welchem Damiens seine Todesqual erleiden sollte. Ich holte die Damen in der Frühe bei der Lambertini ab, und da mein Wagen uns kaum alle faßte, so nahm ich ohne Schwierigkeit meine reizende Freundin auf den Schoß, und so fuhren wir auf den Grèveplatz. Die drei Damen drängten sich in dem von mir gemieteten Fenster so gut zusammen, wie es ging, und nahmen die Vorderreihe ein; sie standen gebückt und stützten sich mit ihren Armen auf, damit wir über ihre Köpfe hinweg sehen könnten. Das Fenster hatte zwei Tritte oder Stufen und die Damen waren auf die zweite geklettert. Um über sie hinwegsehen zu können, waren wir genötigt, auf derselben Stufe zu stehen, denn die erste Stufe war nicht hoch genug. Ich führe meinen Lesern diese Einzelheiten nicht ohne Grund an; denn sonst könnten sie kaum die Einzelheiten erraten, die ich verschweigen muß. Wir besaßen die Standhaftigkeit, vier Stunden lang dem entsetzlichen Schauspiel zuzusehen. Damiens Hinrichtung ist so bekannt, daß ich davon nicht zu sprechen brauche; die Erzählung würde zu lang sein, und außerdem gehen mir derartige Greuel gegen die Natur. Damiens war ein Fanatiker, der ein gutes Werk zu vollbringen und den Himmel zu verdienen glaubte. Deshalb hatte er Ludwig den Fünfzehnten zu ermorden versucht; obwohl er ihm nur eine leichte Hautwunde beigebracht hatte, wurde er mit glühenden Zangen zerrissen, wie wenn er das Verbrechen wirklich ausgeführt hätte.

Ich mußte von der Todesqual dieses Opfers der Jesuiten den Blick abwenden und mußte mir die Ohren zuhalten vor dem gellenden Geschrei des Unglücklichen, der nur noch seinen halben Leib hatte. Aber die Lambertini und die dicke Tante waren nicht im geringsten bewegt; rührte dies von der Grausamkeit ihrer Herzen her? Ich mußte mich stellen, wie wenn ich ihnen glaubte, als sie mir sagten, der Mordversuch des Ungeheuers hätte sie mit solchem Abscheu erfüllt, daß sie nicht das Mitleid verspürt hätten, womit der Anblick der unerhörten Qualen, die man ihn leiden ließ, sie sonst natürlich erfüllt haben würde. Tatsache ist es, daß Tiretta die fromme Tante während der ganzen Dauer der Hinrichtung auf eine sonderbare Art beschäftigt hielt, und vielleicht war er die Veranlassung, daß die tugendhafte Dame keine Bewegung zu machen, ja nicht einmal den Kopf umzuwenden wagte.

Da er unmittelbar hinter ihr stand, hatte er die Vorsicht gebraucht, ihren Rock hochzuheben, um nicht darauf zu treten. Dies war natürlich ganz in der Ordnung. Als ich aber bald darauf einmal zufällig zu ihnen hinüber sah, bemerkte ich, daß Tiretta die Vorsicht zu weit getrieben hatte. Ich wollte weder meinen Freund stören, noch die Dame in Verlegenheit bringen; daher wandte ich den Kopf zur Seite und stellte mich in unauffälliger 6g Weise so hin, daß meine schöne Freundin nichts bemerken konnte; so hatte es die gute Dame recht bequem. Ich hörte zwei Stunden hintereinander ein Rascheln, und da ich die Sache sehr spaßhaft fand, so besaß ich die Ausdauer, mich während dieser ganzen Zeit nicht zu rühren. Ich bewunderte innerlich Tirettas guten Appetit und seine Frechheit; aber noch mehr bewunderte ich die schöne Ergebung der frommen Tante.

Als zum Schluß dieser langen Sitzung Frau *** sich umdrehte, sah ich mich ebenfalls um und blickte Tiretta an; er war frisch, munter und ruhig, wie wenn gar nichts gewesen wäre; die liebe Tante aber schien mir nachdenklicher und ernsthafter zu sein als gewöhnlich. Sie hatte sich in der unangenehmen Zwangslage befunden, ihre Gefühle zu verbergen und alles mit sich geschehen zu lassen, um nicht der Lambertini Anlaß zum Lachen und ihrer jungen Nichte, die solche Mysterien noch nicht kennen durfte, Anlaß zum Ärgernis zu geben.

Wir brachen auf. Nachdem ich die Nichte des Papstes vor ihrem Hause abgesetzt hatte, bat ich sie, mir Tiretta für ein paar Stunden zu überlassen, und fuhr mit Frau *** nach ihrer Wohnung in der Rue St.-André-des-Arts. Sie bat mich, sie am nächsten Morgen zu besuchen, da sie mir etwas mitzuteilen habe, und ich bemerkte, daß sie beim Abschied meinen Freund nicht grüßte. Wir gingen zum Essen zu Laudel ins Hotel de Russie, wo man für sechs Franken ausgezeichnet speiste. Ich dachte mir, mein Tollkopf müßte es sehr nötig haben, seine Kräfte wieder herzustellen.

»Was hast du hinter der Frau *** gemacht?«

»Ich bin überzeugt, weder du noch sonst jemand hat etwas gesehen.«

»Daß sonst niemand etwas gesehen hat, ist möglich; ich aber bemerkte den Anfang deiner Manöver, und da ich die Fortsetzung voraussah, stellte ich mich so, daß ihr weder von der Lambertini noch von der hübschen Nichte gesehen werden konntet. Ich errate, womit du dich beschäftigt hast, und gestehe, daß ich deinen derben Appetit bewundere. Aber mir scheint, das arme Opfer ist ärgerlich.«

»Oh, das ist nur Zimperlichkeit einer älteren Dame. Sie kann sich ja stellen, als sei sie ärgerlich, aber da sie sich während der zwei Stunden, die die Sitzung dauerte, vollständig ruhig verhalten hat, so bin ich überzeugt, daß sie bereit sein würde, sofort wieder anzufangen.«

»Im Grunde glaube ich das auch; aber vielleicht glaubt sie aus Eitelkeit, du habest die Achtung vor ihr aus den Augen gelassen; und allerdings…«

»Die Achtung, lieber Freund? Aber muß man, denn nicht stets die Achtung gegen die Frauen verletzen, wenn man etwas bei ihnen erreichen will?«

»Das weiß ich wohl; aber es ist doch ein großer Unterschied, ob man es allein unter vier Augen tut oder ganz offen vor anderen Leuten.«

»Gewiß; aber da die Tat viermal wiederholt wurde, ohne daß sie den geringsten Widerstand leistete, so darf ich doch wohl ihr völliges Einverständnis annehmen?«

»Deine Logik ist sehr gut; aber du siehst doch, daß sie mit dir schmollt, Übrigens will sie morgen mit mir sprechen, und da wird das Gespräch sicherlich auf dich kommen.«

»Das ist möglich; aber ich glaube nicht, daß sie von diesem kleinen Scherz mit dir sprechen wird; da wäre sie ja verrückt.«

»Warum nicht? Kennst du denn die Frommen nicht? Sie sind in der Schule der Jesuiten erzogen, die ihnen oft guten Unterricht auf diesem Gebiete erteilen, und da ergreifen sie mit großer Freude die Gelegenheit, einem dritten derartige Bekenntnisse zu machen. Diese Bekenntnisse, die reichlich mit verstellten Tränen gewürzt sind, besonders wenn die frommen Damen häßlich sind, geben ihnen in ihren eigenen Augen einen Firnis von Heiligkeit.«

»Nun, mein Lieber, so mag sie doch mit dir sprechen. Wir werden ja sehen.«

»Es könnte wohl sein, daß sie eine Genugtuung verlangen wird; da werde ich mit Vergnügen die Vermittlung übernehmen.«

»Wahrhaftig, du machst mich lachen! Ich sehe nicht ein, auf welche Art von Genugtuung sie Anspruch machen könnte, wenn sie nicht etwa nach dem Recht der Wiedervergeltung mich bestrafen will; dies aber ist kaum anders möglich, als durch einen Rückfall in denselben Fehler. Wenn das Spiel nicht nach ihrem Geschmack gewesen wäre, brauchte sie mir nur einen Fußtritt zu geben, der mich auf den Rücken geworfen hätte.«

»Damit hätte sie aber auch deinen Angriff auf sie bekannt gegeben.«

»Nun, genügte denn nicht die geringste Bewegung, um diesen zu vereiteln? Aber sie war sanft wie ein Lamm und hielt ganz still – es war die leichteste Sache von der Welt.«

»Die Geschichte ist im höchsten Grade komisch. Aber hast du auch beachtet, daß die Lambertini ebenfalls mit dir schmollt? Vielleicht hat sie die Geschichte mit angesehen und ist darob gekränkt.«

»Die Lambertini schmollt mit mir aus einem anderen Grunde: ich habe mich offen von ihr losgesagt und werde noch heute Abend ausziehen.«

»Allen Ernstes?«

»Auf mein Wort. Es kam so: gestern abend brachte eine alte Spitzbübin aus Genua einen jungen Mann, der bei der Steuer angestellt ist, zu uns zum Essen mit. Nachdem er im Häufeln vierzig Louis verloren hatte, warf er meiner Wirtin die Karten ins Gesicht und nannte sie eine Diebin. In der Aufwallung nahm ich den Leuchter und löschte ihm die Kerze im Gesicht aus, wobei ich ihm beinahe ein Auge ausgestoßen hätte; glücklicherweise aber traf ich nur die Wange. Er lief nach seinem Degen; ich hatte den meinigen schon gezogen, und hätte die Genueserin sich nicht zwischen uns geworfen, so hätte es zu Mord und Totschlag kommen können. Als der arme junge Mann seine Wange im Spiegel sah, wurde er so wütend, daß man ihn nur durch die Rückgabe seines Geldes besänftigen konnte. Sie zahlten es ihm zurück, obgleich ich mich widersetzte; denn in der Rückerstattung lag zum mindesten ein stillschweigendes Eingeständnis, daß sie ihm das Geld auf betrügerische Weise abgenommen hatten. Dies führte, nachdem der junge Mann fortgegangen war, zu einem sehr hitzigen Streit zwischen der Lambertini und mir. Sie sagte mir, wenn ich mich nicht eingemischt hätte, wäre nichts geschehen und wir hätten unsere vierzig Louis noch; der junge Mann hätte ja sie und nicht mich beleidigt. Die Genueserin sagte: wenn wir kaltblütig gewesen wären, hätten wir ihn noch für lange Zeit behalten; jetzt aber wisse der liebe Gott allein, was er mit dem Brandfleck im Gesicht noch alles anfangen werde. Die gemeinen Reden der beiden Prostituierten langweilten mich, und ich sagte ihnen, sie sollten sich zum Kuckuck scheren. Da setzte sich aber meine Wirtin aufs hohe Pferd, und erlaubte sich mir zu sagen, ich sei nur ein Bettler.

Wäre nicht Herr le Noir dazu gekommen, so wäre es ihr schlecht gegangen; denn ich hatte schon meinen Stock in der Hand; als sie Herrn le Noir sahen, baten sie mich zu schweigen; aber ich war zu wütend und sagte dem Ehrenmann: seine Geliebte hätte mich einen Bettler genannt; sie wäre weiter nichts als eine Prostituierte; ich wäre nicht ihr Vetter und überhaupt nicht mit ihr verwandt, und ich würde noch am gleichen Tage ausziehen. Nachdem ich diese Rede hervorgesprudelt hatte, lief ich hinaus und schloß mich in mein Zimmer ein. In ein paar Stunden werde ich meine Sachen abholen, und morgen früh werde ich mit dir frühstücken.«

Tiretta hatte recht; er hatte eine edle Seele und einige jugendliche Unbesonnenheiten durften ihn nicht dahinbringen, sich in den Schlamm des Lasters zu stürzen. Solange ein Mann keine entehrende Handlung begangen hat, solange sein Herz an den Verirrungen seines Kopfes nicht mitschuldig ist, kann er mit Ehren auf den Weg der Pflicht zurückkehren. Ich würde von der Frau dasselbe sagen, wenn das Vorurteil nicht zu laut gegen sie spräche, und wenn die Frau nicht sich mehr durch ihr Herz als durch ihren Kopf bestimmen ließe.

Nachdem wir gut gegessen und köstlichen Sillery geschlürft hatten, trennten wir uns, und ich brachte den Abend mit Schreiben zu. Am anderen Morgen machte ich einige Besorgungen und ging dann gegen Mittag zu der betrübten Frommen, die ich in Gesellschaft ihrer entzückenden Nichte fand. Wir sprachen einen Augenblick von Regen und schönem Wetter; hierauf sagte sie meiner Freundin, sie möge uns allein lassen, da sie mit mir zu sprechen habe. Ich war auf den Auftritt vorbereitet und wartete ohne ein Wort zu sagen, bis sie das Schweigen brechen würde, das jede Frau in ihrer Lage einige Augenblicke beobachtet. Endlich begann sie:

»Sie werden überrascht sein, mein Herr, über das, was ich Ihnen sagen und anvertrauen werde; denn es ist eine Klage unerhörter Art, die ich Ihnen vorzutragen mich entschlossen habe. Der Fall ist gewiß im höchsten Grade heikel, und ich habe mich nur entschlossen, weil ich schon beim ersten Anblick eine hohe Meinung von Ihnen gefaßt habe. Ich halte Sie für verständig und verschwiegen und vor allen Dingen für einen Mann von Ehre und guten Sitten; endlich glaube ich, daß Sie von echter Religion durchdrungen sind. Wenn ich mich täusche, so wird es ein Unglück geben. Ich fühle mich zu tief getränkt, und da es mir nicht an Mitteln fehlt, so werde ich mich an ihm zu rächen wissen. Dies wird Ihnen leid tun, da Sie sein Freund sind.«

»Beklagen Sie sich über Tiretta, gnädige Frau?«

»Ja über keinen anderen.«

»Und was hat er sich gegen Sie zuschulden kommen lassen?«

»Er ist ein Schurke, der mir einen beispiellosen Schimpf angetan hat.«

»Dessen hätte ich ihn nicht für fähig gehalten.«

»Ich glaube es Ihnen; denn Sie sind ein Mann von guten Sitten.«

»Aber welcher Art ist denn die Beschimpfung, über die Sie sich beklagen? Sie können sich auf mich verlassen, gnädige Frau.«

»Mein Herr, ich werde es Ihnen nicht sagen; denn das ist unmöglich; aber ich hoffe, Sie werden es erraten. Gestern bei der Hinrichtung des vermaledeiten Damiens hat er zwei Stunden lang seine Stellung hinter mir auf unerhörte Weise mißbraucht.«

»Ich verstehe; ich errate, was er gemacht hat, und Sie brauchen mir nichts weiter darüber zu sagen. Sie sind mit Recht erzürnt, und ich verurteile ihn, denn es war hinterlistig von ihm; aber gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, daß der Fall doch nicht ohne Beispiele dasteht, ja daß er nicht einmal selten ist. Ich glaube sogar, man kann ihn der Liebe oder dem Zufall der Lage oder der allzugroßen Nähe des verführerischen Feindes zugute halten, besonders wenn der Sünder jung und heißblütig ist. Übrigens ist es ein Verbrechen, das sich auf gar manche Art wieder gut machen läßt, wenn die Parteien sich nur einigen. Tiretta ist Junggeselle, Edelmann, schön und im Grunde ein sehr anständiger Mann; eine Heirat wäre also sehr wohl möglich.«

Ich wartete einen Augenblick auf eine Antwort; als ich aber sah, daß die Beleidigte schwieg, was mir ein gutes Zeichen zu sein schien, so fuhr ich fort.

»Wenn eine Heirat nicht Ihrer Denkweise entspricht, kann er sein Vergehen durch eine beständige Freundschaft sühnen, die Ihnen seine Reue beweisen und ihn Ihrer Verzeihung würdig machen wird. Bedenken Sie, gnädige Frau: Tiretta ist ein Mensch und daher allen Schwächen der Menschheit unterworfen. Bedenken Sie ferner, daß auch Sie schuldig sind.«

»Ich, mein Herr?«

»Ja, gnädige Frau, aber ohne Ihre Absicht; denn Sie sind nur mittelbar die Veranlassung, daß Ihre Reize seine Sinne verführt haben. Indessen ist es mir durchaus nicht zweifelhaft, daß ohne den Einfluß Ihrer Reize der Vorfall nicht eingetreten sein würde, und ich glaube, daß dieser Umstand dazu beitragen kann, ihm Ihre Verzeihung zu erwirken.«

»Meine Verzeihung. Sie sind ein geschickter Anwalt, mein Herr; aber ich will Ihnen gerne Gerechtigkeit widerfahren lassen und anerkennen, daß alles, was Sie mir soeben gesagt haben, einer christlichen Seele entspringt. Indessen Ihre ganze Beweisführung stützt sich auf eine falsche Voraussetzung. Sie kennen die Tatsache nicht; aber wie könnte man sie auch erraten?«

Frau *** brach in Tränen aus. Ich war ganz ratlos und wußte nicht mehr, was ich denken sollte. Sollte er ihr die Börse gestohlen haben? dachte ich bei mir selber, dazu ist er doch nicht imstande, oder ich würde ihm eine Kugel durch den Kopf schießen. Warten wir ab!

Bald trocknete die trauernde Fromme ihre Tränen und fuhr fort:

»Sie denken an ein Verbrechen, das man, wenn auch schwer, immerhin noch mit der Vernunft in Einklang bringen kann und für das sich, wie ich zugeben will, eine angemessene Buße finden ließe; was aber der rohe Mensch mir angetan hat, ist eine Niederträchtigkeit. Ich möchte am liebsten gar nicht mehr daran denken können, denn es ist in der Tat, um wahnsinnig darüber zu werden.«

»Großer Gott! was höre ich! Ich schaudere! Sagen Sie mir, bitte, ob ich auf der richtigen Spur bin?«

»Ich glaube, ja; denn etwas Schlimmeres läßt sich wohl nicht denken. Ich sehe, Sie sind entsetzt; aber es ist so. Verzeihen Sie mir meine Tränen und suchen Sie deren Quelle nur in meinem Kummer und in der Schande, die ich auf mich gehäuft sehe!«

»Und in der Religion.«

»Gewiß, auch in dieser. Sie ist sogar die Hauptquelle, und ich ließ sie nur deshalb unerwähnt, weil ich fürchtete, Sie wären der Religion nicht ebenso zugetan wie ich.«

»Ich hinge an ihr, so sehr ich nur kann, Gott sei gelobt; und nichts kann mich von ihr abwendig machen.«

»So machen Sie sich darauf gefaßt, daß ich in Verdammnis verfalle! Denn ich will mich rächen.«

»Nein, verzichten Sie darauf, gnädige Frau! Darin könnte ich Ihnen niemals beistehen; wenn Sie jedoch Ihren Plan nicht aufgeben wollen, so lassen Sie mich wenigstens nichts davon wissen. Ich verspreche Ihnen, meinem Freunde nichts zu sagen, obwohl er bei mir wohnt und daher die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft mich verpflichten, ihm alles mitzuteilen.«

»Ich glaubte, er wohne bei der Lambertini.«

»Er ist gestern ausgezogen. Es war eine verbrecherische, höchst anstößige Verbindung. Ich habe ihn vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt.«

»Was sagen Sie mir da?«

»Die volle Wahrheit.«

»Ich bin erstaunt und ich bin zugleich erbaut! Ich will nicht seinen Tod, mein Herr, aber geben Sie zu, daß mir eine Genugtuung gebührt.«

»Dies gebe ich zu. Man behandelt eine liebenswürdige Französin nicht auf italienische Art, ohne für sein Vergehen eine glänzende Genugtuung zu geben; aber ich finde keine, die der Beleidigung entspräche. Doch halt! eine kenne ich, und ich mache mich anheischig, sie Ihnen zu verschaffen, wenn Sie sich damit begnügen wollen.«

»Und was ist dies für eine Genugtuung?«

»Ich werde den Schuldigen durch Überraschung in Ihre Hände liefern und ihn unter vier Augen Ihnen und Ihrem ganzen Zorn preisgeben; aber nur unter der Bedingung, daß ich ohne sein Wissen mich im Nebenzimmer befinde; denn ich bin vor mir selber dafür verantwortlich, daß sein Leben nicht in Gefahr ist.«

»Damit bin ich einverstanden. Sie werden sich in diesem Zimmer aufhalten und werden ihn in dem anderen Zimmer, worin ich ihn zu empfangen gedenke, mit mir allein lassen. Aber er darf von Ihrer Anwesenheit keine Ahnung haben.«

»Auf keinen Fall. Er wird nicht einmal wissen, daß ich ihn zu Ihnen führe; denn er darf nicht erfahren, daß ich in seinen hinterlistigen Streich eingeweiht bin. Sobald er hier ist und das Gespräch auf irgend ein Thema gebracht worden ist, werde ich mich unter einem beliebigen Vorwande entfernen.«

»Wann gedenken Sie ihn mir zuzuführen? Ich kann es gar nicht erwarten, ihn aufs tiefste zu beschämen. Er soll mir zittern! Ich bin neugierig, die Gründe zu hören, die er in seinem Kauderwelsch vorbringen wird, um eine derartige Ausschweifung zu entschuldigen.«

»Ich weiß es zwar nicht, aber es ist wohl möglich, daß Ihre Gegenwart ihn beredt macht, und das wünsche ich; denn es wäre mir eine Wonne, wenn Sie beide miteinander zufrieden wären.«

Sie nötigte mich, mit ihr und dem Abbé des Forges, der um ein Uhr kam, zu Mittag zu essen. Der Abbé war ein Schüler des berühmten Bischofs von Auxerre, der noch lebte. Ich sprach bei Tisch so trefflich von der Gnade, ich zitierte so oft den heiligen Augustin, daß der Abbé und die Fromme mich für einen eifrigen Jansenisten hielten, obgleich ich doch ganz und gar nicht so aussah. Meine liebe Freundin, die liebenswürdige Nichte, sah mich während der ganzen Mahlzeit nicht ein einziges Mal an, und da ich annahm, daß sie ihre Gründe dafür haben würde, sprach ich meinerseits kein einziges Wort zu ihr.

Nach dem Essen, das, nebenbei bemerkt, ausgezeichnet war, versprach ich der Beleidigten, ihr am nächsten Tage nach dem Schauspiel, das ich mit ihm besuchen würde, den Schuldigen mit gebundenen Händen und Füßen auszuliefern. Ich sagte ihr ferner, um sie völlig sicher zu machen, ich würde zu Fuß kommen und wäre überzeugt, daß er bei Abend das Haus nicht wieder erkennen würde.

Als ich Tiretta wieder sah, nahm ich eine komisch ernste Miene an und warf ihm die entsetzliche Handlung vor, die er gegen eine fromme und in jeder Hinsicht ehrenwerte Frau verübt hätte. Aber der tolle Mensch fing an zu lachen, und ich würde mein Latein verloren haben, wenn ich ihn hätte Mores lehren wollen.

»Wie? sie hat es über sich gebracht, dir die Sache zu entdecken?«

»Du leugnest sie also nicht?«

»Wenn sie es sagt, halte ich mich nicht für berechtigt, sie Lügen zu strafen. Aber ich schwöre dir bei meiner Ehre, ich bin der Sache nicht gewiß. In der Stellung, die ich einnahm, konnte ich unmöglich wissen, in welcher Wohnung ich Unterkunft fand. Übrigens werde ich sie beruhigen, denn ich werde mich bemühen recht kurz zu sein, um sie nicht warten zu lassen.«

»Kurz! nur ja nicht! Damit würdest du alles verderben. Sei so lang wie möglich; das wird ihr angenehm sein; übrigens liegt es in deinem Interesse. Beeile dich nicht; auch ich werde dabei gewinnen; denn ich bin sicher, daß ich mich nicht langweilen werde, während du ihren Zorn in ein sanfteres Gefühl verwandelst. Denke daran, daß du von meiner Anwesenheit in ihrem Hause nichts wissen darfst; solltest du zufällig nur kurze Zeit bei ihr bleiben – was ich nicht glaube – so nimm einen Fiaker und fahre nach Hause. Du begreifst wohl, daß die fromme Dame gegen mich zum mindesten so höflich sein muß, mich nicht ohne Feuer und ohne Gesellschaft zu lassen. Vergiß nicht, daß sie wie du von guter Herkunft ist. Diese Damen von Stande haben zwar keine besseren Sitten als andere Frauen, denn sie sind wie jene von Fleisch und Blut, aber sie verlangen Rücksichten, die ihrem Stolz schmeicheln. Sie ist reich, sie ist fromm und außerdem wollüstig; suche ihre Freundschaft zu gewinnen, aber nicht hinterrücks, sondern vielmehr de faciem ad faciem, wie der König von Preußen sagt1. Du machst vielleicht mit einem Schlage dein Glück. Wenn sie dich fragt, warum du die Nichte des Papstes verlassen hast, so hüte dich, ihr den Grund zu sagen oder auch nur anzudeuten. Deine Verschwiegenheit wird ihr gefallen. Endlich gib dir recht eifrig Mühe, deine schwarze Tat zu büßen.«

»Ich brauche ihr nur die Wahrheit zu sagen; ich bin blindlings eingedrungen.«

»Dieser Grund ist sehr originell, und es ist wohl möglich, daß eine Französin ihn gut findet.«

Ich brauche dem Leser nicht zu sagen, daß ich Tiretta meine Unterhaltung mit der Matrone getreulich berichtete. Sollten einige zarte Seelen sich über den Vertrauensbruch entrüsten, so antworte ich ihnen, daß ich meine Versprechungen mit innerem Vorbehalt gegeben hatte; und wer nur ein bißchen von der Moral der Kinder des heiligen Ignatius kennt, der wird wohl wissen, daß mich dies vollkommen entlastet.

Nachdem ich mit meinem Freunde alles genau verabredet hatte, gingen wir am nächsten Tage in die Oper und begaben uns von dort zu Fuß zu der tugendhaften Beleidigten, die uns voll hoher Würde, aber doch mit einer gewissen Liebenswürdigkeit empfing, in der ich ein sehr gutes Vorzeichen sah.

»Ich speise niemals zu Abend,« sagte sie zu uns, »aber wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher benachrichtigt hätten, meine Herren, so würde ich für etwas gesorgt haben.«

Nachdem ich ihr alle Neuigkeiten erzählt hatte, die ich im Foyer gehört, schützte ich ein Geschäft vor und bat sie, sie einige Augenblicke mit meinem Freunde allein lassen zu dürfen. »Wenn ich länger als eine Viertelstunde ausbliebe, mein lieber Graf, so warte nicht länger auf mich. Nimm einen Fiaker und fahre nach Hause; morgen werden wir uns wiedersehen.«

Statt hinunterzugehen, trat ich in das Nebenzimmer, das einen Eingang vom Flur hatte. Zwei Minuten später sah ich meine reizende Freundin eintreten. Sie trug einen Armleuchter und war angenehm überrascht, mich zu sehen.

»Ich weiß nicht, ob ich träume; aber meine Tante hat mir gesagt, ich möchte Sie nicht allein lassen und der Kammerjungfer sagen, daß sie erst hereinkommen sollte, wenn geklingelt werde. Ihr Freund ist bei ihr, und sie hat mir befohlen, leise zu sprechen, weil er nicht wissen solle, daß Sie hier seien. Darf ich erfahren, was diese sonderbare Geschichte bedeutet?«

»Sie sind also neugierig?«

»In diesem Falle allerdings; denn alle diese Geheimtuerei ist sehr danach angetan, die Neugier zu erregen.«

»Sie sollen alles erfahren, mein Engel; aber es ist kalt hier.«

»Meine Tante hat mir befohlen, ein gutes Feuer zu machen; sie ist plötzlich freigebig, ja sogar verschwenderisch geworden; denn sehen Sie doch nur: Wachskerzen!«

»Das ist also etwas Neues?«

»O, etwas sehr Neues, allerdings!«

Als wir behaglich vor dem Feuer saßen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte, die sie mit einer Aufmerksamkeit anhörte, wie nur ein junges Mädchen sie einer solchen Sache entgegenbringen kann; da ich aber gewisse Dinge ein wenig verschleiern zu müssen glaubte, begriff sie nicht recht, was für eines Verbrechens Tiretta sich schuldig gemacht hatte. Es war mir nicht unangenehm, ihr die Sache in klaren Ausdrücken verdeutlichen zu müssen, und um die Schilderung noch anschaulicher zu machen, begleitete ich sie mit einer Gebärdensprache, worüber sie lachte und zugleich errötete. Hierauf sagte ich ihr: da ich ihrer Tante eine Genugtuung für den erlittenen Schimpf hätte verschaffen müssen, so hätte ich es so eingerichtet, daß ich sicher wäre, mich mit ihr allein zu befinden, während mein Freund die alte Dame beschäftigte. Ich bedeckte ihr hübsches Gesicht mit verliebten Küssen, und da ich mir sonst keine Freiheiten herausnahm, empfing sie meine Umarmungen als Beweise für meine Zärtlichkeiten und für die Reinheit meiner Gefühle.

»Lieber Freund,« sagte sie zu mir, »was Sie mir da sagen, macht mich ganz verwirrt; zweierlei kann ich dabei gar nicht verstehen. Wie hat Tiretta es angefangen, an meiner Tante ein Verbrechen zu begehen, dessen Möglichkeit ich wohl einsehe, wenn der angegriffene Teil damit einverstanden ist, das mir aber ohne dessen Einwilligung ganz unmöglich erscheint? Ich möchte daher glauben, daß sie vollkommen damit einverstanden war, wenn das Verbrechen wirklich verübt worden war.«

»Sehr richtig; denn um den Angriff zu vereiteln, brauchte sie nur die Stellung zu verändern.«

»Selbst dies war wohl nicht einmal nötig; denn es stand, wie mir scheint, vollkommen bei ihr, die Türe verschlossen zu halten.«

»Hierin, liebe Freundin, täuschen Sie sich; denn ein rechter Mann verlangt weiter nichts, als die Beibehaltung derselben Stellung; dann ist der Eingang bald erzwungen. Außerdem, meine Liebe, glaube ich doch nicht, daß bei Ihrer Tante die Pforte so dicht verschlossen ist, wie ohne Zweifel bei Ihnen.«

»Ich glaube, ich könnte alle Tirettas der ganzen Welt herausfordern. – Zweitens begreife ich nicht, wie meine fromme Tante Ihnen von diesem Schimpf hat erzählen können, denn wenn sie klug wäre, hätte sie voraussehen müssen, daß Sie darüber nur lachen können. Ferner, was für eine Genugtuung kann sie wohl von einem rohen, übermütigen Menschen erwarten, dem die ganze Sache vielleicht höchst gleichgültig ist? Ich glaube, er würde jeder Frau, die sich an der Stelle meiner Tante befunden hätte, den gleichen Schimpf anzutun versucht haben.«

»Da haben Sie sehr recht; denn er hat mir gesagt, er sei blindlings hineingefahren und habe gar nicht gewußt, wohin er komme.«

»Ihr Freund ist ein drolliger Mensch, und wenn alle Männer ihm gleichen, so bin ich vollkommen überzeugt, daß ich für sie nur Verachtung empfinden könnte.«

»Über die Genugtuung, die Ihre Tante erwarten darf und vielleicht zu erlangen hofft, hat sie mir nichts gesagt; aber es ließe sich leicht erraten; wenn ich mich nicht täusche, wird sie darin bestehen, daß mein Freund ihr eine Liebeserklärung in aller Form machen wird, er wird sein Verbrechen mit Unwissenheit entschuldigen und wird es sühnen, indem er ihr richtiger Liebhaber wird, und ohne Zweifel wird die Hochzeit heute Nacht stattfinden.«

»Oh, jetzt wird es aber wirklich komisch. Doch ich glaube nicht daran. Meine liebe Tante hält viel zu viel auf ihr Seelenheil. Und wie sollte denn der junge Mann auch in sie verliebt sein, oder auch nur eine solche Rolle spielen, wenn er ein Gesicht wie das ihrige vor Augen hat? Als er den tollen Streich beging, sah er es nicht. Haben Sie jemals ein so abstoßendes Gesicht gesehen, wie das meiner Tante? Eine kupferige Haut; Augen, aus denen geschmolzenes Wachs trieft; Zähne und ein Atem, vor denen jeder Mann den Mut verlieren muß. Sie ist wirklich ekelhaft.«

»Dies, mein Herz, sind Kleinigkeiten für einen Burschen von fünfundzwanzig Jahren. In jenem Alter ist man stets zum Sturm bereit. Bei mir ist es anders, ich kann mich nur als Mann betätigen, wenn ich Reize finde wie die Ihrigen, die ich bald rechtmäßig zu besitzen hoffe.«

»Sie werden in mir die zärtlichste Gattin finden, und ich bin überzeugt, daß es mir gelingen wird, Ihr Herz so zu fesseln, daß ich nicht mehr zu fürchten brauche es zu verlieren.«

Eine Stunde war schon mit dieser angenehmen Unterhaltung verstrichen, und Tiretta war immer noch bei der Tante. Ich sah darin ein gutes Anzeichen für die Versöhnung; der Handel schien mir ernst geworden zu sein. Ich sagte es meiner reizenden Gesellschafterin und bat sie, mir etwas zu essen zu geben.

»Ich kann Ihnen nichts weiter geben als Brot, Käse, Schinken und einen Wein, der, wie meine Tante behauptet, köstlich ist.«

»Bringen Sie schnell dies alles herbei, denn ich bin zum Umfallen hungrig.«

Leichtfüßig wie ein junges Reh deckte sie ein Tischchen für zwei Personen und trug alles auf, was sie hatte. Es war köstlicher Roquefortkäse und ein ausgezeichneter gekochter Schinken. Es war genug da für zehn Personen mit gutem Appetit; trotzdem, ich weiß nicht, wie wir’s anfingen, aber es ist Tatsache: das ganze verschwand nebst zwei Flaschen eines Chambertin, den ich noch heute zu schmecken glaube. Die Augen meiner schönen Geliebten funkelten vor Vergnügen. Oh, was für ausgezeichnete Speisen sind doch Chambertin und Roquefort, um die Liebe zu kräftigen und eine knospende Liebe schnell zur Reife zu bringen!

»Sind Sie nicht neugierig, zu wissen, was Ihre Tante seit zweieinhalb Stunden allein mit dem Herrn Sixfois macht?«

»Vielleicht spielen sie; aber da ist ein kleines Loch, ich will einmal sehen. – Ich sehe nur die Kerzen mit zoll-langen Schnuppen.«

»Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Geben Sie mir eine Decke, ich werde mich auf dieses Kanapee legen, und Sie, liebe Freundin, gehen zu Bett. Aber zeigen Sie mir doch ihr Bett!«

Sie ließ mich in ihr Kämmerchen eintreten, und ich sah ein hübsches Bett, einen Betschemel und ein großes Kruzifix.

»Ihr Bett ist zu klein für Sie, mein Herz.«

»Oh mein Gott, nein, ich liege ganz bequem darin.«

Mit diesen Worten streckte sie sich der Länge nach aus.

»Was für eine reizende Frau werde ich haben! Ach, rühren Sie sich doch nicht, lassen Sie sich von mir ansehen.«

Und meine Hand berührte ein niedriges Mieder, ein wahres Gefängnis für zwei Halbkugeln, die über ihre Gefangenschaft zu seufzen schienen. Ich ging noch weiter; ich schnürte sie auf… denn wo hielt wohl die Begierde inne!

»Mein Freund, ich kann mich nicht wehren; aber hinterher werden Sie mich nicht mehr lieben.«

»Mein ganzes Leben lang.«

Bald war der schönste Busen meinen glühenden Küssen preisgegeben. Meine Flamme entzündete die ihre; sie verlor alle Selbstbeherrschung und öffnete mir ihre Arme, indem sie mich versprechen ließ, sie zu schonen, und was verspricht man nicht! Hat man denn wohl die Zeit, sich zu überlegen, was man in solchen Augenblicken des Taumels verspricht? Die dem weiblichen Geschlecht anhaftende Scham, Furcht vor den Folgen, vielleicht auch ein gewisser Instinkt, der ihnen die natürliche Unbeständigkeit des Mannes enthüllt, können die Frauen wohl dazu veranlassen, solche Versprechungen zu formen; aber welches liebende Weib, wenn es wirklich liebt, vermöchte es, den Geliebten zur Schonung aufzufordern, wenn die Liebe jede Fähigkeit zum Denken gelähmt hat, wenn die ganze Lebenskraft nur in der Erfüllung der höchsten Begierde aufgeht? Es gibt keins.

Nachdem wir eine Stunde mit verliebten Scherzen verbracht hatten, die sie um so mehr entflammten, da ihre Reize zum erstenmal der Berührung heißer Männerlippen und dem Gekose einer kecken Hand ausgesetzt waren, sagte ich zu ihr: »Ich bin in Verzweiflung, von dir scheiden zu müssen, ohne deinen Reizen die höchste Huldigung dargebracht zu haben, die sie verdienen.«

Ein Seufzer war ihre Antwort.

Es war kalt, das Feuer war erloschen, und ich sollte die Nacht auf dem Kanapee zubringen.

»Gib mir eine Decke, mein Engel, und laß mich gehen; denn hier würde ich vor Frost und Liebe sterben, wenn du mich zur Enthaltsamkeit zwängest.«

»Lege dich statt meiner ins Bett, Geliebter; ich werde das Feuer wieder anzünden.«

Entzückend in ihrer nackten Schönheit stand sie auf. Sie legt ein Scheit ins Feuer, die Flamme knistert. Ich springe aus dem Bett und finde sie in einer Stellung, die ihre Formen wundervoll hervortreten läßt. Ich halte es nicht mehr aus. Ich schließe sie in meine Arme, sie vergilt Liebkosungen mit Liebkosungen, und wir versinken in Wollust bis der Tag heraufdämmert.

Wir hatten vier oder fünf Stunden auf dem Kanapee verbracht. Endlich verließ sie mich, machte ein helles Feuer an und legte sich in ihrem Zimmer zu Bett. Ich blieb auf dem Kanapee und schlief fest bis zu Mittag. Ich wurde von Frau *** geweckt, die in einem galanten Morgenkleide erschien.

»Sie schlafen noch, Herr Casanova?«

»Ah guten Morgen, gnädige Frau. Was ist denn aus meinem Freunde geworden?«

»Er ist jetzt auch der meinige.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Ganz wahr; ich habe ihm verziehen.«

»Und wie hat er es angefangen, sich eine so großmütige Verzeihung zu verdienen?«

»Er hat mir augenscheinliche Beweise geliefert, daß er sich nur geirrt hatte.«

»Das freut mich wirklich außerordentlich. Wo ist er?«

»Er ist gegangen; Sie werden ihn in seiner Wohnung finden; aber sagen Sie ihm nicht, daß Sie die Nacht hier verbracht haben; denn er würde glauben, Sie hätten sie mit meiner Nichte zugebracht. Ich bin Ihnen unendlich verbunden und rechne auf Ihre Nachsicht, namentlich aber auf Ihre Verschwiegenheit.«

»Darauf können Sie sich durchaus verlassen, denn ich glaube Ihnen dafür dankbar sein zu müssen, daß Sie meinem Freunde verziehen haben.«

»Warum denn auch nicht? Der liebe junge Mann steht weit über allen anderen Menschen. Wenn Sie wüßten, wie er mich liebt! Ich bin ihm dankbar und habe ihn auf ein Jahr in Pension genommen; er bekommt gute Wohnung, gutes Essen und alles übrige.«

»Eine reizende Anordnung! Sie haben jedenfalls den Preis der Pension abgemacht?«

»Oh, dies wird auf freundschaftliche Art geregelt, wir werden dazu keiner Schiedsrichter bedürfen. Noch heute fahren wir nach La Villette, wo ich ein hübsches Häuschen besitze. Sie begreifen, im Anfang müssen wir uns so verhalten, daß wir den bösen Zungen möglichst wenig Anlaß zum Gerede geben. Mein Freund wird dort alle Annehmlichkeiten haben, und Sie, mein Herr, werden ein hübsches Zimmer und ein gutes Bett finden, so oft Sie uns mit Ihrem Besuch beehren und erfreuen. Nur eins tut mir leid: Sie werden sich dort langweilen; denn meine arme Nichte ist so mürrisch.«

»Ihre Nichte, gnädige Frau, ist sehr liebenswürdig, sie hat mir gestern abend ein listliches Nachtmahl gegeben und mir bis drei Uhr früh gute Gesellschaft geleistet.«

»Wirklich? Ich bewundere sie, denn wo hat sie etwas gefunden? Es war ja nichts da.«

»Davon weiß ich nicht«, gnädige Frau, aber sie hat mir ein köstliches Abendessen gegeben, von dem nichts übrig geblieben ist, und nachdem sie mir gute Gesellschaft geleistet hat, ist sie zu Bett gegangen, und ich habe auf diesem ausgezeichneten Kanapee vorzüglich geschlafen.«

»Ich bin herzlich erfreut, daß alles zu Ihrer wie zu meiner Zufriedenheit verlaufen ist; aber ich hätte niemals gedacht, daß meine Nichte so viel Geist hätte.«

»Sie hat sehr viel Geist, gnädige Frau, wenigstens in meinen Augen.«

»Sie sind Kenner. Wir wollen doch einmal nach ihr sehen. Sie hat sich eingeschlossen. – Mach doch auf! Warum riegelst du dich denn ein, Zimperliese? Was hast du denn zu befürchten? Herr Casanova ist ein Ehrenmann.«

Die liebenswürdige Nichte öffnete die Tür und bat um Verzeihung, daß sie sich in so nachlässigem Anzug zeige. Aber in welchem Schmuck hätte sie so schön aussehen können! Sie war blendend.

»Ei,« sagte die Tante zu mir, »sehen Sie sie? Sie ist nicht übel. Schade, daß sie so dumm ist! – Es war recht von dir, daß du dem Herrn etwas zu essen gabst, ich danke dir für diese Aufmerksamkeit. Ich habe die ganze Nacht gespielt, und wenn man spielt, denkt man nur an sein Spiel. Man vergißt alles, was nicht zur Partie gehört. Ich hatte es ganz vergessen, daß Sie hier waren; ich wußte nicht, daß Graf Tiretta zu Abend speist, und deshalb hatte ich nichts bestellt; aber in Zukunft werden wir soupieren. Ich habe den jungen Mann in Pension genommen. Er hat einen ausgezeichneten Charakter und viel Geist, und ich bin überzeugt, es dauert nicht lange, so spricht er gut französisch. Zieh dich an, Nichte; wir müssen packen. Wir werden heute nachmittag nach La Vilette fahren und dort das ganze Frühjahr verbringen. Noch eins, Nichte: es ist nicht nötig, daß du diese Geschichte meiner Schwester erzählst.«

»Ich, Tante? Oh, gewiß nicht. Habe ich ihr übrigens die anderen Male etwas gesagt?«

»Die anderen Male! Aber sehen Sie doch, wie dumm das Mädchen ist. Die anderen Male – klingt das nicht gerade, wie wenn so etwas nicht zum erstenmal passierte?«

»So war es nicht gemeint; ich wollte sagen, ich erzähle ihr niemals von dem, was Sie machen.«

»Schon gut, Nichte; aber du solltest doch lernen, dich richtig auszudrücken. Um zwei Uhr essen wir. Herr Casanova wird uns hoffentlich das Vergnügen machen, mit uns zu speisen, und gleich nach Tisch fahren wir ab. Tiretta hat mir versprochen, rechtzeitig mit seinem Köfferchen hier zu sein, und dieses wird mit unserem Gepäck zusammengehen.«

Nachdem ich ihr versprochen hatte, pünktlich zu kommen, grüßte ich die Damen und begab mich schnell nach Hause, denn ich verspürte eine fast weibliche Neugier, zu erfahren, wie das große Einigungswerk sich vollzogen hatte.

»Nun, mein lieber Tiretta, da hast du ja eine schöne Stelle. Sage mir schnell, wie es gegangen ist.«

»Mein Lieber, ich habe mich auf ein Jahr verkauft: Monatlich fünfundzwanzig Louis, guten Tisch, gute Wohnung usw.«

»Meinen besten Glückwunsch.«

»Wenn du glaubst, daß es der Mühe wert ist…«

»Keine Rosen ohne Dornen. Übrigens hat sie mir gesagt, du seiest ein übermenschliches Wesen.«

»Um ihr dies zu beweisen, habe ich mich die ganze Nacht sehr angestrengt; aber ich bin fest überzeugt, daß du die Zeit besser angewandt hast als ich.«

»Ich habe geschlafen wie ein König. Zieh dich an. Ich bin zum Mittagessen eingeladen und will dich nach La Villette abfahren sehen. Dort werde ich dich zuweilen besuchen; denn dein Liebchen hat mir gesagt, ich werde dort stets ein Zimmer haben.«

Um zwei Uhr kamen wir an. Frau *** war als junges Mädchen gekleidet und spielte eine sonderbare Figur; aber Fräulein de la Meure war schön wie ein Stern. Die Liebe hatte ihr Wesen entwickelt und der Genuß ihr neues Leben eingehaucht. Wir aßen ausgezeichnet; denn die gute Dame kokettierte mit ihrem Essen wie mit ihrem Anzug. Aber an ihren Speisen war wenigstens nichts Lächerliches, während an ihrer Person alles überwältigend komisch war. Um vier Uhr fuhren sie mit Tiretta ab; ich aber verbrachte den Abend in der italienischen Komödie.

Ich war in Fräulein de la Meure verliebt, aber Sylvias Tochter, deren Schönheit ich nur bei den Familienmahlzeiten genoß, schwächte diese Liebe ab, die mir nichts mehr zu wünschen übrig ließ.

Wir beklagen uns über die Frauen, die uns ihre Gunst verweigern, obgleich sie verliebt und unserer Gegenliebe sicher sind. Aber wir haben unrecht; denn wenn sie uns lieben, müssen sie befürchten uns zu verlieren, indem sie uns zufriedenstellen; sie müssen also natürlicherweise alles, was in ihren Kräften steht, tun, um uns festzuhalten, und dies kann nur geschehen, indem sie unsere Begierden nach ihrem Besitz nähren. Begierden aber werden nur durch Entbehrungen genährt; der Genuß erstickt sie, denn man begehrt nicht, was man schon besitzt. Hieraus folgere ich, daß die Frauen recht haben, wenn sie sich unseren Wünschen versagen. Wenn aber bei beiden Geschlechtern die Begierden gleich sind, wie kommt es dann, daß niemals ein Mann sich einer Frau versagt, die er liebt und die ihn begehrt?

Die Furcht vor den Folgen können wir nicht als Erklärung gelten lassen; denn diese Voraussetzung ist nicht allgemein gültig. Nach meiner Meinung ist der einzige Grund der, daß der Mann, der sich geliebt weiß, das Vergnügen, das er bereitet, höher schätzt als das, welches er empfängt; darum ist er stets bereit, Genuß mitzuteilen. Der Mann weiß auch, daß im allgemeinen die Frau, die der belebende Funke der Liebeslust getroffen hat, ihre Zärtlichkeit, Fürsorge und Anhänglichkeit verdoppelt. Die Frau dagegen, die nur an ihre eigenen Interessen denkt, legt mehr Wert auf die Wonne, die sie empfängt, als auf die, die sie bereitet. Aus diesem Grunde schiebt sie sie hinaus, so lange sie kann; denn wenn sie sich hingibt, fürchtet sie gerade das zu verlieren, woran ihr etwas liegt: ihr eigenes Vergnügen. Dieses Gefühl ist dem weiblichen Geschlecht eigentümlich; es ist die einzige Ursache der Koketterie, die die Vernunft den Frauen verzeiht, an Männern aber nur verdammen kann. Denn beim Mann ist Koketterie eine lächerliche Geckenhaftigkeit.

Sylvias Tochter liebte mich und wußte, daß ich sie liebte, obgleich ich es ihr nie gesagt hatte; aber das Weib hat ein so feines Gefühl. Übrigens hütete sie sich wohl, mich dies merken zu lassen; denn sie hätte fürchten müssen, mich dadurch zu ermutigen, Gunstbezeigungen von ihr zu verlangen; sie fühlte sich nicht sicher, daß sie stark genug sein werde, mir solche abzuschlagen, und fürchtete meine Unbeständigkeit. Ihre Eltern hatten sie dem Musiker Clement bestimmt, der sie seit drei Jahren im Klavierspielen unterrichtete. Sie wußte es, und nichts hinderte sie, dieser Heirat zuzustimmen; denn wenn sie ihn gleich nicht liebte, sah sie ihn doch gern. Die meisten jungen Mädchen unterwerfen sich Hymens Joch, ohne daß Amor etwas damit zu tun hat, und sie finden dies nicht unangenehm. Sie fühlen, daß sie erst durch die Ehe etwas in der Welt bedeuten; sie verheiraten sich, um selbständig zu werden, um ein Hauswesen zu haben. Sie scheinen zu fühlen, daß ein Gatte kein Liebhaber zu sein braucht. In Paris herrscht diese Auffassung auch bei den Männern, und darum sind die meisten Ehen Konvenienzehen. Der Franzose ist eifersüchtig auf seine Geliebte, niemals auf seine Frau.

Herr Clément war augenscheinlich verliebt in die junge Baletti, und diese war sehr erfreut, daß ich es bemerkte; denn sie zweifelte nicht daran, daß diese Gewißheit mich zu einer Erklärung veranlassen würde, und sie täuschte sich nicht. Die Abreise des Fräuleins de la Meure trug viel dazu bei, mich zu diesem Entschluß zu bringen, den ich bald bereute, denn nach meiner Erklärung wurde Clément verabschiedet, und nun war ich schlimmer daran als je zuvor. Der Mann, der einer Frau anders als pantominisch seine Liebe erklärt, muß noch zur Schule gehen.

Drei Tage nach Tirettas Abreise brachte ich ihm seine Siebensachen nach la Vilette, und Frau *** sah mich mit Vergnügen. Der Abbé des Forges kam in dem Augenblick, wo wir uns zu Tische setzen wollten. Dieser Tugendbold, der sich in Paris sehr freundschaftlich gegen mich benommen hatte, beehrte mich bei Tische mit keinem einzigen Blick; ebenso benahm er sich gegen Tiretta. Ich machte mir sehr wenig aus dem guten Mann, aber mein Freund war weniger langmütig als ich und verlor schließlich die Geduld: beim Nachtisch stand er auf und bat Frau ***, sie möchte ihn freundlichst vorher benachrichtigen, wenn sie den Menschen zu Tisch haben würde. Alles stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und der schweigsame Abbé ging mit der Hausfrau in ein Nebenzimmer.

Tiretta zeigte mir sein Zimmer, das ich sehr hübsch fand, und das natürlich an das seiner Schönen anstieß. Während er seine Sachen ordnete, nahm Fräulein de la Meure mich mit, um mir meine Unterkunft zu zeigen. Es war ein sehr hübsches Kabinett im Erdgeschoß, und ihr Zimmer lag gegenüber. Natürlich machte ich sie darauf aufmerksam, daß ich sie leicht besuchen könnte, wenn alles im Bett läge; aber sie sagte mir, ich würde bei ihr schlecht aufgehoben sein und sie würde mir deshalb die Mühe ersparen, mein Zimmer zu verlassen. Ich fand diesen Vorschlag sehr bequem und hatte, wie man sich denken kann, gegen diese Anordnung nichts einzuwenden.

Sie erzählte mir von den Torheiten, die ihre fromme Tante Tirettas wegen beging. »Sie glaubt, wir wüßten nicht, daß er bei ihr schläft.«

»Sie glaubt es oder stellt sich, als ob sie es glaube.«

»Das ist möglich. Heute früh klingelte sie um elf Uhr und befahl mir, ihn zu fragen, ob er eine gute Nacht gehabt habe. Ich gehorchte; da ich jedoch sein Bett unberührt sah, fragte ich ihn, ob er nicht zu Bett gegangen sei. ›Nein,‹ antwortete er mir, ›ich habe die ganze Nacht geschrieben; aber sagen Sie bitte Ihrer Tante nichts davon.‹ Das habe ich ihm natürlich versprochen.«

»Liebäugelt er mit dir?«

»Nein. Aber wenn auch? Wenn er nicht ganz dumm ist, muß er doch wissen, wie wenig ich mir aus ihm mache.«

»Warum?«

»Pfui! meine Tante bezahlt ihn! Sich verkaufen! Das ist ja gräßlich.«

»Aber du bezahlst mich ja auch.«

»Ja, aber in derselben Münze, die ich von dir empfange.«

Die alte Tante glaubte, ihre Nichte hätte keinen Geist, und nannte sie immer dumm. Ich fand sie im Gegenteil sehr geistvoll; aber ich fand sie auch ebenso tugendhaft, und ich würde sie niemals verführt haben, wenn sie nicht in einem Kloster von Betschwestern erzogen worden wäre.

Ich begab mich wieder zu Tiretta und verbrachte eine volle Stunde mit ihm. Ich fragte ihn, ob er mit seiner Stelle zufrieden wäre.

»Die Sache macht mir kein Vergnügen; aber da sie mir keine Mühe kostet, so fühle ich mich nicht unglücklich.«

»Aber ihr Gesicht.«

»Ich sehe nicht hin, und was mir an ihr gefällt, ist die große Reinlichkeit.«

»Schont sie dich?«

»Sie fließt von Gefühl über. Heute früh hat sie den Morgengruß nicht angenommen, den ich ihr bringen wollte. Ich bin sicher, sagte sie zu mir, daß meine Weigerung dich schmerzen wird, aber deine Gesundheit ist mir teuer, und du mußt sie schonen.«

Da der mürrische Abbé des Forges fortgegangen und Frau *** daher allein war, so gingen wir in ihr Zimmer. Sie behandelte mich wie einen Gevatter, war liebenswürdig gegen Tiretta und spielte das Kind auf eine Weise, daß einem bange werden konnte, Tiretta hielt ihr tapfer stand, und ich konnte nicht umhin, ihn zu bewundern.

»Ich werde diesen dummen Abbé nicht mehr empfangen,« sagte sie zu ihm; »er sagte mir, ich wäre in dieser und in jener Welt verloren, und drohte mir, sich von mir loszusagen. Ich habe ihn beim Wort genommen.«

Eine Schauspielerin namens Quinault, die die Bühne verlassen hatte und in der Nachbarschaft wohnte, kam zu Frau *** zu Besuch. Eine Viertelstunde später erschienen Frau Favart und der Abbé de Voisenon und ein bißchen später Fräulein Amelin mit einem sehr hübschen Knaben, den sie für ihren Neffen ausgab und Calabre nannte. Der junge Mensch sah ihr so ähnlich, wie ein Tropfen Wasser dem anderen; darin sah sie jedoch keinen hinreichenden Grund, um sich als seine Mutter zu bekennen. Ein Piemontese, Herr Paton, der mit ihr gekommen war, legte eine Pharaobank, nachdem er sich lange hatte bitten lassen. In weniger als zwei Stunden gewann er allen Anwesenden ihr Geld ab, nur mir nicht, denn ich war so vernünftig, nicht zu spielen. Ich verbrachte meine Zeit viel besser mit meiner hübschen Geliebten. Ich hatte den Piemontesen durchschaut: er war offenbar ein Gauner. Tiretta aber war weniger klug als ich; denn er verlor all sein Geld und noch hundert Louis auf Wort. Als der Bankhalter eine gute Ernte gemacht hatte, legte er die Karten hin, und Tiretta sagte ihm in gutem Italienisch, er sei ein abgefeimter Spitzbube. Der Piemontese antwortete ihm mit der größten Kaltblütigkeit, er habe gelogen. Ich sah, daß das Ding ein böses Ende nehmen würde, und sagte ihm, Tiretta habe nur gescherzt. Ich nötigte meinen Freund, dies zuzugeben. Er tat es, doch lachte er dabei und ging hierauf in sein Zimmer.

Acht Jahre später sah ich diesen Paton in St. Petersburg, und 1767 wurde er in Polen ermordet.

An demselben Abend suchte ich Tiretta auf und gab ihm eine freundschaftliche aber ernste Ermahnung. Ich wies ihn darauf hin, daß er als Spieler stets von der Geschicklichkeit des Bankhalters abhängig sei; dieser könne ein Betrüger, aber zugleich ein tapferer Mann sein. Folglich setze er sein Leben aufs Spiel, wenn er ihn einen Betrüger zu nennen wage.

»Soll ich mich also bestehlen lassen?«

»Ja; denn du hast die freie Wahl. Es steht in deiner Macht, nicht zu spielen.«

»Jedenfalls werde ich die hundert Louis nicht bezahlen.«

»Ich rate dir, sie zu bezahlen, und sogar, ehe er sie von dir fordert.«

»Du hast eine Gabe, einen zu allem, was du willst, zu überreden, selbst wenn man den besten Willen hat, sich um deine Ratschläge nicht zu bekümmern.«

»Ja, mein Lieber, ich spreche eben die Sprache des Herzens und stütze mich dabei auf die Vernunft und, was noch besser ist, auf die Erfahrung.«

Drei Viertelstunden darauf ging ich zu Bett, und es dauerte nicht lange, so erschien meine Geliebte. Diese Nacht war viel süßer als die erste; denn es ist oft schwierig, die erste Blüte zu pflücken, und wenn die Menschen im allgemeinen auf diese Wert legen, so geschieht es mehr aus Egoismus, als weil sie Genuß davon haben.

Am nächsten Morgen frühstückte ich im Familienkreise und freute mich des rosigen Hauches, der die Wangen meiner schönen Freundin färbte. Hierauf kehrte ich nach Paris zurück. Drei oder vier Tage später kam Tiretta zu mir und sagte mir, der Kaufmann aus Dünkirchen sei angekommen. Frau *** habe ihn zum Essen eingeladen und wünsche, daß ich ebenfalls daran teilnehme. Ich war auf diese Nachricht vorbereitet, trotzdem stieg mir das Feuer ins Gesicht. Tiretta bemerkte es, erriet mich zum Teil und sagte: »Du bist in meine Nichte verliebt.«

»Woran merkst du das?«

»An deiner Überraschung, meln Lieber, und daran, daß du mir ein Geheimnis daraus zu machen suchst; aber Amor ist ein Indiskreter, der sich gerade durch sein Schweigen verrät.«

»Du bist ein Weltweiser, mein lieber Tiretta. Ich werde mit euch speisen; aber denke an Harpokrates!«

Er ging.

Mir blutete das Herz. Einen Monat später wäre die Ankunft des Kaufmanns mir vielleicht erwünscht gewesen. Aber kaum den Rand der Lippen mit dem Nektar genetzt zu haben, und dann das kostbare Gefäß aus den Händen gleiten sehen! Noch jetzt denke ich daran, und diese Erinnerung ist nicht ohne Bitterkeit.

Ich befand mich in einem Zustand schmerzlicher und wirklich peinvoller Ratlosigkeit. Dieser Zustand befiel mich regelmäßig, wenn ich mich in der Zwangslage befand, einen Entschluß fassen zu müssen, und es doch unmöglich tun konnte. Wenn sich der Leser schon in diesem Fall befunden hat, wird er erraten können, wie schmerzhaft meine Lage war. Ich konnte dieser Heirat nicht zustimmen, mich aber auch nicht entschließen, sie zu vereiteln, indem ich mich in den Besitz eines Weibes setzte, das ich dazu geschaffen glaubte, mich glücklich zu machen.

Ich fuhr nach la Villette hinaus und war ein wenig überrascht, Fräulein de la Meure in einem ungewöhnlich eleganten Anzuge zu finden.

»Ihr Bewerber«, sagte ich zu ihr, »wird aller dieser Pracht nicht bedürfen, um Sie reizend zu finden.«

»Meine Tante denkt anders als Sie.«

»Sie haben ihn noch nicht gesehen?«

»Nein, ich bin neugierig auf ihn, obwohl ich auf Sie rechne und daher sicher bin, niemals seine Frau zu werden.«

Einige Augenblicke darauf kam der Bräutigam mit dem Bankier Corneman, der bei diesem Handelsgeschäft den Makler gespielt hatte. Ich sah einen etwa vierzigjährigen schönen Mann von offenen Zügen, sehr gut, aber nicht gesucht gekleidet. Er stellte sich der Frau *** auf eine einfache, aber ungezwungene und höfliche Art vor, und sah seine Zukünftige erst an, als die Tante sie ihm vorstellte. Bei ihrem Anblick wurde seine Miene noch freundlicher, und er sagte ihr, ohne schöne Redensarten zu suchen, sondern voll Gefühl, er wünsche, daß der Eindruck, den er auf sie hervorbringen werde, ein wenig jenem gleichen möge, den sie in ihm erwecke. Sie antwortete auf diese Worte nur mit einer schönen Verbeugung, aber sie beobachtete ihn sehr aufmerksam.

Das Essen wurde aufgetragen; man speiste, man sprach von tausend Dingen – aber von der Heirat kein Wort. Die beiden Brautleute sahen sich nur selten einmal zufällig an, aber sie wechselten kein Wort. Nach dem Essen zog das Fräulein sich auf sein Zimmer zurück, und die Tante ging mit dem Bankier und mit dem Zukünftigen in ihr Kabinett, wo sie eine zweistündige Unterredung hatten. Da die Herren an demselben Tage nach Paris zurückfahren mußten, ließ Frau *** ihre Nichte rufen und sagte in ihrer Gegenwart dem Bewerber, sie erwarte ihn am nächsten Tage zum Essen und sei sicher, daß ihre Nichte ihn mit Vergnügen sehen werde.

»Nicht wahr, Nichte?«

»Gewiß, liebe Tante, ich werde den Herrn mit Vergnügen wieder sehen.«

Ohne diese Antwort würde der Herr Kaufmann abgefahren sein, ohne die Stimme seiner Zukünftigen gehört zu haben.

»Nun, was sagst du zu deinem Gatten?« fragte die alte Dame.

»Erlauben Sie mir, liebe Tante, Ihnen dies erst morgen zu sagen. Aber bei Tisch haben Sie die Güte, mich sprechen zu lassen; denn es kann wohl sein, daß mein Äußeres ihn nicht abgestoßen hat, aber er weiß noch nicht, ob ich richtig denke, und es wäre wohl möglich, daß mein Geist den geringen Eindruck zerstört, den vielleicht mein Gesicht gemacht hat.«

»Ja, ich fürchte, daß du Dummheiten sagst und dadurch den guten Begriff zerstörst, den er von dir bekommen zu haben scheint.«

»Man darf keinen Menschen täuschen, Tante; um so besser für ihn, Tante, wenn die Wahrheit ihm die Täuschung benimmt, und um so schlimmer für ihn und für mich, wenn wir uns zum Ehebunde entschließen, ohne uns zu kennen und ohne über unsere Denkweise das geringste Urteil haben zu können.«

»Wie findest du ihn?«

»Er scheint mir nicht übel, vielmehr liebenswürdig und recht stattlich; aber warten wir bis morgen. Vielleicht wird er dann nichts mehr von mir wissen wollen, denn ich bin ja so dumm!«

»Ich weiß wohl, du glaubst, klug zu sein; aber das ist gerade das Schlimme; gerade die gute Meinung, die du von dir selber hast, ist an deiner Dummheit schuld; Herr Casanova ist allerdings der Meinung, daß du viel Geist habest.«

»Vielleicht versteht er etwas davon.«

»Nein, er macht sich über dich lustig, mein armes Kind.«

»Ich glaube, das Gegenteil annehmen zu dürfen, liebe Tante.«

»Sieh, das ist eben grade eine Dummheit in aller Form.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, gnädige Frau, da bin ich anderer Meinung. Fräulein de la Meure hat recht, wenn sie glaubt, daß ich weit entfernt bin, mich über sie lustig zu machen, und ich wage Ihnen zu versprechen, daß sie morgen glänzen wird; die Gelegenheit dazu werden wir ihr bieten.«

»Sie bleiben also; das freut mich. Wir werden eine Partie Piquet machen, und ich werde gegen Sie beide spielen. Meine Nichte muß mit Ihnen spielen, denn sie muß es lernen.«

Tiretta bat sein Püppchen um Erlaubnis, ins Theater gehen zu dürfen. Wir waren also allein und spielten bis zum Abendessen. Als Tiretta wieder da war, lachten wir uns halb tot über die Art, wie er in seinem Kauderwelsch die Handlung des von ihm gesehenen Stückes erzählte. Hierauf trennten wir uns.

Seit einer Viertelstunde wartete ich in meinem Zimmer in der süßen Hoffnung, meine Geliebte in ihrem hübschen Nachtkleide zu sehen; plötzlich sah ich sie ganz angekleidet bei mir eintreten. Dies überraschte mich und schien mir von übler Vorbedeutung zu sein.

»Du bist erstaunt, mich angekleidet zu sehen,« sagte sie zu mir, »aber ich muß einen Augenblick mit dir sprechen; erst dann werde ich mich ausziehen. Sage mir ohne Umschweife, ob ich in diese Heirat einwilligen soll?«

»Wie findest du den Herrn?«

»Er mißfällt mir nicht.«

»So nimm ihn doch.«

»Das genügt. Lebe wohl! In diesem Augenblick hört unsere Liebe auf und unsere Freundschaft beginnt. Geh zu Bett; ich werde dasselbe tun. Lebe wohl!«

»Nein, bleibe! Unsere Freundschaft wird morgen beginnen.«

»Nein! Und wenn wir beide sterben müßten! Mein Entschluß wird mir schwer, aber er ist unwiderruflich. Wenn ich die Frau eines anderen werden soll, so muß ich mich vor allen Dingen vergewissern, daß ich seiner würdig sein werde. Vielleicht werde ich auch glücklich sein. Halte mich nicht zurück; laß mich gehen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«

»Einen Kuß wenigstens.«

»Ach! Nein.«

»Du weinst.«

»Nein. Um Gottes willen laß mich gehen!«

»Mein Herz, du wirst in deinem Zimmer weinen. Ich bin in Verzweiflung. Bleib! Ich werde dich heiraten.«

»Nein, dazu kann ich mich nicht mehr bereit erklären.«

Mit diesen Worten riß sie sich von mir los und lief hinaus. Ich war wie betäubt vor Scham und Schmerz. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge schließen. Ich verabscheute mich selber; denn ich wußte nicht, ob meine Schuld größer war, weil ich sie verführt, oder weil ich sie einem anderen überlassen hatte.

Ich blieb am nächsten Tage zum Essen da, trotz meinem Herzenskummer und obwohl ich mir selber eine traurige Figur zu spielen schien. Fräulein de la Meure glänzte im Gespräch. Sie unterhielt sich mit ihrem Zukünftigen so vernünftig und geistvoll, daß er sichtlich von ihr entzückt war. Überzeugt, daß ich doch nichts Gescheites zu sagen wüßte, schützte ich nach meiner Gewohnheit Zahnschmerzen vor, damit ich nicht zu sprechen brauchte. Ich war traurig, träumerisch und krank infolge der schlaflosen Nacht, und ich gestand mir selber ein, daß ich verliebt, eifersüchtig und in Verzweiflung war. Das Fräulein sprach nicht ein einziges Wort mit mir, gönnte mir keinen einzigen Blick. Sie hatte recht; aber damals war ich weit entfernt, die Richtigkeit ihrer Handungsweise anzuerkennen. Das Mittagessen kam mir trostlos lang vor; ich glaube nicht, jemals ein peinlicheres mitgemacht zu haben.

Sofort nach der Mahlzeit ging Frau *** mit ihrer Nichte und dem zukünftigen Neffen in ihr Kabinett. Eine Stunde darauf kam das Fräulein heraus und sagte uns, wir könnten ihr gratulieren; denn in acht Tagen würde sie verheiratet sein und sofort nach der Hochzeit würde sie ihrem Gatten nach Dünkirchen folgen. »Für morgen sind wir alle bei Herrn Corneman eingeladen; dort wird der Heiratsvertrag unterschrieben werden.«

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nicht auf der Stelle tot niedersank. Es wäre mir unmöglich, genau zu schildern, welche Qualen ich litt.

Bald nach dem Essen machte man den Vorschlag, in die Comédie Française zu gehen; aber ich entschuldigte mich mit dem Vorwand von Geschäften und fuhr nach Paris zurück. Als ich nach Hause kam, glaubte ich Fieber zu haben und ging zu Bett; anstatt jedoch die Ruhe zu finden, deren ich bedurfte, litt ich durch Reue und Gewissensbisse alle Höllenqualen. Der Gedanke wollte mich nicht loslassen, daß ich diese Heirat verhindern oder sterben müßte, überzeugt, daß Fräulein de la Meure mich liebte, glaubte ich, sie würde mir nicht widerstehen, wenn ich ihr nachwiese, daß ihre Weigerung mir das Leben kosten würde. Von diesen Gedanken erfüllt, stand ich auf und schrieb ihr den stärksten Brief, den eine heiße und empörte Leidenschaft nur eingeben kann. Nachdem ich hierdurch meinen Schmerz erleichtert hatte, ging ich wieder zu Bett und schlief bis zum Morgen. Gleich nach dem Erwachen ließ ich einen Dienstmann kommen und versprach ihm zwölf Franken, wenn er meinen Brief übergäbe und mir in anderthalb Stunden die Empfangsbescheinigung brächte. Mein Schreiben war einem Brief an Tiretta beigeschlossen, worin ich ihm mitteilte, daß ich nicht ausgehen würde, bevor ich eine Antwort erhalten hätte. Ich empfing diese vier Stunden später; sie lautete: »Es ist zu spät, lieber Freund; Sie haben mein Schicksal entschieden, ich kann nicht mehr zurück. Gehen Sie ruhig aus. Kommen Sie zum Essen zu Herrn Corneman und seien Sie überzeugt, in einigen Wochen werden wir beide uns glücklich fühlen, einen großen Sieg errungen zu haben. Unsere Liebe ist zu früh glücklich gewesen; sie wird nur noch in unserer Erinnerung fortleben. Ich flehe Sie an, mir nicht mehr zu schreiben.«

Ich fühlte mich dem Tode nahe. Diese Weigerung und der noch grausamere Befehl, ihr nicht mehr zu schreiben, brachten mich in Wut. Ich sah in ihrem Verhalten nur Unbeständigkeit; ich glaubte, sie hätte sich plötzlich in den Kaufmann verliebt. Man stelle sich meinen Zustand vor: ich faßte den schrecklichen Entschluß, meiner Nebenbuhler zu töten. In meiner erhitzten Phantasie folgte ein gräßlicher Plan dem anderen; mein Geist, durch eine aufgeregte und nicht befriedigte Leidenschaft verblendet, ersann die wildesten Mittel, um mich zu rächen. Ich war eifersüchtig, aufgeregt und durch Zorn und vielleicht ebensosehr durch verletzte Eitelkeit halb von Sinnen; Scham und Verdruß hatten meine Vernunft zerstört. Das reizende Mädchen, das ich nur bewundern konnte, das ich nur höher hätte schätzen müssen, das ich angebetet hatte wie einen Engel, es erschien mir als ein Ungeheuer, das ich hassen mußte, als eine Treulose, die ich bestrafen mußte. Endlich verfiel ich auf ein sicheres Mittel, und obwohl ich mir nicht verhehlen konnte, daß es ein niederträchtiges Mittel war, ergriff ich es doch in meiner blinden Leidenschaft ohne Zögern. Ich beschloß, den Bräutigam bei Corneman, wo er wohnte, aufzusuchen, ihm alles zu erzählen, was zwischen dem Fräulein und mir vorgefallen wäre, und wenn diese Enthüllung nicht genügte, um ihn zum Verzicht auf seinen Heiratsplan zu bewegen, ihm zu sagen, daß einer von uns beiden sterben müßte; endlich aber ihn zu ermorden, wenn er meine Herausforderung nicht annähme.

Als dieser entsetzliche Plan bei mir feststand, an den ich heute nur noch mit einem Schaudern des Abscheus denken kann, aß ich mit einem wahren Wolfshunger zu Abend, ging zu Bett und schlief ohne Unterbrechung bis zum Morgen. Beim Erwachen befand ich mich in derselben Stimmung und wurde dadurch in meinem Entschluß noch bestärkt. Schnell, aber sorgfältig kleidete ich mich an, steckte zwei wohlgeladene Pistolen in die Taschen und begab mich zu Herrn Corneman. Mein Nebenbuhler schlief noch. Ich wartete eine Viertelstunde, und während dieser Zeit bestärkten alle meine Gedanken mich in meinem Entschluß. Plötzlich erscheint mein Nebenbuhler im Schlafrock, kommt mit offenen Armen auf mich zu, umarmt mich und sagt zu mir in wohlwollendstem Ton: er habe meinen Besuch erwartet, denn da ich ein Freund seiner Braut sei, so glaube er, daß auch er mir freundschaftliche Gefühle eingeflößt habe; er werde stets die Gefühle meiner Braut für mich teilen.

Das schöne Gesicht des wackeren Mannes, sein freies und offenes Wesen, die Wahrheit des Gefühls, das in seinen Worten lag – dies alles drückte mich nieder. Ich schwieg einige Augenblicke; ich wußte wirklich nicht, was ich ihm sagen sollte. Zum Glück ließ er mir völlig genügende Zeit, um wieder zu nur zu kommen; denn er sprach eine Viertelstunde lang, ohne zu bemerken, daß ich noch keine einzige Silbe gesagt hatte.

Herr Corneman kam; es wurde Kaffee gebracht, und ich fand die Sprache wieder; aber ich konnte ihm jetzt nur noch einige höfliche Worte sagen, und ich wünsche mir noch heute Glück dazu. Die Krisis war vorüber.

Wenn man aufmerksam darauf achtet, so wird man bemerken, daß die hitzigsten Charaktere einem zu stark angespannten Strick gleichen, der entweder zerreißt oder seine Spannkraft verliert. Ich habe mehrere Personen von diesem Schlage gekannt, unter anderen den Chevalier L., der so lebhaft war, daß er sich in Augenblicken der Aufregung dem Tode nahe fühlte. Wenn er in dem Augenblick, wo seine Wut losbrechen wollte, irgendeinen Gegenstand zertrümmern konnte, wurde er sofort wieder ruhig. Die Vernunft gewann wieder die Oberhand, und der wütende Löwe wurde ein Lamm, ein wahres Muster von Sanftmut.

Nachdem wir eine Tasse Kaffee getrunken hatten, fühlte ich mich erleichtert und zugleich erstaunt; wir umarmten uns, und ich ging. Ich beobachte mich selbst mit der größten Verwunderung, aber ich war entzückt, meinen abscheulichen Vorsatz nicht ausgeführt zu haben. Mich demütigte nur die nicht zu leugnende Tatsache, daß ich es nur dem Zufall verdankte, wenn ich nicht eine ganz niederträchtige Handlung begonnen hatte und zum Verbrecher geworden war.

Während ich planlos durch die Straßen ging, begegnete ich meinen Bruder; dieses Zusammentreffen beruhigte mich vollends. Ich ging mit ihm zu Sylvia zum Mittagessen und blieb dort bis Mitternacht Ich sah, daß die junge Baletti die Treulose in Vergessenheit bringen würde, wenn ich so vernünftig war, ein Wiedersehen vor ihrer Hochzeit zu vermeiden. Um mir dies leichter zu machen, fuhr ich am nächsten Tage nach Versailles, um den Ministern meine Aufwartung zu machen.

  1. D’Alembert hat den großen König zu verbessern gewagt; fast hätte auch ich es getan. Aber dies wäre unüberlegt gewesen; denn wozu braucht ein König Latein zu können? Casanova.