Fortsetzung meiner Liebelei mit dem reizenden Fräulein X. C. V. – Vergebliche Abtreibungsversuche. – Das Aroph. – Flucht des Fräuleins und Eintritt in ein Kloster.
Durch die Schwierigkeiten und den Zwang, den ich mir antun mußte, wuchs nur noch meine Liebe zu der reizenden Engländerin. Ich besuchte sie jeden Morgen, und da ich wirklich an ihrem Zustand Anteil nahm, meine Rolle eine ganz natürliche war, so konnte sie meinen Eifer, sie aus der Verlegenheit zu befreien, nur für das nehmen, was er war; denn da ich von der Glut, die ich für sie empfand, nichts mehr merken ließ, so mußte sie alles dem zartesten Gefühl zuschreiben. Sie ihrerseits schien mit meiner Veränderung zufrieden zu sein; aber es war recht wohl möglich, daß ihre Zufriedenheit nur eine scheinbare war; ich kannte die Frauen gut genug, um zu wissen, daß sie, selbst wenn sie mich nicht liebte, sich darüber ärgern mußte, daß ich mich so leicht mit meinem Schicksal abgefunden hatte.
Eines Morgens machte sie mir inmitten eines leichtfertigen und unzusammenhängenden Geplauders ein Kompliment darüber, daß ich die Kraft gehabt hätte, mich zu überwinden; dann fügte sie lächelnd hinzu, meine Leidenschaft müßte nicht sehr stark gewesen sein, da sie in kaum acht Tagen so friedlich geworden wäre. Ich antwortete ihr ruhig: »Ich verdanke meine Heilung nicht der Schwäche meiner Leidenschaft, sondern meinem Selbstgefühl. Ich kenne mich, Fräulein, und glaube keine zu hohe Meinung von meinem Wert zu haben, wenn ich mich für würdig halte, geliebt zu werden. Natürlich habe ich mich gedemütigt und empört gefühlt, als ich mich überzeugte, daß Sie solchen Wert mir nicht zuerkennen. Kennen Sie, Fräulein, die Wirkung dieses doppelten Gefühls?«
»Leider nur zu gut. Ihm folgt die Verachtung des Gegenstandes, der es hervorgerufen hat.«
»Dies geht doch zu weit; wenigstens insofern ich in Betracht komme. Meiner Empörung folgte nur eine Rückkehr zur Besinnung und ein Plan, mich zu rächen.«
»Sich zu rächen? Auf welche Art denn?«
»Ich wollte Sie nötigen mich zu achten und Ihnen dabei zugleich beweisen, daß ich mich selbst zu beherrschen weiß und ein Glück, das ich heiß ersehnt habe, zu entbehren verstehe. Ob mir dies vollständig gelungen ist, weiß ich nicht; ich kann aber doch wenigstens heute Ihre Reize ansehen, ohne deren Besitz zu wünschen.«
»Und ich denke mir, Sie finden die Erfüllung Ihrer Rache in meiner Achtung. Aber Sie haben sich getäuscht; denn Sie haben annehmen müssen, daß ich Sie nicht achte, und das ist falsch, denn ich achtete Sie vor acht Tagen nicht weniger als heute. Ich habe Sie nicht einen einzigen Augenblick für fähig gehalten, mich im Stich zu lassen, um mich dafür zu bestrafen, daß ich mich Ihrer Leidenschaft nicht hingeben wollte, und ich freue mich, Sie richtig erkannt zu haben.«
Hierauf sprach sie mit mir von dem Opiat, das ich sie einnehmen ließ, und da sie keine Veränderung ihres Zustandes bemerkte, ihr Umfang vielmehr mit jedem Tag stärker wurde, so bat sie mich, ihr eine größere Dosis zu geben; aber ich hütete mich wohl, auf diese Bitten einzugehen; denn ich wußte, daß mehr als ein halbes Gran ihr das Leben hätte kosten können. Auch verbot ich ihr, sich zum drittenmal zur Ader zu lassen, weil sie sich damit sehr hätte schaden können, ohne doch ihren Zweck zu erreichen. Ihre Kammerzofe, die sie hatte ins Vertrauen ziehen müssen, hatte ihr zweimal durch einen Zögling von St.-Côme, der ihr Liebhaber war, die Ader schlagen lassen. Ich sagte ihr, sie müßte gegen solche Leute freigebig sein, um sich ihre Verschwiegenheit zu sichern; aber sie antwortete mir, solche Freigebigkeit sei für sie eine Unmöglichkeit. Ich bot ihr Geld an, und sie nahm fünfzig Louis an, indem sie mir sagte, sie würde mir diesen Betrag, dessen sie für ihren Bruder Richard bedürfte, zurückerstatten. Ich hatte das Geld nicht bei mir, schickte ihr aber noch am selben Tage eine Rolle von zwölfhundert Franken mit einem Briefe, worin ich sie herzlich bat, sich in jeder Notlage nur an mich zu wenden. Ihr Bruder erhielt wirklich den Betrag und hielt sich dadurch für berechtigt, mich um einen viel wichtigeren Dienst zu bitten; er kam nämlich am nächsten Tage zu mir, um sich zu bedanken, und bat mich um meinen Beistand in einer Angelegenheit, die für ihn von der größten Wichtigkeit sei. Als junger und ausschweifender Mensch war er an einen schlechten Ort geraten und hatte sich dort angesteckt. Er beklagte sich bitter über Herrn Farsetti, der ihm nicht einmal vier Louis hätte leihen wollen, unter dem Vorwande, daß er mit einer so ekelhaften Geschichte nichts zu tun haben möchte. Er bat mich, mit seiner Mutter darüber zu sprechen, damit sie ihn heilen ließe. Ich erfüllte seinen Wunsch; als aber seine Mutter erfuhr, worum es sich handelte, sagte sie mir, er befände sich schon zum dritten Male in diesem Zustand, darum wäre es besser, ihn darin zu lassen, als unnützerweise für seine Heilung Geld auszugeben; kaum geheilt, würde er sofort wieder den alten Lebenswandel beginnen.
Sie hatte recht. Ich ließ ihn auf meine Kosten von einem geschickten Wundarzt behandeln, aber es dauerte nicht einen Monat, so fiel er in seine alte Sünde zurück. Der Jüngling hatte einen natürlichen Hang zu schmachvollen Ausschweifungen, denn schon mit vierzehn Jahren war er ein zügelloser Wüstling.
Seine Schwester war nun im sechsten Monat schwanger, und ihre Verzweiflung wuchs in demselben Maße wie ihr Leib. Sie hatte den Entschluß gefaßt, ihr Bett nicht mehr zu verlassen, und ich war untröstlich, ihr nicht helfen zu können. Da sie mich von meiner Leidenschaft für sie vollkommen geheilt hatte, verkehrte sie mit mir wie mit einer vertrauten Freundin; sie ließ mich alle Teile ihres Leibes betasten, um mich zu überzeugen, daß sie es nicht mehr wagen könne, sich vor den Leuten sehen zu lassen. Ich spielte bei ihr die Rolle einer Hebamme; aber welche Überwindung kostete es mir, ruhig und gleichgültig zu erscheinen, während das Feuer, das mich verzehrte, aus allen meinen Poren drang! Ich konnte es nicht mehr aushalten. Sie sprach von Selbstmord in jenem Tone der Entschlossenheit, vor dem man erschaudert, weil er für eine reifliche Überlegung spricht. Ich war in einer schwer zu beschreibenden Verlegenheit, als plötzlich das Glück mir auf die scherzhafteste Art meine Ruhe wieder gab.
Als ich eines Tages mit Frau von Urfé allein speiste, fragte ich sie, ob sie ein sicheres Mittel kenne, um ein junges Mädchen, das sich mit ihrem Liebhaber zu weit eingelassen, vor Schande zu bewahren. »Ein unfehlbares,« antwortete sie mir, »nämlich das Aroph des Paracelsus! Es ist nicht schwer anzuwenden. Sind Sie neugierig es kennen zu lernen?« Mit diesen Worten stand sie auf, ohne meine Antwort abzuwarten, und holte ein Manuskript, das sie mir übergab. Dieses starke Abtreibungsmittel war eine Art Salbe, bestehend aus Safran, Myrrhe und anderen Krautersäften, die mit Jungfernhonig gemischt waren. Um die erwartete Wirkung zu erzielen, war ein zylinderförmiges Instrument erforderlich, das mit einer sehr weichen Haut überzogen war, es mußte dick genug sein, um den ganzen Raum der Scheide auszufüllen, und lang genug, um den Eingang des Beckens zu berühren, das den Fötus enthält. Das Ende dieses Zylinders mußte reichlich mit Aroph bestrichen sein, und da dieser nur im Augenblick einer Erregung des Uterus wirken konnte, so mußte diese durch eine beischlafähnliche Bewegung hervorgerufen werden. Außerdem mußte die Operation eine ganze Woche lang mindestens fünf bis sechsmal täglich wiederholt werden. Ich fand das Rezept und die Operation so lächerlich, daß es mir unmöglich war, ernst zu bleiben. Ich lachte herzlich darüber, verbrachte aber trotzdem reichlich zwei Stunden damit, die spaßhaften Träumereien des Paracelsus zu lesen, woran Frau von Urfé fester glaubte als an die Wahrheiten des Evangeliums; hierauf las ich mit Vergnügen Boerhave, der von diesem Aroph wie ein vernünftiger Mensch spricht.
Da ich, wie gesagt, das reizende Fräulein täglich mehrere Stunden und in voller Freiheit sah, da ich immer verliebt war und mir unaufhörlich Zwang antun mußte, so drohte das Feuer, das unter der Asche glomm, jeden Augenblick in helle Flammen auszuschlagen. Ihr Bild verfolgte mich ohne Unterlaß, sie war immerzu der Gegenstand meiner Gedanken, und ich überzeugte mich jeden Tag mehr, daß ich nicht eher Ruhe finden würde, als bis es mir gelänge, durch den völligen Besitz aller ihrer Reize meine Leidenschaft zu befriedigen.
Als ich allein zu Hause war, beschloß ich dem Fräulein, an das ich unaufhörlich dachte, meine Entdeckung mitzuteilen, in der Hoffnung, daß sie vielleicht zur Einführung des Zylinders meiner bedürfen möchte. Ich begab mich gegen zehn Uhr zu ihr und fand sie wie gewöhnlich im Bett; sie weinte darüber, daß das Opiat, das ich sie nehmen ließ, keine Wirkung hatte. Der Augenblick erschien mir günstig, um mit ihr von dem Aroph des Paracelsus zu sprechen, das ich ihr als ein unfehlbares Mittel zum Erreichen des von ihr gewünschten Zweckes schilderte. Während ich ihr die Wirksamkeit dieses Mittels pries, kam mir der Einfall, hinzuzufügen, daß das Aroph, um ganz sicher zu wirken, mit männlichem Samen vermischt sein müsse, der noch nicht seine natürliche Wärme verloren habe. »Wenn diese Mischung«, sagte ich ihr, »täglich mehrere Male den Gebärmuttermund benetzt, so schwächt sie ihn dermaßen, daß die Leibesfrucht durch ihr eigenes Gewicht heraustritt.«
An diese Einzelheiten schloß ich lange Reden an, um sie von der Wirksamkeit des Mittels zu überzeugen. Als ich sie nachdenklich geworden sah, sagte ich ihr: da ihr Geliebter abwesend sei, so müsse sie einen sicheren Freund haben, der bei ihr weile und ihr die Dosis so oft verabreiche, wie Paracelsus es vorschreibe.
Plötzlich lachte sie laut auf und fragte mich, ob wirklich das von mir Gesagte nicht ein bloßer Spaß wäre.
Ich gab mich verloren, denn die Albernheit des Mittels war handgreiflich, und wenn ihr gesunder Verstand sie dies erraten ließ, so mußten ihr unfehlbar auch meine Absichten verdächtig erscheinen. Aber was glaubt nicht eine Frau in ihrem Zustande!
»Wenn Sie es wünschen, mein gnädiges Fräulein,« sagte ich zu ihr im Tone der Überzeugung, »werde ich Ihnen das kostbare Manuskript anvertrauen, worin alles, was ich Ihnen gesagt habe, ganz genau aufgezeichnet ist; außerdem können Sie das bündige Urteil sehen, das Boerhave darüber abgibt.« Diese Worte überzeugten sie, sie hatten auf sie wie mit Zaubergewalt gewirkt, und ich ließ ihre Überzeugung sich nicht abkühlen. »Das Aroph«, sagte ich zu ihr, »ist das stärkste Mittel zur Beförderung der monatlichen Reinigung.«
»Und die monatliche Reinigung kann nicht eintreten, solange eine Frau schwanger ist; demnach muß das Aroph ein hervorragendes Mittel sein, um eine geheime Entbindung herbeizuführen. Können Sie es anfertigen?«
»Gewiß; dies ist nicht schwer, denn es sind dazu nur einige Bestandteile nötig, die ich kenne, und aus denen man mit Honig oder frischer Butter eine Salbe bereiten muß. Aber es ist notwendig, daß diese Mischung den Gebärmuttermund gerade im Augenblick der höchsten Erregung berührt.«
»Aber dann scheint mir, daß auch derjenige, der es verabreicht, lieben muß.«
»Ohne Zweifel – wenn er nicht einfach ein Tier ist, das nur der körperlichen Erregung bedarf.«
Sie schwieg lange Zeit. Obwohl sie ein kluges Mädchen war, hinderte sie doch die natürliche weibliche Schamhaftigkeit und die Unbefangenheit ihres Gemütes, an eine List zu denken, die ich ohne Schonung angewendet hatte, wie ich gestehen muß. Ich schwieg ebenfalls, weil ich erstaunt war, eine solche Fabel ohne vorherige Überlegung mit allem Anschein der Wahrheit vorgebracht zu haben.
Endlich brach sie das Schweigen und sagte traurig zu mir: »Das Mittel scheint mir natürlich und wundervoll zu sein; aber ich muß darauf verzichten.«
Hierauf fragte sie mich, ob die Zubereitung des Arophs längere Zeit beanspruche.
»Höchstens zwei Stunden, wenn man englischen Safran haben kann, den Paracelsus dem orientalischen vorzieht.«
In diesem Augenblick trat ihre Mutter mit dem Ritter Farsetti ein; nachdem wir einige nichtssagende Bemerkungen gewechselt hatten, lud sie mich zum Essen ein. Ich wollte ablehnen, aber das Fräulein sagte mir, sie würde mit uns speisen. Infolgedessen nahm ich die Einladung an, und wir verließen das Zimmer, um ihr Zeit zum Ankleiden zu lassen. Sie ließ nicht auf sich warten und erschien mit einer Nymphentaille. Ich war starr; kaum konnte ich meinen Augen trauen, und es fehlte nicht viel, so hätte ich geglaubt, von ihr angeführt zu sein; denn ich begriff nicht, wie sie es angefangen haben konnte, um bis zu einem solchen Grade die Fülle zu verbergen, die ich mit meinen eigenen Händen hatte berühren dürfen.
Farsetti saß neben mir, und ich neben ihrer Mutter. Beim Nachtisch fragte das Fräulein, dem das Aroph im Sinn lag, ihren Tischnachbar, der sich für einen großen Chemiker ausgab, ob er es kenne.
»Ich glaube,« sagte Farsetti mit selbstgefälliger Miene, »ich kenne es besser als irgend einer.«
»Wozu dient es?«
»Diese Frage ist zu unbestimmt.«
»Was bedeutet das Wort?«
»Aroph ist ein arabisches Wort, das ich nicht kenne. Man müßte im Paracelsus nachsehen.«
»Das Wort«, sagte ich zu ihm, »ist weder arabisch noch hebräisch; es gehört eigentlich keiner Sprache an. Es ist aus zwei Wörtern zusammengezogen.«
»Könnten Sie uns«, sagte der Ritter, »diese Worte nennen?«
»Nichts leichter als das: Aro kommt von Aroma, und ph ist der Anfangsbuchstabe von philosophorum.«
»Hat Paracelsus«, fragte Farsetti spitzig, »Ihnen diese Belehrung gegeben?«
»Nein, mein Herr, ich verdanke sie Boerhave.«
»Das ist ja komisch! Boerhave sagt dies nirgends; aber es gefällt mir, wenn man recht zuversichtlich zitiert!«
»Lachen Sie nur, mein Herr,« rief ich stolz, »das steht Ihnen natürlich frei; aber hier ist der Prüfstein: nehmen Sie eine Wette an, wenn Sie es wagen. Ich mache niemals falsche Zitate, wie gewisse Leute, die von arabischen Wörtern sprechen.«
Mit diesen Worten warf ich eine Börse voll Gold auf den Tisch, aber Farsetti, der seiner Sache nichts weniger als sicher war, antwortete mir verächtlich: er wette niemals.
Das junge Fräulein freute sich über seine Verwirrung und sagte ihm, das sei das richtige Mittel, niemals zu verlieren, und neckte ihn mit seinem arabischen Wort. Ich steckte meine Börse wieder in die Tasche, tat, als ob ich einmal hinausgehen müßte, und schickte meinen Bedienten zu Frau d’Urfé, um den Boerhave zu holen.
Dann setzte ich mich wieder zu Tisch und unterhielt mich heiter, bis mein Merkur zurückkam und mir das Buch brachte. Ich schlug es auf, und da ich es erst am Tage vorher benutzt hatte, fand ich sofort die Stelle wieder. Ich zeigte sie dem Ritter Farsetti und bat ihn, sich zu überzeugen, daß ich nicht mit angemaßter Zuversicht, sondern mit voller Gewißheit zitiert hätte. Anstatt das Buch zu nehmen, stand er auf und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen.
»Er ist ärgerlich fortgegangen,« sagte die Mutter, »und ich möchte wetten, er wird nicht wieder kommen.«
»Ich wette auf das Gegenteil!« rief die Tochter; »der morgige Tag wird nicht vorübergehen, ohne daß er uns mit seiner angenehmen Gegenwart beehrt.«
Sie hatte richtig geraten. Farsetti wurde von diesem Tage an mein unversöhnlicher Feind und ließ keine Gelegenheit vorübergehen, mir dies zu beweisen.
Nach dem Essen gingen wir alle nach Passy zu einem Konzert, das Herr de la Popelinière veranstaltete. Er lud uns zum Abendessen ein. Ich fand dort Sylvia und ihre reizende Tochter, die mit mir schmollte, und nicht ohne Grund, denn ich hatte sie vernachlässigt. Der berühmte Wundermann, St.-Germain, erheiterte die Tischgesellschaft durch seine Prahlereien, die er sehr geistvoll und mit allem Anstande vorbrachte. Ich habe niemals einen geistreicheren, geschickteren und unterhaltenderen Betrüger gekannt.
Am nächsten Tage schloß ich mich in meinem Hause ein und war für niemanden zu sprechen, weil ich eine Menge Fragen beantworten mußte, die Esther an mich gerichtet hatte. Auf alle jene, die den Handel betrafen, antwortete ich sehr dunkel, denn abgesehen von der Furcht, mein Orakel bloßzustellen, hätte ich es mir nie verzeihen können, ihrem Vater durch Erregung von Irrtümern einen Schaden zuzufügen. Der brave Mann war der anständigste von allen holländischen Millionären, aber er hätte sich zugrunde richten oder zum mindesten eine starke Bresche in sein Vermögen legen können, wenn er im Vertrauen auf meine Unfehlbarkeit sich Hals über Kopf in gewagte Unternehmungen gestürzt hätte. Esther war für mich, ich muß es gestehen, nur noch eine angenehme Erinnerung.
Fräulein X. C. V. beschäftigte mich ganz und gar trotz meiner zur Schau getragenen Gleichgültigkeit, und ich sah nicht ohne Unruhe den Augenblick herannahen, wo sie ihren Zustand nicht mehr vor ihrer Familie hätte verbergen können. Ich bereute es, mit ihr von dem Aroph gesprochen zu haben, denn seit drei Tagen war es nicht mehr erwähnt worden, und es kam nicht mir zu, ein so zartes Thema wieder zur Sprache zu bringen; ich befürchtete sogar, daß ich ihren Verdacht erregt hätte und daß bei ihr das Gefühl der Achtung sich in ein für mich viel weniger schmeichelhaftes Gefühl verwandelt haben möchte. Ihre Verachtung hätte ich nicht ertragen können. Ich fühlte mich dermaßen gedemütigt, daß ich nicht den Mut hatte, sie aufzusuchen, und ich weiß nicht, ob ich mich überhaupt dazu entschlossen hätte, wenn sie mir nicht entgegengekommen wäre. Sie schrieb mir in einem Briefchen: sie habe keinen anderen Freund als mich und bitte um keinen anderen Freundschaftsbeweis, als daß ich sie jeden Tag besuche, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Ich beeilte mich, ihr meine Antwort mündlich zu sagen. Ich versprach ihr, sie nicht im Stich zu lassen, und versicherte ihr, meine Freundschaft sei beständig und sie könne unter allen Umständen auf mich zählen. Ich hatte gehofft, sie würde von dem Aroph sprechen, aber vergebens. Ich glaubte, sie würde wohl reiflich darüber nachgedacht und es ganz richtig als eine Chimäre erkannt haben. Ich entschloß mich daher, auf dieses Hilfsmittel nicht mehr zu rechnen.
»Ist es Ihnen recht,« fragte ich sie, »wenn ich Ihre Mutter und die ganze Familie einlade, in meinem Hause zu speisen?«
»Dies würde mir viel Freude machen; es wäre ein Genuß, den ich mir etwas später nicht mehr werde verschaffen können.«
Das Essen war prächtig und zugleich fein; ich hatte an den Kosten nichts gespart, und alles war für den feinsten Geschmack berechnet. Meine Gäste waren außer der Familie X. C. V. Sylvia, deren Tochter, die reizend war, ein italienischer Musiker namens Magali, in den eine Schwester meines Fräuleins verliebt war, und der Bassist Lagarde, den man in allen gewählten Gesellschaften traf. Das Fräulein war die ganze Zeit über von einer entzückenden Heiterkeit. Witzworte, gute Einfälle, pikante Anekdoten belebten das Mahl, und die Freude war in jeder Beziehung die Göttin des Festes. Wir trennten uns erst um Mitternacht, und vor dem Abschiednehmen fand das Fräulein Gelegenheit mich zu bitten, am nächsten Morgen in der Frühe bei ihr vorzusprechen, da sie mir etwas Wichtiges zu sagen habe.
Wie man sich denken kann, versäumte ich es nicht, der Einladung zu folgen. Schon vor acht Uhr war ich bei ihr. Ich fand sie sehr traurig, und sie sagte mir, sie sei in Verzweiflung: »Herr de la Popelinière verlangt den Abschluß der Heirat, und meine Mutter drängt mich dazu. Sie hat mir angekündigt, ich müsse den Vertrag unterzeichnen; ein Schneider werde kommen und mir zu neuen Kleidern Maß nehmen. Hierzu kann ich nicht einwilligen, denn es ist unmöglich, daß ein Schneider nicht meinen Zustand bemerkt. Ich bin entschlossen, mir lieber das Leben zu nehmen als mich vor meiner Niederkunft zu verheiraten oder mich meiner Mutter anzuvertrauen.«
»Der Tod ist ein Hilfsmittel, das man immer noch anwenden kann; zu ihm darf man erst dann seine Zuflucht nehmen, wenn man andere Rettungsmittel erfolglos versucht hat. Von Herrn de la Popelinière können Sie sich, scheint mir, leicht frei machen: vertrauen Sie ihm Ihren Zustand an; er ist ein Ehrenmann und wird zurücktreten, ohne Sie bloßzustellen, denn es liegt in seinem eigenen Vorteil, das Geheimnis zu bewahren.«
»Aber werde ich damit viel weiter sein? Und meine Mutter?«
»Ihre Mutter? Ich übernehme es, sie zur Vernunft zu bringen.«
»O mein Freund! wie wenig kennen Sie sie! Um der Ehre willen würde sie genötigt sein, mich verschwinden zu lassen; aber vorher würde ich von ihr Leiden zu erdulden haben, denen der grausamste Tod vorzuziehen wäre. – Aber wie kommt es, daß Sie gar nicht mehr vom Aroph sprechen? Sollte es nur ein Scherz gewesen sein? Das wäre grausam.«
»Nein, ich halte es im Gegenteil für ein unfehlbares Mittel, obgleich ich seine wunderbaren Wirkungen niemals selber beobachtet habe. Aber welchen Zweck hätte es, mit Ihnen darüber zu sprechen? Sie haben gewiß erraten, daß mich Zartgefühl zum Schweigen zwang. Vertrauen Sie Ihren Zustand Ihrem Geliebten an; er ist in Venedig; schreiben Sie ihm, und ich erbiete mich, ihm die Botschaft in fünf oder sechs Tagen durch einen sicheren Mann zustellen zu lassen. Wenn er nicht reich ist, werde ich Ihnen das nötige Geld geben, damit er unverzüglich hierher kommen kann, um Ihnen Ehre und Leben zu retten, indem er Ihnen das Aroph beibringt.«
»Der Plan ist schön, und Ihr Anerbieten ist großmütig, aber es läßt sich nicht ausführen. Sie würden daran nicht zweifeln, wenn Ihnen der Zusammenhang der ganzen Geschichte besser bekannt wäre. An ihn dürfen wir nicht denken, lieber Freund, aber nehmen wir an, ich könnte mich entschließen, das Aroph von einem anderen als von ihm zu empfangen – so sagen Sie mir: wie könnte ich es? Wenn nun wirklich mein Geliebter sich in Paris verborgen hielte, wäre es möglich, daß er acht Tage in aller Freiheit mit mir verbrächte, wie es doch ohne Zweifel nötig sein würde, um mir das Mittel beizubringen? Und selbst wenn dies ausführbar wäre, wie könnte er mir eine ganze Woche lang fünf- oder sechsmal täglich die Dosis verabfolgen! Sie sehen wohl, es ist nicht möglich, an dieses Heilmittel zu denken.«
»Sie würden also, mein liebes Fräulein, um Ihre Ehre zu retten, sich entschließen, sich einem anderen hinzugeben?«
»Ja, ganz gewiß – wenn ich sicher wäre, daß niemand etwas davon erführe. Aber wo ist dieser Mann? Halten Sie es für möglich, einen solchen zu finden, und glauben Sie, daß ich selbst in diesem Fall mich entschließen könnte, ihn holen zu lassen?«
Ich wußte nicht, wie ich diese Worte auslegen sollte; denn Fräulein X. C. V. kannte meine Liebe zu ihr, und es erschien mir unnatürlich, daß sie daran denken sollte, mit großer Unbequemlichkeit in der Ferne zu suchen, was sie doch ganz in der Nähe finden konnte. Ich war geneigt zu glauben, daß sie gerne von mir gebeten wäre, mich zum Verabreicher des Mittels zu wählen, sei es um ihrem Schamgefühl ein so heikles Anerbieten zu ersparen, sei es, um sich das Verdienst zu erwerben, nur meiner Liebe nachzugeben, und mich dadurch zu größerer Dankbarkeit zu verpflichten. Aber ich konnte mich täuschen, und wollte mich nicht dem Schimpf und der Demütigung einer abschlägigen Antwort aussetzen. Andererseits konnte ich mir kaum vorstellen, daß sie die Absicht haben sollte, mich zu beleidigen. Da ich nicht wußte, zu welchem Heiligen ich meine Zuflucht nehmen sollte, um sie zu einer Erklärung zu zwingen, so stand ich mit einem schweren Seufzer auf, nahm meinen Hut, ging auf die Tür zu und rief: »Grausames Fräulein, ich bin unglücklicher als Sie!« Sie richtete sich in ihrem Bett auf und flehte mich an, zu bleiben, indem sie mich mit Tränen in den Augen fragte, wie ich mich für unglücklicher halten könne als sie. Eine gekränkte, aber gefühlvolle Miene annehmend, antwortete ich ihr, sie habe mich ihre Geringschätzung zu deutlich merken lassen, indem sie in ihrer traurigen Notlage mir einen Unbekannten vorzöge, den ich ihr ganz sicherlich nicht verschaffen würde.
»Wie grausam Sie sind! wie ungerecht!« rief sie weinend. »Jetzt sehe ich wohl, daß Sie keine Liebe zu mir empfinden, da Sie aus meiner entsetzlichen Lage einen Triumph für sich machen wollen. Ich kann Ihr Vorgehen nur als einen Racheakt ansehen, der eines großmütigen Mannes wenig würdig ist.«
Ihre Tränen rührten mich, und ich warf mich vor ihr auf die Knie und rief: »Da Sie doch wissen, liebes Fräulein, daß ich Sie anbete – wie können Sie mir wohl Rachepläne zutrauen? Sie müssen mich doch für unempfindlich halten, indem Sie mir mit klaren Worten sagen, daß Sie nicht wissen, an wen Sie sich in Abwesenheit Ihres Liebhabers wenden sollen, um sich aus der Verlegenheit zu retten!«
»Aber sagen Sie mir, ob ich schicklicherweise nach meiner ersten Ablehnung mich an Sie wenden sollte? Mußte ich nicht befürchten, daß Sie der Notwendigkeit verweigern würden, was Ihre Liebe nicht hatte erreichen können?«
»Sie glauben also, ein leidenschaftlich liebender Mann könne wegen einer Abweisung, deren Grund nur die Tugend sein kann, zu lieben aufhören? Lassen Sie mich Ihnen mein Herz offenbaren: ich habe allerdings glauben können, daß Sie mich nicht lieben – aber jetzt glaube ich gewiß zu sein, daß ich mich getäuscht habe und daß Sie mich unabhängig von der Zwangslage, in der Sie sich befinden, auch aus Gefühl glücklich gemacht haben würden; und weiter: Sie sind mir ohne Zweifel böse, daß ich mir das Gegenteil hatte einbilden können.«
»Sie sind, mein lieber Freund, der getreue Dolmetsch meiner Gefühle. Aber wir müssen noch feststellen, wie wir in aller erforderlichen Freiheit zusammenkommen können.«
»Sorgen Sie sich darum nicht; da ich Ihrer Zustimmung sicher bin, werde ich bald ein Auskunftsmittel gefunden haben. Unterdessen werde ich das Aroph zubereiten.«
Ich hatte beschlossen, wenn es mir je gelingen sollte, das schöne Fräulein zur Anwendung meines Mittels zu überreden, nur Honig zu gebrauchen; die Anfertigung des Aroph konnte mich also nicht in Verlegenheit bringen. In dieser Beziehung war ich also beruhigt; andererseits aber befand ich mich in einem Labyrinth, aus dem ich mich nicht herauszufinden wußte. Ich sollte ohne Unterbrechung mehrere Nächte in beständiger Arbeit verbringen; ich fürchtete, mich über meine Kraft hinaus verpflichtet zu haben, und es war nicht möglich, etwas davon abzudingen, ohne die Schäferstündchen zu gefährden, die ich so mühsam in die Wege geleitet hatte; an den Erfolg des Aroph dachte ich natürlich nicht. Außerdem konnte die Operation nicht in ihrem Schlafzimmer stattfinden, da ihre jüngere Schwester ebenfalls dort schlief und deren Bett nicht weit von dem ihrigen entfernt stand; sie acht Nächte hintereinander in einen Gasthof zu führen, war unmöglich. Die Gottheit des Zufalls, die den Liebesverhältnissen gewöhnlich günstig ist, kam mir zu Hilfe.
Als ich einmal hinaufgehen mußte, begegnete ich dem Küchenjungen; er erriet, was ich wollte, und bat mich, nicht weiter zu gehen, weil der Platz besetzt wäre.
»Aber du kommst ja eben heraus.«
»Allerdings, mein Herr; aber ich bin nur eingetreten und gleich wieder hinausgegangen.«
»Nun, so werde ich warten, bis der Ort wieder frei ist.«
»Oh! bitte, warten Sie nicht!«
»Aha, ich verstehe, du Spitzbube; ich werde nichts sagen, aber ich will sie sehen.«
»Sie wird nicht herauskommen; den»sie hat Sie gehört und sich eingeschlossen.«
»Sie kennt mich also?«
»Ja, und Sie kennen sie ebenfalls.«
»Gut, geh nur und sei deinetwegen und ihretwegen unbesorgt.«
Der Küchenjunge ging; ich begriff sofort, daß ich von dieser Begegnung Nutzen haben konnte. Ich ging hinauf und bemerkte durch eine Spalte des Fräuleins Kammerzofe Madeleine. Ich beruhigte sie, indem ich ihr zu schweigen versprach; sie öffnete; ich drückte ihr einen Louis in die Hand, und sie lief ein bißchen verlegen schnell weg. Gleich darauf ging ich wieder hinunter, und der Küchenjunge, der mich auf dem Treppenabsatz erwartete, bat mich, Madeleine zu veranlassen, daß sie ihm die Hälfte von dem Louis abgäbe.
»Ich verspreche dir einen ganzen,« sagte ich zu ihm, »wenn du alles gestehen willst.«
Dies tat der Bursche herzlich gern. Er erzählte mir seine Liebesgeschichte und sagte mir, er verbringe mit ihr alle Nächte in der Dachkammer; seit drei Tagen jedoch seien sie ihres Vergnügens beraubt, weil die gnädige Frau jetzt Wildbret dort aufbewahre und darum den Schlüssel abgezogen habe. Ich ließ mich von ihm hinführen und sah durch das Schlüsselloch, daß eine Matratze sehr gut Platz hatte. Ich gab dem Küchenjungen einen Louis und entfernte mich, um mir meinen Plan reiflich zu überlegen.
Ich war der Meinung, daß das Fräulein im Einverständnis mit Madeleine leicht die Nacht in dieser Dachkammer verbringen könnte. Ich versah mich mit einem Dietrich und mehreren falschen Schlüsseln und legte in eine Blechdose mehrere Gaben des angeblichen Aroph, das heißt: Honig, den ich mit Hirschhorn vermischt hatte, um ihm Festigkeit zu geben. Am nächsten Morgen ging ich in das Hotel de Bretagne, um sofort meinen Dietrich zu versuchen, ich brauchte ihn nicht, denn schon der erste Schlüssel, den ich probierte, genügte, um das schadhafte Schloß zu öffnen.
Stolz auf meine Entdeckung und auf meinen Erfolg ging ich zum Fräulein hinunter und sagte ihr mit ein paar Worten von allem Bescheid.
»Aber, lieber Freund, ich kann mein Zimmer nur verlassen, indem ich durch die Kammer gehe, worin Madeleine schläft.«
»Nun, mein Herz, so müssen wir das Mädchen auf unsere Seite bringen.«
»Ihr mein Geheimnis anvertrauen?«
»Ganz recht.«
»Das würde ich niemals wagen.«
»So übernehme ich es; der goldene Schlüssel öffnet alle Türen.«
Sie war mit allem einverstanden, nur der Küchenjunge setzte sie in Verlegenheit; denn wenn er hinter unser Geheimnis gekommen wäre, so hätte er uns schaden können. Ich glaubte, ich würde ihn durch Madeleine gewinnen können, oder diese würde als kluges Mädchen uns den Jungen vom Halse schaffen können.
Bevor ich ging, sagte ich dem Mädchen, ich hätte etwas Wichtiges mit ihr zu sprechen, und bestellte sie nach dem Kreuzgang der Augustinerkirche. Sie kam pünktlich, und ich setzte ihr meinen Plan in allen Einzelheiten auseinander. Er war nicht schwer zu begreifen. Sie sagte mir, sie würde dafür sorgen, daß ihr eigenes Bett zur bestimmten Stunde in dem Boudoir von ganz neuer Art sei; aber sie fügte hinzu, damit wir ganz ruhig sein könnten, wäre es unbedingt notwendig, den Küchenjungen für uns zu gewinnen. »Er ist ein kluger Bursche, und ich glaube für seine Treue bürgen zu können; überlassen Sie es nur mir, die Sache in Ordnung zu bringen.«
Ich gab ihr den Schlüssel und sechs Louis und befahl, ihre Herrin von allem zwischen uns Verabredeten zu unterrichten, sich mit ihr zu verständigen und die Dachkammer zu unserer Aufnahme bereit zu machen. Sie ging ganz vergnügt nach Hause. Eine Kammerzofe, die einen Liebsten hat, ist niemals so glücklich, wie wenn sie ihre Herrin in die Notwendigkeit versetzen kann, ihre Liebschaft zu beschützen.
Am nächsten Morgen suchte der Küchenjunge mich in Klein-Polen auf; ich hatte dies erwartet. Bevor er sprechen konnte, sagte ich ihm, er solle vor der Neugier meiner Dienstboten auf der Hut sein und nicht ohne zwingenden Grund zu mir kommen. Er versprach mir, vorsichtig zu sein, und versicherte mir seine Ergebenheit. Er gab mir den Schlüssel zur Dachkammer und sagte mir, er habe sich einen anderen verschafft. Ich bewunderte und lobte seine Umsicht und schenkte ihm sechs Louis, die, wie ich sah, mehr wirkten als die schönsten Worte.
Am nächsten Vormittag sah ich das Fräulein nur einen Augenblick, um ihr zu sagen, daß sie mich abends um zehn Uhr am bewußten Ort finden werde. Ich ging ziemlich frühzeitig dort hin, ohne von einem Menschen gesehen zu werden. Ich war im Überrock und hatte in den Taschen meine Schachtel mit dem Aroph, ein ausgezeichnetes Feuerzeug und eine Kerze. Ich fand in der Dachkammer eine gute Matratze, zwei Kopfkissen und eine warme Steppdecke, einen sehr nützlichen Gegenstand, denn die Nächte waren kalt, und wir mußten in den Pausen der Operation schlafen können.
Um elf Uhr hörte ich ein leises Geräusch. Mir klopfte das Herz, was immer ein gutes Vorzeichen ist. Ich ging auf den Fußspitzen hinaus und meinem Fräulein entgegen. Ich beruhigte sie durch einen zärtlichen Kuß, führte sie in unser Schlafgemach, verrammelte die Tür und verhängte das Schlüsselloch, um für alle Fälle vor Überraschungen sicher zu sein und mich vor Neugierigen zu schützen.
Als ich dann meine Kerze anzündete, wurde mein Fräulein unruhig. »Das Licht kann uns verraten, wenn jemand nach dem vierten Stock heraufkommt,« sagte sie zu mir.
»Es ist nicht anzunehmen, daß jemand kommt; aber abgesehen davon, müssen wir es eben doch wagen; denn wie könnten Sie ohne Licht mir das Aroph auflegen?«
»Nun, so werden wir die Kerze unmittelbar darauf auslöschen.«
Ohne uns mit jenen Vorspielen zu unterhalten, die sonst, wenn man frei ist, in der Liebe so süß sind, entkleideten wir uns und gingen ernstlich an unsere Rollen, die wir mit der größten Vollkommenheit spielten. Ich sah aus wie ein Zögling von St. Côme, der eine Operation vornehmen will, sie wie eine Kranke, die sich in ihr Schicksal ergibt, nur mit dem Unterschied, daß in diesem Fall die Kranke die Vorbereitungen traf. Als der Opferpriester mit allem Nötigen ausgerüstet war, das heißt, als die weißen Hände meiner Engländerin mir das Aroph wie ein Priesterkäppchen aufgelegt hatten, nahm sie die günstigste Lage ein und erweiterte mit beiden Händen die Mündung, durch die das Mittel an den Ort gelangen sollte, wo sich die Vermischung mit dem Lebenssaft vollziehn sollte.
Wirklich komisch würde einem Dritten, der uns hätte sehen können, der doktorale Ernst erschienen sein, den wir beide zur Schau trugen.
Als die Einfühlung vollständig bewerkstelligt war, löschte das ängstliche Fräulein die Kerze aus; aber einige Minuten später mußte sie mir gestatten, sie wieder anzuzünden. Ich hatte mein Werk meisterhaft vollbracht, aber zu schnell, so daß meine Agnes, die im Anfang noch mit ihrer Angst zu tun hatte, im Rückstand geblieben war. Ich sagte ihr dienstfertig, ich sei hocherfreut noch einmal beginnen zu müssen, und der Ton, worin ich dieses Kompliment vorbrachte, brachte uns beide zu lautem Lachen.
Bei der zweiten Operation ging es nicht so schnell wie bei der ersten, und diesmal hatte das Fräulein vollkommen Zeit, auch ihrerseits tüchtig mitzuarbeiten.
Die Scham war dem Vertrauen gewichen, und als sie das an seinem Platze gebliebene Aroph untersuchte, machte sie mit der Spitze ihres hübschen Fingers auf den sehr deutlich erkennbaren Anteil ihrer Mitwirkung aufmerksam. Sodann sagte sie mir mit zärtlicher und zufriedener Miene, wir hätten, um den erhofften Erfolg zu erreichen, noch einen weiten Weg vor uns, und forderte mich auf, mich etwas auszuruhen. »Wie Sie sehen,« antwortete ich ihr, »bedarf ich dessen nicht, und ich denke, wir tun gut, wenn wir gleich wieder anfangen.«
Sie fand ohne Zweifel diesen Grund überzeugend, denn sie machte sich sofort, ohne ein Wort zu erwidern, von neuem an die Arbeit. Hierauf überließen wir uns einem ziemlich langen Schlummer. Als ich erwachte, fühlte ich mich vollkommen frisch und beantragte eine neue Operation. Nachdem diese von ihr bewilligt und von mir tadellos ausgeführt worden war, bestimmte eine ökonomische Betrachtung meines vorsichtigen Fräuleins mich, meine Kräfte zu schonen, denn wir mußten uns auch für die folgenden Nächte bei Kräften erhalten. Gegen vier Uhr morgens verließ sie mich daher und ging leise nach ihrem Zimmer zurück; ich verließ mit Tagesanbruch das Haus unter dem Schutz meines Küchenmerkurs, der mich durch eine bis dahin unbekannte Nebentür entschlüpfen ließ.
Nachdem ich ein Kräuterbad genommen hatte, machte ich gegen Mittag wie gewöhnlich dem Fräulein X. C. V. meine Aufwartung. Ich fand sie in einem eleganten Morgenkleide, das Lächeln des Glückes auf ihren Lippen, in ihrem Bett sitzen. Sie sprach mir von ihrer Dankbarkeit und dankte mir sofort und so feurig, daß ich, der ich mich mit Recht für ihren Schuldner hielt, allen Ernstes ärgerlich zu werden begann.
»Begreifen Sie denn wirklich nicht, liebes Fräulein,« rief ich aus, »daß Ihre Danksagungen mich demütigen? Sie beweisen mir, daß Sie mich nicht lieben, oder, wenn Sie mich lieben, daß Sie meine Liebe nicht für so groß halten wie die Ihrige.«
Schließlich wurden wir beide gerührt und hätten unsere gegenseitige Liebe ohne die Beihilfe des Arophs besiegelt, wenn nicht die Vorsicht uns zu Hilfe gekommen wäre. Wir waren in dem Schlafzimmer nicht sicher und wir hatten ja noch viel Zeit vor uns. So begnügten wir uns denn in Erwartung der Nacht mit den zärtlichsten Küssen.
Meine Lage war sonderbar; denn obwohl ich das anziehende Mädchen sehr lieb hatte, machte ich mir doch nicht den geringsten Vorwurf darüber, sie getäuscht zu haben, um so weniger, da die Folgen nicht von Bedeutung sein konnten, denn der Platz war ja schon besetzt. Nur aus einem kleinen Rachegefühl verletzter Eitelkeit freute ich mich darüber, daß ich mir durch einen Betrug so hohe Genüsse verschaffte. Sie sagte mir, sie fühle sich gedemütigt, daß sie meinen Wünschen Widerstand geleistet habe, als sie mir durch ihre Hingabe einen echten Beweis ihrer Liebe hätte ablegen können, während sie jetzt voll Bitterkeit fühle, daß ich über ihre wirklichen Empfindungen einigen Zweifel hegen könne. Ich bemühte mich nach Kräften, sie zu beruhigen, und in Wirklichkeit machten meine Gefühle jeden Zweifel unnütz, denn ich hatte meinen Zweck so vollständig erreicht, wie ich es nur wünschen konnte. Aber einen Erfolg erreichte ich, zu welchem ich mir noch heute Glück wünsche: Während meiner nächtlichen Arbeiten, die freilich für den von ihr verfolgten Zweck sehr nutzlos waren, hatte ich das Glück, ihr soviel Vertrauen und Ergebung einzuflößen, daß sie aus eigenem Antriebe mir versprach, sich nicht mehr der Verzweiflung zu überlassen, sondern allem was kommen könnte zum Trotz sich nur mir zu überlassen und nur meine Ratschläge zu befolgen. Während unserer nächtlichen Gespräche wiederholte sie mir oft, sie fühle sich glücklich und werde es auch selbst dann sein, wenn das Aroph keine Wirkung haben sollte. Nicht als ob sie nicht das größte Vertrauen dazu gehabt hätte, denn sie hörte mit der Anwendung des unschuldigen Mittels erst bei den letzten Kämpfen auf, die wir mit einem beinahe fanatischen Eifer uns lieferten, wie wenn wir die Schale der Wollust bis auf den letzten Tropfen hätten leeren wollen.
»Mein lieber Freund,« sagte sie zu mir, als wir uns zum letzten Male trennten, »was wir getan haben, scheint mir viel mehr geeignet zu schaffen, als zu zerstören, und wenn die Tür nicht schon hermetisch verschlossen gewesen wäre, so hätten wir wahrscheinlich dem kleinen Einsiedler gute Gesellschaft verschafft.«
Ein Doktor der Sorbonne hätte nicht besser reden können.
Drei oder vier Tage später fand ich sie nachdenklich, aber ruhig, sie sagte mir, sie habe alle Hoffnung verloren, ihrer Bürde vor der Zeit ledig zu werden; sie werde fortwährend von ihrer Mutter bedrängt und binnen sehr wenigen Tagen bleibe ihr keine andere Wahl mehr, als entweder ihren Zustand einzugestehen oder den Heiratsvertrag zu unterzeichnen. Sie könnte sich jedoch für keine dieser Möglichkeiten entschließen und wolle deshalb entfliehen. Sie bat mich, ihr dies zu ermöglichen.
Ich war entschlossen, ihr behilflich zu sein. Dieser Entschluß stand völlig fest, aber ich wollte den äußeren Schein retten, denn ich hätte mir eine böse Geschichte an den Hals ziehen können, wenn man die Gewißheit erlangt hätte, daß ich sie empfing oder ihr die Mittel zur Flucht aus Frankreich verschafft hätte. Übrigens hatten wir beide niemals daran gedacht, uns durch unlösbare Bande für das ganze Leben zu vereinigen. Ich verließ sie sehr nachdenklich und begab mich nach den Tuilerien, wo ein geistliches Konzert stattfand. Es wurde eine von Mondonville komponierte Motette gespielt; der Text war vom Abbé Voisenon, dem ich den Stoff angegeben hatte: die Israeliten auf dem Berge Horeb. Die Dichtung war in freien Versen geschrieben und machte als etwas Neues in dieser Art Aufsehen. Als ich aus meinem Wagen stieg, bemerkte ich Frau du Rumain, welche allein aus dem ihrigen stieg. Ich eilte auf sie zu und wurde von ihr als ein guter Bekannter begrüßt: »Ich freue mich, Sie hier zu finden; es ist wirklich ein Glücksfall. Ich will mir die Neuigkeit anhören, und habe zwei reservierte Plätze; Sie werden mir ein Vergnügen machen, wenn Sie den einen annehmen.« Ich fühlte den ganzen Wert einer so ehrenvollen Einladung und nahm sie natürlich an, obwohl ich meine Eintrittskarte in der Tasche hatte. Ich reichte ihr ehrerbietig meinen Arm, und wir nahmen zwei der besten Plätze ein.
Man plaudert in Paris nicht, wenn man geistliche Musik hört, besonders wenn es etwas Neues ist. Frau du Rumain konnte also aus meinem notgedrungenen Schweigen während des Konzertes nicht auf den Zustand meiner Seele schließen, aber sie erriet ihn an meinen Gesichtszügen, als alles zu Ende war; denn ich sah niedergeschlagen und sorgenvoll aus, und dies war bei mir etwas Ungewöhnliches.
»Herr Casanova,« sagte sie zu mir, »erweisen Sie mir den Gefallen, auf eine Stunde zu mir zu kommen, ich habe Ihnen einige kabbalistische Fragen zu stellen; Sie müssen sie mir lösen, denn sie liegen mir am Herzen; aber wir müssen uns beeilen, weil ich heute Abend außerhalb des Hauses speise.«
Begreiflicherweise ließ ich mich nicht bitten; ich fuhr mit ihr nach Hause, und in weniger als einer halben Stunde waren meine Antworten fertig. Hierauf sagte die liebenswürdige Dame in wohlwollendstem Ton zu mir: »Was haben Sie denn, Herr Casanova? Sie sind nicht in Ihrer gewöhnlichen Stimmung, und wenn ich mich nicht täusche, erwarten Sie irgend ein großes Unglück. Sollten Sie vielleicht in der Lage sein, einen wichtigen Entschluß fassen zu müssen? Ich bin nicht neugierig; aber wenn ich Ihnen bei Hofe nützlich sein kann, so verfügen Sie über meinen Einfluß und zählen Sie auf mich. Ich werde, wenn die Sache dringlich ist, nötigenfalls morgen früh nach Versailles fahren; ich bin bei allen Ministern gut angeschrieben. Teilen Sie mir Ihren Kummer mit, lieber Freund; wenn ich ihn nicht lindern kann, werde ich ihn wenigstens teilen, verlassen Sie sich auf meine Verschwiegenheit.«
Diese Ansprache kam mir vor wie eine himmlische Stimme, wie eine Ermahnung eines guten Genius, mich dieser Dame anzuvertrauen, die beinahe meine Gedanken gelesen und mir in unzweideutigen Ausdrücken erklärt hatte, daß sie an meinem Glück großen Anteil nehme. Nachdem ich schweigend, aber mit dem Ausdruck unfehlbarer Dankbarkeit sie einige Augenblicke angesehen hatte, sagte ich zu ihr: »Ja, gnädige Frau, ich befinde mich in einer sehr kritischen Lage und stehe vielleicht im Begriff, mich zugrunde zu richten; aber Ihr Wohlwollen gibt mir meine Ruhe wieder, indem es mich einige Hoffnung schöpfen läßt; ich werde Ihnen meine Lage schildern. Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, das die Ehre unverletzlich macht; ich kann an Ihrer Verschwiegenheit so wenig zweifeln wie an Ihrer Güte. Wenn Sie dann mir gnädigst einen Rat erteilen wollen, so verspreche ich Ihnen, diesen zu befolgen, und ich schwöre Ihnen, niemals zu sagen, von wem ich ihn erhalten habe.«
Nach dieser Einleitung, die sie mit der größten Aufmerksamkeit anhörte, erzählte ich ihr die ganze Geschichte mit allen Einzelheiten. Ich verschwieg ihr weder den Namen des Fräuleins noch irgend einen der Umstände, die mich nötigten, für sie einzutreten. Nur von dem Aroph und dessen Anwendung schwieg ich: die Sache erschien mir zu komisch, um sie in dieses ernste Drama hineinzumischen; aber ich gestand ihr, daß ich ihr in der Hoffnung, sie von ihrer Last zu befreien, Heilmittel verschafft hätte.
Nach dieser wichtigen Mitteilung schwieg ich, und Frau du Rumain blieb fast eine halbe Stunde lang in Gedanken versunken. Endlich stand sie auf und sagte zu mir: »Ich werde bei Frau de la Marck erwartet; ich muß unbedingt hingehen, denn ich soll dort den Bischof von Montrouge treffen, mit dem ich etwas zu besprechen habe. Ich hoffe jedoch, ich werde Ihnen nützlich sein können. Bitte kommen Sie übermorgen um acht Uhr wieder; Sie werden mich allein finden; vor allen Dingen tun Sie keine Schritte, bevor Sie mich gesehen haben; leben Sie wohl.«
Ich verließ sie voller Hoffnung und fest entschlossen, bei dieser heiklen Angelegenheit mich nur von ihrem Rat leiten zu lassen. Der Bischof von Montrouge, mit dem sie wegen einer wichtigen, mir sehr wohl bekannten Angelegenheit zu sprechen hatte, war der Abbé von Voisenon, den man so nannte, weil er oft dorthin ging. Montrouge ist ein Landhaus in der Nähe von Paris, das damals dem Herzog de la Vallière gehörte.
Am nächsten Morgen besuchte ich mein liebes Fräulein; ich sagte ihr jedoch nur, daß ich die Hoffnung hätte, ihr in ein paar Tagen gute Nachrichten geben zu können. Ich war mit ihr zufrieden; denn sie zeigte sich gefaßt und vertrauensvoll.
Den Tag darauf stellte ich mich pünktlich um acht Uhr bei meiner edlen Gönnerin ein. Der Schweizer sagte mir lächelnd, ich würde den Arzt bei der gnädigen Frau finden, dies hielt mich nicht ab, hinaufzugehen; er entfernte sich, sobald sie erschien. Es war der Doktor Herrenschwand, um den sich alle hübschen Frauen von Paris rissen. Der unglückliche Poinsinet brachte ihn im Cercle auf die Bühne, einem kleinen Einakter von sehr müßigem Werte, der jedoch zu seiner Zeit einen großen Erfolg hatte.
»Mein lieber Betrübter,« sagte Frau du Rumain zu mir, sobald wir allein waren, »ich habe Ihre Sache in Ordnung gebracht. Nun aber müssen Sie mir ein unverletzliches Geheimnis bewahren. Nachdem ich über den Gewissensfall, den Sie mir anvertraut hatten, reiflich nachgedacht hatte, begab ich mich nach dem Kloster C., dessen Äbtissin meine Freundin ist. Ich vertraute ihr das Geheimnis an, da ich vollkommen sicher bin, daß sie nicht imstande ist, es zu mißbrauchen. Wir haben abgemacht, daß sie das Fräulein in ihr Kloster aufnehme und ihr eine gute Laienschwester zuteile, um sie im Wochenbett zu pflegen. Sie werden nicht leugnen,« bemerkte sie lachend, »daß die Klöster doch für etwas gut sind. Ihre Schutzbefohlene wird allein nach dem Kloster gehen und durch die Pförtnerin der Äbtissin einen Brief überreichen lassen, den ich Ihnen geben werde. Sie wird sofort eingelassen und in ein anständiges Zimmer gebracht werden. Sie wird niemals Besuche empfangen, und alle Ihre Briefe müssen durch meine Hände gehen. Die Äbtissin wird mir ihre Antworten schicken, und ich werde Ihnen diese eigenhändig übergeben. Sie begreifen, daß sie nur mit Ihnen Briefe wechseln darf, und Sie nur durch meine Vermittlung Nachrichten von ihr erhalten können. Sie müssen auf die gleiche Weise verfahren, und Ihre Briefe dürfen nicht adressiert sein. Ich habe der Äbtissin den Namen Ihres Fräuleins sagen müssen, aber den Ihrigen habe ich ihr nicht genannt, weil sie mich nicht danach gefragt hat. – Teilen Sie dies alles Ihrem jungen Fräulein mit; sobald sie bereit ist, melden Sie es mir, und ich werde Ihnen meinen Brief geben. Sagen Sie ihr, sie solle nur das Allernotwendigste mitnehmen und vor allen Dingen keine Diamanten oder wertvolle Schmucksachen mitbringen. Sie können ihr versichern, daß die Äbtissin sie von Zeit zu Zeit in freundschaftlicher Weise besuchen und daß sie ihr anständige Bücher geben wird. Sie wird, mit einem Wort, vorzüglich gepflegt und behandelt werden. Sagen Sie ihr auch, sie möge sich der Laienschwester, die sie bedienen wird, in keiner Weise anvertrauen; denn obwohl sie anständig und gut ist, ist sie doch eine Nonne, und das Geheimnis wäre vielleicht bei ihr nicht sicher; nach ihrer Niederkunft wird sie zur Beichte gehen und hierauf das Osterabendmahl erhalten. Die Äbtissin wird ihr ein Zeugnis in aller Form ausstellen, mit dem sie ohne Schwierigkeit sich wieder zu ihrer Mutter begeben kann; diese wird nur zu glücklich sein, sie wieder zu haben, und von der Heirat wird nicht mehr die Rede sein, um so weniger, da sie diese als Grund ihrer Entfernung angeben wird.«
Nachdem ich ihr tausendmal gedankt und ihre kluge Vorsicht gelobt hatte, bat ich sie, mir den Brief sofort zu geben, da keine Zeit mehr zu verlieren sei. Dienstbereit setzte sie sich sofort an ihren Schreibtisch und schrieb folgendes:
»Meine liebe Äbtissin! Die junge Dame, die Ihnen diesen Brief überbringen wird, ist jene, von der ich das Vergnügen hatte, mit Ihnen zu sprechen. Sie wünscht drei oder vier Monate unter Ihrem Schütze in Ihrem Kloster zu verbringen, um ihre Seelenruhe wieder zu erlangen, ihre Andacht zu verrichten und sicher zu sein, daß bei ihrer Rückkehr zu ihrer Mutter nicht mehr von einer Heirat die Rede sein wird, zu der sie sich nicht entschließen kann und die sie veranlaßt hat, sich für einige Zeit von ihrer Familie zu entfernen.«
Nachdem sie mir den Brief vorgelesen hatte, übergab sie mir ihn unversiegelt, damit das Fräulein ihn lesen könnte. Die Äbtissin war eine Prinzessin, das Kloster daher vor jedem Verdacht sicher. Als ich den Brief von der Gräfin empfing, fühlte ich mich so von Dankbarkeit erfüllt, daß ich mich vor ihr auf die Knie warf. Die großmütige Dame wurde mir auch in der Folge noch sehr nützlich, wie ich später erzählen werde.
Von Frau du Rumain begab ich mich stracks nach dem Hotel de Bretagne; das Fräulein hatte nur gerade soviel Zeit, mir zu sagen, daß sie für den ganzen Tag beschäftigt sei; sie werde aber abends um elf Uhr in die Dachkammer kommen, wo wir Zeit genug haben würden, uns zu unterhalten. Diese Mitteilung freute mich sehr, denn ich sah voraus, daß unser schöner Traum zu Ende sein und daß ich keine Gelegenheit mehr haben würde, mit ihr allein zu sein. Ehe ich das Haus verließ, sagte ich noch Madeleine ein Wörtchen; sie übernahm es, unserem Merkur Bescheid zu sagen, daß er alles in besten Stand setzen solle.
Pünktlich war ich da und brauchte nicht lange auf meine Schöne zu warten. Nachdem ich ihr den Brief der Frau du Rumain vorgelesen hatte, deren Namen ich ihr verschwieg, ohne daß sie etwas Arges dabei fand, löschte ich das Licht aus. Ohne von dem Aroph noch zu reden, überließen wir uns dem Vergnügen, uns gegenseitig unsere Liebe zu beweisen. Als es am Morgen Zeit wurde, uns zu trennen, gab ich ihr mündlich alle Weisungen, die ich selber empfangen hatte. Wir verabredeten, daß sie um acht Uhr mit den notwendigen Sachen das Haus verlassen und in einem Fiaker bis zur Place Maubert fahren solle; von dort solle sie einen anderen bis zur Porte St.-Antoine nehmen, und von dort endlich einen dritten, der sie auf dem nächsten Wege zum Kloster zu bringen hätte. Ich bat sie, nicht zu vergessen, alle von mir empfangenen Briefe zu verbrennen und mir vom Kloster aus so oft wie möglich zu schreiben, ihre Briefe zu versiegeln, aber nicht zu adressieren. Sie versprach mir, meine Anordnungen pünktlich zu befolgen; hierauf nötigte ich sie, eine Rolle von zweihundert Louis anzunehmen, für die sie vielleicht Bedarf haben konnte, obgleich wir nicht voraussahen, auf welche Weise. Sie weinte, aber weniger über ihre eigene, sehr schwierige Lage, als über die bittere Verlegenheit, worin sie mich zurückließ. Ich beruhigte sie jedoch, indem ich ihr sagte, ich hätte viel Geld und mächtige Gönner. »Ich werde übermorgen zur verabredeten Stunde fortgehen,« sagte sie. Ich versprach ihr, am Tage zu ihrer Mutter zu gehen, wie wenn ich von nichts wüßte, und darauf ihr alles zu schreiben, was man über ihre Flucht sagen würde. Hierauf umarmten wir uns zärtlich, und ich ging.
Ihr Schicksal beunruhigte mich sehr; sie war klug und entschlossen; aber wenn die Erfahrung fehlt, veranlaßt gerade unsere Klugheit uns sehr oft, große Dummheiten zu begehen.
Am übernächsten Tage nahm ich einen Fiaker und ließ diesen an einer Straßenecke halten, wo sie vorbeikommen mußte. Ich sah sie ankommen, aus dem Wagen steigen, den Kutscher bezahlen und in einen Hausgang eintreten. Einige Augenblicke darauf kam sie heraus; sie trug ihr Päckchen in der Hand und hatte ihren Kopf in ein Tuch gehüllt. Ich sah sie in einen anderen Fiaker steigen, der sich sofort in der zwischen uns verabredeten Richtung entfernte. Hierdurch beruhigt und einigermaßen sicher, daß sie meine Weisungen genau befolgen würde, ging ich meinen Geschäften nach. Der nächste Tag war der Sonntag Quasimodo. Ich hielt mich für verpflichtet, mich im Hotel Bretagne sehen zu lassen; denn da ich vor der Flucht des Fräuleins täglich hingegangen war, konnte ich meine Besuche nicht einstellen, ohne den Verdacht zu bestärken, den man ohnehin gegen mich haben mußte. Aber wie peinlich war diese Aufgabe. Ich mußte heiter, mit ruhigem und völlig unverändertem Gesicht an einem Ort erscheinen, wo ich sicher war, Traurigkeit und Unruhe zu finden! Ich gestehe, dazu gehörte eine eiserne Stirn.
Ich wählte die Stunde, wo die ganze Familie bei Tisch zusammen sein mußte, und ging sofort in den Speisesaal. Ich trat wie gewöhnlich mit lachendem Gesicht ein und setzte mich etwas rückwärts neben Frau X. C. V. Ich tat, wie wenn ich ihre Überraschung nicht bemerkte, obgleich diese deutlich genug war, denn ihr Gesicht war glühend rot. Einen Augenblick darauf fragte ich sie, wo das Fräulein sei. Sie drehte sich um, sah mich fest an und sagte kein Wort.
»Sollte sie krank sein?« fragte ich sie.
»Davon weiß ich nichts.«
Ihr schroffer Ton war mir ganz recht, denn er berechtigte mich, eine ernste Miene anzunehmen. Ich blieb eine Viertelstunde lang nachdenklich und schweigend sitzen, indem ich den Überraschten und Erstaunten spielte. Hierauf stand ich auf und fragte sie, ob ich ihr irgendwie gefällig sein könnte; da ich nur einen kühlen Dank erhielt, verließ ich das Speisezimmer und ging zum Fräulein, wie wenn ich geglaubt hätte, sie in ihrem Zimmer zu finden. Ich fand dort nur Madeleine, die ich mit einem bedeutungsvollen Blick fragte, wo ihre Herrin sei. Sie antwortete mit der inständigen Bitte, ich selber möchte es ihr sagen, wenn ich es wüßte.
»Ist sie allein ausgegangen?«
»Ich weiß durchaus nichts, mein Herr, aber man glaubt, Sie wüßten alles. Ich bitte Sie, mich allein zu lassen.«
Mich höchst erstaunt stellend, verließ ich langsamen Schrittes das Haus und stieg in meinen Wagen. Ich war sehr froh, daß ich diese peinliche Aufgabe hinter mir hatte. Es war natürlich, daß ich nach der Aufnahme, die ich gefunden hatte, mich für beleidigt hielt und mich in dieser Familie nicht mehr sehen ließ; denn mochte ich nun schuldig oder unschuldig sein, so wußte doch Frau X. C. V. ganz genau, daß die Art ihres Empfanges zu bedeutungsvoll war, als daß ich nicht hätte wissen sollen, woran ich wäre.
Als ich zwei Tage darauf zu sehr früher Stunde an meinem Fenster stand, hielt ein Fiaker vor meinem Hause, und einen Augenblick darauf stiegen Frau X. C. V. und Herr Farsetti aus. Ich beeilte mich hinauszugehen, um sie zu empfangen, und dankte ihnen, daß sie gekommen seien, um sich zum Frühstück einzuladen. Ich tat, wie wenn sie nur zu diesem Zwecke gekommen sein könnten. Ich lud sie ein, vor einem guten Feuer Platz zu nehmen, und erkundigte mich nach der Gesundheit der gnädigen Frau. Sie antwortete jedoch nicht auf meine Frage, sondern sagte mir, sie sei nicht gekommen, um bei mir zu frühstücken, sondern um ernstlich mit mir zu reden.
»Gnädige Frau, ich stehe Ihnen vollständig zur Verfügung; aber erweisen Sie mir doch die Ehre, Platz zu nehmen.«
Sie setzte sich, Farsetti aber blieb stehen; ich drang nicht weiter in ihn, sondern beschäftigte mich nur mit Frau X. C. V. und bat diese, mir freundlichst zu sagen, womit ich ihr gefällig sein könnte.
»Ich möchte Sie bitten, mir meine Tochter zurückzugeben, wenn sie in Ihrer Gewalt ist, oder mir zu sagen, wo sie ist.«
»Ihre Tochter, gnädige Frau? Das weiß ich nicht. Haben Sie mich etwa in Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben?«
»Ich beschuldige sie nicht einer Entführung; ich will Ihnen weder ein Verbrechen vorwerfen noch Ihnen drohen; ich will Sie ganz einfach bitten, mir einen Beweis Ihrer Freundschaft zu geben. Helfen Sie mir, meine Tochter heute noch wiederzufinden; Sie geben mir das Leben wieder! Ich bin überzeugt, Sie wissen alles. Sie waren Ihr einziger Vertrauter, ihr einziger Freund; sie verbrachte jeden Tag mehrere Stunden mit Ihnen. Es ist also unmöglich, daß sie Ihnen nicht alles anvertraut haben sollte. Haben Sie Mitleid mit einer trostlosen Mutter! Noch weiß kein Mensch etwas; geben Sie mir sie zurück, und alles soll vergeben und vergessen sein. Ihre Ehre wird gerettet werden.«
»Gnädige Frau, ich begreife vollkommen Ihre Lage; Ihr Kummer rührt mich; aber ich wiederhole Ihnen: ich weiß von nichts.«
Der Schmerz der armen Frau schnitt mir wirklich in die Seele; unter strömenden Tränen stürzte sie sich mir zu Füßen. Ich wollte sie aufheben, als Farsetti ihr in einem Tone der Entrüstung zurief, sie müßte sich schämen, sich vor einem Menschen von meiner Sorte zu demütigen. Sofort richtete ich mich auf, maß ihn von oben bis unten und sagte zornig: »Unverschämter! Erklären Sie sich: was meinen Sie mit dem Menschen von meiner Sorte!«
»Man ist überzeugt, daß Sie alles wissen.«
»Diejenigen, die davon überzeugt sind wie Sie, sind unverschämte Dummköpfe. Verlassen Sie augenblicklich mein Haus und erwarten Sie mich unten; Sie werden mich in einer Viertelstunde erscheinen sehen.«
Mit diesen Worten hatte ich den Chevalier bei den Schultern gepackt; ich ließ ihn zwei- oder dreimal um sich selber drehen und warf ihn hinaus. Er kehrte sich um und rief Frau X. C. V. zu, sie solle mitkommen; diese aber, die sich inzwischen erhoben hatte, suchte mich zu beruhigen.
»Sie müssen einem Manne verzeihen, der in meine Tochter verliebt ist; er will sie trotz ihrer Verirrung durchaus heiraten.«
»Ich weiß es, gnädige Frau; aber er ist ohne Zweifel viel daran schuld, daß Ihre Tochter den traurigen Entschluß gefaßt hat, das mütterliche Haus zu verlassen; denn sie verabscheut ihn noch mehr wie den Generalpächter, den sie nicht leiden kann.«
»Sie hat unrecht, aber ich verspreche Ihnen, es soll von dieser Heirat nicht mehr die Rede sein. Sie wissen alles, denn Sie haben ihr fünfzig Louis gegeben. Ohne diese hätte sie sich nirgendwohin wenden können.«
»Das stimmt nicht, gnädige Frau.«
»Leugnen Sie nicht, wir haben tatsächliche Beweise. Hier ist ein Stück Ihres Briefes!«
Sie zeigte mir einen Fetzen von dem Brief, den ich ihrer Tochter geschrieben hatte, als ich ihr die fünfzig Louis für ihren ältesten Bruder schickte. Er enthielt folgende Zeilen:
»Ich wünsche, diese elenden fünfzig Louis können Sie überzeugen, daß ich alles, selbst mein Leben gerne opfern würde, um Sie von meinen zärtlichen Gefühlen zu überzeugen.«
»Ich bin weit entfernt, gnädige Frau, diesen Beweis meiner Neigung zu Ihrer Tochter ableugnen zu wollen; ich muß Ihnen aber zu meiner Rechtfertigung jetzt sagen, was ich sonst Ihr Leben lang vor Ihnen würde geheim gehalten haben: ich habe dem Fräulein diese Summe nur geschickt, um die Schulden Ihres ältesten Sohnes bezahlen zu können; er hat mir dafür in einem Briefe gedankt, den ich Ihnen zeigen könnte, falls Sie es wünschen sollten.«
»Mein Sohn?«
»Ihr Sohn, gnädige Frau.«
»Ich werde Ihnen volle Genugtuung geben lassen.«
Ohne mir zu einer Einwendung Zeit zu lassen, lief sie hinaus zu Farsetti, der im Hofe auf sie wartete, nötigte ihn wieder herein zu kommen und sagte ihm in meiner Gegenwart, was ich ihr eben vorhin mitgeteilt hatte.
»Das ist nicht wahrscheinlich«, rief der Unverschämte.
Ich sah ihn mit verächtlichem Blick an und sagte ihm, daß ich es verschmähe, ihn zu überzeugen, daß ich jedoch die gnädige Frau bitte, die Tatsache durch ihren Sohn selber bestätigen zu lassen. »Ich versichere Ihnen,« fügte ich hinzu, »daß ich Ihrer Tochter stets zugeredet habe, Herrn de la Popelinière zu heiraten.«
»Wie können Sie es wagen, dies zu behaupten!« fiel Farsetti mir ins Wort; »Sie sprechen ja in Ihrem Brief von Ihren zärtlichen Gefühlen!«
»Dies bestreite ich nicht; ich liebte sie und sagte es ihr gerne. Ich strebte nach der Ehre, ihrem Gemahl Hörner aufzusetzen und legte auf meine Weise die Grundlage zu meinem Bau. Meine Liebe, einerlei von welcher Art sie gewesen sein mag – und dies geht ja den Herrn nichts an – bildete für gewöhnlich den Stoff unserer langen Unterhaltungen. Wenn sie mir anvertraut hätte, daß sie fliehen wollte, so hätte ich sie entweder davon abgebracht, oder ich wäre mit ihr gegangen; denn ich war in sie verliebt, wie ich es noch jetzt bin. Niemals aber würde ich ihr Geld gegeben haben, um ohne mich fortzugehen.
»Mein lieber Casanova,« sagte hierauf die Mutter, »ich will an Ihre Unschuld glauben, wenn Sie sich mit mir vereinigen wollen, um ihren Aufenthalt zu entdecken.«
»Ich bin von Herzen gern bereit, Ihnen zu dienen, gnädige Frau, und ich verspreche Ihnen, meine Nachforschungen schon heute zu beginnen.«
»Sobald Sie irgend etwas erfahren, so kommen Sie, bitte, zu mir und teilen Sie es mir mit.«
»Sie können sich darauf verlassen.«
Hiermit trennten wir uns.
Um meine Rolle zu spielen, mußte ich als guter Schauspieler auftreten. Es war für mich wichtig, meinen öffentlichen Handlungen einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit zu geben, der zu meinen Gunsten sprach. Ich begab mich deshalb gleich am nächsten Tage zum Ersten Polizeirat, Herrn Chaban, um ihn aufzufordern, Nachforschungen wegen der Flucht des Fräuleins X. C. V. anzustellen. Ich hatte gedacht, durch diesen Schritt würde ich mich besser decken; aber der Beamte, der sein Geschäft gründlich verstand und der mich gern hatte, seitdem ich vor fünf oder sechs Jahren bei Sylvia seine Bekanntschaft gemacht hatte, lachte laut auf, als er hörte, zu welchem Zweck ich seine Dienste in Anspruch nehmen wollte.
»Wünschen Sie wirklich allen Ernstes, daß die Polizei sich bemüht, den Ort zu erfahren, wo die hübsche Engländerin sich aufhält?«
»Gewiß, mein Herr.«
Ich begriff sofort, daß er mich zum Sprechen bringen wollte, damit ich mir eine Blöße gäbe; dies wurde mir zweifellos, als ich beim Hinausgehen Farsetti traf.
Am nächsten Tage ging ich zu Frau X. C. V., um ihr über meine bisher erfolglosen Bemühungen Bericht zu erstatten.
»Ich bin glücklicher als Sie,« sagte sie zu mir, »und wenn Sie mich nach dem Ort begleiten wollen, wo meine Tochter sich befindet, und mir helfen wollen, sie zur Rückkehr in mein Haus zu überreden, so bin ich des Erfolges sicher.«
»Von ganzem Herzen, gnädige Frau,« antwortete ich ihr mit dem größten Ernst; »ich bin bereit, Sie überall hin zu begleiten.«
Sie nahm mich beim Wort, zog ihren Mantel an, ließ sich meinen Arm geben und führte mich zu einem Fiaker. Dort gab sie mir eine Adresse und bat mich, ich möchte dem Kutscher befehlen, uns nach dem auf dem Zettel bezeichneten Ort zu fahren.
Ich war wie auf glühenden Kohlen! Mir klopfte das Herz; ich hatte ein Gefühl, wie wenn ich ersticken sollte, denn ich erwartete die Adresse des Klosters zu lesen. Ich weiß nicht, was ich getan haben würde, wenn meine Befürchtung sich als richtig erwiesen hätte; aber ganz gewiß wäre ich nicht mit nach dem Kloster gegangen. Endlich las ich den Zettel, und meine Seele beruhigte sich, als ich darauf die Worte Place Maubert fand.
Ich gab dem Kutscher die Adresse an, und wir fuhren ab; bald hielten wir vor einem dunklen unsauberen Gange, der keinen hohen Begriff von den Bewohnern des Hauses gab. Ich reichte ihr meinen Arm und verschaffte ihr durch viele höfliche Bitten die Befriedigung, sämtliche Wohnungen des fünfstöckigen Hauses besichtigen zu dürfen. Da diese vergebliche Nachforschung ihr nicht zur Auffindung der gesuchten Tochter verhelfen konnte, so erwartete ich, sie niedergebeugt zu sehen. Dem war jedoch nicht so; denn sie sah mich zwar betrübt, aber befriedigt an, und ihre Augen schienen mich um Verzeihung zu bitten. Sie hatte von dem Droschkenkutscher selber, dessen ihre Tochter sich bei der Abfahrt bedient hatte, erfahren, daß er sie vor diesem Hause abgesetzt hätte und daß sie in dem Gange verschwunden wäre. Sie sagte mir, der Küchenjunge habe ihr verraten, er sei zweimal bei mir gewesen, um mir Briefe von dem Fräulein zu bringen, und Madeleine behaupte unaufhörlich, sie wisse bestimmt, daß die Entflohene in mich und daß ich in sie verliebt sei. Sie spielten ihre Rollen vortrefflich.
Sobald ich Frau X. C. V. nach Hause gebracht hatte, begab ich mich zu Frau du Rumain und erzählte ihr alle meine Erlebnisse; hierauf schrieb ich an die junge Eingesperrte und teilte ihr bis auf die geringsten Einzelheiten mit, was seit ihrem Verschwinden vorgefallen war.
Nach drei oder vier Tagen schickte Frau du Rumain mir den ersten Brief des Fräuleins: sie schilderte die Ruhe, die sie genösse, und die lebhafte Dankbarkeit, die sie mir schuldig zu sein glaubte. Sie lobte die Äbtissin und die Laienschwester und nannte mir die Bücher, die man ihr gegeben hatte und die sie nach ihrem Geschmack fand. Sie teilte mir auch mit, was sie ausgegeben hatte, und sagte, sie sei vollkommen glücklich, abgesehen davon, daß sie auf Wunsch der Äbtissin ihr Zimmer nicht verlassen dürfe.
Dieser Brief machte mir Freude; noch mehr aber freute ich mich, als ich den Brief las, den die Äbtissin an Frau du Rumain geschrieben hatte. Das junge Mädchen hatte ihre Zuneigung gewonnen; sie war unerschöpflich in ihrem Lob, pries ihre Sanftmut, ihren Geist und ihr edles Benehmen und versicherte ihrer Freundin, sie werde das unglückliche Kind jeden Tag besuchen.
Ich war erfreut über die Zufriedenheit, die Frau du Rumain mir aussprach, und ihre Freude vermehrte sich noch, als sie den Brief des Fräuleins gesehen hatte, den ich ihr gab, nachdem ich ihn gelesen hatte. Kurz, unzufrieden waren nur die arme Mutter, der greuliche Farsetti und der alte Generalpächter, dessen Mißgeschick man sich schon in den Klubs, im Palais-Royal und in den Kaffeehäusern erzählte. Überall brachte man mich in die Geschichte hinein; da ich mich jedoch völlig sicher fühlte, so lachte ich über das müßige Geschwätz.
Herr de la Popelinière fand sich bald als vernünftiger Mann mit seinem Schicksal ab, denn er machte aus diesem Abenteuer einen Einakter, den er selber schrieb und auf seiner kleinen Bühne in Paris aufführen ließ. Dieser Zug entsprach dem Charakter des Mannes, der sich drei Monate später durch Prokuration mit einem sehr hübschen Fräulein, der Tochter eines Ratsherrn in Bordeaux, verheiratete. Er starb ungefähr zwei Jahre später; seine Witwe war mit einem Sohne schwanger, der sechs Monate nach dem Tode seines Vaters zur Welt kam. Die unwürdige Erbin des reichen Mannes wagte es, die Witwe des Ehebruchs zu beschuldigen, und ließ das Kind für unrechtmäßig erklären, zur Schmach des Parlaments, das diesen ungerechten Spruch fällte, und zum großen Ärgernis für alle anständigen Leute in ganz Frankreich. Dieses Urteil war um so schändlicher, da der Leumund der Beschuldigten tadellos war und da das Parlament, das dieses allen göttlichen und menschlichen Gesetzen widersprechende Urteil erließ, kurz vorher sich nicht geschämt hatte, ein Kind für ehelich zu erklären, das elf Monate nach dem Tode des Gatten der Mutter geboren war.
Etwa zehn Tage lang fuhr ich fort, die Mutter des Fräuleins zu besuchen; die kühle Aufnahme jedoch, die ich bei ihr fand, bestimmte mich zu dem Entschluß, nicht mehr hinzugehen.