Fünfzehntes Kapitel


Ich beschließe Mönch zu werden. – Ich beichte. – Zwei Wochen Aufschub. – Der abtrünnige Kapuzinermönch Giustiniani. – Ich ändere meinen Entschluß; was mich dazu veranlaßt. – Übermütiger Streich im Gasthof. – Mittagessen mit dem Abt.

Die überzeugungsvolle Miene, womit der Abt mir diese Ammenmärchen vortrug, erregte in mir eine Lachlust, die ich mit Rücksicht auf die Heiligkeit des Ortes und auf die Gesetze der Höflichkeit mühsam genug unterdrückte. Ich hörte jedoch in so ehrfurchtsvollem Schweigen zu, daß der Hochwürdige Herr ganz entzückt war und mich fragte, in welchem Gasthof ich wohnte. Ich antwortete ihm: »Nirgends; denn ich bin von Zürich zu Fuß gekommen, und mein erster Besuch hat Ihrer Kirche gegolten.«

Ich weiß nicht, ob ich vielleicht diese Worte mit einem Ausdruck von Zerknirschung vorbrachte, aber der Abt faltete seine Hände und hob sie zum Himmel empor, wie wenn er Gott dafür danken wollte, daß er mein Herz gerührt und mich auf meiner Pilgerschaft geleitet hätte, um in diesem Heiligtum die Last meiner Sünden abzuwerfen.

Dies erschien mir natürlich; denn ich weiß, daß ich stets wie ein großer Sünder ausgesehen habe.

Der Abt sagte mir, es sei bald Mittag und er hoffe, ich werde ihm die Ehre antun, mit ihm zu speisen; ich nahm dies mit verbindlichem Dank an, denn erstens war ich nüchtern, zweitens wußte ich, daß man an solchen Orten gewöhnlich gutes Essen bekommt. Ich wußte nicht, wo ich war, und wollte ihn nicht fragen; denn es war mir erwünscht, ihn bei dem Glauben zu belassen, daß ich zur Abbüßung meiner Sünden eine Pilgerfahrt machte.

Unterwegs sagte der Abt mir, seine Ordensbrüder äßen an diesem Tage Fastenspeisen, wir aber würden Fleisch essen, da er von Benedikt dem Vierzehnten einen Dispens erhalten hätte, der ihm erlaubte, das ganze Jahr hindurch mit seinen Gästen Fleisch zu essen. Ich antwortete ihm, ich würde an seinem Vorrecht um so lieber teilnehmen, da der Heilige Vater mir die gleiche Gnade zu erweisen geruht hätte; dies schien ihn neugierig zu machen, wer ich sein möchte. Als wir in seinem Zimmer waren, das durchaus nicht einer Büßerzelle glich, zeigte er mir sofort den Dispensbrief, der unter Glas in einem schönen Rahmen dem Eßtisch gegenüber an der Wand hing, damit die Neugierigen und Gewissenhaften Kenntnis davon nehmen könnten.

Da die Tafel nur für zwei Personen eingerichtet war, legte ein Bedienter in reicher Livree noch ein Gedeck auf, was dem bescheidenen Abt Gelegenheit gab, mir zu sagen: »Ich speise für gewöhnlich mit meinem Kanzler; ich muß nämlich eine Kanzlei halten, weil ich in meiner Eigenschaft als Abt Unserer Lieben Frau von Einsiedeln Fürst des Heiligen römischen Reiches bin.«

Ich atmete auf; denn nun wußte ich endlich, wo ich mich befand, und dies war mir sehr angenehm. Von Unserer Lieben Frau von Einsiedeln hatte ich sprechen hören, und so war ich nicht mehr in Gefahr, bei der Unterhaltung als unwissend dazustehen.

Das Kloster war das Loretto nördlich der Alpen, denn es war berühmt wegen der zahlreichen Wallfahrten, die dorthin unternommen wurden.

Bei Tisch fragte der Fürstabt mich, aus welchem Lande ich wäre, ob ich verheiratet wäre, und ob ich die schönen Gegenden der Schweiz zu besuchen gedächte; zugleich bot er mir Empfehlungsbriefe an für alle Orte, die ich aufzusuchen wünschte. Ich sagte ihm, ich wäre Venetianer, Junggeselle, und würde die mir angebotenen Briefe dankbar annehmen, nachdem ich ihm nach einer geheimen Unterredung gesagt haben würde, wer ich wäre. Ich hoffte, er würde mir diese bewilligen, da ich den Wunsch hätte, ihm alles anzuvertrauen, was ich auf dem Gewissen hätte. So ging ich, ohne jeden Vorbedacht und ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, die Verpflichtung ein, diesem Abt zu beichten. Diese Plötzlichkeit der Entschlüsse war meine besondere Liebhaberei. Wenn ich einem plötzlichen Einfall folgte, wenn ich etwas tat, was ich vorher nicht überlegt hatte, so kam es mir vor, wie wenn ich die Gesetze meines Schicksals befolgte und einem höchsten Willen nachgebe. Nachdem ich ihm so deutlich gesagt hatte, daß er mein Beichtvater werden sollte, hielt er sich für verpflichtet, recht salbungsvoll mit mir zu sprechen; es war jedoch nicht weiter unnatürlich, daß seine Reden mich bei diesem köstlichen, leckeren Mahl durchaus nicht langweilten, denn wir hatten sogar Schnepfen und Bekassinen, was mich zu dem Ausruf veranlaßte: »Wie, hochwürdigster Herr, solches Wild um diese Jahreszeit?«

»Dies«, antwortete er mit einem wohlgefälligen Lächeln, »ist ein Geheimnis, das ich Ihnen mit Vergnügen mitteilen werde.« Der Herr Abt war ein Leckerzahn ersten Ranges und ein kenntnisvoller Feinschmecker; denn, obwohl er sich für einen mäßigen Mann ausgab, hatte er doch die feinsten Weine und die ausgesuchtesten Speisen. Man trug eine prachtvolle Lachsforelle auf, die ihm ein Lächeln entlockte, und das gute Essen mit einem feinen Scherze würzend, sagte er mir in gutem Latein, es würde lächerlich sein, die Forelle nicht essen zu wollen, weil sie ein Fisch wäre; um aber seinen Sophismus zu beschönigen, fügte er hinzu: »Etwas Fastenspeise ist notwendig, um die Fleischkost zu dämpfen.«

Während unseres Geplauders beobachtete der Herr Abt mich, und da mein reicher Anzug ihm die Gewißheit gab, daß ich nichts von ihm verlangen würde, so sprach er mit Zuversicht und ließ sich sogar ein wenig gehen.

Als das Mahl beendet war, machte der Kanzler eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und entfernte sich. Gleich darauf führte der Abt mich im ganzen Kloster herum und zuletzt auch in die Bibliothek, wo sich das Bildnis des Kurfürsten von Köln in erzbischöflicher Tracht befand. Ich sagte ihm, das Bild sei ähnlich, aber häßlicher als das Original. Zugleich zog ich die Dose hervor, die ich von dem Kirchenfürsten erhalten hatte, und zeigte sie ihm mit der Bemerkung, das Bild sei sprechend ähnlich. Er betrachtete es wohlgefällig und lobte die Laune Seiner Hoheit sich als Großmeister des deutschen Ordens malen zu lassen. Ich sah aber auch, daß die Schönheit der Dose dem Herrn Abt keinen schlechten Begriff von meiner Persönlichkeit gab. Über den Anblick der Bibliothek würde ich laut aufgeschrien haben, wenn ich allein gewesen wäre. Sie enthielt nur Folianten, und die neuesten waren ein Jahrhundert alt. Alle diese dicken Bücher handelten nur von Theologie und religiösen Streitfragen: Bibeln, Kommentare, Kirchenväter, mehrere rechtswissenschaftliche Werke in deutscher Sprache, Annalen und das große Wörterbuch von Hoffmann.

»Ohne Zweifel, hochwürdigster Herr,« fragte ich ihn, »haben Ihre Mönche ihre Privatbüchereien, worin sich naturwissenschaftliche und geschichtliche Werke und Reisebeschreibungen finden?«

»Nein; meine Mönche sind brave Leute, die sich nur um ihre Andachtspflichten kümmern und in süßer Unwissenheit friedlich dahinleben.«

Ich weiß nicht, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf fuhr, aber genug, mich wandelte eine unbegreifliche Laune an – nämlich Mönch zu werden. Ich sagte dem Abt zuerst nichts davon, aber ich bat ihn, mich in sein Kabinett zu führen, indem ich ihm sagte: »Ich wünsche, hochmütigster Herr, Ihnen eine Generalbeichte aller meiner Sünden abzulegen, damit ich morgen, rein von allen Verbrechen, das heilige Abendmahl empfangen kann.«

Ohne mir zu antworten, fühlte er mich in ein hübsches Gartenhaus, wo er mir sagte, er sei bereit, mich anzuhören; doch litt er nicht, daß ich niederkniete.

Ihm gegenübersitzend erzählte ich ihm drei Stunden hintereinander eine Menge ärgerlicher Geschichten; aber ich erzählte sie ohne Salz, denn ich war in einer asketischen Stimmung und mußte in einem Stil der Zerknirschung reden, die ich in Wirklichkeit nicht empfand; denn wenn ich meine tollen Streiche wieder durchging, fand ich die Erinnerung daran durchaus nicht unangenehm.

Trotzdem glaubte der durchlauchtigste oder hochwürdigste Herr zum wenigsten an meine Reue, denn er sagte mir: wenn ich durch ein ordentliches Leben die Gnade wiedergefunden hätte, so würde auch meine Zerknirschung vollkommen sein. Noch der Meinung dieses guten Abtes und noch mehr nach meiner eigenen, ist ohne die Gnade Zerknirschung unmöglich.

Nachdem er die Worte des Sakraments gesprochen hatte, die die Macht haben, das ganze Menschengeschlecht wieder unschuldig zu machen, riet er mir, mich auf ein Zimmer zurückzuziehen, wohin er mich führen lassen würde, dort den Rest des Tages im Gebet zu verbringen und früh zu Bett zu gehen, vorher jedoch zu Abend zu essen, wenn ich gewohnt wäre, den Tag mit einer Mahlzeit zu beschließen. Er sagte mir, am nächsten Morgen nach der ersten Messe würde ich das Abendmahl erhalten; hierauf trennten wir uns.

Ich gehorchte mit einer Gefügigkeit, die ich später niemals habe begreifen können; aber damals dachte ich nicht daran. Allein in einem Zimmer, das ich mir nicht die Mühe nahm, näher zu untersuchen, überließ ich mich den Gedanken, die ich vor meiner Beichte gehabt hatte; ich überredete mich leicht, daß der Zufall oder vielmehr mein guter Geist mich gerade an den Ort geführt habe, wo das Glück mich erwarte, und wo ich bis zu meiner letzten Stunde vor den Tücken des Schicksals geschützt sein werde. Es hängt nur von mir ab, sagte ich zu mir, ob ich hier bleiben will, denn ich bin überzeugt, der Abt wird mir das Ordenskleid nicht verweigern, wenn ich ihm zehntausend Taler gebe, um sie für mich auf Leibrenten zu legen.

Um glücklich zu sein, brauchte ich, so schien es mir, nur eine Bibliothek nach meinem Geschmack, und ich bezweifelte durchaus nicht, daß der Abt mir erlauben würde, mir nach meinem Belieben alle Bücher anzuschaffen, wenn ich ihm verspräche, sie nach meinem Tode dem Kloster zu schenken, vorausgesetzt, daß mir bei Lebzeiten die freie Benutzung zustände.

Was die Gesellschaft der Mönche anbelangte, Zwietracht, Neid und alle gegenseitigen Quälereien, die von solchen Vereinigungen unzertrennlich sind, so fühlte ich mich sicher, daß ich sie nicht zu fürchten haben würde, da ich nichts wollte und keinen Ehrgeiz hatte, der ihre Eifersucht hätte erregen können. Obgleich ich mich in einer Art von Verzauberung befand, sah ich aber doch die Möglichkeit der Reue voraus, und mir schauderte davor; aber ich hoffte dagegen ein Mittel finden zu können. Indem ich um das Kleid des heiligen Benedikt bitte, sagte ich zu mir, werde ich ein zehnjähriges Noviziat verlangen; kommt die Reue nicht während dieser zehn Jahre, so kann sie unmöglich später kommen, übrigens wollte ich in aller Form erklären, daß ich nach keinem Amte, nach keiner geistlichen Würde strebte. Ich wollte nur Frieden mit hinlänglicher Freiheit, um nach meinen neuen Neigungen leben zu können, ohne zu irgend einem Skandal Anlaß zu geben. Die Schwierigkeit, die die erbetene lange Dauer meines Noviziats vielleicht verursachen könnte, gedachte ich dadurch zu heben, daß ich im Falle einer Sinnesänderung die vorausbezahlten zehntausend Taler preisgäbe.

Ich schrieb vor dem Schlafengehen diesen ganzen schönen Plan nieder, und da ich am nächsten Tage mich noch ebenso fest entschlossen fand, so übergab ich nach dem Abendmahl meine Schrift dem Abt, der mich in seinem Zimmer erwartete, um mit mir die Morgenschokolade zu trinken.

Er las sofort meine Eingabe und legte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch; nach dem Frühstück las er sie noch einmal, wobei er im Zimmer auf und ab ging, und sagte mir dann, er werde mir nach dem Mittagessen eine Antwort geben.

Ich erwartete die Mittagsstunde mit der Ungeduld eines Kindes, dem man Spielsachen für seinen Namenstag versprochen hat; so sehr kann eine törichte Voreingenommenheit einen Menschen ändern, indem sie im Nu seinem Geist eine neue Richtung gibt. Wir speisten ebensogut wie am Tag vorher, und als wir vom Tische aufgestanden waren, sagte der liebenswürdige Abt zu mir: »Mein Wagen erwartet Sie vor der Tür, um Sie nach Zürich zurückzubringen. Reisen Sie ab, und gönnen Sie mir vierzehn Tage Zeit zur Antwort. Ich werde sie Ihnen persönlich überbringen. Einstweilen bitte ich Sie, diese beiden versiegelten Briefe selber abzugeben.«

Ich antwortete ihm, er habe zu befehlen; ich würde seinen Auftrag pünktlich ausführen und ihn im Schwert erwarten, in der Hoffnung, daß er meine Wünsche erfüllen würde. Ich ergriff seine Hand, die er sich küssen ließ, und fuhr ab.

Als mein Spanier mich sah, lachte der Bursche laut auf. Ich erriet seinen Gedanken und fragte ihn: »Worüber lachst du?« .

»Ich lache darüber, daß Sie, kaum in der Schweiz angekommen, sich zwei Tage lang zu amüsieren wissen, ohne nach Hause zu kommen.«

»Schon gut; sage dem Wirt, ich brauche einen guten Wagen, der mir vierzehn Tage lang zur Verfügung steht, und einen Lohndiener, für den er bürgt.«

Mein Wirt hieß Ott; er war Hauptmann gewesen und stand in Zürich in großer Achtung. Er sagte mir, ich könne mich auf den Diener verlassen, den er mir besorgen werde; es gebe jedoch in der ganzen Gegend nur offene Wagen. In Ermangelung eines besseren gab ich mich mit einem solchen zufrieden.

Schon am nächsten Morgen bestellte ich die Briefe, die der Abt mir gegeben hatte. Der eine war für einen Herrn Orelli, der andere für Herrn Pestalozzi; ich fand keinen von ihnen zu Hause, aber im Laufe des Nachmittags besuchten sie mich alle beide und luden mich zum Essen ein. Auch forderten sie mich auf, sie am gleichen Abend in das Stadtkonzert zu begleiten. Dies war das einzige öffentliche Vergnügen, das man in Zürich fand; es konnten nur Mitglieder der Gesellschaft und Fremde daran teilnehmen. Diese letzteren mußten einen Taler bezahlen, obgleich sie die Ehre hatten, durch ein Mitglied vorgestellt zu werden. Die beiden Herrn lobten den Abt von Einsiedeln um die Wette.

Ich fand das Konzert schlecht und langweilte mich. Die Herren saßen alle zusammen auf der rechten Seite, die Damen auf der linken. Dies ärgerte mich, denn trotz meiner frischen Bekehrung sah ich drei oder vier hübsche Damen, die mir gefielen und die sich oft nach mir umsahen. Ich hätte ihnen gerne einige hübsche Redensarten gesagt, gewissermaßen zum Abschied von meinem bisherigen Lebenswandel.

Als das Konzert zu Ende war, gingen alle in bunter Reihe hinaus, und die beiden Bürger stellten mich ihren Frauen und Töchtern vor. Diese Fräuleins waren die nettesten an Ort und Stelle und gehörten zu denen, die ich bemerkt hatte.

Auf der Straße macht man keine langen Zeremonien; sobald ich den beiden Herren gedankt hatte, begab ich mich wieder nach dem Schwert.

Am nächsten Tage speiste ich bei Herrn Orelli und hatte Gelegenheit, seiner schönen Tochter Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; doch ließ ich sie nicht merken, welchen Eindruck sie auf mich gemacht hatte. Am folgenden Tage spielte ich dieselbe Rolle bei Herrn Pestalozzi, obgleich seine reizende Tochter mich leicht auf einen Ton der Galanterie hätte stimmen können. Aber zu meinem großen Erstaunen war ich vollkommen vernünftig, und nach vier Tagen hatte ich in der ganzen Stadt den besten Ruf. Ich fand es sehr merkwürdig, daß man mich auf den Promenaden mit einer Ehrerbietigkeit grüßte, an die ich nicht gewöhnt war; aber in der frommen Stimmung, in der ich mich befand, diente dies nur dazu, mich in meinem Gedanken zu bestärken, daß es eine wahre göttliche Eingebung sei, die Kutte anzuziehen. Allerdings langweilte ich mich, aber ich dachte, dies wäre unvermeidlich bei einer so durchgreifenden Änderung des Lebenswandels und würde vorübergehen, wenn ich erst besser an ein verständiges Leben gewöhnt wäre.

Um es sobald wie möglich meinen künftigen Mitbrüdern gleichzutun, studierte ich jeden Morgen drei Stunden lang die deutsche Sprache. Ich hatte zu diesem Zweck einen eigentümlichen Lehrer angenommen, namens Giustiniani, der früher Kapuziner gewesen und aus Verzweiflung Protestant geworden war. Dieser arme Mann, dem ich jeden Morgen einen Sechsfrankentaler gab, betrachtete mich als einen Abgesandten des Himmels, während ich in meiner Anwandlung von Frömmelei ihn für einen Teufel der Hölle hielt, denn er benutzte jeden Augenblick, wo ich den Unterricht unterbrach, um auf alle religiösen Genossenschaften zu schimpfen. Gerade die angesehensten und bestgeachteten waren nach seiner Meinung die schlimmsten, weil sie die verführerischsten wären. Er nannte alle Mönche elendes Gesindel, einen Schandfleck des Menschengeschlechtes.

»Aber«, sagte ich eines Tages zu ihm, »da ist doch zum Beispiel Unsere Liebe Frau von Einsiedeln; Sie werden doch zugeben…«

»Was?« rief mein Genuese, ohne mich ausreden zu lassen, »glauben Sie, ich könnte von meinem Tadel eine Gesellschaft von vierzig Ignoranten, Faulenzern, lasterhaften Heuchlern ausnehmen? Sie treiben schmutzige Unzucht, leben unter dem Schutze eines Gewandes der Demut in Laster und Stolz und verzehren das Gut der armen Dummköpfe, die sich um ihretwillen entblößen, während sie doch von der Arbeit ihrer Hände leben könnten.«

»Aber Seine Hochwürden, der Abt?«

»Ein emporgekommener Bauer, der den Fürsten spielt und die Geckenhaftigkeit so weit treibt, sich wirklich für einen Fürsten zu halten.«

»Aber er ist es doch.«

»Nicht mehr als ich, der ich nichts bin. Ich sehe in ihm weiter nichts als einen Hanswurst.«

»Was hat er Ihnen getan?«

»Nichts, aber er ist ein Mönch.«

»Er ist mein Freund.«

»In diesem Falle nehme ich zwar nichts zurück, aber ich bitte Sie um Verzeihung.«

Dieser Giustiniani hatte großen Einfluß auf mich, aber ohne daß ich es selber wußte; denn in meiner Überzeugung von meiner innerlichen Berufung hielt ich ihn für ungefährlich. Ein neuer Vorfall zerstörte jedoch gänzlich den Einfluß, den Unsere Liebe Frau von Einsiedeln auf mich gemacht hatte.

Am Tage vor dem angekündigten Besuch des Abtes stand ich gegen sechs Uhr abends an meinem Fenster, das nach der Brücke hinausging, und unterhielt mich damit, die Vorübergehenden zu betrachten, als ich plötzlich in scharfem Trabe einen vierspännigen Wagen daher kommen sah, der vor der Tür des Gasthofes hielt. Es saß kein Bedienter darauf; infolgedessen öffnete der Kellner den Schlag, und ich sah vier gut gekleidete Damen aussteigen. An den drei ersten bemerkte ich nichts Besonderes, aber die vierte, die als Amazone gekleidet war, fiel mir durch ihre Eleganz und ihre Schönheit auf. Es war eine junge Brünette mit schön geschnittenen, großen Augen, über denen sich schön geschwungene Brauen wölbten; sie hatte eine Haut wie Lilien und Rosen und trug eine Mütze von blauem Atlas mit einer silbernen Troddel, die ihr auf das Ohr herabfiel und ihr ein sieghaftes Aussehen gab, dem ich nicht zu widerstehen vermochte. Ich beugte mich soweit wie möglich aus dem Fenster vor, und sie hob den Kopf und sah mich an, wie wenn ich sie gerufen hätte. Meine gezwungene Stellung nötigte sie, mich eine halbe Minute lang anzusehen; das war zuviel für eine bescheidene Frau und mehr als genug, um mich zu entflammen.

Ich eilte an das Fenster meines Vorzimmers, das auf die Treppe ging, und bald sah ich sie vorüberlaufen, um ihre Begleiterinnen einzuholen. Als sie mir gegenüber war, drehte sie sich zufällig um und stieß bei meinem Anblick einen Schreckensschrei aus, wie wenn sie ein Gespenst gesehen hätte; sie erholte sich jedoch sofort wieder, lief mit ausgelassenem Lachen weiter und begab sich zu den drei Damen, die schon in ihrem Zimmer waren.

Sterbliche, versetzt euch an meine Stelle und widersteht, wenn ihr könnt, einer so unerwarteten Begegnung, und ihr Fanatiker beharrt, wenn ihr den Mut habt, bei dem lächerlichen Plan, euch in einem Kloster zu begraben, wenn ihr gesehen habt, was ich am 23. April in Zürich sah!

Ich war so aufgeregt, daß ich mich auf mein Bett werfen mußte, um wieder ruhig zu werden. Nach einigen Minuten stand ich wieder auf, ging halb willenlos an das Flurfenster und sah den Kellner aus dem Zimmer der Damen kommen.

»Kellner, ich werde im Speisesaal essen.«

»Wenn Sie dies tun, um die Damen zu sehen, so ist es zwecklos, denn diese lassen sich das Abendessen im Zimmer auftragen. Sie wollen früh zu Bett gehen, weil sie in aller Frühe abreisen.«

»Wohin reisen sie?«

»Zu Unserer Lieben Frau nach Einsiedeln, wo sie ihre Andacht errichten wollen.«

»Woher kommen sie?«

»Aus Solothurn.«

»Wie heißen sie?«

»Das weiß ich nicht.«

Ich legte mich wieder auf mein Bett und dachte darüber nach, wie ich an die schöne Amazone herankommen könnte.

Soll ich nach Einsiedeln gehen? Ja, was soll ich aber dort tun? Die Damen wollen dort beichten; ich kann mich doch nicht in den Beichtstuhl setzen. Wie würde ich aussehen unter allen diesen Mönchen und Heiligenbildern? Und wenn ich unterwegs dem Abt begegnete – was bliebe mir anders übrig als wieder umzukehren? Hätte ich einen treuen Freund bei mir, so könnte ich mich in einen Hinterhalt legen und die Zauberin entführen; dies wäre leicht gewesen, denn es war kein Mann bei ihr, um sie zu verteidigen. Wie wäre es, wenn ich mich dreist zum Abendessen bei ihnen einlüde? Ja, aber diese schrecklichen drei Frauenzimmer! Man würde mich zurückweisen. Mir schien, die schöne Amazone könne nur oberflächlich fromm sein; denn aus ihrem Gesicht sprach Liebe zum Vergnügen, und ich hatte mich seit langer Zeit daran gewöhnt, die Frauen nach ihrem Mienenspiel zu beurteilen.

Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte, als ich einen höchst glücklichen Einfall hatte. Ich stellte mich an das Flurfenster und blieb dort so lange, bis der Kellner vorüberkam. Ich ließ ihn in mein Zimmer eintreten, drückte ihm zur Einleitung ein Goldstück in die Hand und sagte ihm, er möchte mir seine grüne Schürze leihen, denn ich wolle den Damen bei ihrem Abendessen aufwarten.

»Du lachst?«

»Ja, gnädiger Herr, über Ihre Laune, deren Zweck ich ahne.«

»Du bist ein Pfiffikus.«

»So sehr wie Sie einer. Ich werde Ihnen eine schöne, ganz neue Schürze holen. Die Hübsche hat mich gefragt, wer Sie seien.«

»Was hast du ihr geantwortet?«

»Sie seien Italiener, weiter nichts.«

»Sei verschwiegen, und ich werde das Goldstück verdoppeln.«

»Ich habe Ihren Spanier gebeten, mir beim Aufwarten zu helfen, denn ich bin ganz allein und muß zugleich unten bedienen.«

»Schön; aber er darf nicht ins Zimmer kommen, denn der Bursche würde sich das Lachen nicht verhalten können. Er kann in die Küche kommen, du gibst ihm die Schüsseln, und er reicht sie mir an der Türschwelle.«

Der Kellner ging und kam gleich darauf mit einer Schürze und mit Leduc wieder, dem ich sehr ernst auseinandersetzte, was er zu tun hätte. Er lachte wie verrückt, versicherte mir jedoch, ich würde mit ihm zufrieden sein. Ich ließ mir ein Vorlegemesser geben, band meinen Zopf auf, schlug den Halskragen herunter und band die Schürze über meine scharlachrote goldbestickte Weste. Hierauf betrachtete ich mich im Spiegel und fand mit Befriedigung, daß ich gemein genug aussah, um die bescheidene Persönlichkeit vorzustellen, die ich spielen sollte. Ich war in freudiger Stimmung; denn ich sagte mir, da sie aus Solothurn wären, so müßten sie doch französisch sprechen.

Leduc meldete mir, daß der Kellner gleich kommen werde. Ich, ging in das Zimmer der Damen, musterte die gedeckte Tafel, und sagte zu ihnen: »Man wird sofort auftragen, meine Damen.«

Die häßlichste von den vieren sagte mir: »Beeilen Sie sich nur, wir wollen schon vor Tagesanbruch aufstehen.« Ich rückte Stühle an den Tisch und sah die Schöne von der Seite an. Sie blickte mich an wie wenn sie versteinert wäre. Ich half dem Kellner die Schüsseln auf den Tisch setzen, und hierauf sagte er zu mir: »Hör mal, du, bleib hier; ich muß unten bedienen.«

Ich nahm einen Teller und stellte mich meiner Amazone gegenüber hinter einen Stuhl, von wo aus ich sie unauffällig vorzüglich sehen konnte. Besser gesagt: ich hatte nur für sie Augen. Sie war erstaunt; die anderen beehrten mich nicht einmal mit einem Blick und dies war das beste, was sie tun konnten. Nach der Suppe eilte ich zu ihr und wechselte ihren Teller; denselben Dienst verrichtete ich auch bei den anderen, worauf sie sich selber das Rindfleisch nahmen.

Während sie aßen, nahm ich einen gekochten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht.

»Dieser Kellner«, sagte meine Schöne, »bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?«

»Erst seit wenigen Wochen, gnädige Frau.«

»Sie servieren ausgezeichnet.«

»Gnädige Frau sind sehr gütig.«

Ich hatte meine Manschetten von prachtvoller englischer Spitze in meine Ärmel hineingesteckt; aber die Hemdenkrause sah ein wenig aus der Weste hervor, die ich nicht sorgfältig zugeknöpft hatte. Sie bemerkte diese und rief: »Warten Sie, warten Sie!«

»Was wünschen Sie, gnädige Frau?«

»Lassen Sie doch mal sehen. Da haben Sie ja prachtvolle Spitzen.«

»Ja, gnädige Frau, das hat man mir gesagt; aber sie sind alt. Ein vornehmer italienischer Herr, der hier wohnte, hat mir sie geschenkt.«

»Haben Sie auch solche Manschetten?«

»Ja, gnädige Frau.«

Mit diesen Worten streckte ich meine Hand aus und knöpfte mit der anderen den Westenärmel auf. Sie zog langsam die Manschetten hervor und schien sich absichtlich so vorzubeugen, daß meine Blicke sich an allem berauschen konnten, was sie ihnen von ihren Reizen darbieten konnte, obgleich sie ziemlich eng geschnürt war. Welch köstlicher Augenblick! Ich wußte, daß sie mich wiedererkannt hatte, und als ich sah, daß sie darüber schwieg, empfand ich eine wirkliche Qual bei dem Gedanken, daß ich mit dieser Maskerade nur bis zu einem gewissen Punkt gehen konnte.

Als sie die Spitzen ziemlich lange betrachtet hatte, sagte ihre Nachbarin zu ihr: »Aber, meine Liebe, was für eine Neugier! Man sollte meinen, du hättest in deinem Leben noch keine Spitzen gesehen.«

Meine liebenswürdige Neugierige errötete.

Nach dem Essen zogen die drei Häßlichen sich jede in eine Ecke zurück, um sich auszukleiden, während ich den Tisch abräumte, und meine Heldin begann zu schreiben. Ich gestehe, es fehlte nicht viel dran, so hätte ich in meiner Eitelkeit mir eingebildet, daß sie an mich schriebe; ich hatte aber doch eine zu gute Meinung von ihr, um nicht diesen Gedanken sofort zu verwerfen. Als ich abgedeckt hatte, stellte ich mich in ehrerbietiger Haltung, wie sie zu der von mir angenommenen Rolle paßte, neben die Tür.

»Worauf warten Sie?« fragte die Schöne mich.

«Auf Ihre Befehle, gnädige Frau.«

»Ich danke Ihnen; ich brauche nichts.«

»Sie tragen Stiefel, gnädige Frau, und wenn Sie sich nicht etwa gestiefelt zu Bett legen wollen …«

»Da haben Sie allerdings recht; aber ich möchte Ihnen nicht die Mühe machen.«

»Bin ich denn nicht dazu da, Sie zu bedienen, gnädige Frau?«

Mit diesen Worten kniete ich vor ihr nieder und schnürte langsam ihre Halbstiefel auf, während sie ruhig weiter schrieb. Ich ging aber noch weiter: ich löste die Schnalle ihres Hosenbandes und weidete mich am Anblick und noch mehr am Betasten ihrer wundervoll geformten Waden; aber zu früh für meine Wünsche hörte sie auf zu schreiben, wandte den Kopf um und sagte: »Nun ist es aber genug, mein Herr; ich bemerkte gar nicht, daß Sie sich zu viel Mühe gaben; gehen Sie! Morgen Abend werden wir uns wiedersehen.«

»Sie werden also hier zu Abend speisen, meine Damen?«

»Ja, gewiß.«

Ich nahm ihre Stiefel mit, indem ich sie fragte, ob ich die Tür verschließen solle.

»Nein, mein Lieber,« antwortete sie mit einer Sirenenstimme, »lassen Sie den Schlüssel von innen stecken.«

Als Leduc die Stiefel der Fee mir abnahm, lachte er wie ein Besessener und sagte: »Sie hat Sie angeführt.«

»Wieso?«

»Ich habe alles gesehen, gnädiger Herr. Sie spielten Ihre Rolle wie der beste Pariser Schauspieler, und ich bin überzeugt, morgen früh wird sie Ihnen einen Louis Trinkgeld geben; aber wenn Sie den nicht mir geben, plaudere ich die ganze Geschichte aus.«

»Da, du Spitzbube, da hast du ihn schon zum voraus; laß mir schnell das Abendessen auftragen.«

Dies, lieber Leser, sind Freuden, die ich mir in meinem Alter nicht mehr verschaffen kann, die ich aber noch in der Erinnerung genießen darf. Gewisse Ungeheuer predigen die Reue, und gewisse Philosophen erklären unsere Freuden für nichts als Eitelkeiten. Laßt sie reden! Zu bereuen brauchen wir nur Verbrechen, und die Freuden sind Wirklichkeiten, die leider nur zu schnell vergehen.

Ein barmherziger Traum ließ mich die Nacht mit meiner Amazone verbringen. Ein Irrtum, aber ein köstlicher Irrtum. Warum kann ich mich nicht mehr in solche süße Illusionen einwiegen, die die Nächte so lieblich machen!

Bei Tagesanbruch stand ich mit den Stiefeln in der Hand gerade in dem Augenblick vor ihrer Tür, als ihr Kutscher kam und ihnen sagte, sie müßten aufstehen. Ich fragte sie der Form wegen, ob sie frühstücken wollten, und sie antworteten mir lachend, sie hätten gut zu Abend gegessen und daher zu so früher Stunde noch keinen Hunger. Ich ging hinaus, um ihnen Zeit zum Ankleiden zu lassen.

Aber da die Tür halb offen stand und dem Spiegel gegenüber lag, worin meine Schöne sich betrachtete, so berauschten meine Blicke sich an einem Alabasterbusen. Als sie sich geschminkt und ihr Kleid angezogen hatte, rief sie nach ihren Stiefeln. Ich bat sie um die Erlaubnis, sie ihr anziehen zu dürfen; sie gestattete das freundlichst, und da sie Hosen von hellgrünem Sammet anhatte, so spielte sie den Kavalier.

Übrigens braucht man sich ja vor einem Kellner keinen Zwang anzutun! Um so schlimmer für ihn, wenn er sich irgendwelche Hoffnungen macht, weil man ihm bedeutungslose Kleinigkeiten gewährt. Er wird dafür bestraft werden; denn wie könnte man annehmen, daß er frech genug wäre, weiter zu gehen? Ich, der ich leider jetzt alt bin, genieße heute einige Vorrechte dieser Art; ich genieße ihrer und verachte mich dabei, noch mehr freilich verachte ich die, die sie mir gewähren.

Nach ihrer Abfahrt legte ich mich zu Bett. Ich war ein wenig verwirrt, aber doch voller Hoffnung. Nach meinem Erwachen hörte ich, daß der Abt von Einsiedeln in Zürich sei, und Herr Ott sagte mir, daß der hochwürdigste Herr mit mir allein auf meinem Zimmer speisen würde. Ich antwortete ihm, ich wünschte den Herrn Abt glänzend zu bewirten, und er sollte mir daher die beste Mahlzeit auftragen, die er herzustellen vermöchte. Um die Mittagsstunde ließ der gute Prälat sich melden. Er sagte mir ein Kompliment über den guten Ruf, den ich mir in Zürich erworben habe, was in ihm den Glauben erwecke, daß meine Berufung zur Gnade noch immer fortdauere. »Hier habe ich ein Distichon,« sagte er, »das Sie über Ihre Zimmertür schreiben können:

Inveni portum. Spes et fortuna valete;
Nil mihi vobiscum est: ludite nunc alios!«

»Dies ist«, antwortete ich ihm, »die Übersetzung von zwei Versen des Euripides; aber, gnädiger Herr, ich werde sie ein andermal verwenden; denn seit gestern habe ich meinen Plan geändert.«

»Dazu wünsche ich Ihnen Glück, und ich will hoffen, daß alle Ihre Wünsche sich erfüllen. Ich will Ihnen sogar im Vertrauen sagen, daß es viel leichter ist, selig zu werden, wenn man in der Welt bleibt, wo man seinen Nächsten nützlich sein kann, als wenn man sich in ein Kloster einschließt, wo man weder für sich noch für andere zu etwas gut ist.«

Diese Sprache, schien mir, ließ nicht auf einen Heuchler schließen, wie Giustiniani ihn mir geschildert hatte, sondern vielmehr auf einen Ehrenmann mit gesundem Menschenverstand.

Wir hatten ein fürstliches Mahl; denn Herr Ott hatte die drei Gänge mit großer Kunst zusammengestellt. Wir erheiterten dieses Mahl durch eine außerordentlich interessante Unterhaltung, bei der auch der feine Scherz nicht fehlte. Nach dem Kaffee sprach ich ihm meinen ehrerbietigsten Dank aus und begleitete ihn an seinen Wagenschlag, wo der hochwürdigste Herr mir wiederholt in der offensten Weise seine Dienste anbot; wir trennten uns, gegenseitig sehr miteinander zufrieden.

Die Anwesenheit und die Unterhaltung dieses liebenswürdigen Geistlichen hatten nicht einen Augenblick meine Gedanken von der schönen Frau abgezogen. Sobald der Abt abgefahren war, stellte ich mich auf die Brücke vor dem Gasthof, um dort den barmherzigen Engel zu erwarten, der eigens von Solothurn gekommen zu sein schien, um mich von der teuflischen Versuchung zu bewahren, in ein Mönchkloster einzutreten. Bis zu ihrer Ankunft baute ich die schönsten Luftschlösser, und gegen sechs Uhr hatte ich endlich das Glück, meine schöne Reisende zu erblicken. Ich versteckte mich, aber so, daß ich sehen konnte, ohne selber gesehen zu werden. Zu meiner größten Überraschung sah ich sie alle vier zu meinem Fenster hinaufblicken. Diese Neugier zeigte mir, daß die schöne Amazone das Geheimnis verraten hatte, und in meine Überraschung mischte sich ein wenig Zorn. Dieses Gefühl war natürlich, denn ich sah mich nicht nur in meiner Hoffnung getäuscht, daß das Abenteuer noch eine Fortsetzung haben würde, sondern es begann auch meine Zuversicht zu wanken, daß ich meine Rolle gut spielen würde. Trotz meiner Liebe hätte ich um alles in der Welt nicht eingewilligt, mich von ihren drei häßlichen Freundinnen auslachen zu lassen. Ich beschloß augenblicklich, sie in ihrer Erwartung zu täuschen und auf diese Weise sie selber anzuführen. Wenn ich die schöne Amazone interessiert hätte, so würde sie sich natürlich wohl gehütet haben, mein Geheimnis zu verraten; aber sie hatte alles gesagt, und ich sah in ihrer Indiskretion den schlagenden Beweis, daß sie den Spaß nicht weiterzutreiben gedachte, oder auch, daß es ihr an dem so notwendigen Geist fehlte, um eine Intrigue mit Erfolg durchzuführen. Vielleicht würde ich trotz allen ungünstigen Aussichten die Sache weitergeführt haben, wenn die drei Freundinnen meiner Zauberin einiger Aufmerksamkeit wert gewesen wären; aber genau so wie eine schöne Frau mich fortreißt, bringt eine häßliche mich um alle Stimmung. Um die voraussichtliche Langeweile zu verscheuchen und mich etwas zu zerstreuen, ging ich aus; ich begegnete Giustiniani, erzählte ihm mein Mißgeschick und sagte ihm, es würde mir nicht unlieb sein, mich bei irgendeiner käuflichen Schönheit für ein paar Stunden entschädigen zu können.

Er antwortete mir: »Ich werde Sie bis an die Tür eines Hauses führen, wo Sie das Gewünschte finden werden. Sie steigen bis zum zweiten Stockwerk hinauf; dort empfängt Sie eine alte Frau, der Sie meinen Namen ins Ohr flüstern müssen. Ich wage es nicht, Sie zu begleiten; denn dies würde in der Stadt bekannt werden und mir Verdrießlichkeiten mit der Polizei zuziehen, die in dieser Beziehung von einer lächerlichen Strenge ist. Ich rate Ihnen sogar, das Haus nicht eher zu betreten, als bis Sie ganz sicher sind, nicht gesehen zu werden.« Auf den Rat meines Exkapuziners wartete ich bis zum Dunkelwerden. Ich wurde freundlich aufgenommen; aber ich bekam ein schlechtes Abendessen und langweilte mich mit jungen Arbeiterinnen bis Mitternacht. Nicht als ob die beiden Nymphen nicht sehr hübsch gewesen wären, aber mein Kopf war voll von meiner Amazone; außerdem ermangelten sie trotz ihrer Frische und Sauberkeit jener Anmut, die den Freuden der Liebe so hohen Reiz verleiht. Meine in diesem Lande unbekannte Freigebigkeit verschaffte mir die Gunst der Alten; sie versprach mir, sie werde mir das Beste besorgen, was in der Stadt zu haben sei, aber sie bat mich dringend, die größte Vorsicht zu beobachten, um beim Betreten ihres Hauses nicht gesehen zu werden.

Als ich nach Hause kam, sagte Leduc mir, ich hätte wohl daran getan, mich aus dem Staube zu machen; denn meine Maskerade wäre bekannt geworden und alle, sogar Herr Ott, würden ihren Spaß daran gehabt haben, mich die Kellnerrolle spielen zu sehen. »Ihre Stelle«, schloß er, »habe ich eingenommen. Die Schöne, die Sie gefesselt hat, heißt Frau von ***, und ich gestehe, ich habe niemals etwas so Pikantes gesehen.«

»Hat sie gefragt, wo der andere Kellner wäre?«

»Nein, aber ihre Begleiterinnen haben mich mehrere Male danach gefragt.«

»Und Frau von *** hat nichts gesagt?«

»Sie hat den Mund nicht aufgetan; sie sah sehr traurig aus und saß ganz teilnahmslos da, bis ich sagte, Sie wären nicht gekommen, weil Sie krank wären.«

»Das ist eine Dummheit, warum hast du ihr das gesagt?«

»Irgend etwas mußte ich ihr doch sagen.«

»Das ist wahr. Hast du ihr die Stiefel aufgeschnürt?«

»Nein, sie wollte es nicht.«

»Wer hat dir ihren Namen gesagt?«

»Der Kutscher. Die Dame ist seit kurzem mit einem älteren Mann verheiratet.«

Ich ging zu Bett, ohne recht zu wissen, was ich von der Plauderhaftigkeit und von der Traurigkeit der Schönen denken sollte. Es wurde mir schwer, zwei so widersprechende Dinge zusammenzureimen. Da ich wußte, daß sie in aller Frühe abreisen wollte, stellte ich mich an mein Fenster, um sie in den Wagen steigen zu sehen. Aber ich zog die Vorhänge so zusammen, daß ich nicht gesehen werden konnte. Frau von *** stieg zuletzt ein; wie wenn sie sehen wollte, ob es regne, nahm sie ihre Atlasmütze ab und erhob den Kopf. Sofort schob ich mit der einen Hand den Vorhang zur Seite, nahm mit der anderen Hand meine Mütze ab, grüßte sie und warf ihr eine Kußhand zu. Sie grüßte mich auf das anmutigste wieder und belohnte mich für meine Kußhand mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

Sechzehntes Kapitel


Meine Abreise von Zürich. – Komisches Erlebnis in Baden. – Solothurn. – Herr von Chavigny. – Herr und Frau von ***. – Ich spiele Komödie. – Ich stelle mich krank, um mein Glück zu beschleunigen.

Herr Ott stellte mir seine beiden Söhne vor, junge Leute, die wie Prinzen erzogen waren. In der Schweiz ist ein Gastwirt nicht immer ein Mann ohne Bedeutung. Mancher macht ein so gutes Haus wie anderswo ein Mann der besten Gesellschaft; jedes Land hat seine Sitten. Der Gastwirt führt bei Tisch den Vorsitz und glaubt sich nicht zu erniedrigen, wenn er seine Tafelgäste bezahlen läßt. Er hat recht. Erniedrigend ist nur das Laster. Ein Schweizer Wirt nimmt nur deshalb den ersten Platz bei Tisch ein, um aufzupassen, daß alle gut bedient werden. Wenn er einen Sohn hat, sitzt dieser nicht etwa gleich dem Vater zu Tisch, sondern er wartet auf, die Serviette über dem Arm. In Schaffhausen stand der Sohn meines Wirtes, ein Hauptmann bei der Reichsarmee, hinter meinem Stuhl, um mir die Teller zu wechseln, während sein Vater an der Spitze der Tafel saß.

An jedem anderen Orte würde er sich haben bedienen lassen, aber in seinem Hause glaubte er sich zu ehren, indem er andere bediente, und er hatte recht.

Dies sind nun einmal die Ansichten der Schweizer, worüber einige oberflächliche Köpfe sich lustig machen, aber sehr mit Unrecht. Allerdings verhindert ihre Ehre und viel gerühmte Redlichkeit die Schweizer nicht, die Fremden zu schinden. Sie verstehen dies ebensogut wie die Holländer; aber die Leichtsinnigen, die sich schinden lassen, lernen bald, daß man die Preise vorher vereinbaren muß; dann wird man gut behandelt und zahlt vernünftige Preise. Durch diese Vorsicht schützte ich mich in Basel gegen den berüchtigten Schinder Imhoff, im Gasthof zu den »Drei Königen«.

Herr Ott machte mir ein Kompliment über meine Verkleidung als Kellner und sagte mir, er bedaure, daß er mich nicht meines Amtes habe walten sehen, aber er lobte mich, daß ich den Scherz nicht beim zweiten Abendessen wiederholt hätte. Nachdem er mir für die seinem Hause erwiesene Ehre gedankt hatte, bat er mich, ich möchte ihm nicht die Ehre abschlagen, wenigstens einmal vor meiner Abreise an seinem Tische zu speisen. Ich antwortete ihm, ich würde mit Vergnügen noch an demselben Tage bei ihm speisen; ich tat das und wurde wie ein großer Herr bewirtet.

Wie der Leser sich wohl denken kann, hatte der letzte Blick meiner schönen Amazone nicht das Feuer gelöscht, das ihr erster Anblick in meinem Herzen entzündet hatte. Er hatte im Gegenteil die Flamme stärker angefacht, indem er in mir die Hoffnung erweckte, daß es mir gelingen könnte, sie näher kennen zu lernen. Ich beschloß also nach Solothurn zu gehen, um das Abenteuer zu einem glücklichen Ende zu führen. Ich nahm einen Kreditbrief auf Genf und schrieb an Frau von Urfé, sie möchte mir einen sehr dringlichen Empfehlungsbrief für den französischen Gesandten Herrn de Chavigny schicken. Um sie zur Eile zu bewegen, sagte ich, es wäre für mich im Interesse unseres Ordens sehr notwendig, mit diesem Diplomaten genau bekannt zu werden. Ich bat sie, mir ihre Briefe postlagernd nach Solothurn zu schicken. Ich schrieb auch an den Herzog von Württemberg, der mir niemals geantwortet hat. Er mußte allerdings meinen Brief sehr bitter finden.

In Zürich besuchte ich auch noch ein paar mal die Alte, mit der Giustiniani mich bekannt gemacht hatte; aber obgleich ich allen Anlaß hatte, in bezug auf das Körperliche völlig befriedigt zu sein, unterhielt ich mich doch nur schlecht, da meine Nymphen nur die Schweizer Mundart sprachen, die eine harte Abart der deutschen Sprache ist. Ich habe stets gefunden, daß ohne das Vergnügen der Sprache das Vergnügen der Liebe diesen Namen nicht verdient; ich kann mir keinen dümmeren Genuß vorstellen, als den mit einer Stummen, wäre sie auch sonst schön wie die Göttin von Amathunt.

Kaum von Zürich abgereist, mußte ich in Baden schon Halt machen, um meinen Wagen ausbessern zu lassen, den Herr Ott mir besorgt hatte. Ich hätte gegen elf Uhr weiterreisen können; da ich jedoch erfuhr, daß eine junge polnische Dame, die in Einsiedeln ihre Andacht verrichten wollte, an der Wirtstafel speisen würde, so blieb ich aus Neugier. Aber ich kam nicht auf meine Kosten, denn ich fand an ihr nichts, was eines Opfers würdig gewesen wäre.

Während man gleich nach dem Essen meinen Wagen anspannte, kam die recht hübsche Tochter des Wirtes in den Speisesaal und forderte mich auf, mit ihr einen Walzer zu tanzen. Es war ein Sonntag. Plötzlich trat der Vater ein, und die Tochter lief hinaus.

»Mein Herr,« sagte der Spitzbube von einem Bauern zu mir, »Sie sind verurteilt, einen Louis Buße zu zahlen.«

»Warum?« .

»Weil Sie an einem Feiertage getanzt haben.«

»Gehen Sie zum Kuckuck – ich werde nicht bezahlen.«

»Sie werden bezahlen!« sagte er, und dabei hielt er mir ein großes Plakat vor, das ich nicht lesen konnte.

»Ich lege Berufung ein.«

»An wen, mein Herr?«

»An den Richter des Ortes.«

Er ging hinaus. Eine Viertelstunde darauf meldete man mir, der Richter erwarte mich in einem Nebenzimmer. Ich dachte bei mir selber, in diesem Lande seien doch die Richter sehr höflich; als ich aber das Zimmer betrat, sah ich meinen Spitzbuben mit einer Perücke und einem Mantel ausstaffiert.

»Mein Herr,« sagt das Chamäleon zu mir, »ich bin der Richter.«

»Richter und Partei, wie ich sehe.«

Er schreibt etwas, bestätigt die frühere Verurteilung und verurteilt mich außerdem, sechs Franken für die Kosten zu bezahlen.

»Aber wenn mich Ihre Tochter nicht verführt hätte, würde ich nicht getanzt haben; sie ist ebenso schuldig wie ich.«

»Sehr richtig, mein Herr, hier ist ein Louis für sie.«

Mit diesen Worten zieht er einen Louis aus der Tasche, legt ihn auf seinem Schreibtisch neben sich und sagt zu mir: »Jetzt Ihren Louis.«

Ich fing an zu lachen, bezahlte und verschob meine Abreise bis zum anderen Morgen.

In Luzern besuchte ich auf der Durchreise den apostolischen Nuntius, der mich zum Essen einlud, und in Freiburg die junge und galante Frau des Grafen Affry, bei der ich einige Augenblicke verbrachte. Etwa zehn Meilen vor Solothurn hatte ich einen eigentümlichen Anblick.

Ich hatte in einem Dorf Halt gemacht, um dort zu übernachten. Im Gasthof hatte ich mich des Wundarztes bemächtigt, den ich dort antraf; ich lud ihn zum Abendessen ein und machte mit ihm in Erwartung desselben einen Spaziergang. Die Nacht brach herein, als ich in einer Entfernung von etwa hundert Schritt einen Mann bemerkte, der gewandt an der Mauer eines Hauses emporkletterte und in einem Fenster des ersten Stockes verschwand.

»Sehen Sie, ein Dieb«, sagte ich dem Chirurgen.

Er fing an zu lachen und sagte: »Dieser Brauch muß Ihnen wunderbar erscheinen,; aber er ist in mehreren Gegenden der Schweiz üblich. Der Mann, den Sie eben sahen, ist ein verliebter junger Bauer, der die Nacht bei seiner Zukünftigen verbringen will. Morgen früh verläßt er sie verliebter denn je; denn sie wird ihm sicherlich die letzte Gunstbezeigung nicht gewähren. Wäre sie schwach genug, seinen Begierden nachzugeben, so würde er sie wahrscheinlich nicht heiraten, und dann wäre es schwer für sie, einen anderen Mann zu finden.«

Ich fand in Solothurn auf der Post einen Brief von Frau d’Urfé, und in diesem einen anderen von dem Herzog de Choiseul für den Botschafter Herrn von Chavigny. Er war versiegelt; aber der Name des Ministers, der ihn geschrieben hatte, stand unter der Adresse. Ich nahm einen Lohnwagen, zog ein Hofkleid an und fuhr zum Botschafter. Da Seine Exzellenz nicht zu Hause war, hinterließ ich den Brief und meine Karte. Es war ein Feiertag; ich ging zum Hochamt, und zwar – ich will es gestehen – weniger um dort Gott zu suchen, als in der Hoffnung, meine Amazone zu finden. Ich sah mich jedoch in meiner Erwartung getäuscht.

Nach dem Gottesdienst machte ich einen Spaziergang; hierauf ging ich in meinen Gasthof zurück, wo ich einen Offizier vorfand, der mich im Auftrag des Botschafters zum Essen einlud.

Frau d’Urfé schrieb mir in ihrem Brief, sie wäre eigens nach Versailles gefahren und hätte durch Vermittelung der Frau von Grammont einen Empfehlungsbrief für mich erhalten, wie ich ihn nur wünschen könnte. Dies war mir angenehm, denn ich gedachte, in Solothurn als Mann von Bedeutung aufzutreten. Ich hatte viel Gold und ich wußte, daß man mit diesem glücklichen Metall die blödesten wie die hellsten Augen blendet. Herr von Chavigny war dreißig Jahre vorher Gesandter in Venedig gewesen; ich wußte eine Menge Anekdoten, bei denen er eine Rolle gespielt hatte, und ich war ungeduldig, ihn kennen zu lernen, um zu sehen, wie er mir nützlich werden könnte.

Zur bezeichneten Stunde folgte ich der Einladung und fand alle Leute des Botschafters in der großen Livree; ich erblickte hierin ein günstiges Vorzeichen. Ich wurde angemeldet und bemerkte, daß ein Page, sobald ich erschien, beide Flügel der Tür öffnete. Ein schöner Greis kam mir entgegen, richtete die liebenswürdigsten Worte an mich und stellte mir alle Anwesenden vor, die im Kreise herum standen. Dann stellte er mit einer feinen Wendung eines alten Hofmannes sich so, als ob er sich meines Namens nicht entsinne, zog den Brief des Herzogs von Choiseul aus der Tasche und las laut die Stelle vor, in welcher der Minister ihm ans Herz legte, mich mit der größten Auszeichnung zu empfangen. Er wies mir einen Lehnsessel zu seiner Rechten an und richtete mehrere Fragen an mich, auf die ich zu antworten hatte, daß ich nur zu meinem Vergnügen reise und daß die schweizerische Nation in mehreren Beziehungen allen anderen vorzuziehen sei.

Das Essen wurde aufgetragen, und Seine Exzellenz wies mir den Ehrenplatz zu seiner Rechten an. Wir waren sechzehn bei Tisch, und hinter jedem Gast stand ein langer Lakai in der Livree des Gesandten. Im Lauf des Gesprächs ergriff ich eine passende Gelegenheit, ihm zu sagen, daß man in Venedig noch mit der wärmsten Liebe von ihm spreche.

Er antwortete mir hierauf: »Ich werde mich stets der Freundlichkeiten erinnern, die man mir während meines ganzen Aufenthaltes in der schönen Stadt erzeigt hat; aber nennen Sie mir doch bitte die Personen, die noch von mir sprechen; sie müssen sehr alt sein.«

Auf diese Frage hatte ich nur gewartet. Ich kannte durch Herrn von Malipiero Geschichten, die sich während der Regentschaft zugetragen und ihm großen Kummer gemacht hatten, und Herr von Bragadino hatte mir von seiner Liebschaft mit der berühmten Stringhetta erzählt.

Seine Exzellenz hatte einen ausgezeichneten Koch; aber über dem Vergnügen, ihn zu unterhalten, vergaß ich das Essen. Ich wußte alles, was ich ihm erzählte, so fein zu würzen, daß das Vergnügen, das ich ihm dadurch verschaffte, auf seinem Gesicht geschrieben stand. Als wir von Tische aufgestanden waren, schüttelte er mir die Hand und sagte mir, er habe noch nie so angenehm gespeist, solange er in Solothurn sei. »Meine venetianischen Galanterien«, setzte der liebenswürdige Greis hinzu, »haben mich verjüngt, indem sie mich an recht süße Augenblicke erinnern.« Er umarmte mich und bat mich, während meines ganzen Aufenthaltes in Solothurn mich als einen Angehörigen seiner Familie zu betrachten.

Nach dem Essen sprach er viel von Venedig, pries die dortige Regierung und sagte schließlich, in keiner Stadt der Welt könne man besser essen, vorausgesetzt, daß man sich gutes Öl und ausländische Weine zu verschaffen wisse. Gegen fünf Uhr lud er mich ein, mit ihm eine Spazierfahrt in einem Vis-à-vis zu machen. Er stieg zuerst ein, und nötigte mich dadurch den Rücksitz einzunehmen.

Wir stiegen bei einem hübschen Landhause ab, wo man uns mit Gefrorenem bewirtete. Auf der Rückfahrt sagte er mir, er habe jeden Abend zahlreiche Gesellschaft, und sofern es nur angenehm sei, hoffe er, ich werde ihm die Ehre erweisen, daran teilzunehmen; er werde sein Möglichstes tun, damit ich mich nicht langweile. Ungeduldig erwartete ich den Abend, denn es schien nur unmöglich zu sein, daß meine schöne Amazone nicht ebenfalls käme. Dies war jedoch eine vergebliche Hoffnung; ich sah allerdings mehrere Damen kommen, davon waren aber die meisten häßlich und alt, nur wenige leidlich und nicht eine einzige hübsch.

Die Spielpartien wurden verteilt, und ich fand mich an einem Tische mit einer jungen Blonden und mit einer ziemlich alten, aber geistvollen Häßlichen. Ich langweilte mich beim Spiel und verlor fünf- oder sechshundert Marken, ohne den Mund zu öffnen. Nachdem abgerechnet worden war, sagte die Häßliche zu mir, ich sei drei Louis schuldig.

»Drei Louis, Madame?«

»Jawohl, mein Herr; die Marke gilt zwei Sous, Sie haben vielleicht geglaubt, wir spielten um Heller?«

»Im Gegenteil, gnädige Frau; ich habe geglaubt, es ginge um Franken, denn ich spiele niemals niedriger.«

Sie antwortete auf diese Prahlerei nichts, schien aber beleidigt zu sein. Als ich nach der langweiligen Spielpartie mich wieder im Saale befand, musterte ich mit einem prüfenden Blick alle Damen, fand jedoch die Gesuchte nicht. Ich wollte mich gerade entfernen, als ich zwei Damen bemerkte, die mich aufmerksam betrachteten. Ich erkannte sie auf den ersten Blick; es waren zwei von den Begleiterinnen meiner schönen Amazone, die ich in Zürich zu bedienen die Ehre gehabt hatte. Ich drückte mich, indem ich so tat, wie wenn ich sie nicht erkannt hätte.

Am nächsten Tage kündigte ein Offizier des Botschafters mir den Besuch seiner Exzellenz an. Ich sagte ihm, ich würde nicht ausgehen, bevor ich die Ehre gehabt hätte, ihn zu empfangen, und ich beschloß auf der Stelle, mich bei ihm nach dem zu erkundigen, was mir so sehr am Herzen lag. Wie man sehen wird, ersparte er mir die Mühe.

Ich empfing Herrn von Chavigny aufs allerbeste; nachdem wir vom Regen und guten Wetter gesprochen hatten, sagte er lächelnd, er habe mir etwas furchtbar Dummes zu sagen, bitte mich aber überzeugt zu sein, daß er selber kein Wort davon glaube.

»Ich höre, gnädiger Herr.«

»Zwei Damen, die Sie gestern Abend bei mir gesehen haben, ließen sich nach Ihrem Fortgehen in mein Kabinett führen, um mir zu sagen, ich möchte auf meiner Hut sein, denn Sie wären der Kellner des Gasthofes, wo sie in Zürich gewohnt hätten. Sie behaupteten, Sie hätten sie am Abend ihrer Durchreise bei Tisch bedient. Sie hätten gestern den anderen Kellner jenseits der Aare getroffen; wahrscheinlich wären Sie beide aus irgendeinem Grunde zusammen durchgebrannt. Sie hätten sich sofort gedrückt, nachdem Sie sie bemerkt hätten. Ich habe ihnen geantwortet: selbst wenn Sie mir nicht einen Brief vom Herrn Herzog von Choiseul überbracht hätten, wäre ich sicher, daß sie sich irrten; Sie würden heute mit ihnen speisen, wenn sie mir die Ehre erweisen wollten, meine Einladung anzunehmen. Ferner habe ich ihnen gesagt, Sie hätten sich möglicherweise als Kellner verkleidet, in der Hoffnung, mit einer von ihnen ein Liebesabenteuer zu haben; aber sie haben mir geantwortet: diese Annahme wäre lächerlich, Sie wären weiter nichts als ein Kellner, der sehr geschickt einen Kapaun zu zerlegen und sehr schnell die Teller zu wechseln verstände, und wenn ich es ihnen erlaubte, so würden sie Ihnen in meiner Gegenwart ein Kompliment darüber machen. ›Tun Sie das, meine Damen‹, habe ich ihnen gesagt, ›er und ich werden darüber lachen.‹ Und jetzt – wenn an der ganzen Geschichte etwas Wahres ist, so sagen Sie es mir bitte ohne Rückhalt.«

»Gewiß, ohne Rückhalt – aber mit Diskretion; denn diese Posse könnte eine Dame bloßstellen, die mir teuer ist, und ich wollte lieber sterben, als ihr den geringsten Schaden zufügen.«

»Es ist also wahr; dies interessiert mich sehr.«

»Wahr, gnädiger Herr, bis zu einem gewissen Punkt, denn ich hoffe, Sie werden mich nicht für den Kellner vom Gasthof zum ›Schwert‹ halten.«

»Nein, gewiß nicht; aber Sie haben die Rolle eines solchen gespielt.«

»Ganz recht. Haben die Damen Ihnen gesagt, daß sie zu vieren waren?«

»Ich weiß! die schöne Frau von *** war dabei. Dies erklärt mir das Rätsel. Ich weiß alles, aber Sie haben recht: Verschwiegenheit ist notwendig; denn sie genießt eines makellosen Rufes.«

»Das wußte ich nicht. Die Sache an sich ist ganz unschuldig; aber man könnte eine anstößige Geschichte daraus herausspinnen, die der Ehre der Dame, die mich durch ihre Schönheit geblendet hat, schädlich sein würde.«

Ich erzählte ihm nun ganz ausführlich alles Vorgefallene und sagte: »Ich bin in der Hoffnung, der Schönen den Hof machen zu können, nach Solothurn gekommen. Wenn dies nicht möglich ist, werde ich in drei bis vier Tagen wieder abreisen; zuvor jedoch werde ich die häßlichen Plaudertaschen lächerlich machen, denn sie hätten doch soviel Geist haben müssen, um sich zu sagen, daß der Kellner nur eine Maske war. Wenn sie sich stellen, als ob sie dies nicht wüßten, so können sie dies nur in der Hoffnung tun, mich aufzumuntern und ihrer schönen Begleiterin zu schaden, die sehr übel daran getan hat, jene ins Geheimnis zu ziehen!«

»Sachte, sachte, stürmische Jugend! Sie erinnern mich an meine schönen Tage. Lassen Sie sich umarmen, denn Ihre Geschichte macht mir ein unendliches Vergnügen. Sie werden nicht abreisen, mein lieber Freund, und Sie werden Ihrer schönen Amazone den Hof machen. Lassen Sie mich lachen! Auch ich bin jung gewesen und habe mehr als einmal um schöner Augen willen mich verkleidet. Sie werden heute bei Tisch die beiden boshaften Geschöpfe verspotten, aber nur in scherzhafter Weise. Die Geschichte ist so einfach, daß Herr *** zuerst darüber lachen wird. Es kann seiner Gemahlin nicht unbekannt sein, daß Sie sie lieben, und ich kenne die Frauen gut genug, um zu wissen, daß Ihre Verkleidung ihr nicht mißfallen haben wird. Sie weiß, daß Sie sie lieben?«

»Ohne Zweifel.«

Er ging lachend fort und umarmte mich an seinem Wagen zum dritten Male.

Ich konnte nicht daran zweifeln, daß meine Zauberin ihren drei Freundinnen auf der Rückfahrt von Einsiedeln nach Zürich alles erzählt hatte; ich fand daher die Anzeige der beiden Häßlichen an den Gesandten boshaft. Aber ich begriff, daß es im Interesse meines Selbstgefühls lag, ihre Bosheit als einen feinen Scherz auszulegen.

Um halb Zwei trat ich beim Botschafter ein; nachdem ich ihm meine Reverenz gemacht hatte, grüßte ich die Gesellschaft und bemerkte meine beiden Damen. Sofort trat ich mit vornehm-leichtem Anstand auf die zu, die mir am boshaftesten aussah, weil sie lahm war, und fragte sie, ob sie mich wiedererkenne.

»Sie geben also zu, daß Sie der Kellner vom ›Schwert‹ sind?«

»Nicht ganz, meine Gnädige; aber ich gebe zu, daß ich es für eine Stunde war, und daß Sie mich dafür bestraft haben, indem Sie mir nicht ein einziges Wörtchen gönnten, obwohl ich die Rolle nur spielte, um das Glück zu haben, Sie zu sehen. Aber ich hoffe, hier ein bißchen mehr Glück zu haben, und hoffe, daß Sie mir gestatten werden, Ihnen meine Huldigungen darzubringen.«

»Das ist erstaunlich! Sie haben Ihre Rolle so gut gespielt, daß der Klügste sich hätte täuschen lassen. Wir werden sehen, ob Sie ebenso geschickt Ihre jetzige Rolle spielen werden. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, sich bei mir einzufinden, sollen Sie gut aufgenommen werden.«

Nach diesem Austausch von Komplimenten wurde die Geschichte allgemein bekannt, und die Gesellschaft war in voller Heiterkeit darüber, als ich das Glück hatte, Herrn und Frau *** eintreten zu sehen.

»Da ist ja der nette Kellner von Zürich!« sagte sie zu ihrem Gatten. Der brave Mann trat auf mich zu und dankte mir freundlich, daß ich seiner Frau die Ehre erwiesen hätte, ihr die Stiefel anzuziehen.

Ich ersah aus diesem Kompliment, daß sie ihm alles gesagt hatte, und dies war mir äußerst angenehm.

Wir gingen zu Tisch; Herr von Chavigny ließ die Schöne zu seiner Rechten sitzen, und ich fand zwischen meinen beiden Verleumderinnen Platz. Da ich meine Karten verdeckt halten mußte, so sagte ich ihnen Artigkeiten, obwohl sie mir im höchsten Maße mißfielen, und sah Frau ***, die in ihrem neuen Kleide entzückend war, kaum ein einziges Mal an. Der Mann kam mir nicht eifersüchtig vor und sah auch nicht so alt aus, wie ich mir ihn vorgestellt hatte. Der Botschafter lud ihn ein, mit seiner Frau zum Abend dazubleiben und einen improvisierten Ball mitzumachen. Hierauf sagte er: damit er dem Herzog von Choiseul berichten könnte, daß ich mich in Solothurn amüsiert hätte, würde er sich sehr freuen, wenn Theater gespielt würde und wenn Frau von *** einwilligte, noch einmal die schöne Schottin zu spielen. Sie antwortete, sie würde es gerne tun, aber es fehlten zwei Schauspieler.

»Nun,« sagte der freundliche alte Herr, »so werde ich die Rolle des Lord Montrose übernehmen.«

»Und ich«, rief ich, »werde den Murray spielen!«

Meine Lahme ärgerte sich über diese Rollenverteilung, weil auf diese Weise nur die häßliche Rolle der Lady Alton übrig blieb. Sie konnte sich nicht enthalten, mir einen Hieb zu versetzen, und sagte: »Warum ist denn nur nicht in dem Stück eine Kellnerrolle! Die spielen Sie so gut!«

»Ihre Bemerkung ist trefflich; aber ich tröste mich mit dem Gedanken, daß Sie mich lehren werden, den Murray besser zu spielen.«

Am nächsten Morgen empfing ich meine kleine Rolle, und der Herr Botschafter machte bekannt, daß der Ball mir zu Ehren stattfinden würde. Nach dem Essen kehrte ich in meinen Gasthof zurück, machte eine elegante Toilette und erschien dann wieder in der glänzenden Gesellschaft.

Der Gesandte bat mich, den Ball zu eröffnen, und stellte mich der vornehmsten Dame der Stadt vor, die sich jedoch mehr durch ihre Geburt als durch ihre Schönheit auszeichnete. Hierauf tanzte ich mit allen Damen, ohne Unterschied, bis der dienstbereite alte Herr mich für die Kontertänze dem Gegenstand meiner Wünsche verpflichtete. Er machte dies auf eine so natürliche Art, daß niemand etwas dagegen einwenden konnte: »Lord Murray«, sagte er, »darf nur mit Lindane tanzen.«

In der ersten Ruhepause ergriff ich die Gelegenheit, ihr zu sagen, ich sei nur ihretwegen nach Solothurn gekommen, und ich hoffe, sie werde mir das Glück bewilligen, ihr den Hof machen zu dürfen. Sie antwortete mir: »Ich habe Gründe, die mich verhindern, Sie bei mir zu empfangen; aber es wird uns nicht an Gelegenheiten fehlen, uns zu sehen, wenn Sie einige Zeit hier bleiben. Ich bitte Sie jedoch, bezeigen Sie mir um Gottes willen keine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, denn man wird unfehlbar um uns herumspionieren, und ich muß das Gerede der Leute vermeiden.«

Von diesen Worten vollkommen befriedigt, versprach ich ihr, alles zu tun, was ihr angenehm sein könnte, und die neugierigsten Augen auf eine falsche Spur zu bringen. Ich begriff, daß das Geheimnisvolle das Glück, das ich mir in der Ferne winken sah, noch erhöhen mußte.

Da ich mich für einen Neuling in der Kunst des Roscius ausgegeben hatte, so bat ich die Hinkende, mich unterrichten zu wollen. Ich ging also am Vormittag zu ihr; aber sie argwöhnte gleich, daß sie nur als Reflexspiegel diente; denn bei ihr hatte ich Gelegenheit, meiner schönen Amazone den Hof zu machen; und so eitel sie auch sein mochte, so war sie doch zu klug, als daß sie nicht ein wenig die Wahrheit hätte ahnen sollen.

Die Frau war Witwe, dreißig bis vierzig Jahre alt; sie hatte eine gelbliche Haut, ein feuriges schwarzes Auge, einen stechenden Blick und eine boshafte Miene. Da sie die ungleiche Länge ihrer Beine verbergen wollte, hatte sie ein geschraubtes Aussehen, und eine dumme Geistreichelei machte sie schwatzhaft und dadurch sehr langweilig. Als ich fortfuhr, ihr in sehr ehrerbietiger Weise den Hof zu machen, sagte sie mir eines Tages: nachdem sie mich als Kellner verkleidet gesehen, hätte sie mich niemals für so schüchtern gehalten.

»Inwiefern, meine Gnädigste, halten Sie mich für schüchtern?« fragte ich.

Ich konnte leicht erraten, was sie meinte; aber sie antwortete mir nicht. Meine Rolle war mir lästig, und ich beschloß offen mit ihr zu brechen, sobald wir die Schottin gespielt hätten.

Unsere erste Vorstellung wurde von der ganzen guten Gesellschaft Solothurns besucht. Die Hinkende war entzückt, in ihrer Rolle Abscheu zu erregen; denn sie bildete sich ein, daß die von ihr hervorgebrachte Wirkung mit ihrer Person an sich nichts zu tun hätte. Herr von Chavigny riß die Zuschauer zu Tränen hin; man sagte, er habe besser gespielt als der große Voltaire selber. Ich selber war – dessen erinnere ich mich noch – einer Ohnmacht nahe, als in der dritten Szene des fünften Aktes Lindane mir sagte:

»Wie? Sie? Sie wagen mich zu lieben?«

Sie sprach diese Worte in einem Tone so starker und echter Verachtung, so völlig im Geiste ihrer Rolle, daß alle Zuschauer in einen donnernden Applaus ausbrachen. Ich war darüber betroffen und beinahe aus der Fassung gebracht; denn ich glaubte aus ihren Worten eine Absicht herauszuhören, die mich in meiner Ehre kränkte. Aber der lärmende Beifall der Zuschauer gab mir eine Minute Zeit, mich zu erholen, und ich antwortete, indem ich dem Geiste meiner Rolle gewissermaßen Gewalt antat:

«Ja! Ich bete Sie an, und ich muß es!«

Ich legte so viel Zärtlichkeit und Leidenschaft in diesen Ausruf, daß der Saal von Beifall und Bravorufen widerhallte. Das bis! bis! von vierhundert Personen zwang mich die Worte zu wiederholen, die mir aus tiefstem Herzen kamen.

Trotz dem Beifall, den die Zuschauer uns gespendet hatten, fanden wir beim Souper, daß wir unsere Rollen nicht gut wüßten, und Herr von Chavigny bat uns, unsere zweite Aufführung auf den übernächsten Tag zu verschieben. »Wir werden«, sagte er, »morgen eine Probe in meinem Landhause abhalten, wohin ich Sie alle zum Essen einlade.«

Trotz unserer Selbsterkenntnis überhäuften wir uns aber doch mit Schauspielerkomplimenten. Die Hinkende sagte mir, ich hätte gut gespielt, aber lange nicht so gut, wie in meiner Kellnerrolle, die ich ausgezeichnet gespielt hätte. Dieser Hieb brachte die Lacher auf ihre Seite, aber das Blättchen wandte sich, als ich ihr sagte, ich hätte es nur mit Anstrengung zu dieser Vollkommenheit gebracht, während sie, um als Lady Alton zu glänzen, nur ihrer Natur hätte folgen können. Herr von Chavigny sagte zur Frau von ***, die Zuschauer hätten unrecht gehabt, an jener Stelle Beifall zu klatschen, wo sie sich über meine Liebe wunderte; denn sie hätte jene Worte in einem Tone der Verachtung ausgesprochen; es wäre jedoch unmöglich, daß Lindane für Murray keine Achtung empfinde.

Der Botschafter holte mich am nächsten Tage mit seinem Wagen ab, und als wir in seinem Landhause ankamen, fanden wir dort alle Mitspielenden vor. Er wandte sich zuerst an Herrn von *** und sagte ihm, er glaubte sein Anliegen erfüllt zu haben und würde nach dem Essen mit ihm darüber sprechen.

Wir gingen zu Tisch und hielten darauf Probe ab, ohne eines Souffleurs zu bedürfen.

Gegen Abend sagte der Botschafter der ganzen Gesellschaft, er erwarte uns zum Souper in Solothurn; alle gingen fort, außer uns beiden und Herrn und Frau von ***. Im Augenblick des Aufbruchs, der sich in wenigen Minuten vollzog, wurde ich auf sehr angenehme Weise überrascht: »Mein Herr,« sagte der Gesandte zu Herrn von ***, »kommen Sie mit in meinen Wagen; wir können da ungestört miteinander sprechen. Herr Casanova wird die Ehre haben, der gnädigen Frau in ihrem Wagen Gesellschaft zu leisten.«

Ich reichte der schönen Frau ehrerbietig meine Hand, und sie ergriff sie mit der Miene vollkommenster Gleichgültigkeit; aber als sie auf das Trittbrett stieg, drückte sie meine Hand mit aller Kraft. Mein Leser kann sich denken, welches Feuer bei diesem Druck meine Adern durchströmte.

So saßen wir denn nebeneinander, die Knie zärtlich gegeneinander gepreßt. Eine halbe Stunde flog wie eine Minute dahin, aber wir verloren sie nicht mit nichtigen Komplimenten: Mund auf Mund gepreßt, blieben wir bis zehn Schritte vom Gasthof, der nach unserem Wunsche am liebsten zehn Meilen hätte entfernt sein müssen. Die Schöne stieg vor mir aus, und ich erschrak über die Glut, die ihr ganzes Gesicht bedeckte. Diese Röte war unnatürlich; sie mußte uns verraten, und dann mußte unsere Quelle des Glücks versiegen. Der forschende Blick der neidischen Alten würde sich nicht getäuscht haben; diese Entdeckung wäre für sie nicht eine Demütigung, sondern ein Triumph gewesen. Ich war außer mir.

Die Liebe und das Glück, die mir im Laufe meines Lebens so oft hold gewesen sind, befreiten mich aus dieser schmerzlichen Verlegenheit. Ich hatte in meiner Tasche eine kleine Dose mit Nieswurz; ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken, öffnete ich diese und bat Frau von *** eine kleine Prise zu nehmen; sie tat es, und ich folgte ihrem Beispiel; aber die Dosis war zu stark; sie wirkte bereits, als wir noch auf der Treppe waren, und wir niesten eine volle Viertelstunde hindurch. Man mußte die Röte ihres Gesichtes diesem Niesen zuschreiben; zum mindesten konnte kein Mensch laut einen Argwohn aussprechen. Als der Anfall vorüber war, sagte die ebenso schöne wie kluge Frau, ihr Kopfweh sei vergangen, aber ein anderes Mal werde sie sich hüten, eine so starke Dosis von dem Heilmittel zu nehmen. Ich schielte aus dem Augenwinkel zu der boshaften Hinkenden hinüber; sie sagte nichts, schien aber sehr nachdenklich zu sein.

Nachdem ich dieses Pröbchen von Liebesseligkeit erhalten hatte, entschloß ich mich, in Solothurn so lange zu verweilen, als nötig wäre, um vollkommen glücklich zu werden, und zu diesem Zwecke beschloß ich, auf der Stelle ein Landhaus zu mieten. Ich denke, mein Leser würde schnell einen gleichen Entschluß gefaßt haben, wenn er sich in meiner Lage befunden hätte. Ich war reich, jung, unabhängig, feurig, und hatte nichts anderes zu tun, als mir Genuß zu verschaffen. Ich hatte eine vollkommene Schönheit vor mir, war leidenschaftlich in sie verliebt und war sicher, daß sie meine Liebe teilte; ich hatte Geld und war mein eigener Herr. Ich fand diesen Plan viel vernünftiger als den Eintritt in ein Kloster, und über das Gerede der Leute war ich erhaben. Sobald der Botschafter sich zurückgezogen hatte – was er wegen seines hohen Alters stets ziemlich früh tat – ließ ich die übrige Gesellschaft bei Tische sitzen und suchte ihn in seinem Zimmer auf. Ich konnte rechtlicherweise diesem Ehrenmann nicht ein Vertrauen vorenthalten, das er so sehr verdiente.

Sobald er mich erblickte, sagte er: »Nun? haben Sie sich das Alleinsein mit Ihrer Schönen, das ich Ihnen verschafft habe, gut zunutze gemacht?«

Ich umarmte ihn und antwortete ihm dann: »Ich darf alles hoffen!«

Als ich die Geschichte von der Nieswurz erzählte, machte er mir unendliche Komplimente; »denn,« sagte er, »ihre ungewöhnliche Röte hätte auf einen Kampf schließen lassen, und dies hätte Ihren Absichten nicht förderlich sein können.«

Nachdem ich ihm alles anvertraut hatte, teilte ich ihm meinen Plan mit. »Ich darf nichts übers Knie brechen,« sagte ich ihm, »denn ich muß die Ehre der Dame schonen und darf die Erfüllung meiner Wünsche nur von der Zeit erwarten. Ich brauche ein hübsches Landhaus, einen schönen Wagen, zwei Lakaien und eine Haushälterin. Hinsichtlich alles dessen empfehle ich mich Eurer Exzellenz, Sie sind meine Zuflucht und mein Schutzengel.«

»Schon morgen werde ich mich unverzüglich mit Ihrer Angelegenheit befassen, und ich denke wohl, es wird mir gelingen. Ihnen nützlich zu sein, und Sie werden in Solothurn vollkommen befriedigt werden.«

Am folgenden Tage ging die Vorstellung ganz ausgezeichnet, und am Tage darauf sagte der Botschafter zu mir: »Ich sehe, lieber Freund, daß Sie hier nur glücklich werden können, indem Sie Ihre Wünsche befriedigen, ohne dem guten Rufe der Dame zu schaden. Ich glaube sogar, die Art Ihrer Liebe zu jener reizenden Frau genügend erkannt zu haben, um überzeugt zu sein, daß Sie Solothurn unverzüglich verlassen werden, wenn sie Ihnen sagt, daß es um ihrer Ruhe willen notwendig sei. Sie sehen, ich habe Sie durchschaut, und hoffe daher in dieser Angelegenheit, die wichtiger und zarter ist als die meisten diplomatischen Angelegenheiten, von denen man soviel Wesens macht, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können.«

»Eure Exzellenz scheinen auf eine Laufbahn, die Sie mit so hoher Auszeichnung durchmessen haben, keinen großen Wert zu legen.«

»Ich bin alt, mein lieber Freund; ich habe den Rost und Staub der Vorurteile von mir abgeschüttelt, sehe die Dinge, wie sie sind, und schätze sie nach ihrem richtigen Werte ein. Doch kommen wir wieder zu Ihrer Liebe. Wenn Sie undurchdringlich sein wollen, müssen Sie jeden Schritt vermeiden, der in den Augen solcher Leute, die nicht an gleichgültige Handlungen glauben, den geringsten Verdacht erwecken könnte. Das kurze Beisammensein, das ich Ihnen vorgestern verschaffte, kann selbst dem Böswilligsten nur als die Frucht eines einfachen Zufalls erscheinen, und der Zwischenfall mit der Nieswurz macht die Auslegungen der scharfsinnigsten Bosheit zuschanden; denn ein Liebhaber, der das Glück beim Schopf packen will, beginnt nicht damit, daß er die Heißgeliebte in Krämpfe versetzt. Man wird nicht erraten, daß Ihre Nieswurz nur dazu diente, eine durch Liebkosungen hervorgebrachte Röte zu verdecken; denn es kommt nicht oft vor, daß ein Liebeskampf, womit beide Teile einverstanden sind, Spuren dieser Art hinterläßt. Wie sollte man übrigens annehmen, daß Sie diese Gesichtsröte vorausgesehen und darum das Mittel dagegen gleich mitgenommen hätten! Das Vorgefallene genügt also nicht, um Ihr Geheimnis zu enthüllen. Herr von *** ist allerdings nicht ohne Eifersucht, obgleich er sich den Anschein geben möchte, als ob er nicht eifersüchtig sei, – aber er selber kann in meiner Einladung, mit mir allein nach Solothurn zurückzufahren, nur etwas sehr Natürliches finden; denn ich hatte mit ihm über eine sehr wichtige Angelegenheit zu sprechen, und er kann nicht annehmen, daß ich Ihre Liebschaft mit seiner Frau begünstigen wolle. Außerdem hätten unter allen Umständen die Gesetze der Höflichkeiten mir geboten, der gnädigen Frau den Platz anzubieten, den er in meinem Vis-à-vis eingenommen hat; und da er sich auf seine Höflichkeit viel zugute tut, so hätte er nichts dagegen einwenden können, daß seine Frau mein Anerbieten annähme. Auf jeden Fall wäre er also von ihr getrennt worden. Allerdings bin ich alt, und Sie sind jung, und das ist ja in den Augen eines Ehemannes nicht ohne Bedeutung.«

»Nach dieser Einleitung,« fuhr der liebenswürdige Botschafter lachend fort, »einer Einleitung, die ich im Stil eines Staatssekretärs gehalten habe, kommen wir zum Schluß: Zwei Dinge sind notwendig, um Ihnen den Weg zum Glück zu bahnen. Die erste und wichtigste Vorbedingung ist die, daß Sie Herrn von *** zwingen, Ihr Freund zu werden, ohne daß er argwöhnen kann, daß Sie Absichten auf seine Frau haben; hierbei werde ich Ihnen nach besten Kräften behilflich sein. Die zweite Vorbedingung muß die Dame erfüllen: sie darf nichts tun, was zu Bemerkungen Anlaß geben könnte, ohne daß der Grund allgemein bekannt ist. Also mein Herr, Sie stehen nun unter meiner Vormundschaft und werden nicht eher ein Landhaus mieten, als bis wir einen wahrscheinlich aussehenden Vorwand ausfindig gemacht haben, der geeignet ist, allein diesen neugierigen Leuten Sand in die Argusaugen zu streuen. Aber trösten Sie sich, dieser Vorwand ist bereits gefunden: Sie müssen sich krank stellen; aber Ihre Krankheit muß derart sein, daß Ihr Arzt genötigt ist, Ihnen auf Ihr Wort zu glauben. Zum Glück kenne ich einen Doktor, dessen Leidenschaft es ist, gegen alle Krankheiten Landluft zu verordnen. Dieser Arzt, der nicht mehr versteht als seine gelehrten Kollegen, die auch alle nur auf gut Glück darauf los doktern, und der seine Patienten heilt oder ins Grab bringt, wie nur der geschickteste Professor, wird dieser Tage zu mir kommen, um mir den Puls zu fühlen. Sie werden ihn um eine Konsultation bitten, und für ein paar Louis wird er Ihnen ein schönes Rezept verschreiben, worin ohne Zweifel die Landluft die erste Stelle einnimmt. Er wird hierauf der ganzen Stadt sagen, Ihr Fall sei ernst, aber er bürge für Ihre Heilung.«

»Wie heißt er?«

»Es ist der Herr Doktor Herrenschwand.«

»Wie kommt denn der hierher? Ich habe ihn in Paris bei der Gräfin du Rumain gekannt.«

»Das ist ein anderer; dieser ist der Bruder. Suchen Sie eine Modekrankheit, die Ihnen in der öffentlichen Meinung nicht schaden kann. Das Haus wird dann leicht gefunden sein, und ich werde Ihnen einen ausgezeichneten Koch geben, um Ihnen Ihre Krankensüppchen zu machen.«

Die Wahl der Krankheit war nicht leicht; ich mußte ernstlich darüber nachdenken. An demselben Abend fand ich Gelegenheit, meinen Plan der Frau von *** mitzuteilen, die ihn billigte. Ich bat sie, darüber nachzudenken, wie sie mir schreiben könnte, und sie versprach mir dies. »Mein Mann«, sagte sie, »hat die beste Meinung von Ihnen; er hat durchaus nichts Böses daran gefunden, daß wir in seinem Wagen gefahren sind. Aber sagen Sie mir nun: geschah es zufällig oder aus Absicht, daß Herr von Chavigny meinen Mann zurückhielt, und daß wir miteinander allein waren?«

»Es war Absicht, liebes Herz.«

Sie schlug ihre schönen Augen zum Himmel auf und biß sich auf die Lippen.

»Sind Sie darüber böse?«

»O nein!«

Drei oder vier Tage darauf, als wir die Schottin wieder aufführen sollten, war der Arzt beim Gesandten zum Essen und blieb den Abend über, um die Vorstellung zu sehen. Beim Nachtisch machte er mir ein Kompliment über meine gute Gesundheit. Ich ergriff die günstige Gelegenheit und sagte ihm, der Schein wäre trügerisch, und ich bäte ihn, mir für den folgenden Tag eine Stunde zu bestimmen. Er war ohne Zweifel sehr erfreut, sich getäuscht zu haben, und antwortete mir, er stehe zu meinem Befehl. Er fand sich pünktlich ein; ich sagte ihm alles, was mir gerade einfiel, und unter anderem auch, daß ich in meinen Träumen an gewissen Aufregungen litte, die mich außerordentlich schwächten und mir große Lendenschmerzen verursachten.

»Das kenne ich, mein Herr! Das ist eine böse Krankheit, aber ich werde sie durch zwei Mittel heilen. Das erste, das Ihnen vielleicht nicht gefallen wird, besteht darin, daß Sie sechs Wochen auf dem Lande verbringen, wo Sie nicht der Gefahr ausgesetzt sind, Gegenstände zu sehen, die in Ihrem Gehirn einen gewissen Eindruck hervorbringen. Dieser Eindruck wirkt nämlich auf das siebente Nervenpaar und verursacht dadurch einen Erguß, der wahrscheinlich bei Ihrem Erwachen ein Gefühl tiefer Traurigkeit hinterläßt.«

»Jawohl, Herr Doktor, das ist genau das Gefühl, das ich empfinde.«

»Ich wußte es wohl! Das zweite Mittel besteht in sehr angenehmen kalten Bädern.«

»Sind diese weit von hier?«

»Sie können sie überall nehmen, wo Sie wünschen; ich schreibe Ihnen das Rezept, und alles übrige besorgt der Apotheker.«

Ich dankte ihm, und nachdem er einen doppelten Louisdor erhalten hatte, den ich ihm geschickt in die Hand drückte, entfernte er sich mit der Versicherung, ich würde mich sehr bald von der guten Wirkung seiner Heilmittel überzeugen. Am Abend wußte die ganze Stadt, daß ich krank sei und einige Zeit auf dem Lande verbringen müsse. Herr von Chavigny zog mich beim Essen damit auf und sagte lachend zum Doktor, er müsse mir weibliche Besuche verbieten. Die Hinkende überbot dies noch, indem sie hinzufügte, er müsse mir vor allen Dingen die Betrachtung gewisser Bilder verbieten, von denen ich einen ganzen Kasten voll hätte. Ich lachte und gab allen recht; zuletzt empfahl ich mich Herrn von Chavigny und bat ihn, mir ein hübsches Haus und einen guten Koch zu verschaffen, da ich nicht gerne allein äße.

Da ich eine mir lästige Rolle nicht weiterspielen mochte, so ging ich nicht mehr zu der Hinkenden; bald darauf aber warf sie mir meine Unbeständigkeit vor und sagte mir, ich hätte mich über sie lustig gemacht.

»Ich weiß alles,« sagte das boshafte Frauenzimmer zu mir, »und ich werde mich rächen.«

»Sie können keinen Grund haben, sich zu rächen; denn ich habe Sie niemals beleidigt; sollten Sie jedoch die Absicht haben, mich ermorden zu lassen, so werde ich eine Wache verlangen.«

»Man mordet hier nicht,« versetzte sie in verbissenem Tone; »ich bin keine Italienerin.«

Ich war froh, das häßliche Weib los zu sein, und Frau von *** allein nahm alle meine Gedanken ein. Herr von Chavigny, der allem Anschein nach glücklich war, mir dienen zu können, redete ihrem Gatten ein, ich wäre der einzige, der den Herzog von Choiseul als Generaloberst der Schweizertruppen veranlassen könnte, seinen bei der Garde dienenden Vetter zu begnadigen; dieser hatte das Unglück gehabt, in einem Zweikampf einen Gegner zu töten. »Dies« sagte der liebenswürdige Greis zu mir, »ist das sicherste Mittel, die Freundschaft und das Vertrauen Ihres Nebenbuhlers zu gewinnen. Können Sie diese Sache auf sich nehmen?«

»Es ist nicht sicher, daß sie mir gelingt.«

»Ich bin vielleicht zu weit gegangen, aber ich habe ihm gesagt, Sie könnten durch Vermittlung der Herzogin von Grammont beim Minister alles erreichen.«

»Ich darf sie natürlich nicht Lügen strafen und werde mich gerne bemühen.«

Infolgedessen teilte Herr von *** mir in Gegenwart des Gesandten den Sachverhalt mit und überbrachte mir später alle Schriftstücke, die sich auf die übrigens sehr einfache Angelegenheit seines Neffen bezogen.

Ich verbrachte die ganze Nacht damit, an die Herzogin von Grammont zu schreiben. Ich legte in meinen Brief alles Pathos, wodurch ich ihr Herz und dann das ihres Vaters rühren zu können glaubte. Hierauf schrieb ich auch an meine gute Frau von Urfé und sagte ihr, das Glück des hohen Ordens der Rosenkreuzer hänge davon ab, daß der König den Schweizer Offizier begnadigte, der wegen eines für unseren Orden sehr wichtigen Zweikampfes aus Frankreich habe fliehen müssen.

Nachdem ich eine Stunde geruht und mich angekleidet hatte, ging ich zum Botschafter, um ihm den Brief an die Herzogin zu zeigen. Er fand ihn ausgezeichnet und bat mich, ihn auch dem Herrn von *** zu lesen zu geben. Ich fand diesen in der Nachtmütze; er war tief gerührt und dankbar, daß ich an dieser Sache, die ihm so sehr am Herzen liege, so innigen Anteil nehme. Er sagte mir, seine Frau sei noch nicht aufgestanden, er bitte mich jedoch zu warten, damit wir mit ihr frühstücken könnten. Der Vorschlag war sehr verlockend, aber ich dankte ihm und bat ihn, mich bei der gnädigen Frau zu entschuldigen, indem ich vorschützte, der Kurier werde bald abgehen, ich müsse daher meine Briefe fertig machen, damit sie keine Verspätungen erlitten. Wenn er wirklich eifersüchtig war, so brachte ich ihn auf eine falsche Fährte, indem ich so wenig Eifer zeigte, mit seiner Frau zusammenzukommen.

Ich speiste mit Herrn von Chavigny allein; er lobte mein kluges Verhalten und versicherte mir, es könne gar nicht anders sein, als daß Herr von *** von nun an mein bester Freund sei. Hierauf zeigte er mir einen Brief von Voltaire; der berühmte Mann sprach ihm dadurch seine Dankbarkeit aus, daß er in der Schottin die Rolle des Montrose gespielt habe. Einen anderen Brief hatte er vom Marquis de Chauvelin erhalten, der damals bei dem Philosophen von Ferney in den Délices sich aufhielt. Er versprach ihm einen Besuch, bevor er nach Turin reise, wohin er als Gesandter gehe.

Siebzehntes Kapitel


Mein Landhaus. – Frau Dubois, – Die niederträchtige Lahme spielt mir einen bösen Streich. – Meine kummervolle Lage.

Es war Cercle und Abendessen bei Hofe; so nannte man das Haus des Herrn von Chavigny oder vielmehr des französischen Botschafters in der Schweiz. Als ich in den Saal eintrat, sah ich meine Fee in der Ecke einen Brief lesen. Ich trat auf sie zu und entschuldigte mich bei ihr, daß ich nicht zum Frühstück geblieben sei; aber sie sagte mir, ich habe sehr wohl daran getan, und fügte hinzu: wenn ich bezüglich des Landhauses meine Wahl noch nicht getroffen hätte, bäte sie mich, jenes zu nehmen, das ihr Gatte mir wahrscheinlich am selben Abend noch anbieten würde. Mehr konnte sie mir nicht sagen, weil man sie abrief, um L’hombre zu spielen. Ich selber spielte an diesem Abend nicht, sondern hielt mich abwechselnd bei allen Spieltischen auf. Bei Tische sprach alle Welt mit mir über meine Gesundheit und meinen demnächstigen Landaufenthalt. Dies gab Herrn von *** Gelegenheit, mir von einer reizenden Wohnung an der Aare zu sprechen; man wolle sie jedoch, sagte er, nur auf sechs Monate vermieten.

»Wenn sie mir nur gefällt, und wenn ich sie wieder verlassen kann, sobald ich will, so werde ich gern für die sechs Monate vorausbezahlen.«

»Es ist ein herrlicher Saal darin.«

»Um so besser! Ich werde einen Ball geben, um der guten Gesellschaft Solothurns meine Dankbarkeit für ihre wohlwollende Aufnahme zu bezeigen.«

»Ist es Ihnen recht, wenn wir sie morgen besichtigen?«

»Sehr gern.«

»Nun, wenn es Ihnen also recht ist, werde ich Sie gegen acht Uhr abholen.«

»Sie werden mich bereit finden.«

Als ich nach Hause kam, bestellte ich eine Berline mit vier Pferden. Vor acht Uhr begab ich mich zu Herrn von ***, den ich schon bereit fand. Er fühlte sich sehr geschmeichelt, daß ich ihm zuvorgekommen war, und sagte mir: »Ich habe meine Frau eingeladen, uns zu begleiten; aber sie ist eine Faulenzerin, die ihr Bett dem Vergnügen einer Spazierfahrt vorzieht.« In weniger als einer Stunde gelangten wir ans Ziel, und ich fand ein herrliches Haus, das groß genug war, um den ganzen Hof eines deutschen Reichsfürsten darin unterzubringen. Außer dem Saale, den ich prachtvoll fand, bemerkte ich mit großem Vergnügen ein als Boudoir eingerichtetes Kabinett, dessen Wände ganz mit Kupferstichen von feinstem Geschmack bedeckt waren, einen schönen Garten mit verschiedenen Springbrunnen, ein Gemach, das sich sehr gut zum Baden einrichten ließ, mehrere schöne, sehr gut möblierte Zimmer, eine schöne Küche – mit einem Wort: alles gefiel mir, und ich bat Herrn von ***, den Vertrag für mich abzuschließen, so daß ich schon am dritten Tage einziehen könnte.

Als wir wieder in Solothurn waren, sprach die gnädige Frau mir ihre große Freude aus, daß das Haus mir gefalle. Ich benutzte die Gelegenheit, ihr zu sagen, ich hoffe, Sie würden mir die Ehre erweisen, dort draußen oft bei mir zu speisen. Sie versprachen es mir. Hierauf zog ich aus der Westentasche eine Rolle von hundert Louis und übergab sie dem Herrn von ***, um die Miete für sechs Monate zu zahlen. Ich umarmte ihn, küßte seiner schönen Gemahlin ehrfurchtsvoll die Hand und begab mich zu Herrn von Chavigny. Er fand es sehr gut, daß ich das Haus gemietet hätte, weil ich damit meiner Schönen einen Gefallen täte, aber er fragte mich: »Ist es wahr, daß Sie draußen einen Ball geben wollen?«

»Sehr wahr – wenn ich alles finden kann, was nötig ist, um ihn glänzend zu machen, und wenn der Plan Ihre Zustimmung hat.«

»Das steht außer Frage, mein Lieber; alles was Sie nicht hier am Ort finden können, werden Sie von mir bekommen. Ah, ich sehe, Sie wollen Geld ausgeben! Gut so! Damit beseitigt man gar viele Hindernisse. Sie werden sofort zwei Lakaien erhalten, dazu einen vortrefflichen Koch, die Haushälterin und so viele Leute, wie Sie sonst noch brauchen. Mein Haushofmeister wird sie bezahlen; Sie rechnen dann mit ihm ab; er ist ein ehrlicher Mann. Ich werde zuweilen mal bei Ihnen einen Teller Suppe essen, und zur Belohnung für die Mühe der Fahrt werden Sie mir von Ihren Erfolgen erzählen. Ich halte die reizende Frau in hoher Achtung; sie benimmt sich so vorzüglich, wie man von ihrem jugendlichen Alter kaum erwarten sollte. Die Liebesbeweise, die sie Ihnen gibt, müssen sie Ihnen so teuer machen, daß Sie gewiß auf ihren guten Ruf Rücksicht nehmen werden. Weiß sie, daß ich in alles eingeweiht bin?«

»Sie weiß, daß ich Ihnen von unserer Liebe erzählt habe, und sie ist nicht böse darüber, denn sie ist Ihrer Verschwiegenheit gewiß.«

»Sie kann darauf rechnen. Sie ist ein köstliches Weib; vor dreißig Jahren würde ich selber versucht haben, sie zu verführen.«

Ein Apotheker, den der Doktor mir empfohlen hatte, ging noch an demselben Tage nach meinem Landhause, um die Bäder zurecht zu machen, die mich von meiner vorgeblichen Krankheit heilen sollten. Am dritten Tage fuhr ich selber hinaus, nachdem ich Leduc befohlen hatte, mir mit meinen Sachen nachzukommen.

Ich war sehr überrascht, beim Eintritt in meine neue Wohnung eine sehr hübsche Person vorzufinden, die in bescheidener Haltung auf mich zutrat, um mir die Hand zu küssen. Ich hielt sie davon ab, und sie errötete über das erstaunte Gesicht, das ich machte.

»Gehören Sie zum Hause, Fräulein?«

»Der Haushofmeister des Herrn Botschafters hat mich als Ihre Haushälterin engagiert.«

»Entschuldigen Sie meine Überraschung. Führen Sie mich bitte in mein Zimmer.«

Sie gehorchte, und als ich auf dem Sofa saß, lud ich sie ein, neben mir Platz zu nehmen; sie antwortete jedoch im sanftesten und bescheidensten Ton: »Dies ist eine Ehre, die ich mir nicht erlauben darf; ich bin nur Ihre Dienerin.«

»Wie Sie wünschen, Fräulein. Aber ich hoffe, wenn ich allein bin, werden Sie keinen Anstand nehmen, mir bei Tische Gesellschaft zu leisten; denn es ist mir unangenehm, allein essen zu müssen.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, mein Herr.«

»Wo ist Ihr Zimmer?«

»Hier ist das Zimmer, das der Haushofmeister mir angewiesen hat, aber gnädiger Herr brauchen es mir nur zu sagen, wenn Sie wünschen, daß ich ein anderes nehme.«

»Aber nein doch! Sie werden hier sehr gut aufgehoben sein.«

Ihr Zimmer lag hinter meinem Alkoven. Ich trat mit ihr ein und war ganz verdutzt, als ich eine große Menge Kleider und in einer anstoßenden Kammer eine reiche Toiletteausrüstung, viele Wäsche, Schuhe, Stiefel und gestickte Pantoffeln erblickte. Stumm vor Erstaunen sah ich sie an und fand, daß sie eine edle und selbstbewußte, aber durchaus geziemende Haltung hatte. Trotzdem hielt ich es für angebracht, sie einer strengen Prüfung zu unterziehen, denn sie kam mir zu interessant und zu gut ausgerüstet vor, um nur eine Kammerfrau sein zu können. Ich kam auf den Gedanken, daß der Botschafter mir vielleicht einen Streich hätte spielen wollen; denn eine schöne, wohlerzogene Person von höchstens vier- bis fünfundzwanzig Jahren schien mehr zu meiner Geliebten als zu meiner Haushälterin geschaffen zu sein. Ich fragte sie daher, ob sie den Gesandten kenne und welchen Lohn man mit ihr vereinbart habe. Sie antwortete mir, sie kenne Herrn von Chavigny nur von Ansehen, und sein Haushofmeister habe ihr zwei Louis monatlich und eigenen Tisch versprochen.

»Woher sind Sie? Wie heißen Sie?«

»Mein Herr, ich bin aus Lyon, Witwe und heiße Dubois.«

»Ich bin sehr erfreut, Sie in meinem Dienst zu haben. Wir werden uns wiedersehen.«

Sie ließ mich allein, und ich fand sie unwillkürlich sehr interessant, denn ihre Sprechweise entsprach allem anderen, was ich von ihr gesehen hatte. Ich ging in die Küche hinunter, wo ich einen gut aussehenden Koch fand, der mir sagte, er heiße Rosier. Ich hatte seinen Bruder gekannt, der im Dienst des französischen Gesandten in Venedig stand. Er sagte mir, mein Abendessen würde um neun Uhr fertig sein.

»Ich esse niemals allein,« sagte ich.

»Ich weiß es, mein Herr, und der Tisch wird dementsprechend besetzt sein.«

»Wieviel erhalten Sie?«

»Vier Louis monatlich.«

Hierauf sah ich mir auch meine anderen Leute an. Ich fand zwei intelligent aussehende Lakaien, von denen der eine mir sagte, er würde mir alle von mir gewünschten Weine besorgen. Ich besichtigte auch mein Bad, das ich aufs bequemste eingerichtet fand, und sah einen Apothekergehilfen, der damit beschäftigt war, verschiedene für meine sogenannte Heilung notwendige Sachen zurecht zu machen. Hierauf machte ich einen Spaziergang im Garten und trat auf dem Rückweg beim Pförtner ein; ich fand da eine zahlreiche Familie und darunter einige Mädchen, die nicht zu verachten waren. Da zu meiner Freude alle französisch sprachen, machte es mir Vergnügen, mich ziemlich lange mit ihnen zu unterhalten.

In meiner Wohnung fand ich Leduc damit beschäftigt, meine Koffer auszupacken. Ich sagte ihm, er solle Frau Dubois meine Wäsche geben, und ging in ein anstoßendes hübsches Kabinett, worin ich ein Schreibpult und alles Nötige zum Schreiben fand. Dieses Kabinett hatte nur ein einziges Fenster nach Norden hinaus, aber man hatte eine Aussicht, die einem die glücklichsten Gedanken einflößen konnte. Ich erheiterte mich an dem herrlichen Anblick, als ich an meine Tür klopfen hörte. Es war meine schöne Haushälterin mit bescheidener und lachender Miene, die durchaus nicht darauf schließen ließ, daß sie sich beschweren wollte.

»Was wünschen Sie, Madame?«

»Mein Herr, ich bitte Sie, gütigst Ihrem Bedienten zu befehlen, daß er sich höflich gegen mich benimmt.«

»Dies können Sie verlangen; inwiefern hat er sich gegen Sie verfehlt?

»Seiner Ansicht nach vielleicht überhaupt nicht. Er wollte mich küssen, und da ich mich zur Wehre setzte, glaubte er sich herausnehmer zu dürfen, ein bißchen unverschämt zu sein.«

»Inwiefern?«

»Indem er sich über mich lustig machte. Sie werden entschuldigen mein Herr, aber ich liebe spöttische Menschen nicht.«

»Sie haben ganz recht, meine Gute, denn die sind entweder dumm oder boshaft. Seien Sie ruhig, Leduc soll hören, daß er gegen Sie ehrerbietig zu sein hat. Sie werden mit mir zu Abend speisen.«

Als einige Augenblicke darauf Leduc eintrat, befahl ich ihm, Frau Dubois mit Achtung zu behandeln.

»Sie ist eine Zimperliese,« sagte der Bursche; »sie wollte sich nicht von mir küssen lassen.«

»Du bist ein Flegel.«

«Ist sie Ihre Kammerfrau oder Ihre Geliebte?«

»Vielleicht ist sie meine Frau.«

»Das ändert die Sache, gnädiger Herr. Das genügt. Ich werde Frau Dubois in Ruhe lassen und mein Heil anderwärts versuchen.«

Mein Abendessen war köstlich. Ich war zufrieden mit meinem Koch, mit meinem Kellermeister, mit meiner Haushälterin und sogar mit meinem Spanier, der sie bei Tisch als vernünftiger Junge ohne alle Ziererei bediente.

Nach dem Essen ließ ich den Lakaien und Leduc hinausgehen; als ich mit meiner allzu schönen Haushälterin allein war, die sich bei Tisch wie eine Frau von Welt benommen hatte, bat ich sie, mir ihre Geschichte zu erzählen.

»Meine Geschichte, mein Herr, ist ebenso kurz wie wenig interessant. Ich bin in Lyon geboren, aber meine Eltern brachten mich nach Lausanne, wie sie mir selbst erzählt haben, denn ich war zu jung, als daß ich mich dessen erinnern könnte. Mein Vater, der in Diensten der Frau von Ermance stand, ließ mich im Alter von vierzehn Jahren als Waise zurück. Die Dame hatte mich gern, und da sie wußte, daß meine Mutter kein Vermögen hatte, so nahm sie mich zu sich. Als ich eben siebzehn Jahre alt geworden war, trat ich als Kammerzofe in den Dienst der Lady Montagu; einige Zeit darauf wurde ich die Frau ihres alten Kammerdieners Dubois. Wir reisten nach England, und drei Jahre nach meiner Heirat verlor ich in Windsor meinen Mann. Die englische Luft bedrohte mich mit der Schwindsucht; ich mußte Mylady bitten, sie verlassen zu dürfen. Da die Dame sah, wie schwach ich war, bezahlte sie mir die Reise und gab mir reiche Geschenke. Ich ging nach Lausanne zu meiner Mutter zurück und wurde bald wieder gesund. Dann trat ich in den Dienst einer englischen Dame, die mich sehr gern hatte und mich nach Italien mitgenommen haben würde, wenn sie nicht einen gewissen Verdacht auf den jungen Herzog von Rosbury geworfen hätte. Sie liebte ihn und glaubte, er sei in mich verliebt. Sie hielt mich auch für ihre geheime Nebenbuhlerin; aber sie täuschte sich. Sie entließ mich, indem sie mir sehr schöne Geschenke machte und mir ihr großes Bedauern aussprach, daß sie mich nicht behalten könnte. Ich ging zu meiner Mutter zurück, bei der ich zwei Jahre lang von meiner Hände Arbeit gelebt habe. Vor vier Tagen kam Herr Lebel, der Haushofmeister des Botschafters, zu mir und fragte mich, ob ich unter den Ihnen bekannten Bedingungen bei einem italienischen Herrn als Haushälterin eintreten wolle. Ich nahm dies an, weil ich hoffte, auf diese Weise Italien kennen zu lernen, und dieser Hoffnung muß ich meinen unbesonnenen Streich zuschreiben. Aber – ich bin nun einmal hier.«

»Von welchem unbesonnenen Streich sprechen Sie, Madame?«

»Daß ich in Ihren Dienst getreten bin, ohne Sie zu kennen.«

»Ihre Offenheit gefällt mir. Sie wären also nicht gekommen, wenn Sie mich gekannt hätten?«

»Nein, ganz gewiß nicht; denn ich werde keine Stelle mehr bei einer Dame finden, nachdem ich bei Ihnen gedient habe.«

»Und warum denn nicht, bitte?«

»Aber, mein Herr, glauben Sie denn, Sie können eine Haushälterin wie mich haben, ohne daß das Publikum glaubt, ich sei Ihnen etwas anderes?«

»Nein, dazu sind Sie zu hübsch, und ich sehe nicht wie ein Polyp aus. Aber ich mache mir nichts daraus.«

»Sie machen sich nichts daraus – das ist ganz schön und gut; an Ihrer Stelle würde ich mir auch nichts daraus machen. Aber ich bin eine Frau und bin abhängig; glauben Sie, daß ich mich ohne Schaden über gewisse Vorurteile hinwegsetzen kann?«

»Das heißt, Frau Dubois, es wäre Ihnen lieb, nach Lausanne zurückzukehren.«

»Nein, jetzt nicht; denn das würde Ihnen schaden.«

»Wieso?«

»Man würde natürlich sagen, Sie hätten mir durch Bemerkungen oder durch ein zu freies Benehmen mißfallen; und Sie selber würden vielleicht über mein Benehmen nicht sehr günstig urteilen.«

»Aber ich bitte Sie, was könnte ich denn von Ihnen glauben?«

»Vielleicht, daß ich mich Ihnen gegenüber aufspielen wolle.«

»Dies wäre wohl möglich; denn wenn Sie ohne vernünftigen Grund plötzlich fortgingen, so würde mich das allerdings sehr ärgern. Trotzdem tun Sie mir leid; denn wenn Sie so denken, können Sie weder gerne gehen noch gerne bleiben. Sie müssen aber doch irgendeinen Entschluß fassen.«

»Der ist schon gefaßt. Ich bleibe, und ich fühle mich beinahe schon sicher, daß mir dies nicht leid tun wird.«

»Ihre Hoffnung freut mich; aber es ist eine Schwierigkeit dabei.«

»Wollen Sie mir wohl sagen, welche?«

»Ich muß es sogar, meine liebe Dubois. Seien Sie nicht mehr traurig, und vor allen Dingen geben Sie gewisse Skrupel auf.«

»Sie werden mich niemals traurig sehen, das kann ich Ihnen versprechen. Aber wollen Sie mir wohl erklären, was Sie unter dem Wort Skrupel verstehen?«

»Sehr gern. Nach der gewöhnlichen Annahme bedeutet das Wort Skrupel eine abergläubische Bosheit, die eine Handlung, welche nur unschuldig sein kann, für lasterhaft hält.«

»Wenn eine Handlung mir zweifelhaft erscheint, bin ich niemals geneigt, sie übel auszulegen. Übrigens gebietet meine Pflicht mir nur, über mich zu wachen.«

»Ich sehe, Sie haben viel gelesen.«

»Lesen ist mein Hauptbedürfnis; ohne Lesen würde das Leben mir zur Last sein.«

»Sie besitzen also Bücher?«

»Viele. Verstehen Sie englisch?«

»Kein Wort.«

»Das tut mir leid, denn die englischen Bücher würden Ihnen Vergnügen machen.«

»Ich liebe die Romane nicht.«

»Ich auch nicht. Aber glauben Sie denn, es gebe in der englischen Literatur nur Romane? Da muß ich lachen! Warum halten Sie mich denn ohne weiteres für romanhaft?«

»Da muß ich ebenfalls lachen! Ein solcher Einfall einer hübschen Frau gefällt mir sehr, und es freut mich, daß ich Sie zuerst zum Lachen gebracht habe.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich lache; ich …«

»Aber bitte, meine Liebe! Lachen Sie nur nach Herzenslust! Sie werden niemals ein besseres Mittel finden, um mich zu allem zu bringen, was Sie wünschen. Ich finde wirklich, Sie haben sich zu billig verdungen.«

»Oh, mein Herr, auch darüber muß ich lachen, denn es steht ja bei Ihnen, meinen Lohn zu erhöhen.«

»Ich fühle wohl, ich werde ihn erhöhen.«

Ich stand vom Tisch auf. Ich war nicht verliebt, aber überrascht über diese junge Frau, die allem Anschein nach mich bei meiner schwachen Seite zu fassen verstand. Sie verstand zu sprechen und hatte mich gleich bei diesem ersten Gespräch so ziemlich in den Grund gebohrt. Da sie jung, schön, elegant, geistreich und von sehr vornehmem Wesen war, so konnte ich nicht ahnen, was sie noch mit mir anstellen würde. Es drängte mich, mit diesem Herrn Lebel zu sprechen, um ihm dafür zu danken, daß er mir ein solches Wunder verschafft hatte, noch mehr aber, um ihn über die Frau auszufragen.

Nachdem der Tisch abgeräumt worden war, kam sie herein und fragte mich, ob ich Papierwickel trüge.

»Das hat Leduc zu besorgen,« antwortete ich; »aber wenn Sie es wünschen, will ich Ihnen gern den Vorzug geben.«

Sie legte mir die Haarwickel sehr geschickt, und ich sagte zu ihr: »Ich sehe voraus. Sie werden mich bedienen, wie Sie früher Lady Montagu bedienten.«

»Nicht ganz. Aber da Sie Traurigkeit nicht lieben, muß ich Sie um eine Gnade bitten.«

»Bitten Sie, meine Liebe!«

»Ich bitte Sie, nicht zu verlangen, daß ich Sie im Bade bediene.«

»Auf Ehre, daran habe ich wirklich nicht gedacht, meine Liebe. Das wäre ja ein Skandal! Leduc hat das zu besorgen.«

»Verzeihen Sie mir, und gewähren Sie mir eine zweite Bitte!«

»Sagen Sie nur frei heraus, was Sie wünschen!«

»Gestatten Sie, daß ich eine von den Töchtern des Pförtners bei mir schlafen lasse.«

»Wenn ich daran gedacht hätte, würde ich selber es Ihnen vorgeschlagen haben. Ist sie in Ihrem Zimmer?«

»Nein.«

»Rufen Sie sie!«

»Lassen wir es bis morgen; denn wenn ich jetzt hinginge, könnte man darüber schwatzen.«

»Ich sehe, Sie sind tugendhaft, meine reizende Dubois; seien Sie versichert, ich werde Sie nicht daran hindern, es auch fernerhin zu bleiben.«

Sie half mir beim Auskleiden und mußte mich sehr bescheiden finden; aber ich konnte nicht umhin, mir zu gestehen, daß ich es nicht aus Tugend war. Mein Herz war von einer anderen eingenommen, und Frau Dubois hatte mir imponiert; vielleicht machte sie sich über mich lustig, aber hierüber dachte ich nicht weiter nach.

Als ich am Morgen nach Leduc schellte, trat er mit den Worten ein, er hätte nicht gehofft, daß er die Ehre haben würde.

»Du bist ein Flegel; halte sofort nach meinem Bade zwei Tassen Schokolade bereit.«

Nachdem ich mein erstes kaltes Bad genommen hatte, das ich köstlich fand, legte ich mich wieder zu Bett. Frau Dubois trat in einem eleganten Morgenkleide und lächelnden Mundes bei mir ein.

»Sie sehen ja so fröhlich aus, meine schöne Haushälterin!«

»Ich bin es auch; denn ich fühle mich glücklich, zu Ihnen gekommen zu sein. Ich habe gut geschlafen, und in meinem Zimmer habe ich ein engelschönes Mädchen, das von nun an bei mir schlafen wird.«

»Lassen Sie sie hereinkommen.«

Sie rief, und ich sah ein scheues, häßliches Ding, von dem ich schnell den Blick abwandte.

»Sie haben keine Nebenbuhlerin haben wollen, meine Liebe; aber wenn sie Ihnen recht ist, so bin ich ganz einverstanden. Sie werden mit mir frühstücken, und ich lade Sie ein, jeden Morgen eine Tasse ausgezeichneter Schokolade mit mir zu trinken.«

»Das tue ich außerordentlich gern, denn ich liebe die Schokolade sehr.«

Der Nachmittag verging sehr angenehm. Herr von Chavigny verbrachte mehrere Stunden bei mir. Er war mit allem zufrieden, besonders mit der schönen Haushälterin, von welcher Lebel ihm gar nichts gesagt hatte. »Sie ist«, sagte er, »ein ausgezeichnetes Mittel, Sie von der Liebe zu heilen, die Frau von *** Ihnen eingeflößt hat.«

»Sie irren sich. Sie könnte mir wohl Liebe einflößen, aber ohne mich von jener zu heilen, die ich für meine Zauberin empfinde.«

Am nächsten Tage sah ich im Augenblick, da ich mich mit meiner Haushälterin zu Tisch setzen wollte, einen Wagen auf den Hof fahren und meine greuliche Hinkende aussteigen. Mir war dies sehr unangenehm, indessen zwang mich die Höflichkeit, ihr entgegenzugehen und sie zu begrüßen.

»Die Ehre, die Sie mir erweisen, gnädige Frau, ist mir gänzlich unerwartet.«

»Dies wundert mich nicht. Ich möchte Sie um einen Dienst und um ein Mittagessen bitten.«

»Bitte, treten Sie ein; es wird grade eben aufgetragen. Ich stelle Ihnen Frau Dubois vor.«

Hiermit wandte ich mich zu meiner reizenden Haushälterin und sagte ihr, die Dame werde mit uns speisen.

Frau Dubois spielte die Hausfrau und machte ganz ausgezeichnet die Honneurs; die Hinkende betrug sich trotz ihrem Adelstolz sehr gut gegen sie. Ich sprach während der Mahlzeit keine zwanzig Worte und behandelte die abscheuliche Person ohne alle Rücksicht; indessen war ich ungeduldig, zu erfahren, was für einen Dienst sie wohl von mir erwarten könnte. Sobald Frau Dubois hinausgegangen war, sagte sie mir ohne Umschweife, sie bäte mich, ihr für drei Wochen oder höchstens einen Monat zwei Zimmer abzutreten.

Überrascht ob einer solchen Frechheit sagte ich ihr, dies wäre ein Dienst, den ich ihr unmöglich leisten könnte.

»Sie können ihn mir nicht verweigern, denn die ganze Stadt weiß, daß ich eigens hinausgefahren bin, um Sie darum zu bitten.«

»Nun, potzblitz, so wird die ganze Stadt erfahren, daß ich Ihnen die Bitte abgeschlagen habe. Ich will allein sein, völlig allein, und will meine volle Freiheit haben. Jede Art von Gesellschaft würde mich belästigen.«

»Ich werde Sie in keiner Weise belästigen, und es steht nur bei Ihnen, meinen Aufenthalt unter Ihrem Dach völlig unbeachtet zu lassen. Ich werde es Ihnen durchaus nicht übel nehmen, wenn Sie sich nicht nach meinem Befinden erkundigen, und werde mich nicht nach dem Ihrigen erkundigen, selbst wenn Sie wirklich krank sein sollten. Ich werde mir von meiner Magd in der kleinen Küche mein Essen bereiten lassen, und werde mich nur dann in den Garten begeben, wenn ich sicher bin, daß Sie nicht dort sind. Sagen Sie mir jetzt, ob die einfachste Höflichkeit Ihnen gestattet, mir meine Bitte abzuschlagen.«

»Wenn die einfachsten Gebote des Anstandes Ihnen vertraut wären, Madame, so würden Sie nicht darauf bestehen, von mir einen Dienst zu verlangen, den ich Ihnen in aller Form verweigert habe, was ich hiermit wiederhole.«

Sie schwieg, aber meine Worte hatten offenbar keinen Eindruck gemacht. Mir war zumute, wie wenn ich ersticken sollte. Ich ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und dachte daran, sie als eine Verrückte hinauswerfen zu lassen. Dann dachte ich jedoch daran, daß sie Verwandte hatte, die in der Gesellschaft einen hohen Rang einnahmen, und daß ich durch schonungslose Behandlung sie zu einer Feindin machen konnte, die imstande wäre, eine schreckliche Rache auszuüben; und daß endlich Frau von *** vielleicht alle gewaltsamen Entschlüsse gegen die Megäre mißbilligen könnte. Ich sagte daher zu ihr: »Nun gut, gnädige Frau, Sie sollen die Wohnung haben, die Sie auf so zudringliche Weise verlangen, und eine Stunde, nachdem Sie hier eingetroffen sind, werde ich nach Solothurn zurückkehren.«

»Ich nehme die Wohnung an und werde übermorgen einziehen. Ihre Drohung, nach Solothurn zurückzukehren, macht auf mich keinen Eindruck; denn die ganze Stadt würde Sie auslachen.«

Nach dieser unverschämten Bemerkung stand sie auf und verließ das Zimmer, ohne mich zu grüßen. Ich ließ sie hinausgehen, ohne mich vom Fleck zu rühren. Ich war wie betäubt. Einen Augenblick nachher bereute ich, nachgegeben zu haben, denn ihre freche Zumutung war beispiellos. Ich fand mich dumm und lächerlich. Ich hätte die Sache scherzhaft nehmen sollen; ich konnte ihr auf feine Art die Tür weisen, ihr sagen, sie sei toll, und sie zum Verlassen meines Hauses nötigen, indem ich alle meine Leute zu Zeugen anrief.

Meine liebe Dubois kam herein; ich erzählte ihr die Geschichte, über die sie ganz starr war. Sie sagte: »Ein Verlangen solcher Art ist unwahrscheinlich, und Ihre Einwilligung in eine derartige Erpressung ist ebenso unwahrscheinlich, es sei denn, daß Sie ganz bestimmte Gründe hätten.«

Sie hatte vollkommen recht; da ich sie jedoch nicht in die Verhältnisse einweihen wollte, so beschloß ich zu schweigen und ging aus, um meiner Galle Luft zu machen. Ermüdet kam ich nach Hause; denn ich hatte einen starken Spaziergang gemacht. Ich aß mit der Dubois zu Abend, und wir blieben bis nach Mitternacht bei Tisch. Ihre Unterhaltung gefiel mir immer mehr; sie war sehr fein gebildet, sprach gewandt und erzahlte mit reizender Anmut eine Menge Anekdoten und Witze. Sie hatte keine Vorurteile, wohl aber Grundsätze. Ihre Sittsamkeit beruhte mehr auf Grundsätzen, als auf Tugend; aber wenn sie nicht ein starkes Ehrgefühl gehabt hätte, würden ihre Grundsätze sie nicht gegen die Verirrungen der Leidenschaft und gegen die Verführung des Lasters geschützt haben.

Der Auftritt mit der schamlosen Hinkenden hatte mich dermaßen aufgeregt, daß ich mich nicht enthalten konnte, am nächsten Morgen in aller Frühe zu Herrn von Chavigny zu fahren und ihm die Geschichte zu erzählen. Ich sagte Frau Dubois, sie möchte nicht auf mich warten, wenn ich zum Mittagessen nicht zurück wäre.

Herr von Chavigny hatte bereits von der Hinkenden erfahren, daß sie mich aufsuchen wollte; aber er lachte laut auf, als er hörte, wie sie es angefangen hatte, um ihren Zweck zu erreichen.

»Eure Exzellenz finden dies komisch; aber ich nicht.«

»Ich sehe es; aber folgen Sie meinem Rat und tun Sie, wie wenn Sie zuerst darüber lachten. Benehmen Sie sich in allem, wie wenn Sie gar nicht wüßten, daß sie Ihre Nachbarin ist, und sie wird genügend bestraft sein. Man wird natürlich sagen, daß sie in Sie verliebt sei und daß Sie sie verschmäht haben. Erzählen Sie diese scherzhafte Geschichte Herrn von *** und bleiben Sie ohne Umstände zum Essen bei ihm. Ich habe mit Lebel über Ihre schöne Haushälterin gesprochen. Der gute Mann hat sich nichts Böses dabei gedacht. Als er nach Lausanne reiste, hatte ich ihm gerade eine Stunde vorher den Auftrag gegeben, Ihnen eine gute Haushälterin zu besorgen; unterwegs fiel ihm dies ein, er dachte an die ihm bekannte Frau Dubois, und die Sache kam ohne irgendeine Absichtlichteit zustande. Sie ist für Sie ein Glücksfund, ein wahres Kleinod; denn wenn Sie neugierig auf sie wären, so wird sie, denke ich, Sie nicht schmachten lassen.«

»Das ist nicht sicher; sie scheint Grundsätze zu haben.«

»Nun, ich denke, Sie werden sich dadurch nicht anführen lassen. Ich lade mich zu morgen ein, bei Ihnen selbdritt zu speisen, und werde sie mit Vergnügen plaudern hören.«

Herr von *** empfing mich auf das freundschaftlichste und wünschte mir Glück zu der schönen Eroberung, die meinen Landaufenthalt zu einer Zeit der Wonne machen müsse. Ich ging natürlich auf den Scherz ein, und tat dies um so lieber, da auch die Frau mir die gleichen Komplimente machte, obgleich sie die Wahrheit ahnte. Aber ihre liebenswürdigen Scherze nahmen bald eine andere Richtung, als ich ihnen die Geschichte ausführlich erzählte. Sie erbleichten vor Entrüstung, und Herr von *** sagte mir: wenn sie mir wirklich lästig wäre, so läge es nur an mir, ihr durch die Regierung den Befehl zustellen zu lassen, mein Haus nicht mehr zu betreten.

Ich antwortete hierauf: »Dieses Mittels will ich mich nicht bedienen; denn abgesehen davon, daß ich sie entehren würde, so wäre es auch ein Zeichen meiner Schwäche; denn schließlich muß doch jeder wissen, daß ich in meinem Hause Herr bin, und daß es ohne meine Einwilligung ihr unmöglich sein würde, sich an einem Ort festzusetzen, wo ich allein zu befehlen habe.«

»Dies ist auch meine Meinung,« sagte Frau von ***; »ich gebe Ihnen recht, daß Sie ihrem zudringlichen Verlangen nachgegeben haben. Dies beweist Ihre Höflichkeit. Ich werde ihr einen Besuch machen und ihr zu der guten Aufnahme Glück wünschen; denn sie hat mich von dem Erfolg ihres Schrittes in Kenntnis gesetzt.«

Ich sprach nicht mehr davon und nahm ihre Einladung zum Mittagessen an. Ich benahm mich freundschaftlich, aber mit jener auserlesenen Höflichkeit, die dem Verdacht keinen Raum läßt; der Gatte schöpfte denn auch keinen.

Die liebenswürdige Fee fand eine Gelegenheit, mir unbemerkt zu sagen, ich hätte wohl daran getan, dem frechen Verlangen der greulichen Hexe nachzugeben; wenn Herr von Chauvelin wieder abgereist wäre, könnte ich ihren Gatten einladen, einige Tage bei mir zu verbringen, und ohne Zweifel werde sie auch dabei sein. »Die Frau ihres Pförtners ist meine Amme; ich erweise ihr Wohltaten und kann nötigenfalls durch sie ohne Gefahr Ihnen schreiben.«

Nachdem ich zwei italienischen Jesuiten, die auf der Durchreise in Solothurn waren, einen Besuch gemacht und sie für den nächsten Tag zum Essen eingeladen hatte, fuhr ich nach Hause, wo die reizende Dubois mich bis Mitternacht durch philosophische Gespräche unterhielt. Sie liebte Locke. Sie sagte, die Fähigkeit des Denkens sei kein Beweis für das geistige Wesen unserer Seele, denn es stehe in Gottes Macht, unserer körperlichen Organisation die Fähigkeit des Denkens zu verleihen, und ich konnte ihr nicht widersprechen. Ich mußte herzlich lachen, als sie mir sagte, zwischen denken und richtig urteilen sei ein großer Unterschied, und erkühnte mich ihr zu sagen: »Ich denke, Sie würden richtig urteilen, wenn Sie sich überreden würden, bei mir zu schlafen; und Sie glauben richtig zu urteilen, wenn Sie sich nicht darauf einlassen.«

»Glauben Sie mir, mein Herr,« antwortete sie, »zwischen der Vernunft des Mannes und der des Weibes ist ein ebenso großer Unterschied, wie zwischen der körperlichen Beschaffenheit der beiden Geschlechter.«

Am nächsten Morgen um neun Uhr tranken wir gerade unsere Schokolade, als die Hinkende ankam. Ich hörte ihren Wagen, aber ich rührte mich nicht von der Stelle. Das häßliche Geschöpf schickte den Wagen wieder fort und richtete sich mit einer Kammerfrau in der Wohnung ein.

Ich hatte Leduc nach Solothurn geschickt, um meine Briefe von der Post abzuholen, und mußte daher meine Haushälterin bitten, mich zu frisieren; sie machte dies ausgezeichnet, als ich ihr gesagt hatte, daß wir den Herrn Botschafter und die beiden Jesuiten zu Tisch haben würden. Ich dankte ihr, indem ich sie zum erstenmal auf die Wange küßte, denn sie erlaubte mir nicht, ihre schönen Lippen zu berühren. Ich fühlte, daß die Liebe durch alle Poren in uns eindrang; aber wir blieben vernünftig, was ihr wegen der dem schönen Geschlecht angeborenen Koketterie weniger schwer wurde als mir; denn diese Koketterie ist oft mächtiger als die Liebe.

Herr von Chavigny kam um zwei Uhr. Ich hatte die Jesuiten nur mit seiner Einwilligung eingeladen und hatte ihnen meinen Wagen geschickt. Bis die Herren kamen, gingen wir spazieren, und Herr von Chavigny bat meine hübsche Haushälterin, uns nachzukommen, sobald sie einige kleine Haushaltungsgeschäfte erledigt hätte, die sie in dem Augenblicke verhinderten, das Haus zu verlassen.

Herr von Chavigny war einer von den Männern, die Frankreich aufsparte, um sie in geeignetem Augenblick zu solchen Mächten zu schicken, die es verführen und in sein Interesse ziehen wollte. Ein solcher Mann war Herr de l’Hôpital, der das Herz der Kaiserin Elisabeth Petrowna zu gewinnen wußte; ein solcher Mann war auch der Herzog von Nivernois, der im Jahre 1762 das Kabinett von St.-James nach seinem Gefallen lenkte.

Frau Dubois, die uns inzwischen eingeholt hatte, unterhielt uns sehr angenehm, und Herr von Chavigny sagte, er finde an ihr alle Eigenschaften, um einen Mann glücklich zu machen. Sie bezauberte ihn vollends, als sie bei Tisch die beiden Jesuiten durch die feinsten und geistreichsten Scherze ins Gedränge brachte. Am Abend sagte der wundervolle alte Herr zu mir, er habe einen glücklichen Tag verbracht; nachdem er mich noch eingeladen hatte, während des Aufenthaltes des Herrn von Chauvelin bei ihm zu speisen, und mich herzlich umarmt hatte, fuhr er ab.

Herr von Chauvelin, den ich in Versailles beim Herrn Herzog von Choiseul kennen zu lernen die Ehre gehabt hatte, war ein sehr liebenswürdiger Mann. Er kam zwei Tage darauf in Solothurn an, und da der Botschafter mir Bescheid sagen ließ, beeilte ich mich, ihm meine Aufwartung zu machen. Er erkannte mich wieder und stellte mich seiner Gemahlin vor, die ich noch nicht die Ehre hatte zu kennen. Da ich bei Tisch zufällig neben meiner Schönen saß, geriet ich in fröhliche Stimmung und erzählte eine Menge scherzhafter Sachen, die alle Anwesenden in heitere Laune versetzten. Als Herr von Chauvelin bemerkte, er wisse mehrere hübsche Geschichtchen über mich, sagte Herr von Chavigny ihm, die schönste kenne er noch nicht, und erzählte mein Züricher Abenteuer. Herr von Chauvelin sagte zu Frau von ***: um sie zu bedienen, würde er sogar zum Lakaien werden, worauf Herr von *** das Wort ergriff und ihm sagte, ich hätte einen viel feineren Geschmack, denn die Dame, um derenwillen ich den Kellner gespielt hätte, wohne in meinem Landhause unter einem Dache mit mir.

»Nun, Herr Casanova,« rief Herr de Chauvelin, »da kommen wir alle hinaus und machen Ihnen einen Besuch.« Ich wollte ihm antworten, Herr von Chavigny kam mir jedoch zuvor und sagte: »Ei, gewiß! Ich hoffe, er wird mir seinen schönen Saal leihen, um dort Sonntag einen Ball zu geben.«

Auf diese Weise verhinderte mich der liebenswürdige Hofkavalier, mich zu verpflichten, selber einen Ball zu geben, und entband mich von meinem prahlerischen Versprechen, das man mir übel ausgelegt haben würde, denn ich hätte damit in die Rechte des Botschafters eingegriffen, der allein seine erlauchten Gäste während der fünf oder sechs Tage des Solothurner Aufenthaltes bewirten durfte. Außerdem hätte meine Prahlsucht mich zu einer beträchtlichen Ausgabe verleitet, die für mich ganz zwecklos gewesen wäre.

Von Voltaire kam das Gespräch auf die Schottin, und man rühmte meine Nachbarin, die darüber errötete und schön wie ein Stern wurde, was zu neuen Lobpreisungen Anlaß gab.

Nach dem Essen lud der Gesandte uns alle für den nächsten Tag zum Ball ein. Ich fuhr nach meinem Landhause zurück, verliebter denn je in meine wunderbare Amazone, die der Himmel erschaffen hatte, um mir das schwerste Leid meines ganzen Lebens zu bereiten, wie der Leser bald sehen wird.

Ich fand meine Haushälterin schon zu Bett, und dies war mir lieb, denn die Nähe meiner schönen *** hatte mich dermaßen entflammt, daß meine Vernunft wahrscheinlich nicht imstande gewesen wäre, mich innerhalb der Schranken des Respekts zu halten. Am anderen Morgen fand sie mich traurig; aber sie eröffnete gegen mich eine Plänkelei, die meine Seele wieder heiter machte. Während wir die Schokolade tranken, ließ die Kammerfrau der Hinkenden sich melden und übergab mir einen Brief; ich schickte sie fort, indem ich ihr sagte, mein Bedienter würde ihrer Herrin die Antwort überbringen. Das eigentümliche Billet lautete folgendermaßen: »Der Herr Botschafter hat mich für Sonntag zum Ball einladen lassen. Ich habe antworten lassen, ich befände mich nicht wohl; sollte es mir jedoch gegen Abend besser gehen, so würde ich teilnehmen. Mir scheint, da ich bei Ihnen wohne, so muß ich von Ihnen selber eingeführt werden, oder darf überhaupt nicht erscheinen. Wenn Sie also keine Lust haben, mir dieses Vergnügen zu erweisen und mich auf den Ball zu führen, so bitte ich Sie, tun Sie mir den Gefallen und sagen Sie, daß ich krank sei. Entschuldigen Sie, daß ich geglaubt habe, in diesem ganz besonderen Falle gegen unsere Abmachungen verstoßen zu dürfen, denn es gilt doch, dem Publikum gegenüber zum mindesten den äußeren Schein zu wahren.«

»Nein!« rief ich, außer mir vor Entrüstung. Ich ergriff eine Feder und schrieb folgende Zeilen:

»Ich finde Ihre Ausrede köstlich, gnädige Frau. Man wird sagen, daß Sie krank seien, denn ich bleibe den Bedingungen getreu, die Sie selber aufgestellt haben, und da ich meiner vollen Freiheit genießen will, so werde ich nicht die Ehre haben, Sie auf den Ball zu führen, den der Herr Botschafter so freundlich ist, in meinem Saale geben zu wollen.«

Ich gab meiner Haushälterin den unverschämten Brief und meine Antwort zu lesen; sie fand, diese sei so, wie die freche Person sie verdiene. Hierauf schickte ich meinen Brief an die Adresse.

In köstlicher Ruhe verbrachte ich die beiden nächsten Tage zu Hause. Ich sah keinen Menschen; aber die Gesellschaft meiner lieben Dubois war vollkommen ausreichend. Am Sonntag kamen in aller Frühe die Leute des Gesandten, um die nötigen Vorbereitungen für den Ball und das Abendessen zu treffen. Als ich bei Tisch saß, kam Lebel, um mir seine Aufwartung zu machen. Ich ließ ihn Platz nehmen und dankte ihm für das schöne Geschenk, das er mir gemacht, indem er mir eine so vollkommene Haushälterin besorgt hätte. Lebel war ein schöner Mann, mittleren Alters, von heiterem, seinem Stande angemessenem Wesen, und ein vollkommener Ehrenmann.

»Wer von Ihnen beiden ist mehr eingegangen?« fragte er mich.

»Da ist von einem mehr oder weniger nicht die Rede,« sagte meine liebenswürdige Hausdame, »denn wir sind beide gleich sehr miteinander zufrieden.«

Zu meiner Freude waren Herr und Frau *** das erste Paar, das am Abend erschien. Sie war sehr nett gegen Frau Dubois und ließ nicht die geringste Überraschung merken, als ich ihr diese als meine Haushälterin vorstellte. Sie sagte mir, ich könnte nicht umhin, Sie zu der Hinkenden zu führen, und trotz meinem Widerstreben mußte ich ihr wohl gehorchen. Wir wurden mit dem Anschein herzlichster Freundschaft empfangen; die Hinkende ging mit uns in den Garten, um einen Spaziergang zu machen. Herr von *** reichte ihr seinen Arm, während meine Zauberin sich verliebt auf den meinigen stützte.

Nachdem wir ein paarmal um den Garten herumgegangen waren, bat Frau von *** mich, sie zu ihrer Amme zu führen. Da ihr Gemahl in der Nähe war, fragte ich sie: »Wer ist denn Ihre Amme, gnädige Frau?«

»Die Frau Ihres Pförtners,« beeilt der Gatte sich zu antworten; »wir werden bei der gnädigen Frau auf Sie warten.«

»Sagen Sie mir, lieber Freund,« fragte sie mich unterwegs, »ob Ihre hübsche Haushälterin nicht bei Ihnen schläft?«

»Nein! Ich schwöre es Ihnen! Ich kann nur Sie lieben.«

»Ich will es gerne glauben, obgleich es mir schwierig erscheint. Aber wenn Sie die Wahrheit sagen, tun Sie unrecht, sie zu behalten, denn kein Mensch wird es glauben.«

»Es genügt mir, wenn Sie überzeugt sind, daß ich Ihnen nichts vorlüge. Ich lasse der jungen Frau volle Gerechtigkeit widerfahren, und ich begreife, daß wir zu keiner anderen Zeit unter einem Dache schlafen könnten, ohne dasselbe Bett zu teilen; aber in dem Zustande, in den Sie mein Herz versetzt haben, kann ich nicht in sie verliebt werden.«

»Ich glaube es Ihnen herzlich gern, aber ich finde sie sehr hübsch!«

Wir traten bei der Amme ein, die sie ihr Töchterchen nannte und mit Liebkosungen überhäufte; hierauf ließ sie uns allein, um eine Limonade zu bereiten. Kaum waren wir allein, so preßte Mund sich auf Mund, und meine Hände betasteten tausend Schönheiten, die nur durch ein leichtes Tafftkleid verhüllt waren. Leider konnte ich sie nur durch diese Hülle hindurch genießen, die um so verräterischer war, da sie keinen von den Reizen des wonnigen Weibes verbarg. Ich bin überzeugt, die treffliche Amme hätte länger auf sich warten lassen, wenn sie geahnt hätte, wie sehr wir es nötig hatten, noch einige Augenblicke länger miteinander allein zu sein. Aber ach! niemals wurden zwei Limonaden schneller zubereitet!

»Sie war also schon fertig!« rief ich, als ich die Frau erscheinen sah.

»O nein, gnädiger Herr! Aber ich bin flink!«

»Ja – sehr!«

Über diese doppelte Naivität lachte meine reizende Freundin hell auf, indem sie mich zugleich mit einem sehr bedeutungsvollen Blick ansah. Auf dem Rückwege sagte sie mir: da das Schicksal immer noch gegen uns wäre, so müßten wir, um glücklicher zu werden, warten, bis ihr Gemahl sich entschlösse, einige Tage bei mir zu verbringen.

Die greuliche Hinkende bot uns eingemachte Früchte an, die sie sehr lobte, besonders ein Quittenmus, das sie uns dringend aufnötigte. Wir lehnten ab, und Frau von *** trat mir dabei auf den Fuß. Als wir draußen waren, sagte sie mir, ich hätte gut daran getan, nichts anzurühren, denn man habe die Hinkende im Verdacht, ihren Mann vergiftet zu haben.

Ball, Abendessen, Erfrischungen und Gäste waren köstlich und glänzend. Ich tanzte mit Frau von Chauvelin nur ein einziges Menuett, da ich fast die ganze Nacht hindurch mit ihrem Gemahl plauderte. Ich schenkte ihm meine Übersetzung seines kleinen Gedichtes über die sieben Todsünden; er nahm sie mit großem Vergnügen an.

»Ich werde«, sagte ich zu ihm, »Ihnen in Turin einen Besuch machen.«

»Werden Sie Ihre Haushälterin mitbringen?«

»Nein.«

»Da tun Sie aber sehr unrecht, denn sie ist eine reizende Person.«

Alle Welt sprach von meiner lieben Dubois wie Herr de Chauvelin. Sie hatte ein sehr feines Schicklichkeitsgefühl und wußte sich Achtung zu verschaffen, ohne jemals über die Grenzen ihrer Stellung hinauszugehen. Vergeblich nötigte man sie zu tanzen; sie sagte mir später, wenn sie den Bitten nachgegeben hätte, würde sie sich den Haß aller Damen zugezogen haben. Sie wußte sehr wohl, daß sie zum Entzücken tanzte.

Am zweiten Tage darauf reiste Herr von Chauvelin ab, und am Ende der Woche erhielt ich einen Brief von Frau d’Urfé; sie schrieb mir, sie habe zwei Tage in Versailles verbracht, um meine Angelegenheit zum guten Ende zu führen. Sie schickte mir eine Abschrift des vom König unterzeichneten Begnadigungsbriefes zugunsten des Verwandten des Herrn von *** und versicherte mir, das Original sei an den Obersten des Regimentes geschickt worden, in das der junge Mann mit seinem früheren Range wieder eintreten würde. Ich ließ anspannen, um in aller Eile diese gute Nachricht Herrn von Chavigny zu überbringen. Ich war wonnetrunken und verhehlte meine Freude nicht vor dem Gesandten, der mir viele Komplimente machte: Herr von *** habe durch meine Vermittelung, ohne einen Heller auszugeben, erlangt, was er sehr teuer hätte bezahlen müssen, wenn er es überhaupt um Geld hätte erhalten können; er müsse sich daher glücklich schätzen, mir sein volles Vertrauen zu bezeigen.

Um der Sache einen möglichst wichtigen Anstrich zu verleihen, bat ich den alten Herrn, sich die Mühe zu machen und selber dem Herrn von *** diese Begnadigung mitzuteilen. Er schrieb ihm sofort einige Zeilen und bat ihn bei ihm vorzusprechen.

Als Herr von *** erschien, gab der Botschafter ihm die Abschrift und sagte ihm, er verdanke nur mir allein diesen glücklichen Ausgang. Der wackere Mann war außer sich vor Freude und fragte mich, wieviel er mir schuldig sei.

»Nichts, mein Herr, als Ihre Freundschaft, die ich höher schätze als alles Gold der Welt; und wenn Sie mir einen recht großen Beweis derselben geben wollen, so tun Sie mir die Ehre an, einige Tage bei mir zu verbringen, denn ich sterbe vor Langeweile. Die Angelegenheit, womit Sie mich beauftragt hatten, muß von geringer Bedeutung sein, denn Sie sehen, mit welcher Schnelligkeit man Ihren Wunsch erfüllt hat.«

»Von geringer Bedeutung? Mein werter Herr, seit einem Jahre habe ich alle meine Mittel aufgeboten; ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, ohne etwas zu erreichen, und Sie setzen es in vierzehn Tagen durch. Verfügen Sie über mein Leben!«

»Umarmen Sie mich und kommen Sie zu mir zu Besuch. Ich fühle mich überglücklich, wenn ich einem Mann wie Ihnen gefällig sein kann.«

»Ich will die gute Nachricht sofort meiner Frau mitteilen; sie wird Ihnen dafür ebenso dankbar sein wie ich.«

»Ja, gehen Sie!« sagte der Botschafter zu ihm, »und lassen Sie uns morgen selbviert miteinander speisen.«

Als wir allein waren, machte der Marquis von Chavigny als alter Höfling und geistvoller Mann sehr philosophische Bemerkungen über den Hof eines Herrschers, wo an und für sich nichts leicht oder schwer sei, weil in jedem Augenblick das Leichte schwer und das Schwere leicht werde, und wo man oft der Gerechtigkeit versage, was man der Gunst oder gar der Zudringlichkeit bewillige. Er hatte Frau von Urfé gekannt; er hatte ihr sogar zu einer Zeit den Hof gemacht, als der Regent ein geheimes Liebesverhältnis mit ihr hatte. Er hatte ihr den Spitznamen Egeria gegeben, weil sie sagte, sie hätte einen Genius, der sie begeistere und jede Nacht zu ihr komme, wenn sie allein schlafe. Hierauf sprach er mit mir über Herrn von ***, der für mich die größte Freundschaft fühlen müßte. »Das richtige Mittel, einem eifersüchtigen Gatten Hörner aufzusetzen besteht darin, seine Zuneigung zu gewinnen, denn unter Freunden ist Eifersucht fast unmöglich.«

Als wir am nächsten Tage alle vier miteinander speisten, sprach Frau von ***, durch die Dankbarkeit dazu ermächtigt, auf tausendfache Art mir ihre Freundschaft aus, und mein Herz deutete ihre Worte als Beweise der Liebe. Beide versprachen mir, im Laufe der folgenden Woche drei Tage in meinem Landhaus zuzubringen.

Sie hielten Wort, ohne mir ihre Ankunft vorher zu melden; aber ich wurde dadurch nicht überrascht, denn ich hatte alles vorbereitet, um sie gut zu empfangen.

Mein Herz bebte vor Freude, als ich meine Zauberin aus dem Wagen steigen sah; aber diese Freude war nicht ungemischt, denn Herr von *** kündigte mir an, sie müßten unbedingt am vierten Tage nach Solothurn zurückkehren, und seine Frau sagte mir, es sei unerläßlich, die abscheuliche Witwe stets zu unseren Unterhaltungen zuzuziehen.

Ich führte meine Gäste in die Zimmer, die ich für sie hatte zurecht machen lassen, da sie mir für meine Absichten am passendsten schienen. Sie lagen im Erdgeschoß, den meinigen gegenüber. Das Schlafzimmer hatte einen Alkoven mit zwei Betten, die durch eine Scheidewand mit einer Verbindungstür voneinander getrennt waren. Man gelangte dorthin durch zwei Vorzimmer, von denen das erste eine Tür nach dem Garten hatte. Zu allen diesen Türen besaß ich die Schlüssel; die Kammerfrau schlief in einer Kammer jenseits des Vorzimmers. Dem Wunsche meiner Göttin gehorsam, gingen wir zu der Hinkenden, die uns sehr gut aufnahm; sie weigerte sich jedoch, während der drei Tage sich unserer Gesellschaft anzuschließen, indem sie sagte, sie wolle uns unsere Freiheit lassen. Doch gab sie nach, als ich erklärte, daß unsere Bedingungen nur Gültigkeit hätten, wenn wir allein wären.

Meine liebe Dubois hatte ein zu feines Schicklichleitsgefühl, um nicht, ohne daß ich ihr ein Wort zu sagen brauchte, sich das Essen auf ihr Zimmer bringen zu lassen. Wir hielten zu vieren eine köstliche Mahlzeit, denn ich hatte Befehle gegeben, die Tafel besonders reich zu besetzen. Nach dem Abendessen führte ich meine Gäste in ihre Zimmer. Hierauf konnte ich nicht umhin, auch die Witwe in ihre Wohnung zu begleiten. Sie lud mich ein, ihrer Nachttoilette beizuwohnen; aber ich ersparte mir dies, indem ich ihr meine Verbeugung machte. Sie sagte mir spöttisch, nachdem ich mich so gut aufgeführt hätte, verdiente ich es, das Ziel meiner Wünsche zu erreichen. Ich antwortete ihr kein Wort.

Am nächsten Morgen sagte ich meiner Schönen bei einem Spaziergang in meinem Garten, ich hätte alle Schlüssel und könnte jederzeit zu ihr gelangen.

»Ich erwarte«, sagte sie, »einen Besuch meines Mannes; denn er hat diesen durch die bei ihm in solchen Fällen üblichen Liebkosungen bereits angedeutet; Sie müssen also Ihren Ausflug auf die nächste Nacht verschieben. Dann wird er keine Schwierigkeiten bieten, denn es ist noch niemals vorgekommen, daß er zwei Nächte hintereinander der Liebe gehuldigt hat.«

Gegen Mittag erhielten wir den Besuch des Herrn von Chavigny, der sich bei mir zum Essen einlud; als er aber sah, daß meine Haushälterin in ihrem Zimmer speiste, schlug er Lärm. Die Damen gaben ihm recht, und wir gingen alle zusammen zu ihr und nötigten sie, sich mit uns zu Tisch zu setzen. Ohne Zweifel schmeichelte ihr dieses und kam ihrer guten Laune zu statten; denn sie ergötzte uns durch eine Menge witziger Bemerkungen und durch die pikantesten Anekdoten über Lady Montagu. Nach Tisch sagte Frau von *** zu mir: »Es ist unmöglich, daß Sie nicht in die junge Frau verliebt sind, denn sie ist entzückend.«

»Ich werde Ihnen beweisen, daß ich nur in Sie verliebt bin, wenn ich heute Nacht ein paar Stunden in Ihren Armen verbringen kann.«

»Leider ist es mir unmöglich; denn mein Gatte hat bemerkt, daß heute Mondwechsel ist.«

»Er braucht also die Erlaubnis des Mondes, um eine so süße Pflicht bei Ihnen zu erfüllen?«

»Ganz recht. Dies ist, nach seiner Astrologie, das Mittel, seine Gesundheit zu erhalten und einen Sohn zu bekommen, den der Himmel ihm gewähren möge; denn ohne dessen Beihilfe ist es kaum wahrscheinlich, daß seine Wünsche in Erfüllung gehen.«

»Ich hoffe das Werkzeug des Himmels zu sein!« rief ich lachend.

»Möchten Sie recht haben!«

Ich mußte also warten. Am anderen Morgen beim Spaziergang sagte sie zu mir: »Das Mondopfer ist vollbracht, und um jeder Furcht überhoben zu sein, werde ich ihn heute Abend vor dem Zubettgehen zu einer Wiederholung nötigen; hierauf wird er zweifellos in einen tiefen Schlaf versinken. Sie können also um ein Uhr kommen; die Liebe wird Sie erwarten!«

Meines Glückes gewiß überließ ich mich der Freude, womit eine so süße Verheißung ein glühendes Herz erfüllen mußte. Es war die einzige Nacht, auf die ich hoffen konnte, denn Herr von *** hatte erklärt, daß sie am folgenden Tage nach Solothurn zurückkehren würden.

Nach dem Abendessen begleitete ich die Damen in ihre Zimmer; hierauf ging ich in das meinige und sagte meiner Haushälterin, ich hätte viel zu schreiben und sie könnte zu Bett gehen.

Kurz vor ein Uhr ging ich hinaus, und da die Nacht finster war, so schlich ich auf den Zehen um das halbe Haus herum. Gegen meine Erwartung fand ich die Tür offen, doch achtete ich nicht auf diesen Umstand. Ich öffnete die Tür zum zweiten Vorzimmer und im Augenblick, wo ich sie wieder schloß, fühlte ich mich von einer Hand erfaßt, während eine andere sich auf meinen Mund legte.

Ich hörte nur ein sehr leises Pst!, das mir Schweigen gebot. Ein Sofa stand neben uns; wir machten einen Altar daraus, und im selben Augenblick befand ich mich im Innern des Tempels.

Es war die Zeit der Sommersonnenwende; ich hatte nur zwei Stunden vor mir und verlor keine Minute davon, und da ich in meinen Armen das herrliche Weib zu halten glaubte, nach dem ich so lange geschmachtet hatte, erneuerte ich unaufhörlich die Beweise meiner glühenden Liebe. In der Fülle meines Glückes fand ich es wundervoll, daß sie beschlossen hatte, mich nicht in ihrem Bett zu erwarten, denn das Geräusch unserer Küsse und unserer lebhaften Bewegungen hätte den lästigen Gatten aufwecken können. Ihre zärtliche Glut kam der meinigen gleich und verdoppelte mein Glück, indem sie mir, zu meinem unseligen Irrtum, bewies, daß dieses Weib von allen meinen Eroberungen die rühmlichste war.

Die Stutzuhr verkündete mir zu meinem höchsten Bedauern, daß es für mich Zeit war, den Platz zu räumen. Ich bedeckte sie noch einmal mit den zärtlichsten Küssen; dann ging ich in mein Zimmer zurück und überließ mich mit freudevollem Herzen dem Schlaf.

Um neun Uhr weckte Herr von *** mich; er zeigte mir mit glückstrahlendem Gesicht einen eben erhaltenen Brief, worin sein Verwandter mir für seine Wiedereinstellung in das Regiment dankte. Dieser Brief, den die Dankbarkeit diktiert hatte, stellte mich als einen Gott hin.

»Ich bin glücklich, mein Freund«, sagte ich zu ihm, »daß ich Ihnen habe dienen können.«

»Und ich werde glücklich sein, wenn ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen kann. Kommen Sie und frühstücken Sie mit uns; meine Frau ist noch beim Ankleiden. Kommen Sie!«

Ich stand in aller Eile auf. Im Augenblick, wo ich ausgehen wollte, sah ich die abscheuliche Witwe, die mit strahlendem Gesicht mir sagte: »Ich danke Ihnen, mein Herr; ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Ich gebe Ihnen Ihre Freiheit wieder, und fahre nach Solothurn zurück.«

»Warten Sie eine Viertelstunde, gnädige Frau, wir werden mit Frau von *** frühstücken.«

»Keinen Augenblick länger! Ich habe ihr soeben guten Morgen gesagt und reise nun! Leben Sie wohl, denken Sie an mich!«

»Leben Sie wohl, Madame.«

Kaum war sie hinaus, so fragte Herr von *** mich, ob das Weib verrückt sei.

»Man könnte es glauben,« antwortete ich ihm; »denn da sie hier nur mit Höflichkeit behandelt worden ist, so hätte sie wohl bis zum Abend warten können, um mit Ihnen zurückzufahren.«

Wir setzten uns zum Frühstück nieder und sprachen allerlei über diese plötzliche Abreise. Hierauf gingen wir in den Garten, um einen Spaziergang zu machen. Wir trafen dort Frau Dubois, mit welcher Herr von *** sich sofort beschäftigte. Seine Frau sah ein wenig niedergeschlagen aus, und ich fragte sie, ob sie gut geschlafen hätte.

»Ich bin erst um vier Uhr eingeschlafen, nachdem ich, in meinem Bette sitzend, so lange auf Sie gewartet hatte. Welcher Zwischenfall hat Sie nur abhalten können, zu mir zu kommen.«

Auf eine solche Frage war ich nicht gefaßt. Ich war wie versteinert. Ohne ihr zu antworten, sah ich sie starr an; ich konnte mich von meiner Überraschung nicht erholen. Endlich sagte eine schreckliche Ahnung mir, daß ich das Unglück gehabt hätte, zwei Stunden in den Armen der greulichen Hexe zu verbringen, die ich aus Feigheit in mein Haus aufgenommen. Ein entsetzlicher Schauer durchrann mich, und ich mußte hinter eine Hecke treten, um mich von einem Schreck zu erholen, den kein Mensch ahnen konnte. Ich fühlte mich dem Tode nahe und würde unfehlbar gefallen sein, wenn ich nicht meinen Kopf gegen einen Baum gelehnt hätte.

Der erste Gedanke, der in mir aufstieg, war ein schrecklicher Gedanke, den ich sofort zurückwies: daß nämlich Frau von *** den Genuß gerne hingenommen hätte, nun aber ihn leugnen wollte; denn dieses Recht hat jede Frau, die sich an einem dunklen Ort hingibt, weil es immerhin unmöglich sein kann, sie zu überführen. Aber ich kannte zu gut das göttliche Weib, das ich zu besitzen geglaubt hatte, und konnte daher nicht lange sie einer so gemeinen Hinterlist für fähig halten. Ich fühlte, daß es unzart von ihr gewesen wäre, zum Scherz mir zu sagen, daß sie vergeblich auf mich gewartet hätte; denn in solchen Dingen genügt der leiseste Zweifel, um das edelste Gefühl zu entwürdigen. Ich konnte also den entsetzlichen Gedanken nicht abweisen, daß die elende Witwe ihre Stelle eingenommen hätte. Wie hatte sie dies gemacht? Woher hatte sie etwas gewußt? Dies vermochte ich nicht zu ergründen, und so quälte ich mich nutzlos mit allen möglichen Vermutungen. Wenn ein Gedanke den Geist bedrückt, so tritt vernünftiges Nachdenken erst dann ein, wenn dieser Druck fast seine ganze Kraft verloren hat.

Ich sah also ein, daß ich zwei Stunden mit einem scheußlichen Ungeheuer verbracht hatte. Es vermehrte meinen Schmerz, ja, es erfüllt mich noch jetzt mit Abscheu und Ekel vor mir selber, daß ich mir gestehen mußte, vollkommen glücklich gewesen zu sein. Dieser Irrtum war unverzeihlich; denn zwischen den beiden Frauen bestand ein Unterschied wie zwischen schwarz und weiß, und obgleich ich wegen der Dunkelheit nicht hatte sehen und wegen der Notwendigkeit des Schweigens nicht hatte hören können, so hätte das Gefühl allein mich aufklären müssen, wenigstens nach dem ersten Sturmangriff. Aber meine Phantasie war im Taumel. Ich fluchte auf die Liebe, auf die Natur und besonders auf meine unbegreifliche Schwachheit, eine Schlange bei mir aufzunehmen, die mich des Besitzes meines Engels beraubt hatte. Der Gedanke, daß ihre Berührung mich besudelt hatte, erregte mir Ekel vor mir selber. Ich beschloß zu sterben, vorher aber mit eigenen Händen die abscheuliche Megäre zu erwürgen, die mich so unglücklich machte.

Während ich in diesem Beschluß mich immer mehr bestärkte, trat Herr von *** teilnehmend zu mir und fragte mich, ob ich krank sei; er erschrak, als er mich totenbleich und von Schweiß überströmt sah. »Meine Frau«, sagte der wackere Mann zu mir, »ist unruhig und hat mich zu Ihnen geschickt.«

Ich antwortete ihm: »Ich mußte sie verlassen, weil mich plötzlich ein Schwindel befiel, aber ich fühle mich bereits etwas besser. Gehen wir zu ihr!«

Frau Dubois brachte mir ein Fläschchen Karmeliterwasser und sagte mir scherzend: sie sei überzeugt, daß die Abreise der Witwe an meiner Erregung schuld sei.

Wir setzten unsern Spaziergang fort, und als wir weit genug von dem Gemahl entfernt waren, der mit meiner Haushälterin ging, sagte ich ihr, ihre Worte, die sie ohne Zweifel nur im Scherz gesagt, hätten mich so außer Fassung gebracht.

»Ich habe durchaus nicht gescherzt, lieber Freund,« sagte sie zu mir mit einem Seufzer; »sagen Sie mir also: Was hat Sie abgehalten, zu mir zu kommen.«

Ich war starr. Ich konnte mich nicht entschließen, ihr etwas zu gestehen, was mich tief beschämte, und ich wußte keine Ausrede zu ersinnen, um mich zu rechtfertigen. Ganz verwirrt schwieg ich, als die kleine Schlafgenossin meiner Haushälterin ihr einen Brief übergab, den die unwürdige Hinkende durch besonderen Boten gesandt hatte. Sie öffnete ihn und übergab mir einen Einschluß, der an mich überschrieben war. Ich steckte ihn in die Tasche und sagte, ich würde ihn bei Muße lesen. Man drang nicht in mich, aber Herr von *** sagte scherzend, ich sei liebeskrank.

Ich war nicht zum Lachen aufgelegt und antwortete nicht. Wir wurden zum Essen gerufen, aber es war mir unmöglich, etwas anzurühren. Man schrieb meine Enthaltsamkeit meinem Unwohlsein zu.

Ich war ungeduldig, den Brief zu lesen; aber dazu hätte ich allein sein müssen, und dies war schwer zu machen.

Um mich der Partie Pikett zu entziehen, die wir für gewöhnlich jeden Nachmittag machten, trank ich nur eine Tasse Kaffee und sagte, ich glaubte, die frische Luft würde mir wohltun. Frau von *** erriet meine Absicht und kam mir zu Hilfe, indem sie vorschlug, wir wollten alle in einem geschlossenen Baumgange des Gartens spazieren gehen. Ich bot ihr meinen Arm, ihr Gemahl bot meiner Haushälterin den seinen, und wir gingen hinaus.

Sobald Frau von *** sah, daß man uns nicht mehr bemerken konnte, sagte sie mir folgendes: »Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, Sie haben die Nacht mit jenem boshaften Weibe verbracht, und ich habe große Furcht, bloßgestellt zu werden. Sagen Sie mir alles, lieber Freund, vertrauen Sie mir alles ohne Rückhalt an; es ist mein erster Liebeshandel, und wenn dieser mir als Schule dienen soll, so müssen Sie mich alles wissen lassen. Ich bin überzeugt, Sie haben mich geliebt; lassen Sie mich, ich bitte Sie, nicht glauben, daß Sie mein Feind geworden sind!«

»Gerechter Himmel, was sagen Sie da? Ich Ihr Feind?«

»Sagen Sie mir also die ganze Wahrheit, und vor allen Dingen sagen Sie sie mir, bevor Sie den Brief der boshaften Person gelesen haben. Ich beschwöre Sie im Namen meiner Liebe. Bemänteln Sie nichts!«

»Nun denn, göttliches Weib, Ihr Wunsch sei erfüllt! Ich bin um ein Uhr bei Ihnen eingetreten; in dem Augenblick, wo ich das zweite Vorzimmer betrat, ergriff eine Frau meinen Arm und legte mir die Hand auf den Mund, um mir Schweigen zu gebieten. Ich glaubte Sie in meinen Armen zu halten und legte Sie sanft auf das Sofa. Begreifen Sie: ich mußte mich sicher glauben, mit Ihnen zusammen zu sein, und es ist mir noch jetzt unmöglich, daran zu zweifeln. Ich habe also mit Ihnen die beiden köstlichsten Stunden meines Lebens verbracht, ohne daß wir ein einziges Wort gesprochen haben. Verfluchte zwei Stunden, deren Erinnerung die Qual meines ganzen Lebens sein wird! Um viertel nach drei Uhr habe ich Sie verlassen, alles übrige wissen Sie.«

»Wer kann diesem Scheusal gesagt haben, daß Sie um ein Uhr zu mir kommen sollten?«

»Ich weiß es nicht, und dieser Gedanke peinigt mich.«

»Geben Sie zu, daß von uns dreien ich am meisten zu beklagen und ach! vielleicht die einzige Unglückliche bin!«

»Oh, wenn Sie mich lieben, so glauben Sie um des Himmels willen dies nicht! Ich bin entschlossen, sie zu erdolchen und dann mich zu töten, nachdem sie ihre gerechte Strafe erhalten hat.«

»Haben Sie auch bedacht, daß ich die unglücklichste aller Frauen bin, wenn diese Geschichte in die Öffentlichkeit kommt? Mäßigen wir uns, mein lieber Freund! Sie tragen keine Schuld, und ich liebe Sie nur noch um so mehr, wenn dies überhaupt möglich ist. Geben Sie mir den Brief, den jene Ihnen geschrieben hat. Ich werde auf die Seite gehen, um ihn zu lesen, und Sie werden ihn nachher lesen; denn wenn mein Mann uns den Brief zusammen lesen sähe, müßten wir ihm den Inhalt mitteilen.«

»Da ist der Brief.«

Ich holte den Gatten ein, der sich über die Bemerkungen der Haushälterin zu Tode lachen wollte. Die Unterhaltung mit Frau von *** hatte mich ein wenig beruhigt. Das Vertrauen, womit sie mich um den Brief gebeten hatte, tat mir wohl. Ich brannte vor Begierde, den Inhalt zu kennen, und trotzdem empfand ich einen unüberwindlichen Widerwillen, ihn zu lesen; denn er konnte nur meinen Zorn reizen, und ich befürchtete dessen Wirkungen.

Frau von *** kam zu uns heran, und nachdem wir uns von neuem von den beiden anderen getrennt hatten, gab sie mir den verhängnisvollen Brief zurück, indem sie mir sagte, ich möchte ihn erst lesen, wenn ich allein wäre und den Kopf klar hätte. Sie nahm mir mein Ehrenwort ab, in dieser Angelegenheit nichts zu tun, ohne mich mit ihr beraten zu haben, und ihr von allen meinen Absichten durch ihre zuverlässige Amme Kenntnis zu geben. »Wir haben nicht zu befürchten«, schloß sie, »daß die unwürdige Vettel die Sache veröffentlicht, denn sie würde sich selber zu allererst bloßstellen; für uns beide aber ist es das sicherste, unsere Gefühle zu verbergen. Übrigens, lieber Freund, gibt das abscheuliche Weib Ihnen einen Rat, den Sie nicht verachten dürfen.«

Es zerriß mir das Herz, zu sehen, wie während dieser Worte dicke Tränen der Liebe und des Kummers ihren schönen Augen entrollten, obgleich sie, um meinen Schmerz zu lindern, sich zu lächeln bemühte. Ich wußte nur zu gut, welch einen hohen Wert sie auf ihren guten Ruf legte; ich wußte, es peinigte sie die Gewißheit, daß die abscheuliche Witwe unser Verhältnis kenne, und dies verdoppelte meine Qual.

Die liebenswürdige Familie verließ mich um sieben Uhr, und ich dankte dem Gatten mit Worten einer so aufrichtigen Freundschaft, daß er unbedingt daran glauben mußte; ich drückte in der Tat nur meine wirklichen Gefühle aus. Gewiß ist die Liebe zu einer Frau kein Grund, für ihren Mann, wenn sie einen solchen hat, nicht die aufrichtigste Freundschaft zu empfinden. Das entgegengesetzte Gefühl ist ein hassenswertes Vorurteil, gegen das sowohl die Philosophie wie die Natur streitet. Nachdem ich ihn umarmt hatte, wollte ich seiner reizenden Gemahlin die Hand küssen; aber er bat mich, sie ebenfalls zu umarmen, und ich tat dies ebenso ehrerbietig wie gefühlvoll.

Sobald sie fort waren, ging ich in meiner Ungeduld, den schändlichen Brief zu lesen, schnell in mein Zimmer, wo ich mich einschloß, um von niemandem gestört zu werden. Der Brief lautete folgendermaßen:

»Ich habe Ihr Haus, mein Herr, recht befriedigt verlassen – befriedigt ganz gewiß nicht deshalb, weil ich zwei Stunden mit Ihnen verbracht habe, denn Sie sind nicht anders als andere Männer, sondern weil ich mich für die Geringschätzung gerächt habe, die Sie häufig mir öffentlich bezeigten. Für die Verachtung, die Sie mir unter vier Augen aussprachen, bin ich wenig empfindlich und verzeihe sie Ihnen daher. Ich habe mich gerächt, indem ich Ihre Absichten und die Heuchelei Ihrer schönen Tugendstolzen entlarvte, die mich nun nicht mehr mit jener beleidigenden Überlegenheit wird ansehen können, die sie unter dem Deckmantel einer falschen Tugend zur Schau trug. Ich habe mich gerächt, indem sie die ganze Nacht auf Sie gewartet haben muß, und ich würde alles in der Welt darum geben, wenn ich das komische Gespräch anhören könnte, das unzweifelhaft heute früh zwischen Ihnen beiden stattfinden wird, wenn sie erfährt, daß ich mir, aus Rache und nicht aus Liebe, einen Genuß angeeignet habe, der für sie bestimmt war. Ich habe mich gerächt, indem Sie sie nicht mehr für ein Wunder halten können; denn da Sie mich für sie genommen haben, muß der Unterschied zwischen ihr und mir gleich Null sein; aber ich habe Ihnen einen wichtigen Dienst erwiesen, denn diese Gewißheit muß Sie von Ihrer törichten Leidenschaft heilen. Sie werden sie nicht mehr vor allen andern Frauen anbeten, die nicht mehr noch weniger wert sind als diese Schöne. Wenn ich Sie also aus Ihrer Täuschung gerissen habe, so verdanken Sie mir eine Wohltat; aber ich entbinde Sie von jeder Pflicht der Dankbarkeit und erlaube Ihnen sogar, mich zu hassen, vorausgesetzt, daß Ihr Haß mich in Frieden läßt; denn wenn in Zukunft Ihr Verhalten mir beleidigend erscheinen sollte, so erkläre ich Ihnen, daß ich imstande bin, die Geschichte zu veröffentlichen. Für mich habe ich ja nichts zu befürchten, denn ich bin Witwe, unabhängig und meine eigene Herrin. Ich brauche keinen Menschen und kann mich daher über alle Welt lustig machen. Ihre Schöne dagegen muß notwendigerweise den Schein wahren. – Übrigens mache ich Ihnen noch eine Mitteilung, die Sie von meiner Großmut überzeugen muß. Seit zehn Jahren leide ich an einem kleinen Übel, das jeder Behandlung widerstanden hat. Sie haben sich recht viele Mühe gegeben, um mir Ihre Liebe zu beweisen, und es ist unmöglich, daß Sie sich nicht angesteckt haben sollten. Ich rate Ihnen daher, sofort Arzneien zu nehmen, um die Schärfe des Giftes zu mildern; vor allen Dingen aber warne ich Sie aus dem Grunde, damit Sie nicht etwa Ihrer Schönen ein Geschenk damit machen; diese würde es unwissentlich ihrem Gemahl und vielleicht noch anderen mitteilen. Dadurch würde sie unglücklich werden, und dies würde mir leid tun, denn sie hat mir niemals etwas zuleide getan. Ich hielt es für unmöglich, daß Sie beide nicht den guten Trottel von Mann betrögen, und ich wollte mich davon überzeugen. Zu diesem Zweck habe ich Sie genötigt, mich in Ihr Haus aufzunehmen. Schon die Lage der Wohnung, die Sie dem Ehepaar anwiesen, würde genügt haben, um mir jeden Zweifel zu benehmen; aber ich wünschte einen vollen Beweis, ich hatte keinen Menschen nötig, um meine Absichten zu erreichen, und es erschien mir pikant, Sie anzuführen, wie ich es getan habe. Nachdem ich auf dem Kanapee zwei Nächte ganz ohne Erfolg verbracht hatte, entschloß ich mich, auch noch die dritte Nacht zu opfern, und meine Ausdauer ist von Erfolg gekrönt gewesen. Kein Mensch hat mich gesehen, und selbst meine Kammerfrau weiß nichts von dem Zweck meiner nächtlichen Ausflüge; übrigens ist sie zu schweigen gewöhnt. Es steht also vollkommen in Ihrer Macht, diese Geschichte in Stillschweigen zu begraben, und ich rate Ihnen dies.

Wenn Sie einen Arzt nötig haben sollten, so empfehlen Sie ihm Verschwiegenheit, denn man weiß in Solothurn, daß ich an dieser kleinen Unbequemlichkeit leide, und man könnte sagen, Sie hätten es von mir entlehnt. Dies würde mir schaden und Ihnen auch.«

Ich fand die Schamlosigkeit des unseligen Weibes so ungeheuerlich, daß ich beinahe Lust hatte, darüber zu lachen. Ich wußte wohl, daß sie nach meinem Benehmen gegen sie mich nur hassen konnte; aber niemals hätte ich gedacht, daß eine Frau die Verruchtheit so weit treiben könnte. Sie hatte mir eine Krankheit eingeimpft, deren Anzeichen ich noch nicht bemerken konnte; aber ich zweifelte nicht, daß sie zutage treten würden, und spürte bereits Traurigkeit darüber, daß ich an einem andern Ort Heilung suchen mußte, um mich dem Geschwätz der Spötter zu entziehen. Ich versank in tiefes Nachdenken, und nachdem ich zwei Stunden lang alles hin und her erwogen hatte, faßte ich den vernünftigen Entschluß zu schweigen; zugleich aber bestärkte sich meine Absicht, mich zu rächen, sobald die Gelegenheit dazu sich bieten würde.

Da ich nicht zu Mittag gegessen hatte, mußte ich mich durch das Abendessen stärken, um mir einen gesunden Schlaf zu verschaffen. Ich setzte mich mit meiner Haushälterin zu Tisch; aber wie wenn ich mich meiner selbst geschämt hätte, so wagte ich nicht ein einzigesmal meine Blicke auf ihrem entzückenden Gesicht ruhen zu lassen.

Achtzehntes Kapitel


Fortsetzung des vorigen Kapitels. – Meine Abreise von Solothurn.

Als die Bedienten hinausgegangen waren, und wir uns mit einander allein befanden, wäre es unnatürlich gewesen, wenn wir stumm wie zwei Ölgötzen dagesessen wären; aber mein Geist war in einer so traurigen Verfassung, daß ich wenig Lust hatte, das Schweigen zu brechen. Meine liebe Dubois, die mich zu lieben begann, weil ich sie glücklich machte, und die nur durch Rückwirkung von mir traurig sein konnte, gab sich alle Mühe, mich zum Plaudern zu bringen.

»Ihre Traurigkeit«, sagte sie, »ist Ihnen nicht natürlich und erschreckt mich. Sie könnten Ihr Herz erleichtern, indem Sie mir anvertrauten, was Sie bedrückt; aber glauben Sie mir, ich bin nur deshalb neugierig, weil Sie mir Teilnahme einflößen und weil ich Ihnen vielleicht doch nützlich sein könnte. Zweifeln Sie nicht an meiner vollständigen Verschwiegenheit! Um Sie zu einer freien Aussprache zu ermutigen und um Ihnen das Vertrauen einzuflößen, das ich zu verdienen glaube, will ich Ihnen alles erzählen, was ich von Ihnen weiß und was ich erfahren habe, ohne mich zu erkundigen und ohne mich zu bemühen, aus unziemlicher Neugier Sachen zu erfahren, die ich nicht zu wissen brauche.«

»Sehr schön, meine Liebe, Ihre Erklärung gefällt mir. Ich sehe, Sie empfinden Freundschaft für mich, und bin Ihnen dankbar dafür. Sagen Sie mir also zunächst alles, was Sie über die Angelegenheit wissen, die mir so sehr zu Herzen geht; aber verbergen Sie mir nichts.«

»Sehr gern. Sie sind der Liebhaber und Geliebte der Frau von ***. Die Witwe, die Sie sehr schlecht behandelt haben, hat Ihnen irgendeinen Schabernack gespielt, der Sie beinahe mit Ihrer Geliebten entzweit hat; hierauf hat die boshafte Person sich entfernt, wie man ein anständiges Haus nicht verlassen darf. Dies quält Sie. Sie fürchten irgendwelche unangenehmen Folgen und befinden sich in der grausamen Notwendigkeit, einen Entschluß fassen zu müssen; Ihr Herz kämpft mit Ihrem Geist; Leidenschaft und Gefühl liegen im Widerstreit. Vielleicht täusche ich mich; aber soviel weiß ich: gestern sahen Sie glücklich aus, und heute scheinen Sie mir unglücklich. Ihr Zustand rührt mich, denn Sie haben mir die zärtlichste Freundschaft eingeflößt. Ich habe mir heute große Mühe gegeben, den Gatten zu unterhalten, damit Sie ungestört mit der Frau sprechen könnten, die mir Ihrer Liebe recht würdig erscheint.«

»Dies alles ist wahr. Ihre Freundschaft ist mir teuer, und ich denke sehr hoch von Ihrer Klugheit. Die gräßliche Witwe ist ein Ungeheuer; sie hat mich unglücklich gemacht, um sich wegen meiner Verachtung zu rächen, und ich kann mich nicht wieder rächen. Die Ehre erlaubt mir nicht, Ihnen mehr zu sagen; übrigens können Sie so wenig wie irgend ein anderer mir einen Rat geben, der mich von meinen Schmerzen erlöst. Vielleicht werde ich daran sterben, meine liebe Dubois; jedenfalls aber bitte ich Sie, mir Ihre Freundschaft zu bewahren und sich mit voller Aufrichtigkeit gegen mich auszusprechen. Ich werde Ihnen stets aufmerksam zuhören, und so werden Sie mir von großem Nutzen sein. Ich werde nicht undankbar sein.«

Wie ich erwarten mußte, verbrachte ich eine schlimme Nacht; denn der Zorn, der Vater des Wunsches nach Rache, hat mich stets des Schlafes beraubt; übrigens hat auch die Nachricht eines unverhofften Glückes zuweilen diese Wirkung bei mir hervorgebracht.

In aller Frühe klingelte ich nach Leduc; statt seiner aber sah ich das häßliche kleine Mädchen eintreten. Sie sagte mir, mein Kammerdiener sei krank und meine Haushälterin werde mir die Schokolade bringen. Gleich darauf kam sie, und kaum hatte ich die Schokolade getrunken, so erfolgte ein heftiges Erbrechen, eine Wirkung des Zornes, der in seinem höchsten Grade den Menschen tötet, der ihn nicht befriedigen kann. Mein verhaltener Zorn forderte Rache für den Schimpf, den die schreckliche Witwe mir angetan hatte; zum Glück verschaffte die Schokolade mir einen Ausbruch, sonst hätte der Zorn mich getötet. Indessen hatte die Anstrengung mich erschöpft. Ich warf einen Blick auf Frau Dubois und sah ihr Gesicht von Tränen überströmt. Ich fragte sie: »Warum weinen Sie?«

»Großer Gott, was werden Sie von mir denken?«

»Seien Sie ruhig, liebe Freundin; ich denke, daß mein Zustand Ihnen Teilnahme einflößt. Lassen Sie mich allein; ich hoffe, ich werde schlafen können.«

Ich schlief wirklich ein und erwachte erst nach einem siebenstündigen Schlafe. Ich fühlte mich zu neuem Leben geboren.

Ich klingelte; meine Haushälterin trat ein und meldete mir den Besuch des Wundarztes aus dem nächsten Dorfe. Sie war sehr traurig eingetreten, aber als sie mich näher ansah, wurde ihr hübsches Gesicht wieder heiter. Ich sagte zu ihr: »Wir werden miteinander essen, meine Liebe. Vorher aber lassen Sie den Wundarzt hereinkommen, ich möchte hören, was er mir zu sagen hat!«

Der gute Mann trat ein und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um; als er sicher war, daß er sich mit mir allein befand, näherte er sich meinem Ohr und sagte mir, Leduc habe eine häßliche Krankheit.

Ich lachte laut auf; denn ich hatte mich auf irgend etwas Furchtbares gefaßt gemacht.

»Mein lieber Doktor,« sagte ich zu ihm, »sparen Sie keine Mühe, um ihn gesund zu machen, und ich werde Sie reichlich belohnen; aber ein anderes Mal machen Sie mir Ihre Mitteilungen nicht mit einer solchen Trauermiene. Wie alt sind Sie?«

»Bald achtzig Jahre.«

»Möge Gott Sie erhalten!«

Ich war um so mehr geneigt, meinen armen Spanier wegen seines Unglücks zu bedauern, da ich für mich selber einen ähnlichen Zustand befürchtete. Nicht bei dem Menschen, den das Glück mit all seiner Huld überhäuft hat, findet der Arme ein wahres Mitleid: jener hilft ihm mehr aus Prahlsucht als aus Wohlwollen. So muß auch der Betrübte keinen Trost bei einem suchen, der niemals den Kummer gekannt hat, – wenn es überhaupt einen solchen auf der Erde gibt. Übrigens war Leduc zum erstenmal in solcher Lage, während ich schon seit langer Zeit die Unfälle dieser Art nicht mehr zählte; allerdings war ich 14 Jahre älter als er, und bei seiner Anlage hatte er alle Aussicht, es mir noch gleich zu tun.

Meine Haushälterin war wieder eingetreten, um mir beim Ankleiden zu helfen; sie fragte mich, was der gute Mann von mir gewollt hatte.

»Er hat Sie zum Lachen gebracht; also hat er Ihnen gewiß etwas sehr Lächerliches erzählt.«

»Ganz recht, und ich will es Ihnen gerne sagen; aber sagen Sie mir vorher, ob Sie wissen, was man unter »Venuskrankheit« versteht.«

»Ich weiß es, denn der Läufer der Lady Montagu starb daran, während ich bei der Dame diente.«

»Schön, meine Liebe; aber tun Sie nur lieber, wie wenn sie es nicht wüßten; dann machen Sie es wie viele schöne Damen, die mit Recht sich in dieser Beziehung unwissend stellen, weil dies dem schönen Geschlecht gut steht. Der arme Leduc ist von dieser Pest angesteckt.«

»Der arme Junge! er tut mir leid; aber darüber haben Sie gelacht?«

»Nicht darüber; ich lachte über die geheimnisvolle Miene des guten alten Mannes.«

»Mein Herr, auch ich habe Ihnen ein wichtiges Geständnis zu machen; und wenn ich dies getan habe, müssen Sie mir verzeihen oder mich sofort aus dem Hause jagen.«

»Sie machen mir angst! Was, zum Kuckuck können Sie getan haben? Sprechen Sie schnell!«

»Mein Herr, ich habe Sie bestohlen.«

»Was? bestohlen? wann? wie? Können Sie mir das Gestohlene wiedergeben? So etwas hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Einem Dieb oder Lügner verzeihe ich niemals.«

»O Gott, mein Herr, wie sind Sie hitzig! Ich werde Sie Lügen strafen und ich bin fest überzeugt, daß Sie mir verzeihen werden; denn es ist erst eine halbe Stunde her, daß ich Sie bestohlen habe und ich werde meinen Raub sofort wieder herausgeben.«

»Sie sind ein eigentümliches Geschöpf, meine Liebe. Nun, ich verzeihe Ihnen alles, aber geben Sie mir schnell zurück, was Sie sich unrechtmäßigerweise angeeignet haben!«

»Hier ist das Gestohlene.«

»Wie? der Brief des Ungeheuers! Haben Sie ihn gelesen?«

»Aber würde ich denn sonst gestohlen haben?«

»Sie haben mir also mein Geheimnis gestohlen, und dieses können Sie mir nicht zurückerstatten. Ah, kleines Ungeheuer, Sie haben ein großes Verbrechen begangen.«

»Ich gestehe es. Der Diebstahl ist um so schlimmer, da ich ihn nicht wieder gut machen kann. Indessen kann ich Ihnen versprechen, mein Leben lang niemals ein Wort jemand zu sagen, und darum müssen Sie mir verzeihen. Schnell, schnell!«

»O Zauberin! schnell, schnell! Ich verzeihe Ihnen und hier das Unterpfand meiner Vergebung!«

Mit diesen Worten preßte ich meine Lippen auf ihren schönen Mund.

»O, jetzt glaube ich an meine Begnadigung, denn sie ist doppelt und dreifach gewesen.«

»Ja, aber in Zukunft hüten Sie sich, meine Papiere anzurühren, geschweige denn, sie zu lesen, denn ich habe Geheimnisse, die nicht mir gehören.«

»Das lasse ich gelten, mein Herr, aber wenn ich Briefe herumliegen sehe, wie diesen da?«

»Dann müssen Sie sie aufheben, aber sie nicht lesen.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Gut, meine Liebe. Aber vergessen Sie das greuliche Zeug, das Sie gelesen haben.«

»Hören Sie mich an! Gestatten Sie mir im Gegenteil, mich dessen zu erinnern; vielleicht wird dies zu ihrem Vorteil sein. Sprechen wir von dieser abscheulichen Geschichte, bei der mir die Haare zu Berge gestanden sind. Das schamlose Ungeheuer hat Sie an Leib und Seele tödlich verwundet; aber dies ist noch nicht das schlimmste. Sie glaubt es in der Hand zu haben, der Frau von *** ihre Ehre zu nehmen, und dieses Verbrechen ist in meinen Augen viel größer als die anderen. Denn trotz jener Beschimpfung wird ihre gegenseitige Liebe fortdauern, und die Krankheit, die das gemeine Weib Ihnen vielleicht eingeimpft hat, wird vorübergehen; dagegen ist die Ehre der reizenden Frau von *** unwiederbringlich verloren, wenn jene böse Hexe ihre Drohung verwirklicht. Verlangen Sie also nicht mehr von mir, diese Geschichte zu vergessen; lassen Sie uns vielmehr davon sprechen und einen Ausweg suchen. Glauben Sie mir, ich verdiene Ihr Vertrauen, und ich bin überzeugt, Sie werden mir Ihre Achtung schenken.«

Ich glaubte zu träumen, als ich eine junge Frau ihres Standes weiser sprechen hörte als Pallas mit Telemach. Mehr brauchte sie nicht, um nicht nur meine Achtung, sondern sogar meine Ehrfurcht zu gewinnen.

»Ja, teure Freundin, wir wollen daran denken, wie wir eine Frau, die der Huldigungen aller rechtlichen Menschen würdig ist, vor der großen Gefahr bewahren können, die ihr droht; ich bin Ihnen schon dafür dankbar, daß Sie es für möglich halten. Wir wollen daran denken und morgens und abends davon sprechen. Lieben Sie Frau von ***, verzeihen Sie ihr einen Fehltritt, der der erste ist! Schützen Sie ihre Ehre und haben Sie Mitleid mit meinem Zustande. Seien Sie von jetzt an meine wahre Freundin; vergessen Sie mir gegenüber den unwürdigen Namen eines Herrn, und geben Sie mir nur noch den eines Freundes. Ich werde bis in den Tod der Ihre sein, das schwöre ich Ihnen. Ihre Worte voller Weisheit haben Ihnen mein Herz gewonnen. Umarmen Sie mich!«

»Nein, nein – das ist nicht nötig. Wir sind jung und das Gefühl könnte uns zu leicht fortreißen. Ich bedarf, um glücklich zu sein, nur Ihrer Freundschaft, aber ich will sie nicht umsonst; ich will sie dadurch verdienen, daß ich Ihnen unwiderlegliche Beweise der meinigen gebe. Einstweilen werde ich das Essen auftragen lassen, und ich hoffe, nach Tisch werden Sie sich wieder vollständig wohl befinden.«

Ich war erstaunt über so viel Weisheit. Sie konnte erkünstelt sein; denn um zu verführen, brauchte die reizende Person ja nur die Regeln der Verführung zu kennen. Aber hierüber zerbrach ich mir nicht den Kopf. Ich sah, daß ich sehr nahe daran war, mich in sie zu verlieben, und daß ich in Gefahr schwebte, von ihrer Moral zum besten gehalten zu werden; denn ihr Selbstgefühl würde ihr nicht gestattet haben, diese Moral zum Schweigen zu bringen, selbst wenn sie meine Liebe aufrichtig geteilt hätte. So dachte ich, und ich beschloß, das Feuer nicht zu schüren; ich war überzeugt, es würde aus Mangel an Nahrung verlöschen. Wenn ich meine Liebe nicht groß werden ließ, mußte sie schließlich an Schwäche sterben.

Ich urteilte wie ein Dummkopf; ich vergaß, daß es nicht möglich ist, sich auf einfache Freundschaft zu beschränken, wenn man eine Frau schön findet, wenn man sich jeden Augenblick mit ihr unterhält, jeden Tag zwanzigmal in nahe Berührung mit ihr kommt, und besonders wenn man glaubt, daß sie selber verliebt ist. Freundschaft wird auf ihrem Höhepunkte zu Liebe, und das Linderungsmittel, das man anwenden muß, um sie für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen, reizt sie nur noch mehr. So ging es dem zärtlichen Anakreon mit Smerdias. Ein Platoniker, der behauptet, es sei möglich, einer jungen Frau, die einem gefällt und mit der man zusammenlebt, nur Freund zu sein, ist ein Träumer, der nicht weiß, was er sagt. Meine Haushälterin war zu jung, zu schön und vor allen Dingen zu liebenswürdig; sie hatte einen zu angenehmen Geist, als daß nicht alle diese in ihr vereinten Eigenschaften auf mich wirken sollten; ich mußte mich notwendigerweise wahnsinnig in sie verlieben.

Wir speisten in aller Ruhe, ohne von der Sache zu sprechen, die uns so sehr am Herzen lag; denn nichts ist unvorsichtiger und gefährlicher als in Gegenwart der Bedienten über dergleichen zu sprechen; diese sind boshaft oder unwissend, verstehen schlecht, fügen hinzu oder lassen weg und glauben das Vorrecht zu haben, die Geheimnisse ihrer Herrschaft auszuplaudern, um so mehr, da sie diese vissen, ohne daß man sie darin eingeweiht hat.

Sobald wir allein waren, begann meine liebe Dubois mit der Frage, ob ich hinlängliche Beweise für Leducs Treue besitze.

»Er ist, meine Liebe, ein Spitzbube, ein Wüstling, kühn bis zur Verwegenheit, klug, unwissend, ein schamloser Lügner. Niemand außer mir kann ihn bändigen. Indessen hat dieses schlechte Subjekt eine kostbare Eigenschaft; er führt nämlich blindlings alles aus, was ich ihm befehle, und trotzt jeder Gefahr, um mir zu gehorchen. Er macht sich nichts aus dem Stock, aber er würde sich selbst aus dem Galgen nichts machen, solange er diesen nicht in der Nähe sähe. Wenn auf meinen Reisen ein Fluß auf einer Furt zu überschreiten ist, so zieht er sich aus, ohne daß ich ihm ein Wort sage, und springt ins Wasser, um zu untersuchen, ob ich ohne Gefahr hindurchkommen kann.«

»Dies genügt. Der Bursche ist unter den jetzigen Umständen ein wahrer Schatz. Zuvörderst, mein lieber Freund – Sie wünschen ja, daß ich Sie so nenne – zuvörderst will ich Ihnen sagen, daß die Ehre der Frau von *** vollkommen ungefährdet ist. Tun Sie, was ich Ihnen sagen werde, und wenn die gräßliche Witwe nicht vernünftig ist, wird sie allein bloßgestellt sein. Aber wir brauchen Leduc; ohne ihn können wir nichts machen. Vor allen Dingen müssen wir die Geschichte seiner Krankheit wissen; denn mehrere Umstände könnten meinem Plan hinderlich sein. Erkundigen Sie sich also recht schnell bei ihm selber nach allen Umständen und vor allen Dingen danach, ob er mit den Bedienten über seinen Zustand gesprochen hat. Sobald Sie alles gehört haben, verbieten Sie ihm auf das strengste, von Ihrer Teilnahme für sein Leiden ein Wort zu sagen.«

Ohne einen Einwand zu machen, ohne mich zu bemühen, den Plan zu erraten, ging ich zu Leduc. Er war allein und lag auf seinem Bett. Ich setzte mich mit lachendem Gesicht neben ihn und versprach zunächst, ihn kurieren zu lassen, wenn er mir ganz genau erzählen wollte, wie er sich seine Krankheit geholt hätte.

»Sehr gern, gnädiger Herr! Die Geschichte war so: An dem Tage, wo Sie mich nach Solothurn schickten, um Ihre Briefe abzuholen, stieg ich unterwegs ab und ging in eine Meierei, um Milch zu trinken. Ich fand dort eine junge Bäuerin, die mir gefiel; ich küßte sie; sie sträubte sich nicht, und in Zeit von einer Viertelstunde versetzte sie mich in den Zustand, worin Sie mich jetzt sehen.«

»Hast du das irgend jemandem gesagt?«

»Ich habe mich gehütet! Man hätte mich ausgelacht. Nur der Wundarzt weiß von meiner Krankheit; aber er hat mir versprochen, daß die Geschwulst im Laufe des Tages schwinden werde, und ich hoffe, ich werde Sie morgen bei Tisch bedienen können.«

»Gut, denke daran, daß ich von dir die strengste Verschwiegenheit verlange.«

Ich erstattete meiner Minerva Bericht über dies Gespräch, und sie fragte mich:

»Sagen Sie mir, ob im Notfall die Witwe beschwören könnte, daß sie die zwei Stunden auf dem Sofa mit Ihnen verbracht hat?«

»Nein; denn sie hat mich nicht gesehen, und ich habe keine Silbe gesprochen.«

»Ausgezeichnet! Setzen Sie sich sofort an Ihr Schreibpult und antworten Sie der Unverschämten: sie habe gelogen, denn Sie seien gar nicht außerhalb Ihres Zimmers gewesen; Sie würden aber in Ihrem Hause nachforschen lassen, wer der Unglückliche sei, den sie, ohne ihn zu kennen, angesteckt habe. Schreiben Sie und lassen Sie Ihren Brief binnen fünf Minuten abgehen. Anderthalb Stunden darauf schreiben Sie einen zweiten oder vielmehr, Sie kopieren, was ich Ihnen aufschreiben werde.«

»Liebe Freundin, ich errate Ihren Plan! Er ist sinnreich, aber ich habe Frau von *** mein Ehrenwort gegeben, in dieser Angelegenheit keinen Schritt zu tun, ohne sie vorher benachrichtigt zu haben.«

»In diesem Fall muß aber das Ehrenwort vor der Notwendigkeit, ihre Ehre zu retten, zurücktreten. Die Liebe hindert Sie, so energisch vorzugehen, wie ich es will; aber hier hängt alles von der Schnelligkeit ab und davon, wieviel Zeitraum zwischen der Absendung des ersten und der des zweiten Briefes liegen wird. Ich bitte Sie recht sehr, folgen Sie meinem Rat! Das übrige werden Sie aus dem Briefe ersehen, den ich schreiben werde. Schreiben Sie geschwind den ersten!«

Ich handelte gewissermaßen unter dem Einfluß einer mir angenehmen Behexung und erlaubte mir kaum nachzudenken; überzeugt, daß der Plan meiner entzückenden Haushälterin der denkbar beste sein müßte, machte ich es mir zur Pflicht, ihr zu gehorchen, und schrieb an die schamlose Hexe folgendes Liebesbriefchen:

»Die Schamlosigkeit Ihres Briefes steht vollkommen damit im Einklang, daß Sie drei Nächte verbracht haben, um sich von einem Verhältnis zu überzeugen, das nur in Ihrer Einbildung besteht. Erfahren Sie, abscheuliches Weib, daß ich mein Zimmer überhaupt nicht verlassen habe und daß ich nicht die Schmach zu beklagen brauche, mit einem Wesen Ihrer Art zwei Stunden verbracht zu haben. Mit wem Sie diese beiden Stunden zugebracht haben, das mag Gott wissen; indessen, ich werde es erfahren, wenn nicht etwa auch dieses nur eine Schöpfung Ihres teuflischen Geistes ist, und werde Ihnen darüber berichten.

Danken Sie dem Himmel, schamloses Weib, daß ich Ihren Brief erst nach der Abfahrt von Herrn und Frau von *** erbrochen habe. Ich empfing ihn in deren Gegenwart; aber da ich die Hand verachte, die ihn geschrieben hat, so steckte ich ihn in die Tasche; ich machte mir wenig daraus, zu erfahren, welche Niederträchtigkeiten er etwa enthalten möchte. Wäre ich, zum Unglück für Sie, Madame, neugierig gewesen, ihn zu lesen, und hätten meine Gäste ihn gesehen, so hätte ich – zweifeln Sie nicht daran! – mich sofort zu Ihrer Verfolgung aufgemacht, und dann wären Sie in diesem Augenblick nicht mehr imstande, neue Schändlichkeiten zu begehen. Ich befinde mich wohl und befürchte durchaus nicht krank zu werden, aber ich werde mich nicht dazu erniedrigen, Sie davon zu überzeugen, denn der Blick Ihrer Augen würde mir ebenso wie die Berührung Ihres Gerippes ein Brandmal aufdrücken.«

Ich zeigte den Brief meiner lieben Dubois; sie fand die Ausdrücke ein wenig stark, aber sie billigte ihn. Hierauf schickte ich ihn an das entsetzliche Geschöpf, das mich so unglücklich gemacht hatte. Anderthalb Stunden darauf sandte ich ihr folgenden Brief, den ich abschrieb, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen:

»Eine Viertelstunde nach der Absendung meines Briefes kam der Dorfarzt zu mir und sagte mir, mein Kammerdiener bedürfe seiner Dienste zur Heilung von einer schmutzigen Krankheit, die er sich ganz kürzlich zugezogen habe. Ich habe ihm aufgetragen, ihn zu behandeln. Als er fort war, suchte ich den Kranken auf, der nicht ohne einiges Sträuben mir anvertraute, daß er dieses schöne Geschenk von Ihnen erhalten habe. Ich fragte ihn, wie er denn mit Ihnen zusammengekommen sei, und er hat mir gesagt, er habe Sie im Dunkeln ganz allein in die Zimmer des Herrn von *** eintreten sehen. Da ich schon zu Bette gewesen sei und er nichts mehr zu tun gehabt habe, so habe ihn die Neugier angewandelt und er habe sehen wollen, was Sie dort so heimlich suchten. Denn wenn Sie zu der Dame hätten gehen wollen, die um jene Stunde schon im Bette liegen mußte, so wären Sie nicht durch die Gartentür gegangen. Zuerst hat er geglaubt, Sie gingen mit bösen Absichten um; er hat eine Stunde lang gewartet, ob Sie nicht etwas forttragen würden; er würde Sie festgehalten haben. Als er sie aber nicht wieder herauskommen sah und keinerlei Geräusch hörte, bekam er Lust, ebenfalls hineinzugehen, er bemerkte nämlich, daß Sie die Tür offen gelassen hatten. Er hat mir geschworen, er habe nicht die geringsten Absichten gehabt, sich einen Genuß zu verschaffen, und dieses habe ich ihm gerne geglaubt. Er hat mir gesagt, er sei im Begriff gewesen, um Hilfe zu rufen, als Sie sich seiner bemächtigten und ihm die Hand auf den Mund legten; aber er habe seine Absicht aufgegeben, als er sich sanft auf ein Sofa gezogen und mit Küssen bedeckt fühlte. Er war überzeugt, daß Sie ihn mit einem anderen verwechselten; ›aber‹, hat er mir gesagt, ›ich habe sie so bedient, daß ich eine ganz andere Belohnung erwarten durfte, als die, womit sie mich beglückt hat.‹ Ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, hat er Sie verlassen, sobald der Tag zu grauen begann, weil er erkannt zu werden fürchtete. Es ist leicht möglich, daß Sie meinen Bedienten für mich gehalten haben, denn bei Nacht sind alle Katzen grau. Ich wünsche Ihnen Glück, daß er Ihnen ein Vergnügen bereitet hat, das Sie sich ganz gewiß von mir nicht verschafft haben würden, denn ich würde Sie augenblicklich an ihrem Atem und an ihren verwelkten Reizen erkannt haben, und dann würde es Ihnen übel ergangen sein! Zum Glück für Sie wie für mich ist dies nicht der Fall gewesen, übrigens mache ich Sie darauf aufmerksam, daß der arme Bursche wütend ist; er ist entschlossen, Ihnen einen Besuch zu machen, und ich glaube, ihn davon nicht abhalten zu dürfen. Ich rate Ihnen, freundlich, geduldig und großmütig gegen ihn zu sein; denn er ist entschlossen wie ein echter Spanier. Er würde die Geschichte bekannt machen, und Sie begreifen, welche Folgen dies haben würde. Er wird Ihnen selber sagen, was er beansprucht, und Sie werden so vernünftig sein, seine Forderungen zu erfüllen.«

Eine Stunde nach Absendung dieses Briefes erhielt ich ihre Antwort auf meinen ersten. Sie schrieb mir, meine Ausrede sei sehr sinnreich, würde mir aber nichts nützen; denn sie sei ihrer Sache gewiß. Sie forderte mich heraus, in einigen Tagen ihr handgreiflich zu beweisen, daß ich vollkommen gesund wäre.

Beim Abendessen bot meine liebe Dubois alles auf, um mich zu erheitern. Aber dies war verlorene Liebesmüh; ich war zu aufgeregt, um fröhlich sein zu können. Nun stand noch der dritte Schritt bevor, der das freche Weib beschämen und als Ende das Ganze krönen sollte. Da ich die beiden Briefe nach dem Willen meiner Haushälterin geschrieben hatte, so fühlte ich, daß ich bis zum Schluß ihren Ratschlägen folgen mußte. Sie gab mir denn auch wirklich an, wie ich am nächsten Morgen Leduc instruieren müßte, und da sie gerne wissen wollte, weß Geistes Kind mein Bote wäre, so bat sie mich, sich hinter meinen Bettvorhängen verstecken zu dürfen, um alles anzuhören.

Am nächsten Morgen ließ ich Leduc kommen und fragte ihn, ob er imstande sei, nach Solothurn zu reiten und einen Auftrag auszurichten.

»Jawohl, gnädiger Herr; aber der Doktor will durchaus, daß ich morgen anfangen soll, Bäder zu nehmen.«

»Meinetwegen. Sobald dein Pferd fertig ist, reitest du ab und gehst zu Frau von F… Laß dich aber nicht anmelden, wie wenn du von mir kämest; denn sie darf nicht wissen, ja nicht einmal ahnen, daß ich dich schicke. Laß ihr sagen, du habest mit ihr zu sprechen.

Wenn sie sich weigert, dich zu empfangen, so erwarte sie auf der Straße; aber ich denke, sie wird dich empfangen und sogar ohne Zeugen. Du wirst ihr sagen: ›Sie haben mich krank gemacht, ohne daß ich Sie darum gebeten habe; ich verlange, daß Sie mir das nötige Geld geben, damit ich mich behandeln lassen kann!‹ Ferner wirst du ihr sagen, sie habe dich zwei Stunden lang im Dunkeln arbeiten lassen, ohne dich zu erkennen; du würdest niemals etwas davon gesagt haben, wenn sie dir nicht dieses böse Geschenk gemacht hätte; da du nun aber in dieser schlimmen Lage seiest – und hierbei zeigst du ihr einfach die ganze Geschichte – so dürfe sie sich über deinen Schritt nicht wundern. Bleibt sie abwehrend, so drohst du ihr, sie zu verklagen. Das ist alles. Von mir aber sage kein Wort! Reite hierauf sofort zurück, damit ich erfahre, wie alles verlaufen ist.«

»Das ist alles sehr schön, gnädiger Herr; wenn aber das Weibsbild mich die Treppe hinunter werfen läßt, werde ich nicht so schnell wiederkommen können.«

»Allerdings nicht, aber du hast nichts zu befürchten, dafür stehe ich dir,«

»Ein eigentümlicher Auftrag!«

»Du bist der einzige auf der Welt, der ihn ordentlich ausführen kann.«

»Ich bin vollkommen bereit, aber ich muß Ihnen noch einige wichtige Fragen stellen: Hat die Dame wirklich Quint und Vierzehner?«

»Ganz gewiß.«

»Da tut sie mir leid. Aber wie kann ich behaupten, daß sie mich gepfeffert habe, da ich doch niemals ein Wort mit ihr gesprochen habe?«

»Bekommt man das vielleicht beim Sprechen, du Tölpel?«

»Nein, aber man spricht, um es zu bekommen oder während man es bekommt.«

»Du hast mit ihr zwei Stunden im Dunkeln verbracht, ohne daß ihr beide ein Wort gesprochen habt, und sie wird erfahren, daß sie dir dieses schöne Geschenk gemacht hat, während sie es einem andern zu machen glaubte.«

»Jetzt, gnädiger Herr, fängt die Geschichte an, mir klar zu werden. Indessen, wenn wir im Dunkeln waren, wie kann ich wissen, daß ich mit ihr zu tun gehabt habe?«

»Die Sache ist so: Du hast sie durch die Gartentür in das Vorzimmer eintreten sehen und hast sie erkannt, ohne von ihr bemerkt zu werden. Aber du kannst dich darauf verlassen, sie wird dich nicht danach fragen.«

»Nun weiß ich Bescheid. Ich reite sofort hin und bin noch neugieriger als Sie, was sie mir antworten wird. Noch eine wichtige Frage: vielleicht wird sie wegen der Summe feilschen, die sie mir als Kurkosten geben soll; kann ich mich in diesem Fall mit 300 Franken begnügen?«

»Für die Schweiz ist das zuviel; die Hälfte genügt.«

»Das ist aber doch recht wenig für zwei Stunden eines so süßen Genusses und für sechswöchentliche Leiden.«

»Den Rest werde ich dir geben.«

»Dann lasse ich’s mir gefallen. Sie wird die zerbrochenen Töpfe bezahlen. Ich denke mir, ich weiß alles, aber ich werde nichts sagen; wissen Sie, gnädiger Herr, ich wette, das Ekel hat Ihnen selber dieses schöne Geschenk gemacht, aber Sie schämen sich dessen und wollen sie auf eine falsche Spur leiten.«

»Das kann wohl sein; aber sei verschwiegen und reite sofort ab.«

»Wissen Sie was, lieber Freund? der Bengel ist einzig in seiner Art!« sagte meine liebe Dubois zu mir, indem sie aus dem Alkoven hervorkam. »Ich habe große Mühe gehabt, nicht laut aufzulachen, als ich ihn sagen hörte, er könnte nicht so schnell wiederkommen, wenn sie ihn die Treppe hinunterwerfen ließe. Ich bin überzeugt, er wird seinen Auftrag besser ausrichten als der geschickteste Diplomat. Wenn er in Solothurn ankommt, wird die abscheuliche Hexe die Antwort auf Ihren zweiten Brief schon abgeschickt haben. Ich bin schrecklich neugierig darauf.«

»Ihnen, liebe Freundin, gebührt die ganze Ehre für diese Tragikomödie. Sie haben die Intrigue meisterhaft angesponnen. Man würde niemals glauben, daß dies alles das Werk einer jungen Anfängerin ist.«

»Es ist wirklich mein erster Versuch; und ich hoffe, es wird auch mein letzter sein.«

»Wenn sie nur nicht von mir verlangt, das Beweisstück auf den Tisch zu legen!«

»Aber bis jetzt sind Sie doch ganz gesund, wie ich glaube.«

»Ja, vollkommen.«

»Es wäre scherzhaft, wenn sie sich für krank hielte, ohne es zu sein, und wenn Sie mit der Furcht davon kämen.«

»Vielleicht hat sie auch nur den weißen Fluß. Ich kann es kaum erwarten, den Schluß der Entwicklung zu sehen, damit mein Gewissen ruhig ist.«

»Sie werden dies alles der Frau von *** schreiben?«

»Selbstverständlich; aber Sie begreifen, daß ich ihr gegenüber von Ihrem Anteil der Komödie nichts sagen darf.«

»Ihre eigene Anerkennung genügt mir.«

»Sie dürfen nicht daran zweifeln, daß ich Ihr Verdienst daran sehr hoch stelle, meine Liebe, und ganz gewiß werde ich Ihnen die Belohnung nicht vorenthalten, worauf Sie Anspruch haben.«

»Wenn ich eine Belohnung wünsche, so ist es die, daß Sie jede Zurückhaltung gegen mich fallen lassen.«

»Dies ist wundervoll, liebe Freundin! Aber sagen Sie mir, wie ist es möglich, daß Sie für meine Angelegenheiten überhaupt Teilnahme haben? Ea widerstrebt mir, von Ihnen zu glauben, daß Sie von Natur neugierig sind.«

»Sie würden unrecht haben, mir einen Fehler zuzutrauen, der mich in meinen eigenen Augen erniedrigen würde. Seien Sie versichert, mein Herr, Sie werden mich nur neugierig sehen, wenn ich Sie traurig sehe.«

»Aber was hat Ihnen so hochherzige Gefühle für mich einflößen können?«

»Nur Ihr anständiges Benehmen gegen mich.«

»Ich bin tief davon gerührt, meine schätzenswerte Freundin, und ich verspreche Ihnen, Ihnen in Zukunft alles anzuvertrauen, was Sie hinsichtlich meiner beruhigen kann.«

»Sie werden mich glücklich machen!«

Leduc war kaum eine Stunde fort, als ein Bote zu Fuß eintraf und mir einen zweiten Brief von der Witwe brachte. Er übergab mir zugleich ein kleines Paket, indem er mir sagte, er habe Befehl, auf meine Antwort zu warten. Ich sagte ihm, er möchte draußen warten und gab Frau Dubois den Brief zum lesen. Währenddessen lehnte ich mich zum Fenster hinaus, denn ich hatte ein Herzklopfen, daß ich kaum atmen konnte.

»Alles geht vortrefflich, lieber Freund!« rief meine Haushälterin mir zu; »alles geht herrlich! Hier, lesen Sie!«

»Mag nun alles, was Sie mir geschrieben, wahr oder mag ich das Opfer einer Fabel sein, die Ihre fruchtbare Einbildungskraft schnell geschmiedet hat – eine Einbildungskraft, die zu Ihrem Unglück in Europa bereits allzugut bekannt ist – genug, ich nehme alles als wahr an, weil ich die Wahrscheinlichkeit nicht leugnen kann. Ich bin in Verzweiflung, einen Unschuldigen, der mir niemals etwas zuleide getan hat, geschädigt zu haben, und ich trage gerne die Strafe dafür, indem ich ihm einen Geldbetrag schicke, der mehr als ausreichend ist, um ihn von seiner durch mich erworbenen Krankheit zu heilen. Ich bitte Sie, ihm die 25 Louis zu übergeben, die ich Ihnen schicke; sie werden ihm seine Gesundheit wieder verschaffen und ihn die Bitterkeit des Genusses vergessen lassen, den ich zu meinem doppelten Bedauern ihm verschafft habe. Aber werden Sie auch so großmütig sein, Ihren Einfluß als Herr aufzubieten, damit er das strengste Schweigen bewahrt? Ich hoffe es; denn wie Sie mich kennen, müssen Sie vor meiner Rache auf der Hut sein. Sollte dieser üble Spaß in die Öffentlichkeit dringen, so bedenken Sie, daß es mir leicht sein würde, ihm eine Wendung zu geben, die Ihnen nichts weniger als angenehm wäre, und die den Ehrenmann, den Sie betrügen, zwingen würde, die Augen zu öffnen; denn, mein Herr, davon lasse ich mich nicht abbringen: es sind zu viele Anzeichen da, aus denen hervorgeht, daß Sie mit seiner Frau im Einverständnis sind. Da ich übrigens nicht wünsche, daß wir einander noch begegnen, so schütze ich eine dringende Familienangelegenheit vor und reise nach Luzern zu meinen Verwandten. Bestätigen Sie mir den Empfang dieses Briefes.«

»Es tut mir leid,« sagte ich zu meiner Freundin, »daß ich Leduc habe abreisen lassen; die Megäre ist gewalttätig, und ich fürchte es kann ihm irgendein Unglück zustoßen.«

»Seien Sie unbesorgt! Es wird nichts Unangenehmes geschehen, und es ist besser, daß sie sich sehen; die Gewißheit wird dadurch größer. Schicken Sie ihr sofort das Geld zurück; sie soll es ihm selber übergeben; dadurch wird Ihre Rache vollständig sein. Sie wird dann nicht mehr an der Tatsache zweifeln können, wenn Leduc mit seinen handgreiflichen Beweisen kommt! In zwei oder drei Stunden werden Sie das Vergnügen haben, alles aus seinem eigenen Munde zu erfahren. Schätzen Sie sich glücklich: die Ehre der reizenden Frau, welcher Ihre ganze Zärtlichkeit gehört, ist vor jedem Makel geschützt. Ihnen bleibt kein anderer Verdruß, als die Erinnerung an die Liebkosungen dieser Messalina und die Gewißheit, von der Krankheit dieser Prostituierten angesteckt worden zu sein. Indessen hoffe ich, Ihre Krankheit wird unbedeutend und leicht zu heilen sein. Ein veralteter weißer Fluß ist eigentlich keine Geschlechtskrankheit, und ich habe in London sagen hören, er sei selten ansteckend, übrigens müssen wir uns sehr freuen, daß sie nach Luzern abreist. Lachen Sie, lieber Freund, um Gotteswillen, lachen Sie! Unser Stück ist doch wirklich komisch.«

»Leider ist es tragikomisch. Ich kenne das menschliche Herz, und ich muß das Herz der Frau von *** verloren haben.«

»Allerdings ist [??? Text fehlt hier] aber daran ist jetzt nicht Zeit, zu denken. Schnell, schnell! antworten Sie ihr in wenigen Zeilen und schicken Sie ihr die 25 Louis zurück.«

Meine Antwort lautete:

»Ihr unwürdiger Verdacht, Ihr abscheulicher Racheplan und der schamlose Brief, den Sie mir geschrieben haben, sind die einzige Ursache Ihrer gerechten und ohne Zweifel bitteren Reue. Ich wünsche, sie möge hinreichend sein, um Sie mit Ihrem Gewissen auszusöhnen. Die Boten haben sich gekreuzt; dies ist nicht meine Schuld. Ich schicke Ihnen die 25 Louis zurück; Sie können sie ihm selber übergeben. Ich habe meinen Bedienten nicht abhalten können, Ihnen einen Besuch zu machen; diesmal aber werden Sie ihn nicht zwei Stunden bei sich behalten, und Sie werden ihn leicht beschwichtigen. Ich wünsche Ihnen gute Reise und verspreche Ihnen, jede Gelegenheit Ihres Anblicks zu vermeiden; denn es ist meine Gewohnheit, allem auszuweichen, was mir widerlich ist. Außerdem, Sie boshaftes Geschöpf, sollten Sie wissen, daß die Welt nicht mit Ungeheuern bevölkert ist, die der Ehre von Leuten, die etwas auf ihren Ruf halten, Schlingen stellen. Wenn Sie in Luzern den apostolischen Nuntius sehen, so sprechen Sie mit ihm über mich, und Sie werden von ihm erfahren, in welchem Rufe ich in Europa stehe, übrigens kann ich Ihnen versichern, daß Leduc mit keinem Menschen außer mir von seinem Mißgeschick gesprochen hat, und wenn Sie ihn gut behandeln, so wird er schweigen, zumal da er auf sein Erlebnis nicht eitel sein kann. Leben Sie wohl.«

Da dieser Brief von meiner teueren Minerva gebilligt wurde, so übergab ich ihn nebst dem Gelde dem Boten.

»Das Stück ist noch nicht zu Ende,« sagte meine Freundin zu mir; »wir haben noch drei Szenen vor uns.«

»Welche denn?«

»Die Rückkehr Ihres Spaniers, den Ausbruch Ihrer Krankheit und das Erstaunen der Frau von ***, wenn sie die ganze Geschichte erfährt.« Ich zählte die Minuten während Leducs Abwesenheit, aber vergeblich – er kam nicht. Ich war in einer schrecklichen Angst, obgleich meine liebe Dubois mich zu überzeugen suchte, er könnte nur deshalb so lange ausbleiben, weil die Witwe nicht zu Hause wäre. Es gibt glückliche Charaktere, die nicht an die Möglichkeit eines Unglückes glauben können. Ein solcher war auch ich, bis man mich in meinem dreißigsten Jahre unter die Bleidächer schickte. Jetzt fange ich an zu faseln, und alles erscheint mir schwarz. Sogar, wenn man mich zu Hochzeiten einladet, sehe ich alles schwarz, und als ich in Prag bei der Krönung Leopolds des Zweiten zugegen war, sagte ich: nolo coronari – ich wünsche nicht gekrönt zu werden. Verfluchtes Alter, würdig, die Hölle zu bewohnen, wohin schon so viele andere es vor mir gewünscht haben: tristisque senectus.

Gegen halb zehn Uhr sah meine Haushälterin im Mondenschein Leduc herangaloppieren. Dies belebte mich wieder. Ich hatte kein Licht im Zimmer. Meine Freundin versteckte sich schnell im Alkoven, denn sie hätte nicht eine Silbe von dem Bericht des Spaniers verlieren mögen.

»Ich bin halbtot vor Hunger, gnädiger Herr,« sagte er beim Eintreten; »bis halb sieben habe ich auf das Weib warten müssen. Als sie nach Hause kam, fand sie mich auf der Treppe und sagte zu mir, ich möchte gehen, sie hätte mir nichts zu sagen.

›Das kann wohl sein, meine schöne Dame‹, sagte ich; ›aber wissen Sie, ich habe nämlich zwei Wörtchen mit Ihnen zu reden, und darum warte ich hier schon verdammt lang auf Sie.‹

›Einen Augenblick‹, antwortete sie; dann steckt Sie ein Paket und einen Brief, worauf ich Ihre Handschrift zu erkennen glaubte, in die Tasche und sagte zu mir: ›Kommen Sie mit!‹

Als wir in ihrem Zimmer sind, und ich da keinen Menschen sehe, sage ich zu ihr, sie hätte mich vergiftet und ich verlangte Geld von ihr, um den Doktor zu bezahlen. Da sie nichts antwortet, mache ich Miene, sie durch den Augenschein zu überzeugen; sie wendet aber den Kopf ab und sagt: ›Warten Sie schon lange auf mich?‹

›Seit elf Uhr, und keinen Bissen habe ich im Leibe.‹

Sie geht hinaus, erkundigt sich bei dem Bedienten, den sie offenbar hierher geschickt hatte, wann er zurückgekommen sei, kommt wieder hinein, schließt die Tür und gibt mir dies Paket, indem sie mir sagt, ich würde fünfundzwanzig Louis darin finden, um mich heilen zu lassen, wenn ich krank wäre; aber wenn mir etwas an meinem Leben läge, so sollte ich mich hüten, mit irgendeinem Menschen über die Geschichte zu sprechen. Ich habe ihr versprochen, zu schweigen, und bin abgeritten. Ist das Paket mein?«

»Ganz gewiß. Laß dir dein Abendessen geben und geh zu Bett!«

Meine liebe Dubois kam aus dem Alkoven hervor und umarmte mich mit triumphierender Miene. Wir verbrachten den Abend in fröhlicher Stimmung. Am nächsten Morgen sah ich die ersten Anzeichen der Krankheit, die die abscheuliche Witwe mir mitgeteilt hatte; aber drei oder vier Tage darauf erkannte ich, daß sie von harmlosester Art war, und nach acht Tagen war ich sie völlig los. Meinem armen Spanier ging es nicht so gut. Er befand sich in einem kläglichen Zustande.

Den ganzen nächsten Morgen verbrachte ich damit, an Frau von *** zu schreiben. Ich erzählte ihr ganz ausführlich, was ich trotz meinem Versprechen, sie vorher um Rat zu fragen, getan hatte, und schickte ihr Abschriften aller Briefe, um sie zu überzeugen, daß unsere Feindin, die nach Luzern gereist sei, sich in dem Glauben befinde, nur in ihrer Einbildung sich gerächt zu haben, und daß zum Glück ihre Ehre vor jedem Schimpf sicher sei. Am Schluß meines langen Briefes gestand ich ihr, daß ich die ersten Anzeichen meiner Krankheit erkannt hätte, jedoch sicher wäre, in sehr wenigen Tagen davon befreit zu sein. Ich gab meinen Brief heimlich ihrer Amme und erhielt am dritten Tage einige Zeilen von ihrer Hand, durch die sie mir anzeigte, daß ich im Laufe der Woche sie nebst ihrem Gatten und Herrn von Chavigny bei mir sehen würde.

Ich Unglücklicher! Ich mußte auf jeden Gedanken auf Liebe verzichten; aber meine Dubois, die wegen Leducs Krankheit den ganzen Tag um mich war, fing an, mir alles andere zu ersetzen. Je mehr ich mich darauf versteifte, in ihr nur eine Freundin sehen zu wollen, desto verliebter wurde ich; vergeblich hoffte ich, daß sie schließlich das Gefühl, das ich ihr eingeflößt, unterdrücken würde, wenn wir in solcher harmlosen Weise miteinander verkehrten. Ich hatte ihr einen Ring geschenkt und ihr gesagt, ich würde ihr hundert Louis dafür geben, sobald sie Lust bekäme, sich desselben wieder zu entäußern; aber dazu konnte sie nur kommen, wenn sie in Bedürftigkeit geriet, und dies konnte nicht geschehen, solange ich sie bei mir behielt; der Gedanke aber, sie zu entlassen, erschien mir abgeschmackt. Sie war naiv, aufrichtig, scherzte gern, hatte viel Geist und ein sehr richtiges Urteil. Sie hatte niemals geliebt und sich nur auf Wunsch der Lady Montagu verheiratet. Sie schrieb nur an ihre Mutter, und ich las auf ihren Wunsch diese Briefe. Sie atmeten kindliche Liebe und waren ausgezeichnet geschrieben.

Eines Tages fiel mir ein, sie zu bitten, die Briefe ihrer Mutter lesen zu dürfen.

»Sie antwortet mir niemals.«

»Und warum nicht?«

»Aus einem guten Grunde: sie kann nicht schreiben. Ich hielt sie für tot, als ich von England zurückkam, und war angenehm überrascht, als ich sie bei meiner Heimkehr nach Lausanne vollkommen gesund vorfand.«

»Wer hat Sie von England begleitet?«

»Niemand.«

»Das ist unbegreiflich. Sie sind jung, ganz dazu angetan, heftige Begierden zu erregen; Sie kleiden sich gut und befanden sich in Gesellschaft so vieler Leute von verschiedenem Charakter; darunter waren auch junge Leute, Wüstlinge – denn die gibt es ja überall; wie haben Sie sich verteidigen können?«

»Mich verteidigen? Das habe ich niemals nötig gehabt. Das große Geheimnis für ein junges Mädchen, nicht belästigt zu werden, besteht darin: niemanden anzusehen, so zu tun, als ob man nicht höre, auf gewisse Fragen nicht zu antworten, allein in einem Zimmer zu schlafen, das man sorgfältig verriegelt, oder in den Gasthöfen, wo es möglich ist, bei der Wirtin zu schlafen. Wenn ein junges Mädchen Reiseabenteuer hat, so wird man in den allermeisten Fällen sagen können, daß sie selber dazu Anlaß gegeben haben muß; denn es ist leicht, überall tugendhaft zu sein, wenn man nur will.«

Sie hatte recht. Sie versicherte mir, sie habe niemals ein Abenteuer gehabt und sei niemals von ihrer Pflicht abgewichen, weil sie so glücklich gewesen sei, sich niemals zu verlieben. Ihre naiven Erzählungen, die von jeder Zimperlichkeit frei waren, und ihre Bemerkungen voll von Witz und gesundem Menschenverstand erheiterten mich vom Morgen bis zum Abend. Zuweilen duzten wir uns; dies war schon ziemlich deutlich und bezeichnete das Ziel, zu dem die Gewalt der Umstände uns führen mußte. Sie sprach mit mir begeistert von den Reizen der Frau von *** und hörte mir mit der lebhaftesten Teilnahme zu, wenn ich ihr von meinen verschiedenen Liebesabenteuern erzählte. Wenn ich an heikle Stellen kam und Miene machte, in meiner Erzählung gewisse schlüpfrig. Umstände zu überspringen, bat sie mich so anmutig, ihr nichts zu verbergen, daß ich mich mit sanfter Gewalt gezwungen sah, ihren Wunsch zu erfüllen; wenn aber dann das allzugetreue Gemälde uns zu entflammen drohte, lachte sie plötzlich laut auf, legte mir die Hand auf den Mund, entfloh wie eine verfolgte Gazelle und schloß sich in ihrem Zimmer ein. Eines Tages fragte ich sie, warum sie sich immer einschlösse, und sie antwortete: »Dies geschieht, damit Sie nicht etwas von mir verlangen, was ich in jenen Augenblicken unmöglich Ihnen verweigern könnte.«

Am Vorabend des Tages, an welchem Herr von Chavigny und Herr und Frau von *** sich unangemeldet bei mir zum Mittagessen einluden, fragte meine Haushälterin, ob ich auch in Holland ein Liebesabenteuer gehabt hätte. Ich erzählte ihr meine Erlebnisse mit Esther, und als ich an die Besichtigung des kleinen Mals kam, hielt die reizende Neugierige mir den Mund zu, wobei sie sich vor Lachen ausschütten wollte. Ich hielt sie mit sanfter Gewalt fest, und da sie sich auf mich niedersinken ließ, so konnte ich dem Wunsche nicht widerstehen, auch bei ihr nach einem kleinen Mal zu suchen, und sie vermochte mir nur schwachen Widerstand entgegenzusetzen. Da mein unglückseliger Zustand mich verhinderte, das Opfer auf dem Altar der Liebe zu vollziehen, so beschränkten wir uns auf ein Scheinopfer, das nur eine Minute dauerte; aber unsere Augen waren daran beteiligt, und dies war nicht geeignet, uns zu beruhigen. Als wir fertig waren, sagte sie lachend, aber mit einem ganz sittsamen Gesicht zu mir: »Mein lieber Freund, wir lieben uns, und wenn wir uns nicht in acht nehmen, wird es nicht lange beim bloßen Tändeln bleiben.«

Nachdem sie dies mit einem Seufzer gesagt hatte, stand sie auf, wünschte mir gute Nacht und legte sich zu ihrer kleinen Häßlichen ins Bett. Es war das erstemal, daß wir uns von dem Triebe unserer Sinne fortreißen ließen; der erste Schritt war getan. Vollkommen verliebt legte ich mich zu Bett; ich sah voraus, daß die liebenswürdige Person bald meine Seele ganz und gar beherrschen würde.

Am anderen Morgen überraschten Herr und Frau von *** mit Herrn von Chavigny uns auf angenehme Weise. Bis zum Mittagessen gingen wir spazieren. Bei Tisch machte meine liebe Dubois die Wirtin, und ich sah mit Vergnügen, dnß meine beiden männlichen Gäste ganz entzückt von ihr waren, denn sie gingen während unseres Nachmittagsspazierganges nicht einen Augenblick von ihrer Seite. Ich erhielt dadurch Gelegenheit, ganz ungestört meiner göttlichen Amazone noch einmal mündlich zu erzählen, was ich ihr geschrieben hatte. Natürlich hütete ich mich, ein Wort davon zu sagen, daß meine Haushälterin an der ganzen Geschichte beteiligt gewesen war; denn es wäre der schönen Frau peinlich gewesen, zu erfahren, daß ihre Schwachheit der anderen bekannt war.

»Das Lesen ihres Briefes«, sagte die reizende Frau zu mir, »hat mir das größte Vergnügen gemacht, weil die widerwärtige Person sich nun nicht mehr schmeicheln darf, die zwei Stunden mit Ihnen verbracht zu haben. Aber sagen Sie mir, ich bitte Sie, wie ist es nur möglich gewesen, daß Sie selbst im Dunkeln nicht den Unterschied bemerkt haben, der doch zwischen uns vorhanden sein muß? Sie ist viel kleiner, viel magerer und mindestens zehn Jahre älter als ich. Außerdem hat sie einen schwülen Atem, und Sie haben doch wissen können, daß ich diesen Fehler nicht habe. Sie waren allerdings des Gesichts und des Gehörs beraubt, aber Sie konnten doch fühlen. Und dennoch haben Sie nichts bemerkt! Das ist unglaublich!«

»Und doch ist es leider nur zu wahr. Ich war von Liebe berauscht, und da Sie allein meine ganze Seele einnahmen, so habe ich nur Sie sehen können.«

»Ich begreife, daß im ersten Augenblick Ihre Phantasie Sie fortreißen mußte, aber nach dem ersten oder zweiten Sturmlauf mußte doch die Glut nachlassen, da jener etwas mangelt, was ich nicht verbergen kann und was alle Kunst der Koketterie bei ihr nicht nachahmen kann.«

»Sie haben recht – Ihr Venusbusen! Und wenn ich daran denke, daß ich nur zwei schlaffe Hängebrüste berührt habe, so fühle ich mich unwürdig, noch weiter zu leben.«

»Sie haben es bemerkt und fühlten sich doch nicht angeekelt?«

»Konnte ich wohl Ekel fühlen, konnte ich überhaupt einen Gedanken fassen, da ich doch gewiß war, Sie in meinen Armen zu halten – Sie, für die ich mein Leben hingeben würde? Nein, eine rauhe Haut, ein übelriechender Atem, ein viel zu bequemes Schlupfloch, dies alles konnte meine Glut nicht mäßigen.«

»Was höre ich! Abscheuliches, unreines Weib! Ekelhaftes Kehrichtfaß! Ich kam, es nicht begreifen; und Sie haben mir dies alles verzeihen können?«

»Ich wiederhole Ihnen: der Glaube, Sie zu besitzen, machte mich unfähig zu denken; alles erschien mir göttlich.«

»Sie hätten mich wie ein liederliches Weibsbild behandeln, mich sogar schlagen sollen, da Sie mich so fanden!«

»Ach, entzückendes Weib, wie ungerecht sind Sie in diesem Augenblick!«

»Das ist wohl möglich, mein lieber Freund, denn ich bin so aufgebracht gegen dieses Scheusal, daß ich im Zorn vielleicht Unsinn rede. Jetzt aber, wo sie sich einem Bedienten hingegeben zu haben glaubt, und nach seinem sie erniedrigenden Besuche muß sie vor Scham und Wut dem Tode nahe sein. Es wundert mich nur, daß sie es geglaubt hat; denn er ist vier Zoll kleiner als Sie – und dann, wie konnte sie glauben, daß ein Bedienter so etwas ebensogut könnte wie Sie! Es ist undenkbar! Ich bin überzeugt, sie ist in diesem Augenblick in ihn verliebt. Fünfundzwanzig Louis! Er wäre mit zehn zufrieden gewesen. Welches Glück, daß der arme Junge so gerade zur rechten Zeit krank wurde. Aber Sie haben ihn doch in alles einweihen müssen?«

»Ganz und gar nicht, ich habe ihn glauben lassen, sie hätte mir ein Stelldichein in jenem Zimmer gegeben, und ich wäre wirklich zwei Stunden mit ihr zusammen gewesen, hätte aber, aus Furcht, gehört zu werden, kein Wort gesprochen. Aus dem, was ich ihm auftrug, hat er geschlossen, sie hätte mich krank gemacht, sie wäre mir dadurch zum Ekel geworden, und ich hätte die Gelegenheit benutzt, meine Beteiligung abzuleugnen, sie mir vom Halse zu schaffen und mich an ihr zu rächen.«

»Ausgezeichnet! Die Frechheit des Spaniers ist unglaublich, aber am allerunglaublichsten ist die Frechheit dieser gemeinen Person. Wenn aber nun das Weib nur aus Prahlerei und um Ihnen einen Schreck einzujagen gesagt hätte, sie sei krank, welcher Gefahr hätte sich dann der Bursche ausgesetzt.«

»Diese Befürchtung habe ich gehabt, denn ich hatte noch kein Anzeichen der Krankheit gemerkt.«

»Jetzt aber sind Sie in Behandlung, und ich bin die Ursache. Das bringt mich zur Verzweiflung!«

»Beruhigen Sie sich, mein Engel; meine Krankheit hat nicht viel auf sich. Ich wende nichts weiter an als eine Auflösung von salpetersaurem Salz, und in acht Tagen werde ich vollkommen wieder hergestellt sein. Ich hoffe, dann …«

»Ach, mein lieber Freund …«

»Wie?«

»Denken wir nicht mehr daran, ich beschwöre Sie.«

»Ein solcher Ekel kann sehr natürlich sein, wenn die Liebe nicht sehr stark ist. Ich bin sehr unglücklich!«

»Ich bin es mehr als Sie. Ich liebe Sie, und Sie wären undankbar, wenn Sie aufhörten, mich zu lieben. Lieben wir uns, aber suchen wir nicht uns unsere Liebe zu beweisen; dies könnte verhängnisvoll für uns werden. Verfluchte Witwe! Sie ist abgereist, und in vierzehn Tagen reisen auch wir nach Basel, wo wir bis Ende November bleiben.«

»Der Streich hat getroffen! Ich sehe, ich muß mich Ihren Gesetzen unterwerfen, oder vielmehr meinem Schicksal; denn in der Schweiz ist mir lauter Unglück zugestoßen. Mich tröstet nur, daß es mir gelungen ist, Ihre Ehre vor jedem Angriff zu sichern.«

»Sie haben die Achtung und Freundschaft meines Mannes gewonnen; wir werden immer gute Freunde sein.«

»Wenn Sie abreisen müssen, so fühle ich, daß es meine Pflicht ist, vor Ihnen abzureisen. Dies wird die unwürdige Urheberin meines Unglückes noch mehr überzeugen, daß unsere Freundschaft unsträflich war.«

»Sie denken wie ein Engel und überzeugen mich immer mehr von Ihrer Zärtlichkeit. Wohin gehen Sie?«

»Nach Italien; vorher aber werde ich nach Bern und Genf reisen.«

»Sie werden also nicht nach Basel kommen. Das ist mir lieb, so großes Vergnügen mir es auch machen würde, Sie dort zu sehen. Ohne Zweifel würde man darüber schwätzen, und dies würde mir schaden. Aber wenn es Ihnen möglich ist, so zeigen Sie sich in den wenigen Tagen, die Sie noch hier zubringen werden, recht vergnügt; denn das traurige Wesen steht Ihnen nicht.«

Wir gingen wieder zum Gesandten und Herrn von ***, die gar keine Zeit gehabt hatten, an uns zu denken, so sehr erheiterte meine liebe Dubois sie durch ihre hübschen Bemerkungen, Ich warf ihr vor, daß sie gegen mich mit ihrem Geist geize, und Herr von Chavigny nahm diese Bemerkung auf und sagte uns, daran wäre unsere Verliebtheit schuld, denn Verliebte hätten keine geistreichen Worte nötig. Aber meine Dubois blieb die Antwort nicht schuldig; sie ging den beiden Herren tapfer zu Leibe, und dies verschaffte mir Gelegenheit, den Spaziergang mit der schönen Frau fortzusetzen. Sie sagte mir: »Ihre Haushälterin, lieber Freund, ist ein Meisterwerk der Natur. Beantworten Sie mir wahrheitsgetreu eine Frage, und ich verspreche Ihnen, vor Ihrer Abreise Ihnen ein Zeichen der Dankbarkeit zu geben, woran Sie Ihre Freude haben werden.«

»Sprechen Sie! Was wünschen Sie zu wissen?«

»Sie lieben sie, und sie erwidert ihre Liebe.«

»Ich glaube es, aber bis jetzt …«

»Mehr will ich nicht wissen; denn wenn es noch nicht geschehen ist, so wird es geschehen, und das ist so gut, wie wenn es schon geschehen wäre. Wenn Sie mir gesagt hätten, Sie liebten sich nicht, so hätte ich Ihnen nicht geglaubt; denn ich begreife nicht, wie ein junger Mann wie Sie mit einer solchen Frau zusammen leben kann, ohne sie zu lieben. Sie ist sehr hübsch, klug wie ein Engel; lustig, talentvoll, außerordentlich wohl erzogen und weise im Sprechen; dies ist mehr als genug, um einen Mann zu bezaubern, und ich bin überzeugt, es wird Ihnen schmerzlich sein, sich von ihr zu trennen. Lebel hat ihr einen schlechten Dienst erwiesen, indem er sie zu Ihnen gebracht hat; denn sie stand in einem ausgezeichneten Ruf, jetzt aber wird es ihr nicht mehr möglich sein, bei einer anständigen Dame einen Dienst zu finden.«

»Ich werde mit ihr nach Bern gehen.«

»Daran werden Sie gut tun.«

Als sie abfuhren, sagte ich ihnen, ich würde binnen kurzem nach Solothurn kommen, um Abschied zu nehmen und ihnen für ihren ausgezeichneten Empfang zu danken, weil ich in einigen Tagen abzureisen gedächte. Der Gedanke, Frau von *** nicht wieder zu sehen, war mir so schmerzlich, daß ich mich sofort zu Bett legte; Frau Dubois achtete meine Traurigkeit und zog sich zurück, nachdem sie mir gute Nacht gewünscht.

Zwei oder drei Tage darauf erhielt ich einen Brief von meiner Zauberin; sie schrieb mir, ich möchte sie am folgenden Tage um zehn Uhr besuchen und mich zum Essen einladen. Pünktlich befolgte ich ihren Befehl. Herr von *** empfing mich sehr freundlich, sagte mir aber, er müsse aufs Land fahren und könne nicht vor ein Uhr zurück sein; er bitte mich also, es nicht übel zu nehmen, wenn er es seiner Frau überlasse, mich bis dahin zu unterhalten. So geht es einem armen Ehemann! Frau von *** stickte mit einem jungen Mädchen an einem Rahmen; ich nahm ihre liebenswürdige Gesellschaft an, aber nur unter der Bedingung, daß sie sich in ihrer Arbeit nicht stören ließe.

Vor zwölf Uhr entfernte das junge Mädchen sich, und sogleich gingen wir, um die frische Luft zu genießen, auf eine Terrasse neben dem Hause; es befand sich dort ein hübsches Kabinett, von dessen Inneren aus wir, ohne gesehen zu werden, alle ankommenden Wagen schon in der Ferne bemerken konnten.

»Warum, göttliche Freundin, haben Sie mir dieses Glück nicht verschafft, als ich vollkommen gesund war?«

»Weil damals mein Gatte argwöhnte, Sie hätten sich nur meinetwegen als Kellner verkleidet und könnten mir nicht gleichgültig sein. Ihr kluges Verhalten hat seinen Verdacht beseitigt und mehr denn alles Ihre Haushälterin, die er für Ihre Frau hält, und in die er ebenfalls so verliebt ist, daß ich glaube, er würde ganz gerne tauschen, wenigstens für ein paar Tage. Würden Sie mit dem Tausch einverstanden sein?«

»O, warum läßt er sich nicht bewerkstelligen!«

Da ich kaum eine Stunde vor mir hatte und voraussah, daß ich zum letztenmal das Glück haben würde, bei ihr zu weilen, so warf ich mich ihr zu Füßen. Voll Zärtlichkeit sträubte sie sich nicht gegen meine Wünsche, die ich zu meinem großen Bedauern nur zum Schein erfüllen durfte; denn ich liebte sie zu aufrichtig, als daß ich ihre Gesundheit hätte in Gefahr bringen mögen. Ich tat alles, was ich in Ermangelung eines vollständigen Glückes tun konnte; ohne Zweifel hatte an dem Genuß, den ich ihr verschaffen konnte, das Vergnügen, mich zu überzeugen, daß sie mehr wert sei als die greuliche Witwe, einen nicht geringen Anteil.

Als wir den Wagen des Gatten ankommen sahen, eilten wir an das untere Ende der Terrasse, und dort fand der wackere Mann uns. Er entschuldigte sich tausendmal bei uns, daß er nicht früher hätte zurückkommen können.

Wir speisten gut, aber bei Tisch unterhielt er sich mit mir fast ausschließlich über meine Dubois; er schien gerührt zu sein, als ich ihm sagte, ich gedächte sie nach Lausanne zu ihrer Mutter zurückzuführen.

Um fünf Uhr nahm ich mit gepreßtem Herzen Abschied von ihnen und begab mich zu Herrn von Chavigny, dem ich alles Vorgefallene mitteilte. Ich hätte die Pflicht der Dankbarkeit zu verletzen geglaubt, wenn ich dem liebenswürdigen alten Herrn nicht die ganze Komödie erzählt hätte, die ihm ohne Zweifel scherzhaft erschien, wie sie mir heute erscheint. Er hatte ein Recht darauf, denn er hatte ganz gewaltig zum Gelingen eines Planes beigetragen, der nur durch ein Mißgeschick ohnegleichen fehlschlug.

Er bewunderte den Geist meiner treuen Dubois, denn ich verhehlte ihm nicht, wie sehr sie an der Intrige beteiligt war, und sagte zu mir, trotz seinem Alter würde er sich glücklich schätzen, wenn er eine Frau wie sie bei sich haben könnte, und er freute sich sehr, als ich ihm sagte, daß ich in sie verliebt sei. Hierauf sagte der liebenswürdige Kavalier zu mir: »Ersparen Sie sich, mein lieber Casanova, die Mühe, in sämtliche Häuser Solothurns zu laufen, um Abschiedsbesuche zu machen. Sie können sich dieser Anstandspflicht entledigen, indem Sie bei mir die ganze Gesellschaft versammelt finden werden, und Sie brauchen nicht einmal zum Abendessen zu bleiben, wenn Sie nicht spät nach Hause kommen wollen.«

Ich befolgte seinen Rat. Ich sah Frau von ***, und ich glaubte, es wäre zum letzten Male. Ich täuschte mich. Ich habe sie nach zehn Jahren wiedergesehen, und der Leser wird an seinem Orte erfahren, wann, wie und in welcher Lage.

Bevor ich ging, begleitete ich den Botschafter in sein Zimmer, um ihm gebührend zu danken und ihn um einen Empfehlungsbrief für Bern zu bitten, wo ich vierzehn Tage zu verbringen gedachte. Zugleich bat ich ihn, mir Lebel zu schicken, um seine Rechnung mit mir zu machen. Er sagte mir, er würde mir durch ihn einen Brief für Herrn von Muralt, den Stadtschultheiß von Thun, schicken.

Ich fuhr nach Hause. Ich war in trauriger Stimmung über die bevorstehende Abreise von einer Stadt, wo ich im Vergleich zu den erlittenen wirklichen Verlusten nur schwache davongetragen hatte; ich dankte meiner Haushälterin freundlich für ihre Gefälligkeit, auf mich zu warten, wünschte ihr gute Nacht und sagte ihr, wir würden binnen drei Tagen nach Bern abreisen und sie müßte meinen Koffer packen.

Am nächsten Morgen sagte sie zu mir, nachdem wir ziemlich schweigsam miteinander gefrühstückt hatten: »Sie nehmen mich also mit, lieber Freund?«

»Ja, gewiß, wenn Sie mich genug lieben, um gerne mit mir zu gehen.«

»Sehr gerne – bis ans Ende der Welt; und um so lieber, da ich Sie traurig und gewissermaßen krank sehe, während Sie heiter und gesund waren, als ich bei Ihnen eintrat. Wenn ich Sie verlassen müßte, könnte nur das mich trösten, daß ich Sie glücklich sähe.«

In diesem Augenblick kam der Wundarzt und sagte mir, meinem armen Spanier ginge es so schlecht, daß er das Bett nicht verlassen könnte.

»Ich werde ihn in Bern kurieren lassen«, antwortete ich. »Sagen Sie ihm, wir werden übermorgen abreisen und schon mittags dort sein.«

»Mein Herr, ich gestatte mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß er unmöglich diese Reise machen kann, obgleich die Entfernung nur sieben Wegstunden beträgt; denn er ist an allen Gliedern gelähmt.«

»Das tut mir sehr leid, Herr Doktor.«

»Ich glaube es, mein Herr, aber es ist eine Tatsache.«

»Von der ich mich mit eigenen Augen überzeugen muß.«

Ich ging zu Leduc und fand den armen Kerl wirklich nicht imstande sich zu bewegen; nur seine Zunge und die Augen waren frei.

»Du bist ja reizend zugerichtet«, sagte ich zu ihm.

»Scheußlich, gnädiger Herr, obgleich ich mich im übrigen sehr wohl fühle.«

»Ich glaube es, aber im Augenblick kannst du dich nicht bewegen, und ich will übermorgen zum Mittagessen in Bern sein.«

»Lassen Sie mich hintragen, Sie werden mich dort kurieren lassen.«

»Du hast recht; ich werde dich in einer Sänfte hintragen lassen.«

»Da werde ich aussehen wie ein Heiliger, den man in der Prozession umherträgt.«

Ich beauftragte einen Bedienten, für ihn zu sorgen und alles für die Abreise in Ordnung zu bringen. Ich ließ ihn mit zwei Pferden, die die Sänfte trugen, nach dem Gasthof zum Falken bringen.

Mittags kam Lebel und brachte mir den Brief seines Herrn für Herrn von Muralt. Er gab mir seine Quittungen, und ich bezahlte ihn, ohne eine Einwendung zu machen; denn ich fand ihn in jeder Beziehung anständig. Hierauf ließ ich ihn mit mir und Frau Dubois zu Mittag speisen. Ich war nicht zum Plaudern aufgelegt und sah mit Vergnügen, daß sie meine Unterhaltung nicht brauchten; denn sie plauderten nach Herzenslust und auf eine sehr ergötzliche Art, denn es fehlte Lebel nicht an Geist. Er sagte mir, er wäre entzückt, daß ich ihm Gelegenheit gegeben hätte, die Haushälterin, die er mir verschafft hätte, näher kennen zu lernen; bis jetzt hätte er nicht sagen können, daß er sie kenne, denn er hätte sie nur drei- oder viermal in Lausanne auf der Durchreise gesehen. Als wir vom Tisch aufstanden, bat er mich um die Erlaubnis, ihr schreiben zu dürfen; sie nahm sofort das Wort und forderte ihn auf, sein Versprechen zu halten.

Lebel war ein liebenswürdiger Mann, etwa fünfzig Jahre alt und von sehr anständigem Äußeren. Zum Abschied umarmte er sie nach französischer Art, ohne mich um Erlaubnis zu fragen, und sie ging mit guter Manier darauf ein.

Als er fort war, sagte sie zu mir, die Bekanntschaft dieses Ehrenmannes könne ihr nützlich sein, und es sei ihr sehr angenehm, mit ihm im Briefwechsel bleiben zu können.

Den nächsten Tag trafen wir alle Vorbereitungen für unsere kleine Reise, und Leduc reiste in seiner Sänfte ab, um vier Meilen von Solothurn zu übernachten. Nachdem ich die Familie des Pförtners, den Koch und den zurückbleibenden Lakai reichlich belohnt hatte, fuhr ich am anderen Morgen um vier Uhr mit der reizenden Dubois in meinem Wagen ab und kam um elf Uhr in dem Berner Gasthof an, wo Leduc schon ein paar Stunden vorher eingetroffen war. Zunächst vereinbarte ich die Preise mit dem Wirt, denn ich kannte die Gewohnheiten der Schweizer Gasthofbesitzer; sodann beauftragte ich den Bedienten, den ich behalten hatte und der ein Berner war, für Leduc zu sorgen, ihn einem guten Arzt zu übergeben und diesem zu sagen, daß er es an nichts fehlen lassen sollte, um ihn vollkommen gesund zu mache».

Hierauf speiste ich mit meiner Haushälterin auf ihrem Zimmer, denn sie wohnte für sich, und nachdem ich meinen Brief bei dem Pförtner des Herrn Murali abgegeben hatte, ging ich aufs Geratewohl spazieren.

Neunzehntes Kapitel


Bern. – Die Matte. – Frau de la Saone. – Sarah, – Meine Abreise. – Murten.

Ich kam auf eine Anhöhe, von wo meine Blicke über eine weite Landschaft schweiften, durch die ein kleiner Fluß sich schlängelte; ich bemerkte einen Fußpfad und bekam Lust, diesem entlang zu gehen. Er führte zu einer Art von Treppe. Ich stieg etwa hundert Stufen hinunter und fand einige vierzig Kabinette, die mir eine Art von Badestübchen zu sein schienen. Sie waren es in der Tat; denn während ich die Örtlichkeit betrachtete, kam ein Mann von höflichem Wesen auf mich zu und fragte mich, ob ich ein Bad nehmen wolle. Als ich bejahte, öffnete er eine der Kammern, und zugleich eilten eine Menge junge Mädchen auf mich zu.

»Mein Herr«, sagte der Bademeister zu mir, »jedes dieser Mädchen strebt nach der Ehre, Sie im Bade zu bedienen; Sie brauchen nur zu wählen. Mit einem kleinen Taler bezahlen Sie Bad, Mädchen und Kaffee.«

Ich spielte den Großtürken, musterte mit den Augen diesen Schwarm, derber Schönheiten und warf mein Schnupftuch dem Mädchen zu, das mir am besten gefiel.

Sie ging mit mir in eine Zelle, schloß die Tür von innen und entkleidete mich mit der ernstesten Miene, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne mir auch nur ins Gesicht zu sehen; hierauf zog sie mir eine baumwollene Mütze über die Haare. Sobald sie mich im Wasser sah, entkleidete sie sich ebenfalls mit der Gewandtheit einer Person, die daran gewöhnt ist, und legte sich ohne ein Wort zu sagen zu mir ins Bad, Hierauf begann sie mich überall zu reiben, ausgenommen an einer gewissen Stelle, die ich mit beiden Händen bedeckt hielt. Als ich fand, daß ich genug bearbeitet sei, forderte ich Kaffee von ihr, Sie stieg aus dem Bade, öffnete die Tür, bestellte, was ich wollte, und stieg ohne die geringste Verlegenheit wieder in das Bad.

Als der Kaffee gekommen war, verließ sie es abermals, um ihn in Empfang zu nehmen; hierauf verschloß sie wieder die Tür, stieg ins Wasser zurück und hielt mir das Kaffeebrett, während ich meine Tasse leerte; als ich damit fertig war, blieb sie neben mir liegen.

Obgleich ich den Formen des Mädchens keine besondere Aufmerksamkeit schenkte, hatte ich doch genug von ihr gesehen, um anzuerkennen, daß sie alles besaß, was ein Mann bei einer Frau zu finden wünschen kann: ein schönes Gesicht, lebhafte, wohlgeformte Augen, einen schönen Mund mit guten Zähnen, eine gesunde Gesichtsfarbe, einen schön gerundeten Busen, stark ausgebildete Hüften und alles übrige dementsprechend. Allerdings hatte ich das Gefühl, daß ihre Hände hätten weicher sein können, aber ich konnte ihre Rauheit der Arbeit zuschreiben. Außerdem war meine Schweizerin nur achtzehn Jahre alt; und trotzdem blieb ich völlig kalt. Woher kam dies? so fragte ich mich. Vielleicht davon, daß sie der Natur zu nahe stand, daß ihr nicht jene Anmut, jene Koketterie, jene kleinen Zierereien zu eigen waren, die die Frauen mit so vieler Kunst anzuwenden wissen, um uns zu verführen! Wir lieben also nur Künstelei und Falschheit! Vielleicht ist es auch, um unsere Sinne zu reizen, notwendig, daß wir die Schönheiten des Weibes nur hinter dem Schleier der Scham ahnen. Wir haben die Gewohnheit, uns zu bekleiden, und das Gesicht, das wir für alle Welt sichtbar lassen, hat für unsere volle Befriedigung am wenigsten Bedeutung; wie kommt es nun aber, daß das Gesicht die Hauptrolle spielt? Warum werden wir gerade durch das Gesicht verliebt? Warum beurteilen wir auf dieses einzige Anzeichen hin die Schönheit einer Frau, und warum verzeihen wir ihr, wenn die Teile, die sie uns verbirgt, mit ihrem hübschen Gesicht nicht im Einklang stehen? Wäre es nicht natürlicher und vor allen Dingen vernünftiger und vorteilhafter, das Gesicht zu bedecken und mit dem übrigen Körper nackt zu gehen? Wenn wir dann in eine Frau uns verliebten, brauchten wir, um unsere Leidenschaft völlig zu befriedigen, nur zu wünschen, daß sie Gesichtszüge hätte, die ihren übrigen verführerischen Reizen entsprächen. Ohne Zweifel wäre dieses vorzuziehen, denn wir würden dann nur durch eine vollkommene Schönheit verführt werden, und wir würden es leicht verzeihen, wenn wir bei der Demaskierung ein Gesicht häßlich fänden, das wir für schön hätten halten mögen. Eine häßliche Frau würde glücklich sein, durch die Schönheit ihrer Formen verführen zu können; nur eine solche häßliche würde niemals bereit sein, die Maske zu lüften, während die schönen sich nicht würden bitten lassen, ihr Gesicht zu zeigen. Die Häßlichen würden uns nicht lange seufzen lassen: sie würden gefällig sein, um sich nicht zeigen zu müssen, und wenn sie einwilligten, sich zu demaskieren, so würde dies nicht eher geschehen, als bis sie uns durch den Genuß überzeugt hätten, daß der Mann auch ohne ein schönes Gesicht glücklich sein kann, übrigens ist es augenscheinlich, ja sogar unbestreitbar, daß die Unbeständigkeit in der Liebe nur durch die Verschiedenheit der Gesichter verursacht wird. Wenn man sie nicht sähe, würde man immer treu sein, ja man würde sogar in die Frau, die man zuerst geliebt, immer verliebt bleiben. Ich weiß wohl, diese ganze Auseinandersetzung wird von vielen Toren als Torheit angesehen werden; aber ich werde dann nicht mehr auf der Welt sein, um ihnen antworten zu müssen.

Als ich das Bad verlassen hatte, holte sie Handtücher, trocknete mich ab und zog mir mein Hemd an; hierauf frisierte sie mich so wie sie war, das heißt nackt. Während ich mich ankleidete, zog sie sich ebenfalls an, was bald geschehen war, und schnallte mir dann die Schuhe zu. Ich gab ihr einen kleinen Taler für das Bad und sechs Franken für sie selber; sie behielt aber nur den kleinen Taler und gab mir die sechs Franken mit verächtlicher Miene zurück, ohne ein Wort zu sprechen. Dies betrübte mich; ich sah, daß ich sie beleidigt hatte und daß sie sich würdig fühlte, nicht verschmäht zu werden. Ich entfernte mich in ziemlich schlechter Laune.

Nach dem Abendessen konnte ich mich nicht enthalten, meiner lieben Dubois mein Nachmittagserlebnis zu erzählen, und sie machte natürlich ihre Bemerkungen über alle Einzelheiten.

»Das Mädchen kann doch nicht hübsch sein, lieber Freund,« sagte sie zu mir. »Denn wenn sie es wäre, hätten Sie sicherlich der Verlockung nicht widerstanden. Ich möchte sie gerne einmal sehen.«

»Wenn du neugierig auf sie bist, werde ich dich hinführen.«

»Dies würde mir das größte Vergnügen machen.«

»Aber dann müßtest du dich als Mann anziehen.«

Sie stand auf, ging ohne ein Wort zu sagen hinaus und kam in einer Viertelstunde in einem Anzuge von Leduc zurück, aber ohne die Hosen, denn gewisse vorspringende Teile waren bei ihr zu stark ausgebildet. Ich forderte sie auf, eine von meinen Hosen zu nehmen, und die Partie wurde auf den nächsten Morgen angesetzt. Um sechs Uhr weckte sie mich. Sie war sehr gut als Mann angezogen und trug einen blauen Überrock, der ihre Formen vollkommen verhüllte. Ich stand auf, und wir gingen nach der Matte; so heißt jener Ort. Von der Aussicht auf das vorstehende Vergnügen belebt, strahlte meine liebe Dubois vor Freude. Es war unmöglich, daß jemand, der sie sah, trotz ihrer Verkleidung nicht ihr Geschlecht erriet; ihre weiblichen Formen waren zu sehr ausgebildet; sie hüllte sich daher, so gut es ging, in ihren Überrock.

In der Matte kam uns der Bademeister entgegen und fragte mich, ob wir ein Badezimmer für vier Personen wünschten. Ich sagte ja, und im Nu waren wir von allen Bademägden umringt. Ich zeigte meiner Freundin das Mädchen, das mich nicht hatte verführen können, obgleich sie wirklich sehr schön war; sie wählte sie für sich; ich aber entschied mich für ein dickes, munteres Weib mit keckem Gesicht; hierauf gingen wir alle vier in das Badezimmer. Sobald ich ausgezogen war, ging ich mit meiner drallen Schweizerin ins Wasser. Meine Freundin zauderte; die Neuheit der Umgebung erstaunte sie, und ihre Miene verriet ein wenig Reue, so weit gegangen zu sein; aber sie nahm sich zusammen und lachte, als sie sah, wie kräftig mein weiblicher Grenadier mich rieb. Es kostete ihr einige Überwindung, ihr Hemd auszuziehen; da aber nur der erste Schritt schwer ist und eine Scham die andere besiegte, so ließ sie das Hemd sinken, und ich hatte, obgleich sie ihre beiden Hände vorhielt, die ganze Schönheit ihrer Formen vor mir. Ihre Magd schickte sich an, sie ebenso zu behandeln, wie sie am Tage vorher mich behandelt hatte; aber sie bat sie, sie in Ruhe zu lassen, und da ich die meinige ebenfalls aufhören ließ, so mußte sie sich schließlich doch von mir bedienen lassen.

Die beiden Schweizerinnen, die so etwas jedenfalls schon oft mitgemacht hatten, begannen uns nun ein Schauspiel aufzuführen, das mir sehr gut bekannt, meiner lieben Dubois aber vollkommen fremd war.

Die beiden Bacchantinnen begannen die Liebkosungen nachzuahmen, die ich meiner Freundin erwies, während diese vor Erstaunen ganz außer sich war, als sie sah, mit welcher Wut meine Magd bei der ihrigen die Rolle des Mannes spielte. Ich gestehe, daß ich selber ein bißchen erstaunt darüber war, obgleich ich vor sechs Jahren in Venedig die Verzückungen meiner schönen Nonne und meiner schönen C.C. gesehen hatte.

Ich würde niemals geglaubt haben, daß ein derartiger Anblick mich zerstreuen könnte, während ich zum erstenmal eine Frau in den Armen hielt, die ich liebte und die alle Reize besaß, um die Sinne zu fesseln; aber der seltsame Kampf der beiden jungen Mädchen beschäftigte sie wie mich.

»Das Mädchen, das Sie gewählt haben, muß ein Junge sein,« sagte sie zu mir.

»Aber meine Liebe, Sie haben doch ihren Busen und ihre Formen gesehen.«

»Ja, aber trotzdem.«

Meine dicke Schweizerin hatte sie gehört, sie drehte sich um und zeigte ihr etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte, aber es war keine Täuschung möglich: es war zwar nur eine weibliche Klitoris, aber viel länger als mein kleiner Finger und steif genug, um eindringen zu können. Ich erklärte meiner lieben Dubois das Ding, aber um sie zu überzeugen, mußte ich sie es anrühren lassen. Die freche Person trieb die Schamlosigkeit so weit, daß sie sich erbot, es an ihr zu versuchen, und sie tat dies mit so leidenschaftlicher Beharrlichkeit, daß ich sie zurückstoßen mußte. Sie wandte sich hierauf zu ihrer Kameradin und befriedigte an dieser ihre geile Brunst. Obgleich dieser Anblick etwas Ekelhaftes hatte, regte er uns doch so stark auf, daß meine Freundin ihrer Natur nachgab und mir alles gewährte, was ich wünschen konnte.

Nachdem wir auf diese Weise zwei Stunden geschwelgt hatten, kehrten wir, sehr miteinander zufrieden, in die Stadt zurück. Beim Abschied gab ich jeder der beiden Bacchantinnen einen Louis, und wir entfernten uns mit dem Vorsatz, nicht wieder zu kommen.

Nach dem, was vorgefallen war, konnte uns natürlich nichts mehr verhindern, uns unserer Liebe hinzugeben.

Meine liebe Dubois wurde also meine Geliebte, und wir machten uns gegenseitig glücklich, solange wir noch in Bern waren. Ich war von meinem Mißgeschick mit der abscheulichen Witwe gänzlich geheilt und erkannte die Wahrheit des Wortes, daß nicht nur die Freuden flüchtig sind, sondern auch die Leiden. Ich gehe noch weiter: ich behaupte, daß die Freuden, zum mindesten in der Liebe, dauerhafter sind als die Leiden; denn sie hinterlassen Erinnerungen, an denen man sich noch im Alter erfreut, während die Erinnerung an die Leiden, wenn überhaupt vorhanden, jedenfalls so schwach ist, daß sie auf Glück oder Unglück keinen Einfluß hat.

Um zehn Uhr meldete man mir den Schultheiß von Thun. Er war französisch gekleidet in schwarzem Anzuge und hatte ein ernstes, freundliches und höfliches Benehmen, das mir gefiel. Er stand schon in reiferem Alter und gehörte zu den Mitgliedern der Regierung. Er bestand darauf, mir den Brief vorzulesen, den Herr von Chavigny ihm meinetwegen geschrieben hatte. Dieser Brief war außerordentlich schmeichelhaft, und ich sagte ihm: Wenn er unversiegelt gewesen wäre, würde ich es nicht gewagt haben, ihn abzugeben. Er lud mich für den nächsten Tag zu einem Abendessen mit Herren und für den übernächsten Tag zu einem ebensolchen mit Herren und Damen ein. Ich ging mit ihm nach der Bibliothek; dort sah ich einen früheren Mönch, Herrn Felix, der mehr Literaturkenner als Literat war, und einen vielversprechenden jungen Mann, Namens Schmidt, der in der literarischen Welt bereits vorteilhaft bekannt war. Außerdem hatte ich das Unglück, an diesem Ort einen sehr langweiligen Gelehrten zu finden; er wußte die Namen von zehntausend verschiedenen Muscheln auswendig, und ich war gezwungen, ihn zwei Stunden lang anzuhören, obgleich diese Wissenschaft mir vollständig fremd war. Er sagte mir unter anderem, daß die Aare, der berühmte Fluß des Kantons, Gold mit sich führe. Ich antwortete ihm, sie habe das mit allen großen Flüssen gemein; er schien mir jedoch, wie ich an einem Achselzucken merkte, davon nicht überzeugt zu sein.

Ich speiste bei Herrn von Muralt zu Mittag mit den vier oder fünf angesehensten Damen von Bern. Ich fand sie angenehm, besonders eine sehr liebenswürdige und sehr gebildete Frau von Saconai. Ich würde ihr den Hof gemacht haben, wenn ich mich in der Hauptstadt der Schweiz – wenn man von einer Hauptstadt der Schweiz überhaupt reden kann – länger aufgehalten hätte.

Die Berner Damen kleiden sich gut, obgleich ohne Luxus, denn diesen verbieten die Gesetze. Sie haben ein gewandtes Benehmen und sprechen sehr fließend französisch. Sie erfreuen sich der größten Freiheit, aber sie mißbrauchen sie nicht, obgleich in ihren Kreisen Galanterie herrscht; denn der Anstand steht hier in Ehren. Die Männer sind hier nicht eifersüchtig, aber sie verlangen, daß ihre Frauen um neun Uhr abends zu Hause sind, um in der Familie zu speisen.

Ich verbrachte in Bern drei Wochen und beschäftigte mich während dieser Zeit nur mit meiner Dubois und mit einer alten Dame von fünfundachtzig Jahren, die mich durch ihre chemischen Kenntnisse sehr interessierte. Sie war mit dem berühmten Boerhave in vertrautem Verkehr gestanden und zeigte mir ein Stück Gold, das er in ihrer Gegenwart gemacht hatte und das vor der Umwandlung Kupfer gewesen war. Ich hatte darüber meine eigenen Gedanken, aber sie versicherte mir, der Gelehrte habe den Stein der Weisen besessen; doch habe er allerdings das menschliche Leben nur auf wenig mehr als hundert Jahre verlängern können. Für sich selber hatte Boerhave von dieser Kenntnis keinen Gebrauch zu machen gewußt, denn er starb an einem Herzpruben, bevor er noch das Alter vollkommener Reife erlangt hatte, das nach dem Hippokrates zwischen dem sechzigsten und siebzigsten Lebensjahre liegt. Die vier Millionen, die er seiner Tochter hinterließ, beweisen zwar nicht, daß er das Geheimnis des Goldmachens besaß, zeigen aber zum mindesten sehr deutlich, daß er das Talent besaß, Gold zusammen zu scharren. Die gute Alte sagte mir, er habe ihr ein Manuskript geschenkt, worin das ganze Verfahren erklärt sei, aber sie finde es dunkel.

»Sie müssen es veröffentlichen.«

»Gott soll mich bewahren.«

»So verbrennen Sie es.«

»Dazu habe ich nicht den Mut.«

Herr von Muralt holte mich ab, um mir die Exerzierübungen der Berner Bürger zu zeigen, welche sämtlich Soldaten sind; ich fragte ihn bei dieser Gelegenheit, was der Bär bedeute, den man über dem Stadttor sah. Er sagte mir, Bern komme von dem deutschen Wort Bär. Nach diesem Tier heißen die Stadt und der Kanton, der dem Range nach der zweite der Eidgenossenschaft, an Ausdehnung und Reichtum aber der erste ist. Die Stadt liegt auf einer von der ganz in der Nähe der Rheinquelle entspringenden Aare gebildeten Halbinsel; er erzählte mir von der Macht seines Kantons, von dessen Herrschaften und Landvogteien und erklärte mir die Bedeutung eines Schultheißen; hierauf sprach er von Politik und beschrieb mir die verschiedenen Regierungssysteme der Kantone, die die schweizerische Eidgenossenschaft bilden.

»Ich begreife sehr wohl,« sagte ich zu ihm, »daß ein jeder der dreizehn Kantone, aus denen die Eidgenossenschaft besteht, seine Regierung für sich hat …«

»Das glaube ich wohl,« versetzte er, mich unterbrechend; »aber Sie werden wohl so wenig wie ich begreifen, daß einige Kantone vier Regierungen haben.«

Ich hatte ein köstliches Abendessen mit vierzehn oder fünfzehn Senatoren. Anfangs fehlte die Heiterkeit, es wurden keine frivolen oder literarischen Gespräche geführt, sondern man sprach von öffentlichem Recht, von Staatsinteressen, von Handel, Gewerbe und Spekulation, von Vaterlandsliebe und von der Pflicht, die Freiheit dem Leben vorzuziehen. Ich fühlte mich gleichsam in einem neuen, aber doch wesensverwandten Element; es war mir ein hoher Genuß, inmitten eines Kreises, wo alles die Menschheit adelte, Mensch zu sein. Aber gegen das Ende des Mahles begannen allen diesen starren Republikanern die Herzen aufzugehen; die Reden wurden weniger abgemessen, es wurde sogar zuweilen gelacht. Dies war die unausbleibliche Wirkung des Weines auf ihre ernsten Köpfe. Ich tat ihnen leid; denn obwohl sie die Mäßigkeit priesen, erschien die meinige ihnen doch übertrieben. Indessen achteten sie meine Freiheit und zwangen mich nicht zum Trinken, wie es sehr unpassenderweise die Russen, Schweden, Polen und im allgemeinen alle nordischen Völker tun.

Um Mitternacht, für die Schweiz eine sehr späte Stunde, trennten wir uns, und als wir uns gute Nacht wünschten, bat ein jeder von ihnen mich aufrichtig, auf seine Freundschaft zu rechnen. Einer hatte während des Abendessens, bevor ihn der Wein begeistert hatte, die Republik Venedig wegen der Ausweisung der Graubündner getadelt; aber als der Geist des Bacchus ihn erleuchtet hatte, entschuldigte er sich deswegen. »Jede Regierung«, sagte er zu mir, »muß ihre Interessen besser verstehen als die Fremden, die ihre Handlungen kritisieren; jede muß in ihrem Hause tun dürfen, was sie gut dünkt.«

Als ich nach Hause kam, hatte ich das Vergnügen, meine Freundin in meinem Bett zu finden. Ich bezeigte ihr meine Freude darüber durch hundert Liebkosungen, so daß sie weder an meiner Zärtlichkeit, noch an meiner Dankbarkeit zweifeln konnte. Ich betrachtete sie als meine Frau; wir liebten uns und konnten uns nicht vorstellen, daß wir uns eines Tages trennen würden. Wenn zwei Liebende sich mit voller Hingebung lieben, wird der Gedanke an Trennung ins Reich der Einbildung verwiesen.

Den Tag darauf empfing ich einen Brief von meiner guten Frau d’Urfé, die mich bat, einer Frau de la Saone, der Gattin eines ihr befreundeten Generalleutnants, meine Aufwartung zu machen. Diese Dame war nach Bern gekommen in der Hoffnung, dort von einer schrecklichen Krankheit geheilt zu werden, die sie auf eine unglaubliche Art entstellte. Sie hatte vorzügliche Empfehlungen an die besten Kreise der Stadt. Sie hielt jeden Abend Tafel, hatte einen ausgezeichneten Koch und lud nur Herren ein. Sie hatte erklärt, daß sie keinen Besuch erwidern würde, und daran tat sie recht. Ich beeilte mich, ihr meinen Besuch zu machen; aber, großer Gott, welch trauriger, entsetzlicher Anblick bot sich mir!

Ich sah eine mit größter Eleganz gekleidete Dame in üppiger Haltung auf einer Ottomane ausgestreckt. Sobald sie mich erblickte, stand sie auf und machte mir die anmutigste Verbeugung; dann setzte sie sich wieder auf die Ottomane und bat mich, neben ihr Platz zu nehmen. Ohne Zweifel mußte sie meine Überraschung bemerken, aber sie war wahrscheinlich an die Wirkung gewöhnt, die sie beim ersten Anblick hervorbrachte, und unterhielt sich mit mir auf die liebenswürdigste Weise, so daß das Abstoßende ihrer Erscheinung gemildert wurde.

Hier ihr Porträt:

Frau de la Saonc war sehr gut angezogen, sie hatte die weißeste und weichste Hand, Arme von der wundervollsten Rundung, ihr sehr tief ausgeschnittenes Kleid ließ einen herrlichen Busen von blendender Weiße sehen, die durch zwei reizende Rosenknöspchen noch mehr gehoben wurde; ihr Wuchs war tadellos, und sie hatte das kleinste Füßchen, das sich denken läßt. Alles an ihr würde Liebe eingeflößt haben; aber wenn das Auge einen Augenblick auf ihrem Gesicht haften mußte, wichen alle anderen Gefühle dem Mitleid und Entsetzen. Sie war abschreckend! Was ein Gesicht hätte sein sollen, war nur eine ekelhafte schwärzliche Kruste. Es war unmöglich, einen Zug, eine Form zu erkennen, und diese Häßlichkeit wurde noch hervorgehoben und schrecklicher gemacht durch zwei schöne schwarze Augen voller Feuer und durch einen lippenlosen Mund, den sie halb offen hielt, wie wenn sie zwei Reihen Zähne von blendender Weiße hätte sehen lassen wollen. Sie konnte nicht lachen, denn der Schmerz durch die Zusammenziehung der Muskeln hätte ihr ohne Zweifel Tränen entrissen. Trotzdem schien sie zufrieden zu sein; ihre Unterhaltung war entzückend, ihre scherzhaften Bemerkungen waren fein, taktvoll, geistreich, witzig und im besten Tone guter Gesellschaft. Sie konnte höchstens dreißig Jahre alt sein und hatte in Paris drei wunderhübsche Kinder in zartem Alter zurückgelassen. Ihr Gatte war ein sehr schöner Mann, der sie zärtlich liebte und niemals allein schlief. Wahrscheinlich hätten wenig Soldaten solchen Mut gehabt, wahrscheinlich aber auch trieb er trotz seiner ehelichen Unerschrockenheit die Tapferkeit nicht so weit, ihr süße Küsse zu geben, denn der bloße Gedanke daran machte einen schaudern. In ihrem ersten Wochenbett war ihr die Milch ins Blut getreten und hatte die arme Frau in diesen traurigen Zustand versetzt, den sie seit zehn Jahren ertrug. Alle berühmten Ärzte Frankreichs hatten sich vergeblich bemüht, sie von ihrem Aussatz zu befreien; sie war nach Bern gekommen, um sich bei zwei berühmten Doktoren, die ihr Heilung versprochen hatten, in Behandlung zu geben. Versprechungen dieser Art machen alle Quacksalber; sie heilen oder sie heilen nicht, und wenn man sie nur tüchtig bezahlt, so fehlt es ihnen niemals an Gründen, um die Schuld ihrer Unwissenheit den armen Kranken aufzubürden, die sie betrügen.

Der Arzt kam, während ich bei ihr war und über ihrer geistreichen Unterhaltung ihr Gesicht vergaß. Sie hatte bereits begonnen, ihre Heilmittel einzunehmen; es waren Tropfen, zu deren Bestandteilen auch Quecksilber gehörte.

»Mir scheint,« sagte sie zu dem Doktor, »das Jucken ist stärker geworden, seitdem ich Ihre Medizin nehme.«

»Das Jucken, Madame«, antwortete ihr der Äskulap, »wird bis zu Ende der Kur anhalten, und diese muß drei Monate dauern.«

»Solange ich mich kratzen werde,« erwiderte sie, »werde ich in demselben Zustande sein, und die Kur wird niemals ein Ende nehmen.«

Der Doktor antwortete ausweichend. Ich stand auf, um Abschied zu nehmen; sie gab mir die Hand und lud mich ein für allemal zum Abendessen ein. Ich ging noch am gleichen Abend hin. Ich sah die arme Frau von allen Speisen essen und Wein trinken; denn der Arzt hatte ihr nichts verboten. Ich sah voraus, daß sie niemals gesund werden würde. Ihre gute Laune, ihre reizenden Bemerkungen erheiterten die ganze Gesellschaft. Ich begriff, daß man sich an ihr Gesicht gewöhnen und mit ihr zusammen leben konnte. Am Abend unterhielt ich mich über sie mit meiner Freundin, die mir sagte, vielleicht genügten trotz der Häßlichkeit ihres Gesichts die Schönheit ihres Körpers und die Vorzüge ihres Geistes, um sie Liebhaber finden zu lassen. Ich gab dies zu, obgleich ich die Möglichkeit durchaus nicht begreifen konnte, soweit ich selber in Betracht kam.

Als ich drei oder vier Tage später bei einem Buchhändler war, um die Zeitung zu lesen, redete ein junger hübscher Mann von etwa zwanzig Jahren mich höflich an und sagte mir, es tue der Frau de la Saone recht leid, daß sie nicht mehr das Vergnügen gehabt habe, mich abends bei ihr zu sehen.

»Sie kennen die Dame?«

»Ich habe die Ehre gehabt, mit Ihnen bei ihr zu speisen.«

»Richtig! ich erinnerte mich Ihrer nicht gleich!«

»Ich besorge ihr Bücher nach ihrem Geschmack, denn ich bin Buchhändler, und ich speise nicht nur jeden Abend bei ihr, sondern wir frühstücken auch jeden Morgen allein miteinander, bevor sie aufsteht.«

»Ich mache Ihnen mein Kompliment dazu. Ich wette, Sie sind in sie verliebt!«

»Sie scherzen; indessen ist sie liebenswürdiger, als Sie denken.«

»Ich scherze durchaus nicht, aber ich wette, Sie würden nicht den Mut haben, den Scherz bis zum Ende zu führen.«

»Sie könnten verlieren.«

»Wirklich? Ich würde gern verlieren.«

»Also wetten wir!«

»Aber wie werden Sie es anfangen, um mich zu überzeugen?«

»Wetten wir einen Louis, und versprechen Sie mir, verschwiegen zu sein.«

»Also gut, um einen Louis.«

»Kommen Sie heute Abend zum Abendessen zu der Dame, und ich werde Ihnen etwas sagen.«

»Sie werden mich dort sehen.«

Als ich nach Hause kam, teilte ich meiner Freundin diese Unterredung mit. Sie sagte: »Ich bin neugierig, wie er es anfangen wird, dich zu überzeugen.« Ich versprach, ihr alles zu erzählen, und sie freute sich sehr darüber.

Ich erschien pünktlich nach der Verabredung. Frau de la Saone machte mir liebenswürdige Vorwürfe und gab mir ein köstliches Abendessen. Mein junger Buchhändler war anwesend; da aber seine Schöne kein Wort mit ihm sprach, so sagte er auch nichts und blieb unbeachtet.

Nach dem Abendessen gingen wir zusammen fort, und unterwegs sagte er mir: »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich morgen früh um acht Uhr Ihren Wunsch erfüllen. Sie treten ein; die Kammerfrau wird Ihnen sagen, ihre Herrin sei nicht sichtbar; aber Sie brauchen ja nur zu sagen, daß Sie warten wollen, und gehen ins Vorzimmer. Dieses Vorzimmer hat eine Glastür, die sich dem Bett der Dame gegenüber befindet. Ich werde den Vorhang, der die Scheiben verdeckt, soweit zur Seite schieben, daß Sie bequem sehen können, was zwischen ihr und mir vorgeht. Wenn die Geschichte fertig ist, werde ich durch eine andere Tür hinausgehen; sie wird ihre Zofe rufen, und Sie können sich melden lassen. Gegen Mittag werde ich Ihnen, wenn Sie es mir erlauben, einige Bücher in den »Falken« bringen, und wenn Sie finden, daß ich meinen Louis ehrlich verdient habe, so werden Sie ihn mir bezahlen.«

Ich versprach es ihm, und wir trennten uns.

Obwohl ich ja die Sache nicht für unmöglich hielt, so war ich doch neugierig; um acht Uhr stellte ich mich ein, und die Kammerfrau ließ mich eintreten, als ich ihr sagte, daß ich warten wollte. Ich fand den Vorhang des Türfensters an der einen Ecke zurückgeschoben; guckte hindurch und bemerkte meinen jungen Prahlhans, der am Kopfende des Bettes saß und seine Eroberung in den Armen hielt. Eine sehr große Mütze verbarg gänzlich ihr Gesicht; dies war eine sehr weise Vorsicht, die dem indiskreten Buchhändler ausgezeichnet zustatten kam.

Als der Schelm bemerkte, daß ich auf dem Posten war, ließ er mich nicht länger warten; er stand auf und bot meinen Blicken nicht nur alle geheimen Schätze seiner Schönen, sondern auch seine eigenen dar. Er war klein von Gestalt, aber gerade in bezug auf das, was der Dame von Interesse sein mußte, wie ein Herkules gebaut, und der Bursche schien sich damit zu brüsten, wie wenn er mich hätte eifersüchtig machen wollen. Er drehte sein Opfer hin und her, so daß ich die Schöne von allen Seiten zu sehen bekam; er behandelte sie als kräftiger Athlet, und sie schien seine Glut mit allen Kräften zu erwidern. Phidias hätte keinen schöneren Körper als Modell für seine Venus nehmen können. Die rundesten Formen und die sanftesten Wellenlinien vereinigten sich mit der Weiße des schönsten parischen Marmors. Ich wurde dadurch im höchsten Grade aufgeregt und entfernte mich vor dem Ende des Kampfes; ich kam in solcher Glut nach Hause, daß ich sie im Mattenbad hätte löschen müssen, wenn meine liebe Dubois nicht dagewesen wäre.

Als ich ihr die Geschichte erzählt hatte, bekam sie Lust, den Helden kennen zu lernen, und dieser Wunsch wurde ihr mittags erfüllt. Der junge Buchhändler brachte mir einige Werke, die ich bei ihm bestellt hatte; ich bezahlte sie ihm und gab ihm zugleich den Betrag unserer Wette und noch einen Louis obendrein, als Zeichen meiner Zufriedenheit. Er nahm das Geld mit einem Lächeln, das mir sagen zu wollen schien, ich müsse froh sein, verloren zu haben. Meine Haushälterin sah ihn ziemlich lange an und fragte ihn dann, ob er sie kenne; er sagte nein.

»Ich habe Sie als Kind gesehen; Sie sind der Sohn des evangelischen Pfarrers Mignard; Sie mochten damals etwa zehn Jahre alt sein.«

»Das kann wohl sein, gnädige Frau.«

»Sie haben also nicht den Beruf Ihres Vaters ergreifen wollen?«

»Nein, Madame, ich fühlte vielmehr Neigung für den Kultus des Geschöpfes als für den des Schöpfers und hielt daher diesen Beruf nicht für angemessen.«

»Sie haben recht; denn ein Diener der Religion muß verschwiegen sein, und Verschwiegenheit ist lästig.«

Über diesen kleinen Ausfall errötete der Hasenfuß; aber wir ließen ihm keine Zeit, in Verlegenheit zu geraten. Ich lud ihn zum Essen ein, und ohne von Frau de la Saone zu reden, erzählte er uns seine Liebesabenteuer und eine Menge galanter Geschichten von den hübschesten Berner Damen.

Als er sich entfernte, sagte meine Freundin zu mir, einen jungen Mann dieser Art möge man nur einmal sehen. Da ich derselben Meinung war, so empfing ich ihn nicht mehr bei mir; später habe ich erfahren, daß Frau de la Saone ihn mit nach Paris genommen und daß er dort sein Glück gemacht habe. Der Reichtum vieler Menschen hat keinen anderen Ursprung und oft vielmals einen noch unedleren. Ich ging zu Frau de la Saone nur noch einmal, um mich von ihr zu verabschieden, wie ich bald erzählen werde.

Ich lebte glücklich mit meiner reizenden Freundin, die mir tausendmal wiederholte, daß ich sie glücklich mache. Keine Furcht, kein Zweifel wegen der Zukunft beunruhigten ihre schöne Seele; sie war, ebenso wie ich, fest überzeugt, daß wir uns niemals verlassen würden, und sie sagte mir, sie würde mir alle Treulosigkeiten, zu denen ich mich etwa hinreißen ließe, verzeihen, wenn ich nur niemals unterließe, sie ihr zu beichten. Ich bekenne, eine Frau mit solchem Charakter brauchte ich, um ruhig und zufrieden zu leben; aber ein so großes Glück sollte mir nicht beschieden sein.

Als wir zwei oder drei Wochen in Bern gewesen waren, empfing meine Haushälterin einen Brief aus Solothurn. Er war von Lebel. Ich sah sie ihn sehr aufmerksam lesen und fragte sie, was denn darin stände.

»Da lies ihn!« sagte sie und setzte sich vor mich hin, um mir am Gesicht abzulesen, welchen Eindruck der Brief auf meine Seele machen würde.

Lebel fragte sie kurz und bündig, ob sie seine Frau werden wolle. »Ich habe«, schrieb er, »meinen Antrag nur verschoben, um meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen und mich zu vergewissern, ob ich Sie heiraten könnte, wenn auch der Herr Botschafter nicht damit einverstanden wäre. Ich habe gefunden, daß ich reich genug bin, um in Bern oder anderswo gut leben zu können, ohne einen Dienst annehmen zu müssen. Indessen hätte ich dieser Vorsicht gar nicht bedurft, denn Herr von Chavigny hat mir sofort auf das liebenswürdigste seine Einwilligung gegeben, als ich ihm meinen Plan mitteilte.«

Ferner bat er sie, ihn nicht zu lange auf eine Antwort warten zu lassen, sondern ihm zu schreiben, erstens, ob sie seinen Antrag annehme, zweitens, ob sie in Bern zu bleiben wünsche, wo sie in jeder Beziehung ihre eigene Herrin sein werde, oder ob sie lieber nach Solothurn zurückkommen wolle; dann könnten sie bei dem Gesandten bleiben und würden dadurch ihr Vermögen vermehren. Zum Schluß sagte er, was sie mitbrächte, würde ihr Eigentum bleiben und er würde ihr ein Witwengeld bis zu hunderttausend Franken aussetzen. Von mir erwähnte er kein Wort.

»Meine liebe Freundin,« sagte ich zu ihr, »du bist vollkommen freie Herrin deiner Entschlüsse; aber ich kann mir nicht vorstellen, daß du mich verlassen könntest, ohne zugleich zu denken, daß ich alsdann der unglücklichste aller Menschen sein werde.«

»Ich wäre die unglücklichste aller Frauen, wenn ich dich verlieren sollte, lieber Freund; denn wenn du mich nur liebst, mache ich mir gar nichts daraus, ob ich mit dir ehelich verbunden bin oder nicht.«

»Sehr gut. Aber was wirst du ihm antworten?«

»Morgen wirst du meinen Brief sehen. Ich werde ihm höflich, aber ohne Umschweife, sagen, daß ich dich liebe, daß ich dir gehöre, daß ich glücklich bin, daß es mir unmöglich ist, seine vorteilhaften Anerbietungen anzunehmen. Ich werde ihm sogar sagen, daß ich seine Großmut zu schätzen wisse und daß ich seinen Antrag annehmen müßte, wenn ich der Stimme der Vernunft folgte, daß ich aber, von meiner Liebe zu dir beherrscht, nur meiner Neigung folgen könnte.«

»Ich finde den Ton deines Briefes ausgezeichnet; um einen derartigen Antrag zurückzuweisen, kannst du keine anderen triftigen Gründe anführen, als die von dir genannten. Außerdem wäre es lächerlich, den Glauben erwecken zu wollen, wie wenn wir nicht als glücklich Liebende miteinander lebten, denn dies liegt auf der Hand. Trotzdem, liebes Herz, muß ich dir gestehen, daß dieser Brief mich betrübt.«

»Warum denn, lieber Freund?«

»Weil ich nicht über hunderttausend Franken verfüge, um sie dir sofort anbieten zu können.«

»Ich will sie nicht, lieber Freund; und wenn du sie mir gäbest, würde ich sie nur annehmen, um sie dir in demselben Augenblick wiederzugeben. Du bist sicherlich nicht der Mann, jemals arm zu werden, aber sollte dir dies zustoßen, so würde ich mich sehr glücklich schätzen, deine Armut teilen zu dürfen.«

Wir sanken einander in die Arme, und die Liebe schenkte uns alle Wonnen; aber inmitten dieses Glückes bemächtigte eine gewisse Traurigkeit sich unserer Seelen. Schmachtende Liebe scheint doppelte Gewalt zu gewinnen; aber dies ist nur eine Täuschung: die Traurigkeit erschöpft sie viel mehr als der Genuß. Liebe ist ein übermütiges junges Ding, das mit Lachen und Spielen genährt sein will; jede andere Nahrung macht sie schwindsüchtig.

Am nächsten Tage schrieb meine Freundin in dem tags vorher kundgegebenen Sinne, und ich hielt mich für verpflichtet, an Herrn von Chavigny einen Brief zu schreiben, der ein Gewebe von Liebe, Gefühl und Philosophie war. Ich verhehlte ihm nicht, daß ich in die von Lebel begehrte Frau rasend verliebt sei, aber ich erklärte zugleich, daß ich als ehrlicher Mann lieber sterben, als meine reizende Freundin eines gesicherten Glückes berauben wolle.

Über diesen Brief freute meine Freundin sich sehr, denn sie wollte gerne wissen, wie der Botschafter über diese Angelegenheit dächte, die allerdings danach angetan war, reiflich überlegt zu werden.

Da ich an demselben Tage meine von Frau d’Urfé erbetenen Empfehlungsbriefe erhielt, entschloß ich mich, nach Lausanne abzureisen, zum Entzücken meiner lieben Dubois. Doch hier muß ich ein wenig weiter ausholen.

Ein Herr von F., Mitglied des Großen Rates, den ich bei Frau de la Saone kennen gelernt hatte, war mein Freund geworden, Er besuchte mich, ich stellte ihm meine Freundin vor, und er behandelte sie mit der gleichen Auszeichnung, wie wenn sie meine Frau gewesen wäre. Er hatte uns bei einem Spaziergang seiner Frau vorgestellt und hatte uns mit ihr und seiner Tochter Sarah mehrere Male besucht. Sarah war erst dreizehn Jahre alt, aber für ihr Alter sehr weit entwickelt; sie war eine schöne, kluge Brünette, der es viel Spaß machte, allerlei hübsche Naivitäten zu sagen, deren Bedeutung sie vollkommen fühlte, obwohl sie auf den ersten Anblick ganz unschuldig zu sein schien. Sie verstand es meisterhaft, in den Augen ihrer Eltern unwissend zu erscheinen und erlangte dadurch große Freiheit.

Sarah hatte erklärt, sie sei in meine Haushälterin verliebt, und da ihre Eltern hierüber lachten, so überschüttete sie sie mit allen möglichen Lieblosungen. Sie kam oft zu uns zum Frühstück, und wenn sie uns noch im Bett fand, so umarmte sie meine Freundin, nannte sie ihre Frau, steckte die Hand unter die Bettdecke, um sie zu kitzeln, und sagte zu ihr, sie sei ihr kleiner Mann und wolle ihr ein Kind machen. Meine Freundin lachte und ließ sie gewähren.

Eines Tages, als wir wieder über die Schäkereien lachten, sagte ich ihr, sie mache mich eifersüchtig; ich glaube, sie sei wirklich ein kleiner Mann und wolle mich davon überzeugen. Mit diesen Worten packte ich sie und tat, wie wenn ich sie untersuchen wollte. Die kleine Schelmin sagte lachend, ich irre mich, aber ihre Hand schien eher die meinige zu leiten als Widerstand entgegenzusetzen. Dies machte mich neugierig, und ich konnte mich bald überzeugen, daß sie ihr Geschlecht nicht verbarg. Ich merkte, daß sie mich zum besten hielt, indem diese Untersuchung gerade das war, was sie wünschte; ich zog daher meine Hand zurück und teilte meiner Haushälterin meinen Verdacht mit, worauf sie antwortete, daß ich mich nicht täuschte. Da die Kleine mir aber weiter keine Gefühle einflößte, so ließ ich es dabei bewenden.

Zwei oder drei Tage später trat das junge Mädchen gerade im Augenblicke meines Aufstehens bei uns ein und sagte mit ihrer gewöhnlichen Naivität zu mir: »Da Sie jetzt wissen, daß ich kein Mann bin, so können Sie nicht eifersüchtig sein und es nicht übelnehmen, wenn ich Ihren Platz bei meiner kleinen Frau einnehme – falls diese es erlaubt.«

Meine Freundin hatte Lust zu scherzen und sagte zu ihr: »Komm!«

Im Nu war sie ausgezogen und lag in den Armen ihrer kleinen Frau, die sie wie ein verliebter Gatte zu behandeln begann. Meine Freundin lachte; Sarah hatte während dieses Kampfes ihr Hemd abgestreift und die Bettdecke abgeworfen und zeigte sich meinen Augen ohne jeden Schleier, während sie zugleich alle Schönheiten meiner Freundin enthüllte. Dieses Schauspiel entflammte mich; ich schloß die Tür und machte die junge Spitzbübin zur Zeugin meiner Glut. Sarah blieb bis ans Ende ganz ruhig und aufmerksam und spielte vorzüglich die Erstaunte; als ich fertig war, sagte sie mit dem unschuldigsten Gesicht: »Machen Sie’s ihr noch einmal!«

»Ich kann nicht, meine Liebe; denn ich bin tot, wie du wohl siehst.«

»Das ist aber komisch!« rief sie; zugleich begann sie mit der Miene vollkommenster Unschuld sich selbst um meine Wiederauferstehung zu bemühen.

Als es ihr gelungen war, mich in den gewünschten Zustand zu versetzen, rief sie: »Nun! Also jetzt!« – und ich würde ihr ohne Zweifel gehorcht haben, aber meine Haushälterin sagte zu ihr: »Nein, meine Liebe! Da du ihn wieder auferweckt hast, so ist es deine Sache, ihn abermals tot zu machen.«

»Ich täte es gern,« sagte sie; »aber ich werde nicht Platz genug haben!« Mit diesen Worten nahm sie eine Stellung ein, die mir zeigen sollte, daß sie die Wahrheit spräche, und daß es nicht ihre Schuld wäre, wenn sie mich nicht tot machte.

Ich stellte mich ebenso einfältig wie sie und näherte mich ihr, wie wenn ich ihr nur einen Gefallen erweisen und durchaus nicht weiter gehen wollte. Da ich aber gar keinen Widerstand fand, so vollzog ich den Akt auf das vollständigste, ohne daß sie das geringste Zeichen von Schmerz sehen ließ, und ohne daß einer der Zwischenfälle eintrat, die sonst beim erstenmal üblich sind. Vielmehr empfand sie offenbar den höchsten Genuß dabei.

Obgleich ich vom Gegenteil überzeugt war, hatte ich mich doch genügend in der Gewalt, um meiner Freundin zu sagen, Sarah habe mir gegeben, was man nur einmal geben kann, und sie tat, als glaubte sie es.

Als die Operation zu Ende war, hatten wir eine andere Szene, über die wir laut lachen mußten. Sarah bat uns, wir möchten doch im Gottes willen ihrem Papa und ihrer Mama nichts sagen, denn diese würden sie wieder ausschelten wie damals, als sie sich ohne Erlaubnis ihre Ohrläppchen hätte durchstechen lassen.

Sarah wußte recht wohl, daß wir uns von ihrer erkünstelten Einfalt nicht betrügen ließen; aber sie tat, als wüßte sie es nicht, um sich dies zunutze zu machen. Wer konnte sie diese Kunst gelehrt haben? Niemand. Es war natürliche Begabung, die sich bei Kindern häufiger findet als bei heranwachsenden jungen Leuten, aber immer etwas Seltenes und Erstaunliches ist. Ihre Mutter erblickte in ihren Naivitäten Vorläufer des Geistes, und ihr Vater sah darin ein Zeichen ihrer Dummheit. Aber wenn Sarah dumm gewesen wäre, so hätte unser lautes Gelächter sie außer Fassung gebracht und sie würde geschwiegen haben; sie war jedoch niemals zufriedener, als wenn ihr Vater über ihre Dummheit klagte; dann spielte sie die Erstaunte, tat, als ob sie ihre Dummheit wieder gut machen wollte, und verstärkte sie durch eine neue noch größere. Fortwährend stellte sie uns Fragen, auf die wir unmöglich antworten konnten; also lachten wir darüber, obgleich wir mit etwas Nachdenken leicht entdecken konnten, daß sie selber sehr richtig denken mußte, um solche Fragen stellen zu können. Sie hätte sogar den Spieß umdrehen und uns beweisen können, daß die Dummheit auf unserer Seite war; damit aber wäre sie aus ihrer Rolle gefallen.

Lebel antwortete meiner Freundin nicht; aber Herr von Chavigny schrieb mir einen vier Seiten langen Brief. Er sprach zu mir als weiser Philosoph und als Weltmann, der durch eine lange Erfahrung gereift war. Wenn ich alt wäre wie er und imstande, nach meinem Tode meiner Freundin ein glückliches und unabhängiges Leben zu sichern, so dürfte ich sie um keinen Preis abtreten, besonders da wir beide in Wünschen und Neigungen vollkommen übereinstimmten; da ich aber jung wäre und nicht die Absicht hätte, mich durch ein unlösbares Band zu fesseln, so müßte ich nicht nur einer Verbindung zustimmen, die sie glücklich zu machen verspräche, sondern ich müßte auch als Ehrenmann meinen ganzen Einfluß auf sie aufbieten, um sie zur Einwilligung zu bestimmen. »Sie, mit Ihrer Erfahrung,« fuhr der liebenswürdige Greis fort, »Sie müssen einsehen, daß unfehlbar die Zeit kommen muß, wo Sie beide bereuen werden, die Gelegenheit nicht benutzt zu haben; denn wenn Ihre Liebe gesättigt ist, muß sie zur Freundschaft werden; dann wird eine andere Liebe an die Stelle derjenigen treten, die Ihnen jetzt festzustehen scheint wie der Gott Terminus; denn wenn Ihre reizende Dubois Ihre Freundin geworden ist, so muß sie Ihnen noch mehr Freiheit lassen, und Ihre Reue wird Sie unglücklich machen. Lebel hat mir seine Absicht mitgeteilt, und ich habe ihm nicht nur nicht abgeraten, sondern ihn ermutigt; denn Ihre reizende Freundin hat bei den fünf oder sechs Malen, da ich das Vergnügen hatte, sie bei Ihnen zu sehen, meine ganze Freundschaft gewonnen. Ich wäre daher recht glücklich, sie bei mir zu haben, um mich an ihrer liebenswürdigen Unterhaltung erfreuen zu können, ohne im geringsten den Anstand zu verletzen. Sie werden einsehen, daß ich in meinem Alter nicht mehr so töricht sein kann, um irgendwelche Hoffnung zu hegen, die ich übrigens ja doch nicht verwirklichen könnte, selbst wenn ich den Gegenstand meiner Begehrlichkeit gefällig finden würde.«

Zum Schluß schrieb er mir, Lebel habe sich nicht wie ein Jüngling verliebt; er habe vielmehr seinen Entschluß reiflich erwogen und werde sie daher nicht drängen, wie sie aus der Antwort ersehen werde, mit deren Abfassung er noch beschäftigt sei. Eine Ehe dürfe immer nur mit kaltem Blute geschlossen werden.

Ich übergab diesen Brief meiner Freundin, die ihn aufmerksam las und ihn mir mit dem gleichgültigsten Gesicht zurückgab.

»Was sagst du dazu, liebe Freundin?«

»Ich gedenke die Ratschläge des Botschafters zu befolgen. Er schreibt, wir brauchten uns nicht zu beeilen; weiter wollen wir ja auch nichts. Wir wollen uns lieben und nur an unsere Liebe denken. Der Brief ist mit großer Weisheit geschrieben; aber ich kann mir nicht vorstellen, daß wir je einander gleichgültig sein können, obgleich ich sehr gut weiß, daß dies möglich ist.«

»Gleichgültig, niemals! Du irrst dich.«

»Nun – oder Freunde; denn dies ist auch nicht viel besser, nachdem man sich geliebt hat.«

»Aber die Freundschaft, liebes Herz, ist niemals gleichgültig. Allerdings kann die Liebe sich ins Spiel mischen; dies wissen wir, denn es ist so gewesen, solange wie die Welt besteht.«

»Also hat der Botschafter recht: die Reue kann unsere Seelen quälen und uns unglücklich machen, wenn die Liebe der allzu friedfertigen Freundschaft gewichen ist.«

»Wenn du dies für möglich hältst, angebetetes Weib, so wollen wir morgen uns heiraten und so die Fehler der menschlichen Natur bestrafen.«

»Ja, wir werden uns heiraten, mein guter Freund, aber wir wollen uns nicht übereilen; Hymen könnte Amor in die Flucht jagen – laß uns deshalb unseres Glückes genießen, so wie es ist.«

»Du bist bewunderungswürdig, mein Engel, und des glücklichsten Loses wert.«

»Ich wünsche kein größeres Glück als dasjenige, das du mir verschaffst.«

Wir gingen zu Bett und setzten unser Gespräch fort; als wir einander in den Armen lagen, trafen wir eine Verabredung, die wir sehr schön und sehr weise fanden.

»Lausanne«, sagte sie zu mir, »ist eine kleine Stadt, wo du wahrscheinlich sehr gefeiert werden wirst; mindestens vierzehn Tage lang wirst du kaum Zeit haben, deine Besuche zu machen und an den Soupers und Abendgesellschaften teilzunehmen, zu denen man dich von allen Seiten einladen wird. Mich kennt dort der ganze Adel, und der Herzog von Norburgh, der mich mit seiner Liebe belästigte, hält sich noch dort auf. Wenn ich mit dir erscheine, so wird man in allen Gesellschaften darüber reden, und das wird für dich ebenso langweilig sein wie für mich. – Meine gute Mutter lebt dort; sie wird nichts sagen, aber im Grunde wird es ihr nicht sehr lieb sein, mich bei einem Manne wie du als Haushälterin zu sehen; denn der gesunde Menschenverstand muß jedem sagen, daß ich nur deine Geliebte sein kann.«

Ich fand, daß sie recht hatte, und daß wir auf die Schicklichkeit gebührende Rücksicht nehmen mußten. Wir bestimmten also, daß sie allein nach Lausanne reisen und dort bei ihrer Mutter wohnen solle; zwei oder drei Tage später würde ich ihr folgen und in Lausanne, solange ich wollte, für mich allein wohnen, da ich sie ohne jeden Zwang bei ihrer Mutter sehen konnte, so oft es mir beliebte.

»Wenn du Lausanne verlässest,« sagte sie zu mir, »werde ich in Genf wieder mit dir zusammentreffen; von dort reisen wir, wohin du willst, und solange wir uns lieben.«

Am zweiten Tage reiste sie in aller Frühe ab; sie war meiner Treue gewiß und wünschte sich Glück zu der Ausführung unseres so vernünftigen Planes. Ich war sehr traurig über ihre Abreise, aber die Abschiedsbesuche zerstreuten meinen Schmerz ein wenig. Da ich den berühmten Haller kennen zu lernen wünschte, ehe ich die Schweiz verließ, so gab der Schultheiß von Muralt mir für ihn einen Brief, über den ich mich sehr freute. Herr von Haller war Landvogt in Roche.

Als ich der Frau de la Saone meinen Abschiedsbesuch machte, fand ich sie im Bett und mußte eine Viertelstunde mit ihr allein bleiben. Natürlich sprachen wir nur von ihrer Krankheit, und sie wußte das Gespräch so zu wenden, daß sie in allen Ehren mich sehen lassen konnte, daß die Krankheit, die ihr Gesicht entstellte, ihren ganzen Körper verschont habe. Dieser Anblick überzeugte mich, daß Mignard nicht so tapfer zu sein brauchte, wie ich geglaubt hatte; denn ich war nahe daran, ihr denselben Dienst zu erweisen. Man brauchte schließlich nur ihren Körper anzusehen, und es ließ sich allerdings kaum etwas Hübscheres finden.

Ich sehe voraus, daß mehr als eine Frömmlerin und mehr als ein Tugendbold eines Tages, wenn diese Erinnerungen jemals Leser finden, über diese arme Dame Zeter schreien werden; aber indem sie sich mit solcher Bereitwilligkeit zeigte, rächte sie sich für das Leid, das die Natur ihr angetan hatte, indem sie sie so fürchterlich entstellte. Vielleicht wollte sie auch aus Herzensgüte, und weil sie wußte, was die Höflichkeit durch den Anblick ihres Gesichtes zu leiden hatte, den Mann, der seinen Widerwillen überwand, entschädigen, indem sie ihm die Schönheiten zeigte, mit denen die Natur sie verschwenderisch begabt hatte. Ich bin überzeugt, meine Damen, daß selbst die Prüdeste und Tugendhafteste von Ihnen, wenn Sie alle das Unglück hätten, scheußliche Gesichter zu haben, sich ohne weiteres der Mode fügen würde, wenn diese geböte, die Häßlichkeit zu verbergen und die Schönheiten zur Schau zu tragen, die Sie jetzt unseren Blicken entziehen, weil der Brauch es so will. Ohne Zweifel wäre Frau de la Saone geiziger mit der Schönheit ihres Körpers gewesen, wenn sie wie Sie durch ihr Gesicht hätte verführen können.

Am Tage meiner Abreise speiste ich bei Herrn von F., und die niedliche Sarah machte mir viele Vorwürfe, daß ich ihre kleine Frau vor mir habe abreisen lassen. Man wird sehen, wie ich sie drei Jahre später in London wiederfand. Leduc war noch in ärztlicher Behandlung und sehr schwach; trotzdem ließ ich ihn mit mir reisen, denn ich hatte viele Sachen und konnte nur ihm vertrauen.

Ich verließ Bern in einer sehr natürlichen Trauer. Ich war in dieser Stadt glücklich gewesen und denke noch jetzt niemals ohne Vergnügen an sie.

Ich hatte von Frau von Urfé den Auftrag erhalten, den Doktor Heilenschwand um Rat zu fragen; infolgedessen hielt ich in seinem Wohnort Murten an, das nur vier Meilen von Bern entfernt ist. Der Doktor lud mich zum Essen ein, um den ausgezeichneten Fisch des Murtener Sees kennen zu lernen; ich fand ihn in der Tat köstlich. Ich hatte die Absicht, gleich nach dem Essen weiter zu fahren; aber als ich in meinen Gasthof zurückkam, wandelte mich eine Neugier an, über die ich dem Leser noch berichten werde, und ich entschloß mich, die Nacht über dort zu bleiben.

Nachdem Dr. Herrenschwand für einen schriftlichen ärztlichen Rat über den Bandwurm zwei Louis erhalten hatte, lud er mich ein, einen Spaziergang auf der Straße nach Avenches zu machen, und wir gingen bis zum berühmten Beinhause von Murten.

»Dieses Beinhaus«, sagte der Doktor, »ist aus einem Teil von den Knochen der Burgunder erbaut, die bei der berühmten Niederlage Karls des Kühnen hier den Tod fanden.«

Über die lateinische Inschrift mußte ich lachen.

»Diese Inschrift«, sagte ich zum Doktor, »enthält einen beleidigenden Scherz, durch den sie possenhaft wird; denn eine Inschrift muß ernst sein, und es ist einer Nation nicht erlaubt, die Lesenden zum Lachen zu bringen.«

Als guter Schweizer wollte dies der Doktor nicht zugeben; aber dies war wohl nur falsche Scham von ihm. Ich teile die Inschrift hier mit; so kann der unparteiische Leser selber urteilen.

Deo Opt. Max. Caroli inclyti et fortissimi Burgundiae ducis exercitus Muratum obsidens ab Helvetiis caesus hoc sui monumentum reliquit anno MCDLXXVI.

Mit Gottes Hilfe wurde das Heer des erlauchten und tapferen Burgunderherzogs Karl bei der Belagerung Murtens von den Schweizern erschlagen und ließ dieses Denkmal zurück im Jahre 1476.

Ich hatte mir bis dahin von Murten eine großartige Vorstellung gemacht. Der siebenhundertjährige Ruhm der Stadt, drei große Belagerungen, die sie ausgehalten und abgeschlagen hatte, dies alles hatte mir eine hohe Meinung von ihr beigebracht; ich erwartete etwas Besonderes zu finden, und ich sah nichts.

»So ist also Murten zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden?« fragte ich den Doktor.

»Durchaus nicht; Murten ist so, wie es immer gewesen ist, oder doch ungefähr so.«

Ich merkte, daß jemand, der sich belehren will, erst lesen, dann aber reisen muß, um das Gelernte zu berichtigen. Schlecht wissen ist schlimmer als nichts wissen, und Montaigne hat recht, wenn er sagt, man müsse gut wissen.

Folgendes war das komische Abenteuer, das mir über Nacht in Murten zustieß.

Ich fand im Gasthof ein junges Dienstmädchen, das romanisch sprach. Sie fiel mir auf, weil sie meiner schönen Strumpfhändlerin von Paris außerordentlich ähnlich sah. Sie hieß Raton, und zum Glück blieb dieser Name mir im Gedächtnis. Ich bot ihr sechs Franken für eine Gefälligkeit, aber sie wies mit einer Art von Stolz das Geld zurück und sagte mir, ich hätte mich an die Falsche gewandt, und sie wäre ein anständiges Mädchen.

»Das kann wohl sein,« antwortete ich ihr. Zugleich befahl ich, die Pferde anzuspannen. Als die ehrsame Raton sah, daß ich abreisen wollte, sagte sie mir lachend und zugleich schüchtern, sie brauche zwei Louis, und wenn ich ihr diese geben und die Nacht bleiben wolle, so werde ich zufrieden sein.

»Ich bleibe; aber denk daran, daß du ganz artig sein mußt.«

»Ich werde es sein.«

Als alles zu Bett war, kam sie mit einer furchtsamen Miene, die gerade dazu angetan war, meine Begierde noch zu verdoppeln, in mein Zimmer. Durch einen außerordentlichen Glücksfall fühlte ich ein Bedürfnis, nahm das Licht und eilte nach dem Ort, wo ich es befriedigen konnte. Während ich dort beschäftigt war, zerstreute ich mich damit, die tausend Dummheiten zu lesen, die man gewöhnlich an solchen Orten geschrieben findet. Plötzlich fielen meine Blicke auf die Worte: »Am 10. August 1760 hab ich von der verdammten Raton Quint und Vierzehner gekriegt; der Leser sei gewarnt.«

Ich war beinahe in Versuchung, an ein Wunder zu glauben; denn ich konnte mir nicht vorstellen, daß es noch eine Raton in dem Hause gebe. Ich trat mit einem sehr fröhlichen Gesicht wieder in mein Zimmer ein und fand die Schöne bereits im Bett und ohne Hemd. Sie hatte dieses in die Bettgasse geworfen; ich bückte mich danach, und als sie sah, daß ich es aufhob, bat sie mich erschrocken, es nicht anzurühren, denn es sei nicht sauber. Sie hatte recht, denn es trug zahlreiche Spuren ihrer Krankheit. Wie man sich denken kann, war meine Glut sofort abgekühlt, und ich jagte sie augenblicklich hinaus; zugleich aber fühlte ich eine tiefe Dankbarkeit gegen den sogenannten Zufall, denn niemals hätte ich daran gedacht, ein junges Mädchen, das eine Haut von Lilien und Rosen hatte und höchstens achtzehn Lenze zählte, näher zu untersuchen.

Am folgenden Tage fuhr ich nach Noche, um den berühmten Haller zu besuchen.

Vierzehntes Kapitel


Das Jahr 1760. – Die Maitresse Gardella. –Porträt des Herzogs von Württemberg. – Mein Diner bei der Gardella und dessen Folgen. – Unglückliche Begegnung. – Ich spiele und verliere viertausend Louis. – Prozeß. – Glückliche Flucht. – Meine Ankunft in Zürich. – Eine Kirche, die von Jesus Christus selbst geweiht worden ist.

Der Hof des Herzogs von Württemberg war zu jener Zeit der glänzendste von ganz Europa. Die reichlichen Hilfsgelder, welche Frankreich dem Fürsten dafür bezahlte, daß er ein Heer von zehntausend Mann zur Verfügung dieser Macht unterhielt, setzten ihn instand, diese Ausgaben zu bestreiten, die sein Luxus und seine Ausschweifungen erforderten. Sein Hilfskorps war sehr schön, aber während des ganzen Krieges zeichnete es sich nur durch Fehler aus.

Der Herzog war seiner Anlage nach prachtliebend: herrliche Gebäude, ein großartiger Malstall, eine glänzende Jägerei, Launen aller Art, kosteten ihm viel Geld; ungeheure Summen aber gab er für hohe Besoldungen aus und noch größere für sein Theater und seine Maitressen. Er unterhielt französische Komödie, ernste und komische italienische Oper und zwanzig italienische Tänzer, von denen jeder an einem der großen Theater Italiens erster Tänzer gewesen war. Noverre war sein Choreograph und Ballettdirektor; er verwendete zuweilen hundert Figuranten und mehr. Ein geschickter Maschinenmeister und die besten Dekorationsmaler arbeiteten um die Wette und mit großen Kosten, um die Zuschauer zum Glauben an Zauberei zu zwingen. Alle Tänzerinnen waren hübsch und alle rühmten sich, den gnädigen Herrn zum mindesten einmal glücklich gemacht zu haben. Die erste Tänzerin war eine Venetianerin, die Tochter eines Gondeliere, namens Gardello. Der Senator Malipiero, von dem meine Leser wissen, daß er mir zuerst eine gute Erziehung geben ließ, hatte sie für das Theater ausbilden lassen, indem er einen Tanzlehrer für sie bezahlte. Nach meiner Flucht aus den Bleidächern hatte ich sie in München als Frau Michele Agata gefunden. Der Herzog fand sie nach seinem Geschmack und bat ihren Mann um sie; dieser schätzte sich glücklich, sie ihm abtreten zu können. Aber schon ein Jahr darauf war der Herzog ihrer Reize müde und pensionierte sie mit dem Titel Madame.

Diese Ehre hatte alle Tänzerinnen eifersüchtig gemacht, denn eine jede glaubte die Eigenschaften zu besitzen, um anerkannte Maitresse zu werden, um so mehr, als die Gardella nur den Rang hatte und das Gehalt bezog. Alle intrigierten, um sie zu verdrängen, aber die Venetianerin besaß im höchsten Grade die Kunst zu fesseln und wußte sich trotz allen Ränken zu behaupten. Weit entfernt, dem Herzog seine fortwährenden Treulosigkeiten vorzuwerfen, ermutigte sie ihn sogar dazu, und da sie ihn nicht liebte, so fühlte sie sich glücklich, in bezug auf den Zeitvertreib sich von ihm vernachlässigt zu sehen. Es bereitete ihr den größten Genuß, wenn die Tänzerinnen, die nach der Ehre des Schnupftuchs strebten, zu ihr kamen und sich ihr empfahlen. Sie nahm sie freundlich auf, gab ihnen Ratschläge und ermutigte sie, sich dem Fürsten angenehm zu machen. Dieser seinerseits fand die Duldsamkeit der Favoritin bewundernswürdig und sehr bequem und hielt sich für verpflichtet, ihr dafür seine Dankbarkeit zu bezeigen. Er erwies ihr in der Öffentlichkeit alle Ehren wie einer Prinzessin.

Ich bemerkte bald, daß die Hauptleidenschaft dieses Fürsten war, von sich sprechen zu machen. Er hätte gern Herostrates nachgeahmt, wenn er dies für ein passendes Mittel gehalten hätte, eine der hunderttausend Stimmen des Nachruhms zu beschäftigen. Er wünschte, daß die Welt von ihm sage, kein Fürst habe mehr Geist, mehr Geschmack, mehr Anlage zum Erfinden der Vergnügungen, mehr Fähigkeit zum Herrschen; außerdem sollte man glauben, er sei ein zweiter Herkules in den Arbeiten des Bacchus und des Amor, ohne daß jedoch die Augenblicke, die er der Sinnenlust widmete, die Sorgfalt beeinträchtigten, womit er alle Pflichten seines Herrscheramtes erfüllte. Unbarmherzig jagte er den Diener fort, dem es nicht gelang, ihn aufzuwecken, nachdem er drei oder vier Stunden im Schlaf gelegen hatte, dem, wie alle anderen Menschen, auch er sich überlassen mußte; aber er erlaubte dem Diener, alle Mittel anzuwenden, um ihn aus dem Bett zu bringen.

Es kam vor, daß der Bediente, nachdem er ihm Kaffee eingeflößt hatte, ihn aus dem Bett in ein kaltes Bad werfen mußte, wo dann Seine Hoheit wohl erwachen mußten, wenn sie nicht ertrinken wollten. Sobald er angekleidet war, versammelte der Herzog seine Minister und erledigte die laufenden Angelegenheiten; hierauf erteilte er Audienz jedem, der sie wünschte. Übrigens war nichts komischer, als diese Audienzen, die er seinen armen Untertanen gewährte. Oft waren es plumpe Bauern, Handarbeiter der niedrigsten Klassen; da mühte sich denn nun der arme Mann schwitzend und fluchend ab, sie zur Vernunft zu bringen, was ihm nicht immer gelang; denn oft liefen sie ihm verängstigt, verzweifelnd und wütend davon. Die Beschwerden der hübschen Bäuerinnen prüfte er unter vier Augen, und obgleich er ihnen gewöhnlich nichts bewilligte, gingen sie doch getröstet von dannen.

Die Hilfsgelder, die der König von Frankreich ihm törichterweise für zwecklose Dienste zahlte, reichten nicht aus für seine Verschwendung. Er überlastete seine Untertanen mit Steuern und Fronden so sehr, daß dieses geduldige Volk seine Forderungen nicht mehr erfüllen konnte und sich einige Jahre später an das Reichskammergericht in Wetzlar wandte, das ihn zwang, sein System zu ändern. Er war von der närrischen Sucht besessen, nach dem Vorbilde des Königs von Preußen herrschen zu wollen, während dieser sich über den Herzog nur lustig machte und ihn seinen Affen nannte. Er hatte die Tochter des Markgrafen von Bayreuth geheiratet, die schönste und liebenswürdigste deutsche Prinzessin. Sie war nicht in Stuttgart, als ich dort war, sondern hatte sich wegen eines blutigen Schimpfes, den ihr unwürdiger Gemahl ihr angetan hatte, zu ihrem Vater geflüchtet. Es ist nicht richtig, wenn man behauptet, die Fürstin habe ihren Gemahl verlassen, weil sie seine Treulosigkeiten nicht mehr habe ertragen können.

Nachdem ich allein auf meinem Zimmer gespeist hatte, machte ich Toilette und ging in die Oper, die der Herzog in dem von ihm erbauten schönen Theater dem Publikum gratis geben ließ; der Fürst saß vor dem Orchester, umgeben von seinem glänzenden Hofe. Ich nahm in einer Loge des ersten Ranges Platz, allein und sehr zufrieden, ohne die geringste Ablenkung ein Musikstück des berühmten Jumella hören zu können, der im Dienst des Herzogs stand. Unbekannt mit den Gebräuchen gewisser kleiner deutscher Höfe, applaudierte ich bei einem Solo, das von einem Kastraten, dessen Namen ich vergessen habe, entzückend schön gesungen wurde; einen Augenblick darauf trat ein Mensch in meine Loge und sagte in unhöflichem Tone etwas zu mir, worauf ich nur erwidern konnte: nicht verstanden.

Er ging hinaus, und bald nachher sah ich einen Offizier erscheinen, der mir in gutem Französisch sagte, da der Herrscher sich im Theater befinde, so sei es nicht erlaubt, zu applaudieren.

»Sehr wohl, mein Herr; ich werde wiederkommen, wenn der Herrscher nicht hier ist; denn wenn eine Arie mir gefällt, ist es mir unmöglich, meinen Beifall nicht auszudrücken.«

Nach dieser Antwort ließ ich meinen Wagen rufen, aber in dem Augenblick, wo ich einsteigen wollte, kam wieder derselbe Offizier und sagte mir, der Herzog wünsche mit mir zu sprechen. Ich folgte ihm in den Cercle.

»Sie sind also Herr Casanova?«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Woher kommen Sie?«

»Aus Köln.«

»Sie sind zum erstenmal in Stuttgart?«

»Ja, gnädiger Herr.«

»Gedenken Sie sich hier lange aufzuhalten?«

»Fünf oder sechs Tage, wenn Eure Hoheit mir es erlauben wollen.«

»Recht gern; bleiben Sie solange, wie es Ihnen gefällt, und es soll Ihnen erlaubt sein, in die Hände zu klatschen, soviel Sie wollen.«

»Ich werde von dieser Erlaubnis Gebrauch machen, gnädiger Herr.«

»Gut.«

Ich setzte mich auf eine Bank, und alle Anwesenden folgten aufmerksam dem Spiel der Schauspieler. Als bald darauf ein Sänger eine Arie gesungen hatte, applaudierte der Herzog, und alle langohrigen Hofleute machten es dem gnädigen Herrn nach; ich aber blieb ganz still, denn ich fand den Gesang sehr mittelmäßig; jeder nach seinem Geschmack. Nach dem Ballett ging der Herzog in die Loge der Favoritin, küßte ihr die Hand und entfernte sich. Ein neben mir stehender Offizier, der nicht wußte, daß ich die Gardella kannte, sagte mir, es sei Madame, und da ich die Ehre gehabt habe, mit dem Fürsten zu sprechen, so könne ich mir auch die Ehre verschaffen, in ihre Loge zu gehen und ihr die Hand zu küssen.

Ich hatte Lust, laut aufzulachen, aber ich beherrschte mich und infolge einer unbegreiflichen und sehr unbesonnenen Laune hatte ich den Einfall, ihm zu antworten, ich glaubte mir dies ersparen zu können, weil sie meine Verwandte wäre. Kaum war dieses Wort heraus, so biß ich mich auf die Lippen, denn diese ungeschickte Lüge konnte mir nur schaden; aber es stand geschrieben, daß ich in Stuttgart nur schwere Dummheiten begehen sollte. Der Offizier, den meine Antwort anscheinend überrascht hatte, grüßte mich und ging in die Loge der Favoritin, um sie von meiner Anwesenheit in Kenntnis zu setzen.

Die Gardella wandte den Kopf nach mir und winkte mir mit dem Fächer; ich beeilte mich, ihrem Rufe zu folgen, obwohl ich innerlich selber über die dumme Rolle lachte, die ich spielen würde. Als ich eingetreten war, reichte sie mir liebenswürdig die Hand, die ich küßte, indem ich sie als Cousine anredete.

»Haben Sie sich dem Herzog als meinen Vetter vorgestellt?«

»Nein.«

»Nun, so werde ich es tun. Ich lade Sie für morgen zum Mittagessen ein.«

Nachdem sie sich entfernt hatte, suchte ich die Tänzerinnen auf, die beim Auskleiden waren. Die Binetti, eine meiner ältesten Bekanntschaften, war ganz außer sich vor Freude über das Wiedersehen mit mir und lud mich ein, jeden Tag mit ihr zu speisen. Der treffliche Violinspieler Curtz, der im Orchester von San Samuele mein Kamerad gewesen war, stellte mir seine sehr schöne Tochter vor, indem er in selbstbewußtem Tone mir sagte: »Die ist nicht für die schönen Augen des Herzogs geschaffen; er wird sie niemals bekommen.« Der brave Mann war kein Prophet; denn der Herzog bekam sie bald darauf und wurde von ihr geliebt. Sie schenkte ihm zwei Püppchen, doch auch diese Pfänder der Liebe konnten den unbeständigen Fürsten nicht fesseln. Und doch war sie eine entzückende Person, die alle Eigenschaften besaß, um einen Mann zu fesseln; denn sie verband mit der vollkommensten Schönheit eine pikante Anmut, einen natürlichen Geist, den sie aufs schönste ausgebildet hatte, und eine Güte, eine Liebenswürdigkeit, die sie zum Liebling aller Menschen machten. Aber der Herzog war abgestumpft, und das Vergnügen konnte für ihn nur in der Unbeständigkeit bestehen. Nach der jungen Curtz sah ich die kleine Vulcani, die ich in Dresden gekannt hatte; sie überraschte mich sehr, indem sie mir ihren Mann vorstellte, der mir um den Hals fiel. Es war Baletti, der Bruder meiner Ungetreuen, ein talentvoller Jüngling, den ich unendlich lieb hatte.

Ich war von allen diesen alten Freunden umgeben, als der Offizier eintrat, dem gegenüber ich mich törichterweise für einen Verwandten der Gardella ausgegeben hatte. Er erzählte die Geschichte. Die Binetti sagte ihm sofort: »Mein Herr, das ist eine Lüge.«

»Aber meine Liebe,« sagte ich zu ihr, »darüber können Sie nicht mehr wissen, als ich selber.«

Sie antwortete nur mit einem lauten Gelächter; Curtz aber nahm das Wort und sagte scherzhaft: »Da die Gardella auch nur eine Barkarolentochter ist, wie die Binetti, so findet diese mit Recht, sie hätte ihr in punkto Cousinenschaft den Vorzug geben wollen.«

Am nächsten Tage speiste ich bei der Favoritin; das Mahl war sehr heiter, obgleich sie mir sagte, sie habe den Herzog noch nicht gesehen und wisse daher nicht, wie er den Scherz aufnehmen werde, den ihre Mutter sehr unpassend finde. Diese Mutter, die aus den armseligsten Verhältnissen stammte, war ungeheuer stolz auf die Ehre, daß ihre Tochter die Geliebte eines Fürsten wäre, und meine Verwandtschaft erschien ihr als ein Makel. Sie besaß die Unverschämtheit, mir zu sagen, ihre Verwandten seien niemals Komödianten gewesen. Sie bedachte nicht, daß es eine viel größere Schande wäre, zu diesem Stande, wenn sie ihn für entehrend hielt, herabzusteigen, als zu ihm emporzusteigen. Ich hätte für ihren Hochmut nur Mitleid haben sollen; aber da ich nicht eben sanftmütigen Charakters bin, so bestand meine Erwiderung in der Frage, ob ihre Schwester noch lebe. Sie schnitt ein Gesicht und antwortete mir nicht. Diese Schwester war ein dickes, blindes Weib, das auf einer der Brücken von Venedig als Bettlerin saß.

Nachdem ich den ganzen Tag sehr fröhlich bei der Favoritin zugebracht hatte, die die älteste meiner Bekanntschaften dieser Art war, verließ ich sie mit dem Versprechen, am nächsten Tage zum Frühstück zu kommen. Als ich aber hinausging, bedeutete der Türvorsteher mir, ich dürfe das Haus nicht wieder betreten. In wessen Auftrag er mir diesen freundlichen Befehl mitteilte, wollte er mir nicht sagen. Ich fühlte nun, daß ich besser getan hätte, meine Zunge im Zaum zu halten, denn der Streich konnte nur von der Mutter ausgehen. Vielleicht war aber auch die Tochter beteiligt, deren Eitelkeit ich möglicherweise verletzt hatte; sie war eine so gute Schauspielerin, daß sie ihre Empfindlichkeit wohl hatte verbergen können.

Ich war unzufrieden mit mir selber und ging in schlechter Laune nach Hause. Ich fühlte mich gedemütigt, daß eine jämmerliche, schamlose Schauspielerin mich demütigen durfte, während ich bei einem anständigeren Betragen mit Auszeichnung in der besten Gesellschaft hätte verkehren können. Hätte ich nicht der Binetti versprochen gehabt, am nächsten Tage bei ihr zu speisen, so würde ich mich sofort in den Postwagen gesetzt haben. Hierdurch hätte ich alle die Unannehmlichkeiten vermieden, die mich noch in dieser unglückseligen Stadt erwarteten.

Die Binetti wohnte bei dem österreichischen Gesandten, der ihr Liebhaber war, und der von ihr bewohnte Teil des Hauses stieß an die Stadtmauer an. Diesen Umstand muß der Leser kennen, wie er gleich sehen wird. Ich speiste unter vier Augen mit dieser liebenswürdigen Landsmännin, und wenn ich in diesem Augenblick imstande gewesen wäre, mich zu verlieben, so würde sich meine ganze frühere Zärtlichkeit für sie wieder eingestellt haben; denn sie hatte sich ausgezeichnet erhalten und eine große Anmut und Weltkenntnis hinzuerworben.

Der Wiener Gesandte war liebenswürdig, freigebig und duldsam; ihr Mann dagegen war ein verkommener Mensch, der ihrer nicht würdig war und niemals mit ihr zusammenkam. Ich verbrachte einen köstlichen Tag mit ihr, indem wir von unseren alten Erinnerungen sprachen.

Da mich nichts in Württemberg zurückhielt, so beschloß ich am übernächsten Tag abzureisen; für den folgenden Tag hatte ich der Toscani und ihrer Tochter versprochen, mit ihnen nach Ludwigsburg zu fahren. Wir sollten um fünf Uhr in der Frühe abfahren; aber vorher begegnete mir folgendes:

Als ich von der Binetti fortging, wurde ich sehr höflich von drei Offizieren angesprochen, die ich im Kaffeehause kennen gelernt hatte, und ich machte mit ihnen einen Spaziergang. »Wir haben,« sagten sie zu mir, »eine Vergnügungspartie mit einigen gefälligen Schönen vor, und es wird uns freuen, wenn Sie daran teilnehmen wollen.«

»Ich spreche keine vier Worte deutsch, meine Herren, und wenn ich ihrem Wunsche nachgäbe, so würde ich mich langweilen.«

»Aber die Damen sind Italienerinnen; es könnte sich also gar nicht besser treffen.«

Ich fühlte einen ganz besonderen Widerwillen, ihrer Einladung zu folgen; aber mein böser Geist trieb mich, an diesem unglückseligen Orte nur Dummheit über Dummheit zu begehen, und ich folgte gleichsam willenlos.

Wir kehrten nach der Stadt zurück, und ich ließ mich in das dritte Stockwerk eines Hauses von üblem Aussehen führen, wo ich in einem mehr als armseligen Zimmer die beiden angeblichen Nichten Poccinis fand. Gleich daraus trat Poccini selbst ein, fiel mir schamlos um den Hals und umarmte mich, indem er mich seinen besten Freund nannte. Seine Nichten überschütteten mich mit Liebkosungen, wie wenn sie dadurch zeigen wollten, daß wir alte Bekannte wären. Ich ließ alles mit mir geschehen und schwieg.

Die Offiziere begannen die Orgie; ich ahmte ihnen nicht nach, aber meine Zurückhaltung veranlaßte sie nicht, sich Zwang anzutun. Ich sah, an was für einen schlechten Ort ich mich hatte locken lassen, und fühlte meinen ganzen Fehler; aber eine falsche Scham hielt mich ab, einfach fortzugehen. Dies war unrecht von mir, aber ich nahm mir vor, in Zukunft klüger zu sein.

Nach kurzer Zeit wurde ein Abendessen aus einer Sudelküche aufgetragen. Ich aß nicht; um aber nicht unhöflich zu erscheinen, trank ich zwei oder drei Gläschen Ungarwein. Nach dem Essen, das nur sehr kurze Zeit dauerte, brachte man Karten. Ein Offizier legte eine Pharaobank; ich setzte und verlor fünfzig oder sechzig Louis, die ich bei mir hatte. Ich fühlte, daß ich betrunken war; mein Kopf schwindelte mir. Ich wollte aufhören und nach Hause gehen. Aber ich bin niemals so unbegreiflich schwach gewesen, wie an jenem Tage, sei es nun infolge einer falschen Scham, sei es infolge des vergifteten Getränkes, das man mir vorgesetzt hatte. Die edlen Offiziere taten, wie wenn mein Verlust ihnen furchtbar leid täte; sie wollten mir durchaus Gelegenheit geben, mein Geld wieder zurückzugewinnen, und nötigten mich, mit hundert Louis in Marken, die sie mir auszahlten, eine Bank aufzulegen. Ich gab nach und verlor. Ich legte eine neue Bank und verlor abermals. Nun erhitzte sich mein Kopf, meine Trunkenheit wurde immer größer, und der Ärger machte mich blind. Ich verstärkte die Bank fortwährend und verlor immerzu. Um Mitternacht hatten meine ehrenwerten Gauner keine Angst mehr vor meinem Zorn und erklärten, sie wollten nicht weiter spielen. Sie zählten die Marken, und es fand sich, daß ich gegen hunderttausend Franken verloren hatte. Obwohl ich keinen Tropfen Wein mehr getrunken hatte, war ich dermaßen bezecht, daß man einen Tragstuhl mußte kommen lassen, um mich nach meinem Gasthof zu bringen. Beim Auskleiden sagte mein Bedienter mir, ich hätte weder meine Uhren, noch meine goldenen Tabaksdosen.

»Vergiß nicht,« sagte ich zu ihm, »mich morgen früh um vier Uhr zu wecken.«

Hierauf ging ich zu Bett und schlief sehr ruhig.

Als ich am Morgen mich anzog, fand ich in meiner Tasche etwa hundert Louis, über die ich mich sehr verwunderte, denn meine Betäubung war vergangen, und ich erinnerte mich sehr wohl, daß ich sie am Tage vorher nicht bei mir gehabt hatte. Aber ich war ganz und gar mit meiner Lustpartie beschäftigt, und verschob das Nachdenken über dieses Abenteuer und meinen ungeheuren Verlust auf später. Ich ging zur Toscani, und wir fuhren nach Ludwigsburg, wo ich bei einem ausgezeichneten Mittagessen in so heiterer Stimmung war, daß meine Gäste niemals hätten erraten können, welches Unglück mich betroffen hatte. Am Abend kehrten wir nach Stuttgart zurück.

Als ich wieder in meinem Gasthof war, sagte mein Spanier mir, in dem Hause, wo ich am Abend vorher gewesen sei, wisse man weder von meinen Uhren noch von der Tabaksdose das Geringste. Es seien drei Offiziere dagewesen, um mir einen Besuch zu machen. Da sie mich nicht getroffen, hätten sie ihn beauftragt, mir zu sagen, daß sie am nächsten Tage bei mir frühstücken würden.

Sie erschienen denn auch pünktlich.

»Meine Herren,« sagte ich zu ihnen, sobald sie bei mir eingetreten waren, »ich habe eine Summe verloren, die ich nicht bezahlen kann, und die ich sicherlich nicht verloren haben würde, wenn nicht das Gift, das Sie mir in dem Ungarwein vorgesetzt haben, mich betrunken gemacht hätte. Sie haben mich an einen niederträchtigen Ort geführt, wo man mir auf schändliche Weise kostbare Gegenstände im Werte von mehr als dreihundert Louis gestohlen hat. Ich werde mich darüber gegen keinen Menschen beklagen, denn ich muß die Strafe für mein törichtes Vertrauen tragen. Wenn ich klug gewesen wäre, hätte mir nichts geschehen können.«

Sie erhoben ein lautes Geschrei und sprachen davon, daß sie ihrer Ehre wegen gegen mich vorgehen müßten. Aber all ihr Reden war vergeblich; denn ich hatte schon den Entschluß gefaßt, nichts zu bezahlen.

Während wir so miteinander stritten, kamen gerade in dem Augenblicke, wo wir anfingen zornig zu werden, Baletti, die ältere Toscani und die Binetti. Sie hörten den ganzen Streit mit an. Ich ließ für alle ein Frühstück auftragen, und nach dem Essen entfernten meine Freunde sich. Als wir wieder allein waren, machte einer von den drei Spitzbuben mir folgenden Vorschlag: »Wir sind zu anständig mein Herr, um den Nachteil Ihrer Lage gegen Sie auszunützen. Sie haben Unglück gehabt. Aber das kann jedem passieren, und wir wünschen uns nichts Besseres als einen gütlichen Ausgleich. Wir werden uns mit allen Ihren Kleidern, Juwelen, Diamanten, Waffen und mit Ihrem Wagen begnügen. Wir werden dies alles abschätzen lassen, und wenn die Summe, die Sie uns schuldig sind, dadurch nicht gedeckt wird, so werden wir für den Rest Schuldscheine auf einen bestimmten Termin annehmen, und so bleiben wir gute Freunde.«

»Mein Herr, ich wünsche in keiner Form die Freundschaft von Leuten, die mich ausplündern, und ich kann Ihnen durchaus nichts zahlen.«

Hierauf antworteten sie mir mit Drohungen; ich sagte ihnen aber mit der größten Kaltblütigkeit: »Meine Herren, Ihre Drohungen können mich nicht schrecken. Ich sehe nur zwei Möglichkeiten, wie Sie sich bezahlt machen können: entweder beschreiten Sie den Weg der Gerechtigkeit – ich denke, da werde ich leicht einen Advokaten finden, der meine Sache vertritt – oder Sie machen sich an meiner Person bezahlt: mit dem Degen in der Hand in allen Ehren, unter größter Verschwiegenheit und einer nach dem anderen.«

Wie ich erwartet hatte, antworteten sie mir, sie würden mir auf meinen Wunsch die Ehre erweisen, mich zu töten, aber erst nachdem ich sie bezahlt hätte. Fluchend entfernten sie sich, mit der Versicherung, ich würde es zu bereuen haben.

Einige Augenblicke darauf ging ich hinaus, um die Toscani zu besuchen, bei der ich den ganzen Tag in einer Heiterkeit verbrachte, die in meiner Lage nahe an Wahnsinn grenzte. Ich schrieb jedoch diese frohe Stimmung dem Einfluß zu, den die Reize ihrer Tochter auf mich ausübten, und dem Bedürfnis meiner Seele, durch Aufheiterung ihre Spannkraft zurückzugewinnen.

Aber die Mutter, die die Wut der drei Banditen gesehen hatte, stellte mir vor, daß ich mich unbedingt gegen ihre hinterlistigen Anschläge waffnen müßte, indem ich sie gerichtlich belangte. »Wenn Sie sich von den anderen zuvorkommen lassen,« sagte sie, »können diese sich trotz Ihrem guten Recht in eine vorteilhafte Stellung bringen.«

Während ich mich mit ihrer reizenden Tochter tausend süßen Wonnen hingab, ließ sie einen Advokaten holen. Nachdem dieser gehört hatte, worum es sich handelte, sagte er mir, es sei das einfachste, wenn ich sobald wie möglich dem Herzog alles erzählte.

»Jene haben Sie an diesen schlechten Ort geführt; jene haben Ihnen einen vergifteten Wein eingeschenkt, der sie um die Vernunft gebracht. Jene haben Sie trotz dem Verbot des Fürsten zum Spielen verleitet, denn das Spiel ist streng verboten; in der Gesellschaft jener Offiziere hat man Sie Ihrer Kostbarkeiten beraubt, nachdem man Ihnen eine ungeheure Summe abgewonnen hat. Das Verbrechen verdient den Galgen, und es liegt im Interesse des Herzogs, Ihnen Genugtuung zu gewähren, denn ein Hinterhalt dieser Art, woran Offiziere seiner Armee beteiligt sind, muß ihn in den Augen von ganz Europa entehren.«

Ich empfand ein gewisses Widerstreben gegen einen solchen Schritt, denn obgleich der Herzog selber ein schamloser Wüstling war, fühlte ich mich nicht geneigt, ihm so schimpfliche Sachen zu erzählen. Aber der Fall war ernst, und nachdem ich reiflich nachgedacht hatte, entschloß ich mich, am nächsten Tage den Fürsten aufzusuchen.

Der Herzog, sagte ich zu mir, gibt dem ersten besten seiner Untertanen Audienz; warum sollte er mich nicht ebensogut empfangen wie irgendeinen Handwerker?

Ich hielt es daher für überflüssig, an ihn zu schreiben, und machte mich auf den Weg nach dem Schlosse; aber zwanzig Schritte vor dem Tore desselben begegnete ich den drei Herren, die mir unhöflich zuriefen, ich möchte daran denken, sie zu bezahlen, sonst würde es mir schlecht gehen.

Als ich, ohne ihnen zu antworten, meinen Weg fortsetzen wollte, fühlte ich mich heftig am linken Arm gepackt. Eine natürliche Bewegung der Selbstverteidigung führte meine rechte Hand an den Degengriff, und mit wütendem Gesicht zog ich blank. Der Offizier der Schloßwache eilte herzu; ich beklagte mich, daß die Herren mich mit Gewalt verhindern wollten, mit dem Fürsten zu sprechen. Der Wachtposten wurde befragt und erklärte ebenso wie eine Menge von anwesenden Personen, daß ich nur zu meiner Verteidigung den Degen gezogen hätte; der Offizier entschied daher, daß niemand mich verhindern dürfte, in das Schloß zu gehen.

Man ließ mich ohne Hindernis bis ins letzte Vorzimmer gelangen. Ich wandte mich an den Kammerherren und bat um Audienz; er versicherte mir, ich würde vorgelassen werden. Aber einen Augenblick darauf erschien der Unverschämte, der mich beim Arm gepackt hatte, und sprach auf deutsch mit dem Offizier, der die Dienste des Kammerherrn versah. Er sagte ihm, was er wollte, ohne daß ich ihm widersprechen konnte, und natürlich lautete seine Aussage nicht zu meinen Gunsten, übrigens war es nicht unmöglich, daß auch der Kammerherr-Offizier zur Clique gehörte, und so war ich von Kaiphas an Pilatus geraten. Eine Stunde verging, ohne daß ich zum Fürsten vordringen konnte, und als der Offizier sich einen Augenblick entfernt hatte, sagte der Herr, der mir versichert hatte, der Herrscher werde mich anhören: ich könne wieder nach Hause gehen. Der Herzog sei von allem unterrichtet und mir werde ohne Zweifel Gerechtigkeit widerfahren.

Ich sah sofort, daß ich nichts erreichen würde, und dachte daher auf dem Heimwege darüber nach, wie ich mich aus der Klemme ziehen könnte. Ich begegnete Binetti, der meine Lage kannte; er lud mich ein, bei ihm zu speisen, und versicherte mir, der Wiener Gesandte würde mich in seinen Schutz nehmen; dadurch würde ich vor den Gewalttätigkeiten sicher sein, die die Gauner ohne Zweifel gegen mich zu üben versuchen würden, trotz allen Versicherungen, die ich von dem Offizier im Vorzimmer erhalten hätte. Ich nahm die Einladung an, und seine reizende Frau, der meine Lage wirklich zu Herzen ging, verlor keinen Augenblick, den Gesandten, ihren Liebhaber, von allem zu unterrichten.

Der Diplomat kam mit ihr, ließ sich von mir die Geschichte ausführlich erzählen und sagte mir: »Der Herzog weiß wahrscheinlich nichts davon; schreiben Sie einen kurzen Bericht über den hinterlistigen Überfall nieder. Ich werde Ihre Schrift dem Fürsten übergeben und bezweifle nicht, daß Ihnen Gerechtigkeit zuteil werden wird.«

Ich setzte mich an den Schreibtisch der Binetti und verfaßte einen wahrheitsgetreuen Bericht; diesen übergab ich unversiegelt dem Gesandten, der mir versicherte, meine Angelegenheit werde innerhalb einer Stunde dem Herzog bekannt sein.

Bei Tisch wiederholte meine Landsmännin mir ihre feste Versicherung, daß ihr Liebhaber mich beschützen würde. Wir verbrachten den Tag ziemlich heiter; aber gegen Abend kam mein Spanier und meldete mir: »Wenn Sie in Ihren Gasthof zurückkehren, werden Sie verhaftet werden; denn ein Offizier ist in Ihr Zimmer gekommen; da er Sie nicht gefunden hat, hat er sich vor die Haustür gestellt, und unten an der Treppe warten zwei Soldaten, die er bei sich hat.«

Die Vinetti sagte zu mir: »Gehen Sie nicht nach Hause, sondern schlafen Sie hier, wo Sie keine Belästigung zu befürchten haben. Lassen Sie sich die Sachen holen, die Sie brauchen, und warten wir ab.«

Ich gab meine Befehle, und mein Spanier holte mir meine Sachen.

Um Mitternacht kam der Gesandte; wir waren noch nicht zu Bett gegangen, und er war damit einverstanden, daß seine Schöne mir Zuflucht gewährt hatte. Er versicherte mir, meine Eingabe sei dem Fürsten übergeben worden; aber während der drei Tage, die ich in diesem Hause verbrachte, hörte ich kein Wort vom Erfolg derselben.

Am vierten Tage, während ich alle möglichen Leute um Rat fragte, was ich tun sollte, erhielt der Gesandte einen Brief vom Staatsminister. Dieser bat ihn im Auftrage seines Herrn, mich aus seinem Hause zu weisen, da ich einen Prozeß mit Offizieren Seiner Hoheit auszumachen habe; solange er mich aber in seinem Hause behalte, könne die Gerechtigkeit nicht ihren Lauf nehmen.

Der Gesandte gab mir diesen Brief, worin der Minister außerdem versprach, daß den Beteiligten volle Gerechtigkeit widerfahren solle. Ich mußte mich also wohl entschließen, wieder in meinen Gasthof zu gehen, aber die Binetti war darüber so wütend, daß sie den Gesandten beschimpfte. Dieser lachte aber nur darüber und sagte, er könne mich gegen den Willen des Fürsten nicht bei sich behalten. Da ich kein Untertan des Kaisers war, so hatte er recht.

Ich ging also in meinen Gasthof, ohne einen Menschen zu sehen; aber nachdem ich gespeist hatte, brachte gerade in dem Augenblicke, wo ich mich mit meinem Anwalt besprechen wollte, ein Gerichtsbote mir eine Vorladung, die mir von meinem Wirt übersetzt wurde. Ich wurde darin aufgefordert, auf der Stelle bei einem Notar Soundso zu erscheinen, der den Auftrag hätte, meine Aussage zu Protokoll zu nehmen. Ich ging mit dem Gerichtsboten zu ihm und verbrachte zwei Stunden bei diesem Mann, der alles, was ich ihm auf Latein sagte, deutsch niederschrieb. Als er fertig war, forderte er mich auf, das Protokoll zu unterschreiben. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich nicht ein Schriftstück unterzeichnen würde, welches ich weder lesen noch verstehen könnte. Er bestand auf seinem Verlangen, aber ich blieb unerschütterlich. Er geriet in Zorn und erklärte es für unpassend, daß ich die Rechtlichkeit eines Notars anzweifeln könnte. Ich antwortete ihm ruhig: ich zweifele durchaus nicht an seiner Rechtlichkeit, aber ich handele nach einem Gebot der Vorsicht; da ich nicht verstände, was er geschrieben habe, so erscheine es mir ganz natürlich, daß er auf meine Unterschrift verzichtet. Vom Hause des Notars ließ ich mich zu meinem Anwalt führen, der mein Verhalten lobte und mir versprach, am nächsten Tage zu mir zu kommen und sich von mir Vollmacht geben zu lassen.

»Alsdann,« sagte er zu mir, »wird Ihre Sache ganz die meinige sein.«

Dies tröstete mich, denn der Mann flößte mir Vertrauen ein. Ich ging nach Hause, aß gut zu Abend, legte mich zu Bett und schlief in der allergrößten Ruhe. Aber beim Erwachen meldete mein Spanier mir einen Offizier, der ihm auf dem Fuße folgte und mir in gutem Französisch sagte, ich dürfe mich nicht wundern, Stubengefangener zu sein; denn da ich Ausländer sei und einen Prozeß habe, so sei es nur in der Ordnung, wenn meine Gegenpartei sich dagegen sichere, daß ich mich vor der Entscheidung des Prozesses entferne. Er verlangte mir höflich meinen Degen ab, den ich ihm zu meinem größten Bedauern geben mußte. Er hatte einen Stahlgriff von wunderschöner Arbeit und war ein Geschenk der Marquise d’Urfé; er war mindestens fünfzig Louis wert.

Ich schrieb an meinen Anwalt und teilte ihm den Vorfall mit; er suchte mich auf und versicherte mir, mein Arrest werde nur wenige Tage dauern. Da ich zu Hause bleiben mußte, ließ ich meinen Freunden Bescheid sagen. Ich empfing die Besuche der Tänzer und Tänzerinnen, die in diesem unglückseligen Stuttgart, das mein Fuß niemals hätte betreten sollen, die einzigen mir bekannten anständigen Leute waren. Meine Lage war nicht eben erfreulich: durch ein Glas Wein vergiftet, betrogen, bestohlen, beschimpft, sah ich mich meiner Freiheit beraubt und von der Notwendigkeit bedroht, hunderttausend Franken zu bezahlen, zu deren Deckung ich mich bis aufs Hemd hätte ausplündern lassen müssen, da niemand wußte, welche Summen ich in meiner Brieftasche hatte. Ich war wie betäubt. Ich hatte an Madame, die Gardella, geschrieben; aber ohne Erfolg, denn ich erhielt nicht einmal eine Antwort. Die Binetti, die Toscani und Baletti, die bei mir zu Mittag oder zu Abend speisten, waren mein ganzer Trost. Meine drei Gauner waren einzeln zu mir gekommen, und jeder hatte mich zu überreden gesucht, ihm ohne Vorwissen der anderen Geld zu geben; dafür versprach mir ein jeder von ihnen, mich aus meiner Verlegenheit zu erlösen. Jeder von ihnen würde sich mit drei- oder vierhundert Louis begnügt haben, aber selbst wenn ich diese Summe dem einen gegeben, so wäre ich nicht sicher gewesen, daß die beiden anderen ihre Ansprüche aufgegeben hätten. Ich hätte dadurch diese Ansprüche gewissermaßen gerechtfertigt und meine Lage nur verschlimmert. Ich sagte ihnen daher, sie langweilten mich und ich wäre ihnen dankbar, wenn sie mich nicht mehr mit ihrer Gegenwart belästigen wollten.

Am fünften Tage nach meiner Verhaftung reiste der Herzog nach Frankfurt, und an demselben Tage sagte die Binetti mir im Auftrage ihres Liebhabers, der Herzog habe den Offizieren versprochen, sich nicht in diese Angelegenheit einzumischen; infolgedessen sei ich in Gefahr, das Opfer eines ungerechten Urteils zu werden. Er rate mir daher, alle meine Kleider, Kleinodien und Diamanten zu opfern, um die Ansprüche meiner Gegner zu befriedigen und meiner Angelegenheit ein Ende zu machen. Die Binetti billigte als vernünftige Frau diesen Rat durchaus nicht, und mir gefiel er noch weniger als ihr; aber sie hatte versprochen, diesen Auftrag auszurichten.

Ich besaß Juwelen und Spitzen für mehr als hunderttausend Franken, aber ich konnte mich nicht entschließen, diese zu opfern. Ich schwamm in einem Meer von Ungewißheit, als mein Anwalt eintrat und mir folgendes sagte:

»Mein Herr, alles, was ich zu tun vermochte, war zwecklos. Es besteht eine Clique gegen Sie – eine Clique, die von hoher Stelle unterstützt zu werden scheint und alle Gerechtigkeit zum Schweigen bringt. Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Sie verloren sind, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich mit den Spitzbuben zu einigen. Der Urteilsspruch des Polizeirichters, der genau so ein Schelm ist wie die anderen, wird einfach summarisch sein; denn als Ausländer dürfen Sie nicht erwarten, daß Ihre Angelegenheit auf dem Wege des gewöhnlichen Gerichtsverfahrens erledigt wird. Um dies zu erreichen, müßten Sie eine Bürgschaft stellen können. Man hat sich Zeugen zu verschaffen gewußt, welche aussagen, daß Sie ein gewerbsmäßiger Spieler sind, daß Sie die drei Offiziere zu ihrem Landsmann Poccini verschleppt haben, daß Ihre Behauptung, man habe Sie betrunken gemacht, nicht wahr ist, und daß Sie weder Ihre Uhren noch Ihre Dosen verloren haben, denn man behauptet, diese würden sich in Ihren Koffern finden, wenn man ein Verzeichnis Ihrer Sachen aufnähme. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß dies morgen oder übermorgen geschehen wird, und zweifeln Sie vor allen Dingen nicht an der Wahrheit alles dessen, was ich Ihnen sage; Sie würden es zu spät bereuen. Man wird hierher kommen und Ihren Koffer, Ihren Schmuckkasten und Ihre Taschen leeren; man wird ein Verzeichnis von allem aufnehmen und noch am selben Tage alles versteigern. Wenn der Erlös die Schuld übersteigt, wird der Rest dazu verwandt werden, die Kosten zu decken, und was Sie wieder herausbekommen, wird sehr wenig sein; wenn die Summe nicht genügt, um Schuld und Kosten des Verfahrens, des Arrestes, der Versteigerung usw. zu bezahlen, wird man Sie, mein Herr, als gemeinen Soldaten in die Truppen Seiner allerdurchlauchtigsten Hoheit einreihen. Ich habe den Offizier, der Ihr Hauptgläubiger ist, sagen hören: man werde die vier Louis, die Sie als Handgeld zu bekommen haben, mit verrechnen, und der Herzog werde sehr erfreut sein, einen so schönen Rekruten zu bekommen.«

Der Advokat ging fort, ohne daß ich es merkte, denn seine Rede hatte mich völlig versteinert. Ich war in einer solchen Aufregung, daß es in Verlauf von weniger als einer Stunde mir so vorkam, wie wenn alle Flüssigkeiten meines Körpers einen Ausgang suchten. Ich Soldat eines kleinen Fürsten wie der Herzog, der nur von dem entsetzlichen Handel mit Menschenfleisch lebte, den er wie der Kurfürst von Hessen betrieb! Ich von Gaunern ausgeplündert! Ich von einem ungerechten Urteilsspruch bedroht! Dies darf nicht sein! Suchen wir auf irgendeine Weise Zeit zu gewinnen!

Zunächst schrieb ich meinen Hauptgläubigern, ich hätte mich entschlossen, mit ihnen einen vernünftigen Vergleich abzuschließen, aber ich wünschte, daß alle drei mit Zeugen beim Notar anwesend wären, um ihren Beitritt zu dem Übereinkommen rechtskräftig zu machen, damit ich abreisen könnte.

Ich berechnete, daß auf alle Fälle einer von den dreien am nächsten Tage auf Wache sein müßte, so daß ich zum mindesten einen Tag gewinnen würde. Inzwischen würde, so hoffte ich, mir irgendein Mittel einfallen, um aus der Klemme herauszukommen.

Hierauf schrieb ich einen Brief an den Polizeipräsidenten, den ich mit Exzellenz und Gnädiger Herr anredete und um seinen mächtigen Schutz bat. Ich schrieb ihm, ich hätte mich entschlossen, meine Sachen zu verkaufen, um dem Gerichtsverfahren, womit man mich bedrohte, ein Ende zu machen; ich bat ihn, das Verfahren aufzuschieben, da die Kosten desselben nur meine Verlegenheit vergrößern würden. Außerdem bat ich ihn, mir einen rechtlichen Mann zu schicken, der meine Sachen nach ihrem wahren Werte abschätzen würde, sobald ich mich mit meinen Gläubigern geeinigt hätte; ferner bat ich ihn, bei den Offizieren sich zu meinen Gunsten ins Mittel zu legen. Als ich mit meinen Briefen fertig war, ließ ich sie durch meinen Spanier bestellen.

Der Offizier, an den ich geschrieben hatte, und der nach seiner Behauptung zweitausend Louis bekommen sollte, besuchte mich nach dem Mittagessen. Ich lag im Bett und sagte ihm, ich glaube, ich hätte Fieber. Er sprach mit mir in gefühlvollem Ton, und, mochte nun dieser aufrichtig oder erheuchelt sein, jedenfalls freute er mich. Er sagte mir, er habe mit dem Polizeipräsidenten gesprochen, und dieser habe ihm meinen Brief zu lesen gegeben. »Es ist das beste, was Sie tun können, wenn Sie einem Vergleich zustimmen; aber wir brauchen nicht alle drei anwesend zu sein. Ich werde von den beiden anderen Vollmacht erhalten, und dies wird dem Notar genügen.«

Ich antwortete ihm hierauf: »Mein Herr, ich bin so unglücklich, daß Sie mir nicht die Genugtuung versagen dürfen, Sie alle drei beisammen zu sehen; ich glaube nicht, daß Sie mir diesen Wunsch abschlagen können.«

»Nun, so geschehe es denn nach Ihrem Wunsch; aber, wenn Sie es eilig haben, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß dieser Wunsch erst am Montag erfüllt werden kann; denn an jedem der nächsten vier Tage ist einer von uns auf Wache.«

»Dies tut mir leid, aber ich werde bis Montag warten. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß bis dahin jedes gerichtliche Verfahren unterbleibt.«

»Ich gebe es Ihnen, hier meine Hand darauf; Sie können sich darauf verlassen, aber dafür möchte auch ich Sie um eine Gefälligkeit bitten. Ihr Reisewagen gefällt mir; überlassen Sie ihn mir für den Preis, den er Ihnen gekostet hat.«

»Gern.«

»Wollen Sie, bitte, den Wirt rufen und ihm in meiner Gegenwart sagen, daß der Wagen mir gehört.«

Ich ließ den Wirt hereinkommen und sagte ihm, was der Kerl wünschte; aber der Wirt sagte ihm, er könnte über den Wagen verfügen, sobald seine Rechnung bezahlt wäre. Hierauf wandte er ihm den Rücken und ging hinaus.

»Ich bin vollkommen sicher, daß ich den Wagen bekommen werde!« sagte der Offizier lachend; hierauf umarmte er mich und ging.

Dieses Gespräch hatte mir so wohl getan, daß ich mich schon halb wieder gesund fühlte. Vier Tage vor mir! Es war ein Glücksfall!

Einige Stunden später kam ein anständig aussehender Mann, der gut italienisch sprach, im Auftrage des Polizeipräsidenten zu mir und sagte mir, meine Gläubiger würden am nächsten Montag beisammen sein und er selber würde beauftragt sein, meine Sachen abzuschätzen. Er riet mir, in den Vergleich die Bedingung aufnehmen zu lassen, daß meine Sachen nicht versteigert werden dürften, sondern daß meine Gläubiger sich an die Preise seiner Schätzung zu halten hätten. Er versprach mir, ich würde mir zu diesem Rate Glück wünschen dürfen, wenn ich ihn befolgte.

Nachdem ich ihm gesagt hatte, er werde seinerseits mit mir zufrieden sein, stand ich auf und bat ihn, den Inhalt meines Koffers und meines Schmuckkastens prüfen zu wollen. Er tat dies und sagte mir, meine Spitzen allein seien zwanzigtausend Franken wert. »Sie haben Sachen im Werte von mehr als hunderttausend Franken, mein Herr, aber ich verspreche Ihnen auf mein Wort, daß ich den Offizieren im geheimen gerade das Gegenteil sagen werde. Versuchen Sie Ihre Gegner dahin zu bringen, daß sie sich mit der Hälfte ihrer Forderung begnügen, und Sie können mit der Hälfte Ihrer Sachen abreisen.«

»Für diesen Fall, mein Herr, verspreche ich Ihnen fünfzig Louis; einstweilen nehmen Sie, bitte, diese sechs auf Abschlag.«

»Ich nehme sie dankbar an. Zählen Sie auf meine Ergebenheit! Die ganze Stadt weiß, daß Ihre Gläubiger Spitzbuben sind, und der Herzog weiß es ebensogut wie alle anderen; aber er hat seine Gründe, um ihre Räubereien scheinbar nicht zu bemerken.«

Ich atmete auf und dachte nur noch daran, meine Zeit auszunützen, um mit meinem ganzen Gepäck, leider mit Ausnahme meines schönen Wagens, die Flucht zu ergreifen. Ich hatte eine schwierige Aufgabe vor mir, aber ich war nicht unter den Bleidächern und die Erinnerung an meine große Flucht erhöhte meinen Mut.

Zunächst lud ich die Toscani, Baletti und den Tänzer Binetti zum Abendessen ein, denn ich mußte mich mit Leuten in Verbindung setzen, die von dem Zorne meiner drei Gauner nichts zu fürchten hatten und auf deren Freundschaft ich rechnen konnte.

Nachdem wir gut gespeist hatten, schilderte ich meinen Gästen alle Umstände meiner Lage und sagte ihnen, daß ich entschlossen sei, zu entfliehen, ohne etwas von meinen Sachen herzugeben. »Und nun, meine Freunde, sagen Sie mir Ihre Meinung!«

Nach einem kurzen Schweigen sagte Binetti mir: wenn ich meinen Gasthof verlassen und mich zu ihm begeben konnte, so würde es mir wohl möglich sein, aus einem der Fenster seines Hauses zu steigen. Wäre ich nur einmal auf fester Erde, so befände ich mich auch außerhalb der Stadt, hundert Schritte von der Landstraße entfernt; ich könnte von dort mit der Post abreisen und würde vor Tagesanbruch jenseits der Grenze des Herzogtums sein.

Baletti stand auf, öffnete das Fenster und fand, daß ich es nicht wagen konnte, auf diesem Wege den Gasthof zu verlassen; denn unterhalb des Fensters befinde sich das Dach einer Bretterbude. Ich überzeugte mich mit meinen eigenen Augen, daß er recht hatte, und sagte, ich würde wohl irgendeinen anderen Weg finden, um den Gasthof zu verlassen; aber was mich in Verlegenheit setzte, wäre mein Gepäck.

Hierauf sagte die Toscani: »Sie müssen Ihre Koffer im Stich lassen; denn es ist nicht möglich, diese unvermerkt fortzuschaffen, und müssen alle Ihre Sachen zu mir schicken. Ich verpflichte mich, Ihnen alles, was Sie mir anvertrauen, sicher nach dem Ort zu schicken, wo Sie zuerst Halt machen werden. Ich werde in verschiedenen Gängen alles unter meinen Kleidern fortbringen und kann damit schon heute Abend beginnen.«

Baletti fand diese Idee gut und sagte mir, seine Frau werde ebenfalls kommen, um die Ausführung zu beschleunigen. Wir entschieden uns also dafür, und ich versprach der Binetti, in der Nacht vom Sonntag zum Montag pünktlich um zwölf Uhr zu ihr zu kommen, und wenn ich auch den Wachtposten erdolchen müßte, den ich tagsüber stets vor meiner Zimmertür hatte, der aber während der Nacht sich entfernte und erst am Morgen wieder kam; bevor er ging, schloß er die Tür ab. Baletti versprach mir, einen treuen Diener mir zur Verfügung zu stellen, und sagte, ich würde auf der Landstraße eine vierspännige Postkutsche finden und auf dieser mein ganzes Gepäck in anderen Koffern. Um die Zeit nicht unbenutzt zu lassen, begann die Toscani sofort sich zu beladen, indem sie zwei Anzüge unter ihrem Rock befestigte. Während der nächsten Tage arbeiteten die drei Damen und meine beiden Freunde so fleißig, daß am Samstag um Mitternacht meine Koffer, meine Schatulle und mein Necessaire leer waren; alle Juwelen behielt ich zurück, um sie in meinen Taschen fortzutragen. Am Sonntag brachte die Toscani mir die Schlüssel von zwei Koffern, worin sie sorgsam alle meine Sachen verpackt hatte; Baletti kam ebenfalls und teilte mir mit, daß alle Maßnahmen getroffen seien, und daß ein guter Reisewagen mit seinem Bedienten von Mitternacht an auf der Landstraße auf mich warten würden.

Dies alles war für mich sehr befriedigend. Um meinen Gasthof zu verlassen, machte ich folgendes:

Der Soldat, der mich bewachte, hielt sich in einem kleinen Vorzimmer auf, in welchem er auf und ab ging; mein Zimmer betrat er niemals, außer wenn ich ihn rief. Sobald er wußte, daß ich im Bett lag, schloß er meine Tür zu und entfernte sich bis zum nächsten Morgen. Außerdem pflegte er an einem Tischchen in einer Ecke des Vorzimmers zu Abend zu essen, was ich ihm von meinen Speisen zukommen ließ. Ich hatte diese Gewohnheiten genau beobachtet, und gab daraufhin meinem Spanier folgende Anweisungen:

»Nach dem Abendessen werde ich nicht zu Bett gehen, sondern mich bereit halten, mein Zimmer zu verlassen; ich werde hinausgehen, sobald ich draußen kein Licht mehr sehe. Doch werde ich mein Licht so stellen, daß man meinen Schatten nicht bemerken kann, und daß kein heller Schein durch die Tür fällt. Bin ich erst einmal aus meinem Zimmer heraus, so werde ich ohne Schwierigkeit die Treppe erreichen, und alles ist in Ordnung. Ich werde zu Binetti gehen; von seinem Hause aus werde ich die Stadt verlassen, und in Fürstenberg werde ich auf dich warten. Kein Mensch wird dich verhindern können, morgen oder übermorgen abzureisen. Sobald du mich in meinem Zimmer bereit siehst – und dies wird sein, während der Soldat zu Abend ißt – wirst du die Kerze auslöschen, die auf seinem Tische steht; dies kannst du leicht tun, indem du den Docht putzest. Du nimmst sofort das Licht, um es wieder anzuzünden, und den Augenblick, wo du in mein Zimmer trittst, werde ich benützen, um im Schutze der Dunkelheit mich zu entfernen. Sobald du denkst, daß ich das Vorzimmer verlassen haben müßte, kommst du mit der angezündeten Kerze zum Soldaten zurück; hierauf hilfst du ihm langsam seine Flasche austrinken. Inzwischen werde ich in Sicherheit sein. Du wirst ihm sagen, daß ich zu Bett gegangen sei; er wird eintreten, mir gute Nacht wünschen, die Tür verschließen, den Schlüssel in die Tasche stecken und mit dir fortgehen. Es ist nicht anzunehmen, daß er mit dir wird sprechen wollen, wenn du ihm sagst, daß ich schon zu Bett gegangen sei.«

Da es jedoch immerhin möglich war, daß der Soldat mich zu sehen wünschte, so legte ich auf das Kopfkissen einen Perückenkopf, über welchen ich eine Nachtmütze gezogen hatte und zog die Decke so zurecht, daß der Soldat bei einem flüchtigen Blick getäuscht werden mußte.

Alles ging ausgezeichnet, wie ich später von meinem Spanier erfuhr. Während dieser mit meinem Wächter trank, zog ich meinen Pelz an, schnallte meinen Hirschfänger um – denn ich hatte keinen Degen mehr – und steckte zwei geladene Pistolen in meine Taschen. Sobald ich an der Dunkelheit erkannte, daß Leduc das Licht ausgelöscht hatte, ging ich leise hinaus und kam ohne das geringste Geräusch an die Treppe. Als ich einmal dort war, war das übrige leicht; denn die Treppe führte auf den Flur und die Haustür stand stets bis nach Mitternacht offen.

Mit großen Schritten eilte ich die Straße entlang und kam um dreiviertel Zwölf bei Binetti an, dessen Frau mich am Fenster erwartete. Als ich in ihrem Zimmer war, von wo aus ich meine Flucht bewerkstelligen sollte, verloren wir keine Zeit; ich warf durch das Fenster meinen Pelz Baletti zu, der unten im Graben bis an die Waden im Schlamm stand; nachdem ich einen starken Strick fest um meinen Leib gebunden hatte, umarmte ich die Binetti und die kleine Baletti, die mich an dem Strick, der um ein Stück Holz gewickelt war, ganz sanft hinuntergleiten ließen. Baletti fing mich mit seinen Armen auf; ich schnitt den Strick durch, zog meinen Pelz wieder an und folgte meinem lieben Baletti.

Wir durchwateten den Schlamm, indem wir bis an die Knie einsanken, brachen uns mit vieler Mühe einen Weg durch die Hecken und gelangten endlich auf die Landstraße. Wir waren sehr ermüdet, obwohl die Straße in gerader Richtung nicht mehr als vierhundert Schritte von dem Hause entfernt war. In geringer Entfernung fanden wir vor der Tür einer kleinen Schenke den Wagen, worin Balettis Bedienter saß. Er stieg aus und sagte uns, der Postillon sei in die Schenke gegangen, um ein Glas Bier zu trinken und seine Pfeife anzuzünden. Ich belohnte den treuen Diener, setzte mich an dessen Stelle in den Wagen, umarmte seinen Herrn, und bat sie, zu gehen und das Weitere mir zu überlassen.

Es war der 2. April 1760, mein Geburtstag und ein bemerkenswerter Tag in der Geschichte meines Lebens, da fast keiner vergangen ist, ohne daß mir etwas Glückliches oder Unglückliches zugestoßen wäre.

Ich saß seit zwei oder drei Minuten im Wagen, als der Postillon herauskam und mich fragte, ob wir noch lange zu warten hätten. Er glaubte mit derselben Person zu sprechen, die vorher im Wagen gewesen war, und ich hütete mich natürlich, ihm seinen Irrtum zu benehmen, sondern sagte zu ihm: »Vorwärts und fahre in einem zu bis Tübingen, ohne in Waldenbuch die Pferde zu wechseln.« Er gehorchte, und wir fuhren mit großer Schnelligkeit; aber das Gesicht, das er machte, als er in Tübingen mich zu sehen bekam, war so komisch, daß ich beinahe laut aufgelacht hätte. Balettis Diener war jung und klein. Ich war groß und vollkommen ausgewachsen. Er riß die Augen weit auf und sagte, ich sei nicht derselbe Herr, mit dem er abgefahren sei. »Du warst betrunken«, sagte ich zu ihm. Zugleich drückte ich ihm ein viermal so großes Trinkgeld in die Hand, als er sonst zu erhalten pflegte, und der arme Teufel erwiderte kein Wort mehr. Wer hätte nicht die Erfahrung gemacht, daß es fast immer, um Recht zu behalten, das beste Mittel ist, nicht aufs Geld zu sehen! Ich reiste sofort weiter und machte erst Halt, als ich auf Fürstenbergischem Gebiet war; hier war ich in voller Sicherheit. Ich hatte unterwegs nichts gegessen und hatte bei meiner Ankunft in dem Gasthof einen Riesenhunger. Ich ließ mir ein gutes Nachtessen auftragen; hierauf ging ich zu Bett und hatte einen friedlichen Schlaf. Nach meinem Erwachen ließ ich mir Papier bringen und schrieb an jeden meiner drei Spitzbuben einen gleichlautenden Brief. Ich versprach ihnen, drei Tage in Fürstenberg auf sie zu warten und forderte sie in den stärksten Ausdrücken zum Zweikampf heraus, indem ich ihnen bei meiner Ehre schwor, daß ich ihre Feigheit öffentlich bekannt machen würde, wenn sie sich weigern sollten, sich mit mir zu messen. Hierauf schrieb ich an die Toscani, an Baletti und an die liebenswürdige Geliebte des österreichischen Gesandten, empfahl ihnen Leduc und dankte ihnen für ihre freundschaftliche Hilfe.

Die drei Spitzbuben kamen nicht, aber die beiden sehr schönen Töchter des Wirtes ließen mich meine drei Wartetage auf die angenehmste Weise verbringen. Am vierten Tage gegen Mittag hatte ich das Vergnügen, meinen treuen Spanier, mit seinem Mantelsack auf dem Sattel, angesprengt kommen zu sehen. Er sagte zu mir: »Gnädiger Herr, in Stuttgart weiß jedermann, daß Sie hier sind, und es steht zu befürchten, daß die drei Offiziere, die zu feige sind, um einen Zweikampf anzunehmen, Sie ermorden lassen. Wenn Sie vernünftig sind, reisen Sie sofort nach der Schweiz ab.«

»Du bist also selber ein rechter Feigling, mein armer Junge«, sagte ich zu ihm; »sei meinetwegen unbesorgt und erzähle mir alles, was nach meiner Abreise vorgefallen ist.«

»Gnädiger Herr, sobald Sie hinaus waren, machte ich alles, wie Sie es mir gesagt hatten; ich half dem armen Teufel seine Flasche austrinken – was er ganz gut auch alleine hätte fertig bringen können – und sagte ihm hierauf, Sie seien zu Bett gegangen; er schloß wie gewöhnlich die Tür zu und ging, nachdem er mir die Hand geschüttelt hatte. Als er fort war, legte ich mich zu Bett. Am anderen Morgen war der biedere Soldat um neun Uhr auf seinem Posten, und um zehn Uhr kamen die drei Offiziere. Ich sagte ihnen, Sie schliefen noch, worauf sie fortgingen, indem sie mir befahlen, ihnen im Kaffeehause nebenan Bescheid zu sagen, sobald Sie aufgestanden wären. Nachdem sie lange gewartet hatten, ohne mich kommen zu sehen, erschienen sie um zwölf Uhr wieder und befahlen dem Soldaten die Tür zu öffnen. Da hatte ich denn einen sehr netten Anblick, obgleich ich mich inmitten der drei Spitzbuben in großer Gefahr befand.

Sie treten ein, sehen den Perückenkopf, den sie für Ihren Kopf halten, gehen an das Bett heran und sagen Ihnen höflich guten Tag. Da Sie nicht antworten, schüttelt der eine von ihnen Sie, und plumps! rollt der Perückenkopf auf den Fußboden; ich stoße ein lautes Lachen aus, das ich nicht zurückhalten kann, da ich ihre Verblüffung sehe.

›Du lachst, Lümmel, du wirst uns sagen, wo dein Herr ist.‹ Diese wütenden Worte waren von einigen Stockschlägen begleitet.

Ich bin nicht der Mann, mir eine solche Behandlung gefallen zu lassen, und sagte ihnen mit einem kräftigen Fluch: wenn sie das nochmals täten, würde ich mich verteidigen, ich wäre nicht der Hüter meines Herrn und sie brauchten nur den Wachtposten zu befragen. Sie taten dies und der Soldat schwor bei allen Heiligen, Sie könnten nur durch das Fenster entflohen sein. Trotz seiner Versicherung rief man einen Korporal, und der arme Kerl wurde ins Gefängnis geschickt, so unschuldig er auch war.

Der Wirt hatte den Lärm im Zimmer gehört; er kam herauf, öffnete ihre Koffer und sagte, als er diese leer sah, Ihr Reisewagen wäre ihm eine genügende Bezahlung; er lächelte nur, als der eine Offizier behauptete, Sie hätten ihm den Wagen abgetreten. Ein höherer Offizier kam dazu; er erklärte, Sie könnten nur durch das Fenster entflohen sein, und befahl infolgedessen die Schildwache sofort in Freiheit zu setzen. Gegen mich aber nahm man sich die fürchterlichsten Ungerechtigkeiten heraus; denn da ich mich des Lachens nicht enthalten konnte und auf alle Fragen nur mit einem Ich weiß es nicht antwortete, so erlaubten die Herren sich, mich ins Gefängnis zu schicken, indem sie mir sagten, man würde mich so lange festhalten, bis ich erklärte, wo Sie oder doch wenigstens Ihre Sachen wären.

Am nächsten Tage kam einer von ihnen ins Gefängnis und sagte mir, wenn ich bei meinem Schweigen bliebe, so würde ich unfehlbar zum Zuchthaus verurteilt. Ich antwortete ihm: ›Auf Spanierwort, ich weiß es nicht. Aber selbst wenn ich es wüßte, würden Sie niemals ein solches Geständnis von mir erpressen, denn niemand kann einem ehrlichen Diener vorschreiben, seinen Herrn anzugeben‹. Auf diese Worte hin befahl der Spitzbube dem Kerkermeister mir eine Tracht Prügel zu geben; hierauf ließ man mich frei.

Mir tat der Buckel ein bißchen weh, aber ich war stolz, meine Pflicht getan zu haben, und froh, so billig davon gekommen zu sein. Zum Schlafen ging ich in den Gasthof, wo ich gut aufgenommen wurde. Am nächsten Morgen wußte ganz Stuttgart, daß Sie hier wären und den drei Gaunern eine Herausforderung geschickt hätten; aber ein jeder sagte, sie würden nicht so verrückt sein, mit Ihrer eigenen Person einzustehen. Frau Valetti bittet Sie jedoch, von hier abzureisen, weil jene Leute imstande wären, Sie ermorden zu lassen. Der Wirt hat Ihren Reisewagen und Ihre Koffer an den Wiener Gesandten verkauft, der, wie man sagt, Sie aus der Wohnung seiner Geliebten durch ein Fenster hat entwischen lassen. Was mich anbetrifft, so bin ich ohne Hindernis hier angekommen.«

Drei Stunden nach Leducs Ankunft nahm ich die Post und fuhr nach Schaffhausen und von dort mit einem Mietfuhrwerk nach Zürich, weil es in der Schweiz keine Post gibt. Ich stieg in dem ausgezeichneten Gasthof zum Schwert ab.

Als ich nach dem Abendessen allein in dem glänzendsten Speisesaal der ganzen Schweiz saß, wohin ich gleichsam wie aus den Wolken gefallen war – denn ich hatte vorher nicht die geringste Absicht gehabt, nach Zürich zu gehen – überließ ich mich tausend Betrachtungen über meine augenblickliche Lage und mein vergangenes Leben. Ich rief mir meine Unglücksfälle ins Gedächtnis zurück und prüfte mein Verhalten. Ich erkannte gar bald, daß alle Unannehmlichkeiten mir durch meine eigene Schuld zugestoßen waren, und daß ich fast immer mit meinem Glück Scherz getrieben hatte, wenn es mich mit seinen Gaben überschüttete. Ich hatte mich soeben aus einer Schlinge gezogen, in der ich trotz meiner Unschuld Tod oder Schande finden konnte, und ich erzitterte bei diesem Gedanken. Ich faßte den Entschluß, in Zukunft nicht mehr ein Spielball des Glücks zu sein und mich vom Zufall gänzlich unabhängig zu machen. Ich stellte ein Verzeichnis meines Vermögens auf und fand, daß ich dreihunderttausend Franken besaß. Dies genügt, sagte ich zu mir selber, um vor allen Wechselfällen geschützt eine sichere Existenz zu führen, und ich werde in einem vollkommenen Frieden das wahre Glück finden! Voll von diesen Gedanken ging ich zu Bett und verbrachte eine köstliche Nacht in wundervollen Träumen. Ich sah mich in einer friedlichen Einsamkeit in Überfluß und Ruhe; mir war’s, wie wenn ich mich inmitten einer schönen Landschaft befände, deren Herr ich wäre und wo ich einer Freiheit genösse, die der Mensch vergeblich in der Welt sucht. Natürlich träumte ich; aber in meinem Traum kam es mir vor, als ob ich nicht träumte. Es war für mich eine schmerzliche Enttäuschung, als ich bei Tagesanbruch plötzlich erwachte. Ich war von meinem eingebildeten Glück zu angenehm geweckt, als daß ich nicht hätte suchen sollen, es zu verwirklichen. Ich stand auf, zog mich in aller Eile an, und ging ohne Frühstück aus dem Hause, ohne zu wissen wohin.

Nachdem ich in Gedanken über meinen Traum versunken eine Stunde langsam marschiert war, wachte ich sozusagen plötzlich auf und befand mich in einer Schlucht zwischen zwei hohen Bergen. Ich ging weiter, kam in eine von Bergen umschlossene Ebene und sah zur Linken in der Ferne in prachtvoller Lage eine große Kirche neben einem großen regelmäßigen Gebäude. Ich erriet, daß es ein Kloster wäre, und lenkte meine Schritte dorthin. Ich fand die Kirchentüre offen, trat ein und war verwundert ob dem reichen Marmorschmuck und der Schönheit der Altäre. Nachdem ich die letzte Messe gehört hatte, ging ich in die Sakristei, wo ich eine Menge Benediktiner fand.

Der Abt, den ich inmitten dieser Mönche an dem um seinen Hals hängenden Kreuz erkannte, trat auf mich zu und fragte, ob ich die Sehenswürdigkeiten des Klosters und der Kirche in Augenschein zu nehmen wünsche. Ich antwortete ihm, dies werde mir viel Vergnügen machen, und er erbot sich, nebst zwei anderen Brüdern selber mein Führer zu sein. Ich sah sehr reiche Gewänder, die mit Gold und echten Perlen überladen waren, Monstranzen, die mit Diamanten und anderen Edelsteinen geschmückt waren, eine reiche Ballustrade und anderes mehr.

Ich verstand sehr wenig deutsch und kein Wort von der Schweizer Mundart, die mir sehr schwer verständlich zu sein scheint und in der deutschen Sprache etwa die Stellung einnehmen dürfte, wie die genuesische Mundart in der italienischen. Ich begann daher lateinisch zu sprechen und fragte den Abt, ob die Kirche schon vor langer Zeit erbaut worden sei. Hierauf begann der Hochwürdigste eine lange Geschichte, die mich beinahe dahin gebracht hätte, meine Neugierde zu bereuen, wenn er mir nicht zum Schluß gesagt hätte, es sei die einzige Kirche auf der ganzen Welt, die Jesus Christus in eigener Person geweiht habe. Demnach mußte die Gründung schon recht weit zurückliegen, und ohne Zweifel machte ich ein etwas überraschtes Gesicht dazu; denn der Abt lud mich ein, ihm in die Kirche zu folgen, um mich von der Wahrheit jener Worte zu überzeugen. Dort zeigte er mir auf einer Marmorfliese des Fußbodens die Fußtapfe, die Jesus im Augenblick der Einweihung hinterlassen hätte, um die Zweifler zu überzeugen und dem Superior die Mühe zu ersparen, den Bischof des Sprengels zur Weihe der Kirche herbeirufen zu lassen. Der Superior hatte dieses Wunder durch eine göttliche Offenbarung im Traum erfahren. Er ging in die Kirche, um nachzusehen, sah die Höhlung, die der göttliche Fuß hinterlassen hatte, und dankte dem Herrn.

Erstes Kapitel


Ich erhalte ein Nachtlager im Hause des Sbirrenführers. – Ich verbringe dort eine köstliche Nacht und erlange Kräfte und Gesundheit zurück. – Ich gehe in die Messe; peinliches Zusammentreffen. – Ich bin gezwungen, mir mit Gewalt sechs Zechinen zu Verschaffen. – Ich bin außer Gefahr. – Ankunft in München. – Valbis spätere Schicksale. – Ich reise nach Paris. – Meine Ankunft. – Mordversuch gegen Ludwig den Fünfzehnten.

Als Pater Valbi ziemlich weit fort war, stand ich auf. Ich sah in kurzer Entfernung auf einem Hügel einen Schäfer seine Herde weiden; zu ihm ging ich, um mir einige notwendige Auskünfte zu verschaffen, und fragte ihn: »Lieber Freund, wie heißt dieses Dorf?«

»Valdepiadene, gnädiger Herr.«

Ich war überrascht; denn ich hatte einen viel größeren Weg zurückgelegt, als ich geglaubt hatte. Ich fragte hierauf nach dem Namen der Besitzer von fünf oder sechs Häusern, die ich in der Runde liegen sah, und zufällig waren es lauter mir bekannte Personen, die ich jedoch nicht durch mein Erscheinen in Ungelegenheiten bringen durfte. Ich fragte ihn auch nach dem Namen eines Palazzos, den ich sah, und er sagte mir, er gehöre der Familie Grimani, deren Oberhaupt, der Staatsinquisitor, sich gerade in jenem Augenblick dort aufhalten mußte; ich hatte mich also sehr in acht zu nehmen und durfte mich dort nicht blicken lassen. Auf meine letzte Frage endlich, wem ein rotes Haus gehörte, das ich in der Ferne sah, antwortete er mir, es gehöre dem sogenannten Capitano della campagna oder mit anderen Worten dem Anführer der Sbirren. Ich war aufs höchste überrascht, aber ich sagte kein Wort weiter, grüßte den guten Schäfer und ging mechanisch hügelabwärts. Noch jetzt kann ich nicht begreifen, welcher Instinkt mich gerade auf dieses Haus zulenkte, von dem mich die Vernunft sowohl wie die Furcht hätte fernhalten sollen. Ich ging stracks auf das Haus los, und ich kann der Wahrheit gemäß versichern, daß dies ohne bestimmten Willen geschah. Wenn es wahr ist, daß jeden Menschen eine unsichtbare Intelligenz lenkt, ein wohltätiger Geist, der uns zum Glück führt, wie es dem Sokrates zuweilen geschah – so muß ich meinem Schutzgeist den unwiderstehlichen Antrieb zuschreiben, der mich in das Haus gerade des Menschen führte, den ich am meisten fürchten mußte. Wie dem auch sei, es war der kühnste Schritt, den ich je in meinem Leben tat.

Ohne Zögern und mit völlig unbefangener Miene trat ich ein. Auf dem Hofe sah ich einen kleinen Jungen, der mit einem Kreisel spielte; ich ging zu ihm heran und fragte ihn, wo sein Vater sei. Statt mir zu antworten, rannte das Kind fort und rief seine Mutter, und einen Augenblick darauf sah ich eine sehr hübsche schwangere junge Frau erscheinen, die mich sehr höflich fragte, was ich von ihrem Manne wünsche, der leider nicht zu Hause sei.

»Es tut mir recht leid, daß mein Gevatter nicht zu Hause ist; doch ich bin sehr erfreut, in diesem Augenblick die Bekanntschaft seiner schönen Gattin zu machen.«

»Ihr Gevatter? Ich spreche also mit Seiner Exzellenz Herrn Vetturi? Er hat mir gesagt, daß Sie die große Güte gehabt und ihm versprochen haben, bei dem Kinde, das ich unter dem Herzen trage, Gevatter stehen zu wollen. Ich bin entzückt, Sie kennen zu lernen, und mein Mann wird untröstlich sein, daß er nicht zu Hause war.«

»Ich hoffe, er wird bald zurückkommen, denn ich will ihn bitten, mir für heute nacht Unterkunft zu geben. Ich wage in dem Zustand, in welchem Sie mich sehen, sonst nirgendwo hinzugehen.«

»Sie sollen das beste Bett im Hause haben, und ich werde Ihnen ein recht gutes Nachtessen besorgen; mein Mann wird sich bei Eurer Exzellenz für die uns erwiesene Ehre bedanken, sobald er wieder daheim ist. Vor kaum einer Stunde ist er mit allen seinen Leuten fortgegangen, und ich erwarte ihn erst in drei oder vier Tagen zurück.«

»Warum wird er denn so lange ausbleiben, meine reizende Gevatterin?«

»Wissen Sie denn nicht, daß zwei Gefangene aus den Bleikammern entsprungen sind? Der eine ist ein Patrizier, der andere ein Privatmann, namens Casanova. Mein Mann hat von Messer-Grande einen Brief erhalten, worin ihm befohlen wird, sie zu suchen. Wenn er sie findet, wird er sie nach Venedig bringen; wenn nicht, so wird er wieder nach Hause kommen. Aber er wird sie mindestens drei Tage lang suchen.«

»Das tut mir außerordentlich leid, meine liebe Gevatterin; aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen, zumal da ich das Bedürfnis habe, sofort zu Bett zu gehen.«

»Dies kann augenblicklich geschehen; meine Mutter wird Sie bedienen. Aber was haben Sie denn an Ihren Knien?«

»Ich habe in den Bergen auf der Jagd einen Sturz getan und mir dabei einige böse Risse zugezogen. Ich habe Blut verloren und bin dadurch sehr geschwächt worden.«

»Oh, oh, mein armer Herr; aber meine Mutter wird Sie wieder gesund machen.«

Sie rief ihre Mutter und sagte ihr alles, was ich brauchte; dann entfernte sie sich. Die hübsche Polizistenfrau hatte nicht den Geist ihres Gewerbes; denn die Geschichte, die ich ihr erzählt hatte, sah doch sehr nach einem Märchen aus. Zu Pferde in weißen Seidenstrümpfen! Auf der Jagd in einem Taffetrock! Ohne Mantel, ohne Bedienten! Ihr Mann wird sie ausgelacht haben, als er heimkam; aber Gott möge sie für ihr gutes Herz und für ihre gütige Unwissenheit belohnen! Ihre Mutter sorgte für mich mit einer Höflichkeit, wie ich sie nur bei Personen von vornehmstem Range hätte erwarten können. Die ehrwürdige mitleidige Frau sprach wie eine Mutter zu mir und nannte mich nur mehr ihren Sohn, während sie meine Wunden verband. Dieses Wort tat meinen Ohren wohl; es bereitete mir eine köstliche Empfindung und trug nicht wenig zu meiner Heilung bei. Wenn mir meine Lage nicht so große Sorge gemacht hätte, würde ich ihr ihre Pflege auf das unzweideutigste durch Höflichkeit und Dankbarkeit vergolten haben; aber der Ort, wo ich mich befand, und die Rolle, die ich spielte, beschäftigten meine Gedanken so ernstlich, daß ich für nichts anderes Sinn hatte.

Die gute Mutter untersuchte meine Knie und meine Hüfte und sagte mir dann in liebevollem Tone, ich müßte mich entschließen, ein wenig zu leiden, aber ich könnte mich darauf verlassen, daß ich am nächsten Tage geheilt sein würde; ich müßte mir nur angefeuchtete Tücher auf meine Wunden legen lassen und dann ganz ruhig in meinem Bett liegen und mich bis zum andern Morgen nicht rühren. Ich versprach ihr geduldig zu leiden und alles zu tun, was sie wünschte.

Man trug mir ein gutes Abendessen auf; ich aß und trank mit gutem Appetit. Hierauf ließ ich mich von ihr verbinden und schlief unter ihren Händen ein. Wahrscheinlich hat sie mich wie ein Kind ausgezogen; als ich erwachte, wußte ich von nichts mehr. Jedenfalls hatte ich kein Wort mehr zu ihr gesprochen, ja nicht einmal mehr einen Gedanken gehabt. Ich hatte gut gegessen; aber ich tat es nur, weil mein Magen es verlangte und weil ich neue Kräfte sammeln mußte. Als ich einschlief, wich ich nur einer unwiderstehlichen Gewalt: ich war körperlich so geschwächt, daß ich bei allem, was ich tat, mir nicht das geringste denken konnte. Es war sechs Uhr abends, als ich zu Nacht speiste, und als ich am anderen Morgen erwachte, hörte ich es sechs schlagen. Mir war zu Mute, als wäre ich von einem Zauber umfangen. Als ich richtig wach und bei Besinnung war, nahm ich schnell meine Verbände ab und sah zu meinem Erstaunen, daß meine Wunden trocken waren und mir nicht mehr den geringsten Schmerz bereiteten. Ich ordnete meine Haare und zog mich in weniger als fünf Minuten an. Meine Zimmertür war nicht verschlossen; ich stieg die Treppe herab und ging quer über den Hof zum Tor hinaus, ohne auf zwei Männer zu achten, die im Hofe standen und nur Sbirren sein konnten. Mit schnellen Schritten entfernte ich mich von diesem Ort. Ich hatte dort die wohlwollendste Gastfreundschaft, die aufrichtigste Höflichkeit, die liebevollste Pflege gefunden; mehr als dies: ich hatte dort meine Gesundheit und meine Kräfte wieder erlangt; aber mit einem unwillkürlichen Gefühl des Entsetzens dachte ich an die Gefahr, der ich mit knapper Not entronnen war. Unwillkürlich schauderte ich, und noch heute, nach so vielen Jahren, schaudere ich bei dem Gedanken an die Gefahr, in die ich mich so unvorsichtig begeben hatte. Ich war erstaunt, daß ich das Haus hatte betreten können, und noch mehr, daß ich es hatte wieder verlassen können. Es schien mir unmöglich zu sein, daß man mich nicht verfolgte. Fünf Stunden lang lief ich durch die Wälder und über die Berge; ich begegnete nur ein paar Bauern und sah mich nicht ein einziges Mal um.

Es war noch nicht Mittag, als plötzlich der Klang einer Glocke mich veranlaßte, stehen zu bleiben. Ich befand mich auf einer Anhöhe; indem ich mich nach der Gegend umblickte, aus der die Glockenklänge kamen, sah ich unten im Grunde ein Kirchlein, in das viele Leute hineingingen, um die Messe zu hören. Mir kam der Gedanke, sie ebenfalls anzuhören; mein Herz empfand das Bedürfnis, seine Dankbarkeit für den sichtlichen Schutz auszudrücken, den ich von der Vorsehung empfing, und obgleich mir die ganze Natur ein des Schöpfers würdiger Tempel war, so zog mich doch die Gewohnheit zur Kirche hin. Wenn der Mensch in Not ist, erscheint ihm alles, was ihm in den Sinn kommt, als eine göttliche Eingebung. Es war Allerseelentag. Ich stieg ins Tal hinab, trat in die Kirche ein und sah dort zu meiner großen Überraschung Herrn Marcantonio Grimani, den Neffen des Staatsinquisitors, mit seiner Gattin, Frau Maria Visani. Sie waren nicht weniger erstaunt als ich. Ich machte ihnen eine Verbeugung, die sie erwiderten. Nachdem ich die Messe angehört hatte, ging ich hinaus. Herr Grimani folgte mir allein, holte mich kurz darauf ein und sagte: »Was machen Sie hier, Casanova? Wo ist Ihr Kamerad?«

»Ich habe ihm das bißchen Geld, das ich hatte, gegeben, um sich auf einem anderen Wege in Sicherheit zu bringen, während ich ohne einen Heller in der Tasche auf diesem Wege durchzukommen suche. Wenn Eure Exzellenz mir eine Unterstützung geben wollten, würde ich leichter mein Ziel erreichen.«

»Ich kann Ihnen nichts geben; aber Sie werden unterwegs Einsiedler finden, die Sie nicht werden Hungers sterben lassen. Aber erzählen Sie mir doch, wie es Ihnen gelingen konnte, aus den Bleikammern auszubrechen.«

»Die Erzählung würde interessant sein, aber auch lang, und unterdessen könnten die Einsiedler die Nahrungsmittel essen, die mich vor dem Hungertode bewahren sollen.«

Nach dieser ironischen Antwort machte ich ihm eine tiefe Verbeugung und setzte meinen Weg fort. Trotz meiner dringenden Geldbedürftigkeit machte es mir Vergnügen, daß er mir das Almosen abgeschlagen hatte. Ich dünkte mich viel adliger als die Exzellenz, die mich an die Wohltätigkeit der Einsiedler verwies. Später, in Paris, hörte ich, daß seine Frau, als sie die Sache erfuhr, ihn ausschalt und ihm seine Hartherzigkeit vorwarf. Es ist nicht zweifelhaft, daß Gefühle des Wohlwollens und der Großmut öfter in den Frauenherzen wohnen als in den unsrigen.

Bis Sonnenuntergang wanderte ich immer weiter. Müde, mit wunden Füßen und zum Sterben hungrig, machte ich bei einem einsam liegenden Hause von gutem Aussehen Halt. Ich fragte nach dem Herrn des Hauses. Die Pförtnerin antwortete mir, er sei nicht anwesend, er sei zu einer Hochzeit jenseits des Flusses gegangen und werde erst in zwei Tagen zurückkommen; aber er habe ihr beim Fortgehen gesagt, sie solle seine Freunde gut aufnehmen. – Vorsehung! Glück! Zufall! – wie man will.

Ich trat ein; man gab mir ein gutes Abendessen und ein gutes Bett. Aus der Adresse mehrerer Briefe ersah ich, daß ich mich im Hause des Herrn Rombenchi, Konsuls von ich weiß nicht mehr welcher Nation, befand. Ich schrieb ihm einen Brief, den ich ihm versiegelt zurückließ. Nachdem ich sehr gut gegessen und geschlafen, stand ich auf und zog mich sorgfältig an, dann ging ich; leider konnte ich der guten Haushälterin kein Zeichen meiner Erkenntlichkeit zurücklassen. Ich ging über den Fluß, indem ich so tat, wie wenn ich nur einen Spaziergang machte, und versprach, bei meiner Rückkehr zu bezahlen. Nach einem fünfstündigen Marsch aß ich zu Mittag in einem Kapuzinerkloster, das ich als eine unter allen Umständen sehr nützliche Einrichtung erkannte. Nachdem ich mich gestärkt hatte, machte ich mich wieder frisch und kräftig auf den Weg und marschierte rüstig bis drei Uhr nachmittags. Dann machte ich Halt bei einem Hause, das, wie ich erfuhr, einem Herrn gehörte, der mein Freund war. Ich trat ein und fragte, ob der Herr zu Hause sei; man zeigte mir das Zimmer, worin er sich, mit Schreiben beschäftigt, allein befand. Ich eilte auf ihn zu, um ihn zu umarmen. Er aber machte bei meinem Anblick eine Gebärde des Entsetzens und sagte mir, unter Angabe von nichtigen und beleidigenden Gründen, ich solle mich sofort entfernen. Ich setzte ihm meine Lage und meine Geldnot auseinander und bat ihn um sechzig Zechinen gegen einen Wechsel, den Herr Bragadino bestimmt einlösen würde. Er antwortete mir, er könne mir nicht helfen, ja mir nicht einmal ein Glas Wasser anbieten, denn er fürchte beim Tribunal in Ungnade zu fallen, wenn man mich in seinem Hause sehe. Er war ein Mann von etwa sechzig Jahren, ein Börsenmakler, der mir sehr zu Dank verpflichtet war. Seine hartherzige Weigerung machte auf mich einen ganz anderen Eindruck als die des Herrn Grimani. Ob nun Zorn, Unwille, Wut mich übermannten oder ob ich der Stimme der Vernunft und Natur folgte, genug, ich packte ihn am Kragen, setzte ihm meinen Spieß auf die Brust und bedrohte ihn laut mit dem Tode. Am ganzen Leibe zitternd, zog er einen Schlüssel aus der Tasche, zeigte auf einen Sekretär und sagte, da drinnen liege Geld; ich brauche nur zu nehmen, soviel ich haben wolle. Ich befahl ihm, selber zu öffnen. Er gehorchte und zog eine Schublade auf, worin Goldstücke fagen. Ich befahl ihm, mir sechs Zechinen aufzuzählen.

»Sie haben sechzig von mir verlangt.«

»Ja, als ich als freundschaftliches Darlehen sie zu bekommen erwartete. Jetzt aber, da ich gezwungen bin, sie mir mit Gewalt zu verschaffen, will ich nur sechs haben, und Sie bekommen keinen Wechsel. Man wird sie dir in Venedig wieder geben, wohin ich berichten werde, wozu du mich gezwungen hast, du elender erbärmlicher Feigling!«

»Ich bitte Sie um Verzeihung und flehe Sie an: nehmen Sie alles!«

»Nein, nichts mehr. Ich gehe jetzt und rate dir, mich ruhig ziehen zu lassen; wenn du mich zur Verzweiflung treibst, kehre ich um und zünde dir das Haus an!«

Ich verließ das Haus und marschierte zwei Stunden, bis der Einbruch der Nacht und die Müdigkeit mich zwangen, in einem Bauernhause Unterkunft zu suchen. Ich bekam ein schlechtes Abendbrot und schlief auf Stroh. Am Morgen kaufte ich einen alten Überrock und mietete einen Esel, um meinen Weg fortzusetzen; in der Nähe von Feltre kaufte ich ein Paar Stiefel. In diesem Aufzug passierte ich die zerfallene Festung, die man La Scala nennt. Es stand dort eine Schildwache, die mir nicht einmal die Ehre erwies, mich nach meinem Namen zu fragen, was mir, wie der Leser mir glauben wird, außerordentlich angenehm war. Ich nahm nun ein Wägelchen mit zwei Pferden und kam noch bei guter Tageszeit in Borgo di Valsugana an, wo ich Valbi in dem von mir bezeichneten Gasthof fand. Wenn er mich nicht angeredet hätte, würde ich ihn nicht erkannt haben. Ein weiter Überrock und ein Schlapphut, den er über einer dicken baumwollenen Mütze trug, machten ihn völlig unkenntlich. Er sagte mir, er habe die Sachen von einem Bauern gegen meinen Mantel eingetauscht, sei unangefochten über die Grenze gekommen und habe in Vorgo gut gelebt. Er war so freundlich, mir zu versichern, daß er mich nicht erwartet habe; denn er habe nicht geglaubt, daß es mir mit meinem Versprechen, ihn aufzusuchen, ernst gewesen sei. – Vielleicht hätte ich wohl daran getan, ihn in seiner Erwartung nicht zu täuschen.

Ich verbrachte den nächsten Tag im Gasthof und schrieb, ohne das Bett zu verlassen, mehr als zwanzig Briefe nach Venedig, darunter zehn oder zwölf Rundschreiben, in denen ich erzählte, was ich hatte tun müssen, um mir die sechs Zechinen zu verschaffen.

Der Mönch schrieb unverschämte Briefe an seinen Oberen, Vater Barbarigo, und an seine Brüder, die Patrizier; an die Zofen aber, die ihn ins Unglück gestürzt hatten, schrieb er Liebesbriefe. Ich ließ die Tressen von meinem Rock abnehmen und verkaufte meinen Hut, um mich zugleich eines Luxus zu entledigen, der nicht zu meiner augenblicklichen Lage paßte; denn er war zu auffällig.

Die nächste Nacht schlief ich in Pergine, wo mich ein junger Graf Dalberg aufsuchte, der auf irgend eine Weise erfahren hatte, daß wir Flüchtlinge aus den venetianischen Gefängnissen seien. Von Pergine fuhr ich nach Trient und von dort nach Bozen. Hier wandte ich mich, da ich Geld brauchte, um Kleider und Wäsche kaufen und meine Reise fortsetzen zu können, an einen alten Bankier namens Mensch. Er gab mir einen sicheren Mann, den ich mit einem Briefe für Herrn von Bragadino nach Venedig schickte, und führte mich in einen guten Gasthof, wo ich die sechs Tage bis zur Rückkehr des Boten im Bett zubrachte. Er brachte mir hundert Zechinen, von denen ich zunächst Kleider für meinen Kameraden und dann auch für mich selber kaufte. Dieser unglückselige Balbi gab mir jeden Tag neuen Anlaß, seine Gesellschaft unerträglich zu finden. Unaufhörlich redete er davon, daß ich ohne ihn niemals hätte entfliehen können und daß ich, meinem Versprechen gemäß, ihm die Hälfte des Vermögens schuldete, das ich etwa in Zukunft erwerben würde. Er war in alle Mägde verliebt, und da weder seine Gestalt noch sein Gesicht danach angetan waren, jungen Mädchen gefallen zu können, so bekam er von ihnen weiter nichts als tüchtige Ohrfeigen, die er mit musterhafter Geduld hinnahm, und die ihn niemals nur für vierundzwanzig Stunden bessern konnten. Dies machte mir zuweilen Spaß, zugleich aber litt ich darunter, an einen Menschen von so gemeinem Wesen gekettet zu sein.

Wir nahmen die Post und kamen am dritten Tage in München an, wo ich im Gasthof zum Hirsch abstieg. Ich fand dort zwei junge Venetianer, von der Familie Contarini, die sich in Begleitung des Grafen Pompei aus Verona seit einiger Zeit dort aufhielten; da ich jedoch nicht mit ihnen bekannt und nicht mehr darauf angewiesen war, unterwegs Eremiten zu finden, um leben zu können, so machte ich mir nicht die Mühe, sie zu besuchen und ihnen meine Aufwartung zu machen. Etwas anderes war es mit der Gräfin Coronini, die ich in Venedig im Kloster Santa Giustina gekannt hatte und die sehr gut bei Hofe angeschrieben war.

Die erlauchte Dame, die damals siebzig Jahre alt war, empfing mich sehr gut und versprach mir, mit dem Kurfürsten zu sprechen, um mir Schutzrecht zu verschaffen. Am nächsten Tage erfüllte sie ihr Versprechen und sagte mir, Seine Hoheit sähe keinen Grund, der ihn verhindern könnte, mir den sicheren Aufenthalt in seinen Staaten zu verwehren; für Balbi dagegen gäbe es in Baiern keine Sicherheit, weil er als flüchtiger Somaske von den Münchener Somasken reklamiert werden könnte; mit Mönchen wünsche aber Seine Hoheit nichts zu tun zu haben. Die Gräfin riet mir daher, ihn sobald wie möglich aus der Stadt zu schaffen und anderswo unterzubringen, weil ihm sonst seine ehrenwerten Brüder, die Mönche, unfehlbar einen bösen Streich spielen würden.

Ich fühlte mich in meinem Gewissen verpflichtet, für den unglücklichen Menschen zu sorgen, und suchte daher den Beichtvater des Kurfürsten auf, um von ihm für Balbi eine Empfehlung nach irgend einer Stadt Schwabens zu erbitten. Der Beichtvater war ein Jesuit und verleugnete denn auch nicht das edle Benehmen seiner Brüder in Loyola: er empfing mich außerordentlich schlecht und sagte mir so ganz obenhin, in München kenne man mich gründlich. Ich fragte ihn in festem Ton, ob er mir damit etwas Gutes oder etwas Schlechtes sagen wolle; er antwortete mir nicht und ließ mich stehen. Ein anderer Priester sagte mir, der Beichtvater sei fortgegangen, um sich ein Wunder anzusehen, wovon die ganze Stadt spreche.

»Was ist das für ein Wunder, Hochwürden?«

»Die Witwe des Kaisers Karl des Siebenten, deren Leichnam noch in einem Saale des Schlosses öffentlich ausgestellt ist, hat ganz warme Füße.«

»Vielleicht ist irgend etwas da, was ihr die Füße wärmt?«

»Sie können sich selber von dem Wunder überzeugen.«

Man sieht nicht jeden Tag ein Wunder. Ich durfte daher die Gelegenheit nicht versäumen, entweder etwas Erbauliches zu sehen oder zu lachen; nach dem einen war ich ebenso begierig wie nach dem anderen. Ich wünschte mich rühmen zu können, ein Wunder gesehen zu haben, das für mich um so interessanter war, da ich unglücklicherweise stets an kalten Füßen gelitten habe. Ich eilte daher, die erhabene Tote mir anzusehen. Sie hatte in der Tat warme Füße; aber ich sah, daß dies ganz einfach zuging, indem Ihre verstorbene Majestät mit den Füßen einem in sehr geringer Entfernung stehenden, glühend heißen Ofen zugekehrt war. Ein Tänzer, der mich kannte und den die Neugier mit anderen Leuten an diesen Ort gelockt hatte, trat auf mich zu, beglückwünschte mich zu meiner gelungenen Flucht und sagte mir, die ganze Stadt spreche mit Interesse davon. Diese Nachricht war mir angenehm; denn es ist immer gut, das Publikum zu interessieren. Der Jünger Terpsichorens lud mich zum Essen ein, und ich nahm mit Vergnügen an. Er hieß Michele de l’Agata, und seine Frau war die schöne Gardela. Ich hatte sie vor sechzehn Jahren bei jenem alten Malipiero gekannt, der mir Stockschläge gegeben hatte, weil ich mit Teresa geschäkert hatte. Die Gardela war eine berühmte Tänzerin geworden und immer noch schön; sie war entzückt, mich zu sehen und aus meinem Munde die Erzählung meiner mühseligen Flucht zu vernehmen. Sie interessierte sich für den Mönch und erbot sich, mir einen Empfehlungsbrief für ihren Freund, den Domherrn Bassi aus Bologna, Vorsteher des Domkapitels von St. Moritz in Augsburg, zu geben. Ich nahm dieses mit Dank an, und sie schrieb den Brief sofort, indem sie mir versicherte, ich brauche mich um den Mönch nicht mehr zu kümmern, denn sie sei sicher, daß der Domherr für ihn sorgen und ihm sogar seine Begnadigung in Venedig verschaffen werde.

Hoch erfreut, ihn auf eine so anständige Art los werden zu können, eilte ich in unseren Gasthof, erzählte ihm alles und gab ihm den Brief, indem ich ihm versprach, ich würde ihn nicht in Stich lassen, falls der Domherr ihn nicht gut aufnehmen sollte. Ich besorgte ihm einen guten Wagen und ließ ihn am nächsten Tage in aller Frühe abreisen. Vier Tage darauf schrieb Balbi mir, der Domherr habe ihn nach Wunsch empfangen, habe ihm Wohnung in seinem eigenen Hause gegeben, habe ihn als Abbate gekleidet und ihn dem Fürstbischof von Darmstadt vorgestellt. Er habe ihm Schutz bei den Behörden der Stadt verschafft und ihm außerdem versprochen, ihn bei sich behalten zu wollen, bis er in Rom seine Entlassung aus dem geistlichen Stande und damit freie Rückkehr nach Venedig erwirkt hätte; denn sobald er nicht mehr Mönch wäre, würde er auch nicht mehr in den Augen des Tribunals der Staatsinquisitoren schuldig sein. Pater Balbi schloß seinen Brief mit der Bitte, ich möchte ihm einige Zechinen Taschengeld schicken; denn er sei zu vornehm, um den Domherrn um Geld zu bitten, und dieser sei, so schrieb der Undankbare, nicht vornehm genug, ihm welches anzubieten. Ich antwortete ihm nicht.

Da ich nun allein war und meine Ruhe hatte, dachte ich allen Ernstes an die Wiederherstellung meiner Gesundheit. Infolge der vielen Leiden, die ich durchgemacht hatte, litt ich an Anfällen von Nervenkrämpfen, die einen beunruhigenden Charakter anzunehmen drohten. Ich setzte mich auf strenge Diät, und in drei Wochen befand ich mich vollkommen wohl. In der Zwischenzeit kam aus Dresden Madame Rivière mit ihrem Sohn und ihren beiden Töchtern; sie ging nach Paris, um dort die Älteste zu verheiraten. Der Sohn hatte etwas gelernt und konnte für einen vorzüglich gebildeten jungen Mann gelten. Die älteste Tochter, die einen Schauspieler heiraten sollte, verband mit dem hübschesten Gesicht, das man sich nur denken konnte, ein großes Talent für den Tanz, spielte meisterhaft Klavier und bewegte sich mit größter Anmut und allen Reizen der Jugend in der guten Gesellschaft. Die liebenswürdige Familie war sehr erfreut, mich wiederzusehen, und ich schätzte mich glücklich, als Madame Rivière, meinen Wünschen zuvorkommend, mir zu verstehen gab, daß meine Gesellschaft bis Paris ihnen sehr angenehm sein würde. Sie wollte nichts davon hören, daß ich einen Anteil der Reisekosten trüge, sondern ich mußte das Geschenk von ihr annehmen, wie sie es mir anbot. Da ich die Absicht hatte, mich in Paris niederzulassen, so nahm ich diesen Glücksfall als ein Vorzeichen, daß bei meiner Abenteurerlaufbahn, in die ich mich zu stürzen gedachte, das Glück mir zur Seite stehen würde. Paris ist die einzige Stadt der Welt, wo die blinde Göttin denen ihre Gaben spendet, die sich ihr anvertrauen und die Umstände zu benutzen wissen. Ich irrte mich nicht, wie der Leser zu seiner Zeit sehen wird; aber die Huld des Glückes war mir unnütz, weil ich durch meinen Leichtsinn alles zuschanden machte. Unter den Bleidächern hatte ich in fünfzehn Monaten alle Schwächen meines Charakters genau erkannt; aber ich hätte dort viel länger bleiben müssen, um Grundsätze anzunehmen, die mich von diesen Schwächen hätten heilen können.

Madame Rivière wollte mich also mitnehmen, aber sie konnte ihre Abreise nicht aufschieben, und ich brauchte noch acht Tage Zeit, weil ich aus Venedig Briefe und Geld erwartete. Sie versprach mir, acht Tage in Straßburg zu bleiben, und wir verabredeten, daß ich sie dort einholen sollte, wenn es mir möglich wäre. Sie verließ München am achtzehnten Dezember.

Zwei Tage nach ihrer Abreise erhielt ich aus Venedig den erwarteten Wechsel. Ich beeilte mich, meine Schulden zu bezahlen, und reiste dann sofort nach Augsburg ab, weniger um dort Balbi zu sehen, als um den liebenswürdigen Domherrn kennen zu lernen, der mir die Sorge um ihn abgenommen hatte. Sieben Stunden nach meiner Abfahrt in München kam ich in Augsburg an und begab mich sofort zu dem großmütigen Geistlichen. Er war nicht zu Hause, aber ich fand Balbi als Abbate gekleidet und mit weiß gepuderter Frisur, die ihm zu seiner kastanienbraunen Gesichtsfarbe sehr unvorteilhaft stand. Balbi war noch keine vierzig Jahre alt, aber er war häßlich: er hatte eines jener Gesichter, auf denen sich niedrige Gesinnung, Feigheit, Frechheit und Bosheit ausspricht; auch der Klang seiner Stimme und seine Manieren machten einen sehr abstoßenden Eindruck. Ich fand ihn gut untergebracht, gut bedient und gut gekleidet; er hatte Bücher und alles, was man zum Schreiben braucht. Ich wünschte ihm Glück zu seiner augenblicklichen Lage und sprach meine Freude aus, daß ich ihm alle diese Annehmlichkeiten hätte verschaffen können und daß er obendrein noch die Hoffnung hätte, bald Weltgeistlicher zu werden. Aber anstatt mir zu danken, machte der undankbare Mensch mir den Vorwurf, ich hätte auf geschickte Weise mich seiner entledigt. Endlich sagte er mir: da ich nach Paris ginge, müßte ich ihn mitnehmen, denn in Augsburg langweile er sich zu Tode.

»Was würden Sie denn in Paris anfangen?«

»Was werden Sie selber dort anfangen?«

»Ich werde aus meinen Talenten Nutzen ziehen.«

»Und ich aus den meinigen.«

»Dann brauchen Sie mich also nicht und können auf eigenen Füßen stehen. Die Personen, die mich mit nach Paris nehmen, würden wahrscheinlich von mir nichts wissen wollen, wenn ich Sie bei mir hätte.«

»Sie haben mir versprochen, mich nicht zu verlassen!«

»Kann ein Mensch sich verlassen nennen, wenn er alles Notwendige hat und seine Zukunft gesichert ist?«

»Alles Notwendige! Ich habe keinen Heller.«

»Wozu brauchen Sie Geld? Sie haben gutes Essen, gute Wohnung, Kleider, Wäsche, Bedienung und alles, was dazu gehört. Wenn Sie Geld für Ihre kleinen Vergnügungen nötig haben, warum verlangen Sie nicht welches von Ihren Kameraden, den Mönchen?«

»Von Mönchen Geld verlangen? Die nehmen Geld, aber sie geben keines.«

»Bitten Sie Ihre Freunde.«

»Ich habe keinen.«

»Da sind Sie zu beklagen; aber wenn Sie keine Freunde haben, so ist wohl anzunehmen, daß Sie selber niemals der Freund eines Menschen gewesen sind. Sie sollten Messen lesen; dies wäre für Sie ein gutes Mittel, sich Geld zu verschaffen.«

»Ich bin nicht bekannt.«

»So müssen Sie warten, bis Sie bekannt werden; dann werden Sie die verlorene Zeit bald wieder einholen.«

»Dies sind lauter leere Worte. Sie werden mir einige Zechinen hier lassen.«

»Ich habe keine übrig.«

»Warten Sie, bis der Domherr wieder kommt. Morgen ist er zurück; dann können Sie mit ihm sprechen und ihn überreden, mir Geld zu leihen. Sie können ihm sagen, ich werde es ihm zurückzahlen.«

»Ich werde nicht auf ihn warten, denn ich reise sofort weiter. Aber selbst wenn er jetzt hier wäre, so würde ich nicht so unverschämt sein, ihm zu sagen, daß er Ihnen Geld geben sollte, da er in seiner Großmut schon so viel getan hat und selbst am besten weiß, daß Sie alles haben, was Sie brauchen.«

Nach diesem ärgerlichen Gespräch ging ich fort und fuhr mit der Post weiter. Ich war sehr wenig erfreut, einem Elenden ein so großes Glück verschafft zu haben, dessen er so wenig würdig war. Im folgenden März erhielt ich einen Brief von dem edlen und großmütigen Domdechanten Bassi. Er schrieb mir, Balbi sei mit einer seiner Mägde durchgegangen und habe eine Summe Geldes, eine goldene Uhr und zwölf silberne Bestecke mitgenommen; er wisse nicht, wohin er sich gewandt habe.

Gegen Ende desselben Jahres erfuhr ich in Paris, daß der unredliche Mensch in Chur, der Hauptstadt von Graubünden, Zuflucht gesucht habe. Er habe gebeten, ihn in die calvinistische Kirche aufzunehmen und als rechtmäßigen Gatten der bei ihm befindlichen Dame anzuerkennen; bald aber habe die Gemeinde bemerkt, daß der Neubekehrte nichts verstehe, und habe ihn aus der reformierten Kirche wieder ausgestoßen. Als er kein Geld mehr gehabt, habe seine Frau, die frühere Magd, ihn tüchtig durchgeprügelt und dann verlassen. Er habe nicht mehr gewußt, was anfangen, und habe den verzweifelten Entschluß gefaßt, nach Brescia zu gehen.

Diese Stadt gehört zur Republik Venedig. Er stellte sich dem Gouverneur vor, nannte ihm seinen Namen und erzählte ihm seine Flucht. Er schilderte ihm seine Reue und bat ihn flehentlich, ihn unter seinen Schutz zu nehmen und ihm Begnadigung zu erwirken.

Der Schutz des Podestà bestand zunächst darin, daß er den reuigen Sünder zuerst ins Gefängnis bringen ließ; hierauf fragte er beim Tribunal an, was er mit ihm anfangen solle. Das Tribunal schickte ihm Befehl, den Pater Balbi in Ketten nach Venedig bringen zu lassen. Dort übergab Messer-Grande ihn dem Tribunal, das ihn wieder unter die Bleidächer bringen ließ. Den Grafen Asquino fand er dort nicht mehr; diesen hatte das Tribunal ein paar Monate nach unserer Flucht mit Rücksicht auf sein hohes Alter in die Quattro bringen lassen.

Fünf oder sechs Jahre später hörte ich, daß das Tribunal den unglückseligen Mönch, nachdem es ihn noch zwei Jahre unter den Bleidächern in Haft gehalten hatte, in sein Kloster zurückschickte. Der Obere fürchtete die Ansteckungsgefahr des räudigen Schafes; er versetzte ihn in das Kloster des Ordens, das bei Feltre einsam auf einer Anhöhe liegt. Dort blieb Balbi aber nur sechs Monate. Er brannte durch und ging nach Rom, um sich dem Papst Rezzonico zu Füßen zu werfen. Dieser sprach ihn seiner Sünden ledig und entband ihn von seinem Mönchsgelübde. Balbi wurde Weltgeistlicher und konnte infolgedessen nach Venedig zurückkehren; dort lebte er in Ausschweifung und Armut. Er starb als Diogenes, aber ohne den Geist des Mannes von Sinope, im Jahre 1783.

Ich traf in Straßburg Frau Rivière und ihre reizende Familie und wurde von ihnen mit aufrichtigster Freude begrüßt. Wir wohnten in dem ausgezeichneten Gasthof zum »Heiligen Geist« und verbrachten mehrere Tage in Fröhlichkeit und herzlichem Einvernehmen. Dann fuhren wir in einer ausgezeichneten Berline nach der einzigen Stadt, der Weltstadt Paris. Ich machte es mir zur Pflicht, für heitere Stimmung zu sorgen, da ich ja zu den Kosten der Reise nichts beitragen durfte. Die Reize des Fräulein Rivière entzückten mich; aber ich hätte gegen die Rücksicht, die ich einer achtenswerten Familie schuldete, und gegen die Dankbarkeit zu verstoßen geglaubt, wenn ich mir einen einzigen verliebten Blick hätte entschlüpfen lassen, oder wenn ein einziges Wort meine Gefühle verraten hätte. Obwohl mein Alter wenig danach angetan war, glaubte ich die Rolle des Familienvaters spielen zu müssen; ich widmete der liebenswürdigen Familie alle Sorgfalt, die man aufwenden kann, wenn man sich auf einer langen Reise einer angenehmen Gesellschaft, eines bequemen Reisewagens, einer vorzüglichen Tafel und eines ausgezeichneten Bettes würdig zeigen will.

Am Mittwoch, den 5. Januar 1757, kamen wir in Paris an. Ich stieg bei meinem Freunde Baletti ab, der mich mit offenen Armen empfing und mir versicherte, er hätte mich erwartet, obgleich ich ihm nicht geschrieben; denn er hätte sich gesagt, daß ich infolge meiner Flucht so schnell wie möglich und so weit wie möglich mich von Venedig entfernen müßte und daß ich natürlich keinen anderen Aufenthaltsort wählen würde, als Paris, wo ich zwei Jahre hindurch auf die angenehmste Weise verlebt hätte. Freude herrschte im ganzen Hause, sobald man meine Ankunft erfuhr. Niemals bin ich aufrichtiger geliebt worden, als von dieser interessanten Familie. Mit Entzücken umarmte ich den Vater und die Mutter, die ich in jeder Beziehung so wiederfand, wie ich sie im Jahre 1752 verlassen hatte. Der Anblick ihrer Tochter aber überraschte mich; als ich fortging, war sie ein Kind; jetzt fand ich sie als erwachsenes schönes Mädchen wieder. Fräulein Baletti war fünfzehn Jahre alt; sie war schön geworden; ihre Mutter hatte sie sorgfältig erzogen und ihr die besten Lehren gegeben. So besaß sie alles, was eine kluge, anmutige und talentvolle Mutter einer geliebten Tochter von ausgezeichneten Anlagen geben kann: Tugend, Anmut, Talente und jene gute Lebensart, die in jedem Stande nächst dem Taktgefühl die wertvollste Eigenschaft ist.

Nachdem ich mir eine hübsche Wohnung ganz in der Nähe der befreundeten Familie besorgt hatte, nahm ich eine Droschke und fuhr nach dem Hotel Bourbon, um mich dem Herrn Abbé de Vernis vorzustellen, der damals Minister des Auswärtigen war; ich hatte gute Gründe, von der Protektion des Ministers mein Glück zu erwarten. Ich komme an; er ist nicht da, er ist in Versailles. In Paris muß man noch mehr als anderswo eifrig hinter seinen Geschäften her sein. Man muß, wie ein alltägliches aber sehr richtiges Sprichwort lautet, das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Ich war ungeduldig, zu erfahren, wie mich der gefällige Liebhaber meiner schönen M. M. aufnehmen würde; darum ging ich stracks nach dem Pont Royal, nahm ein Kabriolett und kam um halb sieben in Versailles an. Mißgeschick! Unsere Wagen hatten sich unterwegs gekreuzt und mein sehr bescheidenes Gefährt hatte nicht die Blicke Seiner Exzellenz auf sich gezogen. Herr de Bernis war mit dem neapolitanischen Gesandten, Grafen Castillana, nach Paris zurückgekehrt; ich beschloß also sofort ebenfalls zurückzufahren. Ich stieg wieder in meinen Wagen; aber kaum am Schloßgitter angekommen, sah ich eine Menge Menschen in augenscheinlich großer Verwirrung nach allen Seiten hin durcheinander laufen und hörte rechts und links rufen: »Der König ist ermordet! Man hat den König ermordet!«

Mein Kutscher bekam einen Schreck und wollte weiter fahren; aber man hielt den Wagen an, ließ mich aussteigen und in die Wachtstube eintreten, wo sich bereits andere Leute befanden. In weniger als drei Minuten waren mehr als zwanzig Personen beisammen, alle sehr erstaunt über ihre Verhaftung, und alle ebenso schuldig wie ich. Ich wußte nicht, was ich davon denken sollte, und da ich nicht an Hexerei glaubte, so wähnte ich zu träumen. Düster und schweigend standen wir da und sahen einander an; niemand wagte ein Wort zu sprechen. Alle sahen überrascht und betroffen aus; denn jeder hatte Furcht, obgleich er sich unschuldig fühlte.

Die peinliche Lage dauerte jedoch nicht lange; denn fünf Minuten darauf trat ein Offizier ein, bat uns höflich um Entschuldigung und sagte uns: »Meine Herren, Sie sind frei. Der König ist verwundet, und man hat ihn in seine Gemächer getragen. Der Mörder, den niemand kennt, ist verhaftet. Man sucht überall Herrn de la Martinière.«

Ich stieg wieder in meinen Wagen und fühlte mich sehr glücklich, als ich wieder darin saß. Ein sehr gut gekleideter junger Mann mit angenehnien Gesichtszügen trat an mich heran und bat mich dringend, ihm gegen Bezahlung des halben Fahrpreises einen Platz abzutreten; trotz den Geboten der Höflichkeit schlug ich ihm dies ab. Vielleicht war dies unrecht von mir; zu jeder anderen Zeit würde ich mir ein Vergnügen daraus gemacht haben, ihm einen Platz anzubieten; aber es gibt Augenblicke, wo die Klugheit uns nicht erlaubt, höflich zu sein. Ich brauchte ungefähr drei Stunden zur Rückfahrt, und während dieser kurzen Spanne Zeit wurde ich von mindestens zweihundert Kurieren überholt, die in gestrecktem Galopp dahinsprengten. Jede Minute sah ich einen neuen, und jeder Kurier rief laut die Nachricht aus, die er zu überbringen hatte. Was die ersten ausriefen, wußte ich bereits selber; am Ende aber erfuhr ich, daß dem König zu Ader gelassen und daß seine Wunde nicht lebensgefährlich wäre, und schließlich, daß die Wunde leicht wäre, und daß Seine Majestät sogar nach Trianon gehen könnte, wenn Sie Lust hätte.

Mit dieser ausgezeichneten Neuigkeit versehen, begab ich mich zu Sylvia und fand die ganze Familie bei Tisch, denn es war noch nicht elf Uhr.

»Ich komme von Versailles,« sagte ich ihnen.

»Der König ist ermordet.«

»Durchaus nicht! Er könnte nach Trianon gehen oder auch nach seinem Hirschpark, wenn er Lust hätte. Herr de la Martinière hat ihm zur Ader gelassen und hat ihn sehr wohl gefunden. Der Mörder ist verhaftet; der unglückliche Mensch wird verbrannt, mit glühenden Zangen gezwickt und lebendig gevierteilt werden.« Diese Nachricht wurde von Sylvias Dienerschaft schnell weiter verbreitet, und eine Menge von den Nachbarn kamen, um sie aus meinem eigenen Munde zu hören. Ich mußte zehnmal dieselbe Sache wiederholen, und das Stadtviertel verdankte es mir, daß es eine ruhige Nacht verbringen konnte. Zu jener Zeit bildeten die Pariser sich ein, ihren König zu lieben; wenigstens taten sie so aus Überzeugung und aus Gewohnheit. Heute sind sie aufgeklärter und werden nur einen solchen Herrscher lieben, der wirklich das Glück der Nation will und weiter nichts als der erste Bürger eines großen Volkes ist; und hierin wird nicht nur Paris in seinem Kreis, sondern ganz Frankreich an Liebe und Dankbarkeit wetteifern. Könige wie Ludwig der Fünfzehnte sind unmöglich geworden; sollte dennoch wieder ein solcher auftreten, so würde trotz allen Anstrengungen einer an seiner Erhaltung interessierten Partei die öffentliche Meinung bald über ihn ihr Urteil gefällt und seine Sitten verdammt haben, bevor er durch seinen Tod in das Gebiet der Weltgeschichte eingetreten wäre – jener Weltgeschichte, welche Könige und Staatsmänner niemals aus den Augen verlieren sollten!

Zehntes Kapitel


Neue Zwischenfälle. – J.J. Rousseau. – Ich gründe ein Handelsgeschäft. – Castel-Bajac. – Man hängt mir einen Kriminalprozeß an. – Herr von Sartines.

Fräulein X. C. V. war seit einem Monat im Kloster, und man sprach schon nicht mehr von der Geschichte; ich glaubte daher, sie sei zu Ende, aber ich irrte mich. Unterdessen lebte ich lustig den Tag hinein, und das Vergnügen, das ich daran fand, mit vollen Händen zu verschwenden, ließ mich nicht an die Zukunft denken.

Abbé de Bernis, dem ich regelmäßig einmal in der Woche meine Aufwartung machte, sagte mir eines Tages, der Generalkontrolleur erkundige sich oft nach mir und es sei unrecht von mir, ihn zu vernachlässigen. Er riet mir, an meine Ansprüche nicht mehr zu denken und ihm das von mir erwähnte Mittel mitzuteilen, wodurch ich die Staatseinkünfte zu vermehren gedächte. Ich legte auf den Rat eines Mannes, dem ich mein ganzes Glück verdankte, zu hohen Wert, als daß ich ihn nicht ohne Widerrede hätte befolgen sollen. Ich ging also zum Kontrolleur und gab ihm voll Vertrauen auf seine Rechtlichkeit meinen Plan. Es handelte sich um den Erlaß eines Gesetzes, wonach von jeder Erbschaft, die nicht vom Vater an den Sohn fiel, der Staat die vollen Einkünfte eines Jahres erhalten sollte. Jede notariell vollzogene Schenkung zwischen Lebenden sollte derselben Gebühr unterworfen sein. Mir schien, an diesem Gesetz könnte niemand Anstoß nehmen; denn ein Erbe brauchte sich nur vorzustellen, daß er ein Jahr später geerbt hätte. Der Minister war derselben Meinung wie ich; er sagte mir, mein Plan biete durchaus keine Schwierigkeiten, legte ihn in seine Geheimmappe und versicherte mir, mein Glück sei gemacht. Acht Tage darauf wurde er durch Herrn de Silhouette ersetzt, und als ich mich dem neuen Minister vorstellte, sagte er mir kalt, er würde mir Bescheid geben, sobald man daran dächte, das Gesetz zu erlassen. Dies geschah wirklich zwei Jahre darauf; aber man lachte mich aus, als ich mich für den Urheber erklärte und die Belohnung verlangte, auf die ich Anspruch hatte.

Als kurze Zeit darauf der Papst starb, wurde zu seinem Nachfolger der Venetianer Rezzonico gewählt; dieser ernannte meinen Beschützer Bernis zum Kardinal. Seine Allergnädigste Majestät Ludwig der Fünfzehnte verbannte ihn zwei Tage, nachdem er das Barett aus seinen königlichen Händen empfangen hatte, nach Soissons: das ist die Freundschaft der Könige!

Infolge der Ungnade, in die mein liebenswürdiger Abbé gefallen war, hatte ich keinen Beschützer mehr; aber ich hatte Geld und ertrug daher dieses Unglück mit ziemlicher Fassung.

Herr de Bernis erstieg den Gipfel des Ruhmes, indem er alles zerstörte, was der Kardinal Richelieu geschaffen hatte, indem er im Einverständnis mit dem Fürsten Kaunitz den alten Haß der Häuser Habsburg und Bourbon in ein glückliches Bündnis umzuwandeln wußte und dadurch Italien von den Greueln des Krieges befreite, deren Schauplatz es jedesmal wurde, wenn die beiden Häuser einander in die Haare gerieten – was nicht selten vorkam. Diese Wohltat gab ihm Anspruch auf die Verleihung des ersten Kardinalhutes von Seiten des Papstes, der bei Abschluß des Vertrages Bischof von Padua gewesen und daher wohl in der Lage war, ihn zu beurteilen. Der edle Abbé, der vor einem Jahre in Rom starb, wo Pius der Sechste ihn besonders hoch schätzte, wurde vom Hofe verbannt, weil er dem König auf dessen Frage nach seiner Meinung geantwortet hatte, er glaube nicht, daß der Prinz Soubise der rechte Mann sei, seine Heere zu befehligen. Sobald die Pompadour es erfuhr – und zwar geschah dies von Seiten des Königs selber – wußte sie ihn in Ungnade zu stürzen. Alle Welt war damit unzufrieden, aber man tröstete sich bald durch boshafte Verse, und binnen kurzem war der neue Kardinal vergessen. So ist der Charakter dieser Nation: lebhaft, geistreich und liebenswürdig, fühlt sie weder ihr eigenes noch fremdes Unglück, sobald man die leichte Kunst besitzt, sie zum Lachen zu bringen.

Zu meiner Zeit wurden die Verfasser von Epigrammen und Liedern gegen die Regierung und die Minister, oder auch nur gegen die Beischläferinnen des Königs, in die Bastille gesteckt. Dies aber hinderte die Schöngeister nicht, auch fernerhin zur Erheiterung der Gesellschaft beizutragen, und es gab manchen, der eine Ehre darin sah, wegen einiger Witze verfolgt zu werden. Ein Herr, der durchaus berühmt werden wollte – seinen Namen habe ich vergessen – eignete sich nachstehendes Gedicht des jüngeren Crébillon an und ließ sich lieber in die Bastille bringen, als daß er es verleugnet hätte. Crébillon war nicht der Mann, seine Erzeugnisse zu verleugnen; er sagte dem Herzog von Choiseuil, er habe genau ebensolche Verse gemacht; aber es sei ja möglich, daß auch der Gefangene sie gemacht habe. Dieser Witz erregte Heiterkeit, und der Verfasser des Sopha wurde nicht weiter belästigt.

Grand Dieu! tout a changé de face!
Jupin opinedu bonnet,
Vénus au conseil a pris place,
Plutus est devenu coquet,
Mercure endosse la cuirasse
Et Mars a le petit collet.2

Der erlauchte Kardinal Bernis verbrachte zehn Jahre in seiner Verbannung, procul negotiis, aber nicht glücklich, wie er fünfzehn Jahre später in Rom mir es selber sagte. Man behauptete, es sei ein größeres Vergnügen, Minister als König zu sein; ich finde ceteris paribus diese Behauptung lächerlich, wenn ich ihre Wahrheit an mir selber prüfe, wie ich es ja doch tun muß. Dies heißt die Frage aufwerfen, ob die Unabhängigkeit besser oder schlechter sei als ihr Gegenteil. Unter einer despotischen Regierung, mit einem schwachen oder faulen König, der die Krone nur trägt, um das in Wirklichkeit herrschende Ministerium zu decken, mag dies zur Not als richtig gelten; aber sonst ist es überall unmöglich.

Kardinal Bernis wurde nicht an den Hof zurückberufen, denn es ist niemals vorgekommen, daß Ludwig der Fünfzehnte einen in Ungnade gefallenen Minister von neuem berief. Aber nach Rezonicos Tode mußte er nach Rom zum Konklave gehen, und dort blieb er dann sein Leben lang als französischer Gesandter.

Etwa um diese Zeit bekam Frau d’Urfé Lust, J.J. Rousseau kennen zu lernen. Wir fuhren nach Montmorency und machten ihm einen Besuch unter dem Vorwande, ihm Noten zum Abschreiben zu geben. Er lieferte ausgezeichnete Arbeit; man bezahlte ihm das Doppelte von dem, was andere Notenschreiber erhielten, dafür aber bürgte er für tadellose Ausführung. Zu jener Zeit lebte der berühmte Schriftsteller nur hiervon.

Wir fanden einen Mann von einfacher und bescheidener Haltung. Was er sagte, war vernünftig, im übrigen aber war weder an seiner Person noch an den Äußerungen seines Geistes etwas Besonderes. Rousseau schien uns nicht das zu sein, was man einen liebenswürdigen Mann nennt; und da er keineswegs die auserlesene Höflichkeit der guten Gesellschaft besaß, so genügte dies für Frau von Urfé, um ihn ungeschliffen zu finden. Wir sahen auch die Frau, mit der er zusammen lebte und von der wir hatten sprechen hören, aber sie blickte uns kaum einmal an. Als wir fort waren, erheiterte das sonderbare Benehmen des Philosophen unsere Unterhaltung.

Ich will hier den Besuch schildern, dem ihm Prinz Conti, der Vater des damaligen Grafen de la Marche machte. Der liebenswürdige Prinz begab sich allein nach Montmorency, ausdrücklich um einen angenehmen Tag mit dem Philosophen zu verbringen, der damals schon berühmt war. Er fand ihn im Park, ging auf ihn zu und sagte ihm, er komme, um das Vergnügen zu haben, mit ihm zu speisen und den Tag in zwangslosem Geplauder zu verbringen.

»Eure Hoheit werden schlecht essen,« sagte Rousseau, »aber ich werde noch ein Gedeck auflegen lassen.«

Der Philosoph geht, erteilt seine Befehle, kehrt zum Prinzen zurück und geht zwei oder drei Stunden mit ihm spazieren. Als es Zeit zum Essen war, führte er den Prinzen in einen Salon. Als dieser jedoch drei Gedecke erblickte, fragte er: »Wen wollen Sie denn mit uns speisen lassen? Ich dachte, wir würden allein essen.«

»Der dritte, gnädiger Herr, ist mein anderes Ich. Es ist ein Wesen, das weder meine Frau, noch meine Geliebte, noch meine Magd, noch meine Mutter, noch meine Tochter und doch dies alles zugleich ist.«

»Ich glaube es, mein Lieber; da ich aber nur hierher gekommen bin, um mit Ihnen allein zu speisen, so werde ich nicht mit Ihrem anderen Ich speisen und will Sie mit Ihrem Allem in Einem allein lassen.«

Mit diesen Worten grüßte der Prinz ihn und ging. Rousseau suchte ihn nicht zurückzuhalten.

Um dieselbe Zeit war ich Augenzeuge des Durchfalls einer französischen Komödie, Die Tochter des Aristides, von Frau von Graffigny, einer verdienstvollen Frau, die fünf Tage später vor Kummer über den Durchfall ihres Stückes starb. Der Abbé de Voisenon war ganz bestürzt darüber, denn er hatte unglücklicherweise seine Freundin ermutigt, das Stück aufführen zu lassen, und man glaubte sogar, daß er selber daran mitgearbeitet hätte, wie auch an der Cénie und den Lettres péruviennes. Ungefähr zur selben Zeit starb Rezzonicos Mutter vor Freude darüber, daß ihr Sohn Papst geworden war. Schmerz und Freude töten viel mehr Frauen als Männer, und dies beweist, daß jene nicht nur gefühlvoller, sondern auch viel schwächer sind.

Als nach der Meinung der Marquise d’Urfé mein angeblicher Sohn in Viars Hause angemessen untergebracht war, bat sie mich, ihn mit ihr zusammen zu besuchen. Ich fand ihn wie einen Prinzen untergebracht, vorzüglich gekleidet, gehätschelt und beinahe ehrfurchtsvoll behandelt. Ich war erstaunt, denn dies ging nicht nur über meine Hoffnungen, sondern auch über meine Wünsche hinaus. Sie hatte ihm alle möglichen Lehrer gegeben, und außerdem ein vollkommen zugerittenes, sehr hübsches Pferdchen, damit er das Reiten lerne. Man nannte ihn den Herrn Grafen von Aranda. Ein sehr sauberes und sehr hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, Viars Tochter, war beauftragt, ihn zu pflegen und zu beaufsichtigen; sie war ganz stolz darauf, sich die Erzieherin des Herrn Grafen nennen zu dürfen. Sie versicherte der Marquise d’Urfé, sie sorge ganz besonders für ihn; nach seinem Erwachen bringe sie ihm sein Frühstück ans Bett; hierauf kleide sie ihn an und verlasse ihn dann nicht mehr, bis sie ihn abends zu Bett bringe. Frau von Urfé lobte alles, empfahl verdoppelten Eifer und versprach dafür erkenntlich zu sein. Der kleine Mann aber war ganz glücklich und sagte mir dies unaufhörlich; ich witterte jedoch ein Geheimnis und nahm mir vor, ihn einmal allein zu besuchen, um es aufzuklären.

Nach diesem Besuche sagte ich der Marquise, ich sei tief gerührt von ihren Freundlichkeiten und ich fände alles entzückend, abgesehen von dem Namen Aranda, der uns eines Tages verdrießliche Scherereien zuziehen könnte; aber sie antwortete mir, der Kleine habe genug gesagt, und man dürfe überzeugt sein, daß er ein Recht habe, diesen Namen zu tragen. »Ich hatte in meinem Schreibtisch ein Petschaft mit dem Wappen des Hauses Aranda; zufällig fiel es mir in die Hände, und ich zeigte es dem Kleinen, wie man einen Kinde ein Spielzeug zeigt. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, so rief er aus: ›Wie kommt es denn, daß Sie mein Wappen haben?‹

›Ihr Wappen? Ich habe dieses Petschaft vom Grafen Aranda; aber wie könnten Sie mir beweisen, daß Sie zu dieser Familie gehören?‹

›Fragen Sie mich nicht danach, gnädige Frau; meine Geburt ist ein Geheimnis, das ich niemals und keinem Menschen enthüllen darf.‹«

Ich war sehr überrascht über einen solchen Schwindel und besonders über die Sicherheit des kleinen Gauners, die ich ihm nicht zugetraut hätte. Ich war neugierig, der ganzen Sache auf den Grund zu kommen, und ging ungefähr acht Tage darauf allein zu ihm.

Ich fand meinen sogenannten Grafen in Gesellschaft des Herrn Viar, der aus der Unterwürfigkeit, womit das Kind zu mir sprach, schließen mußte, daß es mir angehörte. Er lobte seinen Zögling auf das höchste und sagte zu mir: er spiele vorzüglich die Flöte, tanze und fechte zum Entzücken, reite gut und schreibe ganz vorzüglich. Er zeigte mir Federn mit drei, fünf und sogar elf Spitzen, die der Knabe sehr kunstvoll geschnitten hatte, und bat mich, ihn in der Heraldik zu prüfen; diese für einen jungen Kavalier so notwendige Wissenschaft beherrsche niemand besser als er.

Das Männchen begann nun in heraldischen Kunstausdrücken sein angebliches Wappen zu beschreiben, und ich hätte beinahe laut herausgelacht, weil ich fast gar nichts davon verstand, während er die Sache mit einer Wichtigkeit wie ein Krautjunker mit zweiunddreißig Ahnen behandelte. Aber mit wirklichem Vergnügen sah ich ihn seine verschiedenen Federn handhaben und mit erhobener Hand schreiben. Mit wunderbarer Geschicklichkeit zog er alle möglichen Arten von Linien, und zwar jedesmal so viele, wie die Feder Spitzen hatte. Ich sprach Viar meine Zufriedenheit darüber aus; bald darauf ließ er mich mit dem Kleinen allein, und wir gingen in den Garten.

»Willst du so gut sein, mir zu sagen, wie du auf den verrückten Einfall gekommen bist, dich als Graf Aranda auszugeben?«

Er antwortete mir, ohne im geringsten aus der Fassung zu kommen:

»Ich gestehe, es ist ein toller Einfall; aber bitte, lassen Sie mich gewähren, denn dieser Einfall trägt hier dazu bei, mir Achtung zu verschaffen.«

»Es ist ein Betrug, den ich nicht dulden kann; denn er kann ernste Folgen haben und uns alle beide bloßstellen. Es ist eine Schwindelei, deren ich dich in deinem Alter nicht für fähig gehalten hätte, mein guter Freund. Ich will wohl glauben, daß du es nur aus Unbesonnenheit getan hast, aber es kann dich mit den Gerichten in Konflikt bringen, und nach allem, was du zu Frau d’Urfé gesagt hast, weiß ich nicht recht, wie ich die Sache wieder gut machen soll, ohne daß deine Ehre angetastet wird.«

Ich hörte mit meiner Strafpredigt erst auf, als er bittere Tränen vergoß und mich um Verzeihung bat:

»Ich will lieber«, sagte er, »die Kränkung leiden, zu meiner Mutter zurückgeschickt zu werden, als die Schande der Frau d’Urfé zu gestehen, daß ich sie betrogen habe; und ich kann den Gedanken nicht ertragen, in dieser Pension zu bleiben, wenn ich den Namen ablegen muß, unter dem ich hier bekannt bin.«

Ich sah, daß mit Zwang hier nichts auszurichten war, ich hätte ihn denn unter einem anderen Namen weit von Paris fortschicken müssen. Ich sagte ihm daher, er möchte sich beruhigen; ich würde darüber nachdenken, wie ich ihm und mir jede Unannehmlichkeit ersparen könnte.

»Sage mir jetzt – aber sei aufrichtig – von welcher Art ist die Zärtlichkeit der jungen Viar für dich?«

»Papa, ich glaube hier ist die Verschwiegenheit angebracht, die Sie und Mama mir empfohlen haben.«

»Gut! Die Antwort sagt mir genug; aber ich finde, du weißt für einen Gelbschnabel recht viel. Übrigens, mein Freund, ist Verschwiegenheit nicht angebracht, wenn es sich um eine Beichte handelt, und ich fordere von dir durchaus eine Beichte.«

»Nun denn, Papa, die kleine Viar liebt mich sehr, und sie beweist es mir auf alle möglichen Arten.«

»Und du? Liebst du sie auch?«

»Ja, ich liebe sie.«

»Bleibt sie morgens lange bei dir?«

»Wir sind den ganzen Tag zusammen.«

»Sie ist dabei, wenn du zu Bett gehst?«

»Ja, sie hilft mir beim Ausziehen.«

»Tut sie sonst nichts?«

»Das möchte ich Ihnen nicht sagen.«

Ich war erstaunt über seine wohlgemessenen Antworten; und da ich genug wußte, um nicht mehr daran zweifeln zu können, daß sie vollkommen mit einander einig waren, so ermahnte ich ihn nur noch, seine Gesundheit zu schonen, und ging.

Seit einiger Zeit konnte ich mich nicht von einem Gedanken losmachen, der mich fortwährend beschäftigte; er betraf eine Spekulation, die nach allen meinen Berechnungen gewinnbringend sein mußte. Es handelte sich darum, auf seidenen Stoffen durch Druck alle jene schönen Muster herzustellen, die in Lyon durch das langsame und schwierige Verfahren des Webens hergestellt werden.

Man mußte daher zu viel billigeren Preisen einen großen Umsatz machen können. Ich besaß alle erforderlichen chemischen Kenntnisse und genügende Betriebsmittel, um den Erfolg der Unternehmung zu sichern. Ich hatte mich mit einem tüchtigen Mann besprochen, der das Technische sowohl wie den Handel verstand; er sollte der Leiter der Fabrik werden.

Ich teilte meinen Plan dem Prinzen Conti mit, der mich ermutigte, ihn auszuführen, indem er mir seine Gunst und alle nur wünschenswerten Erleichterungen versprach. Dies brachte mich zum Entschluß.

Ich mietete in der Gegend des Temple ein großes und schönes Haus für tausend Taler jährlich. Es enthielt einen geräumigen Saal, worin alle Arbeiterinnen arbeiten sollten; einen anderen großen Saal, der als Lagerraum diente, zahlreiche Zimmer, um meine Arbeiter und Angestellten unterzubringen, und eine sehr hübsche Wohnung für mich, für den Fall, daß ich Lust bekommen sollte, sie zu beziehen.

Ich teilte mein Unternehmen in dreißig Aktien; davon gab ich fünf dem Zeichner, der das Ganze leiten sollte, und behielt die anderen fünfundzwanzig für mich, um über sie zugunsten von Teilhabern zu verfügen, welche entsprechende Kapitalien einlegen würden. Eine gab ich einem Arzt, den ich gegen Bürgschaft als Lagerverwalter anstellte, und der mit seiner ganzen Familie ins Haus zog. Ich nahm vier Bediente, eine Magd und einen Türhüter. Eine andere Aktie mußte ich meinem Buchhalter bewilligen, der mir zwei Schreiber besorgte und ebenfalls im Hause wohnte. Da mehrere Tischler, Schlosser und Maler von morgens bis abends an der Arbeit waren, so war in weniger als drei Wochen alles fertig. Ich überließ es dem Direktor, zwanzig junge Mädchen zum Bemalen der Stoffe anzustellen; diese sollten jeden Samstag ihren Lohn erhalten. Ich nahm dreihundert Stücke Tafft, Gros-de-Tours und Kamlotte von verschiedenen Arten auf Lager, um sie mit den Mustern bemalen zu lassen, deren Wahl ich mir vorbehalten hatte. Ich bezahlte alles bar.

Mit dem Direktor hatte ich ausgerechnet, daß ich, wenn der Verkauf erst nach einem Jahre begänne, ungefähr dreihunderttausend Franken ausgeben müßte. Für alle Fälle hätte ich noch meine Aktien gehabt, welche leicht und sicher zu verkaufen waren; aber ich hoffte, niemals in diese Notwendigkeit zu geraten, denn ich rechnete auf ein Jahreseinkommen von mindestens zweihunderttausend Franken.

Freilich verhehlte ich mir nicht, daß dieses Unternehmen mich zugrunde richten könnte, wenn mir der Absatz fehlte; aber wie hätte ich dies befürchten sollen, wenn ich die Schönheit meiner Stoffe sah und jeden Tag zu mir sagen hörte, ich dürfte sie nicht so billig verkaufen? Alles berechtigte mich daher zu den schönsten Hoffnungen.

In weniger als einem Monat gab ich für die Einrichtung des Hauses ungefähr sechzigtausend Franken aus; außerdem hatte ich mich zu einer wöchentlichen Ausgabe von mehr als zwölfhundert Franken verpflichtet.

Frau d’Urfé lachte herzlich, so oft sie mich sah, denn sie war überzeugt, daß diese ganze Unternehmung nur den Zweck hätte, die Neugierigen auf eine falsche Spur zu bringen und mein Inkognito zu wahren; sie ließ es sich nicht nehmen, daß ich nach Belieben Regen oder Sonnenschein machen könnte.

Der Anblick von zwanzig mehr oder weniger hübschen Mädchen, von denen das älteste keine zwanzig Jahre alt war, erschreckte mich keineswegs – wie ich es hätte wünschen sollen – sondern machte mir vielmehr das größte Vergnügen. Ich glaubte inmitten eines Harems zu sein und sah mit Vergnügen ihr bescheidenes und unterwürfiges Wesen und die Aufmerksamkeit, womit sie dem Unterricht des Lehrers folgten, der sie bei ihrer Arbeit anleitete. Die am besten bezahlten verdienten täglich nur vierundzwanzig Sous, und alle standen im besten Ruf, denn sie waren von der bejahrten und frommen Frau des Direktors ausgewählt worden; sie hatte mich um diese Vergünstigung gebeten, und ich hatte sie ihr bewilligt, weil ich in ihr eine gefälllige Vermittlerin zu finden hoffte, falls ich Lust bekommen sollte, mir ihre Wahl zunutze zu machen. Manon Baletti teilte meine Freude nicht; sie zitterte, als sie mich im Besitze eines Harems sah; denn sie fühlte wohl, daß meine Tugend bald an irgend einer neuen Klippe scheitern würde. Sie war mir allen Ernstes böse, obwohl ich ihr versichert hatte, daß kein einziges Mädchen im Hause schliefe.

Dieses Unternehmen erhöhte mich in meinen eigenen Augen und gab mir eine Wichtigkeit, die aus der begründeten Hoffnung auf ein glänzendes und wohlerworbenes Vermögen und zugleich aus dem Gedanken herrührte, daß ich einer ziemlich großen Anzahl von Menschen ihren Lebensunterhalt verschaffte. Aber dieses Glück war zu rein, als daß mir ein böser Geist nicht irgend etwas hätte in den Weg legen sollen.

Schon seit drei Monaten war Fräulein X. C. V. im Kloster, und es nahte sich der Zeitpunkt ihrer Niederkunft. Wir schrieben uns jede Woche zweimal, und in dieser Hinsicht war ich vollkommen beruhigt. Von Herrn de la Popeliniére konnte nicht mehr die Rede sein, da er sich bereits verheiratet hatte, und da das Fräulein nach dem Verlassen des Klosters zu ihrer Mutter zurückkehren sollte, so war damit die Sache überhaupt erledigt. Aber während so alles dazu beitrug, mich in meiner Sicherheit zu bestärken, brach plötzlich die Flamme hervor, die unter der Asche glomm.

Ich machte eines Tages einen Spaziergang in den Tuilerien, nachdem ich bei Frau von Urfé zu Mittag gespeist hatte. Nachdem ich ein paarmal die große Allee auf und ab gegangen war, bemerkte ich, daß eine alte Frau, die von einem schwarzgekleideten Manne, mit einem Degen an der Seite, begleitet war, mich prüfend betrachtete und ihre Beobachtungen ihrem Begleiter mitzuteilen schien. Da dies an einem viel besuchten öffentlichen Ort nicht auffallend war, so setzte ich meinen Spaziergang fort, ohne weiter darüber nachzudenken; als ich jedoch zurückkam, waren dieselben Menschen stehen geblieben, um mein Gesicht zu sehen. Ich sah sie jetzt ebenfalls genau an und erinnerte mich, den Mann in einer Spielhölle gesehen zu haben, wo er unter dem gascognischen Namen Castel-Bajac verkehrte. Ich kehrte um und erinnerte mich, nachdem ich mir das Gesicht der alten Hexe näher angesehen hatte, mit einiger Mühe, daß sie die Hebamme war, bei der ich mit Fräulein X. C. V. gewesen war, um sie wegen der Schwangerschaft um Rat zu fragen. Ich war überzeugt, daß sie mich erkannt hatte, glaubte jedoch, daß ich nichts zu befürchten hätte, und verließ einfach den Park, um an einem andern Ort spazieren zu gehen. Als ich zwei Tage darauf um elf Uhr in meinen Wagen steigen wollte, sah ich einen verdächtig aussehenden Menschen, der mir ein Papier hinhielt und mich aufforderte, es zu lesen. Ich öffnete es; da ich jedoch ein unleserliches Gekritzel sah, so gab ich es ihm zurück und sagte ihm, er möchte es mir vorlesen. Er tat es, und ich hörte eine Aufforderung, vor dem Polizeikommissär zu erscheinen, um mich wegen einer Klage zu verantworten, die die Hebamme Soundso, deren Namen ich vergessen habe, gegen mich eingereicht hätte.

Obgleich ich leicht erraten konnte, worüber ich vernommen werden sollte, und überzeugt war, daß sie ihre Aussage nicht beweisen könnte, ging ich doch zu einem mir bekannten Anwalt und beauftragte ihn in aller Form mit meiner Vertretung. Ich sagte ihm, daß ich in Paris überhaupt keine Hebamme kenne oder je gekannt hätte. Er ging zum Kommissär und brachte mir am nächsten Tag eine Abschrift der Klage.

Sie behauptete folgendes: ich sei in einer Nacht mit einer jungen Dame, die etwa im fünften Monat schwanger gewesen wäre, zu ihr gekommen. In der einen Hand hätte ich eine Pistole, in der anderen eine Rolle von fünfzig Louis gehalten und ihr nur die Wahl gelassen, entweder zu sterben oder die zwölfhundert Franken zu verdienen, indem sie der Dame das Kind abtriebe. Diese wäre, wie ich, im Domino gewesen, woraus hervorginge, daß wir vom Opernball gekommen wären. Aus Furcht hätte sie sich nicht rundweg weigern können, aber sie hätte noch genug Selbstbeherrschung gehabt, um mir zu sagen, daß sie die notwendigen Mittel nicht zur Hand hätte, jedoch für die nächste Nacht alles bereit halten würde. Wir hätten uns mit dem Versprechen entfernt, daß wir wiederkommen würden. Im Glauben, daß dies bestimmt geschehen würde, wäre sie sofort am anderen Morgen zum Herrn Castel-Bajac gegangen und hatte ihn gebeten, sich im Nebenzimmer verborgen zu halten, um sie vor Gewalttätigkeiten zu schützen und zugleich zu hören, was ich ihr sagen würde; aber sie hätte mich nicht mehr wiedergesehen. Sie würde nicht verfehlt haben, schon am nächsten Tage Anzeige zu erstatten, wenn sie gewußt hätte, wer ich wäre. Nachdem sie mich nun erst am Tage vorher in den Tuilerien wieder erkannt und Herr Castel-Bajac ihr meinen Namen gesagt hätte, hielte sie es für Gewissenspflicht, mich anzuzeigen, damit nach der Strenge des Gesetzes gegen mich verfahren würde und damit sie Genugtuung für den Schimpf erhielte, den ich ihr angetan hätte.

Herr Castel-Bajac hatte als Zeuge unterschrieben.

»Die Verleumdung ist offenbar,« sagte mein Anwalt zu mir, »zum mindesten spricht keine Tatsache für die Wahrheit der Beschuldigung, die das Weib gegen Sie erhebt. Ich rate Ihnen daher, die Sache vor den Kriminalpräsidenten zu bringen und durch ihn die Genugtuung zu erhalten, die Ihre Ehre verlangt.«

Ich ermächtigte ihn, alles zu tun, was er für angemessen hielte; drei oder vier Tage darauf sagte er mir, der Beamte wolle mit mir unter vier Augen sprechen und erwarte mich um drei Uhr nachmittags.

Wie man sich denken kann, fand ich mich pünktlich ein. Ich fand einen höflichen und überaus liebenswürdigen Herrn. Es war der berühmte Herr de Sartines, den der König zwei Jahre später zum Polizeistatthalter ernannte. Das Amt des Kriminalpräsidenten war eine käufliche Stelle, die Herr de Sartines wieder verkaufte, als der König ihn an die Spitze der Polizei berief.

Sobald ich ihm meine Verbeugung gemacht hatte, lud Herr de Sartines mich ein, mich neben ihn Zu setzen, und sagte folgendes zu mir: »Mein Herr, ich habe Sie in unserem beiderseitigen Interesse gebeten, bei mir vorzusprechen, denn in dem Falle, worin Sie sich befinden, sind unsere Interessen untrennbar. In dem Prozeß, den man gegen Sie anstrengt, beschweren Sie sich mit Recht bei mir, wenn Sie unschuldig sind; vor allem aber müssen Sie mir die Wahrheit in vollstem Umfang sagen. Ich bin bereit, ohne Rücksicht auf mein Richteramt Ihnen zu helfen; aber Sie begreifen, daß man ihre Gegenpartei der Verleumdung überführen muß, um deren Schuld festzustellen. Ich wünsche von Ihnen eine außeramtliche und ganz vertrauliche Aufklärung, denn Ihr Fall ist bereits höchst bedenklich und von der Art, daß Sie trotz Ihrer Unschuld sich für verpflichtet halten können, um Ihrer Ehre willen Zurückhaltung zu beobachten. Ihre Gegner werden auf Ihr Zartgefühl keine Rücksicht nehmen. Sie werden Ihnen dermaßen zusetzen, daß Sie entweder eine entehrende Verurteilung über sich ergehen lassen müssen oder, um Ihre Unschuld zu beweisen, gegen Ihre eigene Überzeugung die Gebote der Ehre übertreten müssen. Ich mache Ihnen hiermit eine ganz vertrauliche Mitteilung. In gewissen Fällen steht mir die Ehre so hoch, daß ich ihr zu Liebe sogar die strengsten Vorschriften der Kriminaljustiz zurücktreten lasse. Vergelten Sie mir dieses mit Gleichem; schenken Sie mir volles Vertrauen, sagen Sie mir alles ohne Rückhalt und gewinnen Sie dadurch meine Freundschaft und mein Wohlwollen. Ich wage nichts, wenn Sie unschuldig sind, denn die Freundschaft wird mich niemals abhalten können, unparteiisch zu sein; wenn Sie aber schuldig sind, so beklage ich Sie; denn ich sage Ihnen, ich werde gerecht sein.«

Nachdem ich ihm alles gesagt hatte, was das Gefühl mir angab, um ihm meine Dankbarkeit darzutun, versicherte ich ihm, ich sei durch keine Rücksicht auf Ehre verpflichtet, etwas zurückzuhalten, und brauche ihm daher außeramtlich nichts zu sagen. »Die Hebamme ist mir vollständig unbekannt; es kann nur eine Verbrecherin sein, die mit Hilfe eines ihrer würdigen Genossen Geld von mir erschwindeln will.«

»Ich will es gerne glauben; aber wenn dies wahr ist, so begünstigt der Zufall das Frauenzimmer in merkwürdiger Weise, um für Sie den Beweis Ihrer Unschuld langwierig und schwierig zu machen: seit drei Monaten ist Fräulein X.C.V. verschwunden; man kennt Ihren vertrauten Umgang mit ihr; Sie besuchten sie zu jeder Stunde; Sie haben am Tage vor ihrem Verschwinden mehrere Stunden mit ihr verbracht, und man weiß nicht, wo sie ist. Jeder Verdacht kehrt sich gegen Sie, und Sie sind unaufhörlich von bezahlten Aufpassern umlauert. Die Hebamme hat mir gestern ihr Gesuch durch den Advokaten Vauversin einreichen lassen. Sie behauptet, die schwangere Dame, die Sie zu ihr geführt haben, sei dieselbe, wie die von Frau X.C.V. gesuchte. Die Anklägerin erklärt außerdem, Sie seien beide in schwarzen Dominos gewesen, und die Polizei hat bereits festgestellt, daß Sie wirklich beide in schwarzen Dominos auf dem Opernball gewesen sind, und zwar in derselben Nacht, in der Sie nach der Behauptung jenes Frauenzimmers sie aufgesucht haben; außerdem stimmen alle Berichte darin überein, daß Sie zusammen vom Ball verschwunden sind. Dies sind allerdings nur halbe Beweise; aber sie sind furchtbar.«

»Warum sollte ich mich fürchten?«

»Warum? Weil ein falscher Zeuge, der für Geld leicht zu finden ist, ohne Gefahr schwören kann, daß er Sie beide hat den Ball verlassen und in einen Fiaker steigen sehen. Ein Fiakerkutscher kann für ein bißchen Geld erkauft werden und bezeugen, daß er Sie zu der Hebamme gefahren hat. In diesem Fall würde ich mich gezwungen sehen, Sie verhaften zu lassen, um Sie zu zwingen, die Person zu nennen, die Sie zu Ihrer Anklägerin geführt haben. Bedenken Sie, man beschuldigt Sie der Abtreibung und es sind drei Monate verflossen, ohne daß die Familie den Zufluchtsort des Fräuleins hat entdecken können. Man hat gesagt, sie sei tot. Fühlen Sie nicht die ganze Bedeutung einer Anschuldigung wegen Mordes?«

»Gewiß, mein Herr; aber wenn ich trotz meiner Unschuld zugrunde gehen sollte, so würde dies durch Ihr Urteil geschehen; dann wären Sie mehr zu beklagen als ich.«

»Da haben Sie freilich recht; aber an Ihrem Schicksal würde dies doch nichts ändern, übrigens können Sie gewiß sein, daß ich Sie nicht unschuldig verurteilen würde; aber Sie würden vielleicht lange in einem Kerker schmachten müssen, bis Sie Ihre Unschuld beweisen könnten. Kurz, die Sache ist, wie Sie sehen, binnen vierundzwanzig Stunden sehr schlimm geworden, und in acht Tagen kann sie entsetzlich sein. Was meine Teilnahme zu Ihren Gunsten erregt hat, ist die Abgeschmacktheit der Anklage, über die ich habe lachen müssen; aber der Fall wird ernst durch die begleitenden Nebenumstände. Ich sehe die Wahrscheinlichkeit der Entführung; ich sehe, daß Liebe, und vor allem Ehre Sie zur Zurückhaltung zwingen. Ich habe beschlossen, mit Ihnen zu sprechen, und ich hoffe, Sie werden mir Ihr Herz rückhaltlos öffnen. Ich halte Sie für ganz unschuldig, und will Ihnen daher die Unannehmlichkeiten ersparen, die Ihnen drohen. Sagen Sie mir alles und seien Sie versichert, daß die Ehre des Fräuleins in keiner Weise leiden wird. Sollten Sie sich aber unglücklicherweise der Verbrechen schuldig fühlen, die man Ihnen zur Last legt, so rate ich Ihnen, Vorsichtsmaßregeln zu treffen, die Ihnen näher zu bezeichnen mir nicht zukommt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich Sie in drei oder vier Tagen amtlich werde vorladen lassen; dann werden Sie mich nur als Richter sehen – gerecht, aber unparteiisch und streng, wie das Gesetz.«

Ich war wie versteinert, denn diese Rede zeigte mir die Gefahr, worin ich schwebte, in ihrer ganzen Nacktheit. Ich fühlte, wie hohen Wert ich auf die wohlwollenden Anerbietungen dieses Ehrenmannes legen mußte, und ich sagte ihm mit zitternder Stimme: »Trotz meiner Unschuld sehe ich mich gezwungen, Ihre Güte zugunsten der Ehre des Fräuleins X.C.V. in Anspruch zu nehmen. Sie ist von jedem Verbrechen frei; aber sie läuft Gefahr, durch das Aufsehen, das diese unglückselige Geschichte machen wird, ihren guten Ruf zu verlieren. Ich weiß, wo sie ist, und ich kann Ihnen versichern, daß sie ihre Mutter nicht würde verlassen haben, wenn man sie nicht hätte zwingen wollen, einen Mann zu heiraten, den sie verabscheute.«

»Aber dieser Mann ist jetzt verheiratet; sie braucht nur zu ihrer Mutter zurückzukehren, und Sie sind gerettet – falls nicht etwa die Hebamme auf ihrer Behauptung besteht, daß Sie dem Fräulein bei der Abtreibung behilflich gewesen sind.«

»Ach, mein Herr, von Abtreibung ist gar nicht die Rede; aber andere Gründe verhindern sie, in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, bevor ich nicht eine Einwilligung erhalten habe, um die ich mich bemühen werde. Dann werde ich Ihnen die volle Aufklärung geben können, auf die Ihre edle Seele Anspruch hat. Bewilligen Sie mir die Ehre, mich übermorgen hier noch ein zweites Mal anzuhören.«

»Ich verstehe; ich werde Sie sehr gerne anhören; ich danke Ihnen und wünsche Ihnen Glück. Leben Sie wohl.«

Ich schwebte am Rande des Abgrundes, aber ich war fest entschlossen, lieber Frankreich zu verlassen, als das Geheimnis meiner lieben unglücklichen Freundin zu verraten. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich gerne die Geschichte mit Geld tot gemacht; aber dazu war keine Zeit mehr. Ich war überzeugt, daß Farsetti der Hauptschuldige an diesem Wirrwarr war, daß er mich beständig verfolgt und auch die Aufpasser bezahlt hatte, von denen Herr de Sartines mir gesprochen hatte. Er hatte mir auch den Advokaten Vauversin auf den Hals geschickt, und ich durfte nicht daran zweifeln, daß ihm kein Opfer zu teuer war, um mich zu verderben. Ich fühlte, daß ich nichts Besseres tun konnte, als mich Herrn von Sartines rückhaltlos anzuvertrauen; aber dazu bedurfte ich der Zustimmung der Frau du Rumain.

  1. Jupin = Jupiter (der König); Venus (die Pompadour); Plutus (Herr von Boulogne); Merkur (der Herzog von Richelieu); Mars (der Graf von Clermont, Abbé von St.-Germain-des-Prés).

Elftes Kapitel


Ich werde verhört. – Ich gebe dem Gerichtsschreiber dreihundert Louis. – Die Hebamme und Castel-Bajac werden ins Gefängnis gesetzt. – Fräulein X.C.V. bringt einen Knaben zur Welt und nötigt ihre Mutter, mir Genugtuung zu geben. – Mein Prozeß wird eingestellt. – Fräulein X.C.V. reist nach Brüssel ab und geht mit ihrer Mutter nach Venedig, wo sie eine große Dame wird. – Meine Arbeiterinnen. – Frau Baret. – Ich werde bestohlen, eingesperrt und wieder in Freiheit gesetzt. – Ich reise nach Holland. – Das Buch »vom Geist« von Helvetius. – Piccolomini.

Am Tage nach meiner ersten Unterredung mit Herrn de Sartines ging ich in aller Frühe zu Frau du Rumain. Da der Fall dringlich war, so nahm ich mir die Freiheit, sie wecken zu lassen. Sobald sie mich empfangen konnte, teilte ich ihr alles ganz genau mit.

»Hier gibt es kein Schwanken, mein lieber Casanova!« sagte die liebenswürdige Dame zu mir, »wir müssen Herrn von Sartines alles anvertrauen, und ich werde bestimmt noch heute mit ihm sprechen.«

In demselben Augenblick setzte sie sich an ihren Schreibtisch und bat den Kriminalpräsidenten um eine Unterredung für drei Uhr nachmittags. In weniger als einer Stunde brachte der Bediente die Antwort des Präsidenten, daß er sie erwarte. Wir verabredeten, daß ich sie am Abend wieder aufsuchen und dann von ihr den Erfolg ihres Besuches erfahren sollte.

Um fünf Uhr war ich schon bei ihr, und ich brauchte nur wenige Augenblicke auf ihre Rückkehr zu warten.

»Ich habe ihm alles enthüllt,« sagte sie; »er weiß, daß sie unmittelbar vor der Niederkunft steht, und er weiß, daß Sie nicht der Vater sind. Hierdurch stehen Sie im Lichte großen Edelmuts da. Ich habe Ihnen gesagt, daß das Fräulein sofort nach ihrer Entbindung und Wiederherstellung zu ihrer Mutter zurückkehren werde, ohne jedoch ihren Fehltritt zu gestehen, und daß das Kind an einen sicheren Ort gebracht werden würde. Sie haben nichts zu befürchten und können ruhig sein; da aber die einmal eingeleitete Sache ihren Lauf nehmen muß, so werden Sie für übermorgen vorgeladen werden. Ich rate Ihnen, den Gerichtsschreiber unter irgend einem Vorwand aufzusuchen und ihn zur Annahme einer Geldsumme zu bewegen.«

Ich wurde vorgeladen und erschien. Ich sah Herrn von Sartines sedentem pro tribunali. Zum Schluß der Sitzung sagte er mir, er sei genötigt, gegen mich eine Vorladung zu persönlichem Erscheinen zu erlassen; ich dürfe wegen der Gültigkeitsdauer während dieser Vorladung mich weder von Paris entfernen noch mich verheiraten, denn durch einen schwebenden Kriminalprozeß werde das Zivilrecht zeitweilig aufgehoben. Ich antwortete ihm, ich würde weder das eine noch das andere tun.

Bei dem Verhör gab ich zu, daß ich in der angegebenen Nacht den Opernball in einem schwarzen Domino besucht hätte; alles übrige aber leugnete ich.

In bezug auf Fräulein X.C.V. erklärte ich, daß weder ich noch jemand von ihrer Familie sie jemals im Verdacht gehabt hätten, schwanger zu sein.

Da meine Eigenschaft als Ausländer Vauversin auf den Gedanken bringen konnte, mich unter dem Vormund des Fluchtverdachtes verhaften zu lassen, so schien mir die Gelegenheit günstig zu sein, um den Gerichtsschreiber auf meine Seite zu bringen, und ich begab mich zu ihm. Nachdem ich ihm meine Befürchtung geäußert hatte, drückte ich ihm eine Rolle von dreihundert Louis in die Hand, über die ich natürlich keine Quittung verlangte, und sagte ihm, dieses Geld solle die Kosten des Prozesses decken, falls etwa diese von mir zu tragen wären. Er riet mir, Bürgschaftsstellung von Seiten der Hebamme zu verlangen, und ich beauftragte meinen Anwalt damit; aber vier Tage darauf ereignete sich folgendes:

Ich ging auf dem Boulevard du Temple spazieren, als ein Dienstmann mir einen Brief übergab, worin ich die Mitteilung las, daß jemand, der fünfzig Schritte entfernt in einem Gange auf mich warte, mich zu sprechen wünsche. Ich dachte bei mir selber: das ist entweder ein Liebesabenteuer oder eine Herausforderung; sehen wir zu! Ich ließ meinen mir folgenden Wagen nur halten und ging nach dem angegebenen Ort. Zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen sah ich den elenden Castel-Bajac vor mir. »Ich habe Ihnen nur zwei Worte zu sagen,« begann er, sobald er mich erblickte; »wir sind hier in Sicherheit; ich will Ihnen ein sicheres Mittel vorschlagen, Ihren Prozeß zu Ende zu bringen und dadurch viel Geld und Unruhe zu ersparen. Die Hebamme ist sicher, daß Sie der Herr sind, der mit einer schwangeren Dame bei ihr war; aber es tut ihr jetzt leid, daß man Sie beschuldigt, sie entführt zu haben. Geben Sie ihr hundert Louis; sie wird dem Gerichtsschreiber erklären, daß sie sich geirrt hat, und alles wird für Sie erledigt sein. Sie bezahlen ihr diese Summe erst, nachdem sie ihre Erklärung abgegeben hat: Ihr Wort genügt ihr. Kommen Sie mit mir zu Vauversin; ich bin sicher, er wird Sie überreden, meinen Vorschlag anzunehmen. Ich weiß, wo er ist; bitte folgen Sie mir in der Ferne.«

Ich hatte ihn angehört, ohne ein Wort zu sagen, und ich war entzückt, mit welcher Unvorsichtigkeit die Spitzbuben in die Falle gingen. Ich sagte zu dem Gascogner Spion: »Gut, führen Sie mich.« Ich folgte ihm in das dritte Stockwerk eines Hauses der Rue aux Ours, wo ich den Advokaten Vauversin fand. Sobald dieser mich sah, kam er ohne weitere Vorreden zur Sache und sagte: »Die Hebamme wird mit einem Zeugen zu Ihnen kommen, in der Absicht, Ihnen ins Gesicht zu sagen, daß Sie der Herr sind, der mit einer Frau zu ihr gekommen ist und Abtreibungsmittel von ihr verlangt hat. Sie wird Sie nicht erkennen. Sie wird hierauf mit dem Zeugen zum Gerichtsschreiber gehen und wird zu Protokoll geben, daß sie sich getäuscht hat. Dies wird dem Herrn Kriminalpräsidenten genügen, um das Verfahren gänzlich einzustellen. Durch dieses Mittel sind Sie sicher, den Prozeß gegen die Mutter des Fräuleins zu gewinnen.«

Da ich dies alles recht sinnreich ausgedacht fand, so sagte ich ihm ich würde täglich bis zwölf Uhr mittags im Temple sein.

»Aber die Hebamme braucht hundert Louis.«

»Das heißt, die ehrenwerte Frau bewertet ihren Meineid zu diesem Preise. Nun, gleichviel, ich verspreche sie, und Sie können auf mein Wort rechnen, aber ich werde die hundert Louis erst geben, wenn sie ihren Irrtum zu Protokoll gegeben hat.«

»Das genügt, mein Herr, vorausgesetzt, daß Sie bereit sind, den vierten Teil der Summe voraus zu bezahlen; diesen habe ich für meine Kosten und als Honorar zu beanspruchen.«

»Ich bin bereit, Ihren Wunsch zu erfüllen, wenn Sie mir eine regelrechte Quittung darüber geben wollen.«

Er zögerte anfangs; da ihm jedoch daran lag, das Geld zu erhalten, so tat er schließlich nach langem Hinundherreden, was ich wollte, und ich zählte ihm fünfundzwanzig Louis auf. Er dankte mir vielmals und sagte mir zuletzt, er werde mir, obwohl Frau X.C.V. seine Klientin sei, die besten Ratschläge geben, um alle ihre Maßnahmen zu vereiteln. Ich dankte ihm so lebhaft, wie wenn ich wirklich die Absicht gehabt hätte, von seinen Anerbietungen Gebrauch zu machen. Sobald ich zu Hause war, schrieb ich Herrn de Sartines alles Vorgefallene.

Drei Tage darauf meldete man mir eine Frau und einen Mann, die mich zu sprechen wünschten. Ich ging hinaus und fragte die Frau, was sie wünsche.

»Ich möchte Herrn Casanova sprechen.«

»Der bin ich.«

»So habe ich mich also getäuscht, mein Herr; ich bitte um Entschuldigung.«

Ihr Begleiter lächelte und sie gingen.

An demselben Tage erhielt die Gräfin du Rumain einen Brief von der Äbtissin, daß ihre Schutzbefohlene ein niedliches Bübchen zur Welt gebracht hätte und daß sie den Jungen nach einem Ort hätte bringen lassen, wo er die erste Pflege finden würde. Das Fräulein würde das Kloster erst nach sechs Wochen verlassen und würde dann mit einem Zeugnis, das sie gegen jede Unannehmlichkeit schützen müßte, zu ihrer Mutter zurückkehren.

Bald nachher wurde die Hebamme ins Gefängnis gesteckt; Castel-Bajac wurde nach Bicêtre geschickt, und Vauversin wurde aus der Liste der Advokaten gestrichen. Die Verfolgungen der Frau X.C.V. gegen mich dauerten bis zum Wiedererscheinen ihrer Tochter; aber ich wußte, daß ich mich darum nicht zu beunruhigen brauchte. Das Fräulein kehrte gegen Ende August ins Hotel de Bretagne zurück und überbrachte ihrer Mutter ihr Zeugnis, worin die Äbtissin erklärte, sie sei vier Monate bei ihr gewesen, sei während dieser Zeit niemals ausgegangen und habe keinen einzigen Besuch empfangen. Dies war die volle Wahrheit; aber die Äbtissin schrieb außerdem, sie kehre nur darum zu ihrer Familie zurück, weil sie von den Verfolgungen des Herrn de la Popelinière nichts mehr zu befürchten habe, und hierin log die Nonne.

Frau X.C.V. freute sich außerordentlich, ihre Tochter makellos wiederzusehen; diese wußte sie daraufhin zu veranlassen, sich persönlich zu Herrn de Sartines zu begeben und ihm das Zeugnis der Äbtissin zu zeigen, zu erklären, daß sie von jeder Verfolgung gegen mich absehe und bereit sei, mir volle Genugtuung zu geben, indem sie ihm sagte, ich wäre berechtigt, eine Entschädigung zu verlangen, aber man müsse, um nicht dem Rufe ihrer Tochter zu schaden, über alles Vorgefallene das strengste Schweigen bewahren.

Die Mutter schrieb mir einen Brief, der mir die vollste Genugtuung bot; ich beeilte mich, diesen zu den Gerichtsakten zu geben, wodurch mein ärgerlicher Prozeß in aller Form beendigt wurde. Ich schrieb ihr meinerseits einen Glückwunsch, aber ich betrat ihr Haus nicht wieder, um die unangenehmen Auftritte zu vermeiden, die ein Zusammentreffen mit Farsetti vielleicht zur Folge gehabt hätte. Da das Fräulein nicht mehr in Paris bleiben konnte, wo alle Welt ihre Geschichte kannte, so erbot Farsetti sich, sie nebst ihrer Schwester Madeleine nach Brüssel zu bringen. Einige Zeit darauf holte ihre Mutter sie dort ab, und sie reisten nach Venedig, wo meine Geliebte drei Jahre später eine vornehme Dame wurde. Fünfzehn Jahre darauf sah ich sie als Witwe wieder; sie war ziemlich glücklich und stand in ehrenvollem Ansehen wegen ihres Ranges, ihres Geistes und ihrer gesellschaftlichen Talente; ich bin aber mit ihr in keinerlei Verbindung mehr gestanden.

In vier Jahren wird der Leser sehen, wie und wo ich Castel-Bajac wieder fand. Gegen Ende desselben Jahres 1759 gab ich mehrere hundert Franken aus, um die Freilassung der Hebamme zu bewirken.

Ich lebte mit fürstlichem Luxus, und man konnte mich für glücklich halten; aber ich war es nicht. Meine ungeheuren Ausgaben, meine übermäßige Verschwendungssucht, meine Genußsucht und Freigebigkeit ließen mich wider meinen Willen in näherer oder fernerer Zukunft Unannehmlichkeiten voraussehen. Meine Fabrik würde mich instand gesetzt haben, mein Leben noch lange in gleicher Weise fortzuführen, wenn nicht der unglückliche Krieg den Absatz gelähmt hätte; auch ich mußte notwendigerweise die allgemeine Geldknappheit verspüren, die in Frankreich in allen Ständen herrschte. Ich hatte vierhundert Stück bemalter Stoffe auf Lager, aber es war nicht wahrscheinlich, daß ich sie vor dem Frieden verkaufen konnte, und da dieser heißersehnte Friede erst in einer noch fernen Zukunft zu erwarten war, so drohte mir eine Art Ruin.

In dieser Befürchtung schrieb ich an Esther, sie möge ihren Vater bewegen, die Hälfte des Betriebskapitals einzulegen, mir einen tüchtigen Geschäftsführer zu schicken und mein Teilhaber zu werden. Herr d’O. antwortete mir, wenn ich die Fabrik nach Holland verlegen wollte, so würde er alles auf sich nehmen und mir die Hälfte des Gewinnes geben; aber ich liebte Paris und ging auf diesen vorteilhaften Vorschlag nicht ein. Ich hatte es zu bereuen.

Mein Haus Klein-Polen kostete mir viel Geld; die Hauptausgabe aber, die mich zugrunde richtete und die kein Mensch kannte, verursachten mir meine kleinen Arbeiterinnen; denn bei meinem Temperament und meiner Vorliebe für die Abwechslung waren zwanzig junge Mädchen, fast alle hübsch und alle verführerisch, wie es die Pariserinnen sind, für mich eine Klippe, woran meine Tugend täglich von neuem Schiffbruch leiden mußte. Ich war auf die meisten neugierig, und da ich nicht die Geduld hatte, durch langsames Vorgehen sie ebenfalls neugierig auf mich zu machen, so machten sie sich meine Ungeduld zunutze, um mir ihre Gunst so teuer wie möglich zu verkaufen.

Das Beispiel der ersten diente ihnen allen zum Muster, um Haus, Möbel, Geld, Schmuck zu verlangen; und ich kannte zu wenig den Wert von hundert Louis, um mich dadurch von der Befriedigung einer Laune abhalten zu lassen. Meine Laune dauerte niemals länger als eine Woche; oft war sie schon nach drei oder vier Tagen verflogen, und natürlich schien mir stets die zuletzt gekommene meiner Aufmerksamkeiten am würdigsten zu sein. Sobald ich mein Auge auf eine neue geworfen hatte, sah ich die alten nicht mehr, aber ich fuhr fort, deren Ansprüche zu befriedigen, und diese gingen weit. Frau von Urfé, die mich für sehr reich hielt, hielt mich nicht von dieser Verschwendung zurück. Ich machte sie glücklich, indem ich durch meine Orakel ihre magischen Operationen unterstützte, in die sie sich von Tag zu Tag mehr verrannte, obgleich ihre Versuche niemals zum Ziele führten. Manon Baletti quälte mich durch ihre Eifersüchteleien und durch ihre berechtigten Vorwürfe. Sie konnte – und mit Recht – nicht begreifen, wie ich die Heirat mit ihr immer noch hinausschieben könnte, wenn ich sie wirklich liebte. Sie beschuldigte mich, sie zu täuschen. Ihre Mutter starb an der Schwindsucht in unseren Armen. Zehn Minuten vor ihrem letzten Atemzuge empfahl sie mir ihre Tochter, und ich gab ihr das ganz aufrichtige Versprechen, sie zu heiraten; aber das Schicksal, wie man es ja zu nennen pflegt, widersetzte sich stets dieser Absicht. Sylvia hatte mir die innigste Freundschaft eingeflößt; ich verehrte sie als eine ausgezeichete Frau, deren wohltätiges Herz und sittliche Reinheit sie der allgemeinen Achtung und Wertschätzung würdig machten. Ich blieb drei Tage lang in der Familie und teilte von ganzem Herzen die Trauer aller ihrer Mitglieder.

Wenige Tage darauf verlor mein Freund Tiretta seine Geliebte, die an einer schmerzhaften Krankheit starb. Als sie ihr Ende nahen fühlte, beschloß sie Gott zu widmen, was sie den Menschen nicht mehr geben konnte; daher verabschiedete sie vier Tage vor ihrem Tode ihren Liebhaber, indem sie ihm einen wertvollen Ring und eine Börse mit zweihundert Louisdor schenkte. Tiretta schnürte sein Bündel und kam nach Klein-Polen, um mir die traurige Nachricht zu überbringen. Ich brachte ihn im Temple unter, und als er einen Monat darauf Lust bekam, sein Glück in Indien zu versuchen, billigte ich diesen Entschluß und gab ihm einen Empfehlungsbrief an Herrn d’O. in Amsterdam, der ihn in weniger als vierzehn Tagen auf einem Schiff der Gesellschaft, das nach Batavia segelte, als Schreiber unterbrachte. Bei guter Aufführung würde er reich geworden sein, aber er ließ sich in eine Verschwörung ein, mußte fliehen und erlebte seither manche Wechselfälle des Glücks. Von einem seiner Verwandten erfuhr ich, daß er im Jahre 1788 in Bengalen lebte; er war damals reich, konnte aber sein Vermögen nicht flüssig machen, um in seine Heimat zurückzukehren und dort sein Lebensende glücklich zu verbringe; was später aus ihm geworden ist, weiß ich nicht.

Im Anfang des Monats November kam ein Küchenbeamter vom Hofe des Herzogs von Elboeuf mit seiner Tochter in meine Fabrik, um ihr ein Kleid für ihre Hochzeit zu kaufen. Ich war von ihrer Schönheit geblendet. Sie wählte ein Stück sehr glänzenden Atlasses, und ihr schönes Gesicht belebte sich vor Freude, als sie sah, daß ihr Vater mit dem Preise einverstanden war; groß aber war ihr Kummer, als der Verkäufer ihrem Vater sagte, er müsse das ganze Stück nehmen, weil ein Einzelverkauf nicht stattfinde. Ich konnte ihrem Schmerz nicht widerstehen, und um nicht zu ihren Gunsten eine Ausnahme zu machen, ging ich schnell in mein Privatzimmer. Hätte ich nur die Eingebung gehabt, das Haus zu verlassen, dann würde ich viel Geld gespart haben; aber freilich, welcher Freuden, welcher Genüsse würde ich mich dann auch beraubt haben! In ihrer Verzweiflung bat die reizende Kleine den Direktor, sie zu mir zu führen, und dieser wagte ihr ihre Bitte nicht abzuschlagen. Sie trat ein; zwei große Tränen schwammen in ihren Augen und dämpften das Feuer ihrer Blicke. »Mein Herr,« sagte sie ohne weiteres zu mir, »Sie sind reich; Sie können das Stück kaufen und mir davon den Stoff zu einem Kleide ablassen. Sie machen mich damit glücklich.«

Ich warf einen Blick auf ihren Vater, und er sah aus, wie wenn er mich wegen der Kühnheit seines Kindes um Entschuldigung bäte.

»Ihr Freimut gefällt mir, Fräulein; da diese Gefälligkeit Sie glücklich macht, wie Sie sagen, so sollen Sie das Kleid haben.«

Sie fiel mir um den Hals und küßte mich vor Dankbarkeit, während ihr biederer Vater sich vor Lachen ausschütten wollte. Ihre Küsse behexten mich vollends. Ihr Vater bezahlte das Kleid und sagte dann zu mir: »Mein Herr, Sonntag verheirate ich diese kleine Närrin; es gibt ein Abendessen und hierauf einen Tanz. Sie werden uns glücklich machen, wenn Sie uns die Ehre erweisen wollen, an dem Feste teilzunehmen. Ich heiße Gilbert und bin Kontrolleur beim Herzog von Elboeuf.«

Ich versprach ihm pünktlich zu kommen, und die junge Braut machte einen Freudensprung, der sie mir noch schöner erscheinen ließ.

Am Sonntag begab ich mich nach dem mir bezeichneten Ort, aber ich konnte weder essen noch tanzen. Die schöne Gilbert hielt 2?Z mich gewissermaßen verzaubert, solange ich mich in der Gesellschaft befand, an deren Ton ich mich niemals hätte gewöhnen können. Es waren Hausbeamte vornehmer Häuser mit ihren Frauen und Töchtern; sie äfften die guten Manieren ihrer Herrschaften nach und machten sich dadurch nur lächerlich. Ich kannte keinen einzigen von ihnen, und kein Mensch wußte, wer ich war; ich war daher unter ihnen durchaus nicht an meinem Platz und spielte eine dumme Rolle. In solchen Gesellschaften ist gerade der Klügste der Tölpel. Jeder machte mit der Neuvermählten seinen Witz; sie antwortete allen, und man lachte oft, ohne sich zu verstehen. Der Gatte, ein trauriger magerer Tropf, freute sich, daß seine Frau so lustig mit den Gästen zu scherzen wußte.

Obgleich ich in seine Frau verliebt war, beneidete ich ihn durchaus nicht um sein Los; im Gegenteil, er tat mir leid. Ich erriet, daß er sich nur in der Hoffnung auf eine Verbesserung seiner Vermögensumstände verheiratete, und ich prophezeite ihm innerlich die Hörner, die seine schöne feurige Frau ihm unfehlbar aufsetzen mußte; denn er war häßlich und schien von den Vorzügen eines solchen Weibes kaum eine Ahnung zu haben. Ich bekam Lust, die junge Gattin näher zu befragen, und sie bot mir Gelegenheit dazu, indem sie sich nach einem Kontertanz neben mich setzte. Sie dankte mir zunächst für meine Gefälligkeit und.sagte mir, man habe ihr schönes Kleid allgemein gelobt.

»Dennoch bin ich überzeugt, daß Sie es gerne bald ausziehen möchten; denn ich kenne die Liebe und ihre Ungeduld.«

»Es ist wirklich komisch, daß alle Leute mich durchaus für verliebt halten wollen, während ich doch Herrn Baret erst vor acht Tagen zum ersten Male gesehen habe; vorher wußte ich überhaupt nicht, daß er auf der Welt war.«

»Warum verheiratet man Sie denn so in der Eile und läßt Ihnen keine Zeit, besser bekannt zu werden?«

»Weil mein Vater alles so in der Eile macht.«

»Ihr Gatte ist ohne Zweifel reich?«

»Nein, aber er kann es vielleicht werden. Wir eröffnen übermorgen einen Laden mit seidenen Strümpfen an der Ecke der Rue St.-Honors und der Rue des Prouvères. Ich hoffe, mein Herr, Sie werden bei uns kaufen; wir werden Sie mit besonderem Vergnügen bedienen.«

»Sie können sich darauf verlassen; ich verspreche Ihnen sogar, das Handgeld zu bringen, und sollte ich auch die Nacht vor Ihrer Türe zubringen, um der erste zu sein.«

»O, wie liebenswürdig! Herr Baret,« sagte sie zu ihrem Mann, der ganz dicht bei uns stand, »der Herr verspricht mir, er werde uns das Handgeld bringen.«

»Der Herr ist sehr gütig,« sagte der Ehemann nähertretend; »aber der Herr wird auch mit mir zufrieden sein, denn meine Strümpfe fasern niemals.«

Am Dienstag war ich schon mit Tagesanbruch an der Ecke der Rue de Prouvères und stand mir beinahe die Beine in den Leib, bis endlich eine Magd kam und den Laden öffnete. Ich trat ein.

»Was wünschen Sie?« sagte das Mädchen zu mir.

»Ich möchte Strümpfe kaufen.«

»Die Herrschaft liegt noch im Bett; Sie können spater wiederkommen.«

»Nein, ich werde warten, bis sie aufgestanden sind. Wissen Sie was,« und damit gab ich ihr sechs Franken, »Sie können mir Kaffee holen, ich werde ihn hier trinken.«

»Ich soll Ihnen Kaffee holen? Ich bin nicht so dumm, Sie im Laden allein zu lassen.«

»Sie haben wohl Angst, daß ich stehlen könnte?«

»Na, das ist schon vorgekommen; ich kenne Sie ja nicht.«

»Sie haben recht; aber ich werde bleiben.«

Bald darauf kam Baret herunter; er schalt das arme Mädchen aus, daß sie ihm nicht sofort Bescheid gesagt hätte, und befahl ihr, seiner Frau zu sagen, sie möchte sofort kommen. Zugleich machte er schnell seine Pakete auf, damit ich meine Wahl treffen könnte. Er hatte Westen, Strümpfe, Unterhosen aus gestrickter Seide. Ich wühlte alles durch und sah mir alles an, ohne mich jedoch zu entschließen, bis endlich, frisch wie eine Rose und blendend weiß, seine Frau herunterkam. Sie lächelte mir verführerisch zu, entschuldigte sich wegen ihres Morgenkleides und dankte mir, daß ich mein Wort gehalten hätte.

»Ich breche es niemals, besonders wenn es sich um eine so liebenswürdige Dame handelt wie Sie.«

Frau Baret war siebzehn Jahre alt, von mittlerer Größe, tadellos gewachsen; obgleich sie keine vollendete Schönheit war, hätte selbst ein Raffael niemals etwas Anziehenderes schaffen können, etwas, das mächtiger das Herz entflammt. Ihre lebhaften, hervortretenden Augen, ihre langen Wimpern, die ihren Blicken etwas so Bescheidenes und zugleich so Wollüstiges gaben, ihr durch ein beständiges Lächeln verschönerter Mund, ihre prachtvollen Zähne, ihre Rosenlippen, ihre blendend weiße Haut, die anmutige Aufmerksamkeit, womit sie zuhörte, der Silberklang ihrer Stimme, ihr lebhaftes und doch so sanftes Wesen, ihre schelmische Munterkeit, ihre Anspruchslosigkeit, die Bescheidenheit, womit sie von ihren Reizen zu denken schien, deren Macht sie offenbar nicht kannte – mit einem Wort, dieses unbeschreibliche Ganze versetzte mich in eine Art von Verzückung beim Anblick dieses schönen Meisterwerkes der Natur, in dessen Besitz der Zufall oder gemeiner Eigennutz den armen Baret gebracht hatte, den ich schmächtig, blaß, kränklich vor mir stehen sah, und dessen ganze Aufmerksamkeit seinen Strümpfen galt, auf die er viel größeren Wert legte, als auf das reizende Spielzeug, das Hymen ihm mit Unrecht beschert hatte, da er es weder würdigen noch genießen konnte.

Ich wählte für fünfundzwanzig Louis Strümpfe und Westen und bezahlte diese, ohne zu feilschen. Das Gesicht der hübschen Kaufmannsfrau strahlte vor Freude, und ich erblickte darin ein günstiges Zeichen für meine Liebe, obgleich ich wenig Hoffnung hatte; denn ich glaubte, daß der Honigmond einer Liebelei wohl nicht sehr günstig sein würde.

Ich sagte dem Mädchen, ich würde ihr sechs Franken geben, wenn sie mir das Paket nach Klein-Polen brächte, und entfernte mich.

Am nächsten Sonntag brachte Baret selber mir mein Paket, Ich gab ihm sechs Franken für die Magd, aber er sagte mir, er würde sich nicht schämen, sie für sich selber zu behalten. Ich fand diese Habsucht sehr gemein, zumal da er seine Magd eines rechtmäßigen Trinkgeldes beraubte, nachdem er an den fünfundzwanzig Louis einen recht ansehnlichen Verdienst gehabt hatte, aber ich mußte ihn mir günstig stimmen, und darum war es mir nicht unangenehm ein so bequemes Mittel gefunden zu haben, ihm die Augen zu schließen Daher behandelte ich den Ehemann recht gut, um ihn noch geschmeidiger zu machen, und nahm mir vor, das Mädchen schadlos zu halten. Ich ließ ihm ein Frühstück vorsetzen und fragte ihn, warum er seine Frau nicht mitgebracht hätte.

»Sie hat mich allerdings darum gebeten, aber ich wagte nicht, mir diese Freiheit zu nehmen, weil ich fürchtete, es könnte Ihnen mißfallen.«

»Sie hätten mir im Gegenteil einen großen Gefallen getan, denn ich finde Ihre Frau reizend.«

»Sie sind sehr gütig, mein Herr; aber sie ist noch recht jung.«

»Ich sehe nicht ein, warum Sie sich darüber beklagen sollten. Wenn Sie gerne spazieren gehen, so wird es mich sehr freuen, wenn Sie sie einmal mitbringen.«

Er sagte mir, dies würde ihm selber viel Vergnügen machen.

Wenn ich in meinem Wagen an ihrem Laden vorüberfuhr, warf ich ihr Kußhändchen zu, ohne jedoch anzuhalten, denn ich brauchte keine Strümpfe mehr. Auch würde ich mich unter der Menge von Stutzern, die zu allen Tageszeiten ihren kleinen Laden füllten, gelangweilt haben. Man begann sich in der Stadt mit ihr zu beschäftigen; man sprach von ihr im Palais-Royal, und ich hörte zu meiner Freude sagen, sie sei nur deshalb so zurückhaltend, weil sie auf irgend einen reichen Gimpel warte. Daraus ging hervor, daß noch niemand sie gehabt hatte, und ich hoffte, daß ich vielleicht selber dieser Gimpel – aus freien Stücken – sein könnte.

Einige Tage darauf winkte sie mir mit der Hand, als sie in der Ferne meinen Wagen sah. Ich stieg aus; ihr Mann bat mich tausendmal um Entschuldigung und sagte mir, er wünschte, daß ich der erste wäre, der seine ganz neumodischen Beinkleider ansehe, die er eben erst bekommen hätte. Diese Beinkleider waren bunt, und kein Lebemann von gutem Ton trug morgens andere. Es war eine sonderbare Mode, aber einem gut gewachsenen jungen Mann standen diese Beinkleider sehr gut. Da sie gut anschließen mußten, so sagte ich ihm, er möchte mir sechs Paar anfertigen lassen, und erbot mich, sie im voraus zu bezahlen.

»Mein Herr, ich habe sie in allen Größen vorrätig; gehen Sie in das Zimmer meiner Frau, Sie können sie dort anprobieren.«

Der Augenblick war kostbar. Ich willigte ein, besonders als ich ihn zu seiner Frau sagen hörte, sie möchte mir behilflich sein. Ich ging hinauf; sie folgte mir, und ich begann mich auszukleiden, indem ich mich entschuldigte, daß ich es in ihrer Gegenwart täte. Sie antwortete: »Ich stelle mir vor, ich sei jetzt ihr Kammerdiener, und ich will dessen Dienste verrichten.« Ich glaubte nicht den Spröden spielen zu dürfen und gab ihrem Diensteifer nach. Nachdem ich meine Schuhe abgelegt hatte, ließ ich mir von ihr die Hosen ausziehen, behielt jedoch meine Unterhosen an, um ihre Schamhaftigkeit nicht zu sehr zu verletzen. Sie nahm nun ein Paar Beinkleider, probierte sie an, zog sie wieder aus und probierte andere an. Dies alles geschah von beiden Seiten mit größtem Anstand, denn ich hatte mir vorgenommen, bis zum Schluß dieser reizenden Szene anständig zu bleiben, da ich mir Besseres versprach. Sie fand, daß vier von diesen Beinkleidern mir ganz entzückend paßten, und da ich keinen Anlaß fand, ihr zu widersprechen, so gab ich ihr sechzehn Louis, die sie dafür forderte, und sagte ihr, ich würde mich glücklich schätzen, wenn sie selber sie mir in einem freien Augenblick bringen wolle. Sie ging ganz stolz in den Laden, um ihrem Mann zu zeigen, daß sie zu verkaufen verstände; ich folgte ihr auf dem Fuße, und Baret sagte mir, er würde am nächsten Sonntag die Ehre haben, mit seiner kleinen Frau zu mir zu kommen, um mir meinen kleinen Einkauf zu bringen.

»Sie werden mir ein Vergnügen machen, Herr Baret, besonders wenn Sie zum Essen bei mir bleiben.«

Er antwortete mir, er habe um zwei Uhr ein dringliches Geschäft und könne sich daher nur unter der Bedingung verpflichten, daß ich ihm erlauben würde, sich zu diesem Zweck zu entfernen; er werde jedoch bestimmt gegen fünf Uhr wiederkommen und seine Frau abholen. Dies paßte mir so herrlich, daß ich mich beinahe unbehaglich fühlte! Aber ich wußte mich zu beherrschen und antwortete ihm ruhig: »Dies wird mich ja allerdings des Vergnügens Ihrer Gesellschaft berauben, aber ich bitte Sie, vollständig nach Ihrem Belieben zu verfahren, zumal da ich selber erst um sechs Uhr ausgehen muß.«

Der Sonntag kam, und die braven Bürgersleute hielten Wort. Sobald sie bei mir waren, ließ ich meine Türe für den ganzen Tag schließen, und da ich ungeduldig war, zu sehen, was mir der Nachmittag bringen würde, so ließ ich das Mittagessen frühzeitig auftragen. Die Speisen waren ausgezeichnet und die Weine köstlich. Der Biedermann aß und trank reichlich, sodaß ich ihn aus Höflichkeit darauf aufmerksam machen mußte, daß er um zwei Uhr ein dringliches Geschäft hatte. Da sein Geist durch den Champagner ermuntert war, so hatte er den glücklichen Gedanken, seiner Frau zu sagen, sie möchte allein nach Hause gehen, falls ihn seine Geschäfte länger zurückhalten sollten, als er glaubte. Ich aber beeilte mich zu sagen, daß ich mit ihr in meinem Wagen eine Spazierfahrt um die Boulevards machen und sie nach Hause fahren würde. Er dankte mir, und da er etwas unruhig war, ob er auch noch rechtzeitig nach dem verabredeten Ort kommen würde, so machte ich ihn überglücklich, als ich ihm sagte, ein für den ganzen Tag bezahlter Fiaker warte auf ihn vor der Tür. Er ging, und ich war endlich allein mit seinem Kleinod, das ich bis sechs Uhr abends zu besitzen sicher war.

Als ich die Haustür hinter dem guten Trottel schließen hörte, sagte ich zu seiner Frau: »Ich mache Ihnen mein Kompliment, gnädige Frau, daß Sie einen so gefälligen Gatten haben, denn mit einem Mann von solchem Charakter müssen Sie gewiß glücklich sein.«

»Glücklich sein ist leicht gesagt; aber um es wirklich zu sein, muß man es fühlen und muß in seinem Gemüt ruhig sein. Mein Mann hat eine so zarte Gesundheit, daß ich mich nur als eine Krankenpflegerin ansehen kann: außerdem hat er Schulden, die er gemacht hat, um sein Geschäft einzurichten, und die uns zur strengsten Sparsamkeit nötigen. Wir sind zu Fuß hierhergekommen, um vierundzwanzig Sous zu sparen. Der Ertrag unseres kleinen Geschäftes würde ausreichen, wenn wir nichts schuldig wären; aber bei unseren Schulden geht alles für diese darauf, und wir verkaufen nicht genug.«

»Sie haben aber doch viele Kunden; denn jedesmal, wenn ich bei Ihnen vorbeifahre, sehe ich den Laden überfüllt.«

»Diese Kunden sind lauter Tagediebe, schlechte Spaßvögel, liederliche Menschen, die mir mit ihren Komplimenten in den Ohren liegen, daß mir beinahe übel wird. Sie haben keinen Heller, und wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen, damit ihre Finger nicht an einen unrechten Ort geraten. Wenn wir diesen Leuten auf Borg verkaufen wollten, wäre unser Laden schon seit mehreren Tagen leer. Ich habe gegen sie kein Mittel, als recht mürrisch zu sein, in der Hoffnung, sie auf diese Weise los zu werden; aber es nützt nichts. Sie sind von einer Unverfrorenheit, die mich ganz ratlos macht. Wenn mein Mann daheim ist, gehe ich in mein Zimmer, aber oft ist er abwesend, und dann muß ich ihre Gesellschaft ertragen. Außerdem verkaufen wir wegen der allgemeinen großen Geldnot nur wenig; trotzdem aber müssen wir jeden Samstag die Arbeiter bezahlen. Ich sehe voraus, wir werden sie binnen kurzem entlassen müssen; denn wir haben Wechsel ausgestellt, deren Verfallzeit nicht mehr fern steht. Samstag müssen wir sechshundert Franken bezahlen, und wir haben nur zweihundert.«

»Daß Sie in den ersten Tagen Ihrer Ehe in solchen Verlegenheiten sind, überrascht mich sehr. Ihr Vater mußte doch wissen, wie Ihr Mann stand, und was ist denn aus Ihrer Mitgift geworden?«

»Meine Mitgift von sechstausend Franken hat zum großen Teil dazu gedient, unsere Ladenausrüstung zu beschaffen und Schulden zu bezahlen. Unsere Waren sind dreimal so viel wert, als wir schuldig sind, aber wenn der Absatz fehlt, ist dies ein totes Kapital.«

»Sie tun mir leid; denn wenn der Friede nicht geschlossen wird, muß Ihre Lage immer schlimmer werden. Im Laufe der Zeit werden Ihre Bedürfnisse sich steigern.«

»Gewiß; denn wenn es meinem Mann besser geht, bekommen wir vielleicht Kinder.«

»Wie? verhindert ihn denn seine Gesundheit Sie zur Mutter zu machen? Das ist doch nicht möglich!«

»Ich glaube nicht, daß ich Mutter werden kann, wenn ich Jungfer bleibe. Übrigens mache ich mir nichts daraus.«

»Das scheint mir unglaublich. Wie kann ein Mann an Ihrer Seite krank sein, wenn er nicht in den letzten Zügen liegt? Er ist also tot?«

»Tot ist er nicht, aber er gibt kaum ein Lebenszeichen.«

Über diesen Witz mußte ich lachen, und ich umarmte sie, ohne allzu großen Widerstand zu finden. Der erste Kuß war wie ein elektrischer Funke; er setzte mich in Flammen, und ich erneuerte meinen Angriff, bis sie schließlich sanft wie ein Lamm wurde. Um sie zu ermutigen, sagte ich zu ihr: »Ich werde Ihnen helfen; ich werde Ihnen helfen, am Samstag den Wechsel einzulösen!« Mit diesen Worten zog ich sie sanft in ein Kabinett, wo ein schöner Divan einen bequemen Altar bildete, um das Liebesopfer zu vollziehen.

Ich war hoch entzückt, daß sie sich meinen Liebkosungen und meiner Neugier fügte; aber sie überraschte mich über alle Maßen, als ich mich zur Vollbringung des Opfers anschickte und schon eine Stellung zwischen den beiden Säulen eingenommen hatte, plötzlich aber durch eine Bewegung gestört wurde, durch die die Ausführung völlig unmöglich wurde. Ich hielt es anfangs für eine jener Listen, deren die Liebe sich oft bedient, um den Sieg noch süßer zu machen, indem er durch Hindernisse erkauft werden muß, deren Überwindung die Wonne vergrößert; als ich aber sah, daß sie sich allen Ernstes verteidigte, sagte ich halb ärgerlich zu ihr: »Wie konnte ich diese Weigerung in einem Augenblick erwarten, wo ich in Ihren Augen zu lesen glaubte, daß Sie meine glühenden Wünsche teilen?«

»Meine Augen haben Sie nicht getäuscht; aber was sollte ich zu meinem Mann sagen, wenn er mich anders fände, als Gott mich geschaffen hat?«

»Es ist nicht möglich, daß er Sie unberührt gelassen hat!«

»Liebster, ich lüge nicht; ich verspreche Ihnen, es Ihnen zu beweisen. Habe ich das Recht, eine Frucht, die Hymen gehört, zu verschenken, bevor er sie zum erstenmal gekostet hat?«

»Nein, göttliches Weib, nein! Bewahre diese Frucht für einen Mund, der ihres Genusses nicht würdig ist. Ich beklage dich und bete dich an, komm in meine Arme. Überlasse dich meiner Liebe und fürchte nichts. Ich werde die Frucht nicht anbeißen, aber ich kann ihre Oberfläche kosten, ohne eine Spur darauf zurückzulassen.«

Wir verbrachten drei Stunden damit, uns durch köstliche Ausgelassenheiten zu täuschen, die sehr dazu angetan waren, trotz unseren gegenseitigen wiederholten Sprengopfern uns von neuem zu entflammen. Das tausendmal wiederholte Versprechen, ganz mein zu sein, sobald Baret glauben könnte, sie besessen zu haben, tröstete mich über mein Mißgeschick. Nachdem ich sie auf dem Boulevard spazieren gefahren hatte, brachte ich sie nach Hause; dort verabschiedete ich mich von ihr, indem ich ihr eine Rolle von fünfundzwanzig Louis in die Hand drückte.

Verliebt, wie ich nie zuvor ein Weib geliebt zu haben glaubte, fuhr ich täglich drei- oder viermal an ihrem Laden vorüber. Ich machte zu diesem Zweck ziemlich große Umwege, zum großen Mißvergnügen meines Kutschers, der mir unaufhörlich sagte, ich führe meine Pferde zuschanden. Ich war glücklich, wenn ich sah, wie sie auf den Augenblick meines Vorüberfahrens lauerte, und wie sie mir mit ihren lieblichen Fingerspitzen Küßchen zuwarf.

Wir hatten abgemacht, daß sie mir nicht früher ein Zeichen zum Aussteigen geben sollte, als bis ihr Mann die Schwierigkeit besiegt hätte. Endlich kam dieser so heiß ersehnte, so ungeduldig erwartete Tag. Auf das verabredete Zeichen hieß ich den Kutscher halten; sie stieg auf das Trittbrett meines Wagens und sagte mir, ich möchte sie an der Tür der Kirche St.-Germain-d’Auxerrois erwarten.

Ich war neugierig zu erfahren, was sie mir zu sagen hätte, und zu sehen, was bei dem Stelldichein herauskommen würde; ich fuhr daher sogleich nach dem verabredeten Ort, und eine Viertelstunde später kam auch sie, ihr hübsches Köpfchen in eine Kapuze gehüllt. Sie stieg in meinen Wagen, sagte, sie habe einige Einkäufe zu machen, und bat mich, sie nach dem Palais Marchand zu fahren.

Ich hatte selber Geschäfte und sogar ziemlich dringende; aber was kann man einer angebeteten Frau abschlagen! Ich befahl dem Kutscher: Nach der Place Dauphine! und machte mich darauf gefaßt, meine Börse zu öffnen, denn ich hatte ein Vorgefühl, daß sie ohne Umstände darüber verfügen würde. In der Tat waren wir kaum in dem Kaufpalast angekommen, so trat sie, von den schmeichelhaften Worten der Verkäuferinnen angezogen, in alle Läden ein. Man bat sie, sich die Sachen anzusehen, und damit kramte man im Handumdrehen Schmucksachen, Kleinodien, Modewaren vor ihr aus, nannte sie Prinzessin und sagte ihr mit honigsüßen Worten, dies oder das werde ihr zum Entzücken stehen. Meine Baret sah mich an und sagte mir, man müsse allerdings zugeben, daß es sehr hübsch sei, und es würde ihr viel Vergnügen machen, wenn es nicht so teuer wäre. Mir machte es Spaß, freiwillig auf den Leim zu gehen; ich lobte die Waren noch mehr als die Verkäuferin, versicherte ihr, wenn etwas ihr gefiele, so könnte es gar nicht zu teuer sein, und bezahlte.

Während meine Schöne tausend Kleinigkeiten aussuchte, an denen sie ihre Freude hatte, führte mir mein böses Geschick eine Bekanntschaft zu, durch die ich vier Jahre später in die entsetzlichste Lage geriet. Die Ereignisse unseres Lebens bilden eine ununterbrochene Kette.

Ich sah zu meiner Linken ein junges Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren mit einem höchst anziehenden Gesicht neben einer alten Frau stehen, die an einem Paar Ohrringe aus Straß mäkelte, während das junge Mädchen, das sie in seinen hübschen Händen hielt, sie begehrlich betrachtete; sie sah ganz traurig aus, daß sie sie nicht kaufen konnte. Ich hörte sie zu der Alten sagen, diese Ohrbommeln würden sie glücklich machen, aber diese riß sie ihr aus der Hand und sagte ihr, sie solle weiter gehen.

»Mein schönes Fräulein,« sagte die Verkäuferin zu ihr, »ich werde Ihnen billigere geben, die beinahe ebenso schön sind.« Aber die Kleine antwortete ihr, aus denen mache sie sich nichts, und schickte sich an, den Laden zu verlassen, indem sie meiner Prinzessin Baret eine tiefe Verbeugung machte.

Dieser schmeichelte ohne Zweifel ein solches Zeichen von Ehrfurcht; sie tritt heran, nennt sie ihre kleine Königin, küßt sie, sagt ihr, sie sei hübsch wie ein Herz, und fragt die Alte, wer sie sei.

»Sie ist meine Nichte, Fräulein de Boulainvilier.«

»Und Sie sind so grausam, Madame,« sage ich zur Tante, »Ihrer reizenden Nichte ein Schmuckstück zu verweigern, das sie glücklich machen würde? Erlauben Sie mir, Madame, sie ihr anzubieten.«

Mit diesen Worten drücke ich dem jungen Mädchen die Ohrbommeln in die Hand; ihre Stirn bedeckt sich mit einer lieblichen Röte, und sie sieht ihre Tante an, wie wenn sie sie um Rat fragen wollte.

»Nimm nur, liebe Nichte, das schöne Geschenk an, das der Herr so gütig ist dir zu machen, und umarme ihn zum Zeichen deines Dankes.«

»Die Ohrbommeln«, sagte die Verkäuferin zu mir, »kosten nur drei Louis.«

Nun wurde plötzlich die Geschichte komisch, denn die Alte geriet in einen großen Zorn und rief: »Wie können Sie sich so sehr im Preise irren? Mir haben Sie sie zu zwei Louis angeboten!«

»Sie irren sich, gnädige Frau, ich habe von Ihnen drei dafür verlangt.«

»Das ist nicht wahr, und ich werde nicht dulden, daß Sie den Herrn bestehlen. Nichte, laß die Ohrbommeln liegen; die Frau kann sie behalten.«

Soweit war das gut und recht; aber die Alte verdarb alles, indem sie mir sagte: wenn ich die drei Louis ihrer Nichte geben wollte, würde sie anderswo Ohrbommeln kaufen, die nochmal so schön wären. Da mir dies einerlei war, so legte ich lächelnd die drei Louis vor das Fräulein hin, das immer noch den Schmuck in der Hand hielt. Flink packte die Verkäuferin das Geld, indem sie sagte, der Handel wäre abgeschlossen, die drei Louis gehörten ihr und die Ohrringe wären Eigentum des Fräuleins.

»Sie sind eine Betrügerin!« schrie die Alte wütend. »Und Sie eine alte Kupplerin!« versetzte die Verkäuferin; »ich kenne Sie.«

Angelockt durch das Geschrei der beiden alten Hexen, sammelte sich ein Haufen Pöbel vor dem Laden. Da ich Unannehmlichkeiten voraussah, so nahm ich die Tante an den Arm und führte sie mit sanfter Gewalt hinaus. Die Nichte folgte ihr; sie freute sich, ihre schönen Ohrringe zu haben, und machte sich sehr wenig daraus, ob diese mir drei Louis oder zwei kosteten. Wir werden sie später wiederfinden.

Nachdem meine Baret mich etwa zwanzig Louis hatte zum Fenster hinauswerfen lassen, die ich ja gerne ausgab, die aber ihr armer Mann gewiß besser hätte brauchen können, stiegen wir wieder in meinen Wagen, und ich brachte sie nach der Kirchentür zurück, wo ich sie getroffen hatte. Unterwegs sagte sie mir, sie würde fünf oder sechs Tage in Klein-Polen verbringen, und ihr Mann selber würde mich um die Gnade bitten, ihr diese Gefälligkeit zu erweisen.

»Wann wird er mich darum bitten?«

»Morgen! Kommen Sie bei uns vorbei und kaufen Sie einige Paar Strümpfe. Ich werde Kopfweh haben, und Baret wird mit Ihnen sprechen.«

Wie man sich denken kann, stellte ich mich pünktlich bei dem Biedermann ein, und da ich seine Frau nicht im Laden sah, erkundigte ich mich freundschaftlich nach ihrem Befinden.

»Sie ist krank und liegt zu Bett; sie muß einige Tage reine Landluft atmen.«

»Wenn Sie wegen des Ortes noch keine Wahl getroffen haben, so biete ich Ihnen eine Wohnung in Klein-Polen an.«

Er antwortete mir durch ein zustimmendes Lächeln.

»Ich werde sie bitten, mein Anerbieten anzunehmen; unterdessen, Herr Baret, packen Sie mir ein Dutzend Strümpfe ein.«

Ich ging hinauf und fand sie im Bett, aber mit lachendem Gesicht trotz ihrem Kopfweh. »Die Sache ist abgemacht,« sagte ich zu ihr; »Sie werden sofort Bescheid darüber erhalten.« Wirklich kam ihr Mann gleich mit meinen Strümpfen herein und teilte ihr mit, ich wolle die große Güte haben, ihr ein Zimmer bei mir einzuräumen. Die listige kleine Frau dankte nur, indem sie ihrem Mann versicherte, die frische Luft werde sie wieder gesund machen.

»Es wird Ihnen an nichts fehlen, gnädige Frau; aber Sie werden mich gütigst entschuldigen, wenn ich wegen meiner Geschäfte Ihnen sehr wenig Gesellschaft leisten kann. Herr Baret kann die Nacht bei Ihnen verbringen und morgens in der Frühe fortgehen, um in seinem Laden zu sein, sobald dieser geöffnet wird.«

Nach vielen Dankesbeteuerungen sagte Baret zuletzt, er werde seine Schwester zu sich kommen lassen, solange seine Frau bei mir wohne. Ich entfernte mich, indem ich ihnen sagte, ich würde noch vor dem Abend meine Befehle geben, damit sie aufgenommen würden, falls ich bei ihrer Ankunft nicht zu Hause sein sollte.

Am nächsten Tage kam ich erst nach Mitternacht nach Hause, und meine Köchin meldete mir, daß das Ehepaar gut zu Abend gegessen habe und dann zu Bett gegangen wäre. Ich sagte ihr, daß ich alle Tage zu Hause speisen würde und daß ich keine Besuche empfinge.

Am anderen Morgen stand ich frühzeitig auf und erkundigte mich, ob der Mann schon aufgestanden wäre. Ich erfuhr, er sei schon mit Tagesanbruch fortgegangen und werde erst zum Abendessen wiederkommen, die gnädige Frau schliefe noch. Ich war überzeugt, daß sie für mich nicht schlafen würde, und ging zu ihr, um ihr meinen ersten Besuch abzustatten. Sie war wirklich wach, und ich leitete unsere Freuden durch tausend Küsse ein, die sie mir mit Wucherzinsen zurückgab. Wir lachten über den Biedermann, der mir selber ein Kleinod anvertraut hatte, von dem ich einen so schönen Gebrauch zu machen gedachte, und wir wünschten uns Glück, daß wir eine ganze Woche in aller Freiheit uns gegenseitig opfern konnten.

»Vorwärts, liebes Herz, steh auf und zieh einen Morgenrock an; wenn du fertig bist, erwartet uns das Frühstück in meinem Zimmer.«

Sie brauchte nicht lange zum Anziehen: ein Morgenkleid aus Kattun; ein hübsches Häubchen mit einer feinen Spitze, ein leinenes Busentuch – das war alles. Aber wie wurde dieser Morgenanzug durch die rosige Frische ihrer Haut verschönert! Wir frühstückten ziemlich schnell, wir hatten es eilig; und als wir fertig waren, schloß ich meine Tür, und wir überließen uns dem Glück.

Zu meiner Überraschung fand ich sie ebenso, wie ich sie das vorige Mal gelassen hatte, und ich sagte ihr, ich hätte doch gehofft … sie aber ließ mir keine Zeit, meinen Satz zu Ende zu sprechen, und rief: »Lieber Schatz, Baret glaubt oder tut so, als glaube er, er habe seine Mannespflichten erfüllt; aber es ist nicht wahr. Ich habe mich jedoch entschlossen, mich mit deiner Hilfe in einen Zustand zu versetzen, daß ihm nicht mehr der leiseste Zweifel übrig bleibt.«

»Damit, mein Engel, werden wir ihm einen wesentlichen Dienst leisten, und dies wird bald geschehen sein.«

Mit diesen Worten befand ich mich bereits auf der Schwelle des Tempels, und ich sprengte die Tür mit einer Gewalt, die jeden Widerstand besiegte. Ein leiser Schrei und einige Seufzer verkündeten mir, daß das Opfer vollzogen war, und in der Tat war der Altar der Liebe von dem Blute des Opfers überströmt. Nach einer sehr notwendigen Abspülung betätigte der Oberpriester von neuem seinen Eifer an dem Opfer, das inzwischen alle Furcht verloren hatte und seinen Grimm herausforderte. Erst nach der vierten Opferung vertagten wir den Kampf auf ein anderes Mal. Wir schworen uns tausendmal Liebe und Treue, und vielleicht waren unsere Versprechungen aufrichtig, denn wir waren trunken vor Glück.

Wir trennten uns nur, um uns umzukleiden. Hierauf machten wir einen Spaziergang im Garten und aßen dann zusammen zu Mittag; ein köstliches Mahl, das wir mit den besten Weinen anfeuchteten, gab uns die nötigen Kräfte wieder, um unsere glühenden Begierden zu befriedigen und sie durch die süßesten Genüsse einzuschläfern.

Beim Nachtisch fragte ich sie, während ich ihr ein Glas Champagner eingoß, wie sie mit einem so feurigen Temperament habe unberührt bleiben können.

»Die Liebe hätte schon früher eine Frucht pflücken können, deren Genuß Hymen versagt geblieben ist. Du bist siebzehn Jahre alt, und schon seit mindestens zwei Jahren ist die Birne reif.«

»Ja, das glaube ich wohl, aber ich habe niemals geliebt – das ist der ganze Grund.«

»Hat denn nicht irgendein liebenswürdiger Herr dir den Hof gemacht?«

»Man hat mich umworben, aber vergeblich; mein Herz sprach nicht. Mein Vater hat vielleicht das Gegenteil geglaubt, als ich ihn vor einem Monat bat, mich recht schnell zu verheiraten.«

»Das wäre ziemlich natürlich; aber warum hast du ihn denn so sehr gedrängt, da du nicht liebtest?«

»Ich wußte, daß der Herzog von Elboef bald von seinem Landaufenthalt zurückkommen würde; und wenn er mich noch frei gefunden hätte, so würde er mich gezwungen haben, die Frau eines Mannes zu werden, der mich durchaus haben wollte, den ich aber verachte.«

»Und wer ist denn dieser Mann, gegen den du eine solche Abneigung hast?«

»Einer von den niederträchtigen Lustknaben des Herzogs, ein wahres Ungeheuer, das bei seinem Herrn schläft.«

»Wie? Hat der Herzog solchen Geschmack?«

»Ganz gewiß; er ist vierundachtzig Jahre alt und glaubt eine Frau geworden zu sein; er behauptet, er brauche einen Gatten.«

Ich lachte laut auf. »Aber ist denn dieser Anbeter des Herzogs ein schöner Mann?«

»Ich finde ihn gräßlich; aber alle Leute sagen, er sei schön.«

Die reizende Baret verbrachte acht Tage bei mir, und jeden Tag erneuerten wir mehrere Male einen Kampf, worin wir stets Sieger und Besiegte waren. Ich habe wenig Frauen gesehen, die so hübsch und so anziehend waren, wie sie, und niemals eine frischere und weißere. Ihre Haut war wie Atlas und Rosenblätter; ihr Atem hatte etwas aromatisches, wodurch ihre Küsse unbeschreiblich süß wurden. Ihr Busen war wundervoll geformt, und seine mit zwei Korallenperlen geschmückten Halbkugeln waren hart wie Marmor. Die Wellenlinien ihrer Gestalt waren von einer Vollendung, die der Pinsel des geschicktesten Malers nicht hätte wiedergeben können. Ich fand in ihrer Betrachtung einen unbeschreiblichen Genuß, und mitten in meinem Glück fühlte ich mich unglücklich, daß ich nicht alle Begierden befriedigen konnte, die so viele Reize in mir erweckten. Der Fries, der die beiden Säulen krönte, bestand aus kleinen außerordentlich feinen Löckchen von blassem Golde, und meine Finger bemühten sich vergeblich, sie anders zu rollen, als die Natur es getan hatte. Es war nicht schwer, sie jene lebhaften und anmutigen Bewegungen zu lehren, die das Vergnügen verdoppeln; die Natur hatte sie von selber dazu erzogen, und ich glaube nicht, daß man eine vollkommenere Erziehung finden kann.

Wir sahen mit gleichem Widerwillen den Tag der Trennung herannahen und konnten uns über dieses Unglück nur durch die Hoffnung trösten, sooft wie möglich wieder zusammenzukommen. Drei Tage nach ihrer Heimkehr besuchte ich sie, verliebter denn je, und schenkte ihr zwei Wertpapiere von je fünftausend Franken. Ihr Mann mochte sich sein Teil dabei denken; aber er war glücklich, seine Schulden bezahlen zu können, und er wurde durch diese unverhoffte Einnahme in den Stand gesetzt, sein Geschäft fortzuführen und das Ende des Krieges abzuwarten. Wie mancher Ehemann würde sich glücklich schätzen, eine so gewinnbringende Frau zu haben!

Im Anfang des Monats November verkaufte ich für fünfzigtausend Franken Aktien an einen gewissen Garnier in der Rue du Mail, indem ich ihm den dritten Teil der bemalten Stoffe meines Lagers abtrat und einen von ihm bestimmten Kontrolleur annahm, der von unserer Handelsgesellschaft gemeinsam bezahlt werden sollte. Drei Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages bekam ich das Geld. Aber in der Nacht erbrach der Arzt, der mein Lager verwaltete, den Geldschrank und verschwand. Ich habe mir die Möglichkeit dieses Diebstahls stets nur dadurch erklären können, daß der Maler mit im Einverständnis war. Dieser Verlust war für mich sehr empfindlich, denn meine Verhältnisse begannen in Unordnung zu geraten; um das Unglück voll zu machen, ließ Garnier mich gerichtlich auffordern, ihm die fünfzigtausend Franken zurückzuerstatten. Ich antwortete ihm, ich sei ihm nichts schuldig; denn er habe seinen Kontrolleur eingesetzt, Vertrag und Verkauf seien in bündiger Form abgeschlossen und als Teilhaber müsse er den Verlust zur Hälfte tragen. Da er bei seiner Meinung beharrte, riet man mir, ihn zu verklagen; aber Garnier kam mir zuvor, indem er den Vertrag für nichtig erklärte und mich mittelbar beschuldigte, die mir angeblich gestohlene Summe beiseite gebracht zu haben. Ich hätte ihn gerne tüchtig durchgeprügelt, um ihm Lebensart beizubringen, aber er war alt, und meine Sache wäre dadurch nicht besser geworden. Ich faßte mich also in Geduld. Der Kaufmann, der für den Arzt Bürgschaft geleistet hatte, war nicht mehr zu finden, er hatte Bankerott gemacht. Garnier ließ das ganze Lager mit Beschlag belegen und durch den Butterkönig in Klein-Polen meine Pferde, meine Wagen und alle meine Sachen pfänden. Infolge aller dieser Verdrießlichkeiten entließ ich alle meine Arbeiterinnen. Dies war auf alle Fälle eine große Ausgabe weniger. Ich schickte auch alle meine Arbeiter und Bedienten fort, die ich in meiner Fabrik hatte; nur der Maler blieb; er hatte nichts zu fordern, da er sich stets beim Verkauf der Stoffe bezahlt gemacht hatte. Mein Sachwalter war ein ehrlicher Mann, was man selten findet; aber mein Advokat, der mir stets versicherte, mein Prozeß sei bald zu Ende, war ein Schuft. Im Laufe des Verfahrens schickte Garnier mir eine verfluchte Verfügung, die mich zur Zahlung verurteilte. Ich brachte sie sofort meinem Advokaten, der mir versprach, am selben Tage Berufung einzulegen. Er tat es nicht und eignete sich dadurch alle Kosten an, die ich bezahlte oder zu bezahlen glaubte, um einen Prozeß fortzuführen, den ich gerechterweise nicht hätte verlieren dürfen. Er wußte mir noch zwei andere gerichtliche Aufforderungen vorzuenthalten, und plötzlich wurde, ohne daß ich die geringste Ahnung davon hatte, wegen Nichterscheinens Schuldhaft gegen mich verfügt. Um acht Uhr morgens wurde ich in der Rue St.-Denis in meinem eigenen Wagen verhaftet; der Sbirrenführer setzte sich an meine Seite, ein zweiter nahm neben dem Kutscher Platz, und ein dritter stieg hinten auf. In diesem Aufzug zwang man den Kutscher nach dem Gefängnis Fort-l’Evêque zu fahren.

Als die Diener der Gerechtigkeit mich dem Kerkermeister übergeben hatten, sagte mir dieser, ich könnte sofort meine Freiheit wiedererlangen, indem ich fünfzigtausend Franken leiste oder gute Bürgschaft dafür stellte.

»Ich habe weder das eine noch das andere zur Hand.«

»Dann werden Sie also im Gefängnis bleiben.«

Der Kerkermeister führte mich in ein ziemlich sauberes Zimmer, und ich sagte ihm, ich hätte nur eine einzige Aufforderung bekommen.

»Dies wundert mich gar nicht,« antwortete er mir, »so etwas kommt sehr häufig vor, aber es ist sehr schwer zu beweisen.«

»Bringen Sie mir alles, was man zum Schreiben braucht, und besorgen Sie mir einen sicheren Dienstmann!«

Ich schrieb an meinen Advokaten, an meinen Sachwalter, an Frau von Urfé und an alle meine Freunde, zuletzt an meinen Bruder, der sich kurz vorher verheiratet hatte. Der Sachwalter kam sofort, der Advokat aber begnügte sich damit, mir zu schreiben, er habe die Berufung zu Protokoll gegeben; meine Verhaftung sei ungesetzlich und könne der Gegenpartei teuer zu stehen kommen. Zum Schluß bat er mich, ich möchte ihn handeln lassen und einige Tage Geduld haben.

Manon Baletti schickte mir durch ihren Bruder ihre Diamantohrbommeln. Frau du Rumain schickte mir ihren Advokaten, einen Mann von seltener Rechtschaffenheit, und schrieb mir in einem freundschaftlichen Briefchen, wenn ich fünfhundert Louis nötig hätte, würde sie sie mir am nächsten Morgen schicken. Mein Bruder antwortete mir nicht und besuchte mich nicht. Meine liebe Frau von Urfé ließ mir sagen, sie erwarte mich zum Mittagessen. Ich schrieb dies ihrer Verrücktheit zu, denn ich konnte doch nicht annehmen, daß sie sich über mich lustig machen wollte. Um elf Uhr war mein Zimmer voll von Besuchern. Der arme Baret kam weinend und stellte mir seinen ganzen Laden zur Verfügung. Der brave Mann rührte mich wirklich. Endlich meldete man mir eine Dame, die in einem Fiaker vorgefahren sei. Ich wartete, aber niemand kam. Ungeduldig ließ ich den Schließer rufen, und dieser sagte mir, sie habe beim Gefängnisschreiber einige Erkundigungen eingezogen und sei wieder abgefahren. An der Beschreibung erkannte ich sofort Frau von Urfé.

Es war für mich ein unangenehmes Gefühl, mich meiner Freiheit beraubt zu sehen. Ich erinnerte mich der Bleikammern, und obgleich ich meine jetzige Lage in keiner Weise mit der damaligen vergleichen konnte, so fühlte ich mich doch unglücklich, denn diese Verhaftung mußte mich in ganz Paris um meinen guten Ruf bringen. Da ich dreißigtausend Franken flüssig hatte und für den doppelten Betrag Juwelen besaß, so hätte ich Zahlung leisten und sofort das Gefängnis verlassen können, aber ich konnte mich nicht zu diesem Opfer entschließen, obgleich der Anwalt der Frau du Rumain mir sehr dringend zuredete, um jeden Preis das Gefängnis zu verlassen. »Sie brauchen,« sagte dieser Edelmann zu mir, »nur die Hälfte der Summe zu hinterlegen; ich werde sie dem Gerichtsschreiber überweisen und verspreche Ihnen in kurzer Zeit ein günstiges Urteil, auf Grund dessen Sie sie zurückziehen können.«

Wir unterhielten uns lebhaft über diese Frage, als mein Kerkermeister eintrat und sehr höflich zu mir sagte: »Mein Herr, Sie sind frei, und eine Dame erwartet Sie vor der Tür in ihrem Wagen.«

Ich rief meinen Kammerdiener Leduc und befahl ihm nachzusehen, wer die Dame sei. Es war Frau von Urfé. Ich machte allen Anwesenden meine Verbeugung und fand mich nach einer vierstündigen, sehr unangenehmen Haft in einer prachtvollen Kutsche.

Frau von Urfé empfing mich mit großer Würde. Ein Gerichtspräsident in seinem Amtsbarett, der neben ihr in der Berline saß, bat mich um Verzeihung wegen seines Landes, wo infolge schreiender Mißstände die Fremden oft derartigen Mißhandlungen ausgesetzt wären. Ich dankte Frau von Urfé mit wenigen Worten und sagte, ich sähe mich mit sehr großem Vergnügen als ihren Schuldner, aber den Vorteil von ihrer edlen Freigebigkeit würde Garnier haben. Sie antwortete mir mit einem angenehmen Lächeln, er würde den Vorteil nicht so leicht davontragen; übrigens würden wir beim Essen darüber sprechen. Sie bat mich, sofort einen Spaziergang in den Tuilerien und im Palais-Royal zu machen, um das Publikum zu überzeugen, daß das Gerücht von meiner Verhaftung falsch wäre. Der Rat war gut; ich erklärte mich bereit und versprach ihr, um zwei Uhr bei ihr zu sein.

Ich zeigte mich also auf den beiden belebtesten Spaziergängen von Paris, auf denen wenigstens, wo man Einzelmenschen am meisten beachtet – denn auf den Boulevards sieht man nur Massen. Ich ergötzte mich an dem Erstaunen gewisser Leute, von denen ich wußte, daß sie mich kannten. Dann brachte ich meiner teuren Manon die Ohrringe zurück; sie stieß bei meinem Anblick einen Schrei glücklicher Überraschung aus. Ich dankte ihr zärtlich für den Beweis ihrer Anhänglichkeit, den sie mir gegeben, und ich sagte der ganzen Familie, ich sei nur deshalb verhaftet worden, weil man mich in einen Hinterhalt gelockt hätte; aber der Schuldige würde mir dies teuer bezahlen. Ich versprach ihnen, den Abend bei ihnen zuzubringen, und begab mich zu Frau d’Urfé.

Die gute Dame, deren fixe Idee der Leser ja kennt, machte mich lachen, als sie bei meinem Anblick sofort zu mir sagte, ihr Genius habe ihr mitgeteilt, daß ich mich absichtlich hätte verhaften lassen, weil ich aus Gründen, die nur mir bekannt wären, wünschte, daß von mir gesprochen würde.

»Sobald ich von Ihrer Verhaftung vernahm, fuhr ich nach dem Fort-l’Evêque, und als ich vom Gefängnisschreiber erfuhr, worum es sich handelte, holte ich mir Wertpapiere aus dem Stadthaus und hinterlegte diese als Sicherheit für Sie. Aber, wenn es Ihnen nicht gelingt, Gerechtigkeit zu erhalten, so wird Garnier es mit mir zu tun bekommen, bevor der sich durch die von mir hinterlegten Papiere bezahlt machen kann. Sie, mein lieber Freund, müssen vor allen Dingen Strafanzeige gegen Ihren Advokaten machen; denn es liegt auf der Hand, daß er Ihre Berufung nicht hat eintragen lassen und daß er Sie betrogen und bestohlen hat.«

Ich verließ sie gegen Abend mit der Versicherung, daß sie binnen wenigen Tagen ihre Bürgschaft würde zurückziehen können. Dann ging ich erst ins Théâtre Français und hierauf in die italienische Komödie und zeigte mich in den Foyers, um damit mein Wiedererscheinen vollständig zu machen. Hierauf ging ich zu Manon Baletti zum Abendessen. Sie war ganz glücklich, eine Gelegenheit gefunden zu haben, mir einen Beweis ihrer zärtlichen Liebe zu geben. Ich machte ihre Freude vollständig, als ich ihr sagte, daß ich meine Fabrik aufgeben würde; denn sie war überzeugt, daß mein Harem das einzige Hindernis unserer Heirat wäre.

Den ganzen folgenden Tag verbrachte ich bei Frau von Urfé. Ich fühlte, wieviel ich ihr verdankte, während sie mit ihrem ausgezeichneten Herzen glaubte, daß keine Belohnung hoch genug wäre für meine Orakelsprüche, dank denen sie nach ihrer Meinung niemals einen Fehltritt tun konnte. Ich begriff nicht, wie diese sehr kluge und sonst in jeder anderen Beziehung sehr vernünftige Frau in diesem Punkte so töricht sein konnte. Es tat mir leid, ihr nicht ihre Täuschung benehmen zu können; anderseits war ich glücklich, wenn ich bedachte, daß ich gerade dieser Täuschung die Achtung verdankte, die sie mir zollte. sni

Durch meine Verhaftung wurde Paris mir zum Ekel, und ich bekam gegen Prozesse einen Haß, den ich noch jetzt empfinde. Ich sah mich in ein Labyrinth von Streitigkeiten sowohl mit Garnier wie mit meinem Advokaten verstrickt. Mit war zumute, wie wenn ich zum Galgen ginge, sooft ich Termine wahrnehmen, mein Geld an Advokaten zahlen und eine kostbare Zeit verlieren mußte, die ich nur wohl angewandt glaubte, wenn ich mir Genüsse verschaffte. In diesem Zustand fortwährender Aufregungen, die so wenig meinem Charakter angemessen waren, faßte ich den weisen Entschluß, ernstlich für die Erwerbung eines Vermögens zu arbeiten, um mich von den Ereignissen unabhängig zu machen und mich nach meinem Geschmack unterhalten zu können. Ich beschloß vor allen Dingen, alles, was ich in Paris besaß, zu verkaufen, sodann noch einmal nach Holland zu gehen, um neue Mittel zu erwerben, diese als lebenslängliche Rente auf zwei Köpfe anzulegen, und fortan frei von allen lästigen Sorgen zu leben. Die zwei Köpfe sollten der meiner Frau und mein eigener sein, meine Frau aber sollte Manon Baletti sein. Dieser Plan, den ich ihr mitteilte, würde ihre höchsten Wünsche befriedigt haben, wenn ich ihrem Ansinnen nachgegeben und vor allen anderen Dingen sie geheiratet hätte.

Zunächst verzichtete ich auf Klein-Polen, das ich nur bis zum Ende des Jahres gemietet hatte; hierauf ließ ich mir von der Militärschule achtzigtausend Franken auszahlen, die als Kaution für mein Lotteriebureau in der Rue St.-Denis dienten. Auf diese Weise entledigte ich mich meiner lächerlichen Anstellung als Lotterieeinnehmer. Das Bureau schenkte ich meinem Geschäftsführer, nachdem ich ihn verheiratet hatte; ich machte auf diese Weise sein Glück. Ein Freund seiner Frau zahlte die Kaution für ihn; das kommt ja ziemlich häufig vor.

Da ich Frau von Urfé nicht die Verlegenheit eines lächerlichen Prozesses mit Garnier hinterlassen wollte, so ging ich nach Versailles und bat seinen Busenfreund, den Abbé de la Ville, ihn zu einem freundschaftlichen Vergleich zu bestimmen.

Garnier befand sich in Rueil; ich suchte ihn dort auf. Er besaß dicht bei dem Dorf ein Haus, das ihm vierhunderttausend Franken gekostet hatte, eine schöne Besitzung für einen Mann, der durch Proviantlieferungen während des letzten Krieges ein großes Vermögen erworben hatte. Er lebte im Überfluß, aber er hatte das Unglück, mit siebzig Jahren noch die Frauen zu lieben; denn, da er impotent war, konnte er nicht glücklich sein. Ich fand ihn in Gesellschaft von drei hübschen jungen Mädchen, die, wie ich später erfuhr, von guter Familie waren; aber sie waren arm, und die Armut allein konnte sie zwingen, gefällig zu sein und das ekelhafte Zusammensein mit dem alten Wüstling zu ertragen. Ich blieb zum Essen und hatte Gelegenheit, ihre Bescheidenheit zu beobachten, die sie sich in der demütigenden Lage trotz ihrer Bedürftigkeit bewahrt hatten. Nach dem Essen schlief Garnier ein und überließ es mir, die liebenswürdigen jungen Mädchen zu unterhalten, die ich gerne aus ihrer unglücklichen Lage befreit hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre. Als er erwacht war, gingen wir in sein Arbeitszimmer, um über unsere Angelegenheit zu sprechen.

Ich fand ihn zuerst anspruchsvoll und zäh; als ich ihm jedoch gesagt hatte, daß ich Paris in wenigen Tagen zu verlassen gedachte, begriff er, daß er mich daran nicht hindern könnte, daß Frau von Urfé den Prozeß weiter führen würde, daß diese ihn nach Belieben hinausziehen und daß er ihn schließlich gar verlieren könnte. Dies gab ihm zu denken, und er lud mich ein, über Nacht bei ihm draußen zu bleiben. Am nächsten Morgen nach dem Frühstück sagte er zu mir: »Mein Entschluß steht fest: ich verlange fünfundzwanzigtausend Franken, oder ich prozessiere bis zu meinem Tode.«

Ich antwortete ihm, er würde den Betrag bei dem Notar der Frau von Urfé finden und könnte ihn einziehen, sobald er die mit Beschlag belegte Kaution im Fort-l’Evêque freigegeben hätte.

Frau von Urfé wollte sich nicht überzeugen lassen, daß ich recht getan hätte, auf einen Vergleich einzugehen. Es gelang mir erst, als ich ihr sagte, mein Orakel hätte von mir verlangt, daß ich Paris nicht eher verließe, als bis ich alle meine Angelegenheiten geordnet hätte, damit mich niemand beschuldigen könnte, mich entfernt zu haben, um mich der Verfolgung von unbefriedigten Gläubigern zu entziehen.

Einige Tage darauf verabschiedete ich mich von Herrn de Choiseul. Er versprach mir, an Herrn d’Affry zu schreiben, er möge mir bei allen meinen Unterhandlungen zur Seite stehen, um womöglich eine fünfprozentige Anleihe, entweder bei den Generalstaaten oder bei einer Gesellschaft von Privatleuten, zustande zu bringen. »Sie können«, sagte er zu mir, »überall versichern, daß im Laufe des Winters der Friede abgeschlossen wird, und ich verspreche Ihnen, ich werde nicht dulden, daß man Sie nach Ihrer Rückkehr nach Frankreich um Ihre Rechte bringt.«

Herr von Choiseul täuschte mich, denn er wußte recht gut, daß der Friedensschluß nicht erfolgen würde. Aber ich hatte überhaupt keine besonderen Absichten, und mein übergroßes Vertrauen, das ich in Herrn de Boulogne gesetzt hatte, ärgerte mich zu sehr, als daß ich etwas zugunsten der Regierung ohne greifbaren und augenblicklichen Vorteil hätte unternehmen mögen.

Ich verkaufte meine Pferde, meine Wagen, meine Möbel und stellte Bürgschaft für meinen Bruder, der in Schulden geraten war, die er sicher war, in kurzer Zeit bezahlen zu können, denn es standen auf der Staffelei mehrere Gemälde, die von ihren Bestellern, reichen Kavalieren, ungeduldig erwartet wurden. Ich nahm Abschied von Manon, die ich in Tränen aufgelöst zurückließ, obgleich ich ihr aufrichtigsten Herzens schwor, daß ich bald zurückkommen würde, um sie zu heiraten.

Als ich endlich mit allen Reisevorbereitungen fertig war, verließ ich Paris mit hunderttausend Franken in guten Wechseln und mit Juwelen im gleichen Wert. Ich fuhr allein in meinem Postwagen; Leduc ritt voraus, weil der Bursche lieber im Sattel als auf dem Kutschbock saß. Dieser Leduc war ein Spanier von achtzehn Jahren, ein sehr intelligenter Junge, den ich besonders deshalb gern hatte, weil er mich besser frisierte als irgendein anderer; ich versagte ihm kein Vergnügen, das ich ihm für billiges Geld verschaffen konnte. Außer ihm hatte ich einen guten Schweizer Lakai, der mir als Kurier diente.

Wir schrieben den ersten Dezember 1759; die Kälte war ziemlich empfindlich; aber ich hatte mich gegen ihre Strenge geschützt. Mein Wagen war dicht geschlossen, so daß ich bequem lesen konnte; ich nahm zu diesem Zweck den Geist von Helvétius mit, den ich noch nicht Zeit gehabt hatte, zu lesen. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, war ich noch mehr erstaunt über das Aufsehen, das es gemacht hatte, als über die Dummheit des Parlaments, das es verurteilt hatte; diese hohe Körperschaft stand unter dem Einfluß der Geistlichkeit und des Hofes und hatte auf Betreiben dieser beiden alles mögliche getan, um den sehr liebenswürdigen Helvétius, der sicherlich mehr Geist hatte als sein Buch, zugrunde zu richten. Ich fand in dem Buch nichts Neues, weder in dem historischen Teil über die Sitten der Nationen, worin Helvétius uns allerlei Unsinn auftischt, noch in der Moral, die er aus seinen Erörterungen ableitet. Alle diese Dinge sind seit Jahrhunderten gesagt und wieder gesagt; Blaise Pascal hatte unendlich viel mehr gesagt, aber besser und rücksichtsvoller. Helvétius wurde gezwungen, sein Buch zu widerrufen, wenn er seinen Wohnsitz in Frankreich behalten wollte. Er zog das angenehme Leben, das er dort führte, seiner Ehre und der seines Systems vor, will sagen: seinem eigenen Geist. Seine Frau hatte eine größere Seele als er; denn sie war dafür, lieber ihre ganze Habe zu verkaufen und nach Holland zu flüchten, als sich der Schmach eines Widerrufs zu unterwerfen. Helvétius würde vielleicht der edlen Eingebung seiner Gattin gefolgt sein, wenn er hätte voraussehen können, daß sein unbegreiflicher Widerruf aus seinem Buch ein Schelmenstück machen würde; denn indem er widerrief, gestand er anscheinend zu, daß er es ohne Überzeugung geschrieben, daß er nur gespaßt hätte und daß alle seine Beweisführungen nur Sophismen wären, übrigens hatten viele gute Köpfe nicht erst seinen Widerruf abgewartet, um sein erbärmliches System in seinem rechten Wert zu erkennen3.

Wie? Weil der Mensch in allem, was er tut, stets der Sklave seines eigenen Interesses ist, so sollte daraus folgen, daß jedes Gefühl von Dankbarkeit lächerlich ist und daß keine einzige unserer Handlungen uns ehren oder entehren kann? Ein Schurke und ein Ehrenmann sollten mit dem gleichen Gewicht gemessen werden können? Wenn ein so trostloses System nicht töricht wäre, dann wäre die Tugend nichts weiter als ein Köder für Dummköpfe; und wenn es sich verwirklichen ließe, so würde die Gesellschaft es ächten, denn sie könnte inmitten der Verderbnis, die die unvermeidliche Folge sein würde, nicht weiter bestehen; mit um so größerem Rechte muß sie daher dieses System vernichten, da alles ihr seine scheußliche Unnatur beweist.

Man hätte Helvétius nachweisen können, daß es falsch ist, wenn er behauptet, daß bei all unserem Tun unser Eigennutz der Haupthebel ist, und daß wir daher vor allem anderen bei diesem Gefühl uns unseren Rat holen müssen. Es ist eigentümlich, daß er, der doch Tugend so trefflich übte, die Tugend nicht wollte gelten lassen. Wäre es möglich, daß er sich selber niemals für einen Ehrenmann gehalten hätte, da doch alle seine Handlungen ihn als Mann von Ehre erwiesen? Es wäre scherzhaft, wenn nur ein Gefühl der Bescheidenheit ihn dazu angeregt hätte, sein Werk zu veröffentlichen! Aber schon dadurch wäre die Wahrheit seines Systems umgestoßen worden, und wenn dies der Fall ist, hat er dann wohl daran getan, sich verächtlich zu machen, um nicht den Vorwurf des Stolzes zu verdienen? Bescheidenheit ist nur dann eine Tugend, wenn sie natürlich ist; ist sie nur zur Schau getragen oder äußert sie sich nur als eine einfache Wirkung der Erziehung, so ist sie ekelhaft. Ich habe niemals einen so wirklich bescheidenen Menschen gekannt, wie den berühmten d’Alembert.

In Brüssel, wo ich zwei Tage verbrachte, nahm ich im »Gasthof zur Kaiserin« Wohnung; zufällig traf ich dort Fräulein X.C.V. mit Farsetti; aber ich tat, wie wenn ich sie nicht bemerkte.

Von dort fuhr ich ohne Aufenthalt nach dem Haag, wo ich im »Prinzen von Oranien« abstieg. Ich fragte den Wirt, welche Personen er zu Tisch hätte, und er sagte mir, es seien Generäle und höhere Offiziere der Hannoverschen Armee, englische Damen und ein Fürst Piccolomini mit seiner Gemahlin. Diese Mitteilung veranlaßte mich, einer so guten Gesellschaft mich anzuschließen.

Da ich allen unbekannt war, beschränkte ich mich auf die Rolle des stillen Beobachters; besondere Aufmerksamkeit widmete ich der angeblichen italienischen Fürstin, die ziemlich hübsch war, und hauptsächlich ihrem Mann, der mir bekannt vorkam. Im Laufe der Unterhaltung kam man auch auf den berühmten St.-Germain zu sprechen, und ich erfuhr, daß er in demselben Gasthause wohnte.

Ich hatte mich auf mein Zimmer begeben und wollte gerade zu Bett gehen, als mein Fürst Piccolomini eintrat und mich wie einen alten Bekannten umarmte.

»Ein Blick, den Sie mir zuwarfen,« sagte er, »hat mir bewiesen, daß Sie mich wiedererkannten. Ich habe Sie ebenfalls sofort erkannt, obwohl sechzehn Jahre verflossen sind, seitdem wir uns in Vicenza sahen. Morgen können Sie allen Leuten sagen, daß wir uns wiedererkannt haben, und daß ich nicht Fürst, wohl aber Graf bin; hier ist mein Paß vom König von Neapel. Bitte lesen Sie ihn.«

Er hatte mit solcher Geschwindigkeit auf mich eingeredet, daß ich nicht ein einziges Wort hatte sprechen können. So genau ich auch die Züge meines Besuchers musterte, so erinnerten sie mich doch an weiter nichts, als daß ich ihn einmal gesehen hatte; aber Zeit, oder nähere Umstände vermochte ich nicht anzugeben. Ich öffnete den Paß und sah die Namen: Ruggero di Rocco, conte Piccolomini. Dies genügte mir: ich erinnerte mich, daß ein Mensch dieses Namens in Vicenza Fechtmeister war. Jetzt erkannte ich auch seine Züge. Obwohl sie sich sehr verändert hatten, so ließen sie mir doch keinen Zweifel, daß der Klopffechter und der Graf ein und dieselbe Person waren.

»Ich wünsche Ihnen Glück,« sagte ich zu ihm, »daß Sie Ihren damaligen Beruf nicht mehr betreiben; Ihr jetziger ist ohne Zweifel besser.«

»Ich betrieb damals jenes Gewerbe, um nicht Hungers zu sterben, denn ich hatte einen so hartherzigen Vater, daß er mir nicht einmal meinen Lebensunterhalt gab; ich hatte meinen Namen geändert, um ihn nicht zu erniedrigen. Nach dem Tode meines Vaters habe ich sein Vermögen geerbt und habe in Rom die Dame geheiratet, die Sie sahen.«

»Sie haben einen guten Geschmack gehabt, denn sie ist schön.«

»Ja, man findet sie schön, und ich habe sie aus Liebe geheiratet.«

Schließlich lud er mich ein, ihn am nächsten Tage nach dem Essen auf seinem Zimmer zu besuchen; ich würde dort gute Gesellschaft finden und eine Pharaobank, die er selber hielte. Er fügte ohne Umstände hinzu, wenn ich wollte, würde er mich als Teilhaber annehmen und ich würde meine Rechnung dabei finden. Ich dankte ihm und versprach ihm meinen Besuch.

Am Morgen ging ich ziemlich frühzeitig aus und sprach auf einen Augenblick beim Juden Boas vor; die Wohnung, die er mir in seinem Hause anbot, lehnte ich höflich ab. Hierauf machte ich dem Grafen d’Affry meine Aufwartung, der nach dem Tode der Regentin, Prinzessin von Oranien, zum Botschafter Seiner Allerchristlichen Majestät befördert worden war. Er nahm mich sehr gut auf, sagte mir aber sofort, ich würde meine Zeit verlieren, wenn ich in der Hoffnung, für die Regierung einige gute Geschäfte zu machen, nach Holland zurückgekehrt wäre; denn die Maßregel des Generalkontrolleurs habe den Kredit Frankreichs vernichtet, und man erwarte allgemein einen Staatsbankrott.

»Dieser Herr Silhouette hat dem König einen schlechten Dienst geleistet. Dies tut mir ungeheuer leid. Er mag noch so oft sagen, die Zahlungen seien nur auf ein Jahr eingestellt – man hört überall lautes Geschrei der Entrüstung.«

Hierauf fragte er mich, ob mir ein vor kurzem im Haag angekommener Graf von St.-Germain bekannt wäre. »Ich habe ihn niemals bei mir gesehen,« fügte er hinzu, »obwohl er behauptet, vom König zur Aufnahme einer Anleihe von hundert Millionen ermächtigt zu sein. Wenn man mich um Auskunft über diesen Menschen fragt, bin ich genötigt, zu antworten, daß ich ihn nicht kenne, denn ich fürchte mich bloßzustellen. Sie begreifen, daß meine Antwort seinen Unterhandlungen nur schaden kann; aber das ist seine Schuld und nicht meine. Warum hat er mir nicht einen Brief vom Herzog von Choiseul oder von der Frau Marquise gebracht? Ich glaube, der Mensch ist ein Betrüger; aber ich werde auf alle Fälle in etwa zehn Tagen darüber etwas wissen.«

Ich sagte ihm nun alles, was ich über diesen eigentümlichen und außerordentlichen Mann wußte. Er war nicht wenig überrascht, als er hörte, daß der König ihm eine Wohnung in Chambord angewiesen hatte. Als ich ihm aber sagte, daß er nach seiner Behauptung das Geheimnis besäße, Diamanten zu machen, da lachte er und sagte, nun zweifle er nicht mehr daran, daß der Graf die hundert Millionen finden werde. Als ich mich verabschiedete, lud Herr d’Affry mich für den nächsten Tag zum Mittagessen ein.

In den Gasthof zurückgekehrt, ließ ich mich beim Grafen St.-Germain melden, der zwei Haiduken in seinem Vorzimmer hatte.

»Sie sind mir zuvorgekommen,« sagte er, als er mich eintreten sah, »ich wollte mich gerade bei Ihnen melden lassen. Ich denke mir, mein lieber Herr Casanova, Sie sind hierher gekommen, um, wenn möglich, etwas zugunsten unseres Hofes auszurichten; aber dies wird Ihnen schwer fallen, denn die Börse ist empört über die Maßregeln dieses verrückten Silhouette. Ich hoffe indessen trotz dieser Widerwärtigkeit hundert Millionen zu finden. Ich habe dem König, den ich meinen Freund nennen darf, mein Wort darauf gegeben, und ich werde ihn nicht täuschen; in drei bis vier Wochen wird mein Geschäft erledigt sein.«

»Ich denke mir, Herr d’Affry wird Ihnen zum Gelingen behilflich sein.«

»Ich bedarf seiner durchaus nicht. Ich werde ihn wahrscheinlich nicht einmal besuchen; denn er könnte sich rühmen, mir geholfen zu haben, und dies wünsche ich nicht. Da ich die ganze Mühe davon habe, will ich auch den ganzen Ruhm dafür haben.«

»Sie gehen doch wohl zu Hofe; da wird der Herzog von Braunschweig Ihnen nützlich sein können.«

»Was soll ich bei diesem Hofe anfangen? Mit dem Herzog von Braunschweig habe ich nichts zu tun, und ich will seine Bekanntschaft nicht machen. Ich brauche nur nach Amsterdam zu gehen. Mein Kredit genügt mir. Ich liebe den König von Frankreich; denn es gibt in seinem ganzen Lande keinen größeren Ehrenmann.«

»Kommen Sie doch zum Essen an den großen Tisch; es sind lauter tadellose Leute; Sie werden sich dort wohl fühlen.«

»Wie Sie wissen, esse ich nicht; außerdem setze ich mich niemals an einen Tisch, wo ich Unbekannte finden kann.«

»Nun, so leben Sie denn wohl, Herr Graf; wir werden uns in Amsterdam wiedersehen!«

Ich ging in den Speisesaal, wo ich mich bis zum Anrichten mit einigen Offizieren unterhielt. Man fragte mich, ob Fürst Piccolomini hier bekannt sei; ich antwortete, ich hätte ihn nach dem Abendessen wiedererkannt; er wäre Graf und nicht Fürst, und ich hätte ihn seit sehr langer Zeit nicht gesehen. Als er mit seiner schönen Römerin, die nur italienisch sprach, hereinkam, erwies ich ihm einige Höflichkeiten; hierauf setzten wir uns zu Tisch.

  1. Ich finde Casanovas Urteil über das Buch entschieden zu hart. Der historische Teil enthält eine Menge interessanten Materials und der philosophische eine Fülle anregender Ideen. Jedenfalls steht das Werk viel höher als Max Stirners vielberufenes Buch »Der Einzige und sein Eigentum«, worin sich fast kein Gedanke vorfindet, den Helvétius nicht besser und in schönerer Form gesagt hätte.

Zwölftes Kapitel


Porträt der angeblichen Gräfin Piccolomini. – Streit, Zweikampf. – Ich sehe Esther und ihren Vater Herrn d’O. wieder. – Esther ist immer noch von der Kabbala begeistert; gefälschter Wechsel Piccolomims; Folgen. – Ich werde überfallen, und bin in Gefahr, ermordet zu werden. – Orgie mit zwei Paduanerinnen; Folgen davon. – Ich enthülle Esther ein großes Geheimnis. – Ich mache die Umtriebe des Betrügers St.-Germain zuschanden. – Seine Flucht. – Manon Baletti wird mir untreu; sie schreibt mir einen Brief, worin sie mir ihre Heirat meldet; meine Verzweiflung; Esther verbringt einen ganzen Tag mit mir. – Sie erhält Manons Porträt und meine Briefe an diese. – Heiratsgedanken.

Die angebliche Gräfin Piccolomini war eine schöne Abenteurerin – eine junge Römerin, groß, gut gewachsen, mit feurigen schwarzen Augen und einer blendend weißen Haut. Aber es war nicht jene natürliche Weiße, welche den Männern, die den ganzen Wert einer Haut von Atlas und Rosenblättern fühlen, so sehr gefällt; sondern es war jene künstliche Weiße, die man überall in Rom an der Haut der Kurtisanen bemerkt und die denen, die die Ursache kennen, so sehr mißfällt. Übrigens hatte sie einen schönen Mund, prachtvolle Zähne und wundervolle Haare vom schönsten Ebenholzschwarz, nach ihren fein geschwungenen schwarzen Augenbrauen zu schließen. Mit diesen Vorzügen verband sie ein gewinnendes Benehmen und einen Anstrich von Geist; aber ein gewisses Etwas blickte aus allem hervor, verriet die Abenteurerin und flößte mir eine Art von Abneigung gegen sie ein.

Da Frau von Piccolomini nur italienisch sprach, so hätte sie bei Tisch die Stumme spielen müssen, wenn nicht ein englischer Offizier, namens Walpole, sie nach seinem Geschmack gefunden und sich mit ihr unterhalten hätte. Dieser Engländer flößte mir Freundschaft ein, aber gewiß war dies keine Sympathie; denn wenn ich blind oder taub gewesen wäre, würde ich für Sir Walpole weder Haß noch Liebe empfunden haben; meine Gefühle für ihn waren nur durch Augen und Ohren entstanden.

Obgleich die schöne Piccolomini mir nicht gefallen hatte, begab ich mich doch mit dem großen Teil der Gäste nach dem Essen auf ihr Zimmer. Der Graf setzte sich zu einer Partie Whist nieder, und Walpole spielte mit der Gräfin, die ihn wie eine abgefeimte Gaunerin betrog, eine Partie Primiera. Walpole merkte es wohl, aber er bezahlte und lachte, weil es ihm gerade recht war. Als er etwa fünfzig Louis verloren hatte, bat er um Gnade, und die Gräfin lud ihn ein, sie ins Theater zu begleiten. Dies war dem liebenswürdigen Engländer sehr erwünscht; er nahm die Einladung an, und die Signora ging mit ihm ab, während ihr Gemahl seinen Whist weiter spielte.

Ich ging ebenfalls ins Theater, und der Zufall wollte es, daß ich im Parkett neben dem Grafen Tott saß, dem Bruder jenes Tott, der durch seinen Aufenthalt in Konstantinopel so berühmt wurde.

Wir wechselten einige Worte, und er teilte mir mit, daß er Frankreich wegen eines Duells verlassen hätte. Ein Mensch hatte ihn damit aufgezogen, daß er nicht an der Schlacht bei Minden teilgenommen hatte, und hatte gesagt, er sei absichtlich nicht zur rechten Zeit zu seinem Korps gestoßen. Er hatte ihm seine Tapferkeit bewiesen, indem er ihm einen Degenstich beibrachte – eine barbarische Weise, Recht zu behalten, aber damals wie heute eine beliebte Beweisführung. Er sagte mir auch, er habe kein Geld, und ich beeilte mich, ihm meine Börse zu öffnen; da aber, wie man sagt, eine Wohltat niemals verloren ist, so sprang er seinerseits mir bei, als wir uns fünf Jahre später in St. Petersburg trafen. Während eines Zwischenaktes bemerkte er die Gräfin Piccolomini und fragte mich, ob ich ihren Mann kenne.

»Ich kenne ihn nur wenig,« antwortete ich. »Aber wir wohnen zufällig in demselben Gasthof.«

»Er ist ein Erzgauner, und seine Frau ist nicht besser als er.«

Wie es schien, stand ihr Ruf in der Stadt schon fest.

Nach dem Theater ging ich allein nach meinem Gasthof zurück, wo der Kellner mir erzählte, daß Piccolomini in aller Eile mit seinem Kammerdiener abgereist wäre und nur ein kleines Köfferchen mitgenommen hätte. Die Ursache dieser überstürzten Abreise kannte er nicht; gleich darauf aber erschien die Gräfin, und die Kammerzofe flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie sagte mir, der Graf sei abgereist, weil er sich geschlagen habe; aber das komme sehr oft vor. Sie lud mich und Walpole zum Essen ein, und ihrem Appetit war es nicht anzusehen, daß sie so plötzlich von ihrem Gatten getrennt worden war.

Gegen Ende des Abendessens kam ein Engländer, der an der Whistpartie teilgenommen hatte, und sagte Walpole, der Italiener sei beim Mogeln ertappt worden; er habe es dem anderen Engländer gegenüber geleugnet, als er es ihm vorgeworfen habe, und sie seien miteinander hinausgegangen. Eine Stunde später war der Engländer mit zwei Degenstichen, einem im Vorderarm und dem anderen in der Schulter, in den Gasthof zurückgekehrt. Es war eine Lappalie.

Als ich am nächsten Tage von dem Grafen Affry, der mich zum Essen eingeladen hatte, in den Gasthof zurückkehrte, gab man mir einen Brief vom Grafen Piccolomini; er war von einem besonderen Boten überbracht worden und enthielt einen anderen Brief an seine Frau, der Graf bat mich, ihr den Brief zu übergeben, der seine Anweisungen enthielte, sie darauf nach Amsterdam zu begleiten und sie in die »Stadt Lyon« zu führen, wo er wohnte. Er erkundigte sich auch, wie der von ihm verwundete Engländer sich befände.

Der Auftrag kam mir komisch vor, und ich würde herzlich darüber gelacht haben, wenn ich auch nur die geringste Lust gehabt hätte, sein Vertrauen mir zunutze zu machen. Indessen ging ich doch zur Signora, die in ihrem Bett saß und mit Walpole Karten spielte. Sie las den Brief, sagte mir, sie könne erst am nächsten Tage reisen, und nannte mir die Stunde der Abfahrt, wie wenn damit die Sache erledigt wäre. Ich machte sie jedoch mit einem ziemlich ironischen Lächeln darauf aufmerksam, daß ich meiner Geschäfte wegen im Haag bleiben müßte und sie daher nicht begleiten könnte. Als Walpole den Stand der Dinge erfuhr, erbot er sich, mich zu vertreten; ich hatte dies erwartet, und die Schöne nahm sein Anerbieten an. Wirklich reisten sie am nächsten Tage ab, um in Leyden zu übernachten.

Zwei Tage später setzte ich mich zur Essenszeit mit der gewöhnlichen Gesellschaft, die durch zwei neu eingetroffene Franzosen vermehrt war, zu Tisch. Nach der Suppe sagte der eine von ihnen, jedenfalls in böser Absicht: »Der berühmte Casanova soll jetzt in Holland sein.«

»So?« sagte der andere; »es wäre mir sehr lieb, ihn zu treffen, um von ihm eine Erklärung zu verlangen, die ihm nicht angenehm sein würde.«

Ich sah den Menschen an und war gewiß, daß ich niemals etwas mit ihm zu tun gehabt hatte. Ich fühlte mir das Blut ins Gesicht steigen, beherrschte mich aber und fragte ihn in ruhigem Tone, ob er Casanova kenne.

»Ich muß ihn wohl kennen,« antwortete er in jenem selbstgefälligen Ton, der stets mißfällt.

»Nein, mein Herr, Sie kennen ihn nicht; denn dieser Herr Casanova bin ich.«

Ohne außer Fassung zu geraten und sogar mit frecher Miene antwortete jener: »Potzblitz! Sie irren sich ganz gewaltig, wenn Sie glauben. Sie seien der einzige Casanova auf der Welt.«

Die Antwort war geschickt und setzte mich ins Unrecht. Ich biß mir die Lippen und schwieg; aber ich fühlte mich beleidigt und war fest entschlossen, ihn zu zwingen, mir jenen Casanova zu finden, der in Holland sein sollte, und den er zu einer unangenehmen Auseinandersetzung nötigen wollte. Einstweilen mußte ich es mir gefallen lassen, mehreren Offizieren gegenüber, die mit uns am Tische saßen, eine traurige Figur zu spielen. Sie hatten die unpassenden Bemerkungen des jungen Windbeutels gehört und konnten glauben, daß es mir an Mut fehlte. Der Unverschämte mißbrauchte meine Lage und den Vorteil, in dem er sich scheinbar durch seinen Sieg befand, und schwatzte alles mögliche Zeug durcheinander. Er nahm sich sogar heraus, mich zu fragen, aus welchem Lande ich wäre.

»Ich bin Venetianer, mein Herr.«

»Also ein guter Freund der Franzosen; denn Ihre Republik steht ja unter dem Schutze Frankreichs.«

Diese Worte machten mich so ärgerlich, daß ich nicht mehr an mich halten konnte: in dem Tone, den man gebraucht, wenn man einen Unverschämten zurückweisen will, erwiderte ich ihm, die Republik Venedig sei mächtig genug, daß sie niemals von Frankreich oder irgendeiner anderen Macht sich beschützen zu lassen nötig gehabt habe; in den dreizehn Jahrhunderten ihres Bestehens habe sie Freunde und Verbündete gehabt, niemals aber Beschützer.

»Vielleicht werden Sie zur Entschuldigung Ihrer Unwissenheit mir antworten, daß es mehr als eine Republik Venedig auf dieser Welt gebe.«

Kaum hatte ich diese Rede beendet, als ein schallendes Gelächter aller Tischgäste mir das Leben wiedergab. Mein Windbeutel schien außer Fassung gebracht zu sein und biß sich nun seinerseits auf die Lippen; beim Nachtisch aber fand er zu seinem Unglücke die Sprache wieder. Die Unterhaltung flatterte wie gewöhnlich von einem Gegenstand zum anderen und kam auch auf den Grafen Albemarle. Die Engländer rühmten ihn und sagten, wenn er am Leben geblieben wäre, würde es keinen Krieg zwischen Frankreich und England gegeben haben. Dies war allerdings wahrscheinlich, aber doch nicht gewiß; denn es wird noch lange dauern, bis die beiden großen Nationen begreifen, daß sie alle beide ihren Vorteil dabei finden würden, wenn sie in gutem Einvernehmen lebten. Ein anderer Engländer lobte Albemarles Geliebte, Lolotte. Ich machte die Bemerkung, ich hätte diese reizende Dame bei der Frau Herzogin von Fulvi kennen gelernt, und keine habe mehr als sie Gräfin Eronville zu werden verdient. Graf Eronville, Generalleutnant und Schriftsteller, hatte sie kurz vorher geheiratet.

Kaum hatte ich dies gesagt, so sah mein Hasenfuß mich lachend an und sagte mir, Lolotte sei allerdings eine höchst verdienstvolle Person; er müsse das wissen, denn er habe bei der Pâris mit ihr geschlafen. Jetzt konnte ich mich nicht mehr halten, Unwille und Zorn überwältigten mich. Ich ergriff meinen Teller, zeigte ihm dessen untere Seite und schickte mich an, ihm denselben an den Kopf zu werfen; dabei rief ich ihm zu: »Unverschämter Lügner!«

Er stand auf und stellte sich vor den Kamin, mit dem Rücken nach dem Feuer zu. An der Troddel, die an seinem Degengriff hing, erkannte ich, daß er Soldat war.

Die Anwesenden taten, als hätten sie das Vorgefallene nicht bemerkt; es wurde noch einige Augenblicke von diesem und jenem gesprochen; dann standen alle auf und gingen hinaus.

Mein Gegner sagte zu seinem Kameraden, sie würden sich im Theater wiedersehen; er blieb gegen das Kamingesimse gelehnt stehen. Ich blieb am Tisch sitzen, bis alle hinaus waren; als ich mich mit ihm allein sah, stand ich auf, sah ihn fest an, verließ den Saal und ging den Weg nach Scheveningen entlang. Ich war überzeugt, daß er mir folgen würde, wenn er Mut hätte. Als ich ein Stück vom Gasthof entfernt war, wandte ich den Kopf zurück und sah ihn in einer Entfernung von fünfzig Schritten mir nachkommen. Als ich im Walde war, machte ich an einem passenden Platze Halt und erwartete meinen Gegner. Er war noch zehn Schritte entfernt, als er schon den Degen zog, und ich konnte daher, ohne zurückzuweichen, ebenfalls blank ziehen, obgleich er schnell ging. Der Kampf dauerte nicht lang; denn sobald er im Bereiche meines Degens war, traf ihn mein gerader Stoß, der mir niemals versagt hat, und er wich schneller zurück, als er gekommen war. Er war oben an der rechten Brust verwundet; da aber zum Glück mein Degen stumpf und die Wunde ziemlich breit war, so blutete sie leicht. Ich senkte meinen Degen und eilte auf ihn zu; aber er brauchte meine Hilfe nicht und sagte mir, wir würden uns in Amsterdam wiedersehen, wenn ich dorthin ginge, und dann würde er sich Vergeltung verschaffen. Ich habe ihn erst nach fünf oder sechs Jahren in Warschau wieder gesehen, wo ich zu seinen Gunsten eine Sammlung veranstaltete. Ich erfuhr später, daß er Varnier heiße; ich weiß jedoch nicht, ob es derselbe ist, der unter dem niederträchtigen Robespierre Präsident des Konvents war.

Ich kam erst nach dem Theater nach Hause und hörte, daß der Franzose eine Stunde auf dem Zimmer mit dem Wundarzt zugebracht habe und dann mit seinem Kameraden nach Rotterdam abgereist sei. Das Abendessen war fröhlich, die Unterhaltung angenehm, und von dem Vorfall wurde kein Wort gesprochen; nur bemerkte eine englische Dame, ich weiß nicht mehr bei welcher Gelegenheit, ein Ehrenmann dürfe es nicht wagen, sich an einen Wirtshaustisch zu setzen, wenn er nicht trotz aller möglichen Vorsicht entschlossen sei, sich zu schlagen. Dies war zu jener Zeit sehr wahr; denn um eines übel aufgefaßten Wortes wegen mußte man den Degen ziehen und sich allen ärgerlichen Folgen eines Zweikampfes aussetzen oder mit Fingern auf sich zeigen lassen, selbst von Damen.

Da ich im Haag nichts mehr zu tun hatte, so reiste ich nach Tagesanbruch nach Amsterdam ab. Unterwegs traf ich auf der Station, wo ich zu Mittag speiste, Sir James Walpole; er erzählte mir, er sei am Tage vorher von Amsterdam wieder abgereist, eine Stunde nachdem er die schöne Gräfin ihrem Gatten übergeben habe. Er war ihr schon vollständig überdrüssig gewesen, da eine Frau, die mehr gab, als man von ihr verlangte, wenn man nur willig die Börse öffnete, ihm nichts mehr zu wünschen übrig ließ. Gegen Mitternacht kam ich in Amsterdam an und stieg in der »Zweiten Bibel« ab. Esthers Nachbarschaft hatte meine Liebe zu dieser reizenden Person wieder erregt, und vor Ungeduld, sie wieder zu sehen, konnte ich nicht schlafen.

Gegen zehn Uhr ging ich aus und begab mich sofort zu Herrn d’O., der mich mit den herzlichsten Freundschaftsbeteuerungen empfing und mir liebenswürdige Vorwürfe machte, daß ich nicht bei ihm abgestiegen wäre. Als er erfuhr, daß ich meine Fabrik aufgegeben hatte, wünschte er mir Glück, daß ich sie nicht nach Holland verlegt hätte, wo ich mich zugrunde gerichtet haben würde. Ich sagte ihm nicht, daß es mir in Frankreich nicht viel besser gegangen wäre, denn dies lag nicht in meinem Plan. Er beklagte sich bitter über die Unredlichkeiten des französischen Hofes, wodurch er beträchtliche Verluste erlitten hätte; hierauf sagte er mir, ich möchte Esther aufsuchen.

Ich war so ungeduldig, sie zu sehen, daß ich mir dies nicht zweimal sagen ließ. Ich eilte zu ihr. Sobald dies reizende Mädchen mich erblickte, schrie sie vor Überraschung und Freude laut auf und stürzte sich in meine Arme, die sie mit zärtlicher Begeisterung empfingen. Ich fand sie größer geworden und reifer entwickelt; sie war köstlich. Kaum hatten wir Platz genommen, so beeilte sie sich, mir zu beweisen, daß sie von der Kabbala jetzt ebensoviel verstand wie ich. Sie sagte zu mir: »Sie ist das Glück meines Lebens, denn durch sie beherrsche ich den Willen meines Vaters und habe infolgedessen die Gewißheit, daß er mich niemals mit einem anderen verheiraten wird, als mit einem Manne meiner eigenen Wahl.«

»Ich sehe mit Vergnügen, daß Ihr ausgezeichneter Geist aus dieser eitlen Wissenschaft den einzigen Nutzen zieht, den sie herzugeben vermag; nämlich schwache Geister zu leiten. Aber Ihr Vater muß glauben, daß Sie dies Geheimnis von mir haben.«

»Ja, das glaubt er, und er sagte mir eines Tages, er verzeihe mir alle Opfer, die ich Ihnen vielleicht gebracht hätte, um Ihnen diese kostbare Kenntnis zu entlocken.«

»Er ist vielleicht weiter gegangen als wir, meine göttliche Esther.«

»Ich glaube es, lieber Freund, aber ich sagte ihm, ich hätte Ihnen diese Kenntnis entwendet, ohne irgendein Opfer zu bringen. Ich bin wie Sie eine antwortende Gottheit geworden, eine wahre Pythia, die aber nicht die Qualen des Dreifußes zu ertragen hat; denn ich bin überzeugt, daß Ihre Antworten nur aus Ihren Berechnungen entspringen.«

»Aber wenn Ihre Annahme richtig wäre, liebe Freundin, wie hätte ich dann sagen können, wo die Brieftasche lag, und wie hätte ich die Ankunft des Schiffes prophezeien können.«

»Die Brieftasche haben Sie selber durch das Loch gestoßen, nachdem Sie sie gefunden hatten; und das Eintreffen des Schiffes, mein Lieber, das haben Sie auf gut Glück geweissagt; aber da Sie eine ehrliche Seele haben, so sind Sie darum recht in Angst gewesen – gestehen Sie das nur! Ich für meine Person werde niemals so kühn sein, und wenn mein Vater mir Fragen von dieser Art vorlegt, sind meine Antworten stets dunkler als die einer Sibylle. Ich will nicht, daß er sein Vertrauen zu meinem Orakel verliert, und ich will mir nicht den Vorwurf machen müssen, die Ursache eines Unglückes zu sein, das mir selber sehr nahe gehen wird.«

»Wenn dieser Irrtum Sie glücklich macht, so muß ich Sie darin belassen, um so mehr da ich, meine liebe Esther, die Erhabenheit Ihres Talentes bewundere. Sie sind einzig!«

»An Ihrer Bewunderung liegt mir nichts,« antwortet sie mir etwas empfindlich, »ich wünsche ein aufrichtiges Geständnis.«

»Weiter kann ich nicht gehen.« Diese Worte, die ich im ernsten Tone sprach, machten Esther nachdenklich; aber es lag mir daran, meine geistige Überlegenheit ihr gegenüber nicht zu verlieren, und ich tat mir Gewalt an, um ihren Wunsch nicht zu erfüllen. Ich zerbrach mir den Kopf, um ihr irgendetwas zu prophezeien, was nicht allzu sinnfällig war; während ich darüber nachdachte, meldete man uns, daß wir bei Tische erwartet würden.

Wir waren vier zu Tische, und es schien mir, als ob der vierte in Esther verliebt wäre, denn er verwandte kein Auge von ihr. Er war der Lieblingsgehilfe des Vaters, der mit Vergnügen gesehen haben würde, wenn seine Tochter sich in ihn verliebt hätte; aber ich sah bald, daß er nicht die nötigen Eigenschaften besaß, um sie neugierig auf seine Person zu machen. Esther war während der ganzen Mahlzeit schweigsam, und wir sprachen von der Kabbala erst, als er sich entfernt hatte.

»Ist es möglich,« fragte Herr d’O. mich, »daß meine Tochter die Anwendung Ihres Orakels hat lernen können, ohne von Ihnen unterrichtet worden zu sein?«

»Ich habe dies bis heute stets für unmöglich gehalten; aber Esther hat mich überzeugt, daß ich mich geirrt hatte. Ich kann meine Wissenschaft keinem Menschen beibringen, ohne sie selber zu verlieren; denn der Eid, den ich selbst dem weißen Einsiedler ablegte, der sie mich lehrte, verbietet es mir bei dieser Strafe. Da Ihr Fräulein Tochter keinen solchen Eid abgelegt und die Wissenschaft aus sich selber gelernt hat, so kann sie sie nach freiem Belieben mitteilen, wem sie will.«

Die kluge Esther aber sagte schnell, die Zurückhaltung, die der weiße Einsiedler mir auferlegt hätte, wäre ihr durch ihr Orakel geboten worden; es wäre ihr nicht gestattet, das kabbalistische Geheimnis ohne Erlaubnis des Genius mitzuteilen, wenn sie nicht selber dessen Gebrauch verlieren wollte.

Ich las im tiefsten Grunde ihrer Seele und sah mit Freuden, daß sie sich wieder beruhigt hatte. Mochte ich sie belogen haben oder nicht, jedenfalls schuldete sie mir Dank, denn durch mich hatte sie ein Übergewicht über ihren Vater erlangt, das sie von seiner väterlichen Liebe nicht hätte erwarten dürfen. Sie sah jedoch, daß ich nur aus Höflichkeit gehandelt hatte, und wünschte, daß ich ihr dies unter vier Augen gestehen sollte.

Der brave Kaufmann, der von ganzer Seele an die Unfehlbarkeit unserer Orakel glaubte, stellte aus Neugier uns beiden die gleiche Frage, um zu sehen, ob wir miteinander übereinstimmten. Esther fand den Einfall Ihres Vaters sehr gut, denn sie wollte gerne wissen, ob nicht die eine Antwort schwarz und die andere weiß lauten würde. Herr d’O. schrieb seine Frage auf zwei Blätter und gab jedem von uns eins davon. Esther ging in ihr Zimmer, um ihre Berechnung zu machen; ich aber machte die meinige auf dem Tische, woran wir gegessen hatten, und in Gegenwart ihres Vaters. Sie war flink, denn sie trat schon wieder ein, bevor ich noch aus meiner Zahlenpyramide die Buchstaben ausgezogen hatte, aus denen sich meine Antwort zusammensetzen sollte; da ich jedoch wußte, was ich sagen sollte, so gab ich dem Vater meine Antwort, sobald ich das Orakel seiner Tochter in seinen Händen sah.

Herr d’O. fragte, ob er sich aller französischen Papiere, die er besäße, entledigen sollte, obgleich er durch den Verkauf Verlust haben würde.

Esthers Orakel antwortete: »Aufgeklärte Vorsicht säet, um mit Nutzen zu ernten, und hütet sich, die Pflanze vor der Ernte auszureißen; die deinige steht auf einem guten Boden.«

Die Antwort meines Orakels lautete: »Wenn Sie verkaufen, erwartet Sie Reue, denn ein neuer Generalkontrolleur wird vor Ablauf eines Jahres alles bezahlen.«

Esthers Antwort war im sibyllinischen Ton gehalten; ich bewunderte die geistige Schmiegsamkeit des reizenden Mädchens. Mein Orakel war den Verstandesgaben des wackeren Mannes angepaßt, der voll Entzücken zärtlich uns beide umarmte und hierauf Hut und Stock nahm und uns sagte, infolge der Übereinstimmung unserer Antworten werde er im Laufe des Jahres fünf- oder sechshunderttausend Franken gewinnen, indem er drei Millionen aufs Spiel setze. Hiergegen erhob seine Tochter Einspruch, indem sie versuchte, ihn durch einen Hinweis auf die Gefahr zu warnen; er aber war entschlossen wie ein Muselmann, küßte sie noch einmal und sagte zu ihr: »Das Orakel lügt nicht; und selbst wenn es mich diesmal täuschte, würde ich nur den vierten Teil meines Vermögens verlieren.«

Esther blieb mit mir allein zurück und war sehr erfreut über die Komplimente, die ich wegen ihrer schönen Antwort, wegen der Eleganz ihres kabbalistischen Stiles und wegen ihrer Kühnheit ihr machte; denn sie konnte nicht, wie ich, von den französischen Angelegenheiten Bescheid wissen.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie zu mir, »daß Sie meine Antwort bekräftigt haben; aber gestehen Sie, Sie haben gelogen, um mir ein Vergnügen zu machen.«

»Ich gestehe es, da dies Sie glücklich macht; ich will Ihnen sogar sagen, daß Sie nicht nötig haben, nach einer höheren Vollendung zu streben, als Sie sie schon besitzen.«

»Mit anderen Worten: ich kann die höchste Vollendung nie erreichen! Sagen Sie mir die Wahrheit darüber.«

»Ich gebe es zu, denn es liegt mir daran, mir Ihren Beifall zu erringen.«

»Sie sind ein grausamer Mensch! Sie haben aber doch geantwortet, Frankreich werde dieses Jahr einen anderen Generalkontrolleur erhalten, und so bringen Sie sich in Gefahr, Ihr Orakel bloßzustellen. Das würde ich niemals wagen. Mein liebes Orakel! Ich liebe es zu sehr, um es einer solchen Beschämung auszusetzen.«

»Das beweist, daß ich nicht der Urheber des Orakels bin; aber, weil mein Orakel es mir gesagt hat, würde ich jede Wette eingehen, daß Silhouette entlassen werden wird.«

»Sie bringen mich zur Verzweiflung mit Ihrer Halsstarrigkeit, lieber Freund; denn ich werde erst glücklich sein, wenn ich sicher bin, das Orakel ebenso zu beherrschen wie Sie – weder mehr noch weniger! Und jetzt werden Sie nicht mehr sagen können, daß Sie die Orakel nicht nach Gutdünken machen. Ich bitte Sie, mich vom Gegenteil zu überzeugen.«

»Ich werde Ihnen zuliebe daran denken, meine teure Esther.«

So verbrachte ich den ganzen Tag mit dem reizenden Kinde, das in seinen eigenen Vorzügen sowohl wie in seinem großen Vermögen alles besaß, um mich glücklich zu machen, wenn nicht meine Liebe zur Unabhängigkeit stärker gewesen wäre als alle meine anderen Leidenschaften, und vor allen Dingen, wenn ich mich hätte entschließen können, mich für immer in Holland niederzulassen.

Ich habe im Laufe meines Lebens oft die Beobachtung gemacht, daß fast immer meine angenehmsten Augenblicke gleichsam die Vorläufer irgendeiner Unannehmlichkeit waren. Am Tage nach diesem köstlichen führte mein böser Geist mich in die »Stadt Lyon«. In diesem Gasthof wohnten Piccolomini und seine Frau, die ich von einer Bande von Gaunern und Taugenichtsen von gleicher Art umgeben fand. Sobald diese ehrenwerten Leute meinen Namen gehört hatten, eilten sie mir alle entgegen, einige, um mich zu begrüßen, andere, um mich wie ein Wundertier anzustaunen. Ein Chevalier de Sabi, welcher polnische Majorsuniform trug, behauptete, mich in Dresden gekannt zu haben; ein Baron von Wiedau, angeblich aus Böhmen stammend, teilte mir mit, sein Freund, der Graf von St.-Germain, sei im »Morgenstern« abgestiegen und habe sich sofort erkundigt, ob ich in Amsterdam sei. Ein pockennarbiger Klopffechter wurde mir als Chevalier de la Perine vorgestellt; ich erkannte in ihm sofort jenen Talvis, der dem Fürstbischof von Preßburg die Bank gesprengt und mir an demselben Abend hundert Louis geliehen hatte; es war derselbe Herr, dem ich einige Zeit vorher in Paris einen Degenstich verabfolgt hatte. Endlich war da noch ein anderer Italiener, namens Neri, der wie ein Kesselflicker von St.-Flour aussah und sich auch so benahm, abgesehen von der Ehrlichkeit; dieser sagte mir, er erinnere sich, mich eines Abends im »Musico« gesehen zu haben; dies war jene Lasterhöhle, wo ich die unglückliche Lucia getroffen hatte.

Unter allen diesen Halsabschneidern befand sich auch die angebliche Frau des Chevaliers Sabi, eine ziemlich hübsche Sächsin, die, so gut es eben ging, italienisch sprach und der Gräfin Piccolomini den Hof machte. Vor Ärger, mich in dieser ehrenwerten Gesellschaft zu sehen, biß ich mir in die Lippen, aber ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen. Darum machte ich den Anwesenden eine höfliche Verbeugung, zog aus der Westentasche eine Rolle von hundert Louis und überreichte sie dem Herrn von und zu Perine-Talvis, indem ich ihm sagte, ich schätze mich glücklich, sie ihm mit bestem Dank zurückgeben zu können.

Meine Höflichkeit fand eine schlechte Aufnahme, denn dieser unverschämte Bediente steckte die Rolle ein und sagte zu mir, er erinnere sich wohl, mir in Preßburg die hundert Louis geliehen zu haben, darüber habe er eine andere, wichtigere Sache nicht vergessen.

»Und was ist das für eine Sache?« fragte ich ihn mit kühler und halb verächtlicher Miene.

»Sie sind mir noch Genugtuung mit dem Degen schuldig, wie Sie wohl wissen. Hier ist noch die Narbe von dem Knopfloch, das Sie mir vor sieben Jahren gemacht haben.«

Mit diesen Worten hatte das Männchen seine große Spitzenkrause geöffnet und zeigte die kleine Narbe dem Kreise der Anwesenden. Dieser mehr possenhafte als komische Auftritt schien alle Zungen gelähmt zu haben.

Ich erwiderte ihm: »Hier in Holland schlage ich mich nicht, weil Geschäfte sehr zarter Natur mir Zurückhaltung zur Pflicht machen; an jedem anderen Ort werde ich mich nicht weigern, Sie ein zweites Mal zu zeichnen, falls Sie dann noch Lust haben sollten, sich abermals mit mir zu messen. Hier aber bitte ich Sie mich in Ruhe zu lassen. Wollen Sie sich bitte merken, daß ich niemals ausgehe, ohne ein paar gute Freunde in der Tasche zu haben; sollten Sie Lust bekommen, mich anzugreifen, so würde ich Ihnen in berechtigter Notwehr eine Kugel durch den Kopf jagen.«

»Ich verlange nur meine Genugtuung mit dem Degen; aber ich will Ihnen Zeit lassen, Ihre Geschäfte zu erledigen.«

»Daran tun Sie klug.«

Piccolomini hatte schon ein Auge auf meine hundert Louis geworfen; er schlug vor, eine Pharaobank aufzulegen, und begann sofort abzuziehen. Die Klugheit hätte mich abhalten sollen, in so schlechter Gesellschaft mich am Spiel zu beteiligen; aber die Lust, meine Goldrolle wieder zu gewinnen, war stärker als meine Vernunft, und ich ließ mir ein Buch Karten geben. Im Handumdrehen verlor ich hundert Dukaten; aber hierdurch wurde ich nur noch aufgeregter, wie es ja gewöhnlich der Fall ist. Um meinen Verlust wieder auszuwetzen, blieb ich zum Abendessen; als ich nachher das Spiel wieder begann, war ich glücklicher und gewann mein verlorenes Geld wieder zurück. Ich war zufrieden, hiermit davongekommen zu sein, und opferte vernünftigerweise die hundert Louis, mit denen ich ja nur eine Schuld bezahlt hatte. Ich verlangte von Piccolomini Auszahlung, und dieser gab mir einen Wechsel, der von einem Handlungshause in Middelburg auf die Amsterdamer Bank gezogen war. Ich wollte ihn anfangs nicht annehmen, indem ich vorgab, daß das Inkasso mir Umstände machen würde; als er mir jedoch versprach, mir den Betrag am nächsten Morgen in bar auszahlen zu wollen, glaubte ich nachgeben zu müssen.

Ich beeilte mich, diese Räuberhöhle zu verlassen, nachdem ich Talvis ein Darlehen von hundert Louis abgeschlagen hatte, die er zur Revanche von mir entlehnen wollte. In seinem Verdruß über meine Weigerung und über den Verlust der von mir erhaltenen hundert Louis erlaubte er sich beleidigende Ausdrücke, die ich mit Verachtung hinnahm. Ich ging zu Bett, indem ich mir fest vornahm, einen solchen Ort nicht mehr zu betreten.

Trotzdem ging ich am nächsten Tage aus, um mir von Piccolomini den Betrag des Wechsels auszahlen zu lassen; unterwegs trat ich jedoch in ein Cafs ein, wo ich zufällig Teresas Freund Rigerboos traf, den der Leser bereits kennen gelernt hat. Nachdem wir uns umarmt und von Teresa gesprochen hatten, die damals in London war und dort sehr gute Geschäfte machte, zeigte ich ihm meinen Wechsel und erzählte ihm, wie ich dazu gekommen war. Er prüfte ihn aufmerksam und sagte mir dann: »Dieser Wechsel ist falsch. Der echte, dessen Abschrift dieser hier ist, wurde gestern eingelöst.« Als er sah, daß ich ihm dies nicht recht glauben wollte, fuhr er fort: »Kommen Sie mit; ich werde Sie überzeugen.«

Er führte mich zu einem ihm bekannten Kaufmann, und ich sah bei diesem den echten Wechsel, dessen Wert er am Tage vorher einem Unbekannten ausbezahlt hatte. Entrüstet bat ich Nigerboos, mich zu Piccolomini zu begleiten, der mir vielleicht den Betrag ohne Schwierigkeit auszahlen würde. Sollte dies aber nicht der Fall sein, so könnte er mir als Zeuge dienen.

Wir begaben uns zu dem angeblichen Grafen, der mich höflich empfing und mich bat, ihm den Wechsel auszuhändigen; er wolle ihn sofort zu dem Kaufmann schicken, um den Betrag in Empfang zu nehmen. Rigerboos ergriff jedoch das Wort und sagte ihm, der Kaufmann werde den Wechsel nicht bezahlen, weil dieser nur eine Abschrift des am Tage vorher bezahlten sei. Piccolomini tat sehr erstaunt und sagte, das sei unmöglich; übrigens werde er der Sache auf den Grund gehen.

Ich antwortete ihm hierauf: »Gehen Sie ihr auf den Grund, soviel Sie Lust haben, aber geben Sie mir unterdessen fünfhundert Gulden.«

Nun erhob er die Stimme und rief: »Sie kennen mich! Ich bürge für den Betrag, und dies muß Ihnen genügen.«

»Dies könnte mir allerdings genügen, wenn ich wollte; aber ich verlange mein Geld.«

Seine Frau kam herein und mischte sich in unser Gespräch. Als jedoch auch sein Bedienter, ein Kerl mit einem Halsabschneidergesicht eintrat, packte Rigerboos mich kräftig am Arm, zog mich hinaus und sagte mir, sobald wir draußen an der Tür waren: »Kommen Sie mit, und lassen Sie mich machen.«

Er führte mich zu einem Herrn von edelstem Aussehen; es war der Polizeipräsident. Sobald er gehört hatte, worum es sich handelte, sagte er mir, ich möchte ihm den Wechsel dalassen und ihm nur angeben, wo ich an dem Tage speisen würde. Ich nannte ihm das Haus des Herrn d’O.; er erklärte, dies genüge ihm, und wir gingen.

Ich dankte Rigerboos und begab mich zu Esther, die mich mit zärtlichen Vorwürfen darüber empfing, daß ich mich den Tag vorher nicht bei ihr hatte sehen lassen. Dieser Empfang war schmeichelhaft für mich; ich fand sie reizend und sagte zu ihr: »Ich muß mich sehr in acht nehmen, Sie nicht jeden Tag zu besuchen; denn Ihre Augen üben auf mein Herz eine Herrschaft aus, der ich bald nicht länger mehr werde widerstehen können.«

»Gestatten Sie mir, dies nicht zu glauben, lieber Freund; aber da fällt mir ein: Haben Sie sich überlegt, wie Sie mich überzeugen wollen?«

»Auf welche Art wünschen Sie überzeugt zu sein?«

»Wenn Ihre Kabbala wirklich eine Intelligenz ist, die mit Ihrer eigenen nichts zu tun hat, so können Sie sie ja befragen, auf welche Weise Sie mir am besten meinen Irrtum benehmen können.«

»Ich finde Ihren Gedanken ausgezeichnet und verspreche Ihnen, mich damit zu beschäftigen.«

In diesem Augenblick kam ihr Vater von der Börse zurück, und wir gingen zu Tisch. Als wir beim Nachtisch saßen, kam ein Polizeigefreiter, der mir im Auftrag des Magistrats fünfhundert Gulden überbrachte, über deren Empfang ich ihm quittieren mußte.

Als der Mann wieder fort war, erzählte ich meinen Gastfreunden meine Erlebnisse vom Tage vorher und vom Morgen. Die schöne Esther machte mir Vorwürfe, daß ich eine so schlechte Gesellschaft ihr vorgezogen hätte, und sagte: »Strafe muß sein! Ich hoffe, Sie werden sich nicht weigern, mich heute Abend ins Theater zu begleiten, obgleich dort eine holländische Komödie aufgeführt wird, von der Sie kein Wort verstehen werden.«

»Ich werde das Vergnügen haben, mich an Ihrer Seite zu befinden, und dies genügt.«

Wirklich verstand ich vom ganzen Kauderwelsch der Schauspieler kein Wort und langweilte mich fürchterlich, denn Esther war zum Verzweifeln ernst.

Als wir wieder zu Hause waren, erzählte sie mir auf die anmutigste Art und mit erstaunlichem Gedächtnis das ganze Stück, als wollte sie mich für die Art von Frondienst entschädigen, den ich hatte leisten müssen. Hierauf speisten wir zur Nacht, und an diesem Abend war Gott sei Dank von Kabbala nicht mehr die Rede. Bevor wir uns trennten, nahmen Esther und ihr Vater mir das Versprechen ab, jeden Tag bei ihnen zu speisen, und ich verpflichtete mich, ihnen Bescheid zu geben, falls ich einmal daran verhindert sein sollte.

Am nächsten Morgen um acht Uhr, als ich noch im Schlafrock war, sah ich plötzlich Piccolomini vor mir stehen. Da er eingetreten war, ohne sich anmelden zu lassen, so erregte dies meinen Verdacht, und ich klingelte meinem Spanier, der augenblicklich erschien.

»Ich habe Ihnen etwas im geheimen zu sagen,« begann Piccolomini; »wollen Sie bitte den Mann herausgehen lassen.«

»Er versteht kein Wort Italienisch und kann daher bleiben.«

Leduc verstand alles.

»Gestern gegen Mittag,« sagte Piccolomini, »traten zwei Männer bei mir ein; sie hatten meinen Wirt bei sich, der ihnen als Dolmetscher diente. Der eine von ihnen fragte mich, ob ich bereit wäre, sofort einen falschen Wechsel von fünfhundert Gulden einzulösen, den ich Ihnen am Tage vorher gegeben hätte. Zugleich zeigte er mir diesen Wechsel, den er in der Hand hielt. Als ich nicht sofort antwortete, fügte er hinzu, ich müßte ohne Umschweife und ohne zu zögern ja oder nein sagen; dies hätte der Polizeipräsident befohlen. Da mir nichts anderes mehr übrig blieb, so bezahlte ich die fünfhundert Gulden. Es gelang mir jedoch nicht, den Wechsel herauszubekommen, denn der Mann ließ mir sagen, ich würde ihn erst erhalten, wenn ich angegeben hätte, von wem ich den Wechsel hätte, da es nach dem Handelsgesetz erforderlich wäre, den Fälscher zu verfolgen. Ich antwortete, es wäre mir unmöglich, diese Person zu bezeichnen, denn ich hätte den Wechsel von einem Fremden erhalten, der sich in mein Zimmer eingedrängt hätte, während ich zum Zeitvertreib eine kleine Pharaobank auflegte. Ich hätte angenommen, dieser Unbekannte wäre von irgendeinem Mitgliede unserer Gesellschaft eingeführt worden, hätte jedoch zu meiner Überraschung nach seinem Fortgehen erfahren, daß er allen Anwesenden vollkommen unbekannt wäre; hätte ich dies gewußt, so würde ich nicht nur den Wechsel nicht angenommen haben, sondern ich würde ihm nicht einmal erlaubt haben, sich am Spiel zu beteiligen. Hierauf sagte der zweite Beamte zu mir, ich sollte mich nur bemühen, diesen Unbekannten ausfindig zu machen; sonst würde man mir die Fälschung zuschreiben und das Gericht würde gegen mich einschreiten. Nach dieser Drohung entfernten sie sich. – Im Laufe des Nachmittags suchte meine Frau den Polizeipräsidenten auf, der sie höflich empfing. Nachdem er ihre Beschwerde angehört hatte, ließ er ihr durch den Dolmetscher antworten, es wäre seine Pflicht, den Urheber der Wechselfälschung zu entdecken, zumal da ein Verdacht auf die Ehre des Herrn Casanova fallen könnte; denn der Kaufmann könnte auch Sie verfolgen lassen, um festzustellen, wer seine Unterschrift gefälscht hätte, und Sie müßten sich natürlich an mich halten. – Sie sehen, in welcher Verlegenheit wir sind, und Sie müssen versuchen, uns herauszureißen. Sie haben Ihr Geld bekommen, und Sie haben Freunde. Lassen Sie diese einschreiten, und man wird von der Geschichte nicht mehr sprechen. Sie haben dasselbe Interesse daran wie ich.«

Ich antwortete ihm: »Ich kann mich mit der ganzen Geschichte nicht abgeben außer als Zeuge. Sie haben anerkannt, daß ich den Wechsel von Ihnen hätte, denn Sie haben ihn bezahlt; dies genügt mir. Ich möchte Ihnen gerne gefällig sein, aber ich sehe keine Möglichkeit dazu und wüßte wirklich nicht, was ich dabei tun könnte. Ich kann Ihnen nur den guten Rat geben: opfern Sie den niederträchtigen Gauner, der Ihnen den falschen Wechsel gegeben hat, oder, wenn Sie dies nicht können, so verschwinden Sie so schnell wie möglich, denn Sie könnten womöglich ins Zuchthaus kommen, wenn es Ihnen nicht noch schlechter geht.«

Er wurde wütend, drehte mir den Rücken und entfernte sich mit den Worten, ich würde es bereuen.

Mein Spanier begleitete ihn bis an die Treppe und sagte mir, als er wieder hereinkam, der Signor hätte mit Rache gedroht, und ich sollte lieber auf der Hut sein.

»Schon gut; aber halte den Mund!«

Indessen war ich ihm innerlich sehr dankbar für seinen Rat: übrigens hatte ich schon selber daran gedacht.

Ich kleidete mich an, um zu Esther zu gehen, die ich von der Göttlichkeit meines Orakels zu überzeugen hatte. Dies war eine sehr gewagte Sache einer Person gegenüber, die es mit ihrem durchdringenden Verstand aus eigener Kraft so weit gebracht hatte. Sie stellte mir folgende Aufgabe: »Ihr Orakel soll mir etwas enthüllen, was nur mir selber bekannt sein kann.« Ich durfte mich ganz gewiß nicht auf ein Wagnis einlassen, und da ich fühlte, daß es fast unmöglich war, ihren Wunsch zu befriedigen, so sagte ich ihr, das Orakel würde vielleicht irgendein Geheimnis offenbaren, dessen Kenntnis ihr unangenehm sein könnte.

»Das ist nicht möglich,« antwortete sie; »denn das Geheimnis darf ja nur mir allein bekannt sein.«

»Aber wenn das Orakel richtig antwortet, so wird das Geheimnis mir so gut bekannt sein wie Ihnen; und könnte es nicht doch vielleicht Ihnen peinlich sein, wenn ich es wüßte?«

»Sie können alles wissen; wenn übrigens das Orakel nicht bloß der Sklave Ihres Geistes ist, so steht es ja immer in ihrer Macht, zu entdecken, was Sie gerne wissen möchten.«

»Aber wissen Sie auch, ob die Gefälligkeit des Orakels nicht vielleicht ihre Grenzen hat?«

»Mein Freund, Sie suchen leere Ausreden! Beweisen Sie mir, daß ich mich irre, oder erklären Sie, daß ich von der kabbalistischen Wissenschaft ebensoviel verstehe wie Sie!«

Ich sah mich so in die Enge getrieben, daß ich nur noch wünschte, mich mit kriegerischen Ehren für besiegt erklären zu können. Plötzlich aber fiel mir ein glänzender Gedanke ein.

Mitten in dem Grübchen, das ihrem Kinn einen unbeschreiblichen Zauber verlieh, hatte Esther ein ganz schwarzes Mal, das ein wenig hervorragte und mit drei oder vier außerordentlich feinen Härchen geschmückt war, die seine Schönheit noch erhöhten. Diese Mäler, die wir im italienischen neo, nei nennen und die für gewöhnlich einem hübschen Gesicht neuen Reiz verleihen, wiederholen sich, wenn sie sich im Gesicht, am Halse, auf den Armen oder Händen befinden, auf den dem sichtbaren Teile des Körpers entsprechenden Gliedern. Ich wußte also, daß Esther ein ungefähr gleiches Mal wie auf dem Kinn auf einer gewissen Stelle haben mußte, die ein anständiges Mädchen nicht zeigt, und da sie, wie ich annehmen durfte, noch rein war, so kannte sie es wahrscheinlich selber nicht. »Ich werde sie«, sagte ich mir, »in das höchste Erstaunen setzen und meine Überlegenheit auf eine Art beweisen, daß der Gedanke der Gleichheit, den sie sich in den Kopf gesetzt hat, ihr für immer vergehen soll.«

Mit der ganzen Wichtigtuerei eines Auguren begann ich meine Pyramide zu bilden und gewann aus ihr folgende Worte:

»Schöne und keusche Esther, niemand weiß, daß Sie am Eingang des für die Liebe bestimmten Tempels genau solch ein Mal haben, wie das, welches Ihr schönes Kinn schmückt.«

Während ich arbeitete, stand Esther über den Tisch gebeugt und verfolgte alle meine Bewegungen. Da sie in der Tat die Wissenschaft vollkommen so gut beherrschte wie ich selber, bedurfte sie keiner Erklärung, denn sie übersetzte die Zahlen sofort, wie sie mir aus der Feder flossen. Sobald ich aus der Pyramide alle Zahlenkombinationen ausgezogen hatte, sagte sie mir ruhig, aber wirklich ergriffen, ich brauche ja nicht zu wissen, was das Orakel geantwortet habe, und werde ihr einen großen Gefallen tun, wenn ich ihr die Zahlen da lasse, es werde ihr Vergnügen machen, sie zu übertragen.

»Gerne, meine reizende Freundin! Um so lieber, da ich hierdurch Ihrem Zartgefühl die Mitteilung eines Geheimnisses erspare, das ich selber noch nicht recht kenne und das Sie vielleicht gerne mir unbekannt bleiben lassen möchten. Ich verspreche Ihnen sogar, daß ich niemals versuchen werde, es zu ergründen; es genügt mir, wenn Sie überzeugt sind.«

»Ich werde überzeugt sein, sobald ich festgestellt habe, daß es die Wahrheit spricht.«

»Glauben Sie, liebenswürdige Esther, daß die Bedeutung dieser Antwort mir unbekannt ist?«

»Ich werde Gewißheit darüber erlangen, wenn ich sehe, daß die Antwort die Wahrheit sagt; und wenn dies der Fall ist, so hat das Orakel gewonnen, denn die Sache ist so geheim, daß ich selber sie nicht kenne. Es kann Ihnen nichts daran liegen, sie zu erfahren; denn es ist eine Kleinigkeit, die Sie nicht interessieren kann. Aber es wird genügen, um mich zu überzeugen, daß Ihr Orakel von einer geistigen Kraft belebt ist, die mit derjenigen Ihres Geistes nichts gemein hat.«

In diesen Worten lag so viel Unschuld und Aufrichtigkeit, daß das Gefühl in mir die Oberhand über die Falschheit errang; ich vergoß Tränen, welche Esther nur zu meinem Vorteil deuten konnte. Diese Tränen entriß mir die Reue; und noch heute, nach so vielen Jahren, mache ich mir den Vorwurf, daß ich ein Geschöpf betrogen habe, das meiner Achtung in so hohem Maße würdig war und von mir zärtlich geliebt wurde. Schon damals machte ich es mir zum Vorwurf, aber Scham, eine klägliche falsche Scham, hielt mich ab, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich verabscheute mich selber, weil ich mich fähig fand, ein Wesen zu betrügen, nach dessen Achtung ich strebte.

Übrigens war ich doch nicht ganz sicher, richtig geraten zu haben; denn da es keine Regel ohne Ausnahme gibt und dieses Gesetz auch für die Natur gilt, so war es wohl möglich, daß ich mich blamieren würde. Esther mußte allerdings für den Augenblick überzeugt sein; aber es war nicht ausgeschlossen, daß ihre Überzeugung verschwand, wenn sie etwa durch Zufall entdeckte, daß die Übereinstimmung der Mäler auf dem menschlichen Körper etwas Natürliches und Notwendiges ist. Sollte dieser Fall eintreten, so mußte ich mich auf die Verachtung des reizenden Kindes gefaßt machen. Aber was ich auch befürchten mochte – ich hatte die Täuschung zu weit getrieben; es war mir unmöglich zurückzuweichen.

Ich verließ Esther, um Herrn Rigerboos einen Besuch zu machen und ihm für seine Bemühungen beim Polizeipräsidenten zu danken. Er sagte mir, ich hätte in Holland von Piccolomini nichts zu befürchten, aber er riet mir, zur Vorsicht stets Pistolen bei mir zu tragen. Er sagte ferner zu mir: »Ich stehe im Begriff, an Bord eines Schiffes, das ich mit den Trümmern meines Vermögens befrachtet habe, nach Batavia zu segeln. Bei dem Zustande, worin sich meine Angelegenheiten befinden, schien dieser Entschluß mir der vernünftigste zu sein. Ich habe die Ladung nicht versichert, um nicht meinen Gewinn zu schmälern, der im Falle des Gelingens sehr beträchtlich sein muß. Wenn ich gekapert werde oder Schiffbruch erleide, gedenke ich den Verlust des Schiffes nicht zu überleben, und so kann ich auf keinen Fall etwas verlieren.«

Der arme Rigerboos sagte mir dies lachend, aber sicherlich hatte die Verzweiflung einen großen Anteil an seinem Entschluß; denn man verliert nicht Vermögen und Leben ohne Bedauern, wenn man nicht starke Gründe hat, beides zu verachten. Meine liebe Teresa Trenti, welche Rigerboos stets unsere Dame nannte, hatte nicht wenig dazu beigetragen, ihn zugrunde zu richten. Sie befand sich damals in London, wo sie gute Geschäfte machte; so schrieb sie uns wenigstens. Sie nannte sich nicht mehr Trenti, sondern Cornelis; dies war, wie ich später erfuhr, der wirkliche Name unseres Rigerboos. Wir verbrachten eine Stunde damit, an diese eigentümliche Frau zu schreiben, da wir die Gelegenheit benutzen wollten, daß jemand, dem Rigerboos eine Empfehlung an sie mitgab, nach England reiste. Als wir fertig waren, machten wir eine Schlittenfahrt auf der Amstel, die seit einigen Tagen zugefroren war. Dieses Lieblingsvergnügen der Holländer, das man mit einem Dukaten die Stunde bezahlt, ist nach meinem Geschmack das langweiligste von der Welt, wenn es sich nicht etwa darum handelt, eine Reise sehr schnell zu machen; aber Reisen ist kein Vergnügen, wenn es kein bestimmtes Ziel zu erreichen gilt. Nachdem wir uns die Gesichter erfroren hatten, tranken wir Sillery, um uns zu erwärmen, und aßen Austern dazu; dann liefen wir von einem Musico ins andere, nicht etwa um lasterhafte Genüsse zu suchen, sondern nur, weil wir nichts besseres anzufangen wußten, aber es stand, wie es scheint, geschrieben, daß mir irgendein Unglück zustoßen sollte, sooft ich eine derartige Ausschreitung der angenehmen Gesellschaft Esthers vorzöge.

Ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlaß beim Eintritt in ein Musico Rigerboos mich ziemlich laut bei meinem Namen nannte. In demselben Augenblick trat eine von jenen Frauen, die man stets an solchen Orten findet, auf mich zu und sah mich scharf an. Obgleich das Zimmer ziemlich schlecht beleuchtet war, erkannte ich doch die unglückliche Lucia, die ich ein Jahr zuvor an einem ähnlichen Orte getroffen hatte, ohne von ihr wiedererkannt zu werden. Ich tat, als ob ich sie nicht kenne, und drehte mich um, denn ihr Anblick war mir lästig; aber sie rief mich mit trauriger Stimme, erinnerte mich an die alten Zeiten und wünschte mir Glück, daß ich mich in glänzenden Verhältnissen befände, während sie mir in solcher Lage vor Augen treten müßte. Da ich sah, daß ich ihr nicht ausweichen konnte – denn es wäre eine grausame Härte gewesen, sie zurückzuweisen –, so rief ich Rigerboos und bat ihn, mit mir in ein Zimmer nach oben zu gehen, wo das Mädchen uns mit einer Erzählung ihrer Erlebnisse unterhalten würde.

Lucia war eigentlich nicht häßlich geworden, aber sie war abscheulich, weil ihre Züge auf frühere Schönheit schließen ließen; deshalb war sie ekelhaft. Seit unserer Bekanntschaft in Paseano hatten neunzehn Jahre des Elends, der Ausschweifung und der Erniedrigung sie zum verworfensten und gemeinsten Geschöpf gemacht, das man sich denken kann. Sie erzählte uns lang und breit ihre Geschichte, die man ohne große Kunst in wenigen Zeilen wiedergeben kann.

Der Läufer l’Aigle war mit ihr nach Triest gegangen, wo sie niedergekommen war; hierauf hatte er ein halbes Jahr lang von dem Handel mit ihrer Schönheit gelebt. Dann nahm ein Schiffskapitän, der in sie verliebt war, sie und l’Aigle, der für ihren Gatten galt, mit nach Zante. Dort wurde der Läufer Soldat; vier Jahre darauf desertierte er. Da sie nun allein war, so lebte sie sechs Jahre lang von ihrem Körper; als aber die Ware in ihrem Preise sank und sie nur noch kleine Kundschaft fand, so reiste sie mit einer jungen Griechin nach England. Ein englischer Seeoffizier behandelte diese wie seine Frau, verließ sie aber, als er ihrer satt war, und stieß sie auf die Londoner Straßen. Nachdem sie sich zwei oder drei Jahre lang in den britischen Kloaken herumgetrieben hatte, kam Lucia nach Holland, wo sie Kupplerin wurde, da sie mit ihrem eigenen Leibe kein Geschäft mehr machen konnte; dies war das notwendige Ende der Laufbahn, in die das Schicksal sie geschleudert hatte. Lucia war erst dreiunddreißig Jahre alt, aber sie war ausgemergelt, und Frauen sind immer so alt, wie sie aussehen.

Während sie in einem den Umständen angemessenen Ton ihre Geschichte erzählte, leerte sie zwei Flaschen Burgunder, die ich hatte kommen lassen, und von denen mein Freund und ich keinen Tropfen anrührten. Zum Schluß sagte sie uns, sie lebe jetzt von dem Verdienst zweier hübscher Mädchen, die sie zu Hause hätte und die ihr die Hälfte von ihren ganzen Einnahmen abgeben müßten.

Rigerboos fragte sie zum Scherz, ob diese schönen Mädchen im Musico wären.

»Nein, sie sind nicht hier und werden niemals hierher kommen; denn sie sind adelig, und ihr Oheim, unter dessen Aufsicht sie stehen, ist ein venetianischer Edelmann.«

Bei diesen Worten mußte ich unwillkürlich laut auflachen; Lucia aber sagte, ohne außer Fassung zu geraten, sie könne nur wiederholen, was jene ihr gesagt hätten; wenn wir uns übrigens davon überzeugen wollten, so fänden wir sie ganz in der Nähe in einem Hause, das sie für sie gemietet hatte; wir könnten sie in aller Sicherheit besuchen, denn ihr Onkel wohne in einem anderen Stadtteil.

»Wie? Er wohnt nicht bei seinen adeligen Nichten?«

»Nein; er kommt nur zum Essen; dann erkundigt er sich nach den Besuchen, die sie gehabt haben, und nimmt ihnen ihren ganzen Verdienst ab.«

»Vorwärts!« rief Rigerboos; »sehen wir sie uns einmal an!«

Da ich selber sehr große Lust hatte, mir adelige Venetianerinnen anzusehen, die ein so sehr schönes Handwerk trieben, so sagte ich Lucia, sie möchte uns zu ihnen führen. Ich wußte recht wohl, daß diese angeblichen adeligen Mädchen nur Gaunerinnen sein konnten und daß ihr adeliger Herr Onkel ein Schuft sein mußte; aber das Schicksal wollte es nun einmal so.

Wir fanden zwei hübsche junge Mädchen. Lucia stellte mich als Venetianer vor, und sie waren ganz außer sich vor Entzücken, daß sie einen Menschen sahen, mit dem sie sprechen konnten. Ich bemerkte sofort, daß sie keine Venetianerinnen, sondern aus dem Paduanischen waren, denn sie sprachen die mir sehr gut bekannte Mundart der dortigen Gegend. Ich sagte ihnen dies, und sie gaben es zu. Ich fragte sie nach dem Namen ihres Oheims, aber sie antworteten mir, wie ich erwartet hatte, daß sie aus höheren Rücksichten diesen verschweigen müßten. »Nun, wir brauchen ihn ja nicht zu wissen«, sagte Rigerboos, und damit bemächtigte er sich ohne Umstände des Mädchens, das ihm am besten gefiel. Lucia ließ Schinken, Austern, eine Pastete und eine Menge Flaschen kommen; hierauf zog sie sich auf ihr Zimmer zurück.

Ich hatte nicht die geringste Lust zu Ausgelassenheiten, aber Rigerboos war zum Scherzen aufgelegt. Seine Schöne spielte die Prüde; er lachte sie aus, ich lachte ebenfalls, und nach dem üblichen Brauch wurden die Mädchen bald zahm; wir gingen von der einen zur anderen und bald waren sie in dem Zustande, worin Eva sich befand, bevor unsere neugierige Ältermutter das Bedürfnis nach einem Feigenblatt empfand. Nachdem wir eine Stunde mit solchen wollüstigen Spielen verbracht hatten, bezahlten wir. Jedes Mädchen bekam vier Dukaten außer der Zeche, und Lucia erhielt außerdem sechs Louis. Dann gingen wir.

Ich war in sehr schlechter Laune, weil ich der tierischen Natur nachgegeben hatte, und legte mich zu Bett. Am anderen Morgen erwachte ich spät und in verdrießlicher Stimmung, teils wegen der Orgie der letzten Nacht – denn die Ausschweifungen erniedrigen die Seele nicht nur, sondern machen sie auch traurig – teils weil ich Esther vernachlässigt hatte, die mir ohne Zweifel mein Ausbleiben übel genommen hatte. Ich mußte mich beeilen, sie zu beruhigen; übrigens war ich gewiß, daß es mir an Entschuldigungsgründen nicht fehlen würde und daß sie diese gerne würde gelten lassen. Ich zog meinen Schlafrock an, klingelte meinem Diener Leduc und schickte ihn fort, um mir Kaffee zu holen. Kaum war er hinausgegangen, so öffnete sich die Tür, und ich sah Perine und jenen Wiedau erscheinen, der sich bei Piccolomini für einen Freund des Zauberers St.-Germain ausgegeben hatte.

Ich saß auf dem Bettrande und war eben dabei, meine Strümpfe anzuziehen.

Ich hatte drei schöne Zimmer in dem Gasthof, aber nach hinten hinaus, wo mich kein Mensch hätte hören können, und wenn ich noch so laut gerufen hätte. Der Klingelzug befand sich am anderen Ende des Zimmers, und Leduc konnte frühestens in zehn Minuten zurückkommen. Ich schwebte daher in der höchsten Gefahr, ermordet zu werden, ohne mich verteidigen zu können.

Dies alles bedachte ich in weniger als einer Minute. Ich sah kein anderes Rettungsmittel als ruhig zu bleiben und keine Bewegung zu machen. Ich fragte daher: »Was wünschen Sie von mir, meine Herren?«

Wiedau ergriff das Wort und sprach:

»Graf Piccolomini hat, um den unangenehmen Folgen Ihrer Anzeige zu entgehen, sich entschlossen, zu sagen, daß er den falschen Wechsel von uns hat, und er hat uns dies vorher mitgeteilt. Um uns der Verfolgung zu entziehen, sind wir genötigt, uns unverzüglich davonzumachen, und wir haben keinen Heller. Wir sind in Verzweiflung.«

»Und was kann ich dabei machen, meine Herren?«

»Geben Sie uns sofort vierhundert Gulden – nicht mehr, aber auf der Stelle. Die werden uns genügen. Wenn Sie sich weigern, werden wir zu Fuß entfliehen, zuvor aber bemächtigen wir uns aller Sachen, die wir hier sehen. Und hiermit werden wir Sie überreden.«

Mit diesen Worten zogen sie alle beide ein Pistol aus der Tasche und schlugen auf mich an.

»Gewalt ist unnötig,« sagte ich zu ihnen; »diese könnte Ihnen nur verderblich werden. Hier haben Sie hundert Dukaten – mehr als sie verlangen. Gehen Sie! Gute Reise! Aber ich rate Ihnen, mein Zimmer zu verlassen, bevor mein Bedienter zurückkommt.«

Wiedau nahm die Rolle mit zitternder Hand und steckte sie in die Tasche, ohne sie zu prüfen; aber la Perine, der freche Gauner, trat auf mich zu, lobte den Edelmut meines Benehmens und fiel mir um den Hals, um mich zu umarmen. Ich stieß ihn zurück, jedoch ohne Schroffheit, und sie entfernten sich. Ich war sehr zufrieden, so billig davongekommen zu sein.

Aus diesem Hinterhalt errettet, klingelte ich, nicht um die Räuber zu verfolgen, sondern um mich in aller Eile anzukleiden. Ich sagte zu Leduc von dem Vorgefallenen kein Wort, ebensowenig zu meinem Wirt. Nachdem ich meinen Spanier zu Herrn d’O. geschickt hatte, um mich zu entschuldigen, daß ich an diesem Tage nicht die Ehre haben könnte, bei ihm zu speisen, ging ich zum Polizeipräsidenten. Ich mußte bis zwei Uhr warten, bis ich ihn zu sprechen bekam. Der wackere alte Herr sagte mir, nachdem er die ausführliche Schilderung meines Mißgeschicks gehört hatte, er werde sein Möglichstes tun, um die Räuber verhaften zu lassen; doch verhehlte er mir seine Befürchtung nicht, daß es schon zu spät sein möchte.

Ich benutzte die Gelegenheit, um ihm zu sagen, daß Piccolomini bei mir gewesen sei, und teilte ihm mit, welches Ansinnen er unter Drohungen an mich gestellt hätte. Er dankte mir und versprach mir für Ordnung der Angelegenheit zu sorgen, aber er riet mir, auf alle Fälle vorsichtig auf meiner Hut zu sein und mich zu verteidigen, falls ich angegriffen werden sollte, bevor er sich hätte vergewissern können, daß meine Feinde nicht imstande wären, etwas gegen mich zu unternehmen.

Ich ging schnell nach Hause, denn ich fühlte mich krank. Ein sehr bitterer Geschmack im Munde war für mich ein Zeichen von der Umwälzung, die alle diese Erschütterungen in meinem Leibe hervorgebracht hatten; aber ich kannte das Heilmittel dagegen. Ich trank eine starke bittere Limonade und gab infolgedessen eine Menge Galle auf; dadurch wurde ich völlig gesund.

Gegen Abend ging ich zu Esther. Sie war ernst und schien sich gekränkt zu fühlen. Als sie aber meine Blässe sah, belebte sich ihr Auge und sie fragte mich im Tone zärtlichster Teilnahme, ob ich krank sei. Ich antwortete ihr, ich hätte mich sehr unwohl gefühlt und Medizin eingenommen; jetzt aber sei ich wieder ganz gesund. Um ihre Besorgnisse zu zerstreuen, setzte ich hinzu: »Sie werden das beim Abendessen sehen, reizende Esther; denn ich bin seit dem gestrigen Mittagessen nüchtern.«

Im Grunde log ich nicht, indem ich dies sagte; denn ich hatte bei den Paduanerinnen nur ein paar Austern gegessen.

In ihrer Freude, die sie kaum in Schranken halten konnte, forderte das reizende Mädchen mich auf, sie zu umarmen. Ich tat dies mit Freuden, obwohl ich mich einer solchen Huld unwürdig fand.

»Ich will Ihnen eine große Neuigkeit mitteilen,« lief sie. »Ich bin sicher, daß Sie nicht der Urheber Ihres Orakels sind oder daß Sie wenigstens, wie ich, es nur dann sind, wenn Sie es sein wollen. Die Antwort, die das Orakel mir gab, ist richtig; sie ist so richtig, daß sie geradezu göttlich ist, denn sie hat mir ein Geheimnis enthüllt, das keinem Menschen bekannt sein konnte, da es mir selber unbekannt war. Sie können sich nicht vorstellen, wie überrascht ich war, als ich mich unter ziemlichen Schwierigkeiten von der Wahrheit überzeugte! – Sie besitzen einen Schatz! Ihr Orakel ist unfehlbar; aber da es dies ist, so kann es auch niemals lügen, und das meinige sagt mir, daß Sie mich lieben. Ich bin ganz froh darüber, lieber Freund, denn Sie sind der Mann meines Herzens. Aber Sie müssen mir einen noch viel stärkeren Beweis Ihrer Liebe ablegen, und wenn Sie mich wirklich lieben, so können Sie mir meine Bitte nicht abschlagen. Da! Lesen Sie Ihre Antwort! Ich bin überzeugt. Sie kennen sie nicht. Hierauf werde ich Ihnen sagen, was Sie tun müssen, um mich vollkommen glücklich zu machen.«

Ich tat, als ob ich das Orakel läse und küßte die Worte, worin es hieß, daß ich sie liebte. Hierauf sagte ich: »Es freut mich sehr, daß das Orakel Sie so leicht überzeugt hat, aber – ich bitte Sie um Verzeihung – ich muß Ihnen sagen, es scheint mir unglaublich, daß Sie es bis auf den heutigen Tag nicht gewußt haben!«

Sie antwortete mir errötend, es würde mir nicht unmöglich erscheinen, wenn es mir gestattet wäre, mich durch den Augenschein zu überzeugen. Hierauf kam sie auf den Beweis meiner Liebe zu sprechen, den sie von mir verlangte, und sagte mir, ich müßte ihr mein Geheimnis mitteilen. »Sie lieben mich,« rief sie, »darum kann es Ihnen nicht schwer fallen, ein junges Mädchen glücklich zu machen, das einmal Ihre Frau sein wird und deren Gebieter sie sein werden. Mein Vater wird unserer Verbindung zustimmen, und wenn ich Ihre Frau bin, werde ich von Herzen gern alles tun, was sie wollen. Wir werden uns sogar an einem anderen Ort niederlassen, wenn Sie darauf Wert legen. Aber zu diesem Zweck müssen Sie mich lehren, wie ich auf jede beliebige Frage eine Antwort finden kann, ohne sie zuvor in meinem Gehirn schmieden zu müssen.«

Esther flößte mir mit jedem Augenblick zärtlichere Gefühle ein; ich ergriff ihre Hände und küßte sie feurig, aber ehrfurchtsvoll, indem ich zu ihr sagte: »Sie wissen, göttliche Esther, ich bin in Paris durch mein Wort gebunden. Manon steht Ihnen sicherlich nach; trotzdem aber bin ich gezwungen, ihr gegenüber zu halten, was ich ihrer Mutter versprochen habe.«

Esther seufzte und senkte das Haupt auf die Brust. Ihr Kummer tat mir leid; aber welche Entschuldigung hätte ich angeben können? Ich konnte sie doch unmöglich lehren, das Orakel auf eine andere Art anzuwenden als auf die ihr ebensogut wie mir bekannte. Denn überlegen war ich ihr nur an Schlauheit und an Welterfahrung.

Einige Tage darauf meldete man mir am Morgen ziemlich früh, als ich noch nicht angezogen war, einen Mann, der sich für einen Offizier ausgab, dessen Name mir aber völlig unbekannt war. Ich ließ ihm sagen, ich sei nicht zu sprechen, und da mein Spanier fortgegangen war, so drehte ich den Schlüssel in meiner Tür um. Die letzten Vorgänge hatten mich mißtrauisch gemacht, und ich wollte keine Besuche mehr annehmen, wenn ich allein war. Meine beiden Räuber hatten alle Bemühungen der Polizei zu vereiteln gewußt, und Piccolomini war verschwunden; aber ich wußte, daß in Amsterdam noch eine Menge Leute von demselben Gelichter waren, und hielt darum Vorsicht für geboten.

Kurze Zeit darauf kam Leduc zurück und brachte mir einen in schlechtem Italienisch geschriebenen Brief. Er sagte mir, dieser sei ihm von einem Offizier gegeben worden, der auf Antwort warte. Ich öffnete ihn und las den Namen des Offiziers, den man mir kurz vorher angemeldet hatte. Er schrieb, wir seien Bekannte, aber er könne mir seinen Namen nur mündlich sagen und sei nur gekommen, um mir eine wichtige Mitteilung zu machen.

Ich befahl Leduc, ihn eintreten zu lassen, selber aber bei der Türe stehen zu bleiben. Ich sah einen recht schön gewachsenen Mann von etwa vierzig Jahren, in der Uniform eines Offiziers von ich weiß nicht welcher Armee, der eine richtige Galgenphysiognomie hatte.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte ich ihn sofort nach seinem Eintreten.

»Mein Herr, wir haben uns vor etwa sechzehn Jahren in Cerigo gekannt, und ich bin hocherfreut über die Gelegenheit, unsere Bekanntschaft zu erneuern.«

Ich erinnerte mich nun, daß ich auf Cerigo mich nur wenige Augenblicke aufgehalten hatte, als ich den Bailo nach Konstantinopel begleitete, und nahm an, daß er einer von den beiden Unglücklichen sein mußte, denen ich ein Almosen gegeben hatte. Ich fragte ihn: »Sind Sie jener, der sich mir gegenüber für den Sohn eines Grafen Poccini in Padua ausgab, obwohl es im Paduanischen überhaupt einen Grafen dieses Namens nicht gibt?«

»Ich bewundere Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis,« sagte er zuversichtlichen Tones; »jawohl, der bin ich.«

»Und was können Sie wohl von mir zu wünschen haben?«

»Das kann ich Ihnen in Gegenwart Ihres Bedienten nicht sagen.«

»Mein Bedienter versteht nicht italienisch; Sie können ruhig sprechen. Übrigens werde ich ihn hinausgehen lassen.«

Ich sagte Leduc, er sollte sich im Vorzimmer aufhalten. Als er hinausgegangen war, sagte der angebliche Paduanische Graf zu mir, ich sei bei seinen Nichten gewesen und habe sie als Kurtisanen behandelt; hierfür verlange er Genugtuung von mir.

Aller dieser Belästigungen satt, ergriff ich schnell meine Pistolen, schlug auf ihn an und befahl ihm, sich augenblicklich zu entfernen. Leduc trat ein, und der dritte Räuber verschwand mit den Worten: er werde mich schon zu finden wissen.

Es war eine schmähliche Sache; um Gerechtigkeit zu erlangen, hätte ich dem Polizeipräsidenten alles erzählen müssen. Ich glaubte um meiner Ehre willen schweigen zu müssen und sprach über den Vorfall nur mit Rigerboos, dem ich alles anheimstellte. Dieser hatte nicht wie ich Rücksichten zu nehmen; er tat die notwendigen Schritte, und Lucia erhielt den Befehl, die angeblichen adeligen Nichten fortzuschicken. Aber nun kam das arme Frauenzimmer zu mir und jammerte unter strömenden Tränen, sie geriete durch dieses Unglück in das scheußlichste Elend; ich schenkte ihr einige Dukaten, und sie ging getröstet von dannen. Ich bat sie, sich nicht wieder bei mir sehen zu lassen.

Alles was ich fern von Esther tat, schlug mir zum Unheil aus, und ich fühlte, daß ich, um glücklich zu sein, mich nicht von ihr hätte entfernen dürfen; aber ich wurde von meinem Stern oder vielmehr von meiner Unbeständigkeit fortgerissen.

Drei Tage darauf kam der hinterlistige Major Sabi zu mir und sagte mir, ich möchte auf meiner Hut sein, denn ein venetianischer Offizier, der von mir beschimpft zu sein behaupte, sage zu jedem, der es hören wolle, ich hätte ihm Genugtuung verweigert und er hätte daher das Recht, mich zu ermorden.

»Und ich,« antwortete ich, »ich hätte das Recht, ihn als einen entsprungenen Galerensträfling, dem ich als solchen ein Almosen gegeben habe, und als einen Menschen verhaften zu lassen, der unberechtigterweise die Uniform eines Offiziers trägt und dadurch den ganzen Stand entehrt. Wie kann ich übrigens Mädchen beschimpft haben, die in einem Bordell leben, und die ich weit über ihr Verdienst bezahlt habe?«

»Wenn es so ist, haben Sie ja vollkommen recht, aber der arme Teufel ist in Verzweiflung; er möchte abreisen und besitzt keinen Gulden. Ich rate Ihnen, ihm noch einmal ein Almosen zu geben; damit wird alles in Ordnung sein. Vierzig Gulden werden Sie nicht ärmer machen, und Sie werden dadurch von einem unangenehmen Feinde befreit.«

»Von einem sehr unangenehmen – das gebe ich zu.«

Ich erklärte mich endlich bereit, ihm die vierzig Gulden zu schenken, und gab sie ihm in einem Kaffeehause, wo ich nach Verabredung mit dem Major ihn antraf. Der Leser wird sehen, wo ich vier Monate später diesen üblen Burschen wiederfand.

Wenn ich heute, bei kaltem Mute und nach so langer Zeit, an alle die Unannehmlichkeiten zurückdenke, die mir während meines kurzen damaligen Aufenthaltes in Amsterdam zustießen, während ich doch dort so glücklich hätte sein können, dann muß ich anerkennen, daß wir fast immer selber die Ursache alles Unglückes sind, das uns trifft, und aller Leiden, über die wir so ungerechterweise uns beklagen. Wenn ich diese Zeit noch einmal durchleben könnte, würde ich dann weise sein? Ja, wenn ich nicht Ich wäre!

Herr d’O. lud mich ein, mit ihm in der Bürgermeisterloge zu speisen; eine außerodentliche Gunst, denn gegen alle Regeln der Freimaurerei wurden stets nur die vierundzwanzig Mitglieder zugelassen, aus denen die Loge bestand, und diese vierundzwanzig Maurer waren die reichsten Millionäre der Börse. »Ich habe Sie angemeldet,« sagte Herr d’O. zu mir, »und um Sie würdig zu empfangen, wird die Loge in französischer Sprache eröffnet werden.« Die Herren nahmen mich in der Tat ganz ausgezeichnet auf, und ich hatte das Glück, ihnen so sehr zu gefallen, daß ich einstimmig zum überzähligen Mitgliede für die ganze Zeit meines Amsterdamer Aufenthaltes erklärt wurde. Als wir uns entfernt, sagte Herr d’O. mir, ich hätte mit einer Gesellschaft soupiert, die über ein bares Kapital von dreihundert Millionen verfügen könnte.

Am nächsten Tage bat der wackere Holländer mich um die Gefälligkeit, eine Frage zu beantworten, auf die das Orakel seiner Tochter eine zu dunkle Antwort gegeben hätte. Esther forderte mich ebenfalls dazu auf, und ich bat ihn, mir die Frage zu nennen. Sie lautete:

»Ich wünsche zu wissen, ob das Individuum, das mir und meinen Teilhabern ein Geschäft von großer Tragweite vorschlägt, wirklich der Freund des Königs von Frankreich ist.«

Es war für mich nicht schwer zu erraten, daß es sich um den Grafen von St.-Germain handelte. Herr d’O. wußte nicht, daß ich ihn kannte, und ich hatte nicht vergessen, was Graf Affry mir gesagt hatte. Ich dachte bei mir selber: das ist eine schöne Gelegenheit, mein Orakel glänzen zu lassen und meiner schönen Esther etwas zu denken zu geben. Ich ging sofort an die Arbeit, baute meine Pyramiden und schrieb über die vier Schlüssel die Buchstaben O.S.A.D., um einen besonders tiefen Eindruck zu machen. Hierauf zog ich die Antwort aus, indem ich mit dem vierten Schlüssel D. begann. Sie lautete:

»Der Freund verleugnet. Der Befehl wird unterzeichnet. Man bewilligt. Man lehnt ab. Alles verschwindet. Verschiebe.«

Ich tat, wie wenn ich meine Antwort sehr dunkel fände; Esther aber stieß einen Ruf der Überraschung aus und fand, die Antwort sei in einem außerordentlichen Stil gehalten, aber sehr vielsagend. Herr d’O. rief freudetrunken: »Kinder, die Antwort ist für mich vollkommen klar, das Orakel ist göttlich! Das Wort Verschiebe betrifft mich; dies verstehe ich wohl, lieber Freund. Sie und meine Tochter sind sehr geschickt, das Orakel sprechen zu lassen; ich aber verstehe besser als Sie beide, es zu deuten. Ich werde mich allem widersetzen. Es handelt sich um nichts Geringeres, als um die Hergabe von hundert Millionen gegen die Verpfändung der französischen Krondiamanten. Der König möchte dieses Geschäft abschließen, ohne daß seine Minister sich hineinmischen, ja, ohne daß sie überhaupt etwas davon erfahren. Ich bitte Sie, mit keinem Menschen darüber zu sprechen.«

Er ging hinaus.

»O!« rief Esther, sobald wir allein waren; »diesmal bin ich aber sicher, daß die Antwort unabhängig von Ihrem Willen ist! Bei allem, was Ihnen heilig ist – sagen Sie mir, was bedeuten diese vier Buchstaben, und warum wenden Sie sie für gewöhnlich nicht an?«

»Ich wende sie nicht an, reizende Esther, weil die Erfahrung mich gelehrt hat, daß sie für gewöhnlich nicht notwendig sind; da aber diese Überschriften beim Aufbau der Pyramiden eigentlich vorgeschrieben sind, so glaubte ich, bei diesem mir wichtig erscheinenden Anlaß sie nicht fortlassen zu dürfen.«

»Was bedeuten sie?«

»Es sind die Anfangsbuchstaben der geheiligten Namen der vier Hauptintelligenzen der Erde.«

»Was sind dies für Namen?«

»Es ist nicht erlaubt, sie auszusprechen, aber wer die Wissenschaft des Orakels empfangen will, muß sie wissen.«

»Ach, lieber Freund, betrüge mich nicht! Ich glaube dir alles, und du würdest einen Mord begehen, wenn du ein so reines Vertrauen wie das meinige mißbrauchtest!«

»Ich betrüge dich nicht, teure Esther.«

»Du müßtest mir also diese heiligen Namen sagen, wenn du mich die Kabbala lehren wolltest?«

»Gewiß, und ich kann sie nur dem enthüllen, den ich zu meinem Erben machen werde. Die Verletzung dieser Vorschrift ist mit der Strafe völligen Vergessens bedroht, und diese Drohung, das wirst du zugeben, liebe Esther, ist wohl danach angetan, mich von solcher Verletzung abzuhalten.«

»Ich gebe es zu. Ich Unglückliche! Und Ihre Erbin wird ohne Zweifel Ihre Manon sein.«

»Nein; Manons Geist ist nicht für diese Art von Wissen geschaffen.«

»Sie müssen sich aber doch zugunsten irgendeines Menschen entscheiden, denn Sie sind sterblich. Wenn Sie wollen, wird mein Vater sein Riesenvermögen mit Ihnen teilen, ohne Sie zur Heirat mit mir zu verpflichten.«

»Was haben Sie da gesagt, Esther! Glauben Sie denn, die Bedingung, Sie besitzen zu müssen, könnte mir jemals mißfallen?«

Nach einem köstlichen Tage, den ich beinahe den glücklichsten meines ganzen Lebens nennen könnte, verließ ich abends die allzu reizende Esther und ging nach Hause.

Drei oder vier Tage später trat Herr d’O. in Esthers Zimmer ein, wo er uns beide mit der Berechnung von Pyramiden beschäftigt fand. Ich lehrte sie, die kabbalistischen Kombinationen zu allen Schlüsseln zu verdoppeln, zu verdreifachen und zu vervierfachen. Herr d’O. lief mit großen Schritten im Zimmer hin und her und schlug sich vor die Stirn, wie wenn er außer sich wäre. Überrascht und beinahe erschrocken, ihn in einem solchen für ihn so ungewöhnlichen Zustand zu sehen, sprangen wir auf. Er umarmte uns leidenschaftlich und zwang uns beinahe auch uns zu umarmen, was wir sehr gerne taten.

»Aber was bedeutet denn dies alles, mein lieber Papa? Sie überraschen uns über alle Maßen.«

»Setzt euch neben mich, meine lieben Kinder, und hört auf euren Vater und besten Freund. Ich erhalte soeben einen Brief von einem der Sekretäre Ihrer Hochmögenden; er schreibt mir, der französische Gesandte habe im Namen meines königlichen Herrn bei den Generalstaaten die Auslieferung des Herrn Grafen von St.-Germain beantragt, und man habe ihm geantwortet, die Auslieferung werde gemäß dem Wunsche Seiner Allerchristlichsten Majestät stattfinden, sobald es gelungen sei, sich der Person des angeblichen Grafen zu bemächtigen. Man habe erfahren, daß der Herr von St.-Germain im »Morgenstern« wohne, und habe, dem Versprechen gemäß, um Mitternacht Polizeibeamte hingeschickt. Man habe jedoch den Vogel ausgeflogen gefunden. Der Wirt habe erklärt, der Graf sei bei Einbruch der Nacht mit der Post in der Richtung nach Nymwegen abgereist. Man habe ihn verfolgen lassen, hege jedoch nur geringe Hoffnung, ihn einzuholen. Man wisse nicht, wie er von dem gegen ihn erlassenen Haftbefehl habe Wind bekommen können.«

»Man weiß nicht,« fuhr Herr d’O. lachend fort, »aber jeder errät, daß ohne Zweifel Herr Calcoen, eben jener, der an mich geschrieben hat, dem Freunde des Königs von Frankreich einen Wink gegeben hat, man werde ihn um Mitternacht in Haft nehmen, wenn er sich nicht vorher aus dem Staube mache. Er war natürlich nicht so dumm, einen so nützlichen Rat nicht zu befolgen. Die Regierung hat dem Herrn Grafen d’Affry geantwortet: man bedauere recht sehr, daß Seine Exzellenz so lange gezögert habe, die Verhaftung und Auslieferung des Herrn von St.-Germain zu verlangen, und der Herr Botschafter wird von dieser Antwort nicht überrascht sein, denn sie lautet genau so wie die Antworten, die man stets in solchen Fällen gibt. Die Weisheit des Orakels ist bestätigt worden, und ich wünsche mir Glück, eine richtige Ahnung gehabt zu haben, denn wir waren im Begriff, ihm eine Abschlagszahlung von hunderttausend Gulden zu machen, die er nach seiner Behauptung sofort nötig hatte. Er hatte uns als Pfand den schönsten Diamant der Krone gegeben, und dieses Pfand ist uns verblieben. Aber wir werden ihm den Diamanten wiedergeben, sobald er ihn von uns wieder zurückverlangt, es sei denn, daß der Gesandte Anspruch darauf erheben läßt. Ich habe niemals einen so schönen Stein gesehen. – Jetzt, Kinder, begreift ihr, welchen unermeßlichen Dank ich eurem Orakel schulde. Ich werde auf die Börse gehen und mich der Dankbarkeit erfreuen, welche Mitbeteiligte mir aussprechen werden. Ich werde für den klügsten, scharfsinnigsten und bestunterrichteten Mann in ganz Holland gelten.

Euch verdanke ich diese Ehre, meine lieben Freunde, aber ich mache mir gar kein Gewissen daraus, mich mit diesen Pfauenfedern zu schmücken. – Mein lieber Casanova, ich hoffe, Sie speisen bei uns. Nach Tisch werde ich Sie bitten, Ihr unbegreifliches Wesen zu befragen: ob wir gut tun, zu erklären, daß wir den prachtvollen Solitär besitzen, oder ob wir besser schweigen, bis er uns abverlangt wird.«

Nach dieser schönen Rede umarmte der Papa uns abermals und ging.

»Lieber Freund,« sagte Esther, indem sie mir um den Hals fiel, »hier bietet sich dir schönste Gelegenheit, mir einen großen Beweis deiner Freundschaft zu liefern. Er wird dir nichts kosten, mir aber wird er eine unendliche Ehre und Freude sein.«

»Befiehl, meine Esther, befiehl! Du kannst unmöglich glauben, daß ich dir etwas verweigern soll, was mir nichts kosten wird, während ich im Gegenteil mich glücklich schätzen würde, dir mein Leben opfern zu dürfen.«

»Mein Vater wünscht, daß du ihm nach Tisch sagst, ob man den Besitz des Diamanten bekannt geben oder ob man lieber schweigen soll, bis er zurückgefordert wird. Wenn er diese Bitte wiederholt, so sage ihm, er möge sich an mich wenden, und erbiete dich, das Orakel ebenfalls zu befragen, falls meine Antwort dunkel sein sollte. Mache jetzt gleich auf der Stelle die Berechnung; ich werde dann aus meiner Pyramide dieselbe Antwort hervorgehen lassen. Mein Vater wird mich um so mehr lieben, wenn er sieht, daß mein Wissen mit dem deinigen übereinstimmt.«

»Teure Esther! Warum kann ich nicht tausendmal mehr tun, um dir deine Liebe und meine Ergebenheit zu erweisen. Ans Werk! – Du sollst, liebe Freundin, selber die Frage stellen, die Pyramide bilden und mit eigener Hand die machtvollen vier Buchstaben darüber schreiben. Gut! Beginne das Ausziehen der Antwort mit dem göttlichen Schlüssel!«

Niemals war ein Schüler gelehriger. Als alles vorbereitet war, ließ ich sie nach meinem Belieben Additionen und Subtraktionen vornehmen, und sie fand zu ihrem höchsten Erstaunen folgende Antwort: »Schweigen notwendig; ohne Schweigen allgemeine Verspottung. Diamant wertlos; einfacher Glasfluß.«

Ich glaubte, sie werde vor Freude toll werden. Sie lachte sich halb tot. »Was für eine Antwort! Wie wundervoll! Wie? Der Diamant ist falsch, und ich werde sie belehren, welche Dummheit sie begangen haben, sich so etwas vormachen zu lassen? Durch mich wird mein Vater dieses wichtige Geheimnis erfahren! Dies übertrifft alle meine Erwartungen; kaum kann ich meine Freude beherrschen. Wieviel verdanke ich dir doch, du reizender, du wundervoller Mann! Natürlich wird man sich beeilen, die Tatsache feststellen zu lassen, und wenn man findet, daß der berühmte Diamant nur eine glänzend gelungene Nachbildung ist, dann wird das Konsortium meinen Vater anbeten, denn es wird begreifen, wie lächerlich es sich gemacht haben würde, wenn es hätte eingestehen müssen, daß ein listiger Gauner es betrogen hat. Kannst du, lieber Freund, mir diese Pyramide überlassen?«

»Ich überlasse sie dir sehr gerne; aber, liebe Esther, sie wird dich nicht klüger machen.«

Der Vater kam nach Hause; wir speisten, und nach dem Essen gab es eine wirklich komische Szene, als der wackere Herr d’O. durch das Orakel seiner Tochter erfuhr, daß der Stein falsch wäre. Er schrie laut auf, erklärte die Sache für unmöglich und bat mich schließlich, dieselbe Frage zu beantworten, denn er sei fest überzeugt, daß seine Tochter sich geirrt, oder vielmehr, daß das Orakel sich über sie lustig gemacht hätte.

Ich machte mich ans Werk, und meine Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Als er sah, daß sie mit der Antwort seiner Tochter übereinstimmte, obgleich sie anders ausgedrückt war, hegte er keinen Zweifel mehr an Esthers Wissenschaft. Er gab sofort den angeblichen Diamanten zur Prüfung und empfahl den Mitbeteiligten zu schweigen, bis sie Gewißheit hätten. Dieser Rat war übrigens zwecklos; denn obwohl die Beteiligten nicht darüber sprachen, war die Geschichte doch allgemein bekannt; man sagte sogar, was man in solchen Fällen gewöhnlich sagt, die Geprellten seien nicht nur halb geprellt worden, und Graf St.-Germain hätte die hunderttausend Gulden eingesackt. Das war aber falsch.

Meine Esther war ganz stolz; aber sie war nicht zufrieden, denn durch diesen Erfolg wuchs nur ihr Wunsch, die Wissenschaft ebenso vollkommen zu beherrschen, wie nach ihrer Meinung ich sie beherrschte.

Bald darauf erfuhr man, St.-Germain habe sich in Emden nach England eingeschifft und sei dort eingetroffen. Ich werde auf den berühmten Betrüger noch zurückkommen.

In diesen Tagen trat eine Wendung anderer Art ein, durch die ich beinahe auf die allerdümmste Art und Weise gestorben wäre.

Es war am Weihnachtstag, und ich war ziemlich früh aufgestanden und befand mich in froherer Stimmung als für gewöhnlich. Nach dem Glauben der alten Weiber bedeutet dies stets, daß etwas Trauriges sich ereignen wird; ich war aber solchen Vorurteilen nicht sehr zugänglich und dachte damals so wenig wie heute daran, in meiner fröhlichen Stimmung eine üble Vorbedeutung zu erblicken. Dieses Mal bestätigte jedoch der Zufall den Aberglauben. Ich empfing aus Paris einen Brief und ein dickes Paket; beide waren von Manon. Ich öffnete den Brief und glaubte vor Schmerz zu sterben, als ich folgende Worte las:

»Seien Sie vernünftig und empfangen Sie mit kaltem Blute die Nachricht, die ich Ihnen zu geben habe. Das Paket enthält alle Ihre Briefe und Ihr Bildnis. Schicken Sie mir das meinige zurück, und wenn Sie meine Briefe aufbewahrt haben, so erweisen Sie mir die Liebe und verbrennen Sie sie. Ich rechne auf Ihre Ehrenhaftigkeit. Denken Sie nicht mehr an mich. Mir wird die Pflicht die Verbindlichkeit auferlegen, mein Möglichstes zu tun, um Sie zu vergessen, denn morgen um diese Stunde werde ich die Gattin des königlichen Hofarchitekten und Akademiemitgliedes Blondel sein. Sie werden mich sehr verbinden, wenn Sie nach Ihrer Rückkehr nach Paris die Güte haben, so zu tun, als ob Sie mich nicht kennen, falls der Zufall eine Begegnung herbeiführen sollte.«

Als ich diesen Brief gelesen hatte, war ich wie betäubt; länger als zwei Stunden war es mir unmöglich, einen Gedanken zu fassen. Ich ließ Herrn d’O. sagen, ich fühlte mich unwohl und würde den ganzen Tag das Zimmer hüten. Als ich mich ein bißchen ruhiger fühlte, öffnete ich das Paket. Mein Bild war das erste, was mir in die Hände fiel. Ich sah es an, und ich war in einer so fürchterlichen Stimmung, daß ich in diesem Augenblick eine wütende und drohende Miene zu sehen glaubte, obgleich mein Gesicht lachend und fröhlich dargestellt war. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb zwanzig Briefe, in denen ich die Ungetreue mit Vorwürfen und Drohungen aller Art überhäufte; aber sowie sie halb oder ganz fertig waren, zerriß ich diese Briefe.

Gänzlich niedergeschmettert und kraftlos, bemühte ich mich, eine Tasse Fleischbrühe zu trinken, und legte mich dann mit einem Fieberanfall zu Bett, mich nach einem Schlaf sehnend, der aber nicht kam. Tausend Pläne kreuzten sich in meiner kranken Phantasie; einen nach dem anderen verwarf ich, um immer wieder neue auszudenken. Diesen Blondel, den ich nicht kannte, wollte ich meiner Wut opfern, um ihn dafür zu strafen, daß er mir ein Weib geraubt hatte, auf dessen Besitz ich allein ein Recht zu haben glaubte und das man als meine Gattin ansah. Ich wollte die Ungetreue bestrafen, indem ich ihr den Mann raubte, den sie mir vorgezogen hatte. Ich klagte ihren Vater an, fluchte ihrem Bruder, da sie den Schimpf, der mir in so heimtückischer Weise angetan wurde, vor mir geheim gehalten hatten.

Den ganzen Tag und die ganze Nacht verbrachte ich in dieser Art von Fieberwahn; am nächsten Morgen war ich noch schwächer als am Tage vorher und ließ daher Herrn d’O. sagen, es wäre mir nicht möglich, an diesem Tage auszugehen. Hierauf begann ich Manons Briefe wiederzulesen; ich gab ihr die tollsten Beinamen und versuchte, wie am Tage vorher, ihr zu schreiben; aber es gelang mir nicht, einen Brief zustande zu bringen, wie ich ihn wünschte. Der leere Magen und die Erregung meiner Sinne, welche betäubende Dünste in mein Gehirn aufsteigen ließen, machten mich einige Augenblicke meine Schmerzen vergessen, die sich aber bald um so heftiger wieder einstellten.

Gegen drei Uhr besuchte der gute Herr d’O. mich und lud mich ein, mit ihm nach dem Haag zu reisen, wo am Tage darauf, zum St. Johanneswinterfest, alle angesehenen Freimaurer von ganz Holland sich versammeln sollten, um das Ordensfest zu feiern. Als er aber den Zustand sah, worin ich mich befand, drang er nicht weiter in mich.

»Was ist denn das für eine Krankheit, mein lieber Casanova?« fragte er mich.

»Ein großer Kummer, aber bitte sprechen Sie nicht davon.«

Er verließ mich beinahe ebenso betrübt, wie ich selber war, und bat mich, Esther zu besuchen. Aber sie kam mir am nächsten Morgen zuvor, denn gegen neun Uhr sah ich sie mit ihrer Gouvernante eintreten. Ihr Anblick tat mir wohl. Erstaunt über mein verstörtes Aussehen fragte sie mich, was denn das für ein Kummer sei, dessen meine Philosophie nicht Herrin werden könne; ihr Vater habe ihr davon erzählt.

»Setzen Sie sich neben mich, teure Esther, und gestatten Sie mir aus dieser Sache, die mir so tief zum Herzen geht, ein Geheimnis zu machen. Der große Arzt, die Zeit, und mehr noch Ihre Unterhaltung werden eine Heilung bewirken, die ich von meiner Vernunft nicht erwarten darf. Solange wir von anderen Dingen sprechen, liebe Freundin, werde ich nicht an das Unglück denken, das mir das Herz zerreißt.«

»Wohlan, mein Freund, kleiden Sie sich an und verbringen Sie den Tag bei mir; ich werde alles aufbieten, um Sie zu zerstreuen.«

»Ich bin sehr schwach, liebe Esther, denn seit drei Tagen genieße ich nur ein wenig Fleischbrühe oder Schokolade.«

Bei diesen Worten sah ich ihr schönes Antlitz sich entfärben und einige Tränen ihren Augen entrollen.

Nach einem kurzen Schweigen setzte sie sich an meinen Schreibtisch, nahm eine Feder und schrieb einige Zeilen, die sie mir brachte. Sie lauteten:

»Lieber Freund, wenn eine große Summe Geldes, außer derjenigen, die mein Vater Ihnen schuldig ist, Ihren Kummer zu verscheuchen oder nur zu lindern imstande ist, so kann ich Ihr Arzt sein, und Sie werden mich wirklich glücklich machen, wenn Sie mein Anerbieten annehmen.«

Ich ergriff ihre Hände, die ich zärtlich küßte, und sagte: »Nein, meine teure, großmütige Esther, nicht Gold ist es, was mir fehlt; dessen habe ich genug, und sollte es mir daran fehlen, so würde ich vertrauensvoll und freundschaftlich Sie darum bitten. Was ich brauche und was niemand mir geben kann, das ist die Geistesstärke, um einen Entschluß zu fassen.«

»Aber dies wäre ja gerade der Fall, sich an Ihr Orakel zu wenden.«

Ich konnte mich des Lachens nicht enthalten.

»Wie können Sie lachen?« rief sie. »Nach den Regeln der gesunden Vernunft zu urteilen, kann dem Orakel, wie mich dünkt, ein Heilmittel für Ihr Leiden nicht unbekannt sein.«

»Ich lachte, mein Engel, weil mir der komische Einfall kam, das Orakel durch Sie befragen zu lassen. Ich werde es nicht um Rat fragen, denn ich fürchte, es könnte nur ein Heilmittel anraten, das schlimmer wäre, als das Leiden, das mich quält.«

»Aber, lieber Freund, es stände doch stets in Ihrer Macht, keinen Gebrauch davon zu machen.«

»Ja, gewiß, es steht uns frei zu handeln oder nicht; aber eine Unterlassung wäre ein Verstoß gegen die Ehrfurcht, die ich dem Orakel schulde.«

Esther wußte nicht, was sie sagen sollte, und schwieg einige Augenblicke; endlich fragte sie mich, ob es mir Freude machen würde, wenn sie den ganzen Tag bei mir bliebe. Die Freude, die dieser Vorschlag mir verursachte, war zu sichtbar, als daß sie sie nicht hätte bemerken sollen. Ich antwortete ihr, wenn sie zum Essen bleiben wollte, würde ich aufstehen und drei Gedecke auflegen lassen; ohne Zweifel würde sie mir Mut machen, etwas zu essen.

»Nun, so werde ich denn Kabeljau machen, den Sie so sehr lieben,« rief sie fröhlich. Sie befahl die Tragstühle wegzuschicken und ging zur Wirtin, um eine leckere Mahlzeit und einen Weingeistkochapparat zu bestellen, den sie nötig hatte, um ihre kleinen Gerichte am Tische selbst zubereiten zu können.

Esther war ein Schatz, von einer Vollkommenheit wie ein Engel. Und sie war bereit, mir anzugehören, unter der Bedingung, daß ich ihr meine Wissenschaft mitteilte, die sich doch nicht mitteilen ließ. Da ich durch den Gedanken, daß ein köstlicher Tag mir bevorstehe, mich erleichtert fühlte, so sah ich, daß ich Manon würde vergessen können, und ich war darüber hocherfreut. Ich stand auf, und Esther war überglücklich, als sie bei ihrem Wiedereintreten mich angezogen fand. »Lieber Freund,« sagte sie zu mir, »setzen Sie Ihrer Güte die Krone auf und lassen Sie sich frisieren und ankleiden, wie wenn Sie auf einen Ball gehen wollten.«

»Dies ist eine lächerliche Laune, aber sie gefällt mir, weil sie dir Vergnügen machen wird.«

»Sie wird auch dir Vergnügen machen,« sagte sie mit bezaubernder Anmut.

Ich klingelte Leduc und sagte ihm, ich wolle frisiert und angekleidet werden, wie wenn ich zum Ball ginge. »Wähle mir den Anzug, der mir am besten steht.«

»Nein,« rief Esther, »ich selber werde ihn aussuchen.«

Leduc öffnete den Koffer, und während sie nach ihrem Belieben darin herumwühlte, rasierte und frisierte er mich. Esther war in fröhlichster Laune über ihre Beschäftigung, bei der sie sich von ihrer Gouvernante helfen ließ. Sie legte auf mein Bett ein Spitzenhemd und von meinen Röcken denjenigen, der ihrem Geschmack am meisten zusagte. Dann trat sie nahe an mich heran, wie wenn sie sehen wollte, ob Leduc mich auch ordentlich frisierte, und sagte: »Ein Täßchen Fleischbrühe wird Ihnen gut tun, lieber Freund; lassen Sie sich welche kommen; das Mittagessen wird Ihnen um so besser schmecken.« Ich befolgte ihren von der zärtlichsten Teilnahme eingegebenen Rat und befand mich wohl dabei. Das reizende Wesen übte einen so wohltuenden Einfluß auf mich aus, daß ich allmählich zu fühlen glaubte, als ob ich Manon nicht liebe, sondern im Gegenteil sie hasse. Dies machte mir Mut und vollendete meine Heilung; wenn ich aber heute die verschiedenen Gefühle prüfe, die ich damals empfand, so glaube ich zu erkennen, daß Manon viel mehr meine Eitelkeit als meine Liebe verletzt hatte.

Ich befand mich unter den Händen meines Kammerdieners, das Gesicht nach dem Kaminfeuer gekehrt; obwohl ich Esther nicht sehen konnte, so erheiterte mich der Gedanke, daß sie in meinen Sachen herumkramte. Plötzlich stand sie mit traurigem Gesicht vor mir. Sie hielt einen Brief in der Hand. Es war das verhängnisvolle Schreiben Manons.

»Bin ich strafbar?« fragte sie schüchtern, »daß ich die Ursache Ihres Schmerzes entdeckt habe?«

Ich war anfangs ein wenig verlegen, dann aber sah ich sie mit einem beifälligen Blick an und sagte: »Nein, nein, teure Esther! Beklagen Sie Ihren Freund und sprechen wir nicht mehr davon.«

»Ich kann also zu Ende lesen?«

»Gewiß, mein Herz, wenn Ihnen das Spaß macht; mir liegt nichts mehr daran, und Sie werden mich um so mehr beklagen.«

Alle Briefe der ungetreuen Manon Baletti lagen zusammen mit den meinigen, nach dem Datum geordnet, auf meinem Nachttisch. Ich zeigte sie Esther, die mit einer Art Gier sie zu lesen begann.

Als ich wie zu einer Hoffestlichkeit gekleidet war, ging Leduc hinaus, und wir waren allein, denn die gute Gouvernante, die am Fenster saß und eine Spitze häkelte, kümmerte sich niemals um uns.

Esther sagte mir, noch niemals hätte ihr etwas soviel Vergnügen gemacht, wie das Lesen dieser Briefe.

»Diese verfluchten Briefe, die dir so sehr gefallen, liebe Esther, werden an meinem Tode schuld sein.«

»An Ihrem Tode, lieber Freund? Nein, ich hoffe, ich werde Sie heilen.«

»Ich wünsche es; aber nach dem Essen wirst du mir helfen, sie alle zu verbrennen, auch den, der mir dies anbefiehlt.«

»Sie verbrennen! Mein Freund, schenken Sie sie mir lieber. Ich verspreche Ihnen, sie mein ganzes Leben lang aufzubewahren.«

»Sie gehören Ihnen, Esther; morgen werde ich sie Ihnen bringen.«

Die Zahl dieser Briefe betrug mehr als zweihundert, und die kürzesten waren vier Seiten lang. Hoch erfreut, sie in ihrem Besitz zu sehen, sagte sie mir, sie wolle sie sofort zusammenpacken und werde glücklich sein, sie am Abend mit nach Hause zu nehmen.

»Werden Sie,« fragte sie mich, »Ihrer Ungetreuen ihr Bild zurückschicken?«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Schicken Sie es nur zurück; denn sie ist nicht würdig, daß Sie ihr die Ehre erweisen, es zu behalten. Ich bin überzeugt, Ihr Orakel würde Ihnen denselben Rat geben. Wo ist dieses Porträt? Wollen Sie es mir zeigen?«

Ich hatte das Bild im Innern einer goldenen Tabaksdose; aber ich hatte es Esther niemals gezeigt, weil ich befürchtet hatte, sie könnte Manon schöner finden als sich selber, und annehmen, ich zeigte es ihr nur aus Eitelkeit, und dies könnte sie beleidigen. Aber da sie selber den Wunsch aussprach, es zu sehen, so beeilte ich mich, die Kassette zu öffnen, worin es sich befand, und gab es ihr.

Eine andere als Esther hätte Manon häßlich gefunden oder wenigstens Mängel an ihr zu entdecken gesucht; Esther aber lobte sie, fand sie sehr schön und sagte nur, es sei schade, daß in einem so schönen Körper eine so häßliche Seele wohne.

Manons Anblick brachte Esther in Zug; sie bat mich, ihr alle Bilder zu zeigen, welche Frau Manzoni mir aus Venedig geschickt hatte. Es waren nackte Figuren dabei, aber Esther war rein, und ihr Geist war zu aufgeklärt, um sich zu Zierereien herbeizulassen, die nur Prüden anstehen, denen das Verständnis für das Natürliche abgeht. O’Morphi gefiel ihr sehr, und ihre Geschichte, die ich ihr mit allen Einzelheiten erzählte, erschien ihr sehr merkwürdig. Das Bildnis der schönen Nonne M.M., erst im Nonnenkleide und dann als Venus, erregte ihre Heiterkeit; sie sprach den lebhaftesten Wunsch aus, auch ihre Geschichte kennen zu lernen; aber ich schlug ihr dies ab.

Als es Zeit zum Mittagessen war, wurde uns eine ausgezeichnete Mahlzeit aufgetragen, und wir verbrachten zwei köstliche Stunden damit, uns an Speise und Trank zu erquicken und uns zu unterhalten. Mir war es, wie wenn ich durch ein Wunder vom Tode zum Leben auferstanden wäre, und Esther war überaus froh, mein Arzt gewesen zu sein. Bevor wir vom Tische aufstanden, sagte ich ihr, ich würde gleich am nächsten Tage Manons Bild an deren Gemahl schicken; aber ihr ausgezeichnetes Herz gab ihr bald ein Mittel ein, mir davon abzuraten, was ihr nicht schwer wurde.

Als wir nämlich gleich nachher vor dem hellflackernden Kaminfeuer saßen und plauderten, nahm sie Papier, errichtete die Pyramiden und schrieb die Schlüsselbuchstaben O.S.A.D. darüber. Sie fragte das Orakel, ob ich recht daran tun würde, das Bild dem Gatten zu übersenden, oder ob es edelmütiger und schicklicher sein sollte, es der ungetreuen Manon zurückzuschicken. Während des Rechnens sagte sie mir oft mit einem lieblichen Lächeln: »Ich habe die Antwort nicht vorbereitet; Sie können es mir glauben.« Ich tat, als glaubte ich ihr, und wir lachten wie zwei Auguren, die sich ungesehen von aller Welt begegnen. Die Antwort lautete, ich müsse das Bild zurückschicken, aber an die, die es mir gegeben habe; es an den Mann zurückzuschicken, wäre eine tadelnswerte Handlungsweise, die eines Ehrenmannes unwürdig wäre.

Ich stimmte der Antwort zu und küßte zwanzigmal die Pythonissa. Ich versprach ihr, der Vorschrift des Orakels pünktlich zu folgen; aber ich fügte hinzu, ich sähe mit Befriedigung, daß ich sie nicht in der Wissenschaft zu unterweisen brauchte, denn sie beherrschte sie bereits ebenso vollkommen wie derjenige, der sie erfunden hätte.

Ich sagte die Wahrheit; aber Esther lachte, und da sie fürchtete, ich könnte es allen Ernstes glauben, gab sie sich die allergrößte Mühe, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

An solchen Tändeleien hat die Liebe ihre Freude; auf solche Weise wächst sie und wird in kurzer Zeit riesengroß.

»Wäre es allzu neugierig von mir,« sagte Esther, »wenn ich Sie fragte, wo Ihr Porträt ist? Manon schreibt Ihnen in ihrem Briefe, sie sende es Ihnen zurück, aber ich habe es nicht gesehen.«

»In meinem ersten Verdruß habe ich es fortgeworfen, ich weiß nicht mehr wohin. Sie begreifen, daß so ein Ding, das mir mit Verachtung zurückgeschickt wird, mir nicht angenehm sein kann.«

»Suchen wir es, lieber Freund, ich möchte es sehen.«

Wir fanden es bald auf meiner Kommode unter einem Haufen von Büchern. Esther betrachtete es lange und sagte, es sei sprechend ähnlich.

»Ich würde es Ihnen anbieten, liebe Freundin, wenn ein solches Geschenk Ihrer würdig wäre.«

»Ei! welches wertvollere Geschenk könnten Sie wohl machen?«

»Sie wollen es wirklich annehmen, Esther, obgleich es bereits in andere Hände gekommen ist?«

»Dadurch wird es in meinen Augen nur um so wertvoller.«

Wir mußten uns endlich trennen, aber wir hatten einen Tag verbracht, den man köstlich nennen kann, wenn man das Glück in gegenseitiger Zufriedenheit und ohne Beimischung einer heftigen oder stürmischen Leidenschaft sucht. Um zehn Uhr ging sie, nachdem sie von mir das Versprechen empfangen hatte, daß ich den ganzen nächsten Tag bei ihr verbringen würde.

Nach einem ununterbrochenen neunstündigen Schlaf erhob ich mich frisch und vollkommen gesund. Ich eilte zu Esther; sie schlief noch, aber ihre Gouvernante weckte sie trotz meinen dringenden Bitten, sie noch schlummern zu lassen.

Sie empfing mich, im Bette sitzend, mit dem angenehmsten Lächeln, und indem sie auf meinen umfangreichen, auf dem Nachttisch liegenden Briefwechsel mit Manon zeigte, sagte sie, sie habe mit Teilnahme bis zwei Uhr morgens darin gelesen. Das reizende Mädchen sah entzückend aus. Ein hübsches Batisthäubchen, mit hellblauen Bändern und mit Spitzen besetzt, zierte ihr reizendes Gesicht, und ein leichtes Tuch von indischem Musselin, das sie in aller Eile über ihren Elfenbeinnacken geworfen hatte, verbarg mir nur zur Hälfte ihren Alabasterbusen, dessen Form einen Praxiteles beschämt haben würde. Sie erlaubte mir, von ihren Rosenlippen hundert Küsse zu pflücken, die immer feuriger wurden, da der Anblick so vieler Reize nicht dazu angetan war, mich abzukühlen; aber ihre schönen Hände verteidigten hartnäckig zwei Halbkugeln, welche meine Hände mit brennender Begier zu ergreifen suchten.

Ich setzte mich neben sie und versicherte ihr mit inniger Überzeugung, daß ihre göttlichen Reize und ihr überlegener Geist sehr geeignet wären, mich alle Manons der ganzen Erde vergessen zu lassen.

»Ist sie denn auch am ganzen Leibe schön, Ihre Manon?«

»Ich weiß es nicht, liebe Esther, denn da ich nicht ihre Gatte geworden bin, so habe ich mich nicht davon überzeugen können.«

»Ich lobe Ihre weise Verschwiegenheit,« sagte sie lächelnd; »diese ziemt sich für einen zartfühlenden Mann.«

»Ich habe von ihrer Amme erfahren, daß sie vollkommen tadellos gewachsen ist, und daß kein Fleck, kein Mal die Weiße ihrer Haut beeinträchtigt.«

»Von mir müssen Sie wohl einen anderen Begriff haben?«

»Ja, meine Esther, denn das Orakel hat mir das große Geheimnis enthüllt, das Sie kennen zu lernen wünschten. Dies hindert mich aber nicht, zu glauben, daß Sie überall vollkommen schön sind.«

Hierbei machte ich einen Schnitzer, der beinahe zu meiner Schande ausgeschlagen wäre, denn ich fügte hinzu: »Wenn ich Ihr Gatte würde, könnte ich die Berührung dieses Males leicht vermeiden.«

»Sie glauben also,« sagte sie errötend, und mit einem etwas gekränkten Tone, »Sie glauben also, daß Sie bei einer Berührung etwas bemerken würden, was Ihre Begierden vermindern könnte?«

Diese Frage, die mich vollständig entlarvte, brachte mich in größte Verwirrung. Ich vergoß Tränen darüber und bat sie in einem Tone so aufrichtiger Reue um Verzeihung, daß sie aus Mitgefühl ihre Tränen mit den meinigen vermischte. Unsere Vertraulichkeit wurde dadurch noch größer, denn als ich ihre Tränen mit meinen Lippen getrocknet hatte, entflammte uns in einem Augenblick dasselbe Feuer, und hätte nicht die Klugheit lauter gesprochen als unsere Begierden, so wäre ohne Zweifel in diesem Augenblick alles vollbracht worden. So hatten wir nur eine süße Entzückung, die uns an die süßen Genüsse denken ließ, welche wir uns verschaffen konnten, sobald wir wollten. Drei Stunden gingen schnell dahin! Sie bat mich, in ihr Arbeitszimmer zu gehen, damit sie Zeit hätte, sich anzukleiden; hierauf gingen wir miteinander herunter und speisten mit dem armen Sekretär, der sie anbetete. Sie liebte ihn nicht, und es mußte ihm sehr unangenehm sein, mich so vertraut mit ihr zu sehen.

Den ganzen Rest des Tages verbrachten wir in vertraulichen Gesprächen, wie man sie führt, wenn zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, die zu untrennbarer Vereinigung für einander geschaffen zu sein glauben, die ersten Grundlagen innigster Freundschaft gelegt sind. Auch im Salon durchglühte uns das Feuer der Liebe, aber wir waren hier nicht so frei, wie im Schlafzimmer. In der Luft des Schlafzimmers eines geliebten Weibes liegt ein so intimer Reiz, ein so balsamischer Duft, eine so wollüstige Ausdünstung, daß ein Liebhaber, der zwischen dem Himmel und diesem Ort der Wonne zu wählen hätte, nicht einen Augenblick schwanken würde.

Wir trennten uns, das Herz von Glück geschwellt, mit dem Ausruf: »Auf morgen!«

Ich war in Esther wirklich verliebt; denn in meinen Empfindungen für sie war etwas Sanfteres, Ruhigeres, und doch zugleich Lebhafteres als jene Sinnenliebe, die niemals frei von einer stürmischen Erregung ist. Ich war fest überzeugt, sie dahin bringen zu können, daß sie mich heiratete, ohne von mir zu verlangen, sie eine Wissenschaft zu lehren, die ich nicht lehren konnte. Ich bereute es, sie nicht bei dem Glauben gelassen zu haben, daß ihre Wissenschaft der meinigen gleich wäre; denn es dünkte mich unmöglich, sie davon zu überzeugen, daß ich sie getäuscht hatte, ohne zugleich in ihr eine Entrüstung zu erregen, die stärker sein würde, als ihre Liebe zu mir. Esther war das einzige Weib, um das ich Manon vergessen konnte, die mir bereits dessen, was ich für sie hatte tun wollen, unwürdig zu sein schien.

Als Herr d’O. von seiner Reise zurückkam, speiste ich mit ihm zusammen. Er hatte mit Vergnügen vernommen, daß seine Tochter mich geheilt hatte, indem sie einen ganzen Tag bei mir zubrachte. Als wir allein waren, sagte er uns, er habe im Haag gehört, daß der Graf St.-Germain das Geheimnis besitze, Diamanten zu machen, die sich von echten nur durch das Gewicht unterschieden – was nach Herrn d’O.s Meinung genügte, um ihm ein glänzendes Vermögen einzubringen. Ich würde ihm großen Spaß gemacht haben, wenn ich ihm alles hätte erzählen können, was ich über diesen Scharlatan wußte.

Am nächsten Abend führte ich Esther ins Konzert; sie sagte mir: »Morgen werde ich mein Zimmer nicht verlassen; da können wir in aller Gemächlichkeit über unsere Heirat sprechen.«

Es war der letzte Tag des Jahres 1759.