Vierzehntes Capitel
Kapitän Hod’s fünfzigster Tiger
Oberst Munro und seine Freunde und Reisebegleiter hatten jetzt nichts mehr zu fürchten, weder von Seiten des Nababs und der Hindus, die seinem Befehle unterstanden, noch von der der Dacoits, die unter Jenes Führung eine gefürchtete Bande in diesem Theile Bundelkunds gebildet hatten.
Bei dem Donner der Explosion waren die Soldaten des Wachpostens vor Jubbulpore in großer Zahl herausgeeilt. Was von Nana Sahib’s jetzt führerlosen Spießgesellen noch übrig war, hatte eiligst die Flucht ergriffen.
Oberst Munro gab sich zu erkennen. Eine halbe Stunde später gelangten Alle nach der Station, wo sie in Ueberfluß fanden, was sie bedurften, und vorzüglich Speise und Trank, wonach Jeder lechzte.
Lady Munro wurde bis zu der Zeit, wo sie nach Bombay gebracht werden konnte, in einem comfortablen Hôtel verpflegt. Dort hoffte Sir Edward Munro auch die Seele Derjenigen wieder zum Leben zu erwecken, die jetzt nur leiblich lebte und für ihn so gut wie todt blieb, so lange sie nicht die Vernunft wieder erlangte.
Im Grunde zweifelte keiner seiner Freunde an einer baldigen Heilung. Alle sahen mit Vertrauen einem Ereignisse entgegen, das offenbar allein das sonst freudlose Leben des Obersten umzugestalten vermochte.
Man kam überein, schon am folgenden Tage nach Bombay weiter zu reisen. Der erste Eisenbahnzug sollte die Insassen des Steam-Houses nach der Hauptstadt des westlichen Indiens führen. Diesmal freilich sollte sie die gewöhnliche schnellfüßige Locomotive befördern, und nicht mehr der unermüdliche Stahlriese, von dem nur noch unförmliche Trümmer übrig waren.
Doch weder Kapitän Hod, sein enthusiastischer Verehrer oder Banks, sein geistvoller Schöpfer, noch irgend ein anderer Theilnehmer der Expedition konnte jemals das »treue Thier« vergessen, das sie sich allmälich als lebend anzusehen gewöhnt hatten. Noch lange hallte das Krachen der Explosion, die es endlich vernichtete, in ihrer Erinnerung wieder.
Es kann demnach kaum wundernehmen, daß Banks, Kapitän Hod, Maucler, Fox und Goûmi Jubbulpore nicht verlassen wollten, ohne den Schauplatz der Katastrophe noch einmal zu besichtigen.
Von der Dacoitsbande war ja bestimmt nichts mehr zu fürchten. Um jedoch keine Vorsicht aus den Augen zu setzen, nahmen der Ingenieur und seine Gefährten von dem Wachposten vor den Vindhyas eine Abtheilung Soldaten zur Deckung mit und erreichten gegen elf Uhr den Eingang des Passes.
Hier lagen zunächst fünf bis sechs schrecklich verstümmelte Leichen. Es waren das die der ersten Hindus, welche den Stahlriesen erklettert hatten, um Nana Sahib’s Fesseln zu lösen.
Das war aber auch Alles. Von der übrigen Bande fand sich keine Spur. Statt nach ihrem jetzt bekannten Schlupfwinkel Ripore zurückzukehren, mochten sich Nana Sahib’s letzte Getreue weiter im Nerbuddathale zerstreut haben.
Den Stahlriesen selbst hatte die Explosion seines Kessels vollkommen zerstört. Eine seiner riesigen Tatzen fand sich weit weggeschleudert wieder. Ein Theil des gegen die Bergwand gestoßenen Rüssels hatte sich in eine Gesteinsspalte eingebohrt und ragte gleich einem Riescnarme daraus hervor. Ueberall lagen Blechstücke, Schrauben, Bolzen, Roststäbe, Cylinderbruchstücke und Reste der Treibstangen-Verbindungen umher. Im Moment der Explosion, als die überlasteten Ventile jeden Abfluß desselben verhinderten, mußte der Dampf eine ungeheuere Spannung, mindestens von zwanzig Atmosphären, erreicht haben.
Und jetzt war von dem künstlichen Elephanten, dem Stolze der Bewohner des Steam-Houses, von dem Kolosse, der die abergläubische Bewunderung der Hindus erregte, von dem mechanischen Meisterwerke des Ingenieurs Banks, dem verwirklichten Traume des phantastischen Rajahs von Bouthan nichts mehr übrig, als ein unkenntliches, werthloses Gerippe!
»Armes, armes Geschöpf! – Diesen Ausruf des Bedauerns konnte Kapitän Hod angesichts des Cadavers seines geliebten Stahlriesen nicht unterdrücken.
– O, da bauen wir einen anderen … einen noch mächtigeren Nachfolger! sagte Banks.
– Das glaube ich wohl, erwiderte Kapitän Hod mit einem tiefen Seufzer, er ist es aber doch nicht mehr!«
Bei diesen Nachsuchungen kam dem Ingenieur und seinen Gefährten natürlich auch der Gedanke, ob sie nicht einige Ueberbleibsel Nana Sahib’s nachweisen könnten. Fand sich dabei auch der leicht wieder zu erkennende Kopf nicht vor, so genügte ja schon die eine Hand von ihm, welcher der amputirte Finger fehlte, die Identität seiner Person festzustellen. Sie hätten so gern den unbestreitbaren Beweis des Todes Desjenigen erlangt, der jetzt mit seinem Bruder Balao Rao ja nicht mehr verwechselt werden konnte.
Keiner der blutigen Reste, die den Boden bedeckten, schien jedoch Nana Sahib angehört zu haben. Wahrscheinlich hatten die getreuen Anhänger des Nabab wenigstens die Ueberbleibsel seiner Leiche noch mitgenommen.
Die unausbleibliche Folge davon war aber die, daß die Fabel von Nana Sahib, wegen Mangels vollgiltiger Beweise, wieder in ihr Recht trat; daß der unerreichbare Nabab in der Vorstellung der Volksstämme Central-Indiens noch immer als lebend galt, bis die Sage den alten Anführer der Sipahis vielleicht zu einem unsterblichen Gotte umwandelte.
Banks und die Seinigen freilich zweifelten keinen Augenblick mehr daran, daß jener die Explosion nicht habe überleben können.
Sie kehrten nach der Station zurück, wohin Kapitän Hod ein Stückchen von den Stoßzähnen des Stahlriesen mitnahm – eine kostbare Reliquie, die er als theures Andenken bewahrte.
Am folgenden Tage, dem 4. October, verließen Alle Jubbulpore in einem Salonwagen, der dem Oberst Munro und seinen Begleitern zur Verfügung gestellt worden war. Vierundzwanzig Stunden später überschritten sie die westlichen Ghats, jene indischen Anden, die sich in einer Ausdehnung von dreihundertsechzig Meilen Länge hin erstrecken und mit dichten Waldmassen von Banianen, Sykomoren, Tek-Eichen, neben Palmen, Cocos- und Arekpalmen, Pfeffer- und Santelholzbäumen und Bambusdickichten bedeckt sind. Einige Stunden später schon brachte sie der Bahnzug nach der Insel Bombay, die in Verbindung mit den Inseln Salcette, Elephanta und anderen eine prächtige Rhede bildet und auf ihrer südöstlichen Spitze die Hauptstadt der Präsidentschaft trägt.
Oberst Munro hielt sich in der großen Stadt nicht auf, wo Araber und Perser, Banyans und Abyssinier, Parsis und Guebrer, Scindier und Europäer aller Nationen die Straßen erfüllen und selbst Hindus vereinzelt auftauchen.
Die wegen Lady Munro’s Zustand consultirten Aerzte empfahlen einstimmig, die Leidende nach einem freundlichen Landsitze in der Umgebung zu bringen, wo die friedliche Stille im Verein mit der zärtlichen, unausgesetzten Sorgfalt des Gatten einen glücklichen Erfolg am sichersten erhoffen ließ.
So verging ein Monat. Nicht einer der Gefährten des Obersten, nicht einer seiner Diener hatte nur daran gedacht, von seiner Seite zu weichen. An dem voraussichtlich nicht mehr fernen Tage, wo die Genesung der jungen Frau den Seelenleiden Sir Edward Munro’s ein Ende machen sollte, wollten Alle gegenwärtig sein.
Endlich ward ihnen diese Freude zu theil. Allmälich lüftete sich der Schleier um Lady Munro’s Geist, sie fing wieder an, Gedanken zu fassen. Von der früheren »irrenden Flamme« blieb nichts mehr übrig, nicht einmal eine Erinnerung.
»Laurence! Laurence!« rief da der entzückte Oberst Munro, und, endlich ihn wiedererkennend, sank ihm die wiedergefundene Gattin in die Arme.
Eine Woche später waren die Insassen des Steam-Houses in dem Bungalow von Calcutta wieder vereinigt. Hier begann nun ein anderes Leben, als das, welches bisher in dem prächtigen Wohnsitze geherrscht hatte. Banks verbrachte hier die Zeit, die seine Arbeiten nicht in Anspruch nahm, Kapitän Hod seinen Urlaub, sobald er solchen erhielt. Mac Neil und Goûmi gehörten ganz zum Hause und trennten sich von dem Oberst niemals wieder.
Später verließ Maucler, der nach Europa zurückkehren mußte, Calcutta. Es traf sich zufällig, daß auch Kapitän Hod’s Urlaub zu Ende ging, weshalb dieser und der getreue Fox das gastliche Haus verließen, um sich nach den Cantonnements von Madras zu begeben.
»Adieu, lieber Kapitän, sagte da Oberst Munro. Ich schätze mich glücklich in dem Gedanken, daß Sie bezüglich unserer Fahrt durch das nördliche Indien doch eigentlich nichts zu beklagen haben, als daß es Ihnen nicht vergönnt war, den fünfzigsten Tiger zu erlegen.
– O, ich habe ihn doch erlegt, Herr Oberst!
– Was höre ich! Sie haben? …
– Ja, ganz gewiß! fiel ihm Kapitän Hod mit einem gewissen Stolze in’s Wort. Neunundvierzig Tiger und … Kâlagani … sollte dieser nicht für den fünfzigsten gelten können?«