6. Mißliebigkeit.

Der Archidiaconus und der Glöckner waren, wie wir schon gesagt haben, bei dem vornehmen und geringen Volke aus der Nachbarschaft der Kathedrale nicht sehr beliebt. Wenn Claude und Quasimodo, was zeitweilig geschah, mit einander ausgingen, und man sie in Gesellschaft, der Diener hinter dem Herrn drein, über die schmutzigen, engen und dunkeln Straßen der Klostergebäude von Notre-Dame schreiten sah, so beunruhigte sie manch böses Wort, manch ironisches Lachen und manch beleidigender Witz auf ihrem Gange, wofern Claude Frollo nicht, was freilich selten geschah, aufrechten und stolzen Hauptes einherschritt und sein ernstes, fast majestätisches Antlitz den bestürzten Spaßvögeln zeigte. Alle beide waren in ihrem Stadtviertel das, was jene »Dichter« waren, von denen Regnier spricht:

»Allerlei Leute rennen hinter dem Dichter drein,
Wie hinter Eulen just schreiende Grasmücklein.«

Bald war es ein heimtückischer Bursche, welcher seine Haut und seine Knochen für das unaussprechliche Vergnügen wagte, eine Nadel in Quasimodo’s Buckel zu bohren; bald streifte eine hübsche junge Dirne, die frecher und unverschämter war, als es sich geschickt hätte, das schwarze Kleid des Priesters und sang ihm unter hämischem Gelächter das Lied ins Gesicht:

»Verdufte, verdufte, der Teufel ist gefangen!«

Manchmal schimpfte ein Haufen schmutziger Weiber, die sich hinter einander auf den Stufen einer Thürhalle im Schatten niedergekauert hatten, mit lauten Worten beim Vorübergehen des Archidiaconus und des Glöckners und schleuderten ihnen unter Verwünschungen den anfeuernden Willkommen ins Gesicht: »Ha! sehet da einen, der eine Seele hat, wie der andere den Körper!« Oder es fand sich auch eine Bande Studenten und Soldaten, die Brett spielten, sich zusammenrotteten und jene in klassischer Weise mit dem Hohngeschrei auf Lateinisch begrüßten: »Eia, eia! Claudius cum claudo« 95

Gewöhnlich aber glitt die Beleidigung ungehört an dem Priester und Glöckner ab; denn um alle die niedlichen Dinge zu vernehmen, war Quasimodo zu taub und Claude zu sehr in Gedanken versunken.

  1. [ Lateinisch: Ei der tausend! Claude mit einem Lahmen! Anm. d. Uebers.]

1. Abbas Beati Martini.

Der Ruf Dom Claude’s hatte sich weithin verbreitet. Dieser verschaffte ihm ohngefähr um die Zeit, als er sich weigerte, Frau von Beaujeu zu sehen, einen Besuch, für den er lange Zeit hindurch sich die Erinnerung bewahrte.

Es war an einem Abende. Claude hatte sich nach Beendigung der Messe soeben in seine Stiftspfründezelle im Kloster Notre-Dame zurückgezogen. Diese bot, ausgenommen vielleicht einige Glasfläschchen, die in die Ecke gestellt und mit einem ziemlich verdächtigen Pulver, das ganz dem Schießpulver ähnelte, gefüllt waren, nichts Auffälliges und Geheimnisvolles dar. Hier und da fanden sich auch einige Inschriften an der Wand; aber das waren nur wissenschaftliche oder fromme Sentenzen, die aus guten Schriftstellern entlehnt worden waren. Der Archidiaconus hatte sich soeben beim Lichte eines dreiarmigen Leuchters aus Kupfer vor einer mächtigen, mit Handschriften gefüllten Truhe niedergelassen. Er hatte seinen Ellbogen auf das weitgeöffnete Buch des Honorius von Autun: » De praedestinatione et libero arbitrio« 96 gestützt und durchblätterte im tiefen Nachdenken einen gedruckten Folianten, den er soeben herbeigeholt hatte, und welcher das einzige Erzeugnis der Buchdruckerpresse war, das seine Zelle umschloß. Während er im Nachsinnen versunken war, klopfte man an seine Thür.

»Wer ist da?« rief der Weise mit dem freundlichen Tone einer hungrigen Dogge, die man bei ihrem Knochen stört. Eine Stimme antwortete von draußen: »Euer Freund Jacob Coictier.« Er erhob sich, um zu öffnen.

Es war in Wirklichkeit der Leibarzt des Königs: eine Persönlichkeit von ohngefähr fünfzig Jahren, deren harter Gesichtsausdruck nur durch einen listigen Blick gemildert wurde. Ein anderer Mann begleitete ihn. Alle beide trugen ein langes, schieferfarbiges, mit Grauwerk gefüttertes Kleid, das zugenestelt und in der Mitte des Leibes von einem Gürtel gehalten wurde; die Kopfbedeckung war von demselben Stoffe und derselben Farbe. Ihre Hände verschwanden in den Aermeln, ihre Füße unter den Kleidern, die Augen waren von ihren Mützen beschattet.

»So wahr Gott mir helfe, meine Herren!« sprach der Archidiaconus, indem er sie in die Zelle hereinführte, »ich machte mich auf so ehrenvollen Besuch zu solcher Stunde nicht gefaßt.« Und während er in dieser höflichen Weise sprach, warf er einen unruhigen und forschenden Blick vom Arzte auf dessen Begleiter.

»Es ist niemals zu spät, einem so bedeutenden Gelehrten, wie Dom Claude Frollo von Tirechappe, seinen Besuch zu machen,« antwortete der Doctor Coictier, dessen hochburgundische Aussprache alle seine Worte mit der Würde eines Schleppkleides hinschleifen ließ.

Dann begann zwischen dem Arzte und dem Diaconus eine jener beglückwünschenden Vorreden, die, wie es in diesem Zeitabschnitte so gebräuchlich war, jeder Unterhaltung unter Gelehrten vorangingen, und die sie nicht verhinderte, sich in der herzlichsten Weise von der Welt zu verabscheuen. Uebrigens ist es heute noch so: jeder Mund eines Gelehrten, der einen andern beglückwünscht, ist ein Gefäß mit honigsüßer Galle.

Die Glückwünsche Claude Frollo’s für Jacob Coictier bezogen sich hauptsächlich auf die zahlreichen irdischen Vortheile, welche der würdige Arzt im Fortgange seiner vielbeneideten Laufbahn aus jeder Krankheit des Königs zu ziehen verstanden hatte: – freilich die Wirkung einer besseren und sichereren Alchymie, als das Suchen nach dem Steine der Weisen.

»In Wahrheit, Herr Doctor Coictier, ich habe große Freude gehabt, die Beförderung Eures Neffen, meines ehrwürdigen Herrn Peter Versé, zum Bischofe zu vernehmen. Ist er nicht Bischof von Amiens?«

»Ja, Herr Archidiaconus, das ist ein Huld- und Gnadengeschenk Gottes.«

»Wisset Ihr, daß Ihr am Weihnachtstage ein wahrhaft großartiges Aussehen zeigtet an der Spitze Eures Rechnungskammer-Collegiums, Herr Präsident?«

»Vice-Präsident, Dom Claude. Leider nicht mehr!«

»Wie weit seid Ihr mit Eurem prächtigen Hause in der Straße Saint-André-des-Arcs? Das ist ein zweiter Louvre. Mir gefällt besonders der Aprikosenbaum, welcher über der Thüre ausgemeißelt ist, mit dem spaßhaften Wortspiele: A l’abri cotier97

»Ach, Meister Claude, dieser ganze Steinmetzfleiß kostet mich schweres Geld. In dem Maße, wie mein Haus emporwächst, geht’s mit mir abwärts.«

»Oho! Habt Ihr denn nicht Eure Einkünfte vom Stockhause und vom Amtsbezirke des Justizpalastes, und die Rente von allen Häusern, Fleischbänken, Meß- und Marktbuden innerhalb der Ringmauer? Das heißt doch eine gute Kuh melken.«

»Meine Burgbanngerichtsbarkeit von Poissy hat mir in diesem Jahre nichts eingebracht.«

»Aber Eure Zollhäuser in Triel, Saint-James und Saint-Germain-en-Laye sind immer rentabel.«

»Hundertundzwanzig Livres, nicht einen Pariser Sou drüber.«

»Ihr habt Euer Amt als Rath des Königs. Das hat feste Einnahmen, das Amt.«

»Ja, Amtsbruder Claude; aber die verdammte Lehnsherrschaft Poligny, von der man so viel Geschrei macht, bringt mir, ein Jahr ins andere gerechnet, nicht sechzig Goldthaler ein.«

Es lag in den Glückwünschen, welche Dom Claude an Jacob Coictier richtete, jener hämische, spitze und unmerklich spöttische Ton, jenes verdrießliche und herbe Lächeln eines überlegenen und unglücklichen Menschen, der zur Zerstreuung einen Augenblick einen gewöhnlichen Menschen mit seinem dummen Glücke foppt. Der andere merkte das nicht.

»Bei meiner Seele,« sagte schließlich Claude, indem er ihm die Hand drückte, »es freut mich, Euch bei so guter Gesundheit zu finden.«

»Danke, Meister Claude.«

»Was ich fragen wollte,« rief Dom Claude, »was macht Euer königlicher Patient?«

»Er bezahlt seinen Arzt nicht hinlänglich,« antwortete der Doctor und warf einen Seitenblick auf seinen Begleiter.

»Findet Ihr, Gevatter Coictier?« sagte der Begleiter.

Diese Worte, im Tone der Ueberraschung und des Tadels gesprochen, lenkten auf diese unbekannte Persönlichkeit wieder die Aufmerksamkeit des Archidiaconus hin, der, um die Wahrheit zu sagen, sich nicht einen einzigen Augenblick, seitdem der Fremde die Schwelle der Zelle überschritten, ganz von ihm weggewandt hatte. Es hatte gerade der vielen Gründe, die er besaß, bedurft, den Doctor Jacob Coictier, den allmächtigen Leibarzt Ludwig des Elften, sich zu Nutze zu machen, um ihn in solcher Begleitungen empfangen. Daher hatte seine Miene nichts sehr Verbindliches, als Jacob Coictier zu ihm sagte:

»Noch eins, Dom Claude, ich bringe Euch einen Mitbruder, der Euch auf Euren Ruf hin zu sehen gewünscht hat.«

»Der Herr ist Gelehrter?« fragte der Archidiaconus und heftete sein durchdringendes Auge auf den Begleiter Coictiers. Er fand unter den Brauen des Unbekannten einen ebenso durchbohrenden und ebenso argwöhnischen Blick, als der seinige war. Der Unbekannte war, soweit der schwache Schein der Lampe ihn zu beurtheilen gestattete, ein Greis von ohngefähr sechzig Jahren und von mittlerer Statur, die ziemlich krank und gebrochen erschien. Sein Gesicht, wiewohl von sehr alltäglichem Schnitte, zeigte etwas Gewaltiges und Strenges; sein durchdringender Blick funkelte unter einer mächtig geschwungenen Augenbraue wie ein Licht in der Tiefe einer Höhle; und unter der herabgezogenen Mütze, welche ihm auf die Nase fiel, bemerkte man die mächtige Breite einer genialen Stirn hervortreten.

Er übernahm es selbst, auf die Frage des Archidiaconus zu antworten: »Ehrwürdiger Meister,« sagte er in ernstem Tone, »Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen, und ich habe gewünscht, Euch um Rath anzugehen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der seine Schuhe auszieht, ehe er bei den Gelehrten eintritt. Ihr sollt meinen Namen wissen: ich nenne mich den Gevatter Tourangeau.«

»Merkwürdiger Name für einen Edelmann!« dachte der Archidiaconus. Indessen fühlte er, daß er einer bedeutenden und ernsten Angelegenheit gegenüber stand. Der Instinkt seiner hohen Intelligenz ließ ihn eine ebenso hohe, unter der gefütterten Mütze des Gevatters Tourangeau ahnen; und während er dieses ernste Antlitz betrachtete, verschwand das ironische Zucken, welches die Gegenwart Jacob Coictiers auf seinem mürrischen Gesichte hervorgebracht hatte, allmählich wie das Abendroth am nächtlichen Horizonte. Er hatte sich düster und schweigend wieder in seinem großen Armstuhle niedergelassen, sein Ellbogen hatte den gewohnten Platz wieder auf dem Tische, seine Stirne in der Hand eingenommen. Nach einigen Augenblicken stillen Nachdenkens gab er den beiden Besuchern ein Zeichen, sich zu setzen und richtete das Wort an Gevatter Tourangeau:

»Ihr kommt mich um Rath zu fragen, Meister, und über welchen Gegenstand der Wissenschaft?«

»Ehrwürdiger,« antwortete der Gevatter Tourangeau, »ich bin krank, sehr krank. Man nennt Euch einen großen Aesculap, und ich bin gekommen, Euch um Verordnung eines Arzneimittels zu ersuchen.«

»Eines Arzneimittels!?« sagte der Archidiaconus und schüttelte unwillig das Haupt. Er schien sich einen Augenblick lang zu besinnen und entgegnete: »Gevatter Tourangeau, da das nun einmal Euer Name ist, wendet das Haupt um. Ihr werdet meine Antwort deutlich an die Wand geschrieben finden.«

Der Gevatter Tourangeau gehorchte und las über seinem Haupte folgende, in die Mauer eingekratzte Inschrift: »Die Heilkunde ist die Tochter leerer Träume. – Jamblichus.«

Der Doctor Jacob Coictier hatte jedoch die Frage seines Begleiters mit einem Mißbehagen vernommen, welches die Antwort Dom Claude’s noch gesteigert hatte. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und sagte leise genug, um nicht vom Archidiaconus verstanden zu werden, zu ihm: »Ich hatte Euch ja berichtet, daß er ein Narr wäre. Ihr habt ihn sehen wollen!«

»Es ist doch sehr leicht möglich, daß er Recht hätte, dieser Narr, Doctor Jacob!« entgegnete der Gevatter im nämlichen Tone und mit bitterem Lächeln.

»Wie es Euch belieben wird,« entgegnete Coictier trocken. Dann wandte er sich an den Archidiaconus: »Ihr seid rasch im Urtheil, Dom Claude, und um den Hippokrates kaum mehr verlegen, als ein Affe um eine Haselnuß. Die Heilkunde ein Traum! Ich zweifle, daß die Apotheker und Doctoren, wenn sie hier wären, sich enthalten würden, Euch zu steinigen. Also Ihr läugnet den Einfluß der Zaubertränke auf das Blut, den der Salben auf das Fleisch! Ihr läugnet diese ewige Apotheke voll Blüten und Metalle, welche man Welt nennt, und die ausdrücklich für diesen Kranken geschaffen ist, welcher Mensch heißt.«

»Ich läugne weder die Kunst des Apothekers noch die Krankheiten der Menschen,« sprach Dom Claude kalt. »Vom Arzte will ich nichts wissen.«

»Also ist es nicht wahr,« fuhr Coictier mit Eifer fort; »daß die Gicht eine Flechte im Innern sei; daß man eine Schußwunde durch Auflegen einer gebratenen Maus heilt; daß jugendliches und in angemessener Weise eingespritztes Blut alten Adern die Jugend wiedergiebt? Es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier ist, und daß die Emprostothonie 98 auf die Opistothonie 99 folgt?«

Der Archidiaconus antwortete, ohne sich zu erregen: »Es giebt gewisse Dinge, über die ich in bestimmter Weise denke.«

Coictier wurde roth vor Zorn.

»Nun, nun, mein guter Coictier, ereifern wir uns nicht,« sagte der Gevatter Tourangeau. »Der Herr Archidiaconus ist unser Freund.«

Coictier wurde ruhig und brummte mit halber Stimme vor sich hin:

»Trotz alledem ist er ein Narr!«

»Beim allmächtigen Gott, Meister Claude,« begann der Gevatter Tourangeau wieder nach einem Schweigen, »Ihr bereitet mir viel Ungelegenheit. Ich hatte vor, Euch um zwei Gutachten zu bitten: das eine betrifft meinen Gesundheitszustand, das andere meinen Stern und mein Geschick.«

»Herr,« versetzte der Archidiaconus schnell, »wenn das Eure Meinung ist, so würdet Ihr ebenso wohl gethan haben, Euch auf den Stufen meiner Treppe nicht außer Athem zu steigen. Ich glaube nicht an die Heilkunde. Ich glaube nicht an Astrologie.«

»In Wahrheit!« sagte der Gevatter überrascht.

Coictier brach in ein erzwungenes Lachen aus.

»Ihr sehet wohl, daß er ein Narr ist,« sprach er ganz leise zum Gevatter Tourangeau. »Er glaubt nicht an die Astrologie!«

»O, über die Einbildung,« fuhr Dom Claude fort, »zu glauben, daß jeder Sternstrahl ein Faden sei, der am Haupte eines Menschen haftet!«

»Und woran glaubt Ihr denn?« rief der Gevatter Tourangeau aus.

Der Archidiaconus blieb einen Augenblick zweifelhaft; dann ließ er ein düstres Lächeln um seine Züge spielen, welches seine Antwort Lügen zu strafen schien: » Credo in Deum100

» Dominum nostrum,« 101 fügte der Gevatter Tourangeau mit dem Zeichen des Kreuzes hinzu.

»Amen,« sprach Coictier.

»Verehrter Meister,« nahm der Gevatter wieder das Wort, »ich bin in der Seele erfreut, Euch bei so gutem Glauben zu finden. Aber ein großer Gelehrter wie Ihr, seid Ihr auf dem Punkte angelangt, nicht mehr an die Wissenschaft zu glauben?«

»Nein,« sagte der Archidiaconus, indem er den Arm des Gevatter Tourangeau ergriff, und ein Strahl der Begeisterung flammte in seinem trüben Auge auf, »nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht so lange, aus dem Leibe liegend und die Nägel in die Erde gegraben, durch die zahllosen Seitenpfade der Höhle gekrochen, ohne in der Ferne vor mir, am Ende des dunkeln Ganges ein Licht, eine Flamme, ein Etwas zu erblicken, zweifelsohne den Abglanz des blendenden Centralfeuers, wo Dulder und Weise die Gottheit erspähet haben.«

»Und schließlich,« unterbrach ihn Tourangeau, »was haltet Ihr für wahr und gewiß?«

»Die Alchymie.«

Coictier rief laut: »Bei Gott, Dom Claude, die Alchymie hat ohne Zweifel ihr Recht, aber weshalb die Heilkunde und die Astrologie lästern?«

»Nichts ist es mit Eurer Kenntnis des Menschen! Nichts mit Eurer Kenntnis des Himmels!« sagte der Archidiaconus mit Hoheit.

»Das heißt schonungslos mit Epidaurus und Chaldäa 102 verfahren,« entgegnete der Arzt hohnlächelnd.

»Höret, werther Herr Jacob. Das ist im guten Glauben gesprochen. Ich bin nicht der Leibarzt des Königs und Seine Majestät hat mir nicht den Garten Dädalus geschenkt, um da die Sternbilder zu beobachten… Ereifert Euch nicht und höret mich an… Welche Wahrheit habt Ihr – ich sage nicht in der Heilkunde, denn die ist ein allzu thörichtes Etwas, – sondern in der Astrologie gefunden? Nennet mir die Wirksamkeit des senkrechten Boustrophedon, die Funde aus der Zahl Ziruph und diejenigen aus der Zahl Zephirod.«

»Wollt Ihr,« sprach Coictier, »die sympathische Kraft des Schlüssels Salomonis und das, was cabbalistisch im Abtriftswinkel ist, läugnen?«

»Alles Irrthum, werther Herr Jacob! keine Eurer Formeln führt zur Wirklichkeit. Dagegen hat die Alchymie Ihre Entdeckungen aufzuweisen. Wollet Ihr Ergebnisse wie die folgenden, bestreiten? Das in der Erde tausend Jahre lang eingeschlossene Eis verwandelt sich in Bergkrystall. Das Blei ist der Ahne aller Metalle; denn das Gold ist kein Metall, das Gold ist Licht. Das Blei braucht nur vier Perioden, jede von zweihundert Jahren, um nach und nach aus dem Zustande von Blei in den von rothem Arsenik, vom rothen Arsenik zum Zinn, vom Zinn zum Silber überzugehen. Sind das nicht Thatsachen? Aber an den Schlüssel Salomonis, an die Berührungslinie zweier Körper und an die Sterne zu glauben, das ist gerade so lächerlich, als wie die Einwohner von Grand-Cathay zu glauben, daß die Goldamsel sich in einen Maulwurf und die Getreidekörner in karpfenartige Fische verwandeln!«

»Ich habe die Alchymie studiert,« rief Coictier aus, »und ich versichere … «

Der ungestüme Archidiaconus ließ ihn nicht aussprechen, »Und ich, ich habe Medicin, Astrologie und Alchymie studiert. In letzterer allem liegt die Wahrheit (während er so sprach hatte er aus der Truhe eine mit jenem Pulver gefüllte Phiole genommen, von dem wir weiter oben gesprochen haben), »in ihr allein ist Licht! Hippokrates – ein Traum; Urania – ein Traum; Hermes – es ist eine Meinung. Das Gold – es ist die Sonne; Gold machen – das heißt Gott sein. Das ist die einzige Wissenschaft. Ich habe die Heilkunde und die Astrologie erforscht sage ich Euch! Nichts, nichts ist’s mit ihnen. Der menschliche Körper – alles Dunkelheit! Die Sterne – Dunkelheit!«

Und er fiel mit gewaltiger und begeisterter Haltung in seinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn schweigend. Coictier zwang sich höhnisch zu lächeln, hob unmerklich die Schultern und wiederholte mit leiser Stimme: »Ein Narr!«

»Und,« sagte plötzlich Tourangeau, »der wunderbare Endzweck, habt Ihr ihn erreicht? Habt Ihr Gold gemacht?«

»Wenn ich es gemacht hätte,« erwiderte der Archidiaconus und hob langsam seine Worte hervor, wie ein Mensch, der in Nachdenken versunken ist, »würde der König von Frankreich Claude und nicht Ludwig heißen.«

Der Gevatter runzelte die Stirne«

»Was sage ich da?« fuhr Dom Claude mit verächtlichem Lächeln fort. »Was würde der Thron von Frankreich für mich bedeuten, wenn ich das Reich des Orientes wieder aufrichten könnte?«

»Das laß ich mir gefallen!« sagte der Gevatter.

»Ach, der arme Narr!« murmelte Coictier.

Der Archidiaconns, der sich nur noch mit seinen Gedanken zu unterhalten schien, fuhr fort:

»Doch nein, ich liege noch im Staube; ich stoße mir Gesicht und Knien wund an den Steinen des Weges zum Innern der Erde. Ich erkenne wohl, aber ich sehe noch nicht deutlich: ich lese noch nicht, ich buchstabire nur!«

»Und wenn Ihr lesen könnt,« fragte der Gevatter, »werdet Ihr Gold machen?«

»Wer zweifelt daran?« sagte der Archidiaconus.

»Für diesen Fall, die heilige Jungfrau weiß es, bin ich des Goldes sehr bedürftig, und ich möchte wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir, verehrter Meister, ist Eure Wissenschaft Unserer lieben Frau feindlich gesinnt oder mißfällig?«

Auf diese Frage des Gevatters begnügte sich Dom Claude mit stolzer Ruhe zu erwidern:

»In wessen Diensten stehe ich als Archidiaconus?«

»Es ist wahr, lieber Meister. Nun wohl! Würdet Ihr die Güte haben, mich einzuweihen? Lasset mich mit Euch buchstabiren.«

Claude nahm die majestätische und hohepriesterliche Haltung eines Samuel an.

»Alter Mann, um diese Reise mitten durch die Welt der Geheimnisse zu unternehmen, braucht’s längere Jahre, als Ihr noch vor Euch habt. Euer Haupt ist sehr grau! Wohl verläßt man den dunkeln Weg nur mit weißem Haupthaar, aber man betritt ihn nur mit dunkelm. Die Wissenschaft vermag schon für sich allein die menschlichen Gesichter hohl zu machen, zu bleichen und einzutrocknen; sie hat nicht nöthig, daß das Alter ihr völlig runzlige Gesichter zuführe. Wenn Ihr indessen von der Begierde besessen seid, Euch in Eurem Alter der Unterweisung zu unterwerfen und das furchtbare Alphabet der Weisheit zu entziffern, wohlan, kommt zu mir, ich will’s versuchen. Euch will ich nicht heißen, armer Alter, Euch aufzumachen, um die Grabkammern der Pyramiden aufzusuchen, von denen der alte Herodot spricht, auch nicht den Backsteinthurm zu Babylon, noch das ungeheure, weißmarmorne Allerheiligste des indischen Tempels zu Eklinga. Gerade wie Ihr habe auch ich nicht die chaldäischen Mauern gesehen, die nach der geheiligten Form des Sikra errichtet waren, noch den Tempel des Salomo, der zerstört ist, auch nicht die steinernen Thüren am Grabmale der Könige Israels, die längst gebrochen sind. Wir wollen uns zufrieden geben mit den Ueberresten vom Buche des Hermes, welches wir hier haben. Ich werde Euch die Bildsäule des heiligen Christoph, das Sinnbild des Säemannes erklären, und diejenigen der beiden Engel, die sich am Portale der Heiligen Kapelle befinden, und von denen der eine seine Hand in einem Gesäße und der andere in einer Wolke hat …«

Nach diesen Worten setzte sich Jacob Coictier, den die hitzigen Einwürfe des Archidiaconus verblüfft hatten, wieder auf den Sessel und unterbrach ihn im triumphirenden Tone eines Gelehrten, der einen andern über etwas zurechtweist: » Erras, amice Claudi. 103 Das Symbol ist keine Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.«

»Ihr seid vielmehr im Irrthume,« entgegnete würdevoll der Archidiaconus. »Dädalus ist die Grundmauer, Orpheus die Mauer, Hermes aber ist das Gebäude, ist das Ganze. Möget Ihr kommen, wann Ihr wollt,« fuhr er gegen Tourangeau sich wendend fort, »ich will Euch die Goldtheilchen zeigen, die im Schmelztiegel des Nicolaus Flamel zurückgeblieben sind, und Ihr möget sie mit dem Golde Wilhelms von Paris vergleichen. Ich werde Euch die geheimen Kräfte des griechischen Wortes »Peristera« 104 lehren. Vor allem aber will ich Euch die marmornen Buchstaben des Alphabets, die steinernen Seiten des Buches eine nach der andern lesen lassen. Vom Portale des Bischofs Wilhelm und von Saint-Jean-le-Rond wollen wir zur Heiligen Kapelle, hierauf zum Hause Nicolaus Flamels, in der Rue Mariveaulx, dann zu seinem Grabmale auf dem Kirchhofe Saints-Innocents, endlich zu seinen beiden Krankenhäusern in der Rue Montmorency gehen. Ich werde Euch die Hieroglyphen lesen lassen, mit denen die vier mächtigen eisernen Feuerböcke am Eingangsthore des Hospitals Saint-Gervais und desjenigen in der Rue-de-la-Ferronnerie bedeckt sind. Wir wollen auch zusammen die Façaden von Saint-Côme, von Saint-Geneviève-des-Ardents, von Saint-Martin, von Saint-Jacques-de-la-Boucherie buchstabiren…«

So klug das Auge Tourangeau’s dreinschaute, so schien er doch schon lange Dom Claude nicht mehr zu begreifen. Er unterbrach ihn:

»Zum Teufel auch! Wie verhält sich denn das mit Euern Büchern?«

»Hier ist eins davon,« sprach der Archidiaconus.

Und indem er das Fenster der Zelle öffnete, deutete er mit dem Finger auf die mächtige Notre-Damekirche, welche am gestirnten Himmel die schwarzen Umrisse ihrer beiden Thürme, ihrer steinernen Flächen und ihres mächtigen Dachrückens abhob und einer ungeheuern, zweiköpfigen Sphinx glich, die sich mitten in der Stadt niedergesetzt hatte.

Der Archidiaconus betrachtete das Riesengebäude eine Zeit lang schweigend, dann streckte er mit einem Seufzer die rechte Hand nach dem gedruckten Buche, welches geöffnet auf dem Tische lag, die linke nach der Notre-Damekirche aus und sagte, wahrend er einen traurigen Blick vom Buche zur Kirche hinüberschweifen ließ: »Wehe! dies wird jenes vernichten.«

Coictier, der sich mit Begierde dem Buche genähert hatte, konnte den Ausruf nicht unterdrücken: »Ei, aber! was giebt es denn so Schreckliches in diesem »Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergae, Antonius Koburger, 1474«. Das ist nichts Neues. Das ist ein Buch des Petrus Lombardus, der Magister setentiarum. Vielleicht deshalb, weil es gedruckt ist?«

»Ihr habt es ausgesprochen,« antwortete Claude, der in tiefes Nachdenken versunken schien, und, den eingebogenen Zeigefinger auf den aus Nürnbergs berühmten Druckerpressen hervorgegangenen Folianten stemmend, dastand. Dann fügte er folgende geheimnisvollen Worte hinzu: »Wehe! Wehe! Das Kleine folgt dem Großen auf dem Fuße nach; ein Zahn siegt über eine Masse. Die Nilratte tödtet das Krokodil, der Schwertfisch den Wallfisch, das Buch wird das Gebäude vernichten!«

In demselben Augenblicke, wo der Doctor Jacob seinem Begleiter ganz leise den ständigen Refrain »Er ist ein Narr« wiederholte, erklang die Abendglocke des Klosters. Diesmal antwortete der Begleiter auf die Worte des Archidiaconus: »Ich glaube, ja.«

Die Stunde war da, von welcher an kein Fremder länger im Kloster verweilen konnte. Die beiden Besucher zogen sich zurück.

»Meister,« sprach der Gevatter Tourangeau, indem er sich vom Archidiaconus verabschiedete, »ich liebe die Gelehrten und großen Geister, und ich habe eine besondere Hochachtung für Euch. Kommet morgen in den ParIamentspalast und fraget nach dem Abte des heiligen Martin von Tours.«

Der Archidiaconus kehrte bestürzt in sein Gemach zurück, begriff endlich, welche Persönlichkeit der Gevatter Tourangeau war, und erinnerte sich an jene Schriftstelle im Archive des heiligen Martin von Tours: »Abbas beati Martini, scilicet rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam, quam habet Sanctus Venantius, et debet seder in sede thesaurarii.« 105

Man versicherte, daß der Archidiaconus seit dieser Zeit häufige Zusammenkünfte mit Ludwig dem Elften hatte, so oft Seine Majestät nach Paris kam, und daß das Ansehen des Dom Claude dasjenige Olivier Le-Daims in Schatten stellte, ebenso dasjenige Jacob Coictiers, der dann, seiner Gewohnheit gemäß, den König deshalb sehr grob behandelte.

  1. [Lateinisch: Ueber Vorherbestimmung und Willensfreiheit. Anm. d. Uebers.]
  2. [Das im Deutschen nicht wiederzugebende Wortspiel besteht in der Theilung des Wortes abricotier in zwei Worte: à l'abricotier, »Zum Aprikosenbaum« (Hauswahrzeichen) und: à l'abri cotier, »Im lehnzinspflichtigen Schutze«. Anm. d. Uebers.]
  3. [ Griechisch: Der Starrkrampf mit Zusammenziehung des Körpers nach vorn.]
  4. [ Griechisch:: Der Rückenkrampf. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Ich glaube an Gott.]
  6. [ Lateinisch: Unsern Herrn. Anm. d. Uebers.]
  7. [Im Alterthume durch ihre Sterndeuter bekannte Orte. Anm. d. Uebers.]
  8. [Lateinisch: Du irrst, Freund Claude. Anm. d. Uebers.]
  9. [Griechisch: die Taube. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Der Abt des heiligen Martin, nämlich der König von Frankreich, ist Domherr nach Herkommen, hat die kleine Chorpfründe, welche der heilige Venantius inne hat, und soll in der Behausung des Schatzmeisters wohnen. Anm. d. Uebers.]

2. Dies wird jenes vernichten.

Unsere Leserinnen werden verzeihen, wenn wir uns einen Augenblick dabei aufhalten, nachzuforschen, welches wohl der Gedanke sein mochte, der sich unter den räthselhaften Worten des Archidiaconus verbarg: »Dies wird jenes vernichten. Das Buch wird das Gebäude vertilgen.« Nach unserer Meinung hatte dieser Gedanke zwei Gesichtspunkte. Zunächst war es ein Priestergedanke. Es war der Schrecken eines Geistlichen vor einer neuen Culturmacht: der Buchdruckerkunst. Es war das Entsetzen und die Verblendung eines Kirchendieners vor der leuchtenden Presse Guttenbergs. Die Kanzel und die Handschrift, das gesprochene und das geschriebene Wort waren es, die über das gedruckte Wort in Schrecken geriethen; etwas der Bestürzung eines Spatzen Aehnliches, wenn er die himmlische Legion ihre sechs Millionen Flügel ausbreiten sehen würde. Der Ruf des Propheten war es, welcher bereits die vom Joche befreite Menschheit brausen und wogen hört; welcher in Zukunft die Religion durch die Erkenntnis untergraben, das Urtheil den Glauben entthronen und die Welt Rom abschütteln sieht. Es war die Vorhersagung des Philosophen, welcher den menschlichen Gedanken, der von der Presse beflügelt war, aus dem theokratischen Destillirgefäße sich verflüchtigen sieht; der Schrecken eines Soldaten, welcher den ehernen Sturmbock betrachtet und spricht: »Der Thurm muß zusammenbrechen.« Das bedeutete, daß eine Macht an die Stelle einer andern Macht treten wollte; das wollte sagen: »Die Druckerpresse wird die Kirche vernichten.« Aber hinter diesem Gedanken, dem nächsten und einfachsten zweifelsohne, stand, unserer Meinung nach, ein anderer und modernerer, der Folgegedanke aus dem erstern und nicht so schwer zu begreifen, aber viel schwieriger zu läugnen, eine ganz ebenso philosophische Ansicht, die nicht sowohl mehr die eines Geistlichen, als vielmehr die eines Weisen und Künstlers war. Es war das Vorgefühl, daß der menschliche Gedanke mit der Aenderung seiner Form die Ausdrucksweise zu ändern sich anschickte; daß der Hauptgedanke jedes Menschenalters nicht mehr mit demselben Material und in derselben Weise dargestellt werden würde; daß das so solide und dauerhafte Buch aus Stein dem noch solidern und dauerhafteren aus Papier den Platz einräumen sollte. Mit Rücksicht darauf hatte der unbestimmte Gedankenausdruck des Archidiaconus einen andern Sinn; er sprach aus, daß eine Kunst eine andere Kunst vom Throne zu stoßen sich anschickte; er wollte sagen: »Die Buchdruckerkunst wird die Baukunst vernichten.«

In Wahrheit bildet, vom Ursprünge der Dinge an bis einschließlich zum fünfzehnten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung, die Baukunst das große Buch der Menschheit, das Hauptausdrucksmittel des Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungszuständen, sei es nun als Macht oder sei es als Intelligenz.

Als die Gedächtniskraft der ersten Rassen sich zu sehr beladen wußte, als der Erinnerungsballast des menschlichen Geschlechtes so schwer und unordentlich wurde, daß das nackte und flüchtige Wort Gefahr lief, ihn unterwegs zu verlieren, übertrug man ihn in der sichtbarsten und zugleich dauerhaftesten und natürlichsten Weise auf den Erdboden. Man versiegelte jede Ueberlieferung in einem Baudenkmale.

Die ersten Baudenkmäler waren einfache Gevierte aus Felsenstücken, »welche das Eisen nicht berührt hatte«, sagt Moses.

Die Architektur fing wie jede Schreibkunst an: sie war zuerst Alphabet. Man stellte einen Stein aufrecht hin, und das war ein Buchstabe, und jeder Buchstabe war eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Gedankengruppe, wie das Kapital auf der Säule. In dieser Weise schufen die ersten Rassen, überall, im nämlichen Augenblicke, und auf der Oberfläche der ganzen Erde. Man findet den »aufgerichteten Stein« der keltischen Völkerschaften im asiatischen Sibirien und in den Pampas von Amerika wieder.

Später bildete man Worte; man stellte den Stein auf den Stein; man verband diese granitenen Silben, das Wort versuchte einige Wortverbindungen.

Der keltische Dolmen 106 und Cromlech, 107 der etruskische Tumulus, 108 der Galgal 109 der Juden sind Worte. Einige, namentlich der Tumulus, sind Eigennamen. Zeitweilig sogar, wenn viel Steine und eine weite Landstrecke vorhanden waren, schrieb man einen Satz. Die ungeheure Steinmasse von Karnak ist schon eine ganz vollkommene Formel.

Schließlich wurden Bücher geschaffen. Die Überlieferungen hatten Sinnbilder hervorgebracht, unter denen jene wie der Stamm eines Baumes unter seinem Blätterwerk verschwanden; alle diese Sinnbilder, an welche die Menschheit glaubte, begannen mit der Zeit zuzunehmen, sich zu vervielfältigen, zu verbinden und sich mehr und mehr zu verwirren; die ersten Baudenkmäler genügten nicht mehr, sie in sich aufzunehmen; sie waren überall aus den beengenden Formen herausgequollen; kaum drückten diese Denkmäler noch die ursprüngliche Überlieferung aus, welche wie sie, einfach und nackt, auf dem Erdboden ruhte. Das Sinnbild hatte Bedürfnis, sich in dem Gebäude zu enthüllen. Die Architektur entwickelte sich damals mit dem menschlichen Gedanken; sie wurde eine tausendköpfige und tausendarmige Riesin und hielt in einer ewigen, sicht- und greifbaren Form diesen ganzen schwankenden Sinnbilderausdruck fest. Während Dädalus, der die Kraft bedeutet, maß, während Orpheus, der die Intelligenz vorstellt, sang, gruppirten sich, nach einem Gesetze der Meßkunst und nach einem solchen der Dichtkunst zugleich in Bewegung gesetzt, die Säule, welche einen Buchstaben, die Bogenwölbung, welche eine Silbe und die Pyramide, welche ein Wort vorstellt, verbanden sich, verschmolzen in einander, senkten sich herab, stiegen in die Höhe, setzten sich auf dem Boden neben einander und schichteten sich nach dem Himmel hinauf, bis daß sie, unter dem Dictate eines Hauptgedankens einer Zeitepoche, jene wunderbaren Bücher: die Pagode zu Eklinga, das Rhamseion in Egypten und den Tempel des Salomo geschrieben hatten, die ebenso bewunderungswürdige Bauwerke waren.

Der Grundgedanke, das Wort, fand sich nicht allein in der Anlage, sondern auch in der Form aller dieser Bauwerke. Der Tempel des Salomo zum Beispiel war nicht etwa einfach der Einband des heiligen Buches: er war das heilige Buch selbst. An jeder seiner concentrischen Einfriedigungen vermochten die Priester das den Augen überlieferte und offenbarte Wort zu lesen; und sie verfolgten so seine Umbildungen von Heiligthum zu Heiligthume, bis daß sie es in seinem letzten Zufluchtsorte und in seiner sinnfälligsten Gestalt, welche die Baukunst noch hatte, festhielten: als Arche. Auf solche Weise war das Wort in dem Gebäude eingeschlossen, aber sein Abbild fand sich auf seiner Hülle, wie die menschliche Gestalt an der Einsargung einer Mumie.

Und nicht nur die Gestalt der Gebäude, sondern auch die Baustelle, welche für sie gewählt wurden, enthüllten den Gedanken, welchen sie ausdrücken wollten. Je nachdem das auszudrückende Sinnbild anmuthig oder düster war, krönte Griechenland seine Berge mit einem für das Auge harmonischen Tempel, Indien durchwühlte die seinigen, um in ihnen jene unförmlichen, unterirdischen Pagoden auszumeißeln, die von riesigen Reihen granitner Elephanten getragen werden.

So ist während der sechs ersten Jahrtausende, der Welt, von der urältesten Pagode Hindostans an bis zum Kölner Dome, die Baukunst die große Schreibkunst des menschlichen Geschlechtes gewesen. Und das ist dermaßen in der Wahrheit begründet, daß nicht nur jedes religiöse Sinnbild, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem ungeheuern Buche seine Seite und sein Denkmal besitzt.

Jede Civilisation beginnt mit der Priesterherrschaft und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz freiheitlicher Entwicklung, welches an die Stelle der Einheit tritt, ist in der Baukunst niedergeschrieben. Denn, wenn wir auf diesen Punkt Gewicht legen, so muß man nicht glauben, daß die Mauerkunst vermögend sei, nur den Tempel zu bauen, nur den Mythus und die kirchliche Symbolik darzustellen, nur die geheimnisvollen Tafeln des Gesetzes auf seine steinernen Seiten in Hieroglyphenschrift einzutragen. Wenn es so wäre, wie ja in jedem menschlichen Gesellschaftszustande ein Augenblick eintritt, wo das geheiligte Sinnbild sich abnutzt und vor dem freien Gedanken verschwindet, wo der Mensch sich dem Priester entzieht, wo das Auswachsen der philosophischen Wissenschaften und Systeme die Grenzlinie der Religion durchbricht, so würde die Baukunst diesen neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben können: ihre auf der Vorderseite beschriebenen Blätter würden auf der Rückseite leer bleiben, ihr Werk würde verstümmelt und ihr Buch unvollständig sein. Das geschah nun freilich nicht.

Nehmen wir zum Beispiel das Mittelalter an, bei dem wir deutlicher sehen können, weil es uns näher ist. Seine erste Periode hindurch, während daß die Priesterherrschaft Europa organisirt, während der Vatican die Elemente eines Rom wieder um sich vereinigt und zum Ansehen bringt, welches mit dem am Fuße des Capitols in Ruinen liegenden Rom geschaffen wird, während daß das Christenthum hinauszieht, um im Schutte der frühern Civilisation alle Schichten der Gesellschaft zu durchdringen und mit ihren Ueberresten ein neues hierarchisches Weltall aufzubauen, in dem das Priesterthum der Schlußstein der Wölbung ist, hört man es in diesem Chaos zunächst sich regen; hierauf sieht man, wie nach und nach unter dem Hauche des Christenthums und unter den Händen der Barbaren aus dem Schutte todter – griechischem und römischer – Bauformen jene geheimnisvolle romanische Baukunst, die Schwester der unter Priesterherrschaft entstandenen Mauerwerke Egyptens und Indiens, das unvergängliche Sinnbild des reinen Katholicismus und die unwandelbare Hieroglyphe päpstlicher Einheit sich erhebt. Die ganze Gedankenwelt von damals ist in Wahrheit in diesem düstern romanischen Stile geschrieben. Ueberall fühlt man dabei die päpstliche Gewalt, die Einheit, Verschlossenheit, das Unumschränkte, den gewaltigen Gregor den Siebenten heraus; überall den Priester, niemals den Menschen; überall die Kaste, niemals das Volk. Da kommen aber die Kreuzzüge heran. Es ist eine große Volksbewegung, und jede große Volksbewegung, mögen ihre Ursache und ihr Endziel sein, welche es wollen, befreit den Geist der Freiheit stets von seinem letzten Niederschlage. Neuerungen wollen sich Bahn brechen. Damit beginnt nun die stürmische Periode der Volksaufstände, der Bauernkriege und der Fürstenbündnisse. Die Autorität geräth ins Wanken, die Einheit spaltet sich. Das Lehnswesen fordert eine Theilung mit der Priesterherrschaft, indem es auf das Volk rechnet, das unvermeidlich und plötzlich auftreten und, wie immer, den Löwenantheil davontragen wird: quia nominor leo. 110 Die Lehnsherrschaft erscheint also hinter der Priesterherrschaft, die Volksherrschaft hinter der Lehnsherrschaft. Das Aussehen Europa’s wird umgestaltet; nun gut! Die Form der Baukunst hat sich gleichfalls geändert. Gleichwie die Civilisation hat sie eine neue Seite aufgeschlagen, und der neue Geist der Zeitverhältnisse findet sie bereit, unter seiner Eingebung zu schreiben. Sie ist aus den Kreuzzügen mit dem Spitzbogen heimgekehrt, wie die Völker mit der Freiheit. Hernach verfällt die romanische Baukunst, während daß Rom nach und nach zerstückelt wird. Die Hieroglyphe verschwindet aus dem Dome und beginnt den Thurm in die Wappenkunde einzuführen, um dem Lehnswesen einen Zauber zu verleihen. Der Dom selbst, dieses einst den Glauben so sicher ausdrückende Bauwerk, entzieht sich, hinfort von dem Bürgerthume, von der Gemeinde und der Freiheit in Besitz genommen, dem Priester und verfällt der Macht des Künstlers. Dieser baut ihn nach seiner Weise. Das Mysterium, die Mythe und das Gesetz sind verabschiedet, die Phantasie und Laune treten an deren Stelle. Falls der Priester das Schiff und den Altar für sich behält, so hat das nichts zu sagen: die vier Mauern gehören dem Künstler. Das steinerne Buch gehört nun nicht mehr dem Priesterthume, der Religion oder Rom; die Einbildungskraft, die Poesie und das Volk haben es in Besitz genommen. Von da an beginnen die reißend schnellen und unzähligen Umbildungen in diesem Zweige der Baukunst, die nur noch drei Jahrhunderte hindurch blüht, und die nach dem beharrlichen Stillstande des romanischen Baustiles während sechs oder sieben Jahrhunderten um so auffälliger sind. Inzwischen schreitet die Kunst mit Riesenschritten vorwärts. Das Genie und die Ursprünglichkeit des Volkes besorgen, was sonst die Bischöfe thaten. Jede Generation schreibt gelegentlich seine Zeile in das Buch; sie löscht die alten romanischen Hieroglyphen an den Vorderseiten der Dome aus, und das wird um so eher erkenntlich, wenn man hier und da noch das Dogma unter dem neuen Sinnbilde, welches sie ihnen aufdrückt, hervorschimmern sieht. Die Drapierungskunst des Volkes läßt kaum das aus dem Glaubensdogma entsprungene Knochengerüst errathen. Man vermag sich schwerlich einen Begriff von der Zügellosigkeit zu machen, die sich damals die Baumeister selbst gegen die Kirche erlauben. Da finden sich Kapitäle, die, wie in der Kamingalerie des Justizpalastes zu Paris, mit unzüchtig gepaarten Mönchs- und Nonnenfiguren geschmückt sind. Da sieht man das Abenteuer des Noah »in ganzen Zügen« ausgemeißelt, wie am Domportale zu Bourges. Da findet sich ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und dem Glase in der Hand, der einer ganzen Gemeinde ins Gesicht lacht, wie am Waschbecken in der Abtei zu Bocherville. Es giebt in diesem Zeitabschnitte für den in Stein geschriebenen Gedanken ein ganz ähnliches Privileg, wie unsere gegenwärtige Preßfreiheit: das ist die Freiheit in der Baukunst.

Diese Freiheit geht sehr weit. Manchmal zeigt ein Portal, eine Façade, ja eine ganze Kirche einen bildlichen Sinn, welcher dem Gottesdienste völlig fremd, oder der Kirche sogar feindlich ist. Vom dreizehnten Jahrhunderte an haben Wilhelm von Paris, Nicolaus Flamel im fünfzehnten solche Seiten aufrührerischen Inhaltes geschrieben. Die Kirche Saint-Jacques-de-la-Boucherie war völlig ein den Widerstreit vorstellendes Gotteshaus. Der Gedanke war damals nur in solcher Gestalt frei; daher wurde er ganz vollständig nur in denjenigen Büchern niedergeschrieben, welche man Bauwerke nannte. Ohne diese steinerne Form, in der Gestalt einer Handschrift, würde er sich auf freiem Platze von der Hand des Henkers brennen gesehen haben, wenn er thöricht genug gewesen wäre, sich ans Licht zu wagen. Und der Gedanke in Kirchenportalgestalt hätte der Hinrichtung des freien Gedankens beigewohnt. Daher trieb die Maurerkunst, die nur diesen Ausweg hatte, um in die Erscheinung treten zu können, mit Gewalt und von allen Seiten nach dieser Richtung zu. Daher stammt die ungeheure Menge von Kathedralen, die Europa bedeckt haben, die eine so erstaunliche Anzahl bildet, daß man kaum an sie glaubt, selbst wenn man sich von ihr überzeugt hat. Alle physischen und alle geistigen Kräfte der Gesellschaft liefen in demselben Punkte: der Baukunst, zusammen. In dieser Weise, und unter dem Vorwande, der Gottheit Kirchen zu bauen, entfaltete sich die Kunst in großartigen Verhältnissen.

Wer damals immer als Dichter geboren wurde, ward Baumeister. Das in den Massen verstreute Genie, welches unter dem Feudalismus überall, wie unter einem Schildkrötenpanzer von erzenen Helmen zurückgedrängt war, und nur auf Seiten der Baukunst einen Ausweg fand, befreite sich in dieser Kunst, und seine Iliaden nahmen die Gestalt von Kathedralen an. Alle andern Künste gehorchten der Baukunst und stellten sich unter ihre Zucht. Sie waren die Arbeiter an dem großen Werke. Der Baumeister, der Dichter, der Magister verschmolz in seiner Person die Steinmetzkunst, welche ihm seine Façaden meißelte, die Malerei, welche ihm seine Fenster malte, und die Musik, die ihm seine Glocke schwang und in seiner Orgel klang. Es gab, im eigentlichen Sinne gesagt, nur eine ärmliche Dichtkunst: nämlich diejenige, welche hartnäckig darauf bestand, in den Manuscripten zu vegetiren; die, um etwas zu sein, nicht genöthigt war, sich unter der Form der Hymne oder Prosa in das Bauwerk einfügen zu lassen: zufolge allem dieselbe Rolle, welche die Tragödien des Aeschylus bei den Priesterfesten Griechenlands, und das Erste Buch Moses im Tempel des Salomo gespielt hatten.

Also bis zu Guttenbergs Auftreten war die Baukunst die hauptsächliche schriftliche Kunst, die Allgemeinschrift. Dieses granitne Buch wird im Oriente begonnen, vom griechischen und römischen Alterthume fortgesetzt, und das Mittelalter schreibt dessen letzte Seite. Uebrigens zeigt sich jene Erscheinung einer Volksbaukunst, welche, wie wir soeben im Mittelalter beobachtet haben, die Baukunst einer Gesellschaftskaste verdrängt, bei ganz gleichartiger Richtung in der menschlichen Intelligenz, auch in andern großen Epochen der Geschichte. Also: um ein Gesetz, welches verlangen könnte, in zahlreichen Bänden aufgedeckt zu werden, hier nur summarisch darzustellen, so folgte im Innern des Morgenlandes, an der Wiege der Urzeiten, auf die Baukunst der Hindus diejenige der Phönizier, als die reiche Mutter der arabischen Baukunst; im Alterthume schloß sich an die ägyptische Baukunst, von welcher der etruskische Stil und die Cyklopenbauten nur eine Abart sind, die griechische an, von welcher der römische Stil nur eine mit dem karthagischen Gewölbe überlastete Verlängerung ist; in den neuern Zeiten trat an Stelle des romanischen der gotische Baustil. Und wenn wir diese drei Stilreihen trennen, so finden wir an den drei ältern Schwestern: der Baukunst der Hindus, der ägyptischen und der römischen, dasselbe Symbol wieder, das heißt: die Priesterherrschaft, die Kaste, die Einheit, das Dogma, den Mythus, Gott; und was die drei jüngern Schwestern: die phönizische, griechische und gothische Baukunst betrifft, so finden wir, wie groß übrigens die Formenverschiedenheit, welche ihrer Natur anhaftet, auch sein mag, gleichfalls die nämliche Bedeutung, das heißt: die Freiheit, das Volk, den Menschen.

Ob es Bramine, Magier oder Papst in der indischen, ägyptischen oder romanischen Mauerkunst heißen mag, immer merkt man den Priester, nichts als den Priester. Das Nämliche ist es nicht in den Baukunstformen des Volkes. Sie sind reicher und nicht so heilig. In der phönizischen sieht man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger.

Die Haupteigenschaften aller aus der Zeit der Priesterherrschaft herstammenden Baudenkmäler sind: Unveränderlichkeit, Abscheu vor dem Fortschritte, Festhalten an den überlieferten Linien, Heilighaltung ursprünglicher Formen, unveränderliche Darstellung in allen Gestaltungen des Menschen und der Natur bei unbegreiflichen Einfällen in der Behandlung des Symboles. Es sind Bücher voll dunkeln Sinnes, welche nur die Eingeweihten zu entziffern wissen. Uebrigens hat bei ihnen jede Form und jede Mißgestaltung einen Sinn, der sie unverletzlich macht. Niemand fordere von den indischen, ägyptischen und romanischen Bauhütten, daß sie ihren Plan ändern oder ihre Bildhauerkunst vervollkommnen mögen. Jede Vervollkommnung ist bei ihnen Gottlosigkeit. Es scheint, als ob sich in diesen Bauwerken die Starrheit des Glaubensdogmas wie eine neue Versteinerung über den Stein verbreitet habe. – Im Gegensatze dazu sind die Haupteigenschaften der im Volke entstandenen Mauerwerke: Mannigfaltigkeit, der Fortschritt, Ursprünglichkeit, großer Reichthum und beständige Abwechslung. Sie sind schon hinlänglich von der Religion getrennt, um die Schönheit nicht zu vergessen, an diese ernstlich zu denken und die Ausschmückung ihrer Bildsäulen oder Arabesken unaufhörlich zu verbessern. Sie verrathen ihr Jahrhundert. Sie haben etwas Menschliches an sich, das sie beständig mit dem göttlichen Symbole vermengen, unter dessen Führung sie sich noch zeigen. Daher stammen nun Bauwerke, die von jedem Herzen, von jeder Intelligenz, von jeder Phantasie begriffen werden können, und wiewohl noch symbolischen Charakters, doch leicht wie die Natur zu verstehen sind. Zwischen der Priesterbaukunst und dieser findet ein Unterschied statt, wie derjenige zwischen einer frommen Sprache und der Volksrede, zwischen der Hieroglyphe und der Kunst, wie zwischen Salomo und Phidias.

Wenn wir das, was bis jetzt ganz summarisch angegeben worden ist, zusammenfassen, und dabei von zahllosen Beweisen und ebenso vielen Einwürfen absehen, so sind wir zu der Erkenntnis gelangt: daß die Baukunst bis zum fünfzehnten Jahrhunderte das Hauptbuch der Menschheit gewesen ist; daß in diesem Zeiträume nicht ein irgend verwickelter Gedanke in der Welt zu Tage getreten ist, der nicht Baudenkmal geworden wäre; daß jeder Volksgedanke, wie jedes Religionsgesetz seine Denkmäler gehabt hat; daß endlich das menschliche Geschlecht nichts Bedeutendes gedacht hat, was es nicht in Stein geschrieben hätte. Und warum? Deshalb, weil jeder Gedanke, mag er religiöser oder philosophischer Natur sein, sich zu verewigen ein Interesse hat; weil der Gedanke, der eine Generation aufgeregt hat, andere Generationen aufregen und seine Spur zurücklassen will. Ach, welche zweifelhafte Unsterblichkeit ist doch diejenige, welche in einer Handschrift liegt! Was ist doch ein Bauwerk für ein weit festeres, dauerhafteres und widerstandsfähigeres Buch! Um das geschriebene Wort zu vertilgen, genügt ein Schwamm und ein Türke. Um das aufgerichtete Wort zu vernichten, bedarfs eines gesellschaftlichen Umsturzes, einer Erdrevolution. Die Barbaren sind über das Colosseum hingegangen, die Sündflut ist vielleicht über die Pyramiden gebrandet. – Im fünfzehnten Jahrhunderte ändert sich alles.

Der menschliche Gedanke hat ein Mittel entdeckt, sich nicht nur dauerhafter und widerstandsfähiger, als durch die Baukunst? sondern auch einfacher und leichter fortzupflanzen » Die Architektur wird vom Throne gestoßen. An die Stelle der steinernen Buchstaben des Orpheus treten nun die bleiernen Lettern Guttenbergs.

Das Buch wird einst das Baudenkmal vernichten.

Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte. Es ist die fortzeugende Revolution. Es ist die Ausdrucksweise der Menschheit, welche sich vollständig verjüngt; es ist der menschliche Gedanke, welcher eine Form ablegt und dafür eine andere anzieht; es ist die vollständige und letzte Häutung jener symbolischen Schlange, die seit Adams Zeiten den Geist vorstellt.

In der Gestaltung durch Buchdruck ist der Gedanke unvergänglicher, denn je zuvor; er ist beflügelt, unfaßbar, unvertilgbar. Er vereinigt sich mit der Luft. Zur Blütezeit der Baukunst ward er zum Berge und nahm gewaltthätig von einem Orte und einem Jahrhunderte Besitz. Jetzt wird er zur Vogelschaar, zerstreut sich in alle vier Winde und hat zugleich alle Punkte des Himmels und der Erde inne.

Wir wiederholen es: wer sieht nicht, daß der Gedanke in dieser Gestalt noch viel unauslöschlicher ist? Von der Festigkeit, die er besaß, gelangte er zur Schnelligkeit. Von der Dauerhaftigkeit geht er zur Unsterblichkeit über. Man kann eine feste Substanz vernichten, wie aber will man die Allgegenwart vertilgen? Möge eine Sündflut kommen – die Berge werden schon längst unter den Fluten verschwunden sein, wenn die Vögel noch dahinfliegen; und wenn eine einzige Arche auf dem Spiegel der Wasserflut segelt, werden sie sich auf ihr niederlassen, werden mit ihr obenauf schwimmen, mit ihr das Fallen der Fluten erleben, und die neue Welt, die aus diesem Chaos hervorgeht, wird aufwachend über sich, beflügelt und luftig den Gedanken der versunkenen Welt dahinschweben setzen.

Und wenn man beachtet, daß diese Ausdrucksweise nicht nur die conservativste, sondern auch die einfachste, die bequemste, die für Alle thunlichste ist; wenn man überlegt, daß sie kein großes Gepäck mit sich führt und kein unbeholfenes Geräth fortschleppt; wenn man den Gedanken vergleicht, der, um in ein Baudenkmal sich zu übersetzen, gezwungen ist, vier oder fünf andere Künste und Tonnen Goldes, einen ganzen Berg von Steinen, einen ganzen Wald von Balken und ein ganzes Volk von Arbeitern in Aufruhr versetzt; wenn man ihn mit dem Gedanken vergleicht, der zum Buche wird, und dem ein wenig Papier, ein wenig Tinte und eine Feder genügt – wie will man sich darüber wundern, daß der menschliche Geist sich von der Baukunst zur Buchdruckerkunst gewendet hat? Man durchsteche plötzlich das ursprüngliche Bett eines Flusses, eines Kanales, der unter seinem Niveau ausgehöhlt ist, und der Fluß wird sein Bett verlassen.

Man beobachte also, wie seit der Erfindung der Buchdruckerkunst die Baukunst hinsiecht, abzehrt und verschwindet; wie man fühlt, daß das Wasser sinkt, der Saft vertrocknet, und daß der Gedankengang der Zeiten und der Völker sich von ihr abwendet! Die Abkühlung ist im fünfzehnten Jahrhunderte fast noch unmerklich, die Presse ist noch zu schwach und nimmt höchstens der mächtigen Baukunst etwas Lebensüberfluß ab. Seit dem sechzehnten Jahrhunderte aber ist die Krankheit der Baukunst ersichtlich: sie drückt das gesellschaftliche Leben schon nicht mehr in wesentlicher Weise aus; sie ändert sich in kläglicher Weise zur klassischen Kunst um; aus gallischer, europäischer, eingeborener Kunst wird sie zu griechischer und römischer, aus wahrer und moderner zur falschen Antike. Es ist jener Verfall, der die Renaissance benannt wird: immerhin noch ein glänzender Verfall; denn der alte gothische Genius, diese Sonne, welche hinter der riesigen Buchdruckerpresse von Mainz hinabsinkt, durchleuchtet mit ihren letzten Strahlen noch eine Zeit lang diese Bastardmasse aus lateinischen Bogenwölbungen und korinthischen Säulenhallen.

Und gerade diese untergehende Sonne halten wir für eine Morgenröthe.

Von dem Augenblicke an jedoch, wo die Baukunst nur noch eine Kunst ist, wie die andere, seitdem sie nicht mehr die Gesammtkunst, die unumschränkte, die tyrannische Kunst ist, hat sie die Macht nicht mehr, die andern Künste im Zaume zu halten. Sie machen sich somit frei, brechen das Joch des Baumeisters und schlagen jede einen Weg für sich ein. Jede von ihnen gewinnt bei dieser Entzweiung. Die Absonderung macht jede größer. Die Steinmetzkunst wird zur Bildhauerkunst, die Bildschnitzkunst zur Malerei, der strenge Kanon zur freien Musik. Man könnte die Baukunst ein Weltreich nennen, welches beim Tode seines Alexander zerfällt, und dessen Provinzen zu Königreichen werden.

Damit beginnt die Zeit Raphaeëls, Michel-Angelo’s, Johann Goujons und Palestrina’s, dieser Sterne des glanzvollen sechzehnten Jahrhunderts.

Zu gleicher Zeit mit den Künsten befreit sich der Gedanke allerwärts. Freigeister des Mittelalters hatten dem Katholicismus schon tiefe Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhundert zerreißt die Glaubenseinheit. Vor der Buchdruckerkunst wäre die Reformation nur eine Spaltung gewesen, die Erfindung des Buchdruckes macht sie zur Revolution. Man nehme die Presse weg, und die Ketzerei ist wirkungslos. Mag das verhängnisvoll oder von der Vorsehung bestimmt sein: Guttenberg ist der Vorläufer Luthers.

Doch als die Sonne des Mittelalters vollständig untergegangen, als das gothische Genie für immer am Horizonte der Kunst erstorben war, beginnt die Baukunst immer unscheinbarer zu werden, mehr und mehr zu verbleichen und zu erlöschen. Das gedruckte Buch, dieser Nagewurm des Gebäudes, zehrt sie auf und vertilgt sie. Sie entblößt, sie entblättert sich und nimmt zusehends ab. Sie ist dürftig, sie ist arm, sie ist nichtig. Sie drückt gar nichts mehr aus, nicht einmal die Erinnerung an die Kunst einer andern Zeit. Auf sich selbst beschränkt, verrathen von den andern Künsten, weil der menschliche Gedanke sie im Stiche läßt, zieht sie, aus Mangel an Künstlern, Handwerker an sich. Die Glasscheibe ersetzt das Kirchenfenster; der Steinhauer tritt an die Stelle des Bildhauers. Dahin ist jede Kraft, jede Ursprünglichkeit, jedes Leben, jeder Geist. Als klägliche Bettlerin vor der Werkstätte schleppt sie sich von Nachbildung zu Nachbildung. Michel-Angelo, der zweifelsohne merkte, wie sie seit dem sechzehnten Jahrhunderte hinstarb, hat einend letzten Gedanken gehabt, einen Gedanken der Verzweiflung. Dieser Titan der Kunst hatte das Pantheon auf das Pantheon gethürmt und Sanct-Peter in Rom geschaffen. Es ist ein gewaltiges Werk, welches verdiente, einzig in seiner Art zu bleiben, es ist das letzte ursprüngliche Werk der Baukunst, der Namenszug eines riesengroßen Künstlers auf dem Schlußblatte eines ungeheuern Buches von Stein, welches sich schloß. Als Michel-Angelo todt war, was thut da jene jämmerliche Baukunst, die sich in ihrem gespenstigen Schattendasein selbst überlebte? Sie macht sich an Sanct-Peter in Rom und formt ihn ab, parodirt ihn. Es ist ein Wahnwitz; es ist zum Erbarmen. Jedes Jahrhundert hat seinen Sanct-Peter von Rom: das siebzehnte Jahrhundert die Val-de-Grace-Kirche, das achtzehnte Sanct-Genoveva. Jedes Land hat seinen Sanct-Peter von Rom. London hat den seinigen; Sanct-Petersburg gleichfalls. Paris hat ihrer zwei oder drei. Es ist das nichtssagende Testament, die letzte Faselei einer großen, abgelebten Kunst, welche kindisch wird, ehe sie stirbt.

Wenn wir, anstatt der eigenartigen Baudenkmäler, wie die sind, von denen wir soeben gesprochen haben, das Gesammtaussehen der Kunst vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhunderte prüfen, so bemerken wir die nämlichen Erscheinungen des Verfalles und Hinsiechens. Seit der Zeit Franz des Zweiten verschwindet die architektonische Form der Bauwerke mehr und mehr und läßt die geometrische Form, ähnlich dem Knochenbaue eines abgemagerten Kranken, hervortreten. Die schönen Linien der Kunst weichen den kalten und strengen Linien der Geometrie. Ein Bauwerk ist nicht mehr ein Baudenkmal, es ist eine Zusammenstellung von Flächen. Dabei martert sich die Baukunst, diese Blöße zu verstecken. Daher finden wir den griechischen Giebel, welcher auf das römische Giebelfeld aufgesetzt wird, und umgekehrt. Es ist immer das Pantheon im Pantheon, der Sanct-Peter Roms. Daher stammen die Ziegelsteinhäuser mit Hartsteinecken aus Heinrichs des Vierten Zeit; die Place-Royale, die Place-Dauphine. Daher die Kirchen Ludwigs des Dreizehnten: plumpe, untersetzte, gedrückte und zusammengewürfelte Bauten, die eine Kuppel tragen, welche wie ein Buckel aussieht. Daher die Mazarin-Bauart, die schlechte italienische Stilpastete an den Quatre-Nations. Daher die Paläste Ludwigs des Vierzehnten: weite, steife, kalte und langweilige Hofschranzenkasernen. Daher endlich die Bauart aus Ludwigs des Fünfzehnten Zeit, mit ihren Cichorienblätter- und Fadennudelverzierungen und allen Warzen und Schwämmen, welche diesen alternden, hinfälligen, einer zahnlosen Kokette gleichenden Baustil verunstalten. Von Franz des Zweiten Zeiten bis zu Ludwig dem Fünfzehnten ist das Uebel im geometrischen Fortschritte gewachsen. Die Kunst besteht nur noch aus Haut und Knochen. Sie ringt in kläglicher Weise mit dem Tode.

Was wird unterdessen aus der Buchdruckerkunst? Jene ganze Lebenskraft, welche die Baukunst verläßt, geht zu ihr über. In dem Maße, wie die Baukunst niedersinkt, geht sie in die Höhe und wird groß. Dieser Reichthum an Kräften, den der menschliche Gedanke in Bauwerken verschwendete, gab er hinfort in Druckdenkmälern aus. Daher kämpft vom sechzehnten Jahrhunderte an die Presse, die über das Niveau der hinschwindenden Baukunst hinausgewachsen ist, mit ihr und tödtet sie. Im siebzehnten Jahrhunderte ist sie bereits unumschränkt, siegreich und in ihrem Siege befestigt genug, um der Welt das Schauspiel eines großen, wissenschaftlichen Jahrhunderts zu bieten. Im achtzehnten Jahrhunderte, nachdem sie lange Zeit am Hofe Ludwigs des Vierzehnten brach gelegen, ergreift sie das alte Schwert Luthers als Waffe Voltaire’s, und eilt mit lautem Geräusche zum Sturme auf jenes alte Europa, dessen Gedankenformen sie bereits in der Baukunst vernichtet hat. Im Augenblicke, wo das achtzehnte Jahrhundert zu Ende geht, hat sie alles zerstört. Im neunzehnten schickt sie sich an, wieder aufzubauen.

Aber, fragen wir jetzt, welche von den beiden Künsten spiegelt seit drei Jahrhunderten in der That den menschlichen Gedanken ab? Welche giebt ihn weiter? Welche drückt ihn aus, und zwar nicht etwa seine wissenschaftlichen Verirrungen und Schulthorheiten, sondern seine weitgehende, tiefe und allseitige Bewegung? Welche liegt gleichmäßig, ohne Riß und ohne Lücke über dem menschlichen Geschlechte, dem tausendfüßigen Ungethüme, das vorwärts eilt, ausgebreitet da? Die Baukunst oder die Buchdruckerkunst? – Die Buchdruckerkunst! Man wolle sich hierin nicht täuschen; die Baukunst ist todt, todt ohne Wiederkunft, vernichtet vom gedruckten Buche, vernichtet, weil sie nicht genug vorhält, vernichtet, weil sie zu theuer ist. Jede Kathedrale hat den Werth einer Milliarde. Man vergegenwärtige sich jetzt, welchen Aufwand von Mitteln es erfordern würde, um das architektonische Buch noch einmal zu schreiben; um Tausende von Bauwerken von neuem auf dem Erdboden zu errichten; um zu jenen Zeiten zurückzukehren, wo, nach Aussage eines Augenzeugen, die Menge der Baudenkmäler eine solche war, »daß man hätte sagen mögen, die Welt hätte, sich schüttelnd, ihre alten Gewandungen von sich geworfen, um sich mit einem weißen Kleide von Kirchen zu bedecken«. [Erat enim ut, si mundus, ipse excutiendo semet, rejecta vetustate, fandidam eccelsiarum vestem induceret. (Glaber Radulphus)]

Ein Buch ist so bald hergestellt, kostet so wenig und kann so weit gelangen! Wie darf man sich wundern, daß der ganze menschliche Gedankengang auf dieser Bahn dahineilt? Damit soll nicht gesagt sein, daß die Baukunst nicht noch hier und da ein schönes Baudenkmal, ein vereinzeltes Hauptwerk sein nennen wird. Unter der Herrschaft der Buchdruckerkunst wird man wohl von Zeit zu Zeit noch eine Säule aufweisen können, die, ich setze den Fall, von einem ganzen Heere, mit verschmolzenen Kanonen hergerichtet ist, wie man, unter der Herrschaft der Baukunst, Iliaden und Romanzeros, Mahabaratas und Nibelungen besaß, die von einem ganzen Volke aus angesammelten und mit einander verschmolzenen Heldenliedern geschaffen worden waren. Der Glücksfall, ein Baumeistergenie zu besitzen, wird im zwanzigsten Jahrhunderte ebenso unerwartet eintreten können, wie im dreizehnten derjenige mit Dante. Aber die Baukunst wird nicht mehr die Kunst der Gesellschaft, die Gesammtkunst, die herrschende Kunst sein. Die große Dichtung, das große Denkmal, das große Kunstwerk der Menschheit wird nicht mehr gebaut, es wird gedruckt werden.

Und künftighin, wenn die Baukunst sich neu belebt, wird sie nicht mehr die Gebieterin sein. Sie wird sich dem Gesetze der Wissenschaft unterwerfen, welche dasselbe einstmals von ihr erhielt. Die beiderseitigen Stellungen der zwei Künste werden zu einander im umgekehrten Verhältnisse stehen. Gewiß ist, daß in der Epoche der Baukunst die Dichterwerke selten und in Wahrheit den Baudenkmälern gleichen. In Indien ist die Vyasa bunt, sonderbar, unergründlich, wie eine Pagode. Im ägyptischen Morgenlande besitzt die Dichtkunst, wie die Gebäude, Größe und Ruhe der Linien; im alten Griechenlande Schönheit, Heiterkeit und Ruhe; im christlichen Europa die Erhabenheit des Katholicismus, volksthümliche Anmuth und das reiche und üppige Wachsthum einer Epoche der Wiedergeburt. Die Bibel gleicht den Pyramiden, die Ilias dem Parthenon, Homer dem Phidias. Dante im dreizehnten Jahrhunderte ist gleichsam die letzte romanische Kirche; Shakespeare im sechzehnten der letzte gothische Dom.

Um also das, was wir bis jetzt in einer nothwendigerweise unvollständigen und verstümmelten Art gesagt haben, zusammenzufassen, so hat das menschliche Geschlecht zwei Bücher, zwei Register, zwei Testamente: die Baukunst und die Buchdruckerkunst, die Bibel aus Stein und die Bibel aus Papier. Wenn man diese zwei, im Laufe der Jahrhunderte so weit geöffneten Bibeln betrachtet, so ist es gewiß erlaubt, über die offenbare Erhabenheit der granitnen Schrift, über diese riesigen in Colonnaden, in Portale, in Obelisken geformten Alphabete, über diese von Menschenhänden aufgerichteten Berge zu trauern, die von der Pyramide des Cheops an bis zum Straßburger Münster die Welt und die Vergangenheit bedecken. Man soll die Vergangenheit auf diesen marmornen Blättern wiederlesen, man muß das von der Baukunst geschriebene Buch bewundern und fortwährend wieder durchblättern; aber man darf die Größe des Denkmales nicht in Abrede stellen, das sich auch seinerseits die Buchdruckerkunst aufrichtet.

Dieses Denkmal ist riesenhaft. Ich weiß nicht, welcher Statistiker ausgerechnet hat, daß, wenn man alle aus der Presse seit Guttenberg hervorgegangenen Bände über einander aufschichtete, der Raum zwischen Erde und Mond ausgefüllt werden würde; von dieser Art Größe wollen wir aber gar nicht reden. Wenn man indessen ein vollkommenes Bild von der Gesammtheit der Buchdruckserzeugnisse bis auf unsere Zeit für seine Vorstellung zu bekommen sucht, erscheint uns dann diese Gesammtheit nicht wie ein ungeheures Gebäude, welches auf der ganzen Welt ruht, in welchem die Menschheit ununterbrochen arbeitet, und dessen Giebel im tiefen Dunkel der Zukunft verschwindet? Es ist das Durcheinander geistiger Kräfte, der Bienenstock, nach welchem alle Phantasien, diese goldschimmernden Bienen, mit ihrem Honige eilen. Der Bau hat unzählige Stockwerke. Hier und da sieht man die dunkeln Gänge der Wissenschaft, welche sein Inneres durchschneiden, nach den Zugängen hin ausmünden. Ueberall an seiner Außenseite zeigt die Kunst ihre reichverschlungenen Arabesken, ihre Rosetten, ihre spitzenartigen Verzierungen. Da hat jeder einzelne Bau, so phantastisch-launenhaft und abgesondert er auch erscheinen mag, seine Stelle und seine Wirkung. Harmonisches Zusammenwirken ergiebt sich aus dem Ganzen. Von der Shakespeare-Kathedrale an bis zur Byron-Moschee erheben sich unzählige Thürme in buntem Gemisch über diese Metropole des Weltgedankens. An der Grundmauer des Baues hat man einige alte Urkunden der Menschheit, welche die Baukunst nicht verzeichnet hatte, niedergeschrieben. Links vom Eingange hat man das alte, weißmarmorne Homer-Basrelief eingefügt, rechts erhebt die Polyglottenbibel ihre sieben Häupter. Der Romanzero-Drache sträubt sich weiterhin; auch einige andere Bastardformen, die Vedas und die Nibelungen. Uebrigens bleibt dieser wunderbare Bau ewig unvollendet. Die Presse, diese Riesenmaschine, welche ohne Unterlaß alle geistigen Säfte der Gesellschaft einsaugt, speit unaufhörlich neues Arbeitsmaterial für sein Werk aus. Das ganze Menschengeschlecht ist vollzählig auf dem Baugerüst; jeder Geist ist Maurer. Der Niedrigste verstopft ein Loch und legt einen Stein auf. Rétif de la Bretonne bringt seine Bütte voll Gypsmörtel herbei. Täglich wird eine neue Schicht aufgerichtet. Unabhängig von der selbstständigen und persönlichen Beisteuer jedes Schriftstellers finden sich Sammelbeiträge. Das achtzehnte Jahrhundert giebt die » Encyklopädie«, die große französische Revolution den » Moniteur«. Gewiß, auch da haben wir einen Bau, der wächst und sich in endlosen Spirallinien aufthürmt; auch da giebt es eine Sprachverwirrung, unendliche Thätigkeit, unermüdliche Arbeit, einen erbitterten Wettkampf der ganzen Menschheit, aber auch einen Zufluchtsort, welcher dem Geiste gegen eine neue Sündflut, gegen ein Versinken in Barbarei gesichert ist. Es ist der neue babylonische Thurm des Menschengeschlechtes.

  1. [Die älteste Form des keltischen Steinbaues.]
  2. [Der keltische Druidentempel.]
  3. [Der Grabhügel der Etrusker.]
  4. [Der altjüdische Begräbnisplatz. Anm. d. Uebers.]
  5. [ Lateinisch: Weil ich Löwe heiße. Anm. d. Uebers.]

1. Unparteiischer Blick auf den alten Richterstand.

Eine vom Glücke sehr begünstigte Person war im Jahre der Gnade 1482 der Edelmann Robert von Estouteville, Ritter, Herr auf Beyne, Baron von Ivry und Saint-Andry in der Marche, Rath und Kammerherr des Königs und Vorsteher des Gerichtsamtes von Paris. Vor schon fast siebzehn Jahren, am 7. November 1465, im Kometenjahre, 111 hatte er vom Könige diese schöne Stellung im Gerichtsamte von Paris erlangt, die eher für eine Lehnsherrlichkeit, als für ein Amt gehalten wurde. » Dignitas« sagt Johannes Loemnoeus, »quae cum non exigua potestate politiam concernente, atque praerogativis multis et juribus conjuncta est.« 112 Wunderbar war es, daß im Jahre 1482 ein Edelmann ein Amt des Königs innehatte, über welches die Bestallungsurkunde bis zur Zeit der Verheirathung der natürlichen Tochter Ludwigs des Elften mit dem Herrn Bastard von Bourbon zurückdatirte. Am selben Tage, an welchem Robert von Estouteville den Jacob von Villiers beim Gerichtsamte von Paris ersetzt hatte, trat Johann Dauvet für den gestrengen Herrn Hélye von Thorlettes in das Amt des Oberpräsidenten beim Parlamentsgerichtshofe ein, verdrängte Johann Jouvenel-des-Ursins den Peter von Morvilliers aus dem Kanzleramte von Frankreich, entfernte Regnault-des-Dormans den Peter Puy aus seinem Amte als Chef der Bittschriftenkanzlei im königlichen Palaste. Nun! über wie viele Häupter waren das Präsidentenamt, die Kanzlerwürde und der Requêtenmeisterposten hinweggegangen, seitdem Robert von Estouteville seine Pariser Gerichtsamtswürde innehatte! Sie war ihm »in Obhut gegeben worden«, wie der Bestallungsbrief besagte; und gewiß, er nahm sie in gute Obhut. Er hatte sich an sie geklammert, war mit ihr verkörpert, war so vollkommen mit ihr eins geworden, daß er jener Veränderungswuth entgangen war, die Ludwig der Elfte, der mißtrauische, geizige, arbeitsame König besaß, welcher durch häufige Anstellungen und Abberufungen die Willkür seiner Macht dauernd zu erhalten bedacht war. Noch mehr: der tapfere Ritter hatte für seinen Sohn die Anwartschaft auf sein Amt erhalten, und schon seit zwei Jahren prangte der Name des edeln Herrn Jacob von Estouteville, des Junkers, neben dem seinigen am Kopfe des Civilregisters des Pariser Gerichtsamtes. Gewiß eine seltene und ungewöhnliche Gunst! Wahr ist, daß Robert von Estouteville ein guter Soldat war, daß er königlich gesinnt das Banner gegen »die Liga des Volkswohles« 113 erhoben, und der Königin am Tage ihres Einzuges in Paris im Jahre 14.. einen höchst wundervollen Hirsch aus Confect überreicht hatte. Ferner stand er mit Herrn Tristan l’Hermite, dem Obersten der Wache des königlichen Schlosses auf einem freundschaftlichen Fuße. Es war also eine recht angenehme und bequeme Stellung – diejenige des gestrengen Herrn Robert. Einmal hatte er sehr gute Besoldung, mit der, wie Trauben extra in seinem Weinberge, die Sporteln der Civil- und Criminalkanzleien des Gerichtsamtes, ferner die Sporteln der Civil- und Criminalkammern von Embas-du-Chatelet verbunden waren und von ihr abhingen, manchen kleinen Zoll von den Brücken zu Mantes und zu Corbeil, und die Einnahmen aus der Abgabe auf die Pariser Samenhändler, auf die Holz- und Salzmesser gar nicht zu rechnen. Dazu denke man sich das Vergnügen, bei Amtsritten durch die Stadt sich zu zeigen, und über die halb rothen, halb lohfarbenen Röcke der Schöffen und Viertelsmeister sein schönes Kriegsgewand hinleuchten zu lassen, das man heute noch in Stein gemeißelt auf seinem Grabmale in der Abtei Valmont in der Normandie, wie seine Pickelhaube in ganz getriebener Arbeit zu Montlhéry bewundern kann. Und dann, war es etwa nichts, über etwa ein Dutzend Gerichtsdiener, über den Schloßvogt und Commandanten vom Châtelet, über die zwei Gerichtsbeisitzer des Châtelet (auditores Castelleti), über die sechzehn Polizeicommissäre der sechzehn Quartiere, den Kerkermeister des Châtelet, die vier Lehnspolizeidiener, über die hundertundzwanzig berittenen und die hundertundzwanzig stocktragenden Gerichtsdiener, über den Commandanten der Scharwache mit seiner Wachrunde, seiner Unterwache, seiner Gegen- und Nachrunde jede Gewalt zu besitzen? War es nichts, höhere und niedere Gerichtsbarkeit auszuüben, war es nichts, daß er die Macht besaß, Pranger stehen, hängen und schleifen zu lassen, ganz zu geschweigen von der niedern Rechtspflege in erster Instanz (in prima instancia, wie die Urkunden sagen) über den ganzen Amtsgerichtsbezirk von Paris, der so würdig mit dem Einkommen von sieben adligen Balleien ausgestattet war? Kann man sich wohl etwas Angenehmeres denken, als Haftsbefehle und Urtheile zu erlassen, wie der gestrenge Herr Robert von Estouteville in Groß-Châtelet unter dem weiten und flachen Gewölbebaue Philipp Augusts alle Tage that? Und, wie er gewohnheitsgemäß jeden Abend pflegte, in jenes hübsche Haus in der Rue Galilée, im Bezirke des Königspalastes, heimzukehren, welches er als Ehegespons seiner Gemahlin, der Frau Ambroise von Loré, besaß, und von der Anstrengung auszuruhen, irgend einen armen Teufel seinerseits die Nacht »in jenem kleinen Zellchen der Rue-de-l’Escorcherie zubringen zu lassen, in welcher die Richter und Schöffen von Paris ihr Gefängnis herrichten wollten; welches besagte Zellchen elf Fuß in der Länge, sieben Fuß und vier Zoll in der Breite und elf Fuß in der Höhe maß?« 114

Und nicht nur besaß der gestrenge Herr Robert von Estouteville seine eigene Justizpflege als Amtsrichter und Gerichtsverwalter von Paris, sondern er hatte auch Sitz und Gewalt über Tod und Leben im hohen Gerichtshöfe des Königs. Es gab kein irgendwie stolzes Haupt, das ihm nicht durch die Hände gegangen wäre, ehe es dem Henker zufiel. Er war es gewesen, der den Herrn von Nemours aus der Bastille Saint-Antoine abholte, um ihn nach den Hallen zu geleiten; der den Herrn von Saint-Pol nach dem Grèveplatz brachte, welcher heulte und schrie zur großen Freude des Herrn Oberrichters, der dem Herrn Connetable nicht gewogen war.

Das alles betrachtet, fürwahr, was bedurfte es mehr, um ein glückliches und glänzendes Leben zu führen, und um eines Tages eine bemerkenswerthe Stelle in jener interessanten Geschichte der Oberrichter von Paris einzunehmen, aus der man erfährt, daß Oudard von Villeneuve ein Haus in der Rue-des-Boucheries besaß, daß Wilhelm von Hangest das große und kleine Savoyerhaus kaufte, daß Wilhelm Thibouft den Nonnen der heiligen Genoveva seine Häuser in der Rue Clopin schenkte, daß Hugo Aubriot im Palaste von Porc-Epic wohnte, und andere Familienverhältnisse mehr?

Gleichwohl, und bei so viel Veranlassungen, sein Leben in Ruhe und Freude zu genießen, war der gestrenge Herr Robert von Estouteville am Morgen des 7. Januar 1482 sehr mürrisch und mit einem wahren Teufelshumor erwacht. Woher kam diese Stimmung? Das hätte er selbst nicht zu sagen vermocht. Vielleicht deshalb, weil der Himmel trübe war? Weil die Schnalle seines alten Degenkoppels (wie in Montlhery zu sehen) schlecht geschnallt war und seien Oberrichterbauch zu soldatisch zusammenschnürte? Weil er auf der Straße unter seinem Fenster liederliche Gesellen, die ihn verhöhnten, vier Mann hoch, im Wamms ohne Hemde, in ganz zerrissenen Hüten, mit Quersack und Flasche an der Seite hatte vorübergehen sehen? War es das dunkle Vorgefühl vom Verluste der dreihundertundsiebzig Livres sechzehn Sols und acht Heller, um welche der künftige König Karl der Achte im nächsten Jahre die Einnahmen des Oberrichteramtes beschneiden sollte?

Der Leser hat die Wahl; was uns anbelangt, so möchten wir uns ganz einfach zu dem Glauben bekennen, daß er schlechte Laune hatte, eben weil er schlechte Laune hatte.

Uebrigens war es der Tag nach einem Feste, ein Tag voll Langeweile für jedermann, und namentlich für die Behörde, deren Aufgabe es im eigentlichen wie bildlichen Sinne war, alle den Schmutz bei Seite zu schaffen, den ein Fest in Paris verursacht. Und dann sollte er in Groß-Châtelet Sitzung abhalten. Nun hat man bemerkt, daß die Richter sich gewöhnlich so einrichten, daß ihr Sitzungstag auch der Tag ihrer schlechten Laune ist, damit sie immer jemanden haben, an welchem sie diese mit aller Bequemlichkeit im Namen des Königs, des Gesetzes und der Gerechtigkeit ausüben können.

Indessen die Sitzung ohne ihn begonnen. Seine Beisitzer für Civil-, Straf- und Privatstreitfälle versahen, dem Gebrauche gemäß, sein Amt; und von acht Uhr des Morgens an wohnten etliche Dutzend Bürger und Bürgerinnen, die in einem dunkeln Winkel des Gerichtssaales im Erdgeschosse Châtelet zwischen einer starken eichenen Schranke und der Mauer zusammengedrängt und eingepfercht standen, mit Genugthuung dem wechselnden und unterhaltenden Schauspiele der Civil- und Criminalrechtspflege bei, welche von Meister Florian Barbedienne, dem Untersuchungsrichter im Châtelet und Beisitzer des Herrn Oberrichters, ein wenig bunt durch einander und ganz aufs Gerathewohl abgehalten wurde.

Der Saal war klein, niedrig und gewölbt. Im Hintergrunde befand sich ein mit Lilien 115 geschmückter Tisch, nebst einem großen hölzernen Lehnstuhle aus geschnitztem Eichenholze, der leer war und dem Oberrichter gehörte, zur Linken ein Schemel für den Untersuchungsrichter Meister Florian. Untenan befand sich der Gerichtsschreiber, welcher schrieb. Gegenüber aber stand das Volk; und vor der Thüre, und vor dem Tische eine große Zahl Gerichtsdiener des Obergerichtsamtes, in Röcken aus violettem Wollenstoffe mit weißen Kreuzen. Zwei Diener des Rathszimmers für die Bürgerschaft, in ihre Jacken des Allerheiligenfestes, halb roth und halb blau gekleidet, hielten Wache vor einer niedrigen verschlossenen Thüre, die man hinter dem Tische in der Wand bemerkte. Ein einziges Spitzbogenfenster, das schmal in die dicke Mauer eingezwängt war, beleuchtete mit dem bleichen Scheine eines Januartages zwei wunderliche Gestalten: den phantastischen Teufel aus Stein, der als Deckenzierat in den Schlußstein des Gewölbes gemeißelt war, und den Richter, der im Hintergrunde des Saales bei den Lilien saß.

In Wirklichkeit denke man sich am Oberrichtertische, zwischen zwei Aktenstößen, Meister Florian Barbedienne, den Untersuchungsrichter im Châtelet, auf seine Ellbogen gestützt, den Fuß auf der Schleppe seines Kleides aus glattem, braunen Stoffe ruhend, in der Schaube aus weißem Lämmerfelle das rothe widerwärtige Gesicht, dessen Brauen ausgerissen schienen, wie er mit dem Auge zwinkert und würdevoll seine fetten Backen herauspreßt, die sich unter dem Kinne zusammenwulsteten.

Nun war der Untersuchungsrichter aber taub, – ein unbedeutender Fehler für einen Untersuchungsrichter. Meister Florian fällte deswegen nichts desto weniger seine Urtheile sehr angemessen und in letzter Instanz. Sicherlich genügt es, wenn ein Richter Miene macht, die Parteien anzuhören; und der ehrenwerthe Untersuchungsrichter erfüllte diese Bedingung, die einzige wesentliche bei einer guten Justizpflege um so besser, als seine Aufmerksamkeit von keiner Störung abgelenkt werden konnte.

Uebrigens hatte er im Gerichtssaale einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Bewegungen in der Person unseres Freundes Johann Frollo du Moulin, jenes kleinen Studenten von gestern, jenes »Herumstreichers«, den man sicher war, immer und überall in Paris zu treffen, nur nicht vor dem Katheder der Professoren.

»Halt,« sagte er ganz leise zu seinem Kameraden Robin Poussepain, der neben ihm kicherte, während daß er allerlei Glossen zu den Scenen machte, die sich unter ihren Augen abspielten, »da ist ja Hannchen du Buisson, die Tochter des Tagediebes auf dem Marché-Neuf! – Bei meiner Seele, er verurtheilt sie, der Alte! Er hat also ebenso wenig Augen, als Ohren. Fünfzehn Sols vier Deniers Pariser Münze dafür, daß sie zwei Gebetsrosenkränze getragen hat! Das ist ein wenig theuer. Lex duri carminis 116 – Wer ist das da? Robin Chief de Ville, der Panzerlehnträger! – Damit er Meister geworden und als solcher in genanntes Handwerk aufgenommen worden ist? – Das ist sein Antrittsgeld. – Ei! zwei Edelleute unter diesen Schuften! Aiglet von Soins, Hutin von Mailly. Zwei Junker, corpus Christi! 117 Aha! sie haben Würfel gespielt. Wann werde ich hier einmal unsern Rector sehen? Hundert Livres Pariser Münze als Buße an den König! Der Barbedienne schlägt drauf los wie ein Tauber – was er auch ist! – Ich will mein Bruder, der Archidiaconus, sein, wenn mich das irgendwie zu spielen hindert, zu spielen am Tage, zu spielen des Nachts, für das Spiel zu leben, für das Spiel zu sterben und meine Seele nach meinem Hemde zu verspielen! – Heilige Jungfrau, wie viel Mädchen sind das! Eine nach der andern, meine Schäfchen! Ambroise Lécuyère! Isabeau La Paynette! Berarde Gironin! Ich kenne sie alle, bei Gott! Zur Geldstrafe verurtheilt! Zur Geldbuße! Da ist er, der euch lehren wird, vergoldete Gürtel zu tragen! Zehn Sols Pariser Münze, ihr Gefallsüchtigen! – Oh! die alte Fratze von Richter, taub und dumm! Oh! der Tölpel Florian! Oh! der Klotz Barbedienne! Seht ihn nur am Tische! Er zehrt vom Kläger, er zehrt vom Processe, er zehrt, er kaut, er mästet sich, er füllt sich den Bauch. Geldbußen, herrenlose Güter, Taxen, Kosten, gesetzmäßige Gebühren, Löhne, Schadenersätze und Zinsen, Tortur und Gefängnis, Stockhaus und Fesseln mit Verlusten am Vermögen – das sind für ihn Weihnachtsstollen und Johannisfestmarzipan! Sieh ihn nur an, das Schwein! – Sieh da! vortrefflich! noch ein verliebtes Frauenzimmer! Thibaud la Thibaude nicht mehr und nicht weniger! – Dafür daß sie die Rue Glatigny verlassen hat! – Wer ist jener Bursche? Gieffroy Mabonne, der Rottenführer bei den Handbogenschützen. Er hat den Namen Gottes gelästert. – Zur Geldstrafe die Thibaude, zur Buße den Gieffroy verdammt! Zur Buße alle beide! Der alte taube Schuft! er hat beide Fälle unter einander werfen müssen! Zehn gegen eins, daß er dem Mädchen die Lästerung und dem Gendarmen die Liebesbrunst entgelten läßt! – Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen werden sie jetzt hereintransportiren? Sieh nur die zahlreichen Gerichtsdiener! Beim Jupiter! alle Fanghunde von der Meute sind dabei. Das muß der Hauptfang von der Jagd sein. Ein Wildschwein. – Es ist eins, Robin, es ist eins. Und ein schönes dazu! – Hercle! 118 es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpapst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unsere Fratze von Menschen! Es ist Quasimodo! …« Nichts Geringeres, als er war es.

Es war Quasimodo, zusammengeschnürt, mit Stricken umwunden, gefesselt und mit gebundenen Händen, unter starker Bewachung. Der Trupp Gerichtsdiener, welcher ihn umringte, erschien unter persönlicher Führung des Hauptmanns von der Scharwache, der das gestickte Wappen von Frankreich auf der Brust und dasjenige der Stadt Paris auf dem Rücken trug. Uebrigens war an Quasimodo, seine Mißgestalt abgerechnet, gar nichts zu bemerken, was diesen Aufwand von Hellebarden und Hakenbüchsen rechtfertigen konnte; er war finster, schweigsam und ruhig. Kaum warf sein einziges Auge von Zeit zu Zeit einen tückischen und zornigen Blick auf die Fesseln, welche ihn belasteten. Den nämlichen Blick ließ er, aber so erloschen und schläfrig, über seine Umgebung gleiten, daß die Weiber nur mit dem Finger auf ihn hinwiesen, um ihn auszulachen.

Unterdessen durchblätterte Meister Florian, der Untersuchungsrichter, die Akten der gegen Quasimodo gerichteten Anklage, die ihm der Gerichtsschreiber überreichte; und als er einen Blick hineingeworfen, schien er einen Augenblick mit sich zu Rathe zu gehen. Dank dieser Vorsicht, welche er stets Sorge getragen hatte zu beobachten, ehe er an ein Verhör ging, wußte er zum voraus Namen, Verhältnisse und Vergehen des Angeklagten, machte vorherbedachte Einwürfe auf vorausgesehene Antworten, und verstand es, sich aus allen Windungen des Verhöres herauszuziehen, ohne seine Taubheit allzusehr errathen zu lassen. Die Proceßakten waren für ihn der Hund des Blinden. Wenn es ja zufällig geschah, daß sein Gebrechen sich hier und da durch irgend eine Anrede außer dem Zusammenhange, oder durch eine unverständliche Frage verrieth, so galt das für tiefe Weisheit bei den einen, oder für Geistesschwäche bei den andern. In beiden Fällen erlitt die Ehre des Richterstandes keine Beeinträchtigung; denn es ist immer noch besser, daß ein Richter für dumm oder tiefsinnig, als für taub gehalten wird. Er wandte daher große Sorgfalt an, den Augen aller seine Taubheit zu verbergen; und es gelang ihm dieses für gewöhnlich so gut, daß er dahin gekommen war, sich selbst Täuschung zu bereiten; was übrigens leichter ist, als man glauben will. Alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte einher, alle Stotterer sprechen viel und laut, und alle Tauben sprechen leise. Was ihn betraf, so hielt er sein Gehör höchstens für ein wenig hart. Das war das einzige Zugeständnis, welches er nach dieser Seite hin, in Augenblicken von Offenherzigkeit und Gewissensprüfung der öffentlichen Meinung machte.

Nachdem er also die Angelegenheit Quasimodo’s hinlänglich erwogen hatte, warf er den Kopf in den Nacken und schloß, um würdevoller und unparteiischer zu erscheinen, die Augen zur Hälfte, was ihm so gut gelang, daß er in diesem Augenblicke taub und blind zugleich war – ein zwiefaches Erfordernis, ohne das kein vollkommener Richter existirt. In dieser gebieterischen Haltung begann er nun das Verhör.

»Euer Name?«

Nun aber lag hier ein Fall vor, welcher »im Gesetze nicht vorhergesehen« war: nämlich derjenige, daß ein Tauber in die Lage kommen könne, einen Tauben zu verhören. Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage vernahm, sah den Richter immer starr an und gab keine Antwort. Der taube Richter, den auch niemand auf die Taubheit des Angeklagten aufmerksam machte, glaubte, daß dieser, wie alle Angeklagten gewöhnlich thaten, geantwortet hätte, und fuhr in seiner gedankenlosen und albernen Zuversicht fort:

»Gut. Euer Alter?«

Quasimodo antwortete ebenso wenig auf diese Frage. Der Richter hielt sie für beantwortet und fuhr fort:

»Und nun Euer Stand?«

Immer das nämliche Schweigen. Die Zuhörer begannen indessen zu zischeln und sich unter einander anzusehen.

»Es ist genug,« fuhr der Richter ohne Beirrung fort, da er annahm, daß der Angeklagte seine dritte Antwort beendet hätte. »Ihr seid bei Uns verklagt: primo, wegen nächtlicher Ruhestörung; secundo, wegen unsittlicher Angriffe auf eine liederliche Dirne, in präjudicium meretricis; 119 tertio, wegen Widerstandes und Unehrerbietigkeit gegen die Häscher von der Ordonnanz Seiner Majestät des Königs, unseres gnädigen Herrn. Aeußert Euch über alle diese Punkte. – Schreiber, habt Ihr das, was der Angeklagte bis jetzt ausgesagt hat, niedergeschrieben?«

Bei dieser unglücklichen Frage erhob sich vom Platze des Schreibers an bis zur Zuhörerschaft hin ein so lautes, unmäßiges, ansteckendes und allgemeines Gelächter, daß es selbst die beiden Tauben bemerken mußten. Quasimodo wandte sich verächtlich um und zog seinen Buckel in die Höhe, während daß Meister Florian, der wie jener erstaunt und in der Meinung war, daß das Gelächter der Zuhörer durch irgend welche ehrerbietungslose Antwort des Angeklagten, die er aus dessen Achselzucken ersah, hervorgerufen worden wäre, ihn entrüstet anfuhr:

»Schlingel, Ihr habt mir da eine Antwort gegeben, welche jedenfalls den Strick verdienen dürfte! Wißt Ihr, mit wem Ihr redet?«

Dieser Zornausbruch war nicht dazu angethan, das Losbrechen allgemeiner Heiterkeit zu verhindern. Er erschien allen so seltsam und närrisch, daß das unbändige Gelächter sogar im Rathszimmer für die Bürgerschaft die Gerichtsdiener ergriff, eine Sorte von Piekenträgern, bei denen der Stumpfsinn doch zur Uniform gehörte. Quasimodo allein bewahrte seinen Ernst, und mit gutem Grunde; denn er begriff nichts von dem, was sich rings um ihn herum ereignete. Der Richter, welcher immer gereizter wurde, glaubte in demselben Tone fortfahren zu müssen, und hoffte damit den Angeklagten in solchen Schrecken zu versetzen, daß dieser auf die Zuhörerschaft zurückwirken und sie wieder zur Ehrfurcht bringen würde.

»Ich muß Euch begreiflich machen, Ihr Schelm und Spitzbube, daß Ihr Euch erlaubt, es am schuldigen Respect fehlen zu lassen gegen den Untersuchungsrichter beim Chatelet, gegen einen Beamten, der mit dem öffentlichen Sicherheitsdienste von Paris betraut ist, der die Obliegenheit hat, nach Verbrechen, Vergehen und schlechtem Gesindel zu forschen; alle Erwerbszweige zu beaufsichtigen und jedes Vorrecht zu verbieten; der das Straßenpflaster zu unterhalten hat; der die Hökereien mit Federvieh, Geflügel und Wildpret verhindern muß; der das Brennholz und andere Holzsorten messen, die Stadt vom Unrath und die Luft von ansteckenden Krankheitsstoffen reinigen zu lassen hat; der sich unausgesetzt dem öffentlichen Wohle widmen muß – kurz alles ohne Gehalt und Aussichten auf Belohnung! Wißt Ihr, daß ich Florian Barbedienne heiße, wirklicher Stellvertreter des Herrn Oberrichters, außerdem Bevollmächtigter, Untersuchungsbeamter, Oberaufseher und Prüfungsbeamter mit gleicher Machtbefugnis beim Gerichtsamte, Amtsbezirke, Verwaltungsamte und beim Obergerichte bin! …«

Spricht ein Tauber zu einem Tauben, so ist kein Grund vorhanden, daß er in seiner Rede innehält. Gott weiß, wo oder wann Meister Florian, nachdem er einmal mit allen Segeln auf das Gebiet der hohen Beredtsamkeit hinausgesteuert war, gelandet sein würde, wenn die niedrige Pforte im Hintergrunde sich nicht plötzlich geöffnet und dem Herrn Oberrichter in eigener Person nicht Zutritt gegeben hätte.

Bei seinem Eintritte blieb Meister Florian nicht stecken, sondern machte auf seinen Hacken eine Wendung zur Seite und richtete die Anrede, mit der er einen Augenblick zuvor Quasimodo angedonnert hatte, ganz unerwartet an den Oberrichter: »Gnädiger Herr,« sagte er, »ich beantrage eine so schwere Strafe, wie es in Eurem Belieben liegen wird, gegen den hier anwesenden Angeklagten wegen schweren und unerhörten Vergehens gegen die Obrigkeit.« Darauf setzte er sich ganz außer Athem nieder und trocknete große Schweißtropfen ab, die von seiner Stirne herabfielen und wie Thränen die vor ihm ausgebreiteten Pergamentrollen anfeuchteten. Der gestrenge Herr Robert von Estouteville runzelte die Stirn und machte Quasimodo eine dermaßen befehlende und ausdrucksvolle Geberde, aufzumerken, daß der Taube etwas von dem, worum es sich handelte, begriff.

Der Oberrichter richtete mit Härte das Wort an ihn: »Was hast du, Schurke, verbrochen, daß du hier bist?«

Der arme Teufel, welcher vermeinte, daß der Oberrichter ihn nach seinem Namen fragte, brach das Schweigen, welches er gewöhnlich beobachtete, und antwortete mit rauher Kehlstimme:

»Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig zur Frage, daß das tolle Gelächter sich wieder zu erneuern begann, und Herr Roberts roth vor Zorn, ausrief:

»Höhnst du auch mich, du Erzschlingel?«

»Glöckner in Notre-Dame,« antwortete Quasimodo, der da glaubte, es handelte sich darum, dem Richter auseinanderzusetzen, wer er wäre.

»Glöckner!« entgegnete der Oberrichter, der, wie wir erzählt haben, am Morgen mit gerade schlechtem Humor genug erwacht war, als daß seine Wuth durch so ungehörige Antworten noch gereizt zu werden brauchte. »Glöckner! Ich werde dir an den Straßenecken von Paris ein Geläute mit Gerten auf den Rücken schreiben lassen. Hörst du, Schurke?«

»Wenn es mein Alter ist, was Ihr zu wissen wünscht,« sagte Quasimodo, »so glaube ich, daß ich am Sanct-Martinstage zwanzig Jahre alt sein werde.«

In der That das war zu viel; der Oberrichter vermochte nicht an sich zu halten«

»Ha! du verhöhnst den Gerichtshof, Elender! Stockmeister, Ihr werdet mir diesen Schurken zum Schandpfahl auf dem Grèveplatz führen, werdet ihn aushauen und eine Stunde lang auf dem Rade drehen. Er soll es mir büßen, beim Haupte unseres Heilandes! und ich will, daß gegenwärtiges Urtheil unter Beistand von vier vereideten Trompetern in den sieben Bezirken des Amtsgerichtssprengels von Paris öffentlich ausgerufen werde.«

Der Gerichtsschreiber schickte sich an, das Urtheil unverzüglich zu Papier zu bringen.

»Alle Wetter, das nenne ich mir da ein gutes Urtheil gefällt haben!« rief aus seiner Ecke der kleine Studiosus Johann Frollo du Moulin.

Der Oberrichter wandte sich um und heftete von neuem seine funkelnden Blicke auf Quasimodo. »Ich glaube gar, der Schurke hat gerufen ›alle Wetter!‹ Gerichtsschreiber, setzt zwölf Heller Pariser Münze als Buße für sein Fluchen hinzu, und daß das Kirchenvermögen von Sanct-Eustache die Hälfte davon erhalten soll. Ich besitze eine besondere Verehrung für den heiligen Eustache.«

In wenigen Minuten war das Urtheil fertig. Sein Wortlaut war einfach und kurz. Das Rechtsverfahren des Bezirks- und Amtsgerichtssprengels von Paris war noch nicht vom Präsidenten Thibaut Baillet und von Roger Barmne, dem Advowten des Hofes, ausgearbeitet worden; es war damals nicht von jenem undurchdringlichen Dickicht von Kniffen und Instanzenwegen überwuchert, welches diese beiden Rechtsgelehrten im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts auf dasselbe pfropften. Alles war in ihm klar, rasch und deutlich. Man ging darin gerade auf das Ziel los, und man bemerkte am Ende jedes Rechtsweges, unversteckt und ohne Windung, Rad, Galgen oder Schandpfahl. Man wußte wenigstens, wohin man gelangte.

Der Schreiber überreichte dem Oberrichter das Urtheil, welcher sein Siegel daruntersetzte und davonging, um durch die Gerichtssäle seinen Rundgang in einer Gemüthsstimmung fortzusetzen, welche heute alle Gefängnisse von Paris bevölkern mußte. Johann Frollo und Robin Poussepain lachten ins Fäustchen. Quasimodo sah allem mit gleichgültiger und erstaunter Miene zu. Gleichwohl fühlte der Gerichtsschreiber im Augenblicke, wo Meister Florian Barbedienne seinerseits das Urtheil durchlas, um es zu unterzeichnen, sich von Mitleid für den armen Teufel von Verurtheilten bewegt, und in der Hoffnung, eine kleine Herabsetzung der Strafe zu erlangen, näherte er sich so viel er konnte dem Ohre des Untersuchungsrichters und sagte zu ihm, während er auf Quasimodo hindeutete: »Dieser Mensch ist taub.« Er hoffte, daß dieses gemeinschaftliche Gebrechen das Interesse Meister Florians für den Verurtheilten erwecken würde. Aber einmal haben wir schon bemerkt, daß Meister Florian sich nichts daraus machte, daß man seine Taubheit merkte. Dann aber war er so harthörig, daß er kein, Wort von dem vernahm, was der Gerichtsschreiber zu ihm sagte; dennoch wollte er sich das Ansehen geben, als ob er höre, und antwortete: »Ach! ach! das ist etwas Anderes; ich wußte das nicht. In diesem Falle eine Stunde Pranger mehr.«

Und er unterzeichnete das so abgeänderte Urtheil«

»Das ist wohlgethan,« sagte Robin Poussepain, welcher einen Zahn auf Quasimodo hatte; »das wird ihn lehren, den Leuten grob zu begegnen.«

  1. [Dieser Komet, gegen welchen Papst Calixt, ein Onkel Borgia’s, öffentliche Gebete anordnete, ist der nämliche, welcher im Jahre 1835 wieder erschien. Anm. d. Verf.]
  2. [ Lateinisch: Eine Würde, die mit nicht geringer, die Sicherheit betreffender Macht und mit vielen Vorrechten und Rechten ausgestattet ist. Anm. d. Uebers.]
  3. [Die sogenannte »Liga des Volkswohles« wurde im Jahre 1465 von französischen Fürsten und Herren gegen Ludwig den Elften gestiftet. Anm. d. Uebers.]
  4. [Rechnungsbücher der Krone 1383. Anm. d. Autors.]
  5. [Anspielung ans das Wappen der ehemaligen französischen Könige, welches Lilien im Schilde hatte. Anm. d. Uebers.]
  6. [Lateinisch: Ein Gesetz von hartem Inhalte.]
  7. [Lateinisch: Beim Leibe Christi.]
  8. [Lateinisch: Beim Herkules!]
  9. [Lateinisch: Zum Nachtheil eines Freudenmädchens. Anm. d. Uebers.]

2. Das Rattenloch.

Möge der Leser uns erlauben, ihn nach dem Grèveplatz zurückzuführen, den wir gestern mit Gringoire verlassen haben, um der Esmeralda zu folgen.

Es ist zehn Uhr morgens; alles verräth hier den Tag nach einem Feste. Der Boden ist mit Ueberresten bedeckt; überall Bänder, Fetzen, Federn aus Federbüschen, Wachstropfen von Kerzen, Brocken von der öffentlichen Schmauserei. Eine ziemliche Anzahl Bürger »schlendert«, wie wir sagen, hier und da herum, stößt mit dem Fuße die erloschenen Brände des Freudenfeuers auseinander, ergötzt sich vor dem Säulenhause in der Erinnerung an die schönen Ausschmückungen vom vergangenen Abende und betrachtet heute, als Rest seiner Festfreude, die Nägel, an denen diese aufgehangen waren. Die Apfelwein- und Bierverkäufer rollen ihre Fässer durch die Menschengruppen. Einige beschäftigte Fußgänger kommen und gehen. Die Händler schwatzen und rufen sich von der Schwelle ihrer Läden an. Das Fest, die Gesandten, Coppenole, der Narrenpapst sind in aller Munde; darüber glossirt und lacht man um die Wette. Inzwischen haben vier Gerichtsdiener zu Pferde, die sich soeben an den vier Seiten des Prangers aufstellen, schon ein gut Theil des auf dem Platze zerstreuten »Volkes« um sich geschaart, das in der Hoffnung auf eine kleine Urteilsvollstreckung sich zur Ausdauer und Langeweile verurtheilt.

Wenn der Leser, nachdem er diese lebhafte und lärmende Scene, welche sich an allen Punkten des Platzes abspielt, betrachtet hat, seine Blicke jetzt nach jenem alterthümlichen, halb gothischen, halb romanischen Bauwerke des Rolandsthurmes richtet, welcher die Ecke des Quais im Westen bildet, so wird er in einem Winkel der Vorderseite ein dickes, zur öffentlichen Benutzung bestimmtes Gebetbuch bemerken, welches vor dem Regen durch ein Schutzdach, und gegen Diebe durch ein Gitter geschützt ist, welches jedoch in ihm zu blättern gestattet. Zur Seite dieses Gebetbuches befindet sich eine enge, gothisch gewölbte Luke, die auf den Platz geht und kreuzweise mit zwei eisernen Stangen verschlossen ist; dies ist die einzige Oeffnung, welche ein wenig Luft und Licht in eine kleine, thürlose Zelle dringen läßt, welche zur ebenen Erde in der Mauerdicke des alten Gebäudes angebracht ist und einen um so tiefern Frieden, ein um so düstereres Schweigen athmet, als das Leben eines öffentlichen Platzes, und zwar des volkreichsten und lärmendsten von Paris, ringsherum wogt und schwirrt.

Diese Zelle war in Paris seit beinahe dreihundert Jahren berühmt, weil Frau Roland vom Rolandsthurme, aus Trauer um ihren im Kreuzzuge gefallenen Vater, dieselbe in die Grundmauer ihres eigenen Hauses hatte hineinarbeiten lassen, um sich dort für immer einzuschließen, während sie von ihrem Schlosse nur dieses Gemach behielt, dessen Thüre vermauert und dessen Luke Winter wie Sommer geöffnet war, und alles Uebrige den Armen und Gott schenkte. Die trostlose Frau hatte, in Wahrheit lebendig begraben, zwanzig Jahre lang in dieser Gruft auf den Tod gewartet, betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief im Staube, ohne auch nur ihr Haupt auf einen Stein zu betten, war in einen schwarzen Sack gehüllt und lebte einzig von dem, was das Mitleid der Vorübergehenden an Brot und Wasser auf dem Rande ihrer Luke niederlegte, wodurch ihr an Mitleid das vergolten wurde, was sie zuvor selbst geübt hatte. Bei ihrem Tode, im Augenblicke, wo sie zur letzten Ruhestätte einging, hatte sie diese Zelle für immer den unglücklichen Frauen, Müttern, Witwen oder Jungfrauen vererbt, welche viel für andere oder sich zu beten wünschen sollten, oder in einem großen Schmerze oder in großer Buße sich lebendig dem Grabe überliefern möchten. Die Armen ihres Zeitalters hatten ihr ein schönes, an Thränen und Segnungen reiches Begräbnis bereitet; doch zu ihrem Leide hatte die heilige Frau, aus Mangel an Fürsprache, nicht heilig gesprochen werden können. Diejenigen unter ihnen, welche etwas ruchlos waren, hatten gehofft, daß sich die Sache leichter im Paradiese, als in Rom machen würde, und in Ermangelung des Papstes, ganz einfach zu Gott für die Verstorbene gebetet. Die meisten hatten sich damit zufrieden gegeben, das Gedächtnis an Frau Roland heilig zu halten und Reliquien aus ihren Lumpen zu machen. Die Stadt ihrerseits hatte, nach dem Sinne der Jungfrau, ein öffentliches Gebetbuch gestiftet, welches man neben der Luke der Zelle aufgestellt hatte, damit die Vorübergehenden von Zeit zu Zeit hier stehen bleiben möchten, wäre es auch nur um zu beten, und damit ihr Gebet sie an eine Spende denken ließe, und daß die armen Büßerinnen, die Erbinnen der Zelle der Frau Roland, hier nicht ganz vor Hunger und durch Nichtbeachtung ihrer Mitmenschen zu Grunde gehen möchten.

Diese Art Grabhöhlen war in den Städten des Mittelalters übrigens gar nicht so was Seltenes. Man fand oft auf der belebtesten Straße, im buntesten und betäubendsten Marktgetriebe, so recht in der Mitte, unter den Hufen der Pferde, man möchte sagen unter den Rädern der Wagen, eine Höhle, eine Grube, ein vermauertes und vergittertes Loch, in dessen Tiefe Tag und Nacht ein menschliches Wesen betete, das sich freiwillig ewiger Klage, schwerer Buße geweihet hatte. Und alle Gedanken, welche dieses sonderbare Schauspiel, diese schreckliche Büßerzelle, die eine Art Mittelding zwischen Wohnhaus und Grab, zwischen Kirchhof und Stadt bildete: – alle Gedanken, sage ich, welche diese Flucht eines Lebenden aus der menschlichen Gemeinschaft und Fortexistenz bei den Todten, welche diese, im Schattenreiche ihren letzten Oeltropfen verzehrende Lebenslampe, dieser in einer Höhle flackernde Lebensrest, dieser Hauch, diese Stimme, dieses ewige Gebet in einer Steinkluft, dieses für immer einer andern Welt zugewandte Antlitz, dieses schon in einer andern Sonne sich spiegelnde Auge, dieses an die Grabeswände sich schmiegende Ohr, – ich wiederhole: alle Gedanken, welche diese an einen solchen Körper gefesselte Seele, dieser in solchem Kerker gefangen gehaltene Körper, das Klagen dieser unter der doppelten Hülle von Fleisch und Fels gepeinigten Seele in uns heute wachruft: – nichts von alledem wurde von der Menge begriffen! Die wenig klügelnde und gar nicht spitzfindige Frömmigkeit jener Zeit sah nicht so zahlreiche Seiten in einer religiösen Handlung. Sie nahm die Sache im großen und ganzen; sie ehrte und achtete sie, weihte das Opfer dem Bedürfnis, aber sie dachte nicht über ihre Leiden nach, und ward nur wenig von ihnen gerührt. Von Zeit zu Zeit brachte sie dem elenden Büßer etwas Speise, sah durch das Loch, ob er noch lebte, kümmerte sich nicht um seinen Namen, wußte kaum seit wie viel Jahren er hinzusterben begonnen hatte; und dem Fremden, welcher sich nach dem lebenden Skelette erkundigte, das in dieser Höhle verfaulte, antworteten die Nachbarn, im Falle der Büßer ein Mann war, einfach: »Es ist der Klausner«; bei einer Frau: »Es ist die Klausnerin«.

Man sah also damals alles ohne übernatürliche Gefühle, ohne Übertreibung, ohne Vergrößerungsglas, mit nüchternem Blicke an. Das Mikroskop war noch nicht erfunden worden, weder für stoffliche Dinge, noch für Gegenstände aus dem geistigen Leben. Die Beispiele dieser Art von Einschließung waren, obgleich man wenig Notiz von ihnen nahm, in Wahrheit, und wie wir eben gesagt haben, doch häufig im Innern der Städte. In Paris gab es eine ziemlich große Anzahl dieser Zellen, in denen man zu Gott betete und Buße that; sie waren fast alle besetzt. Es ist wahr, daß die Geistlichkeit sich keine Sorge machte, sie leer stehen zu lassen, was bei den Glaubensstarken Lauheit mit sich führte; und daß man mit Aussatz Behaftete hineinlegte, sobald sich keine Bußebegehrenden vorfanden. Außer der kleinen Zelle auf dem Grèveplatze gab es deren eine in Montfaucon, eine auf dem Gottesacker Des-Innocents, eine andere, ich weiß nicht mehr wo, täusche ich mich nicht, im Hause Clichon; andere noch an vielen andern Stellen, wo man, nachdem sie selbst verschwunden sind, ihre Spur in den Berichten wiederfindet. Das Universitätsviertel hatte auch die seinigen. Auf dem Sanct-Genovevenhügel sang eine Art Hiob des Mittelalters dreißig Jahre lang die sieben Bußpsalmen auf einem Düngerhaufen in der Tiefe einer Cisterne, wobei er, am Ende seiner Litanei, immer von neuem begann und des Nachts mit weithinschallender Stimme ( magna voce per umbras) sang, sodaß der Alterthumsforscher noch heute seine Stimme zu hören vermeint, wenn er in die Straße »Zum plätschernden Brunnen« einlenkt.

Um bei der Zelle im Rolandsthurme stehen zu bleiben, so müssen wir gestehen, daß sie niemals an Büßerinnen Mangel gelitten hatte. Seit dem Tode von Frau Roland hatte sie selten ein oder zwei Jahre leer gestanden. Viele Frauen waren gekommen, um Eltern, Geliebte und Fehltritte hier bis zum Tode zu beweinen. Die Schalkhaftigkeit der Parisers die sich in alles mengt, selbst in Dinge, die sie am allerwenigsten angehen, behauptete, daß man wenige Witwen darin gesehen hätte.

Nach der Mode des Zeitalters zeigte eine lateinische Inschrift, die auf die Mauer geschrieben war, dem die Sprache kennenden Wanderer die fromme Bestimmung diese Zelle. Der Gebrauch, ein Gebäude mit einem kurzen Denkspruche, der über den Eingang gesetzt war, kenntlich zu machen, hat sich bis in die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts erhalten. So las man noch in Frankreich über der Einlaßpforte zum Gefängnis im Herrenhause zu Tourville: »Sileto et spera«; 120 in Irland unter dem Wappenschilde, das über dem großen Thore des Schlosses Fortescue ragt: »Forte scutum, salus ducum«; 121 in England über dem Haupteingang des gastfreundlichen Herrensitzes der Grafen Cowper: »Tuum est«. 122 Damals drückte jedes Gebäude einen Gedanken aus.

Weil sich an der vermauerten Zelle des Rolandsthurmes keine Tür befand, so hatte man über dem Fenster mit großen lateinischen Buchstaben folgende zwei Worte eingegraben:

TU, ORA Lateinisch: Bete du.

Infolge davon geschah es, daß das Volk, dessen gesunder Sinn nicht so viel Spitzfindigkeit in den Dingen erblickt, und ganz gern »Ludovico Magno« mit »Pforte Saint-Denis« übersetzt, dieser schwarzen, düstern und feuchten Höhle den Namen »Rattenloch« 123 gegeben hatte: eine Auslegung, die vielleicht nicht so erhaben, als die andere, dafür aber malerischer ist.

  1. [Lateinisch: Schweige und hoffe.]
  2. [Lateinisch: Ein starker Schild ist das Heil der Fürsten.]
  3. [Lateinisch: Es ist dein.]
  4. [Der im Deutschen nicht wiederzugebende Wortwitz des Originales liegt in der Verwechslung der lateinischen Worte » Tu Ora« (bete du) mit den ähnlich klingenden französischen » Trou aux rats« (Rattenloch). Anm. d. Uebers.]

2. Paris aus der Vogelschau.

Wir haben es soeben versucht, diese wunderbare Kirche Notre-Dame zu Paris für den Leser neu herzustellen. Wir haben in Kürze die meisten Schönheiten angegeben, welche sie im fünfzehnten Jahrhunderte besaß, und die ihr heute fehlen; aber wir haben die Hauptsache vergessen: nämlich den Anblick von Paris zu schildern, welchen man damals von der Höhe seiner Thürme herab genoß.

In Wahrheit gab es, wenn man nach langem Umhertasten auf der finstern Wendeltreppe, welche senkrecht die dicke Mauer der Thürme durchbricht, endlich unvermuthet auf einer der beiden licht- und luftumflossenen Plattformen hervortauchte, kaum ein schöneres Bild als das, welches sich von allen Seiten auf einmal unter den Augen entrollte; ein Schauspiel »eigener Art«, von dem sich diejenigen unserer Leser leicht eine Vorstellung machen können, welche so glücklich gewesen sind, eine ganz gothische, vollständige, gleichartige Stadt zu sehen, wie es deren noch einige giebt, z. B. Nürnberg in Baiern, Vittoria in Spanien; oder selbst kleinere Muster, vorausgesetzt, daß sie wohl erhalten sind, wie Vitré in der Bretagne, Nordhausen in Preußen.

Das Paris von vor dreihundertundfünfzig Jahren, das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts war schon eine Riesenstadt. Wir täuschen uns gewöhnlich, wir Pariser, hinsichtlich der Bodenfläche, welche wir seitdem eingenommen zu haben glauben« Paris ist seit Ludwig dem Elften um nicht viel mehr, denn um ein Dritthell gewachsen; gewiß aber hat es weit mehr an Schönheit verloren, als es an Größe gewonnen hat.

Paris ist, wie man weiß, auf jener alten Insel der Altstadt entstanden, welche die Gestalt einer Wiege hat. Der Strand dieser Insel war seine erste Einfriedigung, die Seine sein erster Graben. Paris blieb mehrere Jahrhunderte auf die Insel beschränkt, hatte zwei Brücken: eine nach Norden, die andere nach Süden zu, und zwei Brückenköpfe, welche zugleich seine Thore und seine Festungswerke waren: Groß-Chatelet auf der rechten, Klein-Chatelet auf der linken Seite. Dann, seit den Königen aus der ersten Generation, überschritt Paris, dem es zu enge auf seiner Insel wurde, und das sich hier nicht mehr drehen und wenden konnte, den Fluß, Hierauf begann über Groß- und Klein-Châtelet hinaus, von beiden Ufern der Seine aus, eine erste Einfriedigung von Mauern und Thürmen in das Land hinein zu dringen. Von dieser alten Schutzmauer gab es im letzten Jahrhunderte noch einige Reste; heute existirt nur noch die Erinnerung daran und hier und da ein Ueberbleibsel, wie das Thor Baudets oder Baudoyer, lateinisch: porta Bagauda. Nach und nach überflutet, beuagt, verzehrt und vertilgt die Häuserwoge, die stetig vom Herzen der Stadt nach außen gedrängt wird, diese Umfassungsmauer. Philipp August giebt ihr einen neuen Damm; er schließt Paris in eine Kreiskette von dicken, hohen Und festen Thürmen ein. Länger als ein Jahrhundert hindurch drängen die Häuser sich aneinander, häufen sich und heben ihr Niveau in diesem Becken wie Wasser in einem Behälter. Sie beginnen tiefgehend zu werden, setzen Stockwerke über Stockwerke, übersteigen einander, sprudeln in die Höhe wie comprimirte Flüssigkeit, und jedes bestrebt sich, das Haupt über seine Nachbarn zu heben, um ein wenig frische Luft zu haben. Die Straße kreuzt und verengt sich mehr und mehr; jeder Platz füllt sich und verschwindet. Schließlich springen die Häuser über die Mauer Philipp Augusts hinaus, zerstreuen sich lustig in der Ebene, wie Flüchtlinge ohne Ordnung und Symmetrie. Hier thun sie sich zu Quartieren zusammen, umgeben sich im Gefilde mit Gärten und machen sich’s bequem. In dieser Weise erweitert sich die Stadt seit 1367 derartig in die Vororte hinein, daß eine neue Einfassung nöthig wird, vornehmlich am linken Ufer: Karl der Fünfte baute sie. Aber eine Stadt, wie Paris, ist im anhaltenden Wachsthume. Nur solche Städte werden Hauptstädte. Sie sind Filter, in welche alle geographischen, politischen, sittlichen und intellectuellen Strömungen eines Landes, alle Triebe eines Volkes einmünden; Brunnen der Civilisation so zu sagen, aber auch Kloaken, wo Handel und Gewerbefleiß, Intelligenz und Bevölkerung, alles was Saft, was Leben, was Seele an einem Volke ist, zusammenfließt und ohne Aufhören sich aufhäuft, Tropfen um Tropfen, Jahrhundert um Jahrhundert. Die Mauer Karls des Fünften hat jedoch dasselbe Geschick, wie diejenige Philipp Augusts. Seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wird sie überschritten, überholt, und die Vorstadt eilt weiter. Im sechzehnten Jahrhunderte scheint es, als ob Paris augenscheinlich zurückwiche und sich mehr und mehr in die alte Stadt hineinzöge, so sehr rückt draußen schon eine neue Stadt zusammen. Seit dem fünfzehnten Jahrhunderte also, um hier zu verweilen, hatte Paris schon die drei concentrischen Mauerkreise verbraucht, welche seit der Zeit Julians des Apostaten, so zu sagen, als Keime in Groß- und Klein-Chatelet enthalten waren. Die mächtige Stadt hatte, ähnlich einem Kinde, welches wächst und die vorjährigen Kleidungsstücke zerplatzt, seine vier Mauergürtel bersten lassen. Unter Ludwig dem Elften sah man stellenweise in diesem Häusermeere einige Gruppen von Thurmruinen der alten Umfassungsmauern, die wie Hügelspitzen bei einer Ueberschwemmung, wie Inselgruppen des alten Paris, das im neuen versinkt, hervorragten.

Seitdem hat Paris zum Unglück für unsere Augen sich noch verändert; aber es hat nur eine Ringmauer mehr überschritten: diejenige Ludwigs des Fünfzehnten, jene Schmutz- und Kothmauer, die würdig des Königs, der sie gebaut, und werth des Dichter ist, der sie besungen hat:

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Im fünfzehnten Jahrhunderte war Paris noch in drei ganz unterschiedene und abgesonderte Städte getheilt, jede mit ihrer Physiognomie und Eigenthümlichkeit, mit ihren Sitten, ihren Gewohnheiten, ihren Privilegien und mit ihrer Geschichte: die Altstadt ( la Cité), Südstadt ( l'Universitè) und Nordstadt ( la Ville). Die Altstadt, welche die Insel bedeckte, war die älteste, die kleinste, die Mutter der beiden andern und eingepreßt zwischen ihnen – man möge den Vergleich gestatten – wie eine kleine Alte zwischen zwei großen, schönen Mädchen. Die Südstadt oder das Universitätsviertel bedeckte das linke Ufer der Seine von La Tournelle 59 bis zum Nesle-Thurme, 60 zwei Punkte, von denen der eine der Weinhalle, der andere der Münzstätte im heutigen Paris entsprechen. Ihre Ringmauer schweifte bogenförmig ziemlich weit in die Gegend hinaus, wo Julian seine Thermen 61 erbaut hatte. Der Hügel der heiligen Genoveva war mit eingeschlossen. Der äußerste Punkt dieser Mauerkrümmung war das Papstthor, d. h. ohngefähr die jetzige Baustelle des Panthéons. Die Nordstadt, welche den größten der drei Stadttheile von Paris ausmachte, nahm das rechte Ufer ein. Ihr Flußdamm, der jedoch buchtig oder an mehreren Stellen unterbrochen war, lief längs der Seine hin vom Thurm Billy bis zum Holzthurme, d. h. von der Stelle, wo heute der Vorrathsspeicher steht, bis zum Platze, wo die Tuilerien sich befinden. Diese vier Punkte, wo die Seine die Ringmauer der Hauptstadt durchschnitt: La Tournelle und der Nesle-Thurm zur Linken, der Thurm Billy und der Holzthurm zur Rechten, hießen vorzugsweise »die vier Thürme von Paris.« Die Nordstadt erstreckte sich noch tiefer in die Ländereien hinein, als die Südstadt. Der äußerste Punkt der Ringmauer der Nordstadt (derjenigen Karls des Fünften) lag bei den Thoren Saint-Denis und Saint-Martin, die heute noch an derselben Stelle sind.

Wie wir soeben bemerkt haben, war jede dieser drei großen Abtheilungen von Paris eine Stadt, aber eine zu besondere Stadt, um als vollständig gelten zu können; eine Stadt, welche jeder der beiden andern nicht entrathen konnte. Auch gewährten die drei jede für sich ein völlig gesondertes Aussehen. In der Altstadt waren die Kirchen im Ueberflusse, in der Nordstadt die Paläste, in der Südstadt die Lehranstalten. Um die untergeordneten Eigentümlichkeiten des alten Paris, z. B. die Scherereien des Wegeamtsrechtes hier zu übergehen, wollen wir im allgemeinen und nur durch Herausgreifen des Ganzen und Gewichtigen aus dem Chaos der städtischen Rechtspflege erzählen, daß die Insel dem Bischöfe, das rechte Seineufer dem Vorsteher der Kaufmannsgilde oder dem Stadtvogte, das linke dem Universitätsrector unterstellt war. Der Oberrichter von Paris, ein königlicher, nicht Municipal-Beamter, wachte über das Ganze. In der Altstadt lag Notre-Dame, in der Nordstadt der Louvre und das Rathhaus, die Sorbonne 62 in der Südstadt. In der Nordstadt lagen die Kaufhallen, das Krankenhaus ( Hotel Dieu) war in der Altstadt, die Studentenwiese 63 in der Südstadt. Jedes Verbrechen, das die Studenten am linken Ufer begingen, wurde auf der Insel im Justizpalaste abgeurtheilt und am linken Ufer, in Monfaucon, gesühnt, im Falle der Rector, sofern sich die Universität stark und der König schwach fühlte, nicht Einsprache erhob; denn es war ein Vorrecht der Studenten, in ihrem Bezirke gehangen zu werden. (Die meisten dieser Privilegien – um das im Vorbeigehen zu bemerken – und von denen es werthvollere giebt, als das eben genannte, waren den Königen durch Aufstände und Meutereien abgenöthigt worden. Es ist der uralte Hergang: der König giebt nur das zu, was das Volk ihm abpreßt. Es existirt eine alte Urkunde, welche, in Betreff der Treue, dies naiv so ausspricht: » Civibus fidelitas in reges, quae tamenn aliquoties seditionibus interrupta, multa peperit privilagia64

Im fünfzehnten Jahrhunderte bespülte die Seine fünf Inseln im Stadtgebiete von Paris: die Insel Louviers, wo damals Bäume standen und heute sich nichts weiter als Gehölz befindet; die Kuhinsel und die Insel Notre-Dame, beide wüst bis auf eine elende Hütte, beide Lehen des Bischofs von Paris (im siebzehnten Jahrhunderte hat man aus diesen beiden Inseln eine einzige gemacht und bebaut, die nun Insel des heiligen Ludwig heißt); endlich diejenige der Altstadt, und an ihrer Spitze die kleine Insel des Kuhfährmannes, die seitdem unter dem Fundamente des Pont-Neuf verschwunden ist. Die Altstadt besaß damals fünf Brücken, drei auf der rechten Seite: die Notre-Dame-Brücke und die Wechslerbrücke, beide von Stein, die Müllerbrücke aus Holz; zwei auf der linken Seite: die Kleine Brücke von Stein, die Sanct-Michaelbrücke aus Holz, sämmtliche mit Häusern besetzt. Die Südstadt hatte sechs, von Philipp August erbaute Thore, nämlich vom Parlamentsgericht angefangen: das Thor Sanct-Victor, das Frauenhausthor, das Papstthor, das Sanct-Jacobsthor, das Sanct-Michaelthor, das Thor Saint-Germain. Die Nordstadt hatte gleichfalls sechs von Karl dem Fünften erbaute Thore, nämlich vom Billy-Thurme begonnen: das Thor Saint-Antoine, das Templerthor, das Thor Saint-Merlin, das Thor Saint-Denis, das Monmartrethor und das Thor Saint-Honoré. Alle diese Thore waren stark und schön dabei, ohne durch letzteres die Festigkeit zu beeinträchtigen. Ein breiter und tiefer, bei winterlichem Hochwasser stark flutender Graben, den die Seine mit Wasser versorgte, bespülte den Fuß der Mauern rings um ganz Paris herum. Nachts wurden die Thore geschlossen, der Fluß an beiden Außenpunkten der Stadt mit mächtigen eisernen Ketten gesperrt, und Paris schlief ruhig.

Aus der Vogelschau gesehen boten diese drei Stadttheile: Altstadt, Universitätsviertel und Nordstadt, jeder für sich dem Auge ein unentwirrbares Netz von sonderbar durch einander geschlungenen Straßen dar. Doch erkannte man auf den ersten Blick, daß diese drei Bruchstücke von Stadt ein einziges Ganze bildeten. Man sah sofort drei lange, parallele Straßen, die ohne Unterbrechung und Störung, fast in gerader Linie, auf einmal die drei Stadttheile von einem Ende bis zum andern durchschnitten, sie vom Süden zum Norden und die Seine entlang laufend verbanden, vereinigten, ineinanderzogen und -gossen, und ohne Aufenthalt die Bevölkerung von dieser in die Mauern von jener hinüberfluteten und dadurch aus den dreien eine einzige herstellten. Die erste dieser beiden Straßen lief vom Thore Sanct-Jacob bis zum Thore Sanct-Martin; sie hieß Sanct-Jacobsstraße in der Südstadt, Judenstraße in der Altstadt und Sanct-Martinsstraße in der Nordstadt; sie überschritt den Fluß zweimal: als Kleine Brücke und als Notre-Damebrücke. Die zweite dieser Straßen, welche La-Harpestraße auf dem linken Ufer, Faßbinderstraße auf der Insel, Sanct-Denisstraße auf dem rechten Ufer hieß, und als Sanct-Michelsbrücke über einen Arm der Seine, als Wechslerbrücke über den andern lief, zog sich vom Sanct-Michaelthore im Universitätsviertel bis zur Sanct-Denisbrücke in der Nordstadt hin. Beide Straßen waren, trotz so vieler verschiedenartiger Namen, doch immer nur zwei Straßen, aber die Haupt- und Stammstraßen, die zwei Pulsadern von Paris. Sämmtliche übrigen Verkehrsadern der dreiteiligen Stadt mündeten hier aus oder ein.

Unabhängig von diesen zwei diametralen Hauptstraßen, die ganz Paris in seiner Breite durchschnitten und der Hauptstadt völlig gemeinsam waren, hatten die Nord- und Südstadt jede ihre besondere Hauptstraße, welche in der Richtung ihrer Länge parallel mit der Seine liefen und gelegentlich die zwei »Hauptverkehrsadern« im rechten Winkel kreuzten. Demzufolge ging man in der Nordstadt vom Thore Saint-Antoine in gerader Linie bis zum Thore Saint-Honoré hinab; in der Südstadt vom Sanct-Victorthore bis zum Thore Saint-Germain. Diese zwei großen Straßen, die sich mit den beiden ersten kreuzten, bildeten die Unterlage, über welche das nach allen Seiten hin verschlungene, dichte und labyrinthische Straßennetz von Paris sich erstreckte. In dem unentwirrbaren Umrisse dieses Straßennetzes unterschied man übrigens bei aufmerksamer Betrachtung zwei Bündel breiter Straßen, die wie zwei Getreidegarben, von denen eine in der Süd-, die andere in der Nordstadt sich ausbreitete, von Brücke zu Brücke sich entfaltend hinliefen.

Etwas von diesem geometrischen Grundrisse ist noch heute zu erkennen.

Welchen Anblick bot dieses Ganze nun, aus der Höhe der Thürme von Notre-Dame gesehen, im Jahre 1482?

Das zu schildern wollen wir versuchen.

Für den Beschauer, welcher athemlos auf dieser Höhe ankam, bot sich dem Blicke zuerst eine verwirrende Menge von Dächern, Schornsteinen, Straßen, Brücken, Plätzen, Thurmspitzen und Thürmen dar. Alles fiel ihm auf einmal in die Augen: die abgestumpfte Zinne, das spitzzulaufende Dach, das auf den Mauerwinkeln schwebende Thürmchen, die steinerne Pyramide aus dem elften, der Schieferobelisk aus dem fünfzehnten Jahrhunderte, der runde und kahle Wartthurm, der viereckige, verzierte Kirchthurm, Großes und Kleines, Schwerfälliges und Zierliches, Der Blick verlor sich auf lange und vollständig in diesem Labyrinthe, wo jedes von seiner Originalität und Berechtigung, von seiner Eigenthümlichkeit und Schönheit zeugte, alles Kunst athmete, vom geringsten Hause an mit gemalter und von Steinmetzarbeit verzierter Vorderseite, mit Holzwerk auf der Außenseite, mit herausgerückter Pforte, mit überhängenden Stockwerken bis zum königlichen Louvre, der damals eine Colonnade von Thürmen besaß. Aber da lagen die Hauptmassen, die man unterschied, sobald das Auge sich in diesen Gebäudewogen zurechtzufinden begann.

Zuerst die der Altstadt. Die Häuserinsel der Altstadt ist, wie Sauvel sagt, der bei seinem sonst schwülstigen Stile zeitweilig recht glücklich in der Darstellungsweise ist, – »die Häuserinsel der Altstadt ist wie ein großes Schiff geformt, das im Schlamme aufgefahren ist und im Stromlauf der Seine festsitzt«. Wir haben eben erzählt, daß dieses »Schiff« zwischen beiden Flußufern im fünfzehnten Jahrhunderte von fünf Brücken geentert war. Diese Schiffsgestalt ist auch den Heraldikern aufgefallen; denn daher, und nicht von der Belagerung der Stadt durch die Normannen, stammt, zufolge Favyns und Pasquiers, das Schiff, welches das alte Wappen von Paris kennzeichnet. Für den, welcher es zu erklären weiß, ist die Wappenkunde bald eine Berechnung, bald eine Sprache. Die ganze Geschichte der zweiten Hälfte des Mittelalters ist in der Wappenkunde niedergeschrieben, ähnlich wie die Geschichte ihrer ersten Hälfte in der Symbolik der romanischen Kirchenbauwerke. Es sind die Hieroglyphen der Feudalherrschaft nach denen der Kirchenherrschaft.

Die Altstadt zeigte sich also zuerst dem Beschauer mit der Hinterfront nach Osten und der Vorderfront nach Westen. Nach der letztern hingewandt sah man eine endlose Reihe von alten Dächern vor sich, über denen, ähnlich dem Rücken eines Elephanten, der seinen Thurm trägt, die bleigedeckte Kuppel der Heiligen Kapelle mächtig sich rundete. Nur hier erschien dieser Kuppelbau als der kühnste, freieste, kunstvollste und zackenreichste Thurm, der jemals den Himmel durch seinen durchbrochenen Kegel sehen ließ. Ziemlich nahe vor Notre-Dame mündeten drei Straßen in den Vorhof, einen schönen Platz voll altertümlicher Häuser, ein. Auf der Südseite dieses Platzes neigte sich die furchenreiche und düstere Façade des Hôtel-Dieu; sein Dach schien mit Beulen und Warzen bedeckt zu sein. Dann erhoben sich rechts und links, nach Morgen und Abend zu, in dem doch so engen Umkreise der Altstadt, die Thürme seiner einundzwanzig Kirchen jeden Alters, jeder Gestalt, jeder Größe vom niedrigen und wurmstichigen, im romanischen Stile gehaltenen Glockenturme von Saint-Denis-du-Pas ( carcer Glaucini) an, bis zu den schlanken Spitzen von Saint-Pierre-aux-Boeufs und Saint-Landry. Hinter Notre-Dame im Norden zeigten sich das Kloster mit seinen gothischen Galerien, im Süden die halbromanisch gehaltene Residenz des Bischofs, im Osten die wüste Spitze des Terrains. Ferner unterschied das Auge in diesem Meere von Häusern mit ihren hohen Fenstergiebeln von durchbrochenem Steine, welche damals selbst die äußersten Dachfenster der Paläste krönten, das Schloß, welches unter Karl dem Sechsten von der Stadt dem Juvenal-des-Ursins geschenkt worden war; ein Stück weiter davon die Theerdachhütten des Gemüsemarktes; 65 weiter noch das neue Chorhaus von Saint-Germain-le-Vieux, welches 1458 durch ein Ende der Rue-aux-Fabves erweitert wurde; dann sah man über freie Plätze hinweg einen Scheideweg, der vom Volke gesperrt wurde; einen an der Straßenecke errichteten Pranger; ein hübsches Stück Straßenpflaster, das Philipp August hatte herstellen lassen, jenes prächtige Plattenpflaster, welches in der Mitte der Bahn für die Pferde gelegt worden war und im sechzehnten Jahrhunderte leider durch die elende Sandaufschüttung, »Pflaster der Ligue« genannt, ersetzt wurde; dann einen öden Hinterhof mit einem jener durchsichtigen Treppenthürmchen, wie man sie im fünfzehnten Jahrhunderte baute, und wie man noch einen in der Rue-des-Bourdonnais sieht. Endlich, rechts von der heiligen Kapelle, gen Westen, streckte der Justizpalast am Ufer des Wassers seine Thurmgruppe in die Luft. Der Hochwald der königlichen Gärten, welche die westliche Spitze der Altstadt bedeckten, verbargen den Fährmannswerder. Was den Strom betrifft, so bemerkte man ihn von der Höhe der Notre-Damethürme kaum auf beiden Seiten der Altstadt: die Seine verschwand unter den Brücken, diese unter den Häusern.

Und wenn der Blick über diese Brücken hinaus flog, deren Hausdächer dem Auge moosig erschienen und vor der Zeit von den Wasserdünsten mit Schimmel überzogen waren, dann links nach der Südstadt sich zuwandte, so war das nächste Bauwerk, auf das er fiel, ein Haufen niedriger und umfangreicher Thürme: Klein-Châtelet, dessen gähnende Thorhalle an das Ende der Kleinen Brücke stieß; wenn dann der Blick des Beschauers das Ufer von Osten nach Westen, von La-Tournelle bis zum Nesle-Thurme überflog, traf er auf eine lange Häuserreihe mit geschnitztem Balkenwerke, buntfarbigen Fenstern, mit Stockwerken, die in die Straße heraustraten – ein unbegrenztes Zickzack von Bürgerhäusern, das häufig von der Mündung einer Straße, zeitweilig auch von der Front oder der Hinterseite eines großen steinernen Palastgebäudes unterbrochen wurde, das sich mit seinen Höfen und Gärten, Flügeln und Seitengebäuden mitten in diesem zusammengepreßten und dichten Häuserknäuel wie ein vornehmer Herr in einer Rotte Bauern spreizte. Fünf bis sechs dieser Palastgebäude standen am Quai, und zwar vom Lothringerhause an, das mit den Bernhardinern den großen Nachbarbezirk von La-Tournelle theilte, bis zum Palaste Nesle, dessen Hauptthurm das Terrain der Stadt Paris abgrenzte, und dessen spitze Dächer gewohnt waren, drei Monate des Jahres hindurch ihre dunkeln Giebelfelder von der rothglühenden Scheibe der Abendsonne vergoldet zu sehen.

Diese Seite der Seine zeigte übrigens von beiden den geringsten Handelsverkehr; die Studenten verursachten hier mehr Lärm und Gedränge, als die Gewerbetreibenden, und einen Quai gab es eigentlich nur von der Sanct-Michaelbrücke bis zum Nesle-Thurme. Der übrige Theil des Seineufers war theils nackter Strand, wie jenseits des Bernhardinerklosters, theils eine Häuserreihe, deren Grundmauern im Wasser standen, wie zwischen den beiden Brücken.

Großen Lärm verursachten hier die Wäscherinnen; sie schrien, schwatzten, sangen vom Morgen bis zum Abende am Ufer hin und klopften tüchtig die Wäsche, wie in unsern Tagen. Und diese Art Fröhlichkeit ist nicht die geringste in Paris.

Das Universitätsviertel war für das Auge ein Block. Es bildete von einem Ende bis zum andern ein gleichartiges und geschlossenes Ganze. Diese Tausende von dichtgedrängten, winkligen, aneinander klebenden, beinahe alle nach einer geometrischen Grundregel errichteten Dächer machten, aus der Höhe gesehen, den Eindruck einer Krystallisirung, die aus demselben Stoffe entstanden war. Das regellose Straßennetz zerriß diese Häusermasse nicht in so ungleiche Stücke. Die zweiundvierzig Hörsäle waren hier in ziemlich gleichmäßiger Weise vertheilt, und es gab deren hier überall. Die mannigfaltigen und interessanten Firste dieser schönen Gebäude waren das Erzeugnis der nämlichen Kunstrichtung, wie die schlichten Dächer, welche sie überragten, und im Grunde nichts weiter, als eine Wiederholung derselben geometrischen Figur in Quadrat- oder Kubikform. Sie variirten nämlich die Einheitlichkeit, ohne sie zu verwirren, bereicherten, ohne zu überladen; denn die Geometrie ist eine Harmonie. Einige schöne Hôtels erhoben hier und da ihre prächtigen Formen über die malerischen Dachstockwerke auf dem linken Flußufer: z.B. das Haus Nevers, das römische Haus, das Reimser Haus, die verschwunden sind, der Palast Cluny, welcher zum Troste jedes Künstlers noch vorhanden ist, und dessen Thurm man so thörichterweise vor einigen Jahren seines Helmes beraubt hat. Neben Cluny, diesem Palastbaue im romanischen Stile mit schönen Rundbogenformen, lagen die Thermen des Kaisers Julian. Dann befanden sich hier eine Menge Abteien von bescheidenerem Glanze und ernsterer Größe, die jedoch nicht weniger schön und vornehm, als die Palastbauten waren. Diejenigen, welche zuerst die Aufmerksamkeit erregten, waren die Berhardinerabtei mit ihren drei Thürmen; Sanct-Genoveva, deren heute noch vorhandener, vierkantiger Thurm das Verschwundene um so mehr bedauern läßt; dann die Sorbonne, halb Hörsaal halb Kloster, von dem das bewunderungswürdige Mittelschiff noch vorhanden ist; das schöne, vierflügelige Kloster der Mathuriner; 66 ferner dessen Nachbar: das Kloster des heiligen Benedict, in dessen Mauern man zwischen der siebenten und achten Auflage dieses Buches ein Theater zu eröffnen Veranlassung genommen hat; die Abtei der Franziskaner mit ihren drei ungeheuern, nebeneinander gestellten Giebeln; die der Augustinermönche, deren zierliche Zinne, nah dem Nesle-Thurme, das zweite reich durchbrochene Thurmgebäude, vom Westen aus gerechnet, auf dieser Seite von Paris bildete. Die Studiengebäude, die in Wirklichkeit ein Bindeglied zwischen Kloster und der Welt draußen bilden, hielten in ihrem anmuthigen Ernste, mit ihrer nicht so leichten Bildhauerarbeit, wie derjenigen der Palastbauten, und in ihrem weniger strengen Baustile, als dem der Klöster, die Mitte zwischen Bürgerhäusern und Abteien in der Gebäudereihe inne. Unglücklicherweise ist fast nichts mehr von diesen Baudenkmälern übrig, an denen die Gothik mit so viel Sicherheit Ueberfluß und Sparsamkeit verbunden hat. Die Kirchen (und sie waren glänzend und zahlreich im Universitätsviertel vorhanden, und gruppirten sich hier außerdem in allen Stilen der Baukunst von dem Rundbogen des heiligen Julian an bis zu den Spitzbogen des heiligen Severin), die Kirchen, sage ich, beherrschten das Ganze; und als eine weitere Harmonie in dieser einheitlichen Gesammtheit durchbrachen sie alle Augenblicke das vielfältige Zackenwerk von Spitzthurmzinnen, durchbrochenen Thürmen und frei aufsteigenden Helmen, deren Fluchtlinie auch nichts anderes, als eine prächtige Ueberfülle von spitzwinkligen Dächern war.

Der Boden des Universitätsviertels war hügelig. Der Sanct-Genovevaberg bildete hier im Südwesten einen mächtigen Zug, und es war, von der Höhe der Kirche Notre-Dame aus, interessant anzusehen, wie diese Menge enger und krummer Straßen (heute das »Lateinische Viertel«), diese Häuserklumpen, welche, nach allen Seiten von der Spitze des Höhenzuges ausliefen, sich regellos und fast senkrecht von den Bergseiten zum Flußufer hinabsenkten, wobei es den Anschein hatte, als ob einige hinunterstürzten, andere wieder in die Höhe kletterten, und alle sich aneinander klammerten. Ein fortwährendes Fluten zahlloser schwarzer Punkte, welche auf dem Pflaster durcheinander wogten, verursachte ein Drunter und Drüber vor den Blicken: es war die Bevölkerung der Stadt, die von der Höhe und in der Ferne gesehen, sich so ausnahm.

Endlich erblickte man in den Lücken zwischen diesen zahllosen Dächern, Zinnen und Häuservorsprüngen, welche die äußerste Fluchtlinie des Universitätsviertels in so eigenthümlicher Weise bogen, krümmten und unterbrachen, von Strecke zu Strecke ein mächtiges Stück moosige Mauer, einen dicken runden Thurm, ein Stadtthor mit Zinnen, welches die Festungsmauer bezeichnete: – es war die Mauer Philipp Augusts. Drüber hinaus grünten die Wiesen, liefen die Heerstraßen fort, an deren Seiten sich noch einige Vorstadthäuser hinzogen, die aber um so seltener wurden, je mehr sie sich entfernten. Einige dieser Vorstädte waren von Bedeutung: da war zunächst, seitwärts von La-Tournelle hin, der Flecken Saint-Victor mit seiner Bogenbrücke über die Bièvre, mit seiner Abtei, wo man die Grabschrift Ludwigs des Dicken ( epitaphium Ludovici Grossi) las, seiner Kirche mit dem achteckigen Thurme, der von vier Eckthürmchen aus dem elften Jahrhunderte flankirt wurde (man kann einen diesem ähnlichen in Etampes sehen; er ist noch nicht niedergerissen); dann der Flecken Saint-Marceau, der schon drei Kirchen und ein Kloster hatte; dann, wenn man die Bièvremühle mit ihren vier weißen Mauern links liegen ließ, kam man m die Vorstadt Sanct-Jacob mit dem schönen Kreuze aus gemeißeltem Steine am Kreuzwege; erblickte die hübsche Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, die, damals im gothischen Stile erbaut, reizende Verzierungen aufwies; dann Saint-Magloire mit dem schönen Mittelschiffe aus dem vierzehnten Jahrhunderte, welches Napoleon in einen Heuboden verwandelte; endlich Notre-Dame-des-Champs, wo sich byzantinische Mosaiken befanden. Hatte man schließlich das Kloster der Karthäuser, ein reiches Bauwerk aus dem Jahrhunderte unseres Justizpalastes mit kleinen Beetgärten und den wenig besuchten Ruinen von Vauvert, im freien Felde liegen lassen, so fiel das Auge im Westen auf die drei im romanischen Stile gehaltenen Thürme von Saint-Germain-des-Prés. Der Flecken Saint-Germain, welcher schon eine große Gemeinde vorstellte, bildete fünfzehn bis zwanzig Hinterstraßen; der spitze Saint-Sulpicethurm bezeichnete eins der Enden des Fleckens. Ganz nahe unterschied man den vierseitigen Bereich des Marktplatzes von Saint-Germain, wo sich heute noch der Marktplatz befindet; dann den Pranger des Abtes, einen kleinen, hübschen runden Thurm, der durch ein kegelförmiges Bleidach entsprechend gekrönt wurde. Weiter davon lagen die Ziegelscheune, die Backhausstraße, welche nach dem Bezirksbackhause führte, dann die Mühle auf ihrem Hügel, schließlich das Spital, ein abseits gelegenes, kaum beachtetes Hauschen. Was aber den Blick vornehmlich auf sich zog und lange auf diesen Punkt fesselte, war die Abtei selbst. Unzweifelhaft ist, daß dieses Kloster, das nicht nur als Kirche, sondern auch als Lehnsherrschaft ein hohes Ansehen genoß, mit seinem Abteipalaste, in dem eine Nacht zu schlafen die Bischöfe von Paris sich glücklich schätzten, mit seinem Refectorium, dem der Baumeister das Ansehen, die Schönheit und die prachtvolle Rosette eines Münsters verliehen hatte, mit der hübschen Kapelle der heiligen Jungfrau, dem monumentalen Schlafsaale, den riesigen Gärten, mit seinem Fallgatter, seiner Zugbrücke, mit dem Kranze von Schießscharten, die dem Auge die ringsum grünenden Wiesen zeigten, mit seinen Hofräumen, in denen Gewappnete und goldstrotzende Chorgewänder durch einander schimmerten – dieses alles, das sich um drei hohe, im Rundbogenstile gebaute und auf gothischem Chore ruhende Thürme gruppirte, – dies alles, sage ich, machte unzweifelhaft am Horizonte ein prächtiges Bild.

Wenn man endlich, nach langer Betrachtung der Südstadt, sich dem linken Seineufer, der Altstadt, zuwandte, so nahm das Schauspiel plötzlich einen ganz andern Charakter an. Die Altstadt, in Wahrheit viel größer als das Universitätsviertel, war auch weit weniger ein Ganzes. Beim ersten Anblick sah man sie in mehrere, sonderbar getrennte Massen sich scheiden. Zunächst im Osten, in dem Theile der Stadt, welcher noch heutigen Tages seinen Namen von dem Moraste führt, in den Camulogenus den Cäsar hineinführte, befand sich ein Haufen palastartiger Gebäude. Diese Häusermasse erstreckte sich bis ans Ufer der Seine. Vier fast zusammenhängende Paläste: Iouy, Sens, Barbeau und das Haus der Königin, spiegelten ihre, von schlanken Thürmchen durchbrochenen Schieferdächer in der Seine. Diese vier Gebäude bedeckten die Strecke von der Straße Des-Nonaindières an bis zur Cölestinerabtei, deren Thurm sich zierlich über die Fluchtlinie ihrer Giebel und Zinnen erhob. Einige alte Hütten, die sich grünschimmernd vor diesen prächtigen Bauwerken zum Wasser hinneigten, wehrten dem Auge nicht, die schöngezierten Ecken ihrer Fanden, ihre großen, breiten Fensteröffnungen mit Steinkreuzen, ihre spitzbogigen und Statuen tragenden Thürhallen, ihre scharfkantigen, durchweg sauber behauenen Mauern und das ganze zierliche Tausenderlei der Baukunst zu schauen, das vornehmlich der gothischen Kunst den Anstrich giebt, als ob sie jeden Augenblick ihre Formverbindungen von frischem anfangen wolle. Hinter diesen Palastgebäuden lief nach allen Richtungen, theils getheilt, verpallisadirt und wie eine Citadelle mit Schießscharten versehen, theils wie eine Karthause hinter hohen Bäumen versteckt, die gewaltige und vielgestaltige Umfassungsmauer des bewunderungswürdigen Hôtels Saint-Pol hin, in dem die Könige von Frankreich zweiundzwanzig Prinzen vom Range des Dauphin und des Herzogs von Burgund nebst Dienerschaft und Gefolge mit aller Pracht beherbergen konnten, ohne die großen Barone, auch den Kaiser, wenn er Paris besuchte, und die Löwen mitzurechnen, welche besondere Unterkunft im königlichen Schlosse fanden. Es sei hier gleich bemerkt, daß eine fürstliche Wohnung zu damaliger Zeit aus nicht weniger denn elf Räumen, vom Prunkzimmer an bis zur Hauskapelle gerechnet, bestand, ganz zu geschweigen von den Corridoren, Badezimmern, Schwitzbädern und sonstigen »überflüssigen Räumlichkeiten«, mit denen jedes fürstliche Appartement versehen war; abgesehen von den besonderen Gärten jedes königlichen Gastes; nicht zu vergessen die Küchen, Vorratskammern, Anrichtezimmer, großen Speisesäle des Hauses, die Hinterhöfe, in denen sich, mit der Bäckerei und Hofkellerei, zweiundzwanzig Arbeitsräume befanden; ohne der Spielplätze aller Art für Lauf-, Ball- und Ringspiel, der Geflügelhäuser, Fisch- und Thierbehälter, der Pferde- und Kuhställe, der Bibliothekzimmer, der Rüstkammern und Gießereien Erwähnung zu thun. So war damals ein Königspalast, ein Louvre, ein Palast Saint-Pol beschaffen – eine kleine Stadt in der Altstadt. Von dem Thurme aus, wo wir uns befinden, betrachtet, gewährte der Palast Saint-Pol, wiewohl er hinter den vier großen Gebäuden, die wir soeben erwähnt haben, fast halb versteckt lag, einen noch sehr bedeutenden und wunderbaren Anblick. Man erkannte, trotz der geschickten Verbindung, welche Karl der Fünfte zwischen dem Hauptgebäude und seinem Palaste mittelst Glas- und Säulchengalerien hergestellt hatte, ganz deutlich drei einzelne Paläste in ihm: nämlich das Palais Petit-Musc mit der durchbrochenen Steinbalustrade, die das Dach so zierlich säumte; die Residenz des Abtes von Saint-Maur, welche mit ihrem großen Thurme, ihren Vertheidigungserkern, Schießscharten, den eisernen Bollwerken, mit dem Wappenschilde des Abtes über dem sächsischen Thore zwischen den Schränkbalken der Zugbrücke das Ansehen eines festen Schlosses hatte; endlich das Palais des Grafen von Etampes, dessen Wartthurm mit dem verfallenen Dache sich dem Auge so schartig wie ein Hahnenkamm darstellte. Hier und da sah man drei bis vier alte Eichen, die, gleich ungeheuern Blumenkohlköpfen, ein dichtes Ganzes bildeten; das Hin- und Hersegeln der Schwäne in den krystallenen Wogen der Fischteiche, die zwischen Dunkel und Licht sich hinstreckten; eine Reihe von Höfen, deren malerische Endseiten man erkannte; dann das Löwenhaus mit niedrigen Spitzbogen, die auf kurzen sächsischen Pfeilern ruhten, mit den eisernen Gittern und dem fortwährenden Gebrülle der Löwen; quer durch das Ganze hindurch den schuppenartig gedeckten Thurm der Ave-Maria-Kirche; zur Linken das Wohnhaus des Oberrichters von Paris mit seinen vier zierlich durchbrochenen Thürmchen auf den Ecken; endlich in der Mitte, im Hintergrunde, den eigentlichen Palast Saint-Pol mit den zahlreichen Façaden, den seit Karls des Fünften Zeit ununterbrochen folgenden Ausschmückungen, mit den bastardartigen Auswüchsen, durch die ihn die Phantasie der Baumeister seit zwei Jahrhunderten überladen hatte, mit allen Chorbauten seiner Kapellen, allen Zinnen seiner Galerien, den zahllosen Wetterfahnen nach allen vier Winden und mit den beiden hohen, dicht aneinanderstoßenden Thürmen, deren kegelförmiges, am Rande mit Schießscharten rings eingefaßtes Dach ihnen das Ansehen von spitzen Hüten gab, deren Krempe aufwärts gebogen ist.

Richtete sich das Auge dann weiter auf die Galerien dieses Palastamphitheaters, das sich weithin über den Boden erstreckte, so traf es, nachdem der Blick ein tiefes, das Häusermeer der Altstadt durchziehendes Thal überflogen hatte, welches den Lauf der Straße Saint-Antoine bezeichnete, auf das Haus Angoúlême, einen Ungeheuern Bau aus verschiedenen Zeitperioden, in dem sich ganz neue und glänzend helle Theile zeigten, welche sich in diesem Ganzen kaum anders, denn ein rother Flicklappen auf einem blauen Wamms ausnahmen. Das merkwürdig spitze und hohe Dach des neuen Palastbaues jedoch, das von Wasserrinnen in getriebener Arbeit übersäet und mit Bleiplatten gedeckt war, über die sich in tausendfachen phantastischen Arabesken funkelnde Zieraten aus vergoldetem Kupfer schlängelten – dieses sonderbar damascirte Dach, sage ich, erhob sich voll Anmuth mitten aus den dunkeln Ruinen des alterthümlichen Bauwerkes, dessen alte dicke Thürme durch die Zeit wie Tonnen ausgebaucht, in sich selbst vor Alter zusammensinkend und von oben bis unten geborsten, dicken, vollgepfropften Bäuchen glichen. Dahinter erhob sich der Thurmspitzenwald der Parlamentsgerichtsgebäude. Einen ähnlichen Anblick gab es in der ganzen Welt nicht: weder Chambord 67 noch die Alhambra boten etwas Zauberhafteres, Luftigeres, Wunderbareres, als diesen Wald von Thurmspitzen, Eckthürmchen, Kaminen, Wetterfahnen, von Spiral- und Schneckenformen, Lichtschlotthürmchen, die mit dem Locheisen ausgestanzt schienen, von Pavillons, von Spindelkuppeln, oder, wie man sie damals nannte, von »Thürmchen«, die alle an Gestalt, Höhe und Stellung verschieden waren. Man hätte das Ganze ein riesenhaftes Schachbrett nennen können.

Rechts von den Parlamentsgerichtsgebäuden sehen wir jene Verbindung ungeheurer, düsterschwarzer Thürme, die sich einer an den andern drängen und gleichermaßen von einem Zirkelgraben eingeschnürt sind; jenen weit mehr von Schießscharten als von Fenstern durchbrochenen Vertheidigungsthurm, jene beständig erhobene Zugbrücke, jenes immer geschlossene Fallgatter: – es ist die Bastille. Diese Sorte schwarzer Schlünde dort, die zwischen den Zinnen hervorspringen und man von weitem für Dachrinnen halten könnte, sind Kanonen. In ihrem Bereiche, am Fuße des furchtbaren Gebäudes, da liegt, versteckt zwischen seinen beiden Thürmen, das Thor Saint-Antoine.

Jenseits des Parlamentsgerichtes, bis zur Mauer Karls des Fünften hin, breitete sich mit reichen Rasen- und Blumenbeeten ein Sammetteppich von Gartenanlagen und königlichen Parks aus, in deren Mitte man an seinem Labyrinthe von Bäumen und Alleen den berühmten Garten Dädalus erkannte, den Ludwig der Elfte dem Doctor Coictier geschenkt hatte. Die Sternwarte des Doctors erhob sich über die Irrgänge des Gartens wie eine hohe, einzeln stehende Säule, die ein kleines Haus als Capital hatte. In diesem Studirzimmer haben sich schreckliche Sterndeutergeschichten zugetragen.

Hier liegt heutzutage die Place Royale. Wie bereits gesagt worden ist, füllte das Palastviertel, von dem wir dem Leser eine Idee damit zu geben versucht haben, daß wir wenigstens der hervorstechendsten Punkte Erwähnung thaten, den Winkel, welchen die Mauer Karls des Fünften mit der Seine im Osten bildete. Das Centrum der Nordstadt war mit einem Haufen von Bürgerhäusern besetzt. Hier mündeten in Wahrheit die drei Brücken der Altstadt auf das rechte Seineufer, und Brückenplätze lassen eher Häuser als Paläste entstehen. Dieser Haufen von Bürgerwohnungen, die wie die Wabenzellen in einem Bienenstocke aneinander klebten, hatte auch seine Schönheiten. Mit den Hausdächern einer Hauptstadt ist es, wie mit den Wogen des Meeres: beide sind großartig. Zunächst die Straßen. In ihrer Durchkreuzung und ihrem Gewirre bildeten sie, im Ganzen gesehen, Hunderte von allerliebsten Figuren; rings um die Markthallen herum boten sie das Bild eines Sternes mit zahllosen Strahlen. Die Straßen Saint-Denis und Saint-Martin stiegen mit ihren unzähligen Abzweigungen wie zwei mächtige Bäume, die ihre Zweige verschränken, nach einander in die Höhe, und dann schlängelten sich die Straßen de-la-Plâtrerie, de-la-Berrerie, de-la-Tixeranderie u.s.w. als gewundene Linien über das Ganze hinweg. Auch fanden sich schöne Gebäude, welche über das versteinerte Gewoge dieses Giebelmeeres hervorragten. Am Kopfe der Wechslerbrücke, hinter welcher man die Seine unter den Rädern der Müllerbrücke schäumen sah, lag das Châtelet, nun kein römisches Castell mehr, wie zu Julian des Abtrünnigen 68 Zeit, sondern ein Thurm aus der Feudalperiode des dreizehnten Jahrhunderts und aus solch hartem Steine erbaut, daß die Spitzhacke nicht ein faustgroßes Stück in drei Stunden von ihm loszuschlagen vermochte. Ferner erblickte man den prächtigen, viereckigen Thurm von Saint-Jacques-de-la-Boucherie, dessen Ecken sich ganz in Steinmetzarbeiten abrundeten, und der sich damals schon bewunderungswürdig ausnahm, wiewohl er im fünfzehnten Jahrhunderte noch nicht beendet war. (Es fehlten ihm besonders diese vier Ungethüme, welche noch heutigen Tages auf seinen Dachwinkeln ruhend, das Aussehen von vier Sphinxen haben, die dem neuen Paris das Geheimnis des alten zu errathen geben. Rault, der Bildhauer, stellte sie erst 1526 dorthin, und er erhielt zwanzig Franken für seine Arbeit). Weiter fand sich da das Säulenhaus, das sich nach jenem Grèveplatz öffnete, von dem wir dem Leser eine Vorstellung gegeben haben; dann die Kirche Sanct-Gervais, die seitdem durch ein Portal im »guten Stile« verhunzt worden ist; ferner Saint-Méry, dessen alte Spitzbogenwölbungen noch fast romanische Rundbogen zeigten; auch Sanct-Johannes, dessen prachtvoller Spitzthurm sprichwörtlich war; dazu kamen noch zwanzig andere Baudenkmäler, die etwas Besseres verdienten, als ihre Schönheitswunder in diesem Chaos von schwarzen, engen und langgezogenen Straßen zu verstecken. Hierzu denke man sich die Kruzifixe aus gemeißeltem Stein, die an den Straßenkreuzungen zahlreicher verschwendet waren, als die Galgen; dann den Kirchhof Des-Innocents, dessen architektonische Umfassungsmauer man über die Dächer hinweg in der Ferne bemerkte; weiter den Pranger der Markthallen, dessen Zinne man zwischen zwei Schornsteinen der Straße de-la-Cossonnerie hindurch erblickte; dann die Treppe zur Croix-du-Trahoir, die an ihrer Straßenecke immer schwarz von Bevölkerung war; die kreisförmig laufenden Mauern der Getreidehalle; weiter die Reste der alten Einfassungsmauer Philipp Augusts, die man, als in die Häuser eingebaut, noch hier und da unterschied; Thürme, die vom Epheu gesprengt waren; eingestürzte Pforten; Flächen von verfallenen und niedergerissenen Mauern; endlich den Quai mit seinen tausend Marktbuden und blutigen Schindergruben; schließlich die mit Kähnen bedeckte Seine vom Heulandungsplatze an bis zum Bischofsgerichtshause – und man wird eine blasse Idee von dem erhalten, was im Jahre 1482 das innere Rechteck der Altstadt von Paris vorstellte.

Außer diesen beiden Stadtvierteln: dem der Paläste und dem der Bürgerhäuser, erschien als dritter Punkt in dem Bilde, welches die Altstadt darbot, ein langer Gürtel von Abteien, der diesen Stadttheil fast in seinem ganzen Umkreise von Osten bis zum Westen umspannte, und im Rücken der Befestigungsmauer, welche Paris einschloß, diesem eine zweite, innere, aus Klöstern und Kapellen bestehende Umfriedigung gab. So befand sich unmittelbar neben dem Parke des Parlamentsgerichts, zwischen der Straße Saint-Antoine und der alten Templerstraße, das Kloster der Heiligen Katharina mit seinen ungeheuern Gartenanlagen, die nur durch die Festungsmauer von Paris abgegrenzt wurden. Zwischen der alten und neuen Templerstraße lag der Tempel, eine finstere Gruppe hoher Thürme, die mitten in einem umwallten Platze isolirt in die Höhe stiegen. Zwischen der neuen Templerstraße und der Straße Saint-Martin lag inmitten seiner Gärten die Abtei Saint-Martin, eine Prächtige und feste Kirche, deren Bastionenwall, deren Krone von Glockentürmen hinsichtlich ihrer Stärke und Pracht nur denen von Saint-Germain-des-Prés nachstanden. Zwischen den beiden Straßen Saint-Martin und Saint-Denis breitete sich der Bezirk des Dreifaltigkeitsklosters aus, endlich zwischen der Straße Saint-Denis und der Straße Montorgueil derjenige des Klosters Filles-Dieu. Seitwärts davon unterschied man die niedrigen Dächer und die verfallene Umfassungsmauer des Wunderhofes. Er war das einzige profane Glied, welches sich in diese heilige Kette von Klöstern einreihte.

Als vierter Gesichtspunkt endlich, der augenfällig aus der Häusergruppe des rechten Seineufers heraustrat und den westlichen Winkel der Stadtmauer und das Flußufer stromab ausfüllte, zeigte sich ein neuer Knäuel von Palästen und dichtgedrängten Hotels um den Louvre herum. Der alte Louvre Philipp Augusts, jenes riesengroße Gebäude, dessen ungeheurer Mittelthurm dreiundzwanzig Hauptthürme, die kleinen Thürme gar nicht gerechnet, um sich vereinigte, – dieses Gebäude, sage ich, erschien von weitem wie eingekeilt in die gothischen Dachstockwerke der Palais d’Alençon und Petit-Bourbon. Diese Hyder von Thürmen, diese Riesenwächterin von Paris mit ihren vierundzwanzig stets erhobenen Köpfen, ihren Ungeheuern, mit Blei- oder Schieferplatten gedeckten Dachfirsten, die ganz im metallischen Glänze schimmerten, schlossen in überraschender Weise das Bild der Nordstadt nach Westen ab.

Um es noch einmal zu wiederholen: eine ungeheuere Masse von Bürgerhäusern – die Römer bezeichneten das mit insula – nach rechts und links von zwei Palastgevierten in den Seiten gedeckt und auf der einen Seite vom Louvre, auf der andern vom Parlamentsgerichte gekrönt, im Norden von einer langen Reihe Abteien und bebauten Feldern begrenzt, und das Ganze für das Auge versteckt oder im bunten Gemisch; über diesen Tausenden von Gebäuden, deren Ziegel- und Schieferdächer so lange und bizarre Reihen bildeten, die buntfarbigen, kunstvoll gedeckten Glockenthürme der vierundvierzig Kirchen des linken Seineufers ragend; zahllose Straßen mitten hindurch oder als Grenze, auf einer Seite die Einfriedigung aus hohen, mit viereckigen Thürmen besetzten Mauern (im Universitätsviertel waren die Thürme rund); auf der andern Seite die überbrückte und von zahllosen hinsegelnden Kähnen durchschnittene Seine – das war die Nordstadt im fünfzehnten Jahrhunderte.

Jenseits der Mauern drängten sich einige Vororte an die Thore, jedoch in geringerer Anzahl und mehr vereinzelt, als diejenigen vor dem Universitätsviertel. Hinter der Bastille lagen zusammengekauert zwanzig Hütten um die merkwürdigen Steinmetzarbeiten von Croix-Faubin und um die Strebepfeiler der Abtei Saint-Antoine-des-Champs; ferner Popincourt in Getreidefeldern versteckt; dann La Courtille, ein freundliches Dorf voll Wirthshäuser; der Flecken Saint-Laurent mit seiner Kirche, deren Glockenturm sich von fern den Spitzthürmen des Thores Saint-Martin anzuschließen schien; weiter erblickte man den Vorort Saint-Denis mit dem großen Bezirke von Saint-Ladre; vor dem Thore Montmartre den Flecken Grange-Batelière von weißen Mauern eingeschlossen; hinter ihm Montmartre mit seinen Kreidebergen, das damals fast ebenso viel Kirchen als Mühlen besaß, und das nur die Mühlen bewahrt hat; denn die bürgerliche Gesellschaft trägt heute nur mehr nach dem leiblichen Brote Verlangen. Endlich sah man jenseits des Louvre, in den Auen, den Vorort Saint-Honoré sich hinziehen, der damals schon sehr beträchtlich war; dann die grünenden Gefilde von Petite-Bretagne und Marché-aux-Pourceaux sich erstrecken, in dessen Mitte sich der fürchterliche Glühofen erhob, in welchem die Falschmünzer gesotten wurden. Zwischen den Ortschaften La-Courtille und Saint-Laurent hatte das Auge auf der Spitze einer über einsame Gefilde sich hinziehenden Anhöhe schon eine Art Bauwerk gesehen, welches in der Ferne einer verfallenen Säulenhalle glich, die auf schadhafter Grundmauer sich erhob, – doch war es weder ein Parthenon, noch ein Tempel des olympischen Zeus: – es war Montfaucon. 69

Wenn nun aber bei Aufzählung so vieler Baudenkmäler – von denen übrigens hier nur ein Ueberblick gegeben sein sollte – das Gesammtbild des alten Paris im Geiste des Lesers, und in dem Maße, wie wir es entrollten, nicht verwischt worden ist, so wollen wir es in wenigen Worten noch einmal wiederholen. In der Mitte liegt die Insel der Altstadt, welche in ihrer Gestalt einer Riesenschildkröte gleicht und die schuppigen Ziegelsteinbrücken wie Beine unter ihrem grauen Dächerrückenpanzer hervortreten läßt. Zur Linken sehen wir das aus einem einzigen Steinblocke bestehende, feste, dichte, vollgepfropfte Rechteck der Südstadt; zur Rechten den weiten Halbkreis der Nordstadt, weit mehr ein Gemenge von Gärten und Baudenkmälern. Die drei Häuserblöcke: Altstadt, Südviertel und Nordviertel, sind von zahllosen Straßen durchadert. Mitten hindurch in ihrer ganzen Länge die Seine, »die nahrungspendende Seine«, wie sie Pater Du Breul nennt, und in ihrem Laufe von Inseln, Brücken und Fahrzeugen gesperrt. Rings herum eine immense Ebene, zusammengeflickt aus tausenderlei verschiedenen Feldern und übersäet mit schönen Dörfern; zur Linken Issy, Vanves, Baugirard, Montrouge und Gentilly mit seinem runden und seinem viereckigen Thurme u. s. w.; zur Rechten zwanzig andere Ortschaften von Conflans an bis zu Ville-l’Eveque. Am Horizonte erblickt das Auge eine Hügelkette, die wie der Rand eines Wasserbeckens im Kreise sich herumzieht. In der Ferne, nach Osten zu, sieht man schließlich Vincennes und seine sieben viereckigen Thürme; südlich Bicetre mit seinen spitzen Thürmchen; nördlich Saint-Denis und seine ragende Thurmspitze; zuletzt im Westen Saint-Cloud mit seiner Warte. Das ist das Paris, auf welches die Dohlenschwärme im Jahre 1482 von den Dächern der Kirche Notre-Dame herabsahen.

Und von dieser Stadt hat dennoch Voltaire behauptet, daß sie »vor der Zeit Ludwigs des Vierzehnten nur vier bedeutende Baudenkmäler besessen habe«, nämlich: das Kuppeldach der Sorbonne, Val-de-Grace, den neuen Bau des Louvre und ich weiß nicht mehr das vierte, wenn ich mich recht erinnere, das Palais Luxembourg. Glücklicherweise hat Voltaire bei alledem seinen »Candide« geschaffen und ist trotzdem unter allen Männern, die in der langen Kette des menschlichen Daseins einander gefolgt sind, derjenige, welcher das diabolische Lachen der Ironie am meisten besessen hat. Das beweist übrigens, daß man ein herrliches Genie sein und eine Kunst nicht verstehen kann, für die man keine Empfindung hat. Glaubte Molière nicht einem Raphael und Michel Angelo viel Ehre dadurch zu erweisen, daß er sie »diese Mignards 70 ihres Zeitalters« nannte?

Doch wir wollen zu Paris und zum fünfzehnten Jahrhunderte zurückkehren.

Damals war Paris nicht nur eine schöne Stadt, es war auch eine Stadt von einheitlichem Charakter, ein Product der mittelalterlichen Baukunst und Geschichte, eine steinerne Chronik. Es war eine Stadt, die erst aus zwei Schichten gestaltet war: der romanischen und der frühgothischen; denn die römische Schicht war längst nicht mehr zu finden, mit Ausnahme an den Bädern Kaiser Julians, an denen sie noch aus der dicken Deckschicht des Mittelalters hervorbrach. Was die keltische Schicht betraf, so fanden sich selbst beim Brunnengraben keine Ueberreste mehr von ihr vor.

Fünfzig Jahre darauf, als die Renaissance mit dieser strengen und doch so vielgestaltigen Einheit den phantastisch-blendenden Reichthum ihrer Formensysteme, den kühnen Schwung ihrer romanischen Rundbogenformen, griechischen Säulenordnungen und spätgothischen Bogenspannungen, ihre anmuthige und doch so ideale Sculptur, die eigenthümliche Neigung für Arabesken und Laubverzierungen, den heidnischen Baustil im Zeitalter eines Luther zu verbinden begann, da war Paris vielleicht noch prächtiger, wenn auch nicht so harmonisch für Auge und Sinn. Aber dieser prächtige Zeitpunkt ging bald vorüber: die Renaissance wurde vorherrschend; sie begnügte sich nicht mehr damit, Bauwerke aufzuführen, sie wollte solche auch niederwerfen; wahr ist, daß sie Platz gebrauchte. Deshalb konnte Paris nur vorübergehend seinen gothischen Charakter bewahren. Kaum hatte man die Kirche Samt-Jacques-de-la-Boucherie vollendet, als auch die Schleifung des alten Louvre begann.

Seitdem hat die gewaltige Stadt angefangen, sich von Tag zu Tag zu verändern. Das Paris im gothischen Stile, unter welchem das romanische Paris verschwand, ist seinerseits vertilgt worden: aber wer kann sagen, was für ein Paris an seine Stelle getreten ist?

Das Paris aus der Zeit Katharinens von Medici erkennt man an den Tuilerien; 71 das Paris aus Heinrichs des Zweiten Zeit am Rathhause: Beides Gebäude in einem noch großartigen Stile; das Paris aus der Zeit Heinrichs des Vierten ersieht man an der Place Royale, an den backsteinernen Fronten mit Hartsteinecken und Schieferdächern – an den dreifarbigen Häusern; das Paris Ludwigs des Dreizehnten an Val-de-Grace mit seiner erdrückten und untersetzten Bauart, den korbhenkelartigen Wölbungen, die, ich weiß nicht, so was Bauchiges in der Säulenform und Buckliges in der Kuppeldachung haben; ferner das Paris Ludwigs des Vierzehnten im großen, reichen, goldstrotzenden und frostigen Invalidenhause; das Paris Ludwigs des Fünfzehnten in der Kirche Saint-Sulpice mit ihren Schneckenspiralen, Bänderknoten, Wolkenformen, Fadennudelverzierungen und Cichorienkrautputz – alles in Stein gemeißelt; das Paris Ludwigs des Sechzehnten im Panthéon, der schlecht copirten Sanct-Peterskirche in Rom (das Gebäude hat sich schief gesackt, und die Linienformen haben das nicht besser gemacht); weiter das Paris der Republik erkennt man im Gebäude der Arzneischule, einem traurigen Mischmasch aus griechischem und römischen Stile, das dem Colosseum oder dem Parthenon ähnelt, wie die Verfassung des Jahres III den Gesetzen des Minos, – in der Architektur nennt man diesen Stil »den Messidor-Stil«; 72 das Paris Napoleons erkennt man an der Place Vendôme: dieses ist erhaben – eine bronzene Säule, die aus Kanonen hergestellt ist; das Paris der Restauration endlich an der Börse, einer blendend weißen Säulenhalle, die einen völlig glatten Fries trägt, – das Ganze ein Viereck, welches zwanzig Millionen gekostet hat.

An jedes dieser eigenartigen Baudenkmäler schließt sich, zufolge einer Gleichförmigkeit des Stiles, der Form und der Stellung, eine bestimmte Häusermenge an, die in verschiedenen Stadtvierteln zerstreut liegen und welche das Auge des Kenners leicht unterscheidet oder nach ihrem Alter bestimmt. Wer zu sehen versteht, findet den Geist eines Jahrhunderts und die Physiognomie eines Königs selbst in der Form eines Thürklopfers wieder.

Das jetzige Paris hat demnach keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten, und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern. Daher verschwindet die historische Bedeutung seiner Bauweise täglich. Die Baudenkmäler werden hier immer seltener, und es scheint, daß man zusieht, wie sie, in der Häusermenge verschwindend, nach und nach verschlungen werden. Unsere Väter besaßen ein Paris aus Stein, unsere Kinder werden eins aus Gyps bekommen.

Was die neuern Baudenkmäler des gegenwärtigen Paris betrifft, so wollen wir uns gern bescheiden, ein Wort darüber zu verlieren. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß wir ihnen nicht die Bewunderung zollten, die sich schickt. Die Sanct-Genoveva-Kirche Soufflots ist jedenfalls die schönste Christstolle, die man jemals in Stein hergestellt hat. Der Palast der Ehrenlegion ist gleichfalls ein sehr bemerkenswertes Kunstwerk der Pastetenbäckerei. Die Kuppel der Getreidemarkthalle sieht wie eine englische Jockeimutze auf einer hohen Leiter aus. Die Thürme von Saint-Sulpice sind zwei riesige Clarinetten, und das ist so gut eine Form, wie jede andere: der Telegraph in seinem schiefen Zickzack bildet eine angenehme Abwechslung auf ihren Dächern. Saint-Roch besitzt ein Portal, das sich hinsichtlich der Pracht nur mit dem von Sanct-Thomas von Aquino vergleichen läßt. Jenes nennt auch eine Schädelstätte mit Statuen in einer Kellergruft und eine Monstranz aus vergoldetem Holze sein Eigenthum. Völlig wunderbare Dinge sind da noch zu nennen. Der Lichtschlotthurm im Labyrinthe des botanischen Gartens ist auch sehr genial ausgedacht. Was den Börsenpalast betrifft, welcher griechische Formen in seiner Säulenhalle, romanische in der Rundbogenform seiner Eingänge und Fenster, solche aus der Renaissance in seiner großen Korbhenkelwölbung aufweist, so ist dieser doch unzweifelhaft ein sehr regelrechtes und in wirklich reinem Stile gehaltenes Baudenkmal: Beweis dafür, daß es von einer Attika 73 gekrönt ist, wie man solche nicht in Athen sah – eine hübsche schnurgerade Linie, die hier und da zierlich von Ofenschloten unterbrochen ist. Vergegenwärtigen wir uns nun, daß, wenn es als Regel gilt, daß die Bauart eines Gebäudes seiner Bestimmung in der Weise entspricht, wie der Zweck obigen Bauwerkes sich beim bloßen Anblicke von selbst enthüllt, so braucht man sich nicht allzusehr über ein Gebäude zu wundern, das ebensowohl ein Königspalast wie ein Volksrepräsentantenhaus, Rathhaus, Gymnasium, eine Reitschule, Akademie, ein Lagerhaus, Gerichtshof, Museum, eine Kaserne, ein Mausoleum, ein Tempel oder ein Theater sein kann. Indessen ist es ein Börsengebäude. Ein Baudenkmal muß außerdem dem Klima angepaßt sein. Dieses ist augenscheinlich und im Hinblick auf unsern kalten und regnerischen Himmel aufgeführt. Es hat nach Art der orientalischen Häuser ein fast plattes Dach, weshalb es geschieht, daß man im Winter, wenn’s schneit, das Dach fegt; und es ist ja sicher, daß ein Dach errichtet wird, um gefegt zu werden. Was jenen Zweck betrifft, von dem wir soeben gesprochen haben, so erfüllt es ihn in merkwürdiger Weise: es ist Börsengebäude in Frankreich, wie es Tempel in Griechenland gewesen wäre. Wahr ist, daß der Baumeister Mühe genug gehabt hat, das Zifferblatt der Uhr zu verbergen, welches die Reinheit der schönen Linien an der Façade beeinträchtigt hätte; aber als Ersatz hat man ja jene Säulenhalle dafür, die rings um das Gebäude sich herumzieht und unter welcher man an hohen kirchlichen Festtagen sich in würdiger Weise das Geheimnis der Börsensensale und Waarenmäkler deutlich machen kann.

Wir haben hier also ohne jeden Zweifel sehr prächtige Baudenkmäler. Bringen wir die Fülle schöner, unterhaltender und mannigfaltiger Straßen, wie die Rue de Rivoli, damit in Verbindung, so zweifle ich nicht, daß Paris, aus einem aufsteigenden Ballon gesehen, dem Auge jenen Reichthum an Linien, jenen Ueberfluß an Einzelnheiten, jene Mannigfaltigkeit an Bildern, jenes eigentümlich Großartige in der Einfachheit und Ueberraschende in der Schönheit bietet, welches ein Damenbrett kennzeichnet.

So bewunderungswürdig Euch das heutige Paris bei alledem erscheinen mag, so ruft Euch das Paris des fünfzehnten Jahrhunderts zurück, bauet es im Geiste wieder auf, blickt am Tage durch jene überraschende Reihe von Thurmspitzen, Kirch- und Glockenthürmen; gießet mitten in der ungeheuern Stadt die Seine mit ihren breiten, grünen und gelblichen Lachen aus, die dadurch schillernder als eine Schlangenhaut erscheint; theilt sie an der Spitze der Inseln; kräuselt sie unter den Bogen der Brücken; sondert das gothische Profil dieses alterthümlichen Paris zierlich auf einem azurnen Horizonte ab; lasset seinen Umriß in einem Winternebel, der sich an die zahllosen Schornsteine heftet, wogen; taucht die Stadt in eine tiefe Nacht und betrachtet das sonderbare Spiel von Finsternis und Licht in diesem düstren Häuserlabyrinthe; laßt einen Mondstrahl darauf fallen, der es undeutlich abgrenzt und die großen Thurmknöpfe aus dem Nebel hervortreten läßt; oder wiederholt diesen nächtlichen Schattenriß noch einmal, frischet die Tausende von spitzen Winkeln der Thurmdächer und Häusergiebel mit Schatten auf; lasset ihn auf dem kupferfarbigen Abendhimmel zackiger als eine Haifischkinnlade hervortreten: – und dann vergleichet!

Und wenn Ihr von der alten Stadt einen Eindruck haben wollt, wie ihn Euch die neue nicht mehr zu geben vermag, so steiget am Morgen eines hohen Festes, eines Oster- oder Pfingsttages mit Sonnenaufgang auf irgend einen erhabenen Punkt, von dem aus Ihr die ganze Stadt beherrschen könnt, und vernehmet den Weckruf des Glockengeläutes. Sehet, auf ein vom Himmel kommendes Zeichen, – denn die Sonne giebt es – diese tausend Kirchen auf einmal erbeben. Zuerst sind es vereinzelte Klänge, die von einer Kirche zur andern stiegen, wie wenn sich Musiker Zeichen geben, daß man anfangen will. Dann plötzlich sehet (denn in gewissen Augenblicken scheint auch das Ohr sein Gesicht zu haben), sehet es sich im nämlichen Augenblicke von jedem Thurme wie eine Tonsäule, wie eine Harmoniewolke erheben. Anfangs steigt die Schwingung jeder Glocke gerade, rein und gleichsam von den andern isolirt, zum glänzenden Morgenhimmel empor; dann vereinigen sie sich nach und nach anschwellend, vermischen sie sich mehr und mehr, verbinden sie sich eine mit der andern und verschmelzen zu einem grandiosen Concerte. Jetzt ist es nur noch eine Tonmasse von wohllautenden Schwingungen, die unaufhörlich von den zahllosen Thürmen aufsteigt, die dahinflutet, wogt, hüpft, über die Stadt hinwirbelt und weit über den Horizont hinaus den Kreis seiner betäubenden Schwingungen dahinsendet. Doch ist dieses Meer von Harmonien durchaus kein Chaos. So gewaltig und tief es sein mag, hat es doch seine Durchsichtigkeit nicht verloren: Ihr sehet darin jede Notengruppe für sich einzeln hervorschwirren und aus dem Glockengeläute sich loslösen. Dabei könnt Ihr ein Duett zwischen Baßglocke und Glöckchen vernehmen, das abwechselnd dumpf und kreischend! ertönt; Ihr sehet da die Octavgänge von einem Thurme zum andern schnellen; sehet sie geflügelt, leicht und sausend sich von der Silberglocke emporschwingen, schwerfällig und dumpf aus der hölzernen Glocke herausfallen; Ihr bewundert in ihrer Fülle die reiche Scala, welche unaufhörlich in den sieben Glocken von Saint-Eustache auf- und abläuft; mitten durch ihre Klänge sehet Ihr helle und stürmische Tongänge laufen, welche drei oder vier glänzende Zickzacks bilden und wie Blitzstrahle verschwinden. Da unten die markerschütternde, kreischende Sängerin, das ist die Abtei Sanct-Martin, hier die widerwärtige und mürrische Stimme der Bastille, am andern Ende der mächtige Thurm des Louvre mit seiner Barytonglocke. Das Glockenspiel des königlichen Palastes wirft unablässig nach allen Seiten hin glänzende Triller hinaus, zwischen welche im gleichen Tempo die schweren Schläge der Sturmglocke von Notre-Dame einfallen, ähnlich den Schlägen des Hammers auf den funkensprühenden Ambos. In Zwischenräumen vernehmt Ihr Töne aller Art hindurchklingen, die von den drei Glocken der Kirche Saint-Germain-des-Prés herrühren; dann theilt sich auch von Zeit zu Zeit die Flut grandioser Töne und giebt dem Finale der Ave-Mariakapelle Raum, das wie eine Sternfeuergarbe blitzend hindurchbricht. Unter ihm, in der tiefsten Tiefe des Tönegewoges, unterscheidet Ihr den Gesang im Innern der Kirchen, der durch die Oeffnungen ihrer zitternden Wölbungen dringt. – Wahrlich, es ist das eine Oper, die anzuhören sich der Mühe verlohnt. Gewöhnlich ist es das Getöse, welches aus Paris am Tage hervordringt; das ist die Stadt, welche redet; nachts ist das die Stadt, welche athmet: hier ist es die Stadt, welche singt. Leihet also diesem Glocken-Tutti das Ohr, vertheilet über dieses Ensemble das Gemurmel von einer halben Million Menschen, das beständige Klagelied der Flußwogen, das endlose Rauschen des Windes, das ferne und tiefe Quartett der vier Wälder, die über die Hügel am Horizonte ausgebreitet liegen wie ungeheure Orgelpositive; dämpfet in diesem Ganzen, wie in einem Gemälde durch Halbfärbung, alles das, was an diesem Geläute ringsherum zu rauh und schreiend sein könnte, und dann gestehet, ob Ihr in der Welt etwas Reicheres, Entzückenderes, Glänzenderes und Blendenderes kennt, als dieses Geläute und Glockengetös, als diesen Musikfeuerstrom, als diese zehntausend erzenen Stimmen, die auf einmal in den dreihundert Fuß hohen Steinflöten singen; als diese Stadt, die jetzt nur ein Orchester ist; als diese Symphonie, welche das Getöse eines Sturmes erzeugt!

  1. [Wortspiel: Die Umfriedung von Paris macht Paris unzufrieden.]
  2. [Name des peinlichen Parlamentsgerichtes.]
  3. [Name eines Schlosses an der Seine.]
  4. [Die Bäder des römischen Kaisers Julian, von denen heute noch Ueberreste im Hotel Cluny vorhanden sind. Anm. d. Übers.]
  5. [Name eines Gebäudes mit den Hörsälen der theologischen Facultät.]
  6. [Die Studentenwiese ( Pré aux clercs), jetzt der Platz, wo der Faubourg Saint-Germain liegt, war Fecht- und Tummelplatz der Studenten im alten Paris. Anm. d. Übers.]
  7. [ Lateinisch: Den Bürgern hat die Treue gegen die Könige, die zeitweilig jedoch durch Aufstände gestört wurde, viele Vorrechte verschafft.]
  8. [Im Original: le marché Palus, der Marktplatz im Moore, jetzt le Marais, Name eines Quartiers im heutigen Paris. Anm. d. Uebers.]
  9. [Der Mathuriner-Orden war ein Mönchsorden des zwölften Jahrhunderts, der sich die Loskaufung gefangener Christensklaven zur Aufgabe gestellt hatte. Anm. d. Uebers.]
  10. [Name des bekannten Dorfes (Departement Loir-et-Cher) mit weltberühmtem Schlosse, Stammsitz des bourbonischen Prätendenten Grafen Heinrich V († 1883 zu Frohsdorf). Anm. d. Uebers.]
  11. [Julian der Abtrünnige ( Apostata), römischer Kaiser (361-63 nach Chr. Geb.), trat vom Christenthume wieder zum Heidenthume über. Anm. d. Uebers.]
  12. [Name des berüchtigten Richtplatzes mit zahlreichen steinernen Galgen, an der Stelle eines keltischen Druidentempels. Anm. d. Uebers.]
  13. [Pierre Mignard, seiner Zeit berühmter französischer Maler († 1695), Zeitgenosse Molière’s. Anm. d. Uebers.]
  14. [Wir haben mit einem aus Schmerz und Unwillen gemischten Gefühle gesehen, wie man damit umging, diesen wunderbaren Palast zu erweitern, umzugestalten und immer wieder anzugreifen, das heißt zu vernichten. Die Baumeister unserer Tags haben eins viel zu plumpe Hand, um die zarten Werke der Renaissance berühren zu dürfen. Wir hoffen stetig, daß sie es nicht wagen werden. Im übrigen würde eine solche Verstümmelung heute nicht mehr eine brutale Gewaltthat sein, über die ein betrunkener Vandale erröthen müßte, es wäre ein Act der Verrätherei. Die Tuilerien sind einfach nicht mehr ein Hauptwerk der Kunst des sechzehnten Jahrhunderts, sie sind ein Blatt aus der Geschichte .des neunzehnten Jahrhunderts. Dieser Palast gehört nicht mehr dem Könige, sondern dem Volke. Lassen wir ihn so, wie er ist. Unsere Revolution hat ihn zweimal in der Fronte gezeichnet. An einer seiner beiden Facaden trägt er die Kugeln des 10. August, an der andern die des 20. Juli. Er ist geheiligt.

    Paris, am 7. April 1831. Anm. des Autors zur fünften Auflage.]

  15. [Messidor-Stil hieß zur Zeit der ersten französischen Republik (unter dem Directorinen) die plumpe Nachahmung der Antike in der Baukunst. Anm. d. Uebers.]
  16. [In der Baukunst: der Pfeileraufsatz, wandähnliche Aufbau über dem Gebälk einer Säulenordnung. Anm. d. Uebers.]

1. Gute Herzen

Sechzehn Jahre vor dem Zeitabschnitte, in welchem sich gegenwärtige Geschichte ereignete, war an einem schönen Morgen des Sonntags Quasimodo, nach der Messe in der Kirche Notre-Dame ein lebendes Wesen auf dem Bettgestelle niedergelegt worden, das im Vorhofe, links gegenüber dem »großen Bildnisse« des heiligen Christoph sich befand, welchen die in Stein gemeißelte Figur eines knieenden Ritters, des Herrn Anton Des Essarts, seit 1413 anblickte, als man auf den Gedanken gekommen war, den Heiligen und den Frommen dort hinzustellen. Es war nämlich Gebrauch, auf diesem Bettgestelle die Findelkinder der allgemeinen Mildthätigkeit auszusetzen. Von hier nahm sie weg, wer wollte. Vor dem Bettgestelle befand sich ein kupfernes Becken für die Almosen.

Die Art lebenden Wesens, welches auf diesem Brette am Morgen des Sonntags Quasimodo, im Jahre des Herrn 1467 lag, schien im hohen Grade die Neugierde der ziemlich beträchtlichen Menschenmenge zu erregen, die sich um das Bettgestell herum angesammelt hatte. Die Gruppe war zum großen Theile aus Personen des schönen Geschlechtes gebildet: es waren fast nur alte Weiber. In der ersten Reihe, und ganz auf das Lager niedergeneigt, bemerkte man vier, an deren grauem Kuttenkleide, einer Art Soutane, man errieth, daß sie irgend einer geistlichen Genossenschaft angehörten. Ich sehe durchaus nicht ein, warum die Geschichte die Namen dieser vier verschwiegenen und achtbaren Bürgerfrauen der Nachwelt nicht überliefern sollte. Sie hießen Agnes La-Herme, Johanne de la Tarme, Henriette La-Gaultière und Gauchère La-Violette, alle vier Witwen, alle vier Ordensfrauen der Kapelle Etienne-Haudry, die mit Erlaubnis ihrer Oberin und den Vorschriften Peter d’Ailly’s gemäß ihr Stift verlassen hatten, um die Predigt anhören zu gehen.

Wenn diese guten Nonnen übrigens für den Augenblick die Vorschriften Peter d’Ailly’s beobachteten, so übertraten sie jedoch in der Freude ihres Herzens diejenigen Michaels von Brache und des Cardinals von Pisa, die ihnen so grausam Schweigen auferlegten.

»Was in aller Welt ist denn das, liebe Schwester?« sagte Agnes zu Gauchère, während sie das kleine ausgesetzte Geschöpf betrachtete, welches kreischte und sich, von so viel Blicken in Schrecken versetzt, auf dem Bettgestelle wand.

»Was soll noch aus uns werden,« sagte Johanne, »wenn jetzt solche Kinder wie dieses in die Welt gesetzt werden?«

»Ich verstehe mich nicht auf Kinder,« entgegnete Agnes, »aber es muß eine Sünde sein, dieses da anzusehen.«

»Das ist kein Kind, Agnes.«

»Es ist ein verunglückter Affe,« bemerkte Gauchère.

»Es ist ein Wunder,« entgegnete Henriette La-Gaultière.

»Dann ist es,« erwiderte Agnes, »das dritte seit Sonntag Lätare; denn vor kaum acht Tagen haben wir das Wunder mit dem Pilgerspötter gehabt, der durch Unsere liebe Frau von Aubervilliers göttliche Strafe erlitt; und das war das zweite Wunder im Monate.«

»Es ist ein wahrhaft abscheuliches Ungethüm, dieses angebliche Findelkind,« nahm Johanne das Wort.

»Es brüllt, um einen Cantor taub zu machen,« fuhr Gauchère fort. »So schweige doch, kleiner Schreihals!« »Und noch zu behaupten, daß es Seine Hochwürden der Bischof von Reims ist, der Seiner Hochwürden dem Bischofe von Paris dieses Ungethüm schickt!« fügte La-Gaultière hinzu und schlug die Hände zusammen.

»Ich glaube,« sagte Agnes La-Herme, »es ist ein Vieh, ein thierisches Geschöpf, das ein Jude mit einer Sau gezeugt hat, – kurzum ein Etwas, das nicht Christ ist und das man ins Wasser oder Feuer werfen soll.«

»Ich hoffe doch,« entgegnete La-Gaultière, »daß von niemandem nach ihm gefragt werden wird.«

»O mein Gott!« rief Agnes, »die armen Ammen im Findelhause da unten am Ende des Gäßchens, wenn man den Fluß hinabgeht, ganz dicht neben Seiner Hochwürden dem Herrn Bischofe! Wehe, wenn man ihnen dies kleine Ungethüm zum Stillen brächte! Ich würde lieber einem Vampyre die Brust reichen.«

»Was die noch unschuldig ist, diese arme La-Herme!« entgegnete Johanne; »Ihr seht nicht, liebe Schwester, daß dieses kleine Scheusal mindestens vier Jahre alt ist, und daß es weniger Appetit nach Eurer Brust, als nach einem Bratenwender haben dürfte.«

Und in Wahrheit war es kein Neugeborenes, dieses kleine Scheusal. (Wir würden uns selbst durchaus nicht haben enthalten können, es anders zu nennen.) Es war eine kleine, sehr eckige und mächtig zappelnde Masse, die in einem leinenen, mit dem Namenszuge des Herrn Wilhelm Chartier, damaligen Bischofs von Paris, versehenen Sacke steckte, so daß nur der Kopf herausguckte. Dieser Kopf war ein ziemlich mißgestaltetes Etwas; man sah daran nur einen Wald von rothen Haaren, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen nur nach dem Beißen zu verlangen. Das Ganze zappelte im Sacke zum großen Erstaunen der Menge, die unaufhörlich zunahm und sich ringsherum ansammelte.

Frau Aloise von Gondelaurier, eine reiche und adlige Dame, die einen langen Schleier am goldenen Horne ihres Kopfputzes trug und ein hübsches Mädchen von ohngefähr sechs Jahren an der Hand führte, blieb im Vorübergehen vor dem Lager stehen und betrachtete einen Augenblick lang das unglückselige Geschöpf, währen ihre reizende Enkelin Fleur-de-Lys von Gondelaurier, die ganz in Seide und Sammet gekleidet war, mit ihrem niedlichenkleine Finger die an dem hölzernen Lager stets befestigte Tafel, welche die Aufschrift »Findelkinder« trug, buchstabirte.

»In der That,« sagte die Dame, während sie sich mit Abscheu wegwandte, »ich glaubte bis jetzt, daß man hier nur Kinder ausstellte« Sie wandte den Rücken, warf dabei einen Silbergulden in das Becken, welcher unter den Hellern erklang und die Ordensfrauen von der Kapelle Etienne-Handry mit großen Augen aufschauen ließ.

Einen Augenblick darauf ging der Pronotar des Königs, der würdevolle und gelehrte Robert Mistricolle mit einem ungeheuern Meßbuche unter dem einen und seiner Gattin (Frau Guillemette La-Mairesse) an dem andern Arme vorüber, so daß er also seine beiden Führer, den geistlichen und weltlichen zur Seite hatte.

»Findelkind« sagte er, nachdem er den Gegenstand betrachtet hatte, »bist offenbar am Gelände des Flusses Phlegeton 74 gefunden!«

»Man sieht nur ein Auge an ihm,« bemerkte Frau Gullemette; »über dem andern hat es eine Warze.«

»Das ist keine Warze,« warf Herr Robert Mistricolle ein, »das ist ein Ei, welches einen andern ganz ähnlichen Dämon einschließt, der ein anderes kleines Ei trägt, das einen zweiten Teufel enthält und so fort.«

»Woher wißt Ihr das?« fragte Guillemette La-Mairesse.

»Ich weiß es ganz bestimmt,« antwortete der Pronotar.

»Herr Pronotar,« fragte Gauchère, was Prophezeit Ihr von diesem angeblichen Findelkinde?«

»Die größten Unglücksfälle,« antwortete Mistricolle.

»Ach! mein Gott!« rief eine Alte aus der Zuhörerschaft, »obendrein hat voriges Jahr eine große Pest stattgefunden, und man erzählt, daß die Engländer beabsichtigen, bei Harefleur in großen Trupps zu landen.«

»Vielleicht wird das die Königin abhalten, im September nach Paris zu kommen,« versetzte eine andere, »der Handel geht schon so schlecht!«

»Ich bin der Meinung,« rief Johanne de la Tarme, »daß es besser für die Insassen von Paris sein würde, wenn man den kleinen Hexenmeister da lieber auf ein Reisigbündel, als auf ein Bett gelegt hätte.«

»Ein hübsches brennendes Reisigbündel,« fügte die Alte hinzu.

»Das würde weit vernünftiger sein,« sagte Mistricolle.

Seit einigen Augenblicken hatte ein junger Priester die Bemerkungen der Nonnen und die Urtheile des Protonotars angehört. Sein Aussehen war streng, seine Stirn breit, sein Blick stechend und tief. Er theilte schweigend die Menge, betrachtete den »kleinen Hexenmeister« und streckte die Hand über ihn aus. Es war wahrlich Zeit; denn die ganze fromme Versammlung leckte sich schon den Bart nach »dem hübschen brennenden Reisigbündel«.

»Ich nehme dieses Kind an Kindesstatt an,« sprach der Priester.

Er nahm es in seinen Chorrock und trug es davon. Die Umstehenden folgten ihm mit bestürzten Mienen. Einen Augenblick nachher war er durch die Rothe Pforte, welche damals von der Kirche nach dem Kloster führte, verschwunden

Als die erste Ueberraschung gewichen war, neigte sich Johanne de la Tarme zum Ohre La-Gaultières:

»Ich hatte Euch ja gesagt, liebe Schwester, daß dieser junge Geistliche, Herr Claude Frollo, ein Zauberer ist.«

  1. [Name eines Flusses der Unterwelt in der griechischen Mythologie. Anm. d. Uebers.]

2. Claude Frollo.

Claude Frollo war in Wahrheit keine gewöhnliche Persönlichkeit.

Er gehörte zu einer jener mittleren Familien, die man unterschiedslos in der albernen Ausdrucksweise des vorigen Jahrhunderts vornehmen Bürgerstand oder kleinen Adel nannte. Diese Familie hatte von den Brüdern Paclet das Lehen Tirechappe geerbt, welches dem Bischofe von Paris unterstellt war und dessen einundzwanzig Häuser im dreizehnten Jahrhunderte den Gegenstand so vieler Sachwalterkämpfe vor dem Officialgerichte 75 gebildet hatten. Als Besitzer dieses Lehens war Claude Frollo einer der »siebenmal einundzwanzig Lehnsherren«, welche in Paris und seinen Vorstädten Grundzins beanspruchten; und in dieser Eigenschaft hat man zwischen dem Hotel Tancarville, das Meister Franz Le-Rez gehörte, und dem Collegium Tours lange Zeit seinen Namen in dem Archive eingetragen sehen können, das in Saint-Martin-des-Champs in Verwahrung sich befand.

Claude Frollo war von Kindheit an von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt worden. Man hatte ihn im Lateinlesen unterrichtet; er war angehalten worden, die Augen niederzuschlagen und leise zu sprechen. Noch ganz Kind hatte ihn sein Vater in das Collegium Torchi im Universitätsviertel eingesperrt. Hier war er über dem Meßbuche und dem Lexikon herangewachsen.

Er war übrigens ein trübsinniges, stilles und ernstes Kind, das eifrig studirte und schnell begriff; er schrie nie laut in den Erholungsstunden, mischte sich kaum in die lärmenden Gelage der Rue du Fouarre, wußte nicht, was man unter »dare alapas et capillos lanicare« 76 verstand und hatte keine Rolle in jener Meuterei vom Jahre 1463 gespielt, welche die Annalisten allen Ernstes unter dem Titel »Sechste Unruhe im Universitätsviertel« aufzeichnen. Es begegnete ihm selten, daß er die armen Schüler von Montaigu wegen der »Kappenmäntelchen«, von denen sie ihren Namen erhielten, oder die Freischüler des Collegiums Dormans wegen ihrer glattgeschorenen Tonsur und wegen ihres dreitheiligen Ueberrockes aus dunkelblauem, hellblauen und violetten Tuche ( »azurini coloris et bruni«), wie die Urkunde des Cardinals Des-Quatre-Couronnes sagte, verspottete. Dagegen war er unablässig in den höhern und niedern Schulen der Straße Saint-Jean-de-Beauvais zu finden. Der erste Student, welchen der Abt von Saint-Pierre-de-Val, sobald er seine Vorlesung über das kanonische Recht begann, immer dem Katheder gegenüber an einer Säule der Schule Sanct-Vendregesile lehnen sah, war Claude Frollo, mit seinem Tintenfaß aus Horn versehen, an der Feder kauend, auf seinem abgeschabten Knie kritzelnd und im Winter in die Finger hauchend. Der erste Hörer, welchen Herr Miles von Isliers, der Doctor des kanonischen Rechtes, jeden Montag Morgen und ganz außer Athem bei der Oeffnung der Thüren der Schule Chef-Saint-Denis ankommen sah, war Claude Frollo. Daher hätte der junge Gelehrte von sechzehn Jahren in der theologischen Geheimlehre einem Kirchenvater, in der kanonischen Theologie einem Conciliumsvater und in der scholastischen Theologie einem Doctor der Sorbonne die Spitze bieten können. Nachdem er mit der Theologie zu Ende war, warf er sich auf das kanonische Recht. Vom »Magister Sententiarum« war er auf die »Capitularien Karls des Großen« gerathen; und nach und nach hatte er in seinem Wissenshunger Decretalien um Decretalien verschlungen: so diejenigen des Theodorus, Bischofs von Hispalis, wie diejenigen des Bouchardus, Bischofs von Worms, und diejenigen von Yves, des Bischofs von Chartres, dann die Decretaliensammlung des Gratian, welche nach den Capitularien Karls des Großen an die Reihe kam; dann die Sammlung Gregors des Neunten, endlich das Sendschreiben »Super specula« von Honorius dem Dritten. Er machte sich jene lange und stürmische Periode des bürgerlichen und kanonischen Rechtes in Ringen und Arbeit im Chaos des Mittelalters klar und vertraut, – jene Periode, welche der Bischof Theodorus im Jahre 618 eröffnet und welche 1227 der Papst Gregor abschließt. Sobald das kanonische Recht verdauet war, warf er sich auf die Medicin, auf die freien Künste. Er studirte Kräuterkunde und Salbenkunde; er wurde erfahren in der Behandlung von Fiebern und Quetschungen, von Verwundungen und Geschwüren. Jacob von Espars hätte ihn als Physicus, Richard Hellain als Chirurg zugelassen. Er durchlief gleichmäßig alle Grade der Licentiatenwürde, der Lehrfähigkeit und der Doctorwürde in den Künsten. Er studirte Sprachen: das Lateinische, Griechische und Hebräische, – ein dreifaches Heiligthum, zu dem damals nur sehr wenige Zutritt hatten. Was das Wissen anbetrifft, so war er von einem wahren Fieber besessen, zu erwerben und Schätze aufzuhäufen. Im Alter von achtzehn Jahren hatte er die vier Facultäten durchlaufen; es schien dem jungen Manne, als ob das Leben nur einen einzigen Zweck hätte: das Wissen.

Es war um diese Zeit ohngefähr, als in Folge des übermäßig heißen Sommers vom Jahre 1466 jene große Pest ausbrach, welche mehr als vierzigtausend Menschen im Gerichtsbezirke von Paris hinwegraffte, und unter anderem auch, wie Johann von Troyes sagt, »Meister Arnoul, den Sterndeuter des Königs, der ein sehr guter Mann war, gescheidt und drollig dazu«. Im Universitätsviertel verbreitete sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe ganz besonders von der Krankheit heimgesucht worden wäre. Dort nun wohnten, inmitten ihres Lehens, die Eltern Claude’s. Der junge Student eilte ganz erschrocken nach dem väterlichen Hause. Als er dort eintrat, waren Vater und Mutter in der Nacht vorher gestorben. Ein ganz kleiner Bruder, der in den Windeln lag, lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Das war alles, was dem Claude von seiner Familie übrig blieb; der junge Mann nahm das Kind in seinen Arm und ging nachdenklich von dannen. Bis dahin hatte er nur in seiner Wissenschaft gelebt, er fing nun an im Dasein zu leben.

Dieses Unglück wurde ein Wendepunkt im Leben Claude’s. Verwaist, als der Aelteste und als Haupt seiner Familie in einem Alter von neunzehn Jahren, fühlte er sich schonungslos von den Träumereien der Schule zur Wirklichkeit dieser Welt zurückgerufen. Damals faßte er, von Mitleiden bewegt, leidenschaftliche Liebe und Hingabe für dieses Kind, seinen Bruder: – etwas Sonderbares und Köstliches um eine menschliche Neigung für ihn, der bis jetzt nur Bücher geliebt hatte.

Diese Neigung zeigte sich in einer eigenthümlichen Stärke: in einem so jungen Herzen erschien sie wie eine erste Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern, die er kaum gekannt hatte, getrennt, in ein Kloster gesperrt und hinter seinen Büchern wie festgemauert, begierig vor allem zu studiren und zu lernen, bis dahin ausschließlich auf seinen Geist bedacht, der sich in der Wissenschaft erweiterte, bedacht auf seine Einbildungskraft, die unter den Studien erstarkte, hatte der arme Student noch keine Zeit gehabt, die Stelle zu fühlen, wo sein Herz schlug. Dieser junge, vater- und mutterlose Bruder, dieses kleine Kind, welches ihm plötzlich vom Himmel in die Arme fiel, machte einen neuen Menschen aus ihm. Er erkannte, daß es noch etwas Anderes in der Welt gäbe, als die Forschungen der Sorbonne und die Verse Homers; daß der Mensch der Neigungen bedürfe; daß das Leben ohne Zärtlichkeit und ohne Liebe nur ein gefühlloses, kreischendes und aufreibendes Räderwerk sei. Nur bildete er sich ein, – denn er war im Alter, wo die Täuschungen nur durch andere Täuschungen ersetzt werden – daß die Bande des Blutes und der Familie die allein nothwendigen wären, und daß einen kleinen Bruder zu lieben hinreichend wäre, um ein ganzes Dasein auszufüllen. Er überließ sich also der Liebe zu seinem kleinen Johann mit der Leidenschaft eines schon tiefen, glühenden und festen Gemüthes. Dieses arme, schwache, hübsche, blonde, rothbackige und gelockte Geschöpf, diese Waise ohne andern Beistand als den einer Waise, bewegte ihn bis in den tiefsten Grund der Seele, und als ernster Denker, wie er war, begann er über Johann mit grenzenlosem Mitleiden nachzudenken. Er machte sich Sorge und Kummer um ihn, wie um etwas sehr Gebrechliches, etwas, das ihm sehr ans Herz gelegt war. Er wurde dem Kinde mehr als ein Bruder: er wurde ihm eine Mutter.

Der kleine Johann hatte seine Mutter verloren, als er noch an der Brust lag; Claude that ihn zu einer Amme. Außer dem Lehen von Tirechappe hatte er auch das Lehensgut Le-Moulin von seinem Vater als Erbe erhalten, das zum Quadratthurme Gentilly zu Lehen ging: es war eine Mühle auf einem Hügel beim Schlosse Winchestre (Bicêtre). Hier lebte die Müllerin, welche ein hübsches Kind säugte; es war nicht weit vom Universitätsviertel. Claude brachte ihr selbst seinen kleinen Johann.

Von jetzt an, und da er fühlte, daß er eine Bürde trage, nahm er das Leben sehr ernst. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder wurde nicht nur seine Erheiterung, sondern auch der Zweck bei seinen Studien. Er beschloß, sich ganz und voll einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich wurde, niemals eine Gattin, ein anderes Kind zu besitzen als seinen Bruder und dessen Glück und Loos. Er gab sich nun mehr als sonst seinem geistlichen Berufe hin. Sein Verdienst, seine Gelehrsamkeit, sein Stand als unmittelbarer Lehnsmann des Bischofs von Paris öffneten ihm die Pforten der Kirche ganz weit. Im Alter von zwanzig Jahren war er in Folge besonderer Dispensation des Heiligen Stuhles Priester und versah als der jüngste unter den Kaplänen von Notre-Dame den Dienst an dem Altare, der wegen der Messe, die da spät abends gelesen wird, altare pigrorum 77 genannt wird. Dabei, und weil er mehr als vordem sich in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur verließ, um auf ein Stündchen nach dem Lehnsgute Le-Moulin zu eilen, hatte ihm diese für sein Alter so seltene Mischung von Gelehrsamkeit und Charakterfestigkeit rasch die Achtung und Bewunderung seines Klosters erworben. Vom Kloster war sein Ruf als Gelehrter ins Volk gedrungen, wo, wie es damals häufig der Fall war, er sich ein wenig in den eines Zauberers verkehrt hatte.

Gerade in dem Augenblicke nun, wo er, am Sonntage Quasimodo, von der Messe zurückkehrte, die für die Spätkommenden an dem für sie bestimmten Altare, neben der ins Schiff führenden Thüre des hohen Chores, rechts, beim Bilde der heiligen Jungfrau, celebrirt wurde, war seine Aufmerksamkeit durch die Gruppe kreischender Weiber erregt worden, die sich um das Lager der Findelkinder zusammengedrängt hatten.

Er hatte sich dem unglücklichen kleinen Geschöpfe genähert, das in jenem Augenblicke gerade so verabscheut und bedrohet war.

Diese drängende Gefahr, diese Häßlichkeit, diese Hilfslosigkeit, der Gedanke an seinen kleinen Bruder, die Idee, die ihm plötzlich durch den Kopf fuhr, daß, wenn er stürbe, er, sein theurer kleiner Johann, wohl auch so erbärmlich auf dem Brette der Findelkinder ausgesetzt werden könnte – alles das war ihm auf einmal zu Herzen gegangen: ein tiefes Mitleid hatte sich in ihm geregt, und er hatte das Kind davongetragen.

Als er das Kind aus dem Sacke herauszog, fand er es in der That sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine große Warze über dem linken Auge, den Kopf an den Schultern, ein krummes Rückgrat, ein hervorragendes, Brustbein, krumme Beine, aber er erschien lebenskräftig; und wiewohl es unmöglich war, zu verstehen, welche Sprache er lallte, so verkündigte sein Schreien doch eine gewisse Stärke und Gesundheit zugleich. Das Mitleiden Claude’s wuchs beim Anblick dieser Häßlichkeit; und er gelobte sich in seinem Herzen, dieses Kind aus Liebe zu seinem Bruder zu erziehen, damit, seien in Zukunft die Fehler des kleinen Johann welche sie wollten, diese an jenem geübte Barmherzigkeit zu seinem Besten ausschlagen möchte. Es war das eine Art Anlage guter Werke, die er auf das Haupt seines jungen Bruders hin bewerkstelligte; es war eine Ladung guter Handlungen, die er für ihn zum voraus ansammeln wollte, für den Fall, daß der kleine Schelm eines Tages mit dieser Münze knapp dran sein sollte, – der einzigen, die als Brückengeld zum Paradiese angenommen wird.

Er taufte sein Adoptivkind und nannte es »Quasimodo«, 78 sei es, daß er damit nun den Tag bezeichnen wollte, an welchem er es gefunden, sei es, daß er mit diesem Namen das arme kleine Geschöpf als im gewissen Grade krüppelhaft und fast noch nicht geformt charakterisiren wollte. In Wahrheit war der einäugige, bucklige, krummbeinige Quasimodo kaum mehr als ein »Ungefähr« von Menschen.

  1. [Geistlicher Gerichtshof.]
  2. [Lateinisch: Ohrfeigen austheilen und raufen. Anm. d. Uebers.]
  3. [Lateinisch: Der Altar der Trägen. Anm. d. Uebers.]
  4. [ Lateinisch: Das Beinahe, Ungefähr. Anm. d. Uebers.]

3. Immanis pecoris custos, immanior ipse. 79

Nun, im Jahre 1482, war Quasimodo herangewachsen. Er war seit mehreren Jahren Glöckner von Notre-Dame, Dank seinem Pflegevater Claude Frollo, welcher Archidiaconus von Josas durch seinen Oberlehnsherrn Louis von Beaumont geworden war, der dagegen 1472, nach Wilhelm Chartiers Tode, durch Vermittlung seines Gönners Olivier Le-Daim, des Barbiers König Ludwigs des Elften von Gottes Gnaden, Bischof von Paris geworden war.

Quasimodo war also Glockenläuter von Notre-Dame.

Mit der Zeit hatte sich ein gewisses inniges Band gebildet, welches den Glöckner mit der Kirche verband. Auf immer von der Welt geschieden durch das zwiefache Mißgeschick seiner unbekannten Herkunft und seiner verkrüppelten Leibesbeschaffenheit, von Kindesbeinen an in diesen unüberschreitbaren Doppelkreis gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, jenseits der frommen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, nichts von dieser Welt kennen zu lernen. Notre-Dame war, je nachdem er heranwuchs und sich entwickelte, für ihn nach einander das Ei, Nest, Haus, Vaterland und Weltall geworden.

Und sicher ist, daß zwischen diesem Geschöpfe und dieser Kirche eine Art geheimer und vorher bestehender Harmonie bestand. Als er, noch ganz klein, schlangenartig und sprungweise unter ihren düstern Wölbungen sich hinschlich, so erschien er mit seinem menschlichen Antlitze und seinem thierischen Gliederbau als das leibhafte Reptil dieses feuchten und dunkeln Bodens, auf welchen der Schatten der romanischen Säulenkapitäle in so vielen seltsamen Figuren niederfiel.

Später, als er sich maschinenmäßig zum ersten Male an dem Glockenstrange festhielt, sich daran schaukelte und die Glocke in Bewegung setzte, so machte das auf Claude, seinen Pflegevater, den Eindruck von einem Kinde, dessen Zunge sich löst und das zu sprechen anfängt.

Weil er im Verständnis des Wesens der Kirche sich immer mehr entwickelte, in ihr lebte, dort schlief, sie fast niemals verließ, ihre geheimnisvolle Einwirkung stündlich auf sich wirken ließ, so kam es, daß er ihr allmählich ähnlich wurde, sich ganz in sie versenkte und gewissermaßen einen ergänzenden Theil von ihr zu bilden begann. Die hervortretenden Ecken seines Körpers fügten sich (man gestatte uns dieses Bild) in die zurückweichenden Winkel des Gebäudes, und er erschien nicht nur als ihr Insasse, sondern vielmehr ihr verkörperter Inhalt. Man möchte fast sagen, daß er ihre Gestalt angenommen hätte, wie die Schnecke die Gestalt ihres Hauses annimmt. Sie war seine Behausung, sein Loch, seine Hülle. Zwischen der alten Kirche und ihm fand eine so tiefe und instinktive Übereinstimmung, so große magnetische Wahlverwandtschaft, so viel tatsächliche Ähnlichkeit statt, daß er an ihr in gleicher Weise, wie die Schildkröte an ihrem Gehäuse hing; die furchige Kirche war sein Rückenschild.

Es ist überflüssig, den Leser daran zu erinnern, die Bilder nicht buchstäblich zu verstehen, die wir hier zu gebrauchen gezwungen sind, um diese sonderbare, gleichmäßige, unmittelbare, fast wesengleiche Verbindung zwischen einem Menschen und einer Kirche zu schildern. Ebenso überflüssig ist, es zu sagen, wie sehr er sich mit der ganzen Kathedrale in einem so langen und innigen Zusammenleben vertraut gemacht hatte. Dieses Haus war ihm ganz zu eigen; es gab keine Tiefe, in die Quasimodo nicht gekrochen wäre, keine Höhe, die er nicht erstiegen hätte. Es geschah unzählige Male, daß er die Front der Kirche mit ihren zahlreichen Erhebungen erklomm und sich dabei nur an die Vorsprünge der Steinhauerarbeit klammerte. Die Thürme, an deren Außenfläche man ihn häufig wie eine Eidechse, die an einer senkrechten Mauer hinschlüpft, herumklettern sah, diese zwei so hohen, drohenden und furchtbaren Zwillingsriesen hatten für ihn nichts Entsetzendes, Schreckhaftes, noch Schwindelerregendes. Wenn man sie unter seinen Händen so ruhig, so leicht zu erklimmen sah, hätte man sagen mögen, daß er sie gezähmt hätte. Durch vieles Umherspringen, Klettern und dadurch, daß er sich inmitten der Untiefen der gigantischen Kathedrale herumtummelte, war er in gewisser Hinsicht zum Affen und zur Gemse geworden, oder ähnlich dem Kinde in Calabrien, welches schwimmt, ehe es laufen kann und schon in zarter Jugend mit dem Meere spielt.

Uebrigens schien sich nicht allein sein Körper, sondern auch sein Geist nach der Kathedrale geformt zu haben. In welchem Zustande befand sich diese Seele? Welche Richtung hatte sie angenommen, welche Form hatte sie unter dieser geschlossenen Hülle, in dieser ungeselligen Lebensweise erlangt? Das zu bestimmen würde schwer halten. Quasimodo war einäugig, bucklig und hinkend auf die Welt gekommen. Nur mit großer Mühe und nicht weniger Geduld hatte Claude Frollo es erreicht, ihn sprechen zu lehren. Aber ein Verhängnis hatte das arme Findelkind betroffen. Nachdem er Glöckner von Notre-Dame im vierzehnten Lebensjahre geworden, hatte sich ein neues Gebrechen eingestellt, jenes vollständig zu machen, die Glocken hatten ihm das Trommelfell zersprengt: er war taub geworden. Die einzige Pforte, welche ihm die Natur zur Welt hin ganz offen gelassen hatte, war plötzlich auf immer geschlossen.

Als sie sich schloß, schnitt sie den einzigen Licht- und Freudestrahl ab, der noch in die Seele Quasimodo’s fiel. Diese Seele versank in eine tiefe Nacht. Die Schwermuth des Unglücklichen wurde unheilbar und völlig, wie seine Häßlichkeit. Außerdem machte ihn seine Taubheit in gewisser Hinsicht stumm. Denn um andern keine Veranlassung zum Lachen zu geben, verdammte er sich von dem Augenblicke an, wo er sich taub fühlte, entschlossen zu einem Stillschweigen, welches er selten und nur dann brach, wenn er allein war. Er fesselte freiwillig diese Zunge, die zu lösen Claude Frollo so viele Mühe gehabt hatte. In Folge davon geschah es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Sprechen zwang, seine Rede schwerfällig, ungeschickt war und einer Thüre glich, deren Angeln verrostet sind.

Wenn wir nun versuchten, durch dieses dicke und harte Aeußere bis in Ouasimodo’s Seele zu dringen; wenn wir die Tiefen dieses übelbeschaffenen Wesens untersuchen könnten, wenn es uns vergönnt wäre, mit einer Leuchte hinter diese undurchsichtigen Theile zu schauen, das düstere Innere dieses unerforschlichen Geschöpfes zu ergründen, seine dunkeln Falten, seine unbegreiflichen Schlupfwinkel aufzuhellen und plötzlich einen hellen Lichtstrahl auf die in der Tiefe dieser Höhle gefesselte Psyche fallen zu lassen, so würden wir diese unglückliche ohne Zweifel in einer ähnlichen elenden, geknickten und verkrüppelten Lage finden, wie jene Gefangenen der Bleidächer in Venedig, welche in einem sehr niedrigen, kurzen Steinkasten liegend und zu zwei Hälften zusammengekrümmt hinaltern.

Es steht fest, daß in einem mißgestalteten Leibe der Geist verkrüppelt. Quasimodo empfand kaum, daß sich in seinem Innern blindlings eine Seele rege, die nach seinem Aeußern geformt war. Die Eindrücke der Gegenstände erlitten eine beträchtliche Strahlenbrechung, ehe sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Sein Gehirn war ein sonderbarer Vermittler: die Ideen, welche es durchkreuzten, gingen alle verkehrt daraus hervor. Die Vorstellung, welche von jener mangelhaften Anschauung herrührte, war notwendigerweise eine abweichende und schiefe. Die Folge davon waren zahllose Sinnestäuschungen, zahllose Urtheilsirrungen, zahllose Gedankensprünge, in denen sein theils thörichtes, theils blödsinniges Denken abschweifte.

Die eine Folge jener verhängnisvollen Anschauungsweise war die, den Blick, welchen er auf die Dinge um sich her warf, zu verwirren. Er empfing von ihnen fast keine unvermittelte Vorstellung. Die äußere Welt erschien ihm in einer weiteren Entfernung, als uns.

Die andere Wirkung dieses unglücklichen Seelenzustandes war, daß er boshaft wurde.

Er war in der That boshaft, weil er verwildert war; er war verwildert, weil er mißgestaltet war. In seinem Naturell war gerade so viel Logik, wie in dem unsrigen. Seine außergewöhnlich entwickelte Körperkraft war ein Grund mehr zur Boshaftigkeit: » Malus puer robustus80 sagt Hobbes. Uebrigens muß man ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen: die Boshaftigkeit war ihm vielleicht nicht angeboren. Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen hatte er sich verhöhnt, beschimpft, zurückgestoßen gefühlt, dann gesehen.

Die Worte der Leute hatten für ihn immer eine Verspottung oder eine Verwünschung enthalten. Als er heranwuchs, hatte er nur Haß in seiner Umgebung gefunden. Er hatte ihn verstanden. Er hatte die gewöhnliche Bosheit angenommen. Er hatte die Waffe ergriffen, mit der man ihn verwundet hatte.

Nach alledem zeigte er nur mit Widerwillen sein Antlitz der Menschheit; seine Kirche war seine Welt. Sie war bevölkert mit marmornen Gestalten, Königen, Heiligen, Bischöfen, welche ihm wenigstens nicht ins Gesicht lachten und nur ein stilles, wohlwollendes Mitleid für ihn hatten. Die andern Bildsäulen, die der Teufel und Dämonen, hatten keinen Haß gegen ihn; Quasimodo – war ihnen darin selbst zu ähnlich. Sie verspotteten wohl eher die andern Menschen. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn; die Ungeheuer waren es gleichfalls und beschützten ihn. Daher hatte er lange Herzensergießungen mit ihnen. Daher verbrachte er manchmal ganze Stunden, vor einer dieser Bildsäulen niedergekauert, im einsamen Gespräche mit ihr. Wenn jemand unvermuthet dazukam, so entfloh er wie ein Liebhaber, der beim Ständchen überrascht wird.

Und die Kirche war für ihn nicht allein die Gesellschaft, sondern auch das Weltall, ja die ganze Natur. Er träumte von keinen andern Baumgeländern, als den immer in Farbenpracht schimmernden Kirchenfenstern, von keinem andern Schatten, als demjenigen dieses steinernen Laubwerkes, welches, mit Vogelgestalten angefüllt, den Knauf der sächsischen Kapitale umrankt; von keinen andern Gebirgen, als den riesigen Thürmen der Kathedrale, von keinem andern Oceane, als Paris, welches zu ihren Füßen brandete.

Was er aber vor allem in diesem mütterlichen Gebäude liebte, was seine Seele aufweckte und sie die armen Fittiche ausbreiten ließ, die sie in ihrem Innern so traurig zusammengefaltet trug, was ihn manchmal glücklich machte, das waren die Glocken. Er liebte sie, er liebkoste sie, sprach mit ihnen, verstand sie. Vom Glockenspiele auf der Spitze des Kreuzschiffes an bis zur großen Glocke des Vordergiebels waren sie alle Gegenstände seiner Zärtlichkeit. Der Glockenturm des Kreuzschiffes, die zwei Hauptthürme waren für ihn gleichsam drei große Vogelkäfige, deren Sänger, von ihm großgezogen, nur für ihn sangen. Und dabei waren es dieselben Glocken, die ihn taub gemacht hatten; aber Mütter lieben oft das Kind am meisten, das ihnen die größten Leiden verursacht hat.

Freilich war ihre Stimme die einzige, welche er noch hören konnte. In dieser Beziehung war die große Glocke seine Heißgeliebte. Sie war es, der er in dieser Familie von kreischenden Töchtern den Vorzug gab, wenn sie an Festtagen um ihn hin- und hersprang. Diese große Glocke hieß Marie. Sie befand sich allein im südlichen Thurme mit ihrer Schwester Jacqueline, einer Glocke von geringerem Umfange, die in einem kleinern Stuhle ihr zur Seite hing. Diese Jacqueline war so nach dem Namen der Gattin Jean Montagu’s genannt worden, welcher die Glocke der Kirche geschenkt hatte; was aber nicht verhindert hatte, daß er später ohne Kopf in Montfaucon 81 figuriren sollte. Im zweiten Thurme befanden sich sechs andere Glocken, und die sechs kleinsten Glocken endlich hingen auf dem Thurme des Kreuzarmes zusammen mit der hölzernen Glocke, welche man nur vom Nachmittage des Gründonnerstages an bis zum Morgen des Osterheiligabends läutete. Quasimodo hatte also fünfzehn Glocken in seinem Serail, aber die große Marie war seine Favorite.

Man kann sich an den Tagen feierlichen Geläutes keinen Begriff von Quasimodo’s Freude machen. In dem Augenblicke, wo ihm der Archidiaconus die Einwilligung gegeben und zugerufen hatte: »Hinauf«, eilte er die Wendeltreppe zum Thurme schneller hinauf, als ein anderer sie hätte herabsteigen können. Ganz athemlos trat er in das luftige Gelaß der großen Glocke ein; er betrachtete sie einen Augenblick lang mit Andacht und Liebe; dann redete er sie freundlich an, streichelte sie mit der Hand wie ein gutes Pferd, das einen weiten Ritt machen soll. Er beklagte sie wegen der Mühe, die sie haben sollte. Nach diesen ersten Liebkosungen rief er den Gehilfen, die in einem tiefern Stockwerke des Thurmes standen, zu, anzufangen. Diese hingen sich an die Seile, die Gangspille kreischte und die ungeheure Metallkapsel bewegte sich langsam. Quasimodo folgte ihr, am ganzen Körper zitternd, mit seinen Blicken. Der erste Anschlag des Klöppels an die erzene Wand ließ das Gerüst, auf welches er gestiegen war, erzittern. Quasimodo erbebte mit der Glocke.

»Hurtig,« schrie er, in ein unsinniges Gelächter ausbrechend. Währenddem nahm die Bewegung der Baßglocke zu, und in dem Maße, wie sie im immer weiteren Winkel dahinflog, wurde auch Quasimodo’s Auge immer glühender und flammender. Endlich begann der volle Schwung der Glocke; der ganze Thurm zitterte: Holzwerk, Bleidachung, Quadersteine, alles zitterte zugleich von den Grundpfeilern an bis zu den Kreuzblättern des Helmdaches. Quasimodo schäumte jetzt vor Aufregung; er lief, er kam zurück, er zitterte mit dem Thurme von Kopf bis zu Füßen. Die hinstürmende und rasende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Thurmwänden ihren metallenen Schlund, aus dem jenes Orkanwehen hervorging, das man vier Meilen weit vernimmt. Quasimodo stellte sich vor diesen weiten Rachen; er kauerte sich nieder, erhob sich wieder beim Rückschlage der Glocke, athmete das betäubende Getös ein, sah bald in die Tiefe auf den Platz hinunter, auf dem es, zweihundert Fuß unter seinen Füßen, von Menschen wimmelte, bald auf die ungeheure erzene Zunge, die ihm von Secunde zu Secunde ins Ohr heulte. Das war für ihn die einzige Sprache, die er hörte, der einzige Laut, der für ihn die allgemeine Stille unterbrach. Hier machte er sich breit wie ein Vogel in den Strahlen der Sonne. Plötzlich packte ihn die Raserei der Glocke; sein Aussehen wurde befremdlich; er erwartete die vorbeifliegende Glocke, wie die Spinne auf die Fliege lauert, und warf sich plötzlich mit Ungestüm auf sie. So über dem Abgrunde schwebend, mit dem schrecklichen Fluge der Glocke hin- und hergeworfen, packte er das eherne Ungeheuer an den Ohrzapfen, drückte es mit seinen beiden Knieen, spornte es mit seinen Hacken und verdoppelte mit dem vollen Stoße und dem ganzen Gewichte seines Leibes die Raserei des Geläutes. Während der Thurm bebte, schrie er und knirschte mit den Zähnen, seine rothen Haare sträubten sich, seine Brust hob sich mit dem Geräusche eines Blasebalgs, sein Auge sprühte Flammen, das Glockenungethüm tobte laut schnaubend unter ihm; und das war jetzt nicht mehr die große Glocke von Notre-Dame und auch nicht Quasimodo: das war ein Traumbild, ein Wirbel, ein Sturm, der Koller eines Pferdes beim Entstehen eines Geräusches, ein Geist, der sich an einen dahinfliegenden Sattelsitz angeklammert, ein sonderbarer Centaur, der halb Mensch, halb Glocke ist, eine Art furchtbarer Astolph auf einem seltsamen, lebenden Hippogryphen von Erz durch die Luft geführt.

Die Anwesenheit dieses außergewöhnlichen Geschöpfes ließ in der ganzen Kirche einen eigentümlichen Lebenshauch sich verbreiten. Es schien, wenigstens um mit dem übertrieben-abergläubischen Vorstellungen der Menge zu reden, als ob eine geheimnisvolle Ausströmung von ihm ausginge, welche alle Steine von Notre-Dame belebte und die tiefen Furchen der alten Kirche zucken ließe. Es war genügend, ihn dort zu wissen, um zu glauben, daß man die Tausende von Statuen der Galerien und der Thore leben und sich bewegen sähe. Und in der That erschien die Kathedrale unter seinen Händen als ein gelehriges und gehorsames Geschöpf; sie war seines Willens gewärtig, um Ihre gewaltige Stimme zu erheben; sie war von Quasimodo« wie von einem Hausgeiste in Besitz genommen und erfüllt. Man hätte sagen können, daß er dem Ungeheuern Gebäude Leben eingehaucht. Er war in der That dort überall, er vervielfältigte sich an allen Punkten des Baudenkmales. Bald sah man mit Schrecken auf der höchsten Höhe eines der Thürme einen wunderlichen Zwerg, welcher kletterte, sich schlängelte, auf allen Vieren kroch, auswärts über dem Abgrunde herabstieg, von Vorsprung zu Vorsprung sprang und das Innere des Leibes einer in Stein gemeißelten Gorgone durchsuchte: es war Quasimodo, welcher Rabennester ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine lebende Chimäre, die finster brütend niederkauerte: es war Quasimodo in Nachdenken versunken. Bald bemerkte man unter einem Thurme ein ungeheures Haupt und ein Bündel wirrer Gliedmaßen, welche sich wüthend am Ende eines Seiles schaukelten: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus 82 läutete. Oft sah man nachts an dem durchbrochenen, schwachen Geländer, welches die Thürme umkränzt und die Verlängerung des Seitenschiffes hinter dem Chore einfaßt, eine scheußliche Gestalt: auch das war der Bucklige von Notre-Dame. In diesem Augenblicke nahm, wie die Nachbarn erzählten, die ganze Kirche etwas Phantastisches, Uebernatürliches, Schreckliches an; Augen und Mäuler der Figuren öffneten sich hier und da; man hörte die Hunde heulen, die Schlangen- und Drachenfiguren zischen, welche mit vorgerecktem Halse und offenem Rachen Tag und Nacht rings um die ungeheure Kathedrale wachen. Und wenn es in einer Nacht des Weihnachtsfestes war, während die große Glocke zu röcheln schien und die Gläubigen zur lichterglänzenden Mitternachtsmesse rief, hatte die dunkle Façade ein derartiges Aussehen angenommen, daß man hätte glauben mögen, das große Portal verschlänge die Menschenmenge und die Rosette blicke sie wie ein Auge an. Und alles das kam von Quasimodo her. In Aegypten hätte man ihn für den Gott dieses Tempels gehalten; im Mittelalter hielt man ihn für den bösen Geist desselben: er war seine Seele.

Unter diesem Umstande ist Notre-Dame für diejenigen, welche wissen, daß Quasimodo gelebt hat, heute verlassen, entseelt, todt. Man fühlt, daß hier etwas verschwunden ist. Dieser ungeheure Leib ist verlassen; er ist ein Skelett; der Geist ist entwichen, man sieht seinen Platz, aber das ist alles. Sie ist jetzt einem Schädel ähnlich, in dem sich noch die Höhlen für die Augen befinden, aus denen aber kein Blick mehr strahlt.

  1. [Lateinisch: Der Hüter eines Riesenthieres, noch schrecklicher selbst. Anm. d. Uebers.]
  2. [ Lateinisch: Ein boshafter Knabe ist stark. – Thomas Hobbes, englischer Philosoph (1588–1679)« Anm. d. Uebers.]
  3. [Name des mittelalterlichen Richtplatzes in der Nähe von Paris. Anm. d. Autors.]
  4. [ Lateinisch: Der Engelsgruß, Gebet zur heiligen Jungfrau. Anm. d. Uebers.]

1. Der große Saal.

Heute vor dreihundertachtundvierzig Jahren sechs Monaten und neunzehn Tagen erwachten die Pariser unter dem Geläute aller Glocken, welche innerhalb des dreifachen Bereiches der Altstadt, Südstadt oder des Universitätsviertels und der Nordstadt mit lautem Schalle ertönten.

Und dennoch ist der 6. Januar 1482 kein Tag, von dem die Geschichte eine Erinnerung bewahrt hat. Nichts Merkwürdiges war an dem Ereignisse, welches seit dem Morgen die Glocken und die Bürger von Paris so in Bewegung und Erregung versetzte. Weder war es ein Ueberfall der Picarden oder der Burgunder, noch ein glänzender Jagdaufzug, noch ein Studententumult im Weingarten von Laas, noch ein Einzug »unseres allergnädigsten Herrn, des sehr gefürchteten Herrn Königs«, noch auch eine hübsche Aufknüpfung von Spitzbuben und Diebinnen im Gerichtshofe zu Paris. Nein, nicht einmal die im fünfzehnten Jahrhunderte so häufige Ueberraschung durch irgend welche verbrämte und mit Federbüschen geschmückte Gesandtschaft war es. Vor kaum zwei Tagen hatte der letzte derartige Aufzug, nämlich derjenige der flamländischen Gesandten, welche mit Abschließung des Ehebündnisses zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern beauftragt waren, seinen Einzug in Paris gehalten, zum großen Verdrusse des Herrn Cardinals von Bourbon, welcher, dem Könige zu gefallen, dieser ganzen tölpelhaften Gesellschaft flamländischer Bürgermeister höflich begegnen und sie in seinem Palaste Bourbon mit einem »viel köstlichen Moralitätsspiele, Possen- und Schwankspiele« hatte unterhalten müssen, während ein Platzregen die prächtigen Teppiche vor seinem Thore überschwemmte.

Der 6. Januar, welcher »die ganze Bevölkerung von Paris in Bewegung brachte«, wie Jehan von Troyes erzählt, vereinigte seit undenklicher Zeit ein Doppelfest in sich: das des Königstages und des Narrenfestes.

An diesem Tage mußte es Freudenfeuer auf dem Grèveplatze, Maienaufpflanzung in der Kapelle Braque und geistliches Schauspiel im Justizpalaste geben. Am Abend vorher war es unter Trompetenschall in den Gassen durch des Herrn Oberrichters Leute in ihren Waffenröcken von violettem Camelot, mit großen weißen Kreuzen auf der Brust, ausgerufen worden.

Das Gedränge der Bürger und Bürgerinnen wogte also vom Morgen an, und nachdem Häuser und Verkaufsläden geschlossen waren, von allen Seiten nach einer der drei bezeichneten Stellen hin. Ein jeder hatte Partei genommen: der eine für das Freudenfeuer, der andere für die Maie, der dritte für das geistliche Schauspiel. Zum Ruhme des einfachen, gesunden Menschenverstandes der Pariser Maulaffen muß man sagen, daß der größte Teil der Menge seine Schritte nach dem Freudenfeuer lenkte, welches ganz zum Wetter paßte, oder nach dem Schauspiele, welches in dem wohl verdeckten und geschlossenen Saale des Palastes aufgeführt werden sollte; und daß die Schaulustigen übereingekommen waren, die arme, grüne Maie ganz allein unter dem Januarhimmel auf dem Kirchhofe der Kapelle Braque frieren zu lassen.

Das Volk wogte vornehmlich auf den Zugängen nach dem Justizpalaste, weil man wußte, daß die flamländischen Gesandten, welche vor zwei Tagen eingetroffen waren, sich entschlossen hatten, der Aufführung des Schauspiels und der Wahl des Narrenpapstes beizuwohnen, die gleichfalls im großen Saale stattfinden sollte.

Es war kein leichtes Vorhaben, an diesem Tage in jenen Saal zu gelangen, welcher damals für den größten bedeckten Raum, der in der Welt war, galt (freilich hatte Sauval den großen Saal des Schlosses Montargis noch nicht ausgemessen). Der menschenbedeckte Platz vor dem Palaste bot den Schaulustigen an den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in welches fünf bis sechs Straßen als ebenso viele Strommündungen jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die Wogen dieser unaufhörlich zunehmenden Menge brachen sich an den Ecken der Häuser, welche hier und da, wie ebenso viele Vorgebirge in das unregelmäßige Becken des Platzes hervortraten. In der Mitte der hohen gothischen 2 Façade des Palastes wogte die große Treppe unaufhörlich ein Doppelstrom auf und ab, welcher, nachdem er sich unter dem Zwischenperron gebrochen hatte, in großen Wellen auf seine beiden Seitentreppen hinströmte; ohngefähr, behaupte ich, wie eine Cascade in einen See spie die große Treppe unaufhörlich Menschen auf den Platz. Das Schreien, Lachen, Stampfen dieser Tausende von Füßen verursachte einen großen Lärm und mächtiges Toben. Von Zeit zu Zeit verdoppelten sich dieses Toben und Lärmen, sobald der Strom, welcher die ganze Menschenmasse nach der großen Treppe zu trieb, zurückprallte, durcheinander wogte und wirbelte; oder wenn ein Häscher Rippenstöße vertheilte, oder das Pferd eines Sergeanten vom Gerichtsamte hinten ausschlug, um die Ordnung wieder herzustellen: – eine herrliche Ueberlieferung, welche das Obergerichtsamt an die Landreiter, und die Landreiter an unsere Pariser Gendarmerie vererbt haben.

An den Thüren, in den Fenstern, an den Dachluken, auf den Dächern wimmelte es von Tausenden jener guten, ruhigen, rechtlichen Bürgergestalten, welche den Palast betrachteten, das Gedränge beobachteten und nichts weiter verlangten; denn sehr viele Leute in Paris sind schon zufrieden, Zuschauer von Zuschauern sein zu können, und für manche von uns ist schon eine Mauer, hinter der sich etwas ereignet, eine sehr merkwürdige Sache.

Wenn es uns, den Menschen von 1830, erlaubt wäre, im Gedanken uns unter diese Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts zu mischen, und mit ihnen, gedrängt, gestoßen und getreten in den ungeheuern Saal des Palastes einzudringen, welcher am 6. Januar 1482 so beengt war, – dies Schauspiel würde für uns nicht ohne Reiz und Vergnügen sein, und wir würden so viel alterthümliche Gegenstände rings um uns erblicken, daß sie uns ganz neu erscheinen müßten.

Wenn es dem Leser recht ist, wollen wir versuchen, den Eindruck zu schildern, den er beim Eintritt in diesen Saal, mitten unter den Schwarm in Wamms, in Jacke und in Weiberrock mit uns empfangen haben würde.

Schon von vornherein sind unsere Ohren betäubt, unsere Augen geblendet. Ueber unseren Köpfen befindet sich ein doppelbogiges Gewölbe, mit Holzbildschnitzereien vertäfelt, azurblau gemalt und mit goldenen Blumen geschmückt; unter unseren Füßen ein abwechselnd aus weißem und schwarzen Marmor zusammengesetzter Boden. Einige Schritte von uns erhebt sich ein riesiger Pfeiler, dann ein zweiter, dann noch einer: im ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saales, der mitten in seiner Breite die Schwibbogen der Doppelwölbung trägt. Rings um die vier ersten Pfeiler stehen Kramläden, die von Glas und Flittertand glänzen, um die drei Letzten Bänke von Eichenholz, die von den Hosen der Processirenden und den Amtskleidern der Sachwalter abgenutzt und glatt gesessen sind. Ringsum im Saale, längs der hohen Wände, zwischen den Thüren, den Nischen und den Pfeilern befinden sich in unabsehbarer Reihe die Statuen aller Könige Frankreichs seit Pharamund: die schwachen Regenten unter ihnen mit herabhängenden Armen und gesenkten Blicken; die tapferen, schlachtberühmten mit muthig zum Himmel erhobenem Haupte und Händen. In den hohen Rundbogenfenstern aber glänzen tausendfarbige Scheiben; an den breiten Ausgängen des Saales sehen wir reiche Thüren mit schöner Holzschnitzerei; und das Ganze: Gewölbe, Pfeiler, Wände, Simswerk, Täfelung, Thüren und Statuen, ist von oben bis unten mit glänzender Malerei in Blau und Gold bedeckt, welche, als schon ein wenig gedunkelt in dem Zeitraume wo wir sie sehen, im Jahre der Gnade 1549, wo Du Breul sie nach der Überlieferung noch bewunderte, fast ganz unter dem Staube und den Spinneweben verschwunden war. Nun denke man sich diesen ungeheuren Saal in rechteckiger Gestalt erleuchtet von dem matten Lichte eines Januartages, überschwemmt von einer lärmenden und bunten Menge, die längs der Wände hinflutend um die sieben Pfeiler brandet, und man wird einen allgemeinen Eindruck von dem ganzen Gemälde haben, das wir in seinen merkwürdigen Einzelnheiten zu schildern versuchen wollen.

Sicher ist, daß, wenn Ravaillac Heinrich den Vierten überhaupt nicht ermordet hätte, es gar keine Proceßacten Ravaillacs, die in der Kanzlei des Justizpalastes lagen, gegeben haben würde; daß keine Mitschuldigen Interesse daran gehabt hätten, die genannten Acten verschwinden zu lassen; folglich keine Brandstifter erforderlich waren, um, mangels eines bessern Mittels, die Kanzlei anzuzünden, um die Acten zu verbrennen, und den Justizpalast einzuäschern, um die Kanzlei mit Feuer zu vernichten; in Folge wovon es schließlich 1618 keine Feuersbrunst gegeben hätte. Der alte Palast mit seinem alten großen Saale würde noch stehen, und ich könnte zum Leser sprechen: »Geh hin und sieh ihn an«; und wir würden demnach alle beide überhoben sein: ich, eine Beschreibung zu geben, und er, eine mittelmäßige Beschreibung zu lesen. – Diese neue Wahrheit beweist, daß große Ereignisse unberechenbare Folgen haben.

Freilich würde es sehr wohl möglich sein können, sobald Ravaillac keine Mitschuldigen hatte; hernach, daß seine Mitschuldigen, sofern er solche zufällig hatte, beim Brande von 1618 umsonst waren. Es giebt dafür zwei andere sehr annehmbare Erklärungen. Erstens: den großen flammenden Stern von ein Fuß Breite und einer Elle Höhe, der, wie jedermann weiß, am 7. März nach Mitternacht vom Himmel auf den Palast fiel. Zweitens: den vierzeiligen Vers Theophiles:

Der Spaß war wahrlich theuer,
Als in Paris der Dame Recht
Vom zu viel Schlingen wurde schlecht,
Der Palast ganz aufging in Feuer.

Was man von dieser dreifachen politischen, natürlichen und poetischen Erklärung des Brandes des Justizpalastes im Jahre 1618 auch denken mag, die unglücklicherweise feststehende Thatsache ist der Brand. Heute ist nur noch sehr wenig vorhanden, Dank diesem Unglücke, Dank vornehmlich den verschiedenen Wiederherstellungsversuchen im Laufe der Zeit, welche vollends zu Grunde gerichtet haben, was er verschont hatte; es ist nur noch sehr wenig von diesem ersten Aufenthaltsorte der französischen Könige, von diesem ursprünglichen Palastbaue des Louvre übrig, der schon zu Philipps des Schönen Zeit so alt war, daß man hier nach den Spuren der prächtigen Bauten forschte, die vom König Robert aufgeführt und von Helgaldus beschrieben worden sind. Fast alles ist verschwunden. Was ist aus dem Zimmer der Kanzlei geworden, wo der heilige Ludwig »seine Ehe vollzog«? Was aus dem Garten, wo er Recht sprach, »angethan mit einem Camelotrocke, mit einem grobwollenen Obergewande ohne Aermel, und mit einem Mantel darüber von schwarzem Sandal, auf Teppichen liegend mit Joinville«? Wo ist das Zimmer des Kaisers Sigismund? Dasjenige Karls des Vierten? Dasjenige Johanns ohne Land? Wo ist die Treppe, von welcher Karl der Sechste sein Gnadenedict verkündete? Die Steinplatte, wo Marcel, in Gegenwart des Dauphins, den Robert von Clermont und den Marchal von Champagne erwürgte? Das Pförtchen, wo die Bullen des Gegenpapstes Benedikt zerrissen wurden, und aus welchem diejenigen mit Spottchorröcken und Bischofsmützen angethan heraustraten, welche sie überbracht hatten, und welche öffentliche Buße durch ganz Paris thaten? Und wo der große Saal mit seiner Vergoldung, seinem Azurblau, seinen Spitzbogen, seinen Statuen, seinen Pfeilern; wo sein ungeheures Gewölbe, das von Steinmetzarbeiten ganz überzogen war? Und das vergoldete Zimmer? Und der steinerne Löwe, der an der Thür stand, mit gesenktem Kopfe, den Schwanz zwischen den Beinen, wie die Löwen an Salomo’s Throne, in der demüthigen Stellung, welche sich für die Stärke vor der Gerechtigkeit schickt? Und wo die schönen Thüren, und die farbenprächtigen Fenster? Wo die getriebenen Eisenbeschläge, welche Biscornette abschreckten? Und die zierlichen Schreinerarbeiten Du Hancys?… Was hat die Zeit, was haben die Menschen aus diesen Wunderwerken gemacht? Was hat man uns für alles das gegeben; für jene ganze Geschichte unserer Vorfahren, für jene ganze gothische Kunst? Die plumpen Halbwölbungen des Herrn de Brosse, dieses ungeschickten Baumeisters des Portals von Saint-Gervais – das hat man uns für die Kunst gegeben; und was die Geschichte betrifft, so haben wir die geschwätzigen Erinnerungen der dicken Schandsäule, die noch völlig wiederhallt von dem Altweibergewäsch der Leute wie Patru. 3 Das hat keine Bedeutung. – Wir wollen zu dem wirklichen großen Saale in dem wirklichen alten Palaste zurückkehren.

Die beiden Endseiten dieses gigantischen Rechtecks waren gleichfalls nicht frei: die eine war von der berühmten Marmorplatte aus einem Stücke eingenommen, welche so lang, breit und dick war, wie man sie niemals gesehen hat, erzählen die alten Grundbuchacten in einem Stile, der die Begierde Gargantua’s, »eines ähnlichen Marmorblockes in der Welt« gereizt haben würde; an der andern Seite befand sich die Kapelle, in welcher Ludwig der Elfte, auf den Knien vor der heiligen Jungfrau liegend, sich in Marmor hatte abkonterfeien lassen, und wohin er, unbekümmert, daß zwei Nischen in der Reihe der königlichen Standbilder leer würden, diejenigen Karls des Großen und des heiligen Ludwig hatte bringen lassen, – zwei Heilige, von denen er glaubte, daß sie als Könige von Frankreich im Himmel großes Ansehn hätten. Diese noch neue, kaum seit sechs Jahren fertige Kapelle war ganz im reizenden Geschmacke jener feinen Bauart und wunderbaren Meisel- und Grabstichelarbeit ausgeführt, die in Frankreich das Ende der gothischen Bauperiode kennzeichnet, und bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts in den zauberischen Phantasiespielen der Renaissance fortdauert. Die kleine, durchbrochene Rosette über dem Portale besonders war ein Meisterwerk von Zartheit und Anmuth: man hätte sie für einen Stern aus Spitzen halten mögen.

Mitten im Saale, der großen Thür gegenüber, war eine mit Goldbrokat bedeckte Erhöhung, die bis an die Mauer reichte, errichtet worden, und auf ihr durch ein Fenster aus dem Gange zu dem sogenannten goldenen Zimmer, ein besonderer Eingang für die flamländischen Gesandten und andere hohe Personen hergestellt, die zur Aufführung des Schauspieles geladen worden waren.

Dieses Schauspiel mußte dem Herkommen gemäß auf der Marmorplatte aufgeführt werden. Am Morgen war sie dazu hergerichtet worden; die große Marmorfläche, die von den Absätzen der Parlamentsschreiber ganz zerritzt war, trug ein ziemlich hohes Balkengerüst, dessen Oberfläche, vom ganzen Saale aus sichtbar, als Theater dienen sollte, während sein mit Teppichen ringsum verhängtes Innere für die Personen des Stückes als Ankleidezimmer herhalten mußte. Eine Leiter, die offenherzig außerhalb angebracht war, sollte die Communication zwischen Scene und Ankleidezimmer unterhalten, und ihre steilen Sprossen den auf- und abtretenden Personen herleihen. Da gab es keine so plötzliche Erscheinung, keine Entwicklung im Schauspiel, keinen Theatereffect, der nicht gezwungen gewesen wäre, auf der Leiter hinaufzuklettern. – O du unschuldige, theuere Einfalt in Kunst und Maschinerien!

Vier Diener des Gerichtsvogtes, die gewöhnlichen Aufseher aller Volksbelustigungen sowohl an den Festtagen, als an den Hinrichtungstagen, standen an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mittags, beim zwölften Glockenschlage auf der großen Palastuhr sollte das Stück beginnen. Das war freilich recht spät für eine Theateraufführung; aber man hatte auf die Zeit der Gesandtschaft Rücksicht zu nehmen.

Nun wartete diese ganze Menge schon seit dem Morgen. Eine gute Anzahl dieser neugierigen Spießbürger fror seit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Palastes; ja, einige versicherten, die ganze Nacht dem Thore gegenüber zugebracht zu haben, um sicher zuerst den Saal zu betreten. Die Menge wurde jeden Augenblick dichter, und wie ein Gewässer, das sein Bett verläßt, fing sie an längs der Wände in die Höhe zu steigen, um die Säulen herum anzuschwellen, an den Täfelungen, Karnießen, Fensterbrettern, an allen Vorsprüngen der Architektur und an allen Erhöhungen der Bildhauerarbeit hinaufzusteigen. Dazu der Zwang, die Ungeduld, die Langeweile, die Zügellosigkeit eines frechen Narrenfestes, die Streitigkeiten, welche bei jeder Gelegenheit wegen eines spitzen Ellenbogens, eines eisenbeschlagenen Schuhes ausbrachen, das ermüdend lange Warten, – alles das gaben schon lange vor der Zeit, in welcher die Gesandtschaften anlangen sollten, dem Geschrei dieses eingeschlossenen, eingepferchten, gequetschten, erstickten Volkes einen scharfen und bittern Ausdruck. Man hörte nur Klagen oder Verwünschungen gegen die Flamländer, gegen den Oberbürgermeister, den Cardinal von Bourbon, den Palastvogt, gegen Madame Margarethe von Oestreich, gegen die Polizisten, über Kälte, Hitze und schlechtes Wetter, gegen den Bischof von Paris, gegen den Narrenpapst, gegen die Pfeiler und Statuen, gegen diese verschlossene Thür und jenes offene Fenster, – alles das zur großen Belustigung der unter der Volksmenge zerstreuten Studenten- und Bedientenrudel, welche diese Unzufriedenheit durch ihre boshaften Neckereien erhöhten, und die allgemeine Mißstimmung, so zu sagen, mit Nadelstichen reizten.

Unter anderen befand sich ein Haufe dieser lustigen Teufel, welche die Scheiben eines Fensters eingestoßen und sich keck auf das Gesims gesetzt hatten, und von wo aus sie ihre Blicke und Spöttereien abwechselnd bald nach innen, bald nach außen, auf die Menge im Saale und auf die des Platzes hinschickten. An ihren äffenden Geberden, an ihrem lauten Gelächter, an den spöttischen Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales bis zum andern mit ihren Kameraden wechselten, konnte man leicht erkennen, daß diese jungen Gelehrten nicht die Langeweile und die Ermüdung der übrigen Anwesenden theilten, sondern daß sie recht gut verstanden, bei dem, was unter ihren Augen vorging, zu ihrem Privatvergnügen ein Schauspiel zu genießen, welches sie das andere geduldig erwarten ließ.

»Bei meiner Seele, Ihr seid’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer von ihnen einer Art kleinem blonden Teufel mit hübschem und schalkhaften Gesichte zu, der sich an das Laubwerk eines Säulenknaufes angeklammert hatte, »Ihr heißt ganz richtig Mühlenhannes, denn Eure zwei Arme und Beine sehen ganz wie vier Flügel aus, die im Winde tanzen. Seit wie lange seid Ihr hier?«

»Bei der Gnade des Teufels,« antwortete Johannes Frollo, »seit mehr als vier Stunden, und ich hoffe mit Recht, daß sie mir dereinst auf meine Fegefeuerzeit angerechnet werden. Ich habe um Sieben die acht Sänger des Königs von Sicilien die erste Strophe des Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen hören.«

»Schöne Sänger das!« versetzte der andere, »und die eine noch spitzere Stimme haben, als ihre Mütze. Ehe der König dem heiligen Herrn Johannes eine Messe stiftete, hätte er sich erst erkundigen sollen, ob der heilige Herr Johannes lateinischen Psalmengesang mit provençalischem Accent vertragen kann.«

»Blos um die verdammten Sänger des Königs von Sicilien anzubringen, hat er das gethan,« rief ärgerlich ein altes Weib in der Menge unter dem Fenster. »Ich frage Euch nur! tausend Livres Pariser Münze für eine Messe! Und außerdem die Pachtung des Seefisches in den Markthallen von Paris auch noch!«

»Ruhig, Alte!« versetzte ein dicker ernsthafter Mann, welcher sich neben dem Fischweibe die Nase zuhielt, »er mußte wohl eine Messe stiften. Möchtet Ihr etwa, daß der König wieder krank würde?«

»Brav gesprochen, Herr Gilles Lecornu, Meister Hofkürschner!« rief der kleine Student, der am Säulenknaufe sich angeklammert hatte.

Ein lautes Gelächter aller Studenten bewillkommnete den unglücklichen 4 Namen des armen Hofkürschners.

»Lecornu! Gilles Lecornu!« riefen die einen.

»Cornutus et hirsutus,« 5 entgegnete ein anderer.

»Ei gewiß,« fuhr der Kleine oben auf dem Säulenknaufe fort. »Was ist da zu lachen? Ein Ehrenmann, der Gilles Lecornu, der Bruder des Meisters Johann Lecornu, des Profoß im königlichen Palaste, der Sohn vom Meister Mahiet Lecornu, dem Oberwaldhüter im Gehölz von Vincennes, – alles Bürger von Paris, alle verheirathet vom Vater bis zum Sohne!«

Die Ausgelassenheit verdoppelte sich. Der dicke Kürschner bemühte sich, ohne ein Wort zu sprechen, den Blicken sich zu entziehen, die überallher auf ihn gerichtet waren; – aber vergebens schwitzte und keuchte er: wie ein Keil, der ins Holz getrieben wird, dienten die Anstrengungen, die er machte, nur dazu, sein breites, aufgedunsenes, vor Zorn und Aerger purpurrotes Gesicht noch fester zwischen die Schultern seiner Nachbarn einzuklemmen. Endlich kam ihm einer von diesen, welche kurz, dick und ansehnlich wie er waren, zu Hilfe.

»Abscheulich! Schuljungen, die so mit einem Bürger sprechen! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Ruthen ausgepeitscht, und dann hätte man sie verbrannt.«

Die ganze Bande brach nun los.

»Holla he! wer liest da einem den Text? Wer ist der Unglücksrabe?«

»Warte, ich kenne ihn,« sagte ein anderer, »es ist Meister Andry Musnier.«

»Jawohl, es ist einer von den vier geschworenen Universitätsbuchhändlern,« sagte ein anderer.

»Alles ist vierfach in dieser Bude,« schrie ein dritter, »die vier Nationen, die vier Facultäten, die vier Feste, die vier Procuratoren, die vier Wahlmänner, die vier Buchhändler.«

»Nun wohl,« entgegnete Johann Frollo, »man muß ihnen auch den Teufel vervierfachen.«

»Musnier, wir werden deine Bücher verbrennen.«

»Musnier, wir werden deinen Diener prügeln.«

»Musnier, wir werden deine Frau zerdrücken.«

»Die gute, dicke Frau Oudarde.«

»Die so frisch und so lustig ist, als wäre sie Witwe.«

»Möge der Teufel euch holen!« brummte Meister Andry Musnier.

»Meister Andry,« fing Johann wieder an, welcher immer noch an seinem Säulenknaufe hing, »sei stille, oder ich falle dir auf den Kopf!«

Meister Andry hob die Augen auf, schien einen Augenblick die Höhe des Pfeilers, die Schwere des Burschen zu taxiren, multiplicirte in Gedanken diese Schwere mit dem Quadrate der Geschwindigkeit, und schwieg.

Johann, Herr des Schlachtfeldes, fuhr triumphirend fort:

»Ja, das würde ich thun, obgleich ich der Bruder eines Archidiaconus bin!«

»Schöne Herren, unsere Leute von der Universität! nicht einmal an einem Tage, wie dem heutigen, unsere Privilegien in Ruhe zu lassen! Kurz, in der Nordstadt giebt’s Maifest und Freudenfeuer, in der Altstadt Schauspiel, Narrenpapst und flamländische Gesandte, und im Universitätsviertel – nichts!«

»Und doch ist der Maubertsplatz groß genug!« entgegnete einer von den Burschen, die auf dem Fensterbrette campirten.

»Nieder mit dem Rector, mit den Wahlmännern, mit den Procuratoren!« rief Johann.

»Diesen Abend wird man im Champ-Gaillard ein Freudenfeuer machen müssen,« fuhr der andere fort, »mit den Büchern Meister Andry’s.«

»Und mit den Pulten der Schreiber,« sagte sein Nachbar.

»Und den Stöcken der Pedelle!«

»Und den Spucknäpfen der Decane!«

»Und den Aktenschränken der Procuratoren!«

»Und den Kasten der Wahlmänner!«

»Und den Fußschemeln des Rectors!«

»Nieder!« rief der kleine Johann mit falscher Baßstimme, »nieder mit Meister Andry, mit den Pedellen und Schreibern, nieder mit den Theologen, Medicinern und Decretisten; mit den Procuratoren, den Wahlmännern und mit dem Rector!«

»Das ist ja das Weltende!« murmelte Meister Andry, indem er sich die Ohren verstopfte.

»Ei seht da, der Rector! Da geht er auf dem Platze,« rief einer von denen im Fenster. Die Folge war, daß sich alles nach dem Platze wandte.

»Ist das wirklich unser ehrwürdiger Rector, Meister Thibaut?« fragte Johann Frollo du Moulin, der an einem Pfeiler im Innern hängend, nicht sehen konnte, was draußen vorging.

»Ja, ja,« antworteten alle andern, »gewiß, er ist es, Meister Thibaut, der Rector.«

Es war in der That der Rector mit allen Würdenträgern der Universität, welche in feierlichem Zuge der Gesandtschaft entgegengingen, und in diesem Augenblicke den Platz des Palastes überschritten. Die in das Fenster gedrängten Studenten empfingen sie beim Vorübergehen mit Spottreden und ironischem Beifallsgeschrei. Der Rector, welcher dem Zuge voranschritt, erhielt die erste Salve; sie war stark.

»Guten Tag, Herr Rector! Holla! ei! Guten Tag denn!«

»Wie kommt es, daß er hier ist, der alte Spieler? Er hat also seine Würfel verlassen?«

»Wie er auf seinem Maulesel einhertrottet! der hat weniger lange Ohren, als er.«

»Holla, he! Guten Tag, Herr Rector Thibaut! Tybalde aleator! 6 Alter Esel, alter Spieler!«

»Gott schütze Euch! Habt Ihr vergangene Nacht oft Doppel-Sechs geworfen?«

»O! seht einmal das hinfällige, bleifarbige, matte Gesicht, mit den Spuren der Spielwuth darin!«

»Wo geht es jetzt hin, Thibaut, Tybalde ad clades, 7 weil Ihr der Universität den Rücken zugekehrt habt und nach der Stadt trabt?«

»Zweifelsohne will er eine Wohnung in der Straße Thibautodé 8 suchen,« schrie Johann du Moulin.

Die ganze Bande wiederholte den faulen Witz mit donnerndem Geschrei und wüthenden Händeklatschen.

»Ihr wollt Euch in der Straße Thibautodé Wohnung suchen, nicht wahr, Herr Rector, Ihr Spielcumpan des Teufels?«

Dann kamen die andern Würdenträger an die Reihe.

»Nieder mit den Pedellen! nieder mit den Stabträgern!«

»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn jener dort?«

»Das ist Gilbert von Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Collegiums Autun.«

»Da hast du meinen Schuh: wirf ihn diesem an den Kopf; du hast einen bequemeren Platz als ich.«

» Saturnalitias mittimus ecce nuces9

»Nieder mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«

»Das dort sind die Theologen? – Ich dachte, es wären die sechs weißen Gänse, welche Sanct Genoveva der Stadt für das Lehngut von Roogny geweiht hat.«

»Nieder mit den Medicinern!«

»Fort mit den schwerfälligen und abgeschmackten Redeübungen!«

»Da fliegt dir meine Mütze an den Kopf, Kanzler von Sanct Genoveva! Du hast mir Unrecht gethan.«

»Jawohl! er hat meine Stelle in der normannischen Landsmannschaft dem kleinen Ascanio Falzaspada gegeben, der zur Provinz Bourges gehört, weil er ein Italiener ist.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit,« sagten alle Studenten. »Nieder mit dem Kanzler von Sanct Genoveva!«

»Ho he! Meister Joachim von Ladehors! Ho he! Ludwig Dahuille! Ho he! Lambert Hoctement!«

»Hole der Teufel den Procurator der deutschen Landsmannschaft!«

»Und die Kapläne der heiligen Kapelle in ihren grauen Pelzmänteln, cum tunicis grisis

» Seu de pellibus grisis fourratis!« 10

»Holla, seht, die Meister der freien Künste! Die ganzen schönen Schwarz- und Rothmäntel!«

»Die bilden einen schönen Schweif für den Rector!«

»Man möchte ihn für einen Dogen von Venedig halten, der sich mit dem Meere vermählen will.«

»Sind das die Canonici von Sanct Genoveva, Johann?«

»Zum Teufel mit den Canonicis!«

»Abt Claude Choart! Doctor Claude Choart! sucht Ihr Marie la Giffarde?«

»Sie wohnt in der Straße Glatigny.«

»Sie macht dem Hurenkönige das Bett.«

»Sie zahlt ihre vier Heller; quator denarios.«

»Aut unum bombum!«

»Soll sie Euch hinter die Ohren bezahlen?«

»Kameraden! Meister Simon Sanguin, der Wahlmann der Picarden, der seine Frau hinter sich auf dem Pferd hat!«

» Post equitem sedet atra cura« 11

»Muthig, Meister Simon!«

»Guten Tag, Herr Wahlmann!«

»Gute Nacht, Frau Wählerin!«

»Sind die doch glücklich, alles sehen zu können,« seufzte Johannes de Molendino, der immer noch am Blätterwerke seines Säulenknaufes hing.

Währenddem neigte sich Meister Andry Musnier, der geschworene Universitätsbuchhändler, zum Ohre des Hofkürschners, Meister Gilles Lecornu.

»Ich sage Euch, Herr, es ist das Ende der Welt da. Man hat wohl niemals solche Zügellosigkeiten der Studentenschaft gesehen! Das kommt aber von den verfluchten Erfindungen dieses Jahrhunderts, die noch alles verderben: von den Geschützen, Feldschlangen und Donnerbüchsen, und vor allem vom Buchdruck, dieser zweiten deutschen Pest. Giebt’s keine Manuscripte mehr, giebt’s keine Bücher mehr! Der Buchdruck vernichtet den Buchhandel. Das Ende der Welt ist nahe.«

»Ich merke es auch recht am Überhandnehmen der Sammetstoffe,« sagte der Pelzhändler.

In demselben Augenblicke schlug es Zwölf.

»Ah!…« machte der ganze Haufe mit einem Munde.

Die Studenten schwiegen. Nun entstand eine große Verwirrung, eine geräuschvolle Bewegung der Füße und der Köpfe, ein starkes, allgemeines Gehuste und Geschneuze; jeder stellte sich zurecht, richtete sich in die Höhe. Nun tiefes Schweigen; alle Hälse blieben gereckt, alle Mäuler offen, alle Blicke nach der Marmortafel gerichtet … nichts war dort zu sehen. Die vier Diener des Vogtes waren immer noch da, starr und unbeweglich, wie vier bemalte Statuen. Alle Augen wandten sich nach der, für die flamländischen Gesandten bestimmten Tribüne. Die Thür blieb geschlossen, und die Tribüne leer. Diese Menschenmasse erwartete nun seit der Frühe dreierlei: die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft, das geistliche Schauspiel. Der Mittag allein war da, auf die Minute. Das war für diesmal zu viel!

Man wartete eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde: nichts kam. Die Tribüne blieb leer, das Theater stumm. Da folgte der Ungeduld der Zorn auf dem Fuße nach. Gereizte Worte flogen umher, allerdings noch mit leiser Stimme. »Das Schauspiel! das Schauspiel!« murmelte man dumpf. Die Köpfe erhitzten sich. Eine Wetterwolke, die nur erst noch grollte, zog über die Häupter dieser Menge hin und her.

Johann du Moulin war es, der ihr den ersten Funken entlockte.

»Das Schauspiel, und zum Teufel mit den Flamländern!« schrie er aus Leibeskräften, indem er sich wie eine Schlange um seinen Säulenknauf wand.

Die Menge klatschte in die Hände.

»Das Schauspiel,« wiederholte sie, »und mit Flandern zu allen Teufeln!«

»Wir müssen das Stück auf der Stelle haben,« fuhr der Student fort, »oder ich bin der Ansicht, wir hängen den Palastvogt, als Ersatz für Lustspiel und Schauspiel.«

»Wohl gesprochen,« schrie das Volk, »und laßt uns mit den Gerichtsdienern das Hängen beginnen.«

Rauschender Beifall folgte. Die vier armen Teufel fingen an blaß zu werden und sich gegenseitig anzusehen. Die Menge drang auf sie ein, und sie sahen schon das schwache Holzgeländer, das sie von ihr trennte, sich biegen und unter dem Drängen der Menge zusammenbrechen. Der Augenblick war kritisch.

»Drauf! drauf!« schrie man von allen Seiten.

In diesem Augenblicke hob sich der Teppich des Ankleidezimmers, welches wir oben beschrieben haben, und ließ eine Person herein, deren bloßer Anblick die Menge plötzlich zum Stehen brachte, und wie mit einem Zauberschlage ihren Zorn in Neugierde verwandelte.

»Still! still!«

Die Person trat, ziemlich bestürzt und an allen Gliedern zitternd, an den Rand der Marmorplatte unter vielen Verbeugungen, die, je näher sie kam, zu förmlichen Kniebeugungen wurden.

Indessen war die Ruhe nach und nach wieder hergestellt. Nur jenes leise Geräusch blieb übrig, das selbst noch beim Schweigen der Menge vernommen wird.

»Meine Herren Bürger,« sagte die Person, »und meine werthen Bürgerinnen, wir sollen die Ehre haben, ein sehr schönes Schauspiel mit Namen: »Das gerechte Urtheil unserer lieben Jungfrau Maria« vor Seiner Eminenz dem Herrn Cardinal vortragen und aufführen. Ich selbst gebe den Jupiter. Seine Eminenz begleitet in diesem Augenblicke die sehr ehrenwerthe Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Oesterreich; diese ist gegenwärtig noch an der Pforte Baudets aufgehalten, um die Begrüßungsrede des Herrn Universitätsrectors anzuhören. Sobald der hochwürdigste Herr Cardinal angekommen sein wirb, wollen wir anfangen.«

Sicherlich bedurfte es nichts weniger, als der Dazwischenkunft Jupiters, um die vier unglücklichen Diener des Palastvogtes vom Verderben zu retten. Wenn wir das Glück hätten, diese sehr glaubwürdige Geschichte erfunden zu haben, und folglich vor unserer Dame, der Kritik, dafür verantwortlich zu sein, so könnte man sich in diesem Augenblicke uns gegenüber nicht auf die klassische Vorschrift berufen: » Nec deus intersit.« 12

Uebrigens war das Costüm des Herrn Jupiter sehr schön, und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, deren ganze Aufmerksamkeit er auf sich zog. Herr Jupiter war in ein Panzerhemd aus schwarzem Sammet, der mit vergoldeten Nägeln beschlagen war, gekleidet; er trug einen Helm mit vergoldeten Silberknöpfen auf dem Kopfe; und wäre der rothe und lange Bart, welcher die Hälfte seines Gesichts bedeckte, wäre die Rolle vergoldeter Pappe nicht gewesen, die er, mit eisernen Haken übersäet und starrend von Flittergoldstreifen, in der Hand trug, und in welchem geübte Augen leicht den Blitzstrahl erkennen konnten; wären die fleischfarbenen, nach griechischer Weise bebänderten Beine nicht gewesen, er hätte wegen der Ernsthaftigkeit seiner Haltung mit einem bretonischen Bogenschützen vom Corps des Herrn von Berry den Vergleich aushalten können.

  1. [Das Wort »gothisch« ist in dem Sinne, in welchem man es gewöhnlich gebraucht, völlig falsch, aber ebenso geheiligt. Wir acceptiren es also, und gebrauchen es, wie alle Welt, um die Baukunst der zweiten Hälfte des Mittelalters zu kennzeichnen: diejenige nämlich, bei welcher der Spitzbogen die Grundlage bildet, und welche auf die Baukunst der ersten Periode folgt, bei welcher der Rundbogen das Princip ist. Anm. d. Verfassers.]
  2. [Patru, Olivier, französischer Schriftsteller und Advocat (1604-81).]
  3. [Lecornu = der Gehörnte (oder der Hahnrei).]
  4. [ Lateinisch: der Gehörnte und Struppige.]
  5. [ Lateinisch: Thibaut, du Spieler!]
  6. [Lateinisch: Thibaut, zu Verlusten.]
  7. [Thibautodé: ein Wortwitz = Thibaut aux dés: Thibaut bei den Würfeln. Anm. d. Uebers.]
  8. [ Lateinisch (in freier Übersetzung): Heute giebt’s faule Aepfel an den Kopf.]
  9. [ Lateinisch: Oder in ihren grauen, pelzgefütterten Mänteln. Anm. d. Uebers.]
  10. [ Lateinisch: Hinter dem Reiter sitzt die finstre Sorge. Anm. d. Uebers.]
  11. [ Lateinisch: Kein Gott soll die Hand im Spiele haben. Anm. d. Uebers.]