Fünftes Buch

In daemone deus

I.

Gefunden, aber verloren.

Als Michelle Fléchard den vom Abendroth beleuchteten Thurm entdeckte, war sie noch über eine Meile davon entfernt. Sie, die sich kaum noch einen Schritt weiter zu schleppen getraute, schrak jetzt vor dieser Meile nicht zurück. Weiber sind schwach, aber Mütter sind stark, und so wanderte sie denn weiter. Die Sonne war untergegangen; erst war die Dämmerung, später die Nacht hereingebrochen; unterwegs hatte sie aus der Ferne, auf einem ihr nicht sichtbaren Kirchthurm acht und dann neun schlagen hören, wahrscheinlich auf dem Kirchthurm von Parigné. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um einem dumpfen, stoßweisen Lärm zu lauschen, der sich wohl auf den Widerhall in der Nachtruhe zurückführen ließ. Schnurgerade schritt sie vor sich hin, über die Stechpfriemen und die schneidigen Schilfblätter weg mit ihren wunden Füßen, dem fernen Thurm zu, von dem ihr ein matter Schimmer leuchtete, aus dem er, von geheimnißvollem Glanz umwoben, dunkel hervorstach. Dieser Schimmer wurde bei jedem deutlicheren Schall heller und nahm dann wieder ab. Auf dem ausgedehnten, meistens mit Gras und Haidekraut bewachsenen Plateau, auf dem sich Michelle Fléchard fortbewegte, erhob sich weder ein Haus noch ein Baum. Es stieg verlorenerweise, unabsehbar an und durchschnitt mit einer harten geraden Linie, der ganzen Breite nach, den gestirnten Horizont. Was ihr Kraft verlieh auf dieser Wanderung, war das allmälige Anwachsen des ihr fortwährend aus der Ferne winkenden Thurms. Die gedämpften Schläge und der fahle Flimmer, die von ihm ausgingen, hatten, wie gesagt, ihre Höhen und Tiefen; bald setzten sie aus, bald waren sie wieder da und gaben der erbarmungswürdigen verzweifelnden Mutter wie ein herzbeklemmendes Räthsel zu lösen. Plötzlich hörte Alles auf; Lärm wie Licht verhallte und erlosch und es herrschte tiefe Stille, düsterer Friede. Gerade zu dieser Zeit erreichte Michelle Fléchard den Rand des Plateaus und gewahrte zu ihren Füßen eine Schlucht, deren Niederungen im weißlichen Nebel der Nacht verschwammen, zu ihrer Rechten, in einiger Entfernung, ein Gemisch von Rädern und durchbrochenen Erdaufwürfen, welches eine Geschützbatterie war, und vor sich, durch die glimmenden Lunten der Kanoniere spärlich erhellt, ein großes Gebäude, das aus dichteren Finsternissen als die umgebende Nacht zusammengeballt schien. Dies Gebäude war eine Art Schloß, welches sich über einer Brücke erhob, deren Pfeiler in die Schlucht hinabtauchten, und das sich an eine hohe, runde, schwarze Masse anlehnte, an den Thurm, welcher der Mutter als Ziel ihrer langen Wanderung vorgeschwebt hatte. Ab und zu sah man durch die Schießscharten des Thurms Lichter schimmern, und aus dem Getöse, das daraus hervorbrach, ließ sich schließen, daß ihn eine Menschenmenge besetzt hielt, von der auch zuweilen einige schwarze Gestalten oben auf die Plattform überströmten. Hinter der Batterie befand sich ein Lager, dessen Vorposten Michelle Fléchard zählen konnte, ohne daß sie in der Dunkelheit und im Gestrüpp selber von ihnen erblickt wurde. Sie stand dicht am Rand des Plateaus, so nahe bei der Brücke, daß sie glaubte, sie könne sie mit der Hand berühren, wiewohl die tiefe Schlucht dazwischen lag. Trotz der Finsterniß unterschied sie auch die drei Stockwerke des Brückenschlößchens. So verharrte sie vor dieser klaffenden Schlucht und diesem schwarzen Gebäude, wie lange wußte sie selber nicht, denn der Begriff der Zeit zerrann ihr im Hirn. Was war das Alles, und was ging hier vor? Stand sie vor La Tourgue? Sie war jenes heimlichen Schwindelns der Erwartung voll, das man bei einer Ankunft oder einem Aufbruch empfindet. Sie fragte sich, warum sie eigentlich hier sei und starrte und lauschte. Plötzlich sah sie nichts mehr. Zwischen ihr und dem Gegenstand, den sie betrachtete, war ein Schleier von Rauch aufgestiegen, dessen ätzende Schärfe sie die Augen zuzudrücken zwang. Sie hatte sie kaum geschlossen, da leuchtete es purpurn durch ihre Wimpern hindurch, und als sie wieder hinschaute, hatte sie die Nacht nicht mehr vor sich, sondern den hellen Tag, aber einen schrecklichen Tag, den künstlichen Tag einer Feuersbrunst, die unter ihren Blicken auszubrechen begann. Der schwarze Rauch war scharlachroth geworden und enthielt eine mächtige Flamme, die, aufflackernd und wieder verschwindend, jene unbändigen Krümmungen beschrieb, welche dem Blitz und den Schlangen eigen sind. Diese Flamme züngelte aus etwas heraus, das einem Rachen glich und ein Fenster voller Feuer war mit bereits weißglühenden Gitterstäben, eines der Fenster im untersten Stockwerk des Brückenschlößchens. Weiter war von dem ganzen Gebäude nichts mehr wahrzunehmen. Der Rauch verhüllte Alles, sogar das Plateau, von dem aus nur noch der Rand der Schlucht, schwarz auf blutigem Hintergrund, zu erblicken war. Staunend starrte Michelle Fléchard vor sich hin. Der Rauch ist eine Wolke, und die Wolke ist Traum; sie wußte nicht mehr, was sie vor sich hatte, ob sie fliehen, ob sie bleiben sollte; sie dünkte sich fast außerhalb der Wirklichkeit. Ein Windstoß, der vorüberfuhr, riß den Rauchschleier entzwei, und, plötzlich enthüllt und durch den Spalt hindurch sichtbar geworden, ragte die ganze tragische Ritterburg, Thurm, Brücke, Schlößchen, in der blendenden schauervoll herrlichen Vergoldung der Feuersbrunst strahlend, zum Himmel empor, so daß Michelle Fléchard jetzt bei der furchtbaren Klarheit der Flamme Alles unterscheiden konnte.

0311

Das unterste Stockwerk des Brückenschlößchens brannte lichterloh. Die beiden oberen Stockwerke waren noch unversehrt, aber schwebten wie über einem Geflecht von Gluthen. Vom Vorsprung des Plateaus aus, wo Michelle Fléchard stand, konnte man, durch das Feuer und den Rauch, die davor aufwirbelten, stellenweise einen Blick thun. Alle Fenster waren geöffnet, und durch die sehr großen Fenster der zweiten Etage hindurch entdeckte Michelle Flechard längs der Wand Schränke, welche Bücher zu enthalten schienen, und hinter dem einen Fenster, am Fußboden im Halbdunkel, eine kleine verworrene Gruppe, einen unbestimmten Knäuel, der aussah wie die Brut in einem Vogelnest; ihr war, als rege sich zuweilen dieses Etwas, und sie stierte zu ihm hinüber. Was mochte die kleine dunkle Gruppe wohl sein? Hin und wieder glaubte sie eine Aehnlichkeit mit lebenden Wesen darin zu erkennen; sie fieberte; seit früh Morgens hatte sie nichts genossen und war ohne Unterbrechung weiter gewandert; sie war todtmüde, und es tauchten krankhafte Phantasiegebilde vor ihr auf, vor denen sie instinktmäßig zurückbangte. Immer hartnäckiger bohrten sich ihre Blicke in jenes dunkle Häuflein von unbekannten, vermuthlich dennoch leblosen und anscheinend unbeweglichen Gegenständen auf dem Fußboden des über der Feuersbrunst ragenden Saales. Plötzlich streckte die Flamme drunten, als ob sie von einem eigenen Willen beseelt gewesen wäre, eine ihrer Zungen nach dem großen abgestorbenen Epheustamm hinaus, der die Michelle Fléchard zugekehrte Mauer des Schlößchens übersponnen hatte. Als ob dieses Netz von dürren Ranken erst jetzt durch die Gluth entdeckt worden wäre, so züngelte diese nun gierig darauf hin und klomm mit der gräßlichen Behändigkeit eines Lauffeuers daran empor. Im Nu hatte die Flamme das zweite Stockwerk erreicht und leuchtete von der Mauer her in den Saal hinein. In hellem Glanz hoben sich mit einem Mal die drei schlummernden Kleinen ab, ein reizendes Häuflein von verschränkten Aermchen und Beinchen und lächelnden blonden Lockenköpfchen mit geschlossenen Wimpern. Die Mutter erkannte ihre Kinder und stieß einen entsetzlichen Schrei aus, einen unnennbaren Jammerschrei, wie er nur den Müttern eigen ist, einen Schrei wild und rührend, wie sonst nichts auf Erden. Wenn ihn ein Weib ausstößt, so gellt eine Wölfin daraus hervor, und stößt ihn eine Wölfin aus, so glaubt man ein Weib zu hören. Homer nennt den Verzweiflungsschrei der Hekuba ein Gebell, und so war auch der Schrei von Michelle Fléchard eher ein Gebrüll zu nennen als ein Schrei. Dieses Gebrüll war es, das der Marquis von Lantenac vernommen hatte.

Er war, wie wir bereits wissen, stehen geblieben, und zwar zwischen der Schlucht und der Mündung des Durchgangs, durch welchen Halmalo ihn aus dem Thurm hinausgeleitet. Zwischen dem über ihm verschlungenen Gesträuch hindurch sah er die Brücke in Flammen, deren Widerschein den Thurm röthete, und durch eine andere Lichtung der Zweige, auf der entgegengesetzten Seite, über seinem eigenen Haupt, am Rande des Plateaus, dem brennenden Schloß gegenüber und von der Feuersbrunst taghell überstrahlt, die verstörte Jammergestalt eines über die Schlucht vorgebeugten Weibes. Dieses Weib, das den Schrei ausgestoßen hatte, war aber nicht mehr Michelle Fléchard; es war eine Medusa. Die Elenden sind auch die Schreckenbringenden. Die Bäuerin war zur Eumenide verklärt, und das unbedeutende, gewöhnliche, unwissende, stumpfsinnige Weib aus dem Dorf war urplötzlich zur epischen Größe der Verzweiflung emporgewachsen, denn ein wilder Schmerz dehnt die Seele ins Gigantische aus. Diese Mutter war jetzt die Mutterliebe selber; Alles, was ein menschliches Empfinden erschöpft, ist übermenschlich, und so bäumte sie sich denn auch am Rand dieser Schlucht, vor diesem Gluthenmeer, vor diesem Verbrechen, wie eine Beherrscherin der Unterwelt, mit dem Schrei eines Thiers und den Geberden einer Göttin; flammende Flüche schleuderte ihr Haupt wie das Schlangenhaupt der Gorgo, und man konnte nichts gebieterisch Erhabeneres sehen als den Blick ihrer thränenverschwommenen Augen, als diesen Blick, der ein Wetterstrahl war auf die Feuersbrunst, Der Marquis aber horchte auf die abgebrochenen, herzzerreißenden Laute, die ihm gleichsam aufs Haupt herunterhagelten und die mehr ein Schluchzen waren als ein Reden.

– Ach! großer Gott! Meine Kinder! Meine Kinder sind es! Zu Hilfe! Feuer! Feuer! Feuer! Mordbrenner seid Ihr ja! Ist denn Niemand hier? Meine Kinder müssen ja verbrennen! Ach! ist das ein Tag! Georgette! Meine Kinder! Gros-Alain! René-Jean! Was soll denn das Alles bedeuten? Wenn ich nur wüßte, wer meine Kinder da hineingethan hat? Sie schlafen. Ich bin verrückt! Es ist nicht möglich. Hilfe!

Unterdessen war in La Tourgue und auf dem Plateau Alles lebendig geworden. Das ganze Lager lief um das brennende Gebäude zusammen. Kaum waren die Belagerer mit den Kugeln fertig, und schon wartete ihrer ein neuer Kampf. Gauvain, Cimourdain, Guéchamp ertheilten Befehle. Was thun? Aus dem kärglichen Bächlein in der Schlucht ließen sich mit knapper Noth ein paar Eimer Wasser schöpfen. Immer höher stieg die Bestürzung. Der Vorsprung des Plateaus stand voller Leute, die mit verstörten Gesichtern hinüberschauten; und was sie sahen, war auch entsetzlich, und sie mußten es mit ansehen und konnten nicht helfen. An den brennenden Epheuranken hatte das Feuer das oberste Stockwerk erreicht, in dem eine Unmasse von Stroh aufgespeichert lag, über das es herfiel. Schon stand der ganze Dachboden in Flammen; sie tanzten förmlich darin hin und her voll düsterer Freude, denn es war, als fache ein verruchter Hauch diesen Scheiterhaufen an, als hause hier, in einen Funkenwirbel verwandelt, der schauervolle Imânus, als sei er zu einem mörderischen Gluthendasein neu erwacht und als flackere seine ungeheuerliche Seele nun als Feuersbrunst auf. Das mittlere Stockwerk war zwar noch nicht ergriffen worden, weil die hohe Decke und die dicken Mauern die Flammen noch abhielten, aber der verhängnißvolle Augenblick rückte immer näher; an den Dielen der Bibliothek leckte die Feuersbrunst des Erdgeschosses und den Plafond streichelte die Feuersbrunst der Dachkammer; schon streifte die Kinder der gräßliche Kuß des Todes; unten ein Keller voll Lava und oben ein Gewölbe voll glühenden Kohlen. Ein Loch im Fußboden, und Alles versank im Pechpfuhl; ein Loch in der Decke, und Alles wurde unter den knisternden Heubündeln begraben.

René-Jean, Gros-Alain und Georgette waren noch nicht erwacht; sie schliefen den tiefen urkräftigen Schlaf der Kindheit, und zwischen den Flammen und dem Rauch, die vor den Fenstern ab und zuwogten, sah man sie, wie von einem Heiligenschein umstrahlt, friedlich, anmuthig und regungslos in ihrer Feuergrotte daliegen wie drei Jesuskindlein, die voller Vertrauen in einer Hölle eingeschlummert sind, und ein Tiger selbst hätte weinen müssen, wenn er diese Rosen in diesem Gluthofen erblickt hätte und diese Wiegen in diesem Grab. Drüben aber rang die Mutter die Hände: Feuer! Ich rufe Feuer! Ist denn Alles taub, daß mir Niemand antwortet? Sie verbrennen mir meine Kinder! So kommt doch her, Ihr Leute von dort drüben! Bin schon seit so viel Tagen unterwegs und muß sie so wiederfinden! Feuer! Hilfe! Es sind ja kleine Engel! Wenn man bedenkt, daß es kleine Engel sind! Was haben sie denn gethan, die unschuldigen Würmer? Mich hat man erschossen und sie verbrennt man! Wer macht denn das Alles nur? Hilfe! Rettet meine Kinder! Hört Ihr mich nicht? Ein Hund, mit einem Hund hätte man Erbarmen! Meine Kinder! Meine Kinder! Sie schlafen! Ach! Georgette! Dort sehe ich dem lieben Ding seinen kleinen Bauch! René-Jean! Gros-Alain! Ja, so heißen sie. Ihr seht wohl, daß ich die Mutter bin. Was heut zu Tage geschieht, ist ja niederträchtig. Tag und Nacht bin ich gelaufen. Erst heute Morgen habe ich noch mit einer Frau gesprochen. Hilfe! Hilfe! Feuer! Ist man denn lauter Ungeheuer hier? Es ist geradezu abscheulich! Der Aelteste ist keine fünf Jahre alt, das Kleine noch keine zwei. Dort sehe ich ihre nackten Beinchen. Sie schlafen, o Du gütige Mutter Gottes! Die Hand des Himmels giebt sie mir zurück und die Hand der Hölle nimmt sie mir wieder weg. Und so weit habe ich gehen müssen! Meine Kinder, die ich mit meiner Milch getränkt habe! Und war noch unglücklich darüber, daß ich sie nicht finden konnte! So habt doch Erbarmen mit mir! Meine Kinder begehr ich zurück; ich muß meine Kinder wieder haben! Ach! Es ist wirklich wahr, daß sie da drüben mitten im Feuer sind! Da seht nur meine armen Füße, die ich mir blutig lief. Hilfe! Es ist nicht möglich, daß es Menschen giebt in der Welt, und daß man die armen Kleinen so zu Grunde gehen läßt! Hilfe! Mörder! So was ist ja noch nie vorgekommen. O die Mordbrenner! Was ist denn das für ein gräßlich Haus! Gestohlen hat man sie mir, um sie umzubringen! Jesus Maria, ist das ein Elend! Ich will meine Kinder! O ich weiß garnicht mehr, was ich thun könnte! Sie dürfen nicht sterben. Hilfe! Hilfe! Hilfe! Wenn sie mir so wegsterben, o dann möcht ich den lieben Herrgott umbringen!

Während dieser fürchterlichen Beschwörung der Mutter rief es auf dem Plateau und in der Schlucht durcheinander:

– Eine Leiter her!

– Man hat keine Leiter.

– Wasser!

– Wir haben keins!

– Da droben im Thurm, im zweiten Stock, ist eine Thür!

– Sie ist von Eisen.

– Schlagt sie ein!

– Es geht nicht!

Und immer verzweifelter heulte die Mutter: Feuer! Hilfe! Aber so macht doch! Oder dann tödtet mich! Meine Kinder! Meine Kinder! O das entsetzliche Feuer! Holt sie heraus oder schmeißt mich hinein! Und in den kurzen Pausen, die diese Wehrufe von einander trennten, hörte man die Feuersbrunst ruhig weiterprasseln.

Der Marquis, seine Tasche befühlend, berührte den eisernen Schlüssel. Dann ging er auf das Gewölbe zu, durch das er sich geflüchtet hatte, bückte sich und trat in die soeben verlassene Galerie zurück.

II.

Von der steinernen zur eisernen Thür.

Eine ganze Armee, außer sich, vor einer unlösbaren Aufgabe, viertausend Mann, unfähig, drei Kindern zu Hilfe zu kommen, das war die Situation. Leitern waren keine da, und die von Javené war ausgeblieben; wie wenn sich ein Krater aufthut, griff die Feuersbrunst immer mehr um sich. Der Versuch, mit dem Wasser aus dem beinah versiegten Bach zu löschen, wäre kaum weniger lächerlich gewesen, als wenn man ein Glas Wasser über einen Vulkan ausschütten wollte.

Cimourdain, Guéchamp und Radoub waren in die Schlucht, Gauvain wieder in den Saal des zweiten Stockwerks von La Tourgue gestiegen, wo sich der Drehstein mit dem geheimen Ausgang und die eiserne Thür der Bibliothek befanden, wo der Imânus die Schwefellunte angezündet und von wo aus das Feuer sich verbreitet hatte. Dorthin hatte Gauvain zwanzig Sappeurs mitgenommen, denn nur wenn die eiserne Thür gesprengt wurde, konnte geholfen werden. Sie war verzweifelt gut verschlossen. Man versuchte es zunächst mit Beilhieben, aber die Aexte brachen.

– Auf diesem Eisen, sagte einer der Sappeurs, springt der Stahl wie Glas.

Die Thür bestand auch in der That aus doppelten, mit Riegelnägeln aneinander geschmiedeten, je drei Zoll dicken Platten von Eisenblech. Nun stemmte man Eisenstangen darunter, um sie aus den Angeln zu heben; die Eisenstangen brachen.

– Wie Schwefelfaden, sagte der Sappeur.

Düster murmelte Gauvain vor sich hin: Nur mit Kanonenkugeln wäre der Thür beizukommen. Ein Geschütz müßte hier heraufgeschafft werden können.

– Erst noch die Frage, sagte der Sappeur.

Eine momentane Niedergeschlagenheit hatte Platz gegriffen. Alle die ohnmächtigen Arme hielten inne, und stumm, besiegt, bestürzt, starrten die Männer die abscheuliche, unerschütterliche Thür an. Ein rother Widerschein schimmerte darunter hervor, denn dahinter nahm die Feuersbrunst immer zu und unheimlich triumphirend lag der gräßliche Leichnam des Imânus in der Nähe. Noch ein paar Minuten vielleicht und das Schlößchen sank in sich zusammen. Was noch versuchen? Es war keine Hoffnung mehr, und mit bitterem Ingrimm, den Blick auf den verdrehten Stein und auf die Lücke in der Mauer geheftet, rief Gauvain: Und dem Marquis von Lantenac hat dieses Loch zur Flucht verholfen!

– Wie zur Rückkehr, sagte eine Stimme, und in dem Mauerrahmen des geheimen Ausgangs erschien ein weißes Haupt.

Es war wirklich der Marquis. Gauvain, der ihn seit langen Jahren so nah nicht gesehen hatte, that einen Schritt rückwärts und wie versteinert verharrten alle Anwesenden in ihrer zufälligen Stellung.

0319

Der Marquis kehrte mit einem seiner Kinder zurück.

Der Marquis hielt einen großen Schlüssel in der Hand. Mit einem herrischen Blick brachte er einige Sappeurs, die vor ihm standen, zum Weichen, ging schnurstracks auf die eiserne Thür los, bückte sich unter die Wölbung und steckte den Schlüssel ins Loch. Das Schloß knarrte; die Thür sprang auf und mit festem Fuß und hohem Haupte trat der Marquis in den Flammenpfuhl, der dahinter sichtbar wurde, hinein. Schaudernd folgte ihm Alles mit den Blicken. Kaum hatte er in dem brennenden Saal einige Schritte gethan, so sank, vom Feuer angefressen und vom Tritt des Marquis erschüttert, der Fußboden hinter ihm zusammen, so daß jetzt zwischen ihm und der Thür ein Abgrund klaffte. Aber er wendete den Kopf nicht um, und man sah ihn weiterschreiten, bis er im Rauch verschwand. Was war aus ihm geworden? Hatte sich ein neuer Krater unter ihm geöffnet? War ihm blos gelungen, mit zu Grunde zu gehen? Das wußte Keiner. Man hatte eine Mauer von Gluth und Rauch vor sich und hinter dieser Mauer befand sich, todt oder lebendig, der Marquis.

III.

Das Erwachen der Kinder, die man einschlafen sah.

Endlich hatten die Kinder die Augen wieder aufgeschlagen.

Die Feuersbrunst, welche den Bibliotheksaal noch nicht ergriffen hatte, warf einen rosenrothen Widerschein gegen die Decke, eine Art Morgenroth, das den Kindern unbekannt war. Sie schauten hin und Georgette träumte sich sogar hinein. Alle Herrlichkeiten des Elements entfalteten sich vor ihren Blicken. In der dunkeln und goldigen Pracht der ungeberdigen Rauchsäulen tummelten sich die schwarze Hydra und der blutrothe Drache. Lange davonfliegende Feuerbrände zogen Flammenstreifen durch die Finsterniß, als wären sie hintereinander herstürzende, kämpfende Kometen. Eine Feuersbrunst ist eine Verschwenderin, welche die Juwelen ihrer Gluthherde in alle Winde streut, und nicht umsonst ist der Diamant identisch mit der Kohle. In der Mauer des dritten Stockwerks waren Risse entstanden, aus denen ganze Kaskaden von Edelsteinen in die Schlucht hinabperlten, und in Lawinen von Goldstaub stoben die entzündeten Hafer- und Strohmassen des Dachbodens aus den Fenstern, und aus den Haferkörnern waren Amethysten und aus den Strohhalmen Karfunkel geworden.

– Nett! sagte Georgette.

Sie saßen alle Drei aufrecht.

– Ha! schrie die Mutter; sie erwachen!

René-Jean stand zuerst auf, dann Gros-Alain und dann Georgette. René-Jean streckte die Aermchen, trat ans Fenster und sagte: Es ist so warm.

– So warm, wiederholte Georgette.

Nun rief die Mutter zu ihnen herauf: Meine Kinder! René! Alain! Georgette!

Die Kinder schauten rings um sich und suchten das Alles zu begreifen. Was Männer mit Grausen erfüllt, weckt bei Kindern nur die Neugierde. Je leichter aber Jemand in Staunen geräth, desto schwerer geräth er in Furcht; wer unwissend ist, ist auch unerschrocken, und Kinder sind ja so unschuldig, daß sie selbst die Hölle, wenn sie sich vor ihnen aufthäte, noch bewundern würden.

– René! Alain! Georgette! wiederholte die Mutter.

René-Jean wendete den Kopf um, denn diese Stimme hatte ihn aus seiner Zerstreutheit herausgerissen; das Gedächtniß der Kinder ist kurz, aber ihre Erinnerungen lassen sich um so rascher wachrufen; ihre ganze Vergangenheit ist für sie ein einziges Gestern; René-Jean fand es nur selbstverständlich, daß er seine Mutter wiedersah, und da, unter den Wunderdingen, die ihn umgaben, ein verworrenes Gefühl der Hilfsbedürftigkeit in ihm aufkam, schrie er: Mama!

– Mama! schrie Gros-Alain.

– Mam! schrie Georgette und streckte die Aermchen nach ihr aus.

– Meine Kinder! brüllte die Mutter.

Jetzt standen sie alle Drei am Fenstersims; glücklicherweise wüthete die Feuersbrunst vor diesem Fenster gerade nicht.

– Es ist zu heiß, sagte René-Jean und setzte noch hinzu: Es brennt mich. Und er blickte wieder nach seiner Mutter: Komm doch her, Mama!

– Her, Mam! wiederholte Georgette.

Mit zerrauftem Haar, zerfetzt, blutend, hatte sich die Mutter von Strauch zu Strauch in die Schlucht hinabgleiten lassen, wo Cimourdain und Guéchamp sich, ganz wie droben im Thurm Gauvain, ihre Ohnmacht eingestehen mußten. Um sie her wimmelte es von Soldaten, die über ihr unnützes Zuschauen ganz außer Fassung geriethen. Die unerträgliche Hitze blieb völlig unbeachtet; Alles war in die Betrachtung der ragenden Brücke, der steilen Pfeiler, der hohen Stockwerke, der unerreichbaren Fenster und der Notwendigkeit schleunigsten Eingreifens versunken. Volle drei Etagen! Ein Hinaufklimmen war undenkbar. Radoub, verwundet, mit einem Säbelstich in der Schulter und einem weggeschossenen Ohr, war, von Schweiß und Blut triefend, herbeigestürzt, und erkannte Michelle Fléchard.

– Sieh da, sagte er, die Füsilirte! Sind Sie denn aus dem Grab auferstanden?

– Meine Kinder! schrie die Mutter.

– Ganz recht, antwortete Radoub; für die Gespenster haben wir keine Zeit.

Und nun machte er einen vergeblichen Versuch an einem der Brückenpfeiler hinaufzusteigen. Er krallte seine Nägel in die Fugen und kletterte ein paar Sekunden; aber die Steinschichten waren glatt, ohne jeden Bruch oder Vorsprung; das Mauerwerk war noch so unversehrt wie am ersten Tag, und Radoub glitt wieder herab. Fürchterlich wüthete die Feuersbrunst weiter. Im Rahmen des gerötheten Fensters sah man die drei blonden Köpfchen auftauchen, und Radoub erhob die geballte Faust zum Himmel, als suche er dort Jemand mit den Blicken, und rief: Ist das eine Aufführung, Du Herrgott?

Auf den Knieen hielt die Mutter einen Brückenpfeiler umfangen und schrie: Gnade!

Durch das Prasseln der Flammen hindurch erdröhnte ein dumpfes Gekrach. Klirrend fielen droben die gesprungenen Scheiben der Wandschränke herab. Das Gebälk gab offenbar schon nach. Hier konnte keine menschliche Kraft mehr Hilfe schaffen. Ein Augenblick noch, so mußte Alles in sich zusammenbrechen, und während man nichts mehr erwartete als die Schlußkatastrophe, hörte man die kleinen Stimmen immer ängstlicher herabrufen: Mama! Mama!

Der Gipfelpunkt des Entsetzens war erreicht.

Plötzlich erschien am Fenster, das dem, wo die Kinder standen, zunächst lag, vor dem purpurrotem Hintergrund der Feuerbrunst eine hohe Gestalt. Mit stieren Blicken staunte jetzt Alles zu ihr hinauf. Droben, im Bibliotheksaal, im Gluthofen, war ein Mann; schwarz hob er sich ab vom Schein der Flammen; nur das Haar schimmerte weiß, und man erkannte jetzt den Marquis von Lantenac. Der schauerlich ragende Greis verschwand wieder, kam aber bald darauf mit einer ungeheuern Leiter zurück. Er hatte die gegen die Wand der Bibliothek gelehnte Rettungsleiter geholt und zum Fenster geschleppt. Er packte sie bei dem einen Ende und ließ sie mit der vollendeten Meisterschaft eines Athleten über den Mauerkranz in die Schlucht hinabgleiten. Von unten streckte Radoub, außer sich vor Freude, die Hände danach aus, faßte sie an und rief, indem er sie an die Brust preßte: Es lebte die Republik!

– Es lebe Seine Majestät der König! antwortete der Greis.

– Meinetwegen schreie Du den blühendsten Unsinn in die Welt, murrte Radoub; der liebe Herrgott bist Du doch.

Sowie die Verbindung zwischen der Schlucht und dem brennenden Saal durch die Leiter hergestellt war, eilten zwanzig Mann herbei und faßten, Radoub voran, von oben bis herab gegen die Sprossen gelehnt, in gleichmäßigen Zwischenräumen Posto darauf, wie die Maurer, wenn sie Backsteine hinauf oder hinunter schaffen. Ganz oben auf dieser Leiter von Holz und von Menschen stand Radoub dicht vor dem Fenster, der Feuersbrunst zugekehrt. Von allen Gemüthsbewegungen gleichzeitig durchschüttert, drängte sich das ganze auf der Haide und der Böschung zerstreute kleine Heer zum Plateau, zur Schlucht, zur Plattform des Thurms.

Wieder verschwand der Marquis und kehrte dies Mal mit einem der Kinder zurück, dem nächstbesten, das er hatte greifen können; es war Gros-Alain, welcher jammerte: Ich fürchte mich.

Der Marquis reichte Gros-Alain dem Sergeanten hin; dieser reichte ihn seinerseits dem unter und hinter ihm lehnenden Soldaten, der ihn in ähnlicher Weise weiter beförderte. Während der erschrockene, schreiende Gros-Alain auf diesem Wege von Arm zu Arm hinuntergelangte, kam der abermals verschwundene Marquis mit René-Jean ans Fenster zurück, der sich unter Thränen wehrte und Radoub ins Gesicht schlug, als er diesem vom Marquis überliefert ward. Und zum dritten Mal eilte Lantenac in den flammenerfüllten Saal zu der allein noch übrig gebliebenen Georgette; da sie ihm zulächelte, fühlte dieser Mann von Erz, wie ihm etwas Feuchtes in die Augen trat und fragte:

– Was hast Du für einen Namen?

– Orgette, sagte sie.

Er nahm die immer noch lächelnde Kleine auf den Arm, und im Augenblick, wo er sie Radoub einhändigte, bewältigte der blendende Abglanz der Unschuld auch dieses steilragende, verdüsterte Gewissen und der Greis gab dem Kind einen Kuß.

– Das kleine Mädel! jubelten die Soldaten, und unter schwärmerischen Zurufen glitt nun auch Georgette von Arm zu Arm zur Erde nieder. Die alten Grenadiere klatschten in die Hände, stampften mit den Füßen, schluchzten, und Georgette lächelte noch immer.

Unten an der Leiter stand die Mutter, athemlos, von Sinnen, von all dem Unerwarteten berauscht, unmittelbar aus der Hölle hinabgeschleudert ins Paradies. Auch die Ueberfülle der Wonne reißt das Herz in Stücke. In ihren weit ausgestreckten Armen empfing sie zuerst Gros-Alain, dann René-Jean, dann Georgette; sie bedeckte sie, ohne sie mehr von einander unterscheiden zu können, mit Küssen, brach in ein krampfhaftes Gelächter aus und fiel ohnmächtig zu Boden.

– Gerettet, Alle! donnerte es in die Weiten.

Gerettet waren in der That Alle, mit Ausnahme des Greises. Aber an den dachte kein Mensch, vielleicht er selber am Wenigsten.

Er blieb eine Zeit lang sinnend am Fenster stehen, als wolle er dem flammenden Schlund eine Frist geben, um sich zu entscheiden. Dann schwang er sich ohne jegliche Hast, gemächlich und stolz, auf das Gesims und stieg ohne umzuschauen, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, die Feuersbrunst hinter sich und dem Abgrund zugewendet, mit der stummen Majestät eines Phantoms allmälig an der Leiter herab. Wer noch darauf stand, eilte hinunter. Alle Anwesenden überlief ein Schauer, und wie vor einem übermenschlichen Gesicht wich Jedermann vor dem niederschreienden Greis in heiliger Scheu zurück. Feierlich tauchte er immer tiefer in die Finsterniß, die sich unter ihm dehnte, und näherte sich der vor ihm zurückfluthenden Menge. In seinen marmorblassen Zügen war kein Zucken, in seinem geisterhaften Auge kein Aufblitzen zu entdecken; mit jedem Schritt, den er jenen Männern entgegenthat, die in der Dunkelheit ihre starren Blicke auf ihn hefteten, erschien er größer; die Leiter bebte und stöhnte unter seinen gespenstischen Tritten, und man hätte ihn für die Statue des Kommandeurs halten können, der in die Gruft zurückkehrte.

0327

Dann stieg der Marquis, aufrecht gegen die Sprossen gelehnt, an der Leiter herab.

Als der Marquis unten angelangt war, als er den Fuß von der letzten Sprosse auf festen Boden gesetzt hatte, senkte sich eine Hand auf seine Schulter. Er drehte sich um.

– Ich verhafte Dich, sagte Cimourdain.

– Ich stimme Dir bei, sagte Lantmac.

Sechstes Buch

Nach dem Sieg der härteste Kampf

I.

Lantenac gefangen

Der Marquis war wirklich in die Gruft zurückgekehrt. Man führte ihn ab. Sofort wurde, unter Cimourdain’s strenger Aufsicht das ebenerdige in den Stein gehauene Verließ von La Tourgue geöffnet, eine Lampe, ein Krug Wasser, ein Kommislaib und ein Strohbündel hineingeschafft, und bevor noch eine Viertelstunde verflossen war, seitdem die Hand des Priesters den Marquis berührt hatte, schloß sich bereits hinter Lantenac die Thür seines Kerkers. Gleich darauf – es schlug in der Ferne auf dem Kirchthurm von Parigné gerade elf – begab sich Cimourdain zu Gauvain und sagte zu ihm: Ich werde ein Kriegsgericht einsetzen, ohne jedoch Dich beizuziehen. Du bist ein Gauvain und Lantenac ist ein Gauvain. Ihr seid zu nahe verwandt, als daß Du sein Richter sein könntest, und ich tadele es, daß Egalité über Capet mit abgeurtheilt hat. Das Kriegsgericht wird aus drei Richtern bestehen, einem Offizier, dem Hauptmann Guéchamp, einem Unteroffizier, dem Sergeanten Radoub, und mir, dem Präsidenten. Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen. Wir halten uns an den Beschluß des Konvents und werden ganz einfach die Identität des vormaligen Marquis von Lantenac feststellen. Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine. Die Vendée ist todt.

Gauvain machte nicht die geringste Einwendung, und Cimourdain, von dieser seiner endgültigen Aufgabe völlig in Anspruch genommen, verließ ihn, denn es blieben noch Stunden zu bestimmen und Lokalitäten zu wählen. Wie Lequinio zu Granville, Tallien zu Bordeaux, Châlier zu Lyon, Saint-Just zu Straßburg, pflegte er bei den Hinrichtungen zugegen zu sein; diese Gewohnheit des Richters, dem Henker zuzuschauen, galt für ein gutes Beispiel und war von den dreiundneunziger Schreckensmännern den französischen Parlamenten und der spanischen Inquisition entlehnt worden.

Nicht minder in Anspruch genommen war auch Gauvain.

Vom Wald her blies ein rauher Wind. Gauvain überließ es Guéchamp, die nöthigen Befehle zu ertheilen, ging in sein Zelt am Waldsaum, auf dem Rasenplatz vor La Tourgue, und hüllte sich in seinen Mantel. Dieser Mantel war mit einer Kapuze versehen und mit jener einfachen Borte besetzt, in der die prunklos republikanische Auszeichnung der Korpskommandanten bestand. Dann wandelte er auf der blutigen Wiese, wo der Sturm auf La Tourgue begonnen hatte, auf und nieder. Er war ganz ungestört. Das Feuer, dem nunmehr keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, brannte weiter. Radoub war bei den Kindern und der Mutter, fast ebenso mütterlich wie diese. Das Brückenschlößchen war beinahe vernichtet; die Sappeurs isolirten nur noch den Gluthherd. Man warf Gruben auf für die Todten, verband die Verwundeten, riß die Barrikade nieder, entfernte die Leichen aus den Gemächern und von den Treppen, reinigte den Schauplatz des Gemetzels und schaffte den fürchterlichen Kehricht des Sieges bei Seite. Die Soldaten besorgten mit militärischer Hurtigkeit, was man das Hauswesen einer beendigten Schlacht nennen könnte. Aber von dem Allen sah Gauvain nichts. Kaum daß er, aus seiner Träumerei heraus, einen Blick auf den Wachtposten vor der Bresche warf, der auf Cimourdains Befehl verdoppelt worden war. Der Wiesenfleck, wo er gewissermaßen eine Zuflucht gesucht hatte, lag etwa hundert Schritt von der Bresche, deren schwarzen Schlund er in der Dunkelheit unterscheiden konnte. Dort hatte vor drei Stunden der Angriff begonnen; dort war Gauvain in den Thurm eingedrungen; dort befand sich der Saal, wo die Barrikade gestanden; jener Saal führte in den Kerker des Marquis, welcher durch den Wachtposten der Bresche bewacht wurde, und jedes Mal, wenn Gauvains Blick diese Bresche streifte, tönte ihm wie Grabgeläute ein verworrener Nachhall der Worte ins Ohr: »Morgen die Gerichtssitzung, übermorgen die Guillotine.«

Die Feuersbrunst, wiewohl begrenzt und durch die Sappeurs mit allem verfügbaren Wasser begossen, erlosch nicht ohne Widerstand und wirbelte stellenweise noch Flammen auf; hin und wieder hörte man das Gekrach des Gebälks und der aufeinander einstürzenden Stockwerke, und dann sprühte das Schlößchen, wie eine geschwungene Fackel, ganze Wirbel von Funken; der äußerste Horizont erglänzte wie bei einem Blitzstrahl und La Tourgue warf plötzlich einen riesenhaften Schlagschatten bis zum Waldsaum hinüber.

Gauvain, der langsamen Schritts in der Dunkelheit vor der Bresche auf und abging, kreuzte zuweilen beide Hände hinter der Kapuze seines Soldatenmantels, die er über den Kopf geschlagen hatte, und sann.

II.

Gauvain in Gedanken

Es war ein unergründlich tiefes Hinbrüten; hatte doch eine unerhörte Verwandlung soeben stattgefunden. Der Marquis von Lantenac hatte sich verklärt, und diese Verklärung hatte Gauvain mit angesehen. Nie hätte er geglaubt, daß irgend welche Verwickelung von Umständen dergleichen Dinge mit sich bringen könne, und nie, selbst im Schlaf nicht, geahnt, daß so etwas möglich sei. Das Unerwartete, dieses unbestimmte, mit den Menschen spielende herrische Walten, hatte ihn erfaßt und hielt ihn fest. Unter seinen Augen war das Unmögliche, Sichtbare, Greifbare, Unvermeidliche, Unerbittliche Wirklichkeit geworden. Wie stellte sich nun er, Gauvain, zu dieser Thatsache? Nicht Ausflüchte zu suchen galt es hier; es galt, einen Schluß zu ziehen. Es war eine Frage an ihn gerichtet worden, welcher er nicht ausweichen durfte, und wer richtete diese Frage an ihn? Die Ereignisse, und die Ereignisse nicht allein, denn wenn die wandelbaren Ereignisse anfragen, steht die unwandelbare Gerechtigkeit dahinter und fordert Antwort. Hinter der Wolke, die ihren Schatten auf uns wirft, leuchtet der Stern, und wir können, uns dem Licht ebenso wenig entziehen wie dem Schatten.

Gauvain bestand ein Verhör. Er erschien vor einem Richter, einem furchtbar strengen Richter: seinem eigenen Gewissen. Er empfand ein innerliches Taumeln; seine festesten Vorsätze, seine bestimmtesten Versprechungen, seine unwiderruflichsten Entschlüsse, das Alles kam in den Grundfesten seiner Willenskraft in ein Wanken. Wie Erdbeben, so giebt es auch Seelenbeben. Je mehr er dem Gesehenen nachgrübelte, desto tiefer wühlte sich die Umwälzung. Ihm, der als Republikaner das Wahre erfaßt zu haben glaubte und auch erfaßt hatte, erschien nun urplötzlich eine höhere Wahrheit, über der politischen Idee die rein menschliche. Was in ihm vorging, ließ sich nicht bemänteln; der Thatbestand fiel schwer ins Gewicht; Gauvain, der in diesen Thatbestand mit verflochten war, konnte sich nicht zurückziehen, und trotz Cimourdains Versicherung: »Mit Allem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen«, fühlte er in seinem Innern etwas Aehnliches wie ein Baum, der von seiner Wurzel losgerissen wird. Jeder Mensch hat eine Grundlage, und jede Erschütterung dieser Grundlage versetzt den Menschen in namenlose Verwirrung; diese Verwirrung war über Gauvain gekommen, und er drückte beide Hände gegen seine Stirn, als wolle er das Richtige daraus hervorpressen.

Eine solche Situation klar zusammenzufassen war kein Leichtes; es gab sogar nichts Schwereres; großmächtige Zahlen ragten vor ihm auf, aus denen er eine Summe ziehen sollte; ein ganzes Schicksal zusammen addiren, wem schwindelt davor nicht? Er machte den Versuch; er rang nach Aufklärung; er mühte sich ab, seine Gedanken zu sammeln, das oder jenes heimliche Widerstreben zu überwältigen, die Thatsachen der Reihe nach zu prüfen und sie sich selber zu erläutern.

Wer hat sich nicht schon einen Selbstbericht erstattet und ist nicht, an Wendepunkten seines Lebens, mit sich zu Rath gegangen, um sich einen Weg. für den Vorstoß oder für den Rückzug vorzuzeichnen?

Gauvain hatte etwas Unerklärliches geschaut. Gleichzeitig mit dem irdischen Kampf war ein himmlischer ausgefochten worden, der Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen; in diesem Kampf war ein steinern Herz überwunden worden, und wenn man alle Verdüsterungen dieses Herzens in Betracht zieht, die Gewaltthätigkeit, die Selbsttäuschung, die Blindheit, die krankhafte Verstocktheit, den Hochmuth, die Eigenliebe, so war hier wirklich ein Wunder geschehen: der Sieg der Menschheit über den Menschen. Das Menschliche hatte über das Unmenschliche triumphirt. Und wie hatte es einen Riesen an Zorn und Haß niedergeworfen? Durch welche Mittel? Mit welchen Waffen, welcher Kriegsmaschine? Durch eine bloße Kinderwiege.

Gauvain war wie durch ein Meteor geblendet. Mitten im sozialen Kampf, im Auflodern aller Feindseligkeiten und Rachegelüste, im dunkelsten, wildesten Moment des Aufeinanderprallens, in der Stunde, wo das Verbrechen in seinen hellsten Flammen und der Haß in seiner vollsten Finsterniß aufging, in diesem Augenblick der Schlacht, wo Alles zur Waffe wird und wo das Handgemenge so verhängnißwuchtig tobt, daß man nicht mehr weiß, auf welcher Seite die Gerechtigkeit, die Ehrlichkeit, die Wahrheit zu suchen sind, hatte das unbekannte Etwas, der geheimnißvolle Seelenmahner, über dem menschlichen Licht- und Schattenwiderstreit, urplötzlich den großen ewigen Strahlenborn leuchten lassen. Ueber dem düstern Zweikampf des Falschen und des nur bedingt Richtigen war mit einem Mal, in tiefster Ferne, das Antlitz der Wahrheit erschienen und die Macht der Schwachen zum Durchbruch gekommen. Man hatte drei armselige, kaum geborene, kaum ihrer selbst bewußte, verlassene, verwaiste, vereinsamte, stammelnde, lächelnde Wesen den Sieg davontragen sehen über den Bürgerkrieg, über die systematische Wiedervergeltung, über die gräßliche Logik der Gegenwehr, über den gewaltsamen Tod, das Gemetzel, den Brudermord, die Raserei, den verbissenen Groll, kurz über alle Gorgonen; man hatte eine verruchte, zu einem Verbrechen gedungene Feuersbrunst mißlingen und fehlschlagen gesehen, gesehen, wie ein unmenschlicher Vorbedacht entwaffnet und vereitelt wurde, gesehen, wie die überlieferte Grausamkeit des Mittelalters, die alte unerbittliche Menschenverachtung, die erfahrungsmäßigen angeblichen Nothbehelfe der Kriegführung mitsammt der Staatsräson und den eingefleischten, angemaßten Vorurtheilen eines grausamen Greisenthums in nichts zerstoben waren vor dem blauen Blick Solcher, die noch nicht gelebt hatten: eigentlich ein natürlicher Vorgang, denn wer noch nicht gelebt hat, hat auch noch nicht gesündigt; er ist die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die weiße Reinheit, und in den kleinen Kindern verkörpern sich die Engel des Himmels.

Ein nutzbringend Schauspiel, ein guter Rath, eine Lehre war’s für die maßlosen Kämpfer eines unbarmherzigen Kampfes, plötzlich zu sehen, wie sich im Angesicht all der Unthaten, all der Frevel, all der Parteiwuth, der Blutgier, der scheiterhaufenanfachenden Rache, des fackelschwingenden Todes die Allmacht der Unschuld über die unzählige Legion von Greueln erhob. Und die Unschuld hatte gesiegt. Und jetzt konnte man sagen: Nein, es giebt keinen Bürgerkrieg, es giebt keine Barbarei, giebt keinen Haß, kein Verbrechen, keine Finsterniß mehr, dies Heer von Unholden zu zerstreuen genügte ein einzig Morgenroth: die Kindheit.

0335

In keinen Kampf, niemals, hatte sowohl das Göttliche wie das Teuflische sichtbarlicher eingegriffen. Der Kampfplatz war ein Gewissen gewesen, das Gewissen Lantenacs, und nun brach, noch heißer und noch entscheidender, in einem andern Gewissen der Kampf los, in Gauvains Gewissen. Ein Mensch, welch ein Schlachtfeld! Göttern, Ungeheuern und Riesen sind wir preisgegeben, unsern eigenen Gedanken, und diese wilden Ringer, wie oft zerstampfen sie uns die Seele!

Immer tiefer versank Gauvain in sein Grübeln.

Der Marquis von Lantenac, eingeschlossen, bestürmt, verurtheilt, in Bann und Acht, festgekeilt wie ein Löwe in der Arena, wie der Nagel in der Zange, in seiner kerkergewordenen Höhle gefangen und allenthalben bedrängt von einer feurigen Eisenmauer, hatte ihr zu entrinnen vermocht; er war wie durch ein Wunder entkommen; ihm war ein Meisterstück gelungen, in einem solchen Krieg das schwerste unter allen, die Flucht. Er hatte wieder Besitz ergriffen von seinem Wald, um sich darin zu verschanzen, von der ganzen Umgegend, um darin zu kämpfen, von der Finsterniß, um darin zu verschwinden. Er war der schreckenverbreitende Auf- und Niedertaucher wieder, der düstere Irrfahrer, das Oberhaupt der Unsichtbaren, der Anführer der unterirdischen Männer, der Herr der Wälder. Gauvain hatte den Sieg, Lantenac aber seine Freiheit errungen. Er hatte fortan die vollste Sicherheit, den unbegrenzten Raum, die unerschöpfliche Wahl seiner Schlupfwinkel vor sich; er war ungreifbar, unentdeckbar, unerreichbar; der gefangene Löwe war der Falle entsprungen und in diese Falle war er zurückgekehrt, hatte freiwillig, aus eigenem Antrieb, willkürlich, den Wald und den Schatten und die Geborgenheit und das Asyl seiner Freiheit verlassen, um sich tollkühn in die entsetzlichste Gefahr zu begeben, ein erstes Mal, als er sich in das Gebäude stürzte, das ihn mit dem Untersinken in den Flammen bedrohte, und dann noch ein zweites Mal, als er an jener Leiter hinabstieg, die ihn seinen Feinden überantwortete und die, eine Rettungsleiter für die Anderen, für ihn die Leiter zum Grab war. Und weshalb hatte er das Alles gethan? Um drei Kinder dem Tode zu entreißen. Und was wollte man jetzt mit diesem Mann beginnen? Ihm den Kopf vor die Füße legen. Für drei Kinder – waren es seine Kinder? Nein; gehörten sie wenigstens seiner Familie an? Nein; seiner Kaste? – Nein – für die drei Kinder einer Bettlerin, die nächstbesten, für unbekannte, zerlumpte, halbnackte Findlinge hatte dieser Edelmann, dieser Fürst, dieser Greis, der Gerettete, der Befreite, der Sieger – denn solch ein Entrinnen ist ein Triumph – Alles gewagt, Alles aufs Spiel gesetzt, Alles wieder in Frage gestellt und hatte, in demselben Augenblick, da er die Kinder zurückgab, seinen bis dahin verhaßten, nunmehr aber verehrungswürdigen Kopf mit gebieterischer Ueberlegenheit zurückgebracht und dem Henker angeboten. Und was geschah jetzt? Das Gebotene war angenommen worden. Lantenac hatte die Wahl gehabt zwischen fremdem Leben und zwischen seinem eigenen und hatte sich majestätisch für seinen Tod entschieden. Und den wollte man ihm jetzt zuerkennen, ihm den Tod zur Belohnung seines Heldenthums, wollte auf eine hochherzige That mit einer barbarischen antworten und der Revolution diese Blöße geben! Wie klein müßte da die Republik erscheinen neben dem Marquis! Während der Mann der Vorurtheile und der Unterdrückung, plötzlich umgewandelt, in die Menschheit zurückkehrte, sollten sie, die Männer der Befreiung und der Unabhängigkeit, im Bürgerkrieg verharren, in der Routine des Blutvergießens, im Brudermord! Das göttliche Gesetz der Vergebung, der Selbstverleugnung, der Erlösung, der Opferfreudigkeit sollte also den Verfechtern des Irrthums heilig sein und den Soldaten der Wahrheit nicht! Wie? Sollte man etwa an Großmuth hinter dem Gegner zurückbleiben? Diese Niederlage über sich ergehen lassen? In der Vollkraft sich als der schwächere Theil erweisen, siegreich morden und die Behauptung möglich machen, es ständen auf der Seite der Monarchie Die, welche die Kinder retten, und Die, welche Greise umbringen, seien unter den Republikanern zu suchen? Dieser tapfere Soldat, dieser gewaltige Achtziger, dieser entwaffnete, eher geraubte als gefangene Feind, mitten aus einer edlen That herausgerissen, mit seiner eigenen Erlaubniß festgenommen, noch mit den Schweißperlen einer erhabenen Opferthat auf der Stirn, sollte die Stufen des Schaffotts hinansteigen, wie man hineinsteigt zur Apotheose? An das Fallbeil sollte dieses Haupt ausgeliefert werden, von den bittenden drei Seelen der geretteten kleinen Engel umschwebt? Und bei dieser Selbsterniedrigung seiner Henker sollte Lantenacs Antlitz lächeln und das Antlitz der Republik erröthen? Und in seinem, Gauvains, des Befehlshabers, Beisein sollte das geschehen? Und er, der es verhindern konnte, sollte sich nicht rühren, sich zufrieden geben mit der stolzen Abfertigung: »Mit dem, was von jetzt ab geschehen soll, hast Du Dich nicht zu befassen?« Würde er nicht zu sich selber sagen müssen, daß in solchen Fällen eine Abdankung die Mitschuld ist? Und müßte er sich nicht eingestehen, daß der, welcher eine so ungeheuerliche That zuläßt, noch verwerflicher handelt, als der sie vollbringt, weil er nebenbei noch die Rolle des Feiglings spielt?

Aber hatte er nicht bereits versprochen, den Tod des Marquis herbeizuführen? Hatte er, Gauvain, der Mann der Milde, nicht erklärt, daß Lantenac als Ausnahme außer dem Bereich der Milde stehe und daß er ihn Cimourdain überantworten werde? Diesen Kopf war er schuldig; er zahlte ganz einfach seine Schuld ein. Aber war es denn auch noch derselbe Kopf? Bis jetzt hatte Gauvain in Lantenac lediglich den barbarischen Gegner gesehen, den fanatischen Vorkämpfer des Königthums und der Feudalzustände, den Schlächter der Gefangenen, den durch den Bürgerkrieg losgelassenen Mörder, den Blutmenschen, und jenen Menschen fürchtete er nicht; gegen den Wütherich konnte er wüthen, dem Unversöhnlichen die Unversöhnlichkeit entgegensetzen. So wäre die Sache äußerst einfach und der vorgeschriebene Weg mit düsterer Leichtigkeit einzuhalten gewesen; den Tödtenden tödten war weiter nichts als die gerade Linie des Gräßlichen. Jetzt aber war diese gerade Linie ganz unvermuthet unterbrochen worden und hinter ihrer Krümmung that sich, wie durch eine Offenbarung, ein neuer Gesichtskreis auf. Der unbekannte, verwandelte Lantenac betrat die Bühne. Dem Ungeheuer entstieg ein Held, ja, mehr noch als ein Held, ein Mensch, und mehr noch als eine Seele, ein Gemüth. Gauvain hatte keinen Würger mehr, einen Retter hatte er vor sich. Er war niedergeworfen durch einen himmlischen Lichtstrom; Lantenac hatte ihm einen Donnerschlag der Güte ins Herz geschmettert.

Und dieser verklärte Lantenac sollte Gauvain nicht auch verklären? Was? Auf diesen Strahlenstoß sollte kein Rückstoß erfolgen? Der Mann der Vergangenheit sollte voran- und der Mann der Gegenwart zurückschreiten? Der Mann der Grausamkeit und des Aberglaubens sollte, auf plötzlich ausgebreiteten Schwingen einherschwebend, den Mann des Ideals von oben herab im Staub und in der Nacht kriechen sehen, weiterkriechen im ausgefahrenen Geleise der Rohheit, indessen er, Lantenac, in den Lüften hinsegelte, erhabenen Begegnungen zu?

Und dann noch dies Andere: die Familie! Das Blut, das Gauvain vergießen sollte – denn es vergießen lassen, hieß es selber vergießen – war es nicht sein eigenes? Sein Großvater war gestorben, aber sein Großonkel lebte, und dieser Großonkel war der Marquis. Mußte derjenige der beiden Brüder, der im Grab lag, nicht daraus hervorsteigen, um zu verhindern, daß der andere hinabgestoßen werde? Mußte er nicht seinem Enkel befehlen, fortan diese Krone von weißem Haar, die Schwester seiner eigenen Strahlenkrone, zu ehren, und blitzte nicht zwischen Gauvain und Lantenac der Entrüstungsblick eines Todten? Hatte die Revolution denn die Entartung der Gemüther zum Zweck? War sie gemacht worden, um die Bande der Familie zu sprengen und alles menschliche Fühlen zu ersticken? Im Gegentheil, 89 war ja über der Welt aufgegangen, um diese höchsten Wahrheiten zur Geltung zu bringen und nicht, um sie zu verneinen, denn die Bastillen niederwerfen, heißt die Menschheit befreien, die Feudalherrschaft abschaffen, heißt die Familie begründen. Da der Urheber der Ausgangspunkt der Autorität ist, und da die Autorität dem Urheber innewohnt, giebt es keine andere Autorität als die des Vaters; daher die berechtigte Herrschaft der Bienenkönigin, die ihr Volk gebiert und ihre Königswürde der Mutterschaft entlehnt; daher der Widersinn des Menschenkönigs, der, ohne der Vater zu sein, dennoch der Herr sein will; daher die Absetzung dieses Königs; daher die Republik. Was ging aus dem Allen hervor? Die Familie, die Menschheit, die Revolution. Die Revolution war die Thronbesteigung der Völker und im Grund ist das Volk nichts anderes als das Individuum. Die Frage war so gestellt, ob jetzt, da Lantenac in die Menschheit zurückgekehrt war, Gauvain seinerseits nicht in die Familie zurückkehren werde; die Frage war, ob Oheim und Neffe sich in der höheren Lichtregion zusammenfinden sollten oder ob dem Fortschreiten des Oheims ein Rückschritt des Neffen entsprechen müsse. Auf diese Frage also lief Gauvains erregte Auseinandersetzung mit seinem Gewissen hinaus, und die Antwort schien sich von selber zu ergeben: Rettung für Lantenac.

Wohl, aber Frankreich?

Hier wechselte das schwindelnde Problem plötzlich die Gestalt. Wie? Frankreich lag in den letzten Zügen! Frankreich stand offen, ausgesetzt, ohne Bollwerk; es hatte keinen Wallgraben mehr: Deutschland drang über den Rhein; es hatte keine Mauern mehr: Italien stieg über die Alpen und Spanien über die Pyrenäen. Ihm blieb nur der große Schlund des Ozeans, nur den Abgrund hatte es noch für sich. Dem den Rücken zuwendend, konnte es freilich, auf seine Meere gestützt, dem ganzen Festland die Stirne bieten. Eigentlich war diese Stellung unüberwindlich. Aber nein, diese Stellung war im Rücken bedroht. Dieser Ozean gehört Frankreich nicht mehr. Auf diesem Ozean hausten die Engländer. England wußte allerdings nicht, wie es hinüberkommen sollte, doch siehe da! Es fand sich ein Mann, der ihm eine Brücke bauen wollte, ein Mann, der ihm die Hand reichte, ein Mann, der zu Pitt, zu Craig, zu Cornwallis, zu Dundas, zu den Piratenschiffen sagte: Kommt! Ein Mann, der eben hinüberschreien wollte: Da, England, nimm Frankreich hin! Und dieser Mann war der Marquis von Lantenac und diesen Mann hielt man fest. Nach drei Monaten der Hartnäckigkeit, der Verfolgung, der Hetzjagd, war man seiner endlich habhaft geworden. Gerade war auf den Fluchbeladenen die Hand der Revolution niedergefahren; die zusammengekrampfte Faust von 93 hatte den royalistischen Henker beim Kragen gefaßt, und durch eine Fügung jenes geheimnißvollen Vorbedachts, der von oben herab in die irdischen Ereignisse eingreift, erwartete just in seinem eigenen Stammkerker dieser Muttermörder die Strafe, der mittelalterliche Mensch im mittelalterlichen Burgverließ; die Steine seines Kastells standen wider ihn auf und schlossen sich über ihm, und der sein Vaterland gefangen geben wollte, wurde selber gefangen gegeben durch sein Haus. Das Alles hatte Gott augenscheinlich also angeordnet; die Stunde der Gerechtigkeit hatte geschlagen; die Revolution hatte diesen öffentlichen Widersacher festgenommen; er konnte nicht mehr kämpfen, nicht mehr handeln, nicht mehr schaden; in jener Vendée, die über so viele Arme gebot, war er der einzige Kopf; mit ihm ging der Bürgerkrieg zu Ende; er war gefangen und damit Alles zum tragisch glücklichen Abschluß gekommen; nach so vielen Blutszenen und Metzeleien saß er hinter Schloß und Riegel, und sterben sollte nun auch Der, welcher getödtet hatte. Und dieser Mann hätte einen Retter finden sollen? Cimourdain, das heißt 93, hielt Lantenac, das heißt die Monarchie, in seiner Faust und es sollte sich eine Hand rühren, um der eisernen Kralle diese Beute zu entreißen? Lantenac, derjenige, in dem sich jene Garbe von Plagen zusammenflocht, die man die Vergangenheit nennt, der Marquis von Lantenac lag im Grab; die schwere Pforte der Ewigkeit schlug hinter ihm zu, und es sollte Jemand nahen und von außen den Riegel wieder wegschieben? Dieser soziale Uebelthäter war todt und mit ihm der Aufruhr, der brudermörderische Kampf, der unmenschlich geführte Krieg, und ihn sollte Jemand zurückrufen ins Leben? O wie würde der Todtenkopf dazu lachen! Recht so, würde dieses Gespenst grinsen, da habt ihr mich wieder, ihr dummen Tröpfe! Und wie würde er dann wieder an seine verruchte Arbeit gehen! Mit welcher freudigen Unversöhnlichkeit würde er sich wieder in den Pfuhl des Hasses und der Kriegswuth stürzen! Wie würden, schon am nächsten Tag, die Häuser in Brand gesteckt, die Gefangenen hingeschlachtet, die Verwundeten niedergemacht, die Weiber erschossen werden!

Und jene That, die Gauvain also blendete, maß er ihr denn auch wirklich keinen übertriebenen Werth bei? Drei Kinder waren verloren, und Lantenac hatte sie gerettet. Aber weshalb waren sie verloren? Waren sie’s nicht durch Lantenacs Schuld? Wer hatte jene Wiegen jener Feuersbrunst ausgesetzt? War’s nicht der Imânus? Und was war der Imânus? Das Werkzeug des Marquis. Verantwortlich ist der Befehlshaber. Der Mordbrenner war also kein Anderer als Lantenac. Was hatte er demnach so Bewundernswerthes gethan? Nichts, als daß er von seinem Vorsatz abließ. Nachdem er das Verbrechen zur Hälfte begangen, war er davor zurückgebebt, hatte sich selber Abscheu eingeflößt. Der Schrei der Mutter hatte jenen Rest von angestammtem menschlichen Mitleid in ihm aufgerührt, der als eine Art Ablagerung des allgemeinen organischen Lebens jeder Seele, sogar der ungeheuerlichsten, innewohnt. Bei jenem Schrei hatte er sich umgewendet und war aus der Nacht, in der er sich verlor, zum Licht zurückgekehrt und hatte die Wirkung seines Verbrechens aufgehoben. Sein ganzes Verdienst bestand lediglich darin, daß er nicht bis zum Schluß der Unmensch gewesen.

Und für ein so geringes Verdienst sollte man ihm Alles wiedergeben? Den offenen Raum, die Gefilde, die Ebenen, die Lüfte, den Tag, den Wald ihm wiedergeben, daß er ihn für seine rebellischen Zwecke, die Freiheit, daß er sie zur Knechtung, die Existenz, daß er sie zur Vertilgung anderer ausnütze?

Oder konnte man etwa einen Versuch machen, sich mit ihm zu verständigen, mit seiner gebieterischen Seele zu unterhandeln, ihm bedingungsweise die Befreiung vorzuschlagen, ihn zu fragen, ob er sein Leben mit dem Versprechen erkaufen wolle, sich fortan jeder weiteren Auflehnung und Feindseligkeit zu enthalten? Wie verfehlt wäre solch ein Anerbieten gewesen und welch ein Triumph für ihn! Und mit welch stolzer Geringschätzung könnte er dem Fragenden die Antwort ins Angesicht schlagen: Die Entwürdigungen behaltet für Euch und tödtet mich!

Mit diesem Mann war in der That nichts Anderes zu beginnen, als ihn zu tödten oder zu befreien. Bei ihm gipfelte sich Alles; er war stets bereit, zu entschweben oder sich zu opfern; er war der Adler und der Abgrund seiner selbst, ein psychisches Räthsel. Ihn tödten, welch ein Alp! Ihn befreien, welch eine Verantwortung! War Lantenac frei, so mußte in der Vendée Alles wieder von Neuem begonnen werden; von Neuem mußte man ringen mit dem Lindwurm, dem man den Kopf nicht abgeschlagen. In einem Nu, wie der Blitz, würde die verglimmende Flamme beim ersten Wiedererscheinen dieses Mannes aufflackern, und dieser Mann würde nicht eher ruhen, als bis ihm sein fluchwürdiger Plan gelungen, demzufolge, wie ein Sargdeckel, die Monarchie über die Republik und England über Frankreich geschraubt werden sollte. Lantenac retten, hieß Frankreich opfern; Lantenacs Leben bedeutete den Tod einer Menge von unschuldigen, dem Bürgerkrieg aufs Neue anheimfallenden Wesen, Frauen und Kinder so gut wie Männer; es bedeutete die Landung der Engländer, den Rückprall der Revolution, die Verwüstung der Städte, ein zerfleischtes Volk, eine verblutende Bretagne, ein der Klaue zurückerstattetes Opfer. Und mitten in einem Meer von verworrenen Lichterscheinungen und durcheinander gekreuzten Strahlen sah Gauvain, wie sich allmälig vor seiner hinträumenden Seele das Problem abklärte und aufrichtete: Freigebung des Tigers.

Und dann trat die Frage wieder in ihrer ersten Gestalt an ihn heran; der Sisyphosblock, das Sinnbild des inneren Widerstreits im Menschen, rollte wieder zurück. War Lantenac denn auch wirklich der Tiger? Er mochte ein Tiger gewesen sein; aber war er auch jetzt noch einer? Gauvain empfand die peinlich schwindelnden Windungen des Gedankens, der wie die Schlange in sich selber zurückschnellt. Ließ sich denn schließlich auch nach redlichster Prüfung die Opferthat Lantenacs, seine stoische Selbstverleugnung, seine majestätische Uneigennützigkeit in Abrede stellen? Vor dem aufgerissenen Rachen des Bürgerkrieges der Humanität huldigen, in den Konflikt der untergeordneten Wahrheiten die höhere Wahrheit schleudern, den Beweis führen, daß es über den Königsthronen, über den Revolutionen, über den irdischen Streitfragen noch das endlos zärtliche Hinschmelzen der Seele giebt, die Pflicht der Starken, den Schwachen zu beschützen, die Rettungspflicht der Geretteten gegen die Rettungsbedürftigen, die Vaterpflicht aller Greise gegen alle Waisen – diese Herrlichkeiten zur Geltung bringen und das eigene Haupt dafür einsetzen, General sein und auf den Krieg, auf die Schlachten, auf die Revanche verzichten, Royalist sein und zu einer Wage greifen und auf die eine Schale den König von Frankreich, eine fünfzehnhundertjährige Monarchie, die wiederherzustellenden alten Gesetze, die wiedereinzuführende alte gesellschaftliche Ordnung und auf die andere Schale die nächstbesten drei Bauernkinder legen und den König, den Thron, das Scepter, die fünfzehn Jahrhunderte leicht befinden gegen eine dreifache Unschuld – das Alles sollte so viel sein wie nichts, und Der dies vollbracht, sollte der Tiger bleiben und als Bestie ausgerottet werden? Nein, zehnmal nein! Ein Unmensch war es nicht, der soeben noch den Abgrund des Bürgerkrieges mit dem Strahl einer göttlichen That erhellt hatte! Aus dem Schwertschwinger war ein Lichtspender geworden; der Höllenfürst war wieder Lucifer der Engel. Durch sein Opfer hatte sich Lantenac von allen früher verübten Greueln losgekauft; er hatte sich durch seinen zeitlichen Untergang moralisch gerettet, hatte sich eine neue Unschuld erkämpft, hatte seine eigene Begnadigung unterschrieben, denn es besteht ein Recht der Selbstverzeihung, und von nun an war Lantenac ehrwürdig. Er hatte das Außerordentliche bereits geleistet, und nun kam die Reihe an Gauvain; Gauvain war ihm die Antwort schuldig. Der Widerstreit der edlen und unedlen Leidenschaften hatte dermalen die Welt in ein Chaos zurückgestoßen und diesem hatte Lantenac die Humanität abgerungen; Gauvain fiel nun die Aufgabe zu, dem Chaos noch ein Zweites abzuringen, die Familie. Was mußte geschehen? Konnte Gauvain unterlassen, was Gott selber ihm zutraute? Nimmermehr, und aus seinem Tiefsten heraus flüsterte ihm eine Stimme zu: Retten wir Lantenac! – Nun denn, entgegnete eine andere, thue es nur, arbeite den Engländern nur in die Hände, desertire, lauf über zum Feind, rette Lantenac und werde zum Verräther am Vaterland!

Und er schauderte in sich zusammen.

O Du Träumer, Deine Lösung des Problems ist keine Lösung. – Vor Gauvain stieg in der Finsterniß, die ihn umgab, die düster lächelnde Sphinx auf. Seine Situation glich einem grauenhaften Kreuzweg, in den die widersprechenden Wahrheiten einmündeten und sich einander gegenüberstellten, und wo die drei höchsten Güter des Lebens einander anstarrten: die Menschheit, das Vaterland, die Familie. Jede dieser Wahrheiten ergriff der Reihe nach das Wort und der Reihe nach sagte jede etwas Richtiges. Wie sollte da gewählt werden? Eine um die andere schien den Berührungspunkt der Weisheit und der Billigkeit entdeckt zu haben und mahnte: So mußt Du handeln. Aber mußte wirklich so gehandelt werden? Ja und Nein. Die Vernunft rieth zu Dem, das Gefühl zu Jenem, und die beiden Rathschläge bildeten einen Gegensatz. Die Vernunft ist blos unser Hirn und geht vom Menschlichen aus; das Gefühl ist oft das Gewissen der Weltseele und geht demnach aus vom Uebermenschlichen. Darum auch hat das Gewissen die mindere Klarheit, aber die größere Macht. Und dennoch, was liegt in der strengen Vernunft nicht für eine Gewalt! Gauvain schwankte in grausamer, Rathlosigkeit zwischen zwei Abgründen hin und her: den Marquis verderben oder ihn retten. In einen von beiden mußte er sich stürzen; aus welchem von beiden aber rief die Pflicht?

III.

Der Mantel des Kommandanten.

Die Pflicht und abermals die Pflicht: vor Cimourdain stieg sie düster, vor Gauvain bedrohlich empor, einfach vor Jenem und vor Diesem vielseitig, widerspruchsvoll, verwickelt.

Mittlerweile hatte es Zwölf und Eins geschlagen.

Ohne daß er es merkte, hatte sich Gauvain allmälig der Bresche genähert.

Die Feuersbrunst war zu einer sterbenden Gluth verglommen, deren Widerschein auf das gegenüberliegende Plateau fiel und es in den Zwischenräumen, wo der Rauch sie nicht umwölkte, matt erhellte. Dieser stoßweise auflebende und plötzlich wieder erlöschende Schimmer gab den Gegenständen ein unverhaltnißmäßiges Aussehen und die Schildwachen des Lagers tauchten wie Gespenster darin auf. Aus seiner Traumwelt heraus folgte zuweilen Gauvains Blick mechanisch diesem Untergehen des Qualms im Aufleuchten und des Aufleuchtens im Qualm. Das Auf- und Abwogen der Gluth entsprach einigermaßen der innern Fluth und Ebbe seiner Seele.

Plötzlich warf zwischen dem Aufwirbeln zweier Rauchwolken ein davonfliegender Feuerbrand des verglimmenden Gluthherdes ein grelles Licht auf die höchste Stelle des Plateaus und beschien dort mit röthlichem Glanz die Umrisse eines Karrens. Gauvain schaute hinüber. In diesem Karren, um welchen berittene Gendarmen hielten, glaubte er das Fuhrwerk wiederzuerkennen, das er vor einigen Stunden, bei Sonnenuntergang, durch Guechamp’s Fernrohr betrachtet hatte. Es standen Menschen darauf, die etwas abzuladen schienen, und zwar etwas Schweres, das hin und wieder dumpf durcheinander klirrte; was es eigentlich war, hätte sich schwerlich bestimmen lassen; dem Aussehen nach mochte es wohl Balkenwerk sein. Zwei von den Männern schafften eben eine dreieckige flache Kiste herab, die auf die Erde gestellt wurde. Da erlosch der Feuerbrand und Alles verschwamm wieder im Dunkeln. Nachdenklich starrte Gauvain noch immer hinüber nach dem Plateau, auf dem Laternen angezündet worden waren und undeutliche Gestalten ab und zugingen, die Gauvain, von unten und diesseits der Schlucht, nur dann wahrnahm, wenn sie zum äußersten Rand des Plateaus vortraten. Man hörte auch Stimmen, konnte jedoch keine Worte unterscheiden. Hier und da ertönte es wie von Hammerschlägen auf Holz oder gab jenen eigenthümlichen metallischen Klang, der das Wetzen einer Sense begleitet. Es schlug Zwei.

Langsam wie Einer, der nach zwei Schritten vorwärts am liebsten drei andere wieder rückwärts thun möchte, ging Gauvain auf die Bresche zu. Als er näher kam, erkannte ihn die Schildwache trotz der Dunkelheit an der

goldenen Borte seines Mantels und präsentirte das Gewehr. Nun trat Gauvain in den ebenerdigen Saal, der jetzt in eine Wachtstube umgewandelt worden; die Laterne, die von der Decke herunterhing, gab gerade so viel Licht, daß man durch das Gemach schreiten konnte, ohne über die am Boden auf Stroh ausgestreckten Soldaten des Postens zu stolpern, die fast alle schliefen. Da wo sie vor wenig Stunden noch gekämpft, schlummerten sie jetzt, zwar nicht gerade bequem, denn auf den mangelhaft gekehrten Steinplatten kam mancher noch auf ein von der Schlacht übrig gebliebenes Eisen- oder Bleigeschoß zu liegen; aber sie waren müde und rasteten wenigstens aus. Auf dieser gräßlichen Stätte des ersten Angriffs war gebrüllt, geheult, mit den Zähnen geknirscht, geschlagen, gewürgt, geröchelt worden; auf diesem Fußboden, der ihnen nun als Lager diente, waren gar viele der Ihrigen getroffen niedergestürzt; das Stroh, auf dem sie ruhten, trank das Blut ihrer Kameraden; jetzt war Alles vorüber, man hatte das Blut fortgespült, die Säbel abgewischt; die Todten waren todt und die Ueberlebenden friedlich eingeschlummert. So will es der Krieg. Und auch in der nächsten Nacht sollte ebenso friedlich geschlafen werden.

Als Gauvain erschien, erhoben sich Diejenigen, die blos dämmerten, und unter diesen der Kommandirende des Wachtpostens, vom Boden. Gauvain deutete nach der Kerkerthür und sagte: Machen Sie mir auf. Die Riegel wurden zurückgeschoben und Gauvain trat durch die geöffnete Thür ein, die sich sofort wieder hinter ihm schloß.

Erstes Buch.


Auf hoher See.

Im Wald von La Saudraie.

Ende Mai 1793 wurde eines der Pariser Bataillone, die unter Santerre in die Bretagne eingerückt waren, zu einem Streifzug durch den schauerlichen Wald von La Saudraie, Bezirk Astillé, kommandirt. Dieses Bataillon war nur dreihundert Mann stark, denn es hatte in jenen harten Kriegszeiten sehr nothgelitten – Zeiten episch heldenhaften Ringens, wo von den sechshundert Freiwilligen des ersten Pariser Bataillons siebenundzwanzig, des zweiten dreiunddreißig und des dritten siebenundfünfzig Mann aus der Argonne und den Schlachten von Valmy und Jemmappes zurückgekehrt waren.

Die Bataillone, die von Paris nach der Vendée abmarschirten, zählten neunhundertundzwölf Mann und führten jedes drei Geschütze. Ihr Zustandekommen war ein sehr rasches gewesen: Den 25. April, also zur Zeit, da Gohier die Justiz und Bouchotte das Kriegswesen leiteten, war vom Stadtbezirk Bon-Conseil der Vorschlag ausgegangen, in die Vendée Freiwilligenbataillone zu entsenden; hierauf hatte ein Mitglied des Stadtraths Namens Lubin Bericht darüber erstattet, und am ersten Mai hatte Santerre bereits zwölftausend Mann nebst einem Bataillon Artillerie und dreißig Feldgeschützen zusammen. Trotz aller Eile war die Art und Weise der Mobilmachung so vorzüglich, daß sie heutzutage der Einteilung der Linienkompagnien zu Grunde gelegt wird; es ist dadurch das frühere numerische Verhältniß zwischen Truppe und Unteroffizieren ein anderes geworden.

Unter dem Datum des 28. April war vom Pariser Stadtrath an die Freiwilligen von Santerre die Ordre ergangen: »Keine Gnade, keinen Pardon!« Ende Mai waren von den zwölftausend Parisern achttausend gefallen.

Das Bataillon, welches im Walde von La Saudraie operirte, rückte sehr behutsam vor. Von Hast keine Spur, ein fortwährendes Spähen nach rechts und links, vor sich hin und rückwärts: »Der Soldat muß ein Auge im Rücken haben«, meinte Kleber. Marschirt wurde schon lang. Wie viel Uhr oder welche Tageszeit es sein mochte, hätte sich schwer bestimmen lassen, denn in einem so urwüchsigen Dickicht weicht ein gewisses abendliches Dämmern auch der hellsten Mittagssonne nicht.

0002

Deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter.

Tragische Erinnerungen knüpften sich an diesen Wald: In diesem Gestrüpp hatte, schon im November 1792, der Bürgerkrieg seine Gräuelthaten begonnen; der wilde, hinkende Mousqueton war dieser Baumnacht entstiegen, die nunmehr ein Grab unzähliger Opfer schaudervollsten Mordes, eine Stätte des Entsetzens war; deshalb drangen die Soldaten so vorsichtig weiter in die Tiefen. Und doch blühte Alles rings um sie her und wob sich von allen Seiten zu einer zitternden Mauer von zartbelaubten, kühlfächelnden Zweigen zusammen; hin und wieder schillerte ein Sonnenstrahl in die grünende Finsterniß hinein und auf der Erde dehnte sich ein dichtüppiger Rasenteppich, gestickt und verbrämt mit Schwertlilien, Narcissen, lenzduftigem Safran und jenen kleinen Blumen, die das schöne Wetter ankündigen, und allen Moosgattungen in jeder erdenklichen Form durcheinanderwimmelnd, hier gekrümmt wie eine Raupe und dort gezackt wie ein Stern. Langsamen Schritts und schweigend bahnten sich die Soldaten einen Weg durch das leise auseinandergeschobene Astwerk, indem die Vögelchen über ihren Bajonetten weiterzwitscherten.

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Ein fortwährendes Spähen nach rechts und links.

Früher, in friedlichen Zeiten, hatte in den Gebüschen von La Saudraie die »Houiche-ba« florirt, so heißt dort nämlich das nächtliche Jagen auf jene Vögelchen; jetzt wurde nur noch Jagd gemacht auf Menschen.

In diesem Wald gediehen an hochstämmigen Holzarten nur Birke, Buche und Eiche; das ebene, mit Moos und Gras dichtbewachsene Terrain gab keinen Laut von sich unter den Tritten der schreitenden Männer; wenn sich ausnahmsweise ein Fußpfad zeigte, so war’s nur auf einer ganz kurzen Strecke; vor lauter Stechpalmen, Schlehdornen, Farrenkräuterstauden, Heuhecheln und Brombeerhecken konnte man einen Menschen auf eine Entfernung von nur zehn Schritten unmöglich gewahr werden.

Ein Reiher oder ein Wasserhuhn, die zuweilen durch die Wipfel hinflatterten, deuteten an, daß ein Sumpf in der Nähe war.

Der Zug bewegte sich auf gut Glück hin immer vorwärts, gespannt und besorgt, Gesuchtes zu finden.

Hin und wieder zeigten abgebrannte oder ausgetretene Stellen, kreuzförmig aufgerichtete Stöcke, blutige Zweige die Spuren menschlichen Aufenthaltes: hier war Menage gekocht, dort Messe gelesen worden, und dort hatte man die Verwundeten gepflegt. Aber die hier ausrasteten, waren verschwunden – wohin? vielleicht schon in weite Ferne; vielleicht auch mochten sie nur wenige Schritte weit mit zielenden Stutzen im Hinterhalt liegen. Einstweilen war der Wald wie ausgestorben. Das Bataillon marschirte mit steigender Vorsicht; Einsamkeit und Mißtrauen halten gleichen Schritt. Weit und breit keine Seele, also ein Grund mehr zur Besorgniß in dieser berüchtigten Einöde; wie nahe lag da die Wahrscheinlichkeit einer listig gestellten Falle.

Dreißig Grenadiere unter der Führung eines Sergeanten gingen in beträchtlicher Entfernung vom Kern des Bataillons als Eclaireurs voraus, mit ihnen die Marketenderin.

Marketenderin schließen sich überhaupt lieber der Avant-Garde an: es ist dies zwar mit Gefahr verbunden, aber man bekommt dabei doch etwas zu sehen, und die Neugierde ist einmal eine der Aeußerungen weiblicher Tapferkeit.

Plötzlich durchzuckte jeden Einzelnen dieses kleinen Vortrabs jener den Jägern wohlbekannte Schauer, wenn sie auf ein Wild gestoßen sind. Mitten aus einem Dickicht heraus hatte man etwas wie ein Aufathmen vernommen, und nun schien es auch, als ob es sich im Laubwerk rührte. Die Soldaten winkten einander zu.

In den Späher- und Lauscherdienst der Eclaireurs braucht kein Offizier einzugreifen; was geschehen soll geschieht schon von selbst. Vor Ablauf einer Minute war die verdächtige Stelle bereits umstellt und ein Kreis von Gewehrläufen darauf gerichtet; von allen Seiten her hatten die Soldaten den dunkeln Mittelpunkt des Dickichts aufs Korn genommen und erwarteten, den Finger am Drücker und den Blick auf das verdächtige Objekt geheftet, nur noch das Kommando des Sergeanten, um einen Kugelregen hinzusenden.

Da, im Moment, wo der Sergeant abfeuern lassen wollte, rief die Marketenderin: Halt!

0007

Da rief die Marketenderin: Halt!

Sie hatte es gewagt, einen Blick durch das Buschwerk zu thun und setzte nun, zu den Soldaten gewendet, hinzu:

– Kameraden, schießt nicht!

Hierauf eilte sie ins Dickicht. Die Uebrigen folgten ihr nach, und wirklich fand sich Jemand in dem Versteck vor.

Mitten im dichtesten Gestrüpp, am Rande einer jener kleinen kreisförmigen Lichtungen, die in den Wäldern durch Kohlenmeier entstehen, welche die Baumwurzeln rundum versengen, saß in einem von Zweigen gebildeten Nest, einer Art Laubkammer, die wie ein Alkoven nach einer Seite hin halb offen stand, ein Weib mit einem Säugling an der Brust und zwei blondlockigen schlafenden Kindern auf dem Schooß.

Das also war der Feind.

– Sie, was thun Sie hier? rief die Marketenderin.

Das Weib blickte von dem Säugling zu ihr auf.

– Sind Sie verrückt, hier so zu sitzen, fuhr die Marketenderin fort, und fügte dann hinzu:

– Nur noch eine Minute, und Sie waren über den Haufen geschossen!

Und zu den Soldaten gewendet, erklärte sie:

– Es ist ein Weib.

– Donnerwetter! so viel sehen wir auch, sagte einer von den Grenadieren.

– In den Wald rennen, um sich über den Haufen schießen zu lassen, begann die Marketenderin von Neuem, ist so was Dummes je dagewesen!

Das Weib, verblüfft und starr vor Bestürzung, glotzte wie im Traum all die Gewehre, Säbel, Bajonette und wilden Gesichter um sich an.

Die beiden Kinder wachten auf und schrieen.

Das eine rief: Mich hungert.

Das andere: Mutter, ich fürchte mich.

Der Säugling trank ruhig weiter.

– Am Gescheutesten bist du dran, sagte die Marketenderin zu ihm.

Die Mutter war vor Entsetzen sprachlos.

– Nur nicht ängstlich, rief ihr der Sergeant zu, wir sind das Bataillon Bonnet-rouge.

Das Weib erzitterte am ganzen Leibe und starrte in des Sergeanten hartes Gesicht, von dem eigentlich nur die Brauen, der Schnurrbart und die zwei kohlschwarz glühenden Augen sichtbar waren.

– Vormals das Bataillon von der Croix-Rouge, erläuterte die Marketenderin.

Und der Sergeant fuhr fort:

– Wer bist du, meine Dame?

Immer noch starrte das Weib schaudernd zu ihm hinüber. Sie war jung, blaß, abgezehrt, und trug, wie alle bretonischen Bäuerinnen, nur ganz zerfetzt, die große Kapuze und die mit einer Schnur um den Hals zurückgeschlagene Wolldecke. Mit der Gleichgültigkeit der Verwilderung ließ sie ihren Busen entblößt. Ihre nackten Füße bluteten.

– Es ist eine Arme, sagte der Sergeant.

Und die Marketenderin begann wieder in ihrem soldatisch weiblichen, nur so verstohlen mildanklingenden Ton:

– Wie heißen Sie?

Das Weib stammelte leise, fast unverständlich vor sich hin:

– Michelle Fléchard.

Die Marketenderin fuhr dem Säugling mit ihrer breiten Hand streichelnd über das Köpfchen und fragte:

– Wie alt ist der Käfer?

Da die Mutter keine Antwort gab, wiederholte sie ihre Frage:

– Wie alt das Ding da ist, möcht ich wissen.

– Ach so, sagte nun die Mutter, achtzehn Monate.

– Ei, das ist ja schon altes Eisen, sagte die Marketenderin. Das hat lang genug an der Brust gelegen. Das muß entwöhnt werden. Wollen’s mit Suppe füttern.

Die Mutter erholte sich allmälig von ihrem Schrecken. Die zwei wachgewordenen Kleinen waren eher neugierig als ängstlich. Sie staunten die schönen Federbüsche der Soldaten an.

– Ach! sagte die Mutter, sie sind recht hungrig, und setzte dann noch hinzu: Mir ist die Milch ausgegangen.

– Sollen schon was zu essen kriegen, rief der Sergeant ihr zu, und du auch. Aber das ist nicht Alles. Was hast du für politische Gesinnungen?

Das Weib schaute den Sergeanten an, ohne ihm zu antworten.

– Hast du mich nicht verstanden?

Darauf erwiderte sie:

– Ganz klein bin ich ins Kloster gekommen, aber ich habe geheirathet; ich bin keine Klosterfrau geworden. Bei den Schwestern habe ich französisch reden lernen. Unser Dorf ist angezündet worden. Wir sind so schnell davongelaufen, daß ich nicht einmal Schuhe angezogen habe.

– Nach deinen politischen Gesinnungen frage ich.

– Das weiß ich nicht.

– Blos weil es Kundschafterinnen giebt hier herum, fuhr der Sergeant fort. Dergleichen wird von uns mit blauen Bohnen traktirt. Na, so sprich einmal! Eine Zigeunerin bist du doch nicht? Du hast doch ein Vaterland?

– Ich weiß nicht, antwortete sie.

– Was? du weißt nicht, wo deine Heimath ist?

– Ah so, meine Heimath – o doch.

– Nun also, wie heißt dein Vaterland, deine Heimath?

– Die Maierei von Siscoignard in der Gemeinde von Azé.

Jetzt war an den Sergeanten die Reihe gekommen, verblüfft dreinzuschauen. Nachdem er einen Augenblick nachdenklich dagestanden, begann er wieder:

– Wie hast du gesagt?

– Siscoignard.

– Das ist aber noch immer kein Vaterland, so ein Nest.

– Aber so heißt meine Heimath, sagte die Frau, schien dann eine Minute lang über etwas nachzusinnen, und fügte schließlich hinzu:

– Nun versteh ich’s, mein Herr: Sie sind aus Frankreich; ich bin aus der Bretagne.

– Und was weiter?

– Ja, das ist nicht die nämliche Heimath.

– Aber das nämliche Vaterland! schrie der Sergeant.

Die Frau erwiderte hierauf nur:

– Ich bin aus Siscoignard.

– Gut; lassen wir’s gelten, dein Siscoignard, entgegnete der Sergeant. Dort ist also deine Familie her?

– Ja.

– Und was treiben sie, die Leute?

– Sie sind alle gestorben. Ich habe niemand mehr.

Der Sergeant, der sich nicht ganz ungern reden hörte, inquirirte weiter:

– Eltern hat man doch, zum Teufel! oder hat sie gehabt. Wer bist du? Heraus mit der Sprache!

Das Weib lauschte in dumpfem Staunen den drei Worten »hat sie gehabt«, die schon mehr wie ein Niesen als wie eine menschliche Rede klangen.

Die Marketenderin fühlte das Bedürfniß, sich ins Mittel zu legen. Sie begann abermals den Säugling zu streicheln und klopfte den zwei anderen Kindern auf die Backen.

– Wie heißt der Milchegel da? fragte sie. Aber nein, es ist offenbar ein Mädel.

– Georgette, antwortete die Mutter.

– Und der Aelteste? denn der wenigstens ist doch ein Mannsbild, der Schlingel dort.

– René-Jean.

– Und der Jüngere, der ja auch ein Mannsbild ist und noch dazu zwei Backen hat wie ein Trompeter?

– Das ist mein Dicker, Alain.

– Nett sind sie, die kleinen Kerle, sagte die Marketenderin; das stolzirt euch schon so einher wie etwas Vernünftiges.

Der Sergeant aber ließ nicht ab:

– Heraus jetzt mit der Sprache, meine Dame! Hast du ein Haus?

– Ich habe eins gehabt.

– Wo?

– In Azé.

– Und warum bist du nicht mehr in diesem Haus?

– Weil man mir’s verbrannt hat.

– Wer?

– Ich weiß nicht – so eine Schlacht eben.

– Woher kommst du?

– Von dort drüben her.

– Wohin gehst du?

– Ich weiß nicht.

– Zur Sache endlich: Wer bist du?

– Ich weiß nicht.

– Was, du weißt nicht, wer du bist?

– Wir sind eben Leute, die sich flüchten.

– Mit welcher Partei hältst du’s?

– Ich weiß nicht.

– Stehst du zu den Blauen oder stehst du zu den Weißen? Zu wem stehst du?

– Zu meinen Kindern steh ich.

Es entstand eine Stille; dann sagte die Marketenderin:

– Ich habe nie eins gehabt, ein Kind: ich war immer so in Eile.

– Aber von deinen Eltern weißt du doch etwas? hob der Sergeant wieder an. Heraus damit, meine Dame: wie war’s mit deinen Eltern bestellt? Ich heiße Radoub; ich bin Sergeant; ich stamme aus der Straße Cherche-Midi wie mein Vater und meine Mutter; ich kann von meinen Eltern erzählen. Erzähle du uns von den Deinigen. Sage uns, was das für Leute gewesen sind.

– Fléchard nannten sie sich. Weiter ists nichts mit ihnen.

– Allerdings, ein Fléchard heißt Fléchard, gerade wie ein Radoub Radoub heißt. Aber man treibt doch irgend ein Gewerbe? Womit haben sie sich beschäftigt? Womit beschäftigen sie sich? Wie haben sie sich durch die Existenz fléchardirt, deine Fléchards?

– Sie waren Bauersleute. Mein Vater war verstümmelt und arbeitsunfähig von wegen der Stockprügel, die der gnädige Herr, sein und unser gnädiger Herr, ihm hatte geben lassen, was noch aus Güte geschah, weil mein Vater ein Kaninchen weggenommen hatte, weswegen man zum Tod verurtheilt wurde; aber der gnädige Herr war barmherzig gewesen und hatte gesagt: Gebt ihm bloß hundert Stockprügel; und so ist mein Vater ein Krüppel geworden.

– Weiter.

– Mein Großvater war ein Hugenott. Der hochwürdige Herr Pfarrer hat ihn auf eine Galeere schicken lassen. Ich war noch ganz klein.

– Weiter.

– Meines Mannes Vater war ein Salzschmuggler. Der König hat ihn erhängen lassen.

– Und dein Mann, was treibt der?

– Dieser Tage hat er sich geschlagen.

– Für wen?

– Für den König.

– Weiter.

– Nun ja, und für seinen gnädigen Herrn.

– Weiter.

– Nun ja, und für den hochwürdigen Herrn Pfarrer.

– Himmelherrgottsakramentsochsen! platzte ein Grenadier heraus.

Das Weib fuhr vor Entsetzen in die Höhe.

– Sie sehen, werthe Frau, daß wir echte Pariser sind, sagte die Marketenderin verbindlich.

Das Weib faltete die Hände und rief:

– Jesus, Maria und Joseph!

– Nur keine abergläubischen Faxen, ermahnte sie der Sergeant.

Die Marketenderin setzte sich neben sie und zog den ältesten Knaben zu sich her, der es auch gern geschehen ließ. Kinder beruhigen sich gerade so, wie sie erschrecken: man weiß nicht weshalb; sie haben einen geheimnißvollen innerlichen Tastsinn.

– Sie arme gute Frau vom Land, Sie haben da ein nett Paar Rangen; das ist immerhin etwas. Man sieht ihnen ihr Alter an: der Größere geht ins fünfte Jahr, der Andere ins vierte. Aber das muß ich sagen, der Wurm, den Sie an der Brust haben, ist ein verteufelter Vielfraß. O du kleines Ungeheuer, ob du wohl aufhören wirst, deine Mama so abzugrasen!

Wissen Sie Frau, Sie müssen keine Furcht haben. Eigentlich sollten Sie sich ins Bataillon aufnehmen lassen und es machen wie ich. Mich heißen sie die Husarin; ein Spitzname, was? Aber lieber will ich so heißen als Mamsell Bicorneau wie meine Mutter. Ich bin die Marketenderin, heißt so viel wie eine Person, welche Erfrischungen herumreicht, wenn man sich zusammenkartätscht und abschlachtet, wenn der Teufel los ist, was? Wir haben ungefähr den gleichen Fuß; ich werde Ihnen ein Paar von meinen Schuhen geben. Ich habe den 10. August mitgemacht zu Paris. Westermann hat von meinem Schnaps getrunken. Ich habe auch Ludwig XVI., das heißt Ludwig Capet köpfen sehen. Er wollte nicht dran; ist auch ganz begreiflich; wenn man bedenkt, daß er am 13. Januar noch Kastanien gebraten hat und gelacht mit seiner Familie! Als man ihn mit Gewalt auf das Fallbrett legte, wie man’s nennt, trug er weder Rock noch Schuhwerk mehr, blos das Hemd, eine gesteppte Weste, eine graue Tuchhose und grauseidene Strümpfe. Der Fiaker, in dem er angefahren kam, war grün angestrichen. Sehen Sie, Sie thäten am besten, mit uns zu gehen; wir sind ein Bataillon von lauter guten Kerlen; Sie wären dann die Marketenderin Nummer zwei; Sie werden den Rummel bald los haben; ich will Ihnen schon zeigen, wie einfach das Geschäft ist: da hat man sein Fäßchen mit der Schelle und geht eben in den Lärm, ins Pelotonfeuer, in die Kanonenschüsse, kurz mitten in die Suppe hinein und ruft: Nun, Kinder, mag Keiner eins trinken? Das ist die ganze Hexerei. Von mir kriegt Jeder einen Schluck, auf Ehre ja, die Weißen wie die Blauen, obschon ich blau bin und das in der Wolle gefärbt; aber trinken dürfen sie Alle; das hat eine trockene Leber, so ein Verwundeter, und dann sucht sich ja der Tod die Leute nicht nach ihrem Glaubensbekenntniß aus. Im Angesicht des Todes sollten die Menschen einander eine Hand geben. Eigentlich ist es etwas Einfältiges, so eine Keilerei.

Kommen Sie nur mit! Wenn ich aus dem Leben muß, können Sie dann das Geschäft fortsetzen.

Ich sehe nur so aus, wissen Sie; im Grunde bin ich ein gutmüthiges Weib und ein braver Kerl; vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten.

Als die Marketenderin schwieg, murmelte die Arme vor sich hin:

– Unsere Nachbarin hieß Marie-Jeanne und unsere Magd Marie-Claude. Unterdessen belehrte der Sergeant Radoub den einen Grenadier:

– Sei still! Du hast die Frau erschreckt. In Damengesellschaft flucht man nicht.

– Aber, entgegnete der Grenadier, es ist denn doch die reine Seekrankheit für die Intellektualität eines honetten Menschen, wenn man solche chinesische Kaffern sieht, denen der gnädige Herr den Schwiegervater zum Krüppel gehauen, denen der hochwürdige Herr Pfarrer den Großvater ins Zuchthaus, denen der König den Vater an den Galgen gebracht hat, und die sich zuguterletzt noch herumholzen und eine Rebellion anfangen und sich abtakeln lassen für den König, den gnädigen Herrn und den hochwürdigen Herrn Pfarrer!

– Keine Widerreden! rief der Sergeant.

– Man schweigt ja schon, murrte der Grenadier; aber verdrießen darf es Einen, wenn eine so nette Frau wie die sich der Gefahr aussetzt, blos für den Jux eines Pfaffen den Schädel eingeschlagen zu bekommen.

– Mann, sagte der Sergeant, wir sind hier nicht im Club unseres Stadtviertels; darum sei kein Cicero.

Und er wendete sich wieder zu dem Weib: – Aber dein Mann, meine Dame? Was treibt er? Was ist aus ihm geworden?

– Nichts: man hat ihn ja umgebracht.

– Wo denn?

– Im Busch.

– Wann?

– Vor drei Tagen.

– Und wer?

– Ich weiß nicht.

– Was? Du weißt nicht, wer dir deinen Mann umgebracht hat?

– Nein.

– War’s ein Blauer oder war’s ein Weißer?

– Eine Flintenkugel war’s.

– Und vor drei Tagen?

– Ja.

– Wozugegen war’s?

– Bei Ernée. Dort ist er gefallen, ja.

– Und du, was treibst du, seitdem du deinen Mann verloren hast?

– Ich trage meine Kinder fort.

– Wohin willst du sie tragen?

– Vorwärts.

– Und wo schläfst du?

– Auf der Erde.

– Und wovon nährst du dich?

– Von nichts.

Der Sergeant machte jene militärische Grimasse, wobei der Schnurrbart bis zur Nasenspitze hinaufgezogen wird:

– Also von nichts?

– Heißt das von Schlehen, von Brombeeren, wenn noch welche vom vergangenen Jahre her übrig geblieben sind, dann auch von Heidelbeeren und von den Schößlingen am Farrenkraut.

– Allerdings gleichbedeutend mit nichts.

Das älteste Kind schien zu verstehen und sagte:

– Mich hungert.

Da zog der Sergeant ein Stück Kommisbrod aus der Tasche und reichte es der Mutter hin. Diese brach das Brod in zwei Theile, die sie den Kindern gab. Gierig fielen die Kleinen darüber her.

– Für sich hat sie nichts behalten, brummte der Sergeant.

– Sie hat eben keine Lust zum Essen, sagte ein Soldat.

– Sie ist eben die Mutter, entgegnete der Sergeant.

Die Kinder hielten inne:

– Trinken! sagte das Eine: – Trinken! wiederholte das Andere.

– Giebt’s denn kein Wasser in dem verteufelten Wald? sagte der Sergeant.

Da nahm die Marketenderin den kleinen kupfernen Becher, der neben dem Glöckchen an ihrem Gürtel hing, drehte den Hahn des Fäßchens, das sie querüber an einem Riemen trug, ließ ein paar Tropfen in den Becher rinnen und setzte ihn den Kindern an die Lippen.

Das ältere trank und verzog das Gesicht. Das jüngere spuckte aus.

– Aber es ist doch etwas Gutes, sagte die Marketenderin.

– Ein Schwerenöther? fragte der Sergeant.

– Und noch dazu vom besten. Es sind halt Bauern, antwortete sie, indem sie den Becher auswischte.

Der Sergeant begann abermals:

– So viel steht also fest, meine Dame, daß du davonläufst?

– Ich muß ja wohl.

– Immer querfeldein, so auf gut Glück hin?

– Erst renne ich aus Leibeskräften, dann geh ich nur noch, und nachher fall ich hin.

– Traurige Wirtschaft, das! meinte die Marketenderin.

– Es wird ja gerauft, stammelte das Weib. Ringsum ist Alles eine große Schießerei. Ich weiß nicht, was sie gegen einander haben. Meinen Mann haben sie mir umgebracht. Weiter versteh ich nichts davon.

Der Sergeant stampfte mit seinem Flintenkolben auf die Erde, daß es klirrte: – Ja, ein dummer Krieg, hol mich der Teufel!

– Gestern Nacht, fuhr das Weib fort, haben wir uns in einer Höhlung schlafen gelegt.

– Selb Vieren?

– Selb Vieren.

– Schlafen gelegt?

– Schlafen gelegt.

– Also aufrecht schlafen gelegt, bemerkte der Sergeant. Und zu den Soldaten gewendet:

– Kameraden, sagte er, eine Höhlung heißt in der Sprache dieser Eingeborenen ein alter, hohler, abgestorbener Baum, in den ein Mensch nur hineinschlüpfen kann wie ein Säbel in die Scheide. Aber was ist da zu machen? Es gehört einmal nicht zu den Naturnotwendigkeiten, daß Jeder in Paris geboren wird.

– In einem Baumstamm übernachten! staunte die Marketenderin, und dazu mit drei Kindern!

– Und wenn nun die Heulerei der Kleinen losging, fuhr der Sergeant fort, muß es den Leuten, die ihr Weg vorüberführte und die gar nichts sehen konnten, ganz schnurrig vorgekommen sein, einen Baum »Papa« und »Mama!« schreien zu hören.

– Es ist noch Sommer, gottlob! seufzte das Weib. Und sie starrte zu Boden, in Ergebung, mit dem Staunen der Geschöpfe, die einer Naturgewalt unterliegen.

Schweigend umstanden die Soldaten dieses Elend: eine Wittwe, drei Waisen, auf der Flucht, ausgestoßen, preisgegeben dem ringsum grollenden Krieg, dem Hunger, dem Durst, ohne eine andere Nahrung als das Gras des Feldes, ein anderes Obdach als den freien Himmel. Der Sergeant trat näher und betrachtete den Säugling. Da ließ die Kleine die Mutterbrust los, wendete langsam das Köpfchen um und schaute mit einem Lächeln aus seinen schönen blauen Augen in das unheimlich wilde, struppige, borstige Gesicht, das sich hinbeugte über sie. Der Sergeant richtete sich wieder auf: es rann ihm eine große Thräne längs der Wange herab und blieb wie eine Perle an der Spitze seines Schnurrbarts hängen. Mit fester Stimme sprach er:

– Kameraden, aus der ganzen Bescheerung läßt sich schließen, daß dem Bataillon Vaterfreuden bevorstehen. Alles einverstanden? Die drei Kleinen werden an Kindesstatt angenommen.

– Die Republik hoch! riefen die Grenadiere.

– Abgemacht, sagte der Sergeant und streckte beide Arme über die Mutter und die Kleinen aus:

– Hier seht ihr also die Kinder des Bataillons Bonnetrouge.

Die Marketenderin sprang vor Freude in die Höhe und rief:

– Recht so, drei Köpfe unter einer Kappe. Dann drückte sie schluchzend, überschwänglich die arme Wittwe an ihr Herz und sagte:

– Wie doch die Kleine schon so muthwillig dreinschaut!

– Hoch die Republik! ertönte es nochmals aus Aller Mund, und der Sergeant sprach zur Mutter:

– Komm mit, Bürgerin.

Zweites Buch.

0015

Die Korvette »Claymore«.

I.

Englisch-französische Mischung.

Im Frühling 1793, während Frankreich, von allen Seiten her gleichzeitig angegriffen, sich mit einem pathetischen Intermezzo, dem Sturz der Gironde, beschäftigte, trug sich auf der Inselgruppe des Kanals Folgendes zu.

Eines Abends, am 1. Juni, auf Jersey, etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang, bei nebliger Witterung, die für eine heimliche Abfahrt gerade in Folge ihrer Gefährlichkeit günstig ist, segelte eine Korvette aus der kleinen öden Bucht von Bonnenuit. Das Fahrzeug hatte eine französische Mannschaft an Bord, gehörte jedoch zu der englischen Flottille, die wie ein Vorposten bei der östlichen Spitze der Insel ihre Station hatte. Die englische Flottille stand unter dem Kommando des Fürsten von la Tour-d’Auvergne, aus dem Geschlechte der Bouillon, und auf seinen Befehl war die Korvette mit einem eigenen und dringenden Auftrag detachirt worden.

Diese in Trinity-House unter dem Namen »The Claymore« eingetragene Korvette war scheinbar ein Fracht-, in Wirklichkeit aber ein Kriegsschiff. Trotz ihrem schwerfälligen, friedfertig merkantilen Aussehen, war ihr keineswegs zu trauen, denn bei ihrem Bau hatte man einen Doppelzweck im Auge gehabt: List, um womöglich zu täuschen, und Kraft, um nöthigen Falls zu kämpfen. Für den heutigen Nachtdienst hatte die Ladung des Zwischendecks dreißig kurzen Marinegeschützen von schwerem Kaliber den Platz räumen müssen. In Voraussicht eines Sturmes oder vielmehr um dem Fahrzeug seine harmlose Figur zu belassen, waren dieselben eingezogen, das heißt mit dreifachen Ketten dergestalt nach innen zu festgehalten, daß die Mündungen die überdies zugestopften Lucken kaum berührten; von außen war also nichts sichtbar; auch die Stückpforten waren geblendet, jede Oeffnung geschlossen; kurz die Korvette trug gewissermaßen eine Maske. Die ordonnanzmäßigen Korvetten führen ihre Geschütze nur auf dem Verdeck; dieses Schiff hingegen, für Trug und Ueberfall berechnet, war so gebaut, daß, wie wir bereits wissen, die Batterie nicht auf dem Deck, sondern im Zwischendeck untergebracht war. Obgleich nach einem massiven, gedrungenen Modell konstruirt, war der »Claymore« den Schnellseglern beizuzählen; seine Schale war so fest wie sonst keine zweite in der englischen Marine und im Gefecht blieb seine Leistungsfähigkeit kaum hinter der einer Fregatte zurück, obwohl er an Stelle des Besanmastes einen ungleich kleineren mit einer einfachen Brigantine führte. Von seltenem Scharfsinn zeugte das ausgezeichnete geschweifte Fugenwerk am Steuer, welches auf den Werften von Southampton mit fünfzig Pfund Sterling bezahlt worden war.

Die ausschließlich französische Schiffsmannschaft bestand aus übergelaufenen Matrosen und war von Emigranten befehligt. Unter diesen sorgfältig ausgesuchten Leuten befand sich auch nicht Einer, der nicht ein guter Seemann, ein guter Soldat und ein guter Royalist gewesen wäre; Alle bekannten sie sich zu dem dreifach schwärmerischen Kultus: Schiff, Waffe, König. Behufs einer eventuellen Landung war ihnen ein halbes Bataillon Marinetruppen beigegeben worden. Kapitän der Korvette war der Graf du Boisberthelot, Ritter des Sankt-Ludwigsordens und einer der verdienstvollsten Marineoffiziere des früheren Regime, Lieutenant der Chevalier von La Vieuville, der bei den Gardes-françaises die Kompagnie kommandirt hatte, in welcher Hoche Sergeant gewesen, und Lootse Philipp Gacquoil, der geschickteste Fachmann von ganz Jersey.

Daß das Fahrzeug etwas Außerordentliches vorhatte, unterlag keinem Zweifel, umsomehr als ein Mann an Bord gekommen war, dem man irgend ein Wagniß zutrauen mußte. Es war ein hochgewachsener Greis, rüstig, von aufrechter Haltung und strengen Gesichtszügen; sein Alter genau festzustellen hätte schwer fallen dürfen, da er zugleich bejahrt und doch wieder jung erschien – eine jener Gestalten voller Furchen und voller Kraft, mit weißem Haar auf der Stirn und einem Blitz im Auge, an Körperstärke Vierziger und Achtziger an geistigem Ansehen. Während er die Korvette bestieg, hatte man durch den klaffenden Schlitz seines Schiffermantels wahrnehmen können, daß er sogenannte »Bragou-Bras« oder Pumphosen trug, ferner hohe Stiefel und eine Jacke aus Ziegenfell, das seidengestickte Leder nach außen, das rauhe, borstige Haar nach innen zugekehrt, also ganz wie ein bretonischer Bauer gekleidet war. Jene altmodischen bretonischen Jacken ließen sich auf zweierlei Arten tragen, sowohl an Festtagen wie bei der Arbeit, je nachdem man sie nach der glatten oder der behaarten Seite wendete; so ging man die Woche über im Pelz, am Sonntag in der Stickerei.

Der Bauernanzug dieses Greises war überdies, gleichsam zur Vervollständigung seiner trügerisch beabsichtigten Echtheit, an Knieen und Ellenbogen wie durch langjährigen Gebrauch abgenutzt, und auch der grobe Tuchmantel glich dem heruntergekommenen Erbstück einer Fischerfamilie. Als Kopfbedeckung trug der Mann den Hut von hoher Form mit breiter Krämpe, der, wenn man letztere in der wagerechten Stellung läßt, ländlich aussieht, kriegerisch aber, wenn man sie auf einer Seite vermittelst einer Schnur und Kokarde aufstülpt. Er trug ihn nach Bauernmanier einfach mit hängender Krämpe, ohne Schnur noch Kokarde.

Der Gouverneur der Insel und der Fürst von la Tour-d’Auvergne hatten ihn persönlich an Bord geführt und untergebracht, und der geheime Agent des Prinzen, Gélambre, ein ehemaliger Garde-du-corps des Herrn Grafen von Artois, der schon die Einrichtung der Kajüte selber überwacht hatte, war trotz seinem alten Adel in der Rücksicht und Hochachtung so weit gegangen, dem Greis die Reisetasche nachzutragen. Auch hatte sich Herr von Gélambre, als er das Schiff wieder verließ, vor dem Bauern tief verneigt; Lord Balcarras hatte ihm noch zugerufen: »Glück auf, General!« und der Fürst von la Tour-d’Auvergne: »Lieber Vetter, auf Wiedersehen!«

0020

Herr v. Gélambre hatte sich vor dem Bauern tief verneigt.

»Der Bauer.« So wurde der Passagier auch wirklich gleich nach seinem Erscheinen vom Schiffsvolk in jenen wortkargen Gesprächen bezeichnet, die Seeleute mit einander führen; doch wenn ihnen auch der Schlüssel des Räthsels fehlte, so viel wußten sie immerhin, daß jener Bauer ebensowenig ein Bauer war wie der »Claymore« ein Kauffahrer.

Bei spärlichem Wind ging die Korvette unter Segel, steuerte an Boulay-Bay vorüber und blieb noch eine gute Weile lavirend in Sicht, bis sie, immer mehr zusammenschrumpfend, in der sinkenden Nacht verschwand.

Eine Stunde später schickte Gélambre von seiner Wohnung in Saint-Hélier aus folgende kurze Zeilen via Southampton an den Herrn Grafen von Artois ins Hauptquartier des Herzogs von York: »Königliche Hoheit, die Abfahrt hat soeben stattgefunden. Erfolg gesichert. In acht Tagen steht die ganze Küste in Flammen, von Granville bis Saint-Malo.«

Vier Tage vorher war dem Abgeordneten Prieur vom Marne-Departement, Kommissär des Nationalkonvents bei der Armee von Cherbourg, derzeit in Granville beschäftigt, durch einen geheimen Eilboten und von derselben Hand wie obige Depesche geschrieben, dies Billet zugestellt worden: »Bürger Abgeordneter, den 1. Juni, zur Ebbezeit, wird die Kriegskorvette mit maskirter Batterie »The Claymore« auslaufen, um einen Mann an die französische Küste zu bringen, dessen Personalbeschreibung anbei folgt: hoher Wuchs, alt, Haar weiß, Bauernkleider und Aristokratenhände. Morgen ein Näheres. Er wird am zweiten in der Frühe landen. Alarmiren Sie die Kreuzer, kapern Sie die Korvette, lassen Sie den Mann guillotiniren.«

II.

Ueber Schiff und Passagier Nacht.

Die Korvette, anstatt südlich gegen Sainte-Catherine zuzusegeln, hatte ihren Kurs nach Norden, dann nach Osten gerichtet und war schließlich resolut zwischen Serk und Jersey in die Meerenge eingedrungen, die man le Passage de la Deroute nennt. Damals gab es weder auf dem einen noch auf dem anderen Ufer einen Leuchtthurm.

Die Sonne war völlig untergegangen und die Nacht dunkler als es sonst im Sommer zu sein pflegt; eine Mondnacht, aber ein Himmel, eher an die Aequinoktial- als an die Sonnenwendezeit erinnernd, so gleichmäßig war er mit schweren Wolken ausgefüttert; demnach konnte, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Mond erst im Untergehen, bei seiner Berührung mit dem Horizont sichtbar werden. Einige Wolken hingen sogar bis auf das Meer herab und bedeckten es mit Nebeln.

Die allseitige Dunkelheit war jedoch günstig. Der Lootse Gacquoil hatte den Plan, Jersey links und Guernesey rechts liegen lassend, nach einer kühnen Durchfahrt zwischen Les Hanois und Les Douvres in irgend eine Bucht an der Küste von Saint-Malo einzulaufen; dieser Weg war zwar weniger kurz als der über Les Minquiers, aber sicherer, da die französischen Kreuzer bis auf weiteren Befehl Ordre hatten, vor Allem die Strecke zwischen Saint-Helier und Granville im Auge zu behalten.

Mit Aufgebot aller Mittel hoffte Gacquoil, unvorhergesehene Zwischenfälle abgerechnet, bei einigermaßen günstigem Wind die französische Küste vor Tagesgrauen zu erreichen.

Bis jetzt ging Alles nach Wunsch; die Korvette war eben an Gros-Nez vorbeigesegelt; das Wetter schien, wie der Seemann sagt, schmollen zu wollen; der Wind wurde stärker und die Wellen bewegter; aber gerade dieser Wind war gut und die See ging hoch, ohne deshalb stürmisch zu sein. Nur bekam bei gewissen Wogenschlägen das Vordertheil des Fahrzeugs etwas zu viel Senkung.

Der »Bauer«, den Lord Balcarras »General« genannt, und zu dem der Fürst von la Tour-d’Auvergne »Lieber Vetter« gesagt, hatte den Matrosenschritt und spazierte ruhig und gravitätisch auf dem Deck auf und nieder. Daß das Schiff heftig hin und hergeworfen wurde, schien er nicht zu bemerken.

0023

Der Bauer spazierte ruhig und gravitätisch auf und nieder.

Von Zeit zu Zeit zog er aus der Tasche seines Wammses ein Schokoladetäfelchen, von dem er ein Stück abbrach und verzehrte: trotz seinem weißen Haar hatte er noch alle seine Zähne. Nur den Kapitän redete er zuweilen leise und bündig an, sonst keine Seele, und dieser hörte ehrerbietig zu, als hielte er eher seinen Passagier als sich selber für den eigentlich Kommandirenden.

Der »Claymore« fuhr nun, in Nebel eingehüllt, sehr geschickt die gedehnte, steile Nordküste von Jersey entlang, dem Lande möglichst nah, wegen der gefürchteten Klippe Pierres de Leeq, die sich in der Mitte der Meerenge zwischen Jersey und Serk befindet. Gacquoil, aufrecht beim Steuer, die Richtung von Grève de Leeq Gros-Nez, Plémont der Reihe nach angebend, ließ die Korvette einigermaßen blindlings, aber mit vollkommener Sicherheit, wie Einer, der zum Haus gehört und das ganze Winkelwerk des Meeres kennt, zwischen all den Verkettungen von Hindernissen einhergleiten. Das Vordertheil des Schiffes hatte kein Licht, aus Furcht vor einem Entdecktwerden in diesen so argwöhnisch überwachten Gegenden. Man wünschte sich zu dem Nebel Glück. Jetzt war man bei La Grande-Etaque, und die Finsterniß so dicht, daß man die ragenden Umrisse des Pinacle kaum zu unterscheiden vermochte. Auf dem Thurm von Saint-Ouen hörte man die zehnte Stunde schlagen, ein Zeichen, daß man immer noch den Wind im Rücken hatte. Die Gunst der Elemente ließ nicht nach; die See ging höher, weil man sich nicht weit von La Corbière bewegte.

Kurz nach Zehn geleiteten der Graf du Boisberthelot und der Chevalier von La Vieuville den »Bauern« nach seiner Kajüte, die keine andere war als die des Kapitäns. Beim Eintreten sagte der Greis mit gedämpfter Stimme:

– Sie wissen, meine Herren, das Geheimniß muß gewahrt werden. Kein Wort also, bis die Mine springt. Sie allein kennen hier meinen Namen.

– Wir würden ihn mitnehmen ins Grab, antwortete Boisberthelot.

– Ich für mein Theil, erwiderte der Greis, verschweige ihn, selbst im Angesicht des Todes.

So verabschiedeten sich die Drei.

III.

Adelig-bürgerliche Mischung.

Der Kapitän und sein Lieutenant stiegen wieder aufs Deck und gingen plaudernd neben einander auf und ab. Sie unterhielten sich offenbar über ihren Passagier. Dies im großen Ganzen ihr Gespräch, das ihnen der Wind vom Mund in die Nacht entführte.

– Es wird sich bald zeigen, ob er der rechte Mann ist, brummte Boisberthelot dem Chevalier halblaut ins Ohr.

– Einstweilen ist er ein Fürst, entgegnete La Vieuville.

– Beinahe.

– Französischer Edelmann, aber bretonischer Fürst.

– Wie die La Trémoille, wie die Rohan.

– Mit denen er auch verschwägert ist.

Boisberthelot begann wieder:

– In Frankreich und in den Galawagen des Königs ist er der Marquis, gerade wie ich Graf bin und Sie Chevalier.

– Eine verschollene Mär, die Galawagen! rief La Vieuville. Jetzt ist der Karren Trumpf.

Nach einer Pause sagte Boisberthelot:

– In Ermangelung eines französischen Fürsten behilft man sich schon mit einem Bretonen.

– Wenn die Tauben nicht mehr gebraten herumfliegen, so …. Nein, wenn kein Adler herumfliegt, begnügt man sich mit einem Raben.

– Ein Geier wäre mir lieber, erwiderte Boisberthelot.

– Allerdings! meinte La Vieuville, ein Schnabel und zwei Klauen.

– Es wird sich ja zeigen.

– Hoffentlich, antwortete La Vieuville, denn zu lang schon thut ein Führer Noth. Ich sage wie Tinténiac: »Nur einen Führer und Patronen!« Sehen Sie, Graf, ich kenne sie so ziemlich, alle möglichen und unmöglichen Führer, die von gestern, die von heut und die von morgen: nicht Einer hat den Soldatenschädel, den wir gerade brauchen. In dieser verteufelten Vendée muß der General auch ein Inquisitor sein; den Feind abhetzen muß er, ihm jede Mühle, den Busch, den Graben, die Erdscholle streitig machen, ihm faule Händel zwischen die Beine werfen, Alles verwerthen, nichts aus den Augen verlieren, viel massakriren, abschrecken, den Schlaf und die Barmherzigkeit davonjagen. Zur Stunde giebt es in jener Armee von Bauern wohl Helden, aber keine Kommandeurs. Von Elbée ist eine Null, Lescure ein kranker Mann, Bonchamps ein Pardonirer: Mitleid dummes Zeug! La Rochejacquelein mag einen prächtigen Infanterielieutenant abgeben; Silz weiß mit der Taktik, aber nicht mit den Nothbehelfen des Freischaarenkriegs umzugehen. Cathelineau ist ein naiver Fuhrmann, Stofflet ein durchtriebener Förster, Bérard ein untauglicher, Boulainvilliers ein lächerlicher, Charette ein abscheulicher Mensch; den Barbier Gaston will ich hier gar nicht erwähnen, denn Sapperlot noch einmal! weshalb liegen wir der Revolution in den Haaren, und was soll uns von den Republikanern unterscheiden, wenn wir den Edelleuten Perrückenmacher als Kommandanten zumuthen?

– Diese Schandrevolution steckt eben auch uns mit an.

– Wie eine Räude – ganz Frankreich.

– Ja, die Räude des dritten Standes, fuhr Boisberthelot fort. Nur England kann uns davon kuriren.

– Und das wird es auch, verlassen Sie sich darauf, Kapitän.

– Einstweilen bleibt’s etwas Unappetitliches.

– Und wie! Ueberall Plebs; die Monarchie mit Stofflet, dem Förster des Herrn von Maulevrier als Generalissimus, braucht die Republik um den Portiersohn des Herzogs von Castries, Seine Excellenz Herrn Staatsminister Pache, nicht zu beneiden. Ein sauberes Gegenüber, dieser Vendéer Krieg: auf der einen Seite der Bierbrauer Santerre und auf der andern Gaston, der Haarkünstler.

– Mein lieber La Vieuville, auf diesen Gaston halte ich gewissermaßen etwas. Er hat sich in seinem Rayon von Guéménée nicht übel benommen und dreihundert Blaue ganz hübsch zusammengepfeffert, die zuvor noch ihre eigene Grube graben mußten.

– Recht brav, aber das hätte ich gerade so gut besorgt.

– Ei der Tausend, ich auch.

– Große Kriegsthaten, begann La Vieuville abermals, beanspruchen bei dem, der sie vollbringen soll, Noblesse; sie geziemen den Rittern kurzweg und nicht einem Ritter vom Kamm.

– Und dennoch, entgegnete Boisberthelot, giebt es in jenem dritten Stand anständige Menschen. Da haben Sie zum Beispiel einen gewissen Uhrmacher Joly, vormals Sergeant beim Regiment Flandern: Der Mann geht Ihnen unter die Vendéer und sammelt eine Bande bei der Küste; nun hat er aber einen Sohn, der als Republikaner bei den Blauen dient, während er zu den Weißen hält. Schließlich Zusammenstoß, Gefecht. Der Vater nimmt seinen Sohn gefangen und jagt ihm eine Kugel durch das Hirn.

– Der ist allerdings nicht ohne, sagte La Vieuville.

– Ein monarchischer Brutus, setzte Boisberthelot hinzu.

– Unerträglich bleibt es aber trotz alledem doch, unter dem Kommando eines Coquereau zu stehen, eines Jean-Jean, Moulins, Focart, Bouju oder Chouppes!

– Lieber Chevalier, drüben beim Feind ärgern sie sich genau so. Wir stecken voll geringer Leute und sie voll Adel. Oder meinen Sie, daß die Sansculotten ein Wohlgefallen finden an Bürgergeneralen wie dem Grafen von Canclaux, dem Vicomte von Miranda, dem Vicomte von Beauharnais, dem Grafen von Valence, dem Marquis von Custine, dem Herzog von Biron?

– Ein tolles Durcheinander!

– Und dem Grafen von Chartres nun gar!

– Dem Sohn von Egalité? Apropos, wann wird denn der Vater wohl einmal König?

– Niemals.

– Er rückt dem Throne näher. Seine Verbrechen kommen ihm zu Statten.

– Aber seine Laster gestatten ihm nicht, zu kommen, sagte Boisberthelot. Und nach einer Pause setzte er wieder hinzu:

– Und doch hatte er eine Aussöhnung angestrebt. Er hatte den König besucht. Ich war dabei, in Versailles, wie ihm auf den Rücken gespuckt wurde.

– Von der großen Treppe herab?

– Ja.

– Geschah ihm ganz recht.

– Unter uns nannten wir ihn Philipp, »das liebe Vieh«.1

– Eine Glatze, ein Gesicht voller Beulen, ein Königsmörder – ekelhaft! Und La Vieuville setzte noch hinzu:

– Ich war bei Quessant mit ihm zusammen.

– Auf dem »Saint-Esprit?«

– Ja.

– Wäre er dem Signal gefolgt, das ihm befahl, unter dem Wind des Admiralsschiffs von d’Orvillers zu bleiben, so hätte er die Engländer am Durchbrechen verhindert.

– Gewiß.

– Hat er sich damals wirklich bis zum Kiel hinab verkrochen?

– Das nicht. Aber behaupten muß man es doch, sagte La Vieuville und brach in Lachen aus.

– Dummköpfe giebt’s einmal, ergänzte Boisberthelot. Nehmen Sie nur zum Beispiel jenen Boulainvilliers, den Sie soeben erwähnt: ich hab ihn gekannt, hab ihn wirthschaften sehen. Zu Anfang waren die Bauern mit Piken bewaffnet; hatte sich der Mensch wahrhaftig in den Kopf gesetzt, sie auf die Pike abzurichten! Er ließ ihnen Handgriffe einüben: Pike schräg! oder: Schleift die Pike, Spitze herab! Liniensoldaten aus diesen Wilden zu machen, war seine Marotte. Er glaubte, ihnen beibringen zu können, wie man Carrés mit vorgeschobenen Schützen oder hohle Vierecke formirt. Dabei radebrechte er die Kommandosprache von Olims Zeiten, und nannte den Feldwebel noch Rottmeister wie unter Ludwig XIV. Er war förmlich darauf versessen, all die Wilderer zu einem Regiment zusammenzuschweißen; er hatte regelrechte Kompagnien organisirt, deren Sergeanten jeden Abend einen Kreis um ihn bilden mußten, um die Parole und Gegenparole vom Leibkompagnie-Sergeanten des Obersten zu empfangen, der sie dem Leibkompagnie-Sergeanten des Majors zuflüsterte, welcher sie wiederum seinem nächsten Nachbar übermittelte und so von Ohr zu Ohr bis herab zum letzten Mann. Einmal sogar kassirte er einen Offizier, der sich mit bedecktem Haupte erhoben hatte, als ihm der Sergeant die Parole geben sollte. Wie das anschlug, können Sie sich schon vorstellen. Dem Strohkopf ging nicht ein, daß Rüpel rüpelhaft geführt sein wollen, und daß sich aus Waldmenschen keine Kasernenmenschen machen lassen. Ich hab ihn wirthschaften sehen, diesen Boulainvilliers.

Sie thaten ein paar Schritte, Jeder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Dann wurde das Gespräch wieder aufgenommen:

– Apropos, bestätigt sich’s auch, daß Dampierre gefallen ist?

– Ja wohl, Kapitän.

– Vor Condé?

– Im Lager von Pamars. Eine Kanonenkugel.

Boisbertheloi seufzte.

– Der Graf von Dampierre! Auch Einer von den Unsern, der zu den ihren zählte.

– Er reise glücklich!« sagte La Vieuville.

– Und Mèsdames? wo sind die?

– In Triest.

– Immer noch?

– Immer. Und La Vieuville setzte heftig hinzu:

– O über diese Republik! So viel Verwüstungen um einer Bagatelle willen! Wenn man bedenkt, daß diese Revolution aus einem Defizit von ein paar Millionen herausgewachsen ist! …

– Kleine Ausgangspunkte niemals unterschätzen, bemerkte Boisberthelot.

– Uns geht doch Alles schief, fuhr La Vieuville fort.

– Leider: La Rouarie ist todt und Du Dresnay versimpelt. Sind das traurige Parteihäupter, diese Bischöfe sammt und sonders, dieser Coucy von La Rochelle und dieser Beaupoil Saint-Aulaire von Poitiers und dieser Mercy von Luçon mit seiner verliebten Frau von l’Eschasserie …..

– Welche eigentlich Servanteau heißt, denn Sie werden ja wissen, Kapitän, daß l’Eschasserie ein Gutsname ist.

– Und dieser falsche Bischof von Agra, der nebenbei Pfarrer ist von Dingsda!

– Von Dol! Er heißt Guillot von Folleville. Hat übrigens Kourage, denn er schlägt sich.

– Priester, wenn wir Soldaten brauchen! Bischöfe, die keine Bischöfe, und Generale, die keine Generale sind! …

– Nicht wahr, Kapitän, unterbrach La Vieuville, Sie haben doch den »Moniteur« in Ihrer Kajüte?

– Allerdings.

– Was wird denn gegenwärtig in Paris gespielt?

– »Paul und Adele« und »die Höhle«.

– Ins Theater möcht ich wieder einmal.

– Sie werden nicht lang mehr darauf warten, denn in einem Monat sind wir in Paris. Und nachdem er einen Augenblick nachgerechnet, fügte Boisberthelot hinzu:

– Allerspätestens. Lord Hood weiß es von Herrn Windham.

– Aber wenn dem so ist, Kapitän, gehen die Dinge gar so schief nicht.

– Am Schnürchen würden sie gehen, nur muß der Krieg in der Bretagne ordentlich geführt werden.

La Vieuville schüttelte den Kopf und fragte dann:

– Kapitän, wird unsere Marine-Infanterie ausgeschifft?

– Wenn es die Beschaffenheit der Küste zuläßt, ja, wonicht, nein. Der Krieg muß je nach Umständen in ein Ding hineinhageln oder hineinschleichen, zumal der Bürgerkrieg, der immer einen Nachschlüssel in der Tasche haben soll. Was geschehen kann, wird geschehen. Die Hauptsache ist und bleibt aber der Chef. Und halb in Gedanken that Boisberthelot die Frage:

– La Veuville, was halten Sie von dem Chevalier von Dieuzie?

– Dem Jungen?

– Ja.

– Als Kommandeur?

– Ja.

– Wieder nur ein Taktiker fürs Flachland. Mit dem Busch wird nur der Bauer fertig.

– Dann bleibt Ihnen auch nichts Anderes übrig, als den General Stofflet und den General Cathelineau in Geduld hinzunehmen.

La Vieuville stand eine Minute nachdenklich; dann sagte er:

– Ein Prinz müßte kommen, ein französischer Prinz, ein Prinz von Geblüt, ein echter Prinz.

– Sie meinen? Durchgebrannte Prinzen…

– Fürchten das Feuer – ich weiß schon, Kapitän; man muß aber den aufgerissenen Ochsenaugen der Bauernburschen etwas zu verschlingen geben.

– Lieber Chevalier, unsere Prinzen werden fernbleiben.

– Wir werden uns drein ergeben.

Boisberthelot fuhr sich mit einer mechanischen Geberde über die Stirn, als wolle er einen Gedanken herauspressen, und sagte schließlich:

– Nun versuchen wir’s vorläufig mit diesem General.

– Er hat wenigstens einen Namen.

– Glauben Sie, daß er ansprechen wird?

– Wenn er nur nicht ohne ist! antwortete Vieuville.

– Das heißt, entsetzlich, sagte Boisberthelot.

Der Graf und der Chevalier schauten einander an.

– Sie haben den richtigen Ausdruck gefunden, Herr du Boisberthelot: entsetzlich. Das ist es, was Noth thut. In dem Krieg auf’s Messer, der gegenwärtig ausgekämpft wird, ist die Blutgier das Zeitgemäße. Die Königsmörder haben Ludwig XVI. das Haupt abgeschlagen; wir wollen dafür den Königsmördern die Glieder vom Leib reißen. Ja, unser General muß die generalgewordene Unerbittlichkeit sein. In Anjou und im oberen Poitou, wo die Führer sich auf die Großmüthigen hinausspielen, wird mit der Stange in der Barmherzigkeit herumgefahren: nichts kommt vom Fleck; im Marais und in der Gegend von Retz ist man entsetzlich: da steckt Alles. Blos weil Charette entsetzlich ist, behauptet er gegen Parrain das Feld. Hyäne wider Hyäne.

Boisberthelot mußte die Antwort schuldig bleiben, denn ein Verzweiflungsschrei schnitt La Vieuville plötzlich die Rede ab, und gleichzeitig erdröhnte etwas, das nichts sonst Gehörtem gleichkam. Beides, der Schrei und dieses Etwas aus den untern Schiffsräumen.

Kapitän und Lieutenant stürzten zum Zwischendeck, vermochten jedoch nicht, in dasselbe einzudringen. Alle Artilleristen stürmten ihnen fassungslos entgegen.

Ein furchtbares Ereigniß hatte stattgefunden.

0039

IV.

Tormentum belli.2

Ein Geschütz der Batterie, ein Vierundzwanzigpfünder, war losgerissen.

Im ganzen Seeleben giebt es vielleicht keinen gleich schrecklichen Moment. Es ist dies das Furchtbarste, was einem Kriegsschiff auf offener See begegnen kann. Ein Geschütz, das seine Bande entzweibricht, verwandelt sich urplötzlich wie in ein übernatürliches Wesen. Die Maschine ist zum Ungeheuer geworden, und diese Masse rollt nun mit den Sprüngen einer Billardkugel auf ihren Rädern umher, seitwärts, wenn das Schiff der Breite nach, vorwärts, wenn es der Länge nach bewegt wird; sie kommt und geht, steht still, als sänne sie über etwas nach, rast dann von Neuem wieder auf und davon, wie ein Pfeil von einem Ende des Fahrzeugs zum andern fliegend: das schlägt Pirouetten und entwischt, schnellt hin und bäumt sich, stößt, schmettert, mordet, vernichtet. Es gleicht einem Sturmbock, der nach Willkür eine Mauer berennt; dabei ist der Sturmbock von Erz und die Mauer von Holz. Es ist, als ob sich die Materie, dieser ewige Sklave, befreit hätte, um Rache zu nehmen, als löse die Bosheit der sogenannten leblosen Dinge sich los und breche plötzlich vor, die Geduld abschüttelnd, dumpf räthselhaft antobend gegen Alles; es giebt nichts Unwiderstehlicheres als solch Wüthen der willenlosen Masse. Der tollgewordene Metallblock vereinigt die Sprungkraft des Panthers mit der Schwerfälligkeit des Elephanten, der Behendigkeit der Maus, der Ausdauer der Axt, der Unberechenbarkeit der Windsbraut, dem Zickzack des Blitzes, der Taubheit der Gruft; er wiegt zehntausend Pfund und hüpft hin und wieder wie der Spielball eines Kindes, in sinnverwirrendem Wechsel zwischen schwindelnden Kreisen und geradwinkligem Abspringen. Und was vermag da der Mensch? Was soll er beginnen? Ein Sturm legt sich, ein Wirbelwind saust vorüber, ein Orkan erlahmt, ein geborstener Mast läßt sich ersetzen, ein Leck verstopfen, eine Feuersbrunst löschen. Wie aber soll man vor dieser kolossalen erzenen Bestie bestehen? wo sie anfassen? Einem Köter kann man zureden, einen Stier stutzig machen, eine Schlange einschläfern, einen Tiger fortschrecken, einen Löwen zähmen; diesem Ungeheuer, dem losgebrochenen Geschütz gegenüber vermag man nichts: man kann es nicht tödten: es ist leblos, und dennoch hat es eine Existenz, eine grausige, von Naturkräften ihm verliehene Existenz: Das Schiff, dessen Fußboden es schaukelt, wird von den Wellen und diese werden von dem Wind in Bewegung erhalten; die Vertilgungsmaschine ist ihr Spielzeug; Schiff, Wellen, Windstöße, Alles greift in einander und haucht ihr eine elementarische Seele ein. Wie ist diesem Causalsystem beizukommen? Wie diesem übermenschlichen Räderwerk des Schiffbruchs Halt zu gebieten? und wie läßt es sich berechnen, dieses abwechselnde Kommen und Gehen, Wiederkehren, Stehenbleiben und Anprallen? Jeder einzelne Stoß gegen die Verkleidung des Fahrzeugs kann sie entzweisprengen. Wie die Ursachen dieses mäandrischen Herumtobens ergründen? Man hat es mit einem Geschoß zu thun, das sich fortwährend eines Bessern zu besinnen, die vermuthete Richtung zu ändern, räthselhafte Absichten zu haben scheint. Kann man etwas aufhalten, dem man ausweichen muß? Die fürchterliche Kanone tummelt sich, stürmt voran, zurück, schlägt nach allen Seiten aus, entwischt, braust vorbei, spottet aller Voraussicht, rennt jedes Hinderniß über den Haufen, zermalmt die Menschen, als wären es Fliegen. Die ganze Entsetzlichkeit der Situation liegt in der Beweglichkeit des Fußbodens: wie läßt sich ankämpfen gegen eine schiefe Fläche, deren Launen ewig wechseln? So ein Fahrzeug trägt gewissermaßen einen Blitz zwischen den Lenden, der aus dem Kerker hinausstrebt, etwas wie ein Donnerschlag, der über einem Erdbeben dahin rollt.

In einer Sekunde war die ganze Mannschaft auf den Beinen. Verschuldet hatte Alles der Stückmeister, der die Schraubenmutter der Kette nicht genug geschlossen und die vier Räder des Geschützes mangelhaft befestigt hatte, wodurch die Schwelle und die Einfassung gelockert, die zwei Scheiben aus dem richtigen Verhältniß gebracht und schließlich die Anhalttaue verschoben worden waren; so ging denn das Stückwerk auseinander, und die Laffette war gelockert. Feste Anhalttaue, die den Rückstoß verhindern, wurden zu jener Zeit noch nicht gebraucht. Als nun eine starke Welle gegen die Stückpforte anprallte, wurde die nachlässig befestigte Kanone zurückgetrieben, die Kette riß, und das verhangnißvolle Rasen durch das Zwischendeck nahm seinen Lauf.

0031

Um sich dieses ungeheuerliche Hingleiten deutlich zu machen, braucht man blos an das Herabrinnen des Tropfens längs einer Fensterscheibe zu denken.

Im Augenblick, wo die Kette riß, waren die Artilleristen im Zwischendeck zugegen, einzeln oder in Gruppen, mit den Vorbereitungen beschäftigt, welche Seeleute für den Fall eines Angriffs zu treffen pflegen. Durch eine Senkung des Schiffes nach vorn ins Rollen gebracht, bohrte die Kanone sich durch all diese Leute hindurch und zermalmte mit einem Ruck vier Mann, dann schnitt sie, durch eine Seitenbewegung des Fahrzeugs aus der Bahn geschleudert, einen fünften Unglücklichen mitten entzwei und rannte gegen Backbord auf ein Geschütz, das sofort von der Laffette stürzte. In diesem Augenblick war der oben vernommene Verzweiflungsschrei ertönt. Alle Artilleristen stürmten die Leitertreppe hinauf, und im Handumdrehen stand das Zwischendeck leer.

Das kolossale Geschütz blieb sich selber überlassen, sein eigener Herr und Herr über das ganze Schiff, das nun seinem Wüthen preisgegeben war. Die Matrosen, lauter Leute, die im Kampfgewühl nur ein Lachen hatten, jetzt standen sie zitternd da, in unbeschreiblichem Entsetzen.

Boisberthelot und La Neuville, sonst die Unerschrockenheit selber, starrten noch immer wortlos, farblos, rathlos vom Treppenrand hinab, als sie sich plötzlich bei Seite geschoben fühlten durch Jemand, der auch sofort ins Zwischendeck hinunterstieg.

Es war ihr Passagier, der »Bauer«, von dem sie eben zuvor gesprochen hatten.

Auf der untersten Sprosse der Leitertreppe stand dieser Mann stille.

V.

Vis et vir.3

Wie der leibhaftige Wagen aus der Apokalypse fuhr die Kanone im Zwischendeck ab und zu, und der zitternde Schein der Laterne, die unter dem Vordersteven der Batterie hing, umwob die ganze Erscheinung mit einem zwischen Licht und Schatten schwindelnd hin und herwogenden Flimmer. Die Umrisse des Geschützes verschwanden in der Schnelligkeit seiner Flucht; bald huschte es schwarz durch die Helle, bald schimmerte es weißlich durch das Dunkel. Es führte sein Vertilgungswerk immer weiter: vier andere Kanonen hatte es bereits zertrümmert und in die Schiffswand zwei Lücken gebrochen, glücklicherweise über der Wasserlinie, aber doch so, daß bei stärkeren Windstößen die Wellen hineinschlagen mußten. Tollwüthend stürmte es gegen das Fugenwerk an; zwar leisteten die sehr starken Spanten noch Widerstand, denn das Krummholz besitzt eine eigenthümliche Festigkeit; aber man hörte sie unter dieser ungeheuren Keule krachen, die in unfaßlicher Allgegenwart von jeder Seite zugleich auf sie einhieb. Das Schrot, wenn man es in einer Flasche hin und herschüttelt, schlägt nicht toller und unmittelbarer um sich. Immer wieder rasten die vier Räder über die Todten weg und zerschnitten, zerlegten, zerrissen die fünf Leichen in zwanzig herumgeschleuderte Fetzen; die Köpfe schienen noch aufzuschreien, und auf dem Boden folgte ein rieselnder Blutstrom den Schwankungen des Schiffes. Die mehrfach beschädigte Schiffsverkleidung ging bereits auseinander. Und bei alledem fortwährend der dämonische Lärm.

Der Kapitän, der seine Fassung bald wiedergewonnen hatte, ließ durch die Luke Alles ins Zwischendeck hinabwerfen, was den wilden Lauf der Kanone irgendwie hemmen konnte, die Matratzen, die Hängematten, die Segel- und Tauvorräthe, die Säcke der Mannschaft und die Ballen falscher Assignatscheine,4 von denen eine ganze Ladung an Bord war, denn diese Niederträchtigkeit hielt man englischerseits für kriegsrechtlich erlaubt. Aber was nützte das Alles, da sich Niemand hinuntertraute, um es so zu ordnen, daß ein Vortheil daraus hätte erwachsen können? Wenige Minuten und das Ganze beinah war zu Charpie zerfetzt.

Die See ging gerade hoch genug, um dem Unheil möglichst Vorschub zu leisten. Ein Sturm wäre noch wünschenswerther gewesen, denn er hätte die Kanone vielleicht umgeworfen, und sobald sie nur einmal nicht mehr auf den Rädern lief, konnte man ihr beikommen. Unterdessen wurden die Verheerungen immer bedrohlicher. Schon waren die Masten, welche, im Balkenwerk des Kiels wurzelnd, durch alle Etagen der Fahrzeuge wie große runde Pfeiler emporragen, stellenweise gesplittert und sogar geborsten. Der Fockmast hatte unter den konvulsivischen Stößen des Geschützes einen Riß bekommen, und selbst der Mittelmast war beschädigt. Die Batterie ging in die Brüche; von dreißig Geschützen waren zehn bereits kampfunfähig. Die Lücken in der Schiffsverkleidung mehrten sich, und das Wasser begann schon einzudringen.

Der alte Passagier unten an der Treppe des Zwischendecks schien zu Stein erstarrt. Regungslos und mit strengem Blick schaute er der Verwüstung zu. Ein Schritt vorwärts schien ein Ding der Unmöglichkeit. Jede Bewegung der entfesselten Kanone rückte den Untergang näher. In kürzester Frist konnte der Schiffbruch nicht mehr abgewendet werden. Sterben oder dem Unheil Halt gebieten, zu etwas mußte man sich aufraffen, aber zu was? Und welch ein ungleicher Kampf! Galt es doch, diesen entsetzlichen, wahnsinnigen Block festzuhalten, mit einem Blitze zu raufen, einen Donnerschlag niederzudonnern.

– Chevalier, fragte Boisberthelot, glauben Sie an Gott?

La Vieuville antwortete: – Ja, heißt das nein, oder zuweilen doch.

– Beim Sturm?

– Ja, und in Augenblicken wie jetzt.

– Uns kann in der That auch nur Gott weiter helfen, sagte Boisberthelot.

Alles schwieg, nur der höllische Lärm der Kanone nicht, und von außen antwortete die andringende Fluth den Schlägen des Geschützes mit den Schlägen ihrer Wellen; es war, als ob zwei Hämmer einander wechselseitig ablösten.

Plötzlich erschien in dem unzugänglichen Raum, wo die ausgerissene Kanone wie in einem Cirkus umhertollte, ein Mann mit einer Eisenstange. Es war der Urheber der Katastrophe, jener Stückmeister, dessen Fahrlässigkeit Alles verschuldet hatte, und der nun, da er den Schaden angerichtet hatte, ihn auch wieder gut machen wollte. Er hatte mit der einen Hand nach einer Nothspake, mit der anderen nach einem geschlungenen Tau gegriffen und war so durch die Luke ins Zwischendeck gesprungen.

Und nun begann ein titanisches Schauspiel: das Ringen der Kanone mit dem Kanonier; eine Schlacht zwischen Materie und Intelligenz, ein Zweikampf zwischen Mensch und Sache.

0042

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt.

Der Mann hatte in einer Ecke Posto gefaßt und wartete, Stange und Tau krampfhaft festhaltend, mit der ganzen Spannkraft seiner Muskeln wie auf zwei ehernen Säulen wider eine Spante gestemmt und im Boden wurzelnd, todtenbleich, in tragischer Ruhe.

Er wartete auf den Moment, wo das Geschütz an ihm vorbeirollen würde.

Der Kanonier war mit seiner Kanone vertraut, und ihn dünkte, auch sie müsse ihn kennen. Hatte er doch schon lange Zeit mit ihr zusammen gelebt und – wie so oft – seinem dienstbaren Ungeheuer die Hand in den Rachen gesteckt. Jetzt redete er sie an, wie der Herr seinen Hund:

– Komm her!

Vielleicht war sie ihm lieb geworden. Er schien es zu wünschen, daß sie auf ihn zukommen möge. Aber auf ihn zukommen, hieß so viel, wie über ihn kommen, und dann war er ja verloren; wie konnte er der Zermalmung entgehen? Das war die Frage, und Alle starrten entsetzt auf ihn herab. In jeder Brust stockte der Athem, nur vielleicht in der des Greises nicht, der als finsterer Zeuge bei den zwei Fechtern im Zwischendeck stand. Auch ihn konnte die Kanone zerschmettern. Er rührte sich nicht, und unter den Füßen Aller lenkten die blinden Wellen die Schlacht.

Im Augenblick, wo der Artillerist seine Kanone zum Zweikampf Brust an Brust herausforderte, fügten es die Schwankungen der Fluth zufällig so, daß das Geschütz auf einen Moment wie vor Staunen innehielt:

– So komm doch! sagte der Mann.

Es war, als ob ihn das Ding verstünde. Plötzlich sprang es auf ihn zu. Der Mann wich aus, und die unerhörte Schlacht begann: das Zerbrechliche rang mit dem Unverwundbaren, der Thierbändiger von Fleisch und Bein griff die erzene Bestie an, die Seele eine Kraft. Das Alles ging in einem Helldunkel vor sich gleich einem verschwimmenden übernatürlichen Gesicht. Eine Seele! seltsam; es war, als ob auch die Kanone eine hätte, aber eine Seele von lauter Haß und Wuth. Dies blinde Ungeheuer schien Augen zu haben und dem Menschen aufzulauern. Es steckte, wenigstens hätte man es fast glauben mögen, etwas Hinterlistiges in diesem Klumpen. Auch er wartete den günstigen Zeitpunkt ab. Man hätte ihn für ein Rieseninsekt aus Eisen mit oder scheinbar mit der Willenskraft eines Dämons halten können. Stellenweise sprang er, eine kolossale Heuschrecke, bis zur niedrigen Decke der Batterie empor, fiel dann wie der Tiger auf seine Klauen, auf seine vier Räder zurück und machte wieder Jagd auf den Menschen. Dieser, geschmeidig, behend, gewandt, glitt gleich einer Schlange zwischen den züngelnden Blitzen einher. Alle Stöße aber, denen er so flink zu entschlüpfen verstand, trafen das Schiff und setzten die Zerstörung fort.

An der Kanone war ein Stück von der zerrissenen Kette zurückgeblieben und hatte sich, wer kann sagen wie? um die Schraube hinten am Knauf geschlungen, so daß eines der Enden an der Laffete hing, während das andere, freie, in wilden Kreisen um das Geschütz herumflog, zehnmal beweglicher noch als das Geschütz selber. Die Schraube hielt es wie mit geschlossener Hand fest und nun schlug diese Kette, mit zehn Geißelhieben für jeden Hieb des Sturmbocks, in gräßlichem Wirbel um sich, eine eiserne Peitsche in eherner Faust. Dadurch war der Kampf noch schwieriger geworden. Und dennoch kämpfte der Mensch weiter. Hier und da war sogar er der Verfolger. Er schlich mit seiner Stange und seinem Tau längs der Schiffsverkleidung hin, und die Kanone, die ihn zu verstehen und eine Ueberlistung zu befürchten schien, entfloh, hinterher der gewaltige Jäger.

Dergleichen Dinge können nicht von Dauer sein. Auf einmal, als ob sie zu sich selber gesagt hätte: Nein, jetzt muß es ein Ende nehmen! blieb die Kanone stehen. Man fühlte, daß die Entscheidung herannahte. Hinter dieser scheinbaren Unentschlossenheit schien oder war – denn Allen galt das Geschütz für beseelt – ein gräßlicher Vorsatz verborgen. Plötzlich stürzte es auf den Artilleristen los. Dieser sprang bei Seite und rief ihm ein lachendes »da capo!« nach. Wie um sich zu rächen, rannte das Ungeheuer eine Backbordkanone um und fuhr dann, von der unsichtbaren Schleuder, der es als Stein diente, wieder fortgeschnellt, nach Steuerbord, wo es anstatt des abermals ausweichenden Mannes drei Kanonen niederriß. Dann, wie blind und seiner selbst nicht mehr bewußt, wandte es dem Mann den Rücken, durchmaß die ganze Länge der Batterie, beschädigte die Steven und schlug eine Lücke in die Vorderwand. Der Mann hatte sich neben die Treppe geflüchtet, nicht weit von dem zuschauenden Greis, und hielt seine Nothspake bereit. Das schien die Kanone zu merken, und ohne sich die Mühe des Umwendens zu geben, flog sie rücklings mit der Schnelligkeit eines Axthiebs auf den Mann zu, der, eingekeilt in seinen Winkel, verloren war. Die ganze Mannschaft that einen Schrei. Aber der bisher so unbewegliche alte Passagier, rascher als jene gräßlich verkörperte Raschheit selbst, hatte vorstürzend und auf die Gefahr hin, zermalmt zu werden, einen übergebliebenen Ballen falscher Assignate erfaßt und vor die Räder der Kanone geschleudert. Diese entscheidende, halsbrecherische That mit mehr Sicherheit und Genauigkeit auszuführen, wäre selbst einem Solchen nicht gelungen, der mit allen im Buche von Dunosel über »das Exerzieren mit Marinegeschützen« beschriebenen Kunstgriffen vertraut gewesen wäre.

Der Ballen war von durchschlagender Wirkung, wie oft auch ein Kiesel einen Felsblock festhalten oder ein Baumzweig einer Lawine eine andere Richtung geben kann. Die Kanone strauchelte. Der Artillerist seinerseits wußte sofort diesen ungeheuren Vortheil auszubeuten und stemmte seine Eisenstange einem der Hinterräder zwischen die Speichen. Das Geschütz stand still; dann neigte es sich etwas seitwärts. Der Mann benutzte die Stange so lang als Hebel, bis er es ins Schwanken brachte, und endlich, als die schwere Masse mit dem Gedröhne einer herunterfallenden Glocke niedergesunken war, stürzte er blindlings, von Schweiß strömend darüber her, um dem zu Boden geworfenen Scheusal die Schlinge seines Taues um den Hals von Erz zu legen. Es war vorüber. Der Mensch hatte gesiegt, die Ameise gegen den Mastodonten Recht behalten, ein Zwerg den Donner zu seinem Gefangenen gemacht.

Die Soldaten und Seeleute klatschten Beifall. Mit Tauen und Ketten eilte die ganze Schiffsmannschaft herbei, und um ein Handumdrehen stand die Kanone wieder an Ort und Stelle.

Der Artillerist sagte salutirend zum Passagier:

– Mein Herr, Ihnen verdanke ich das Leben.

Der Greis aber hatte seine theilnahmslose Haltung wieder angenommen und antwortete mit keiner Silbe.

VI.

Die zwei Wagschalen.

Wohl hatte der Mensch gesiegt, aber dasselbe ließ sich auch von der Kanone behaupten, denn die Gefahr eines unmittelbaren Schiffbruchs war zwar geschwunden, aber die Korvette damit keineswegs gerettet. Die Wirkungen des Unfalls zu beseitigen, schien ein Ding der Unmöglichkeit: An der Schiffsverkleidung zählte man bis zu fünf Lücken, wovon eine sehr beträchtliche beim Bugspriet; zwanzig Kanonen auf dreißig lagen darnieder. Auch das eingefangene, wieder an Ort und Stelle gebrachte Geschütz versagte den Dienst, weil die Knaufschraube verdreht war und man es in Folge dessen nicht mehr hätte richten können. Die Batterie war auf neun Stück zusammengeschmolzen. Ein Leck machte sofortige Abhülfe durch die Pumpen nothwendig. Das Zwischendeck bot jetzt, da man es betreten durfte, einen gräßlichen Anblick. Das Innere eines Käfigs, in dem ein Elephant gewüthet, weist keine größere Verwüstung auf.

Wie viel der Korvette auch daran liegen mußte, nicht erblickt zu werden, so lag die gebieterische Nothwendigkeit der unmittelbaren Rettung doch ungleich näher, und man sah sich gezwungen, zur Beleuchtung des Verdecks an den Brüstungen einige Laternen anzubringen.

Während der ganzen Dauer dieses tragischen Zwischenfalls, wobei die Lebensfrage alles Denken in Anspruch nahm, hatte man sich um die Außenverhältnisse blutwenig gekümmert. Indessen hatte sich der Nebel verdichtet und die Witterung verändert; der Wind war mit dem Schiffe ganz nach Gutdünken umgegangen; die Route war nicht eingehalten worden, und man befand sich nun, von Jersey und Guernesey nicht mehr gedeckt, weiter südlich, als beabsichtigt war. Die See ging höher; mächtige Wellen leckten mit gefahrverkündenden Zungen an den offenen Wunden der Korvette. Das Meer wurde bedrohlich; die Brise artete in Windsbraut aus; es war ein Unwetter, vielleicht auch ein Sturm im Anzug. Ueber die vierte Woge hinaus konnte man nichts mehr unterscheiden.

Während die Seeleute die Beschädigungen im Zwischendeck, soweit dies vorläufig in aller Eile möglich war, ausbesserten, die Lücken beseitigten und die verschont gebliebenen Geschütze wieder in Stand setzten, war der alte Passagier wieder auf das Verdeck gestiegen und lehnte am Mittelmast.

Ihm war eine Bewegung, die in der Nähe stattgefunden, ganz entgangen; der Chevalier von La Vieuville hatte nämlich auf beiden Seiten des Mittelmastes die Marinetruppen in Schlachtordnung aufstellen und die in der Takelage beschäftigten Matrosen durch einen grellen Pfiff auf die Raaen kommandiren lassen. Nun trat Graf du Boisberthelot zu dem Passagier hin; hinter ihm her schritt ein Mann in beschmutzten Kleidern, verstört, athemlos, und doch mit einem Ausdruck der Zufriedenheit auf dem Gesicht; es war der Artillerist, der sich zu so gelegener Zeit als Thierbändiger ausgezeichnet und die Kanone bemeistert hatte.

Der Graf salutirte vor dem »Bauern« und sagte:

– Herr General, hier wäre der Mann.

Der Artillerist blieb aufrecht, mit gesenktem Blick in vorschriftsmäßiger Positur stehen.

– Herr General, setzte Graf du Boisberthelot hinzu, sind Sie nicht der Meinung, in Anbetracht dessen, was der Mann soeben geleistet, könnten seine Vorgesetzten schon etwas für ihn thun?

– Der Meinung bin ich.

– Wollen Sie demnach befehlen, antwortete Boisberthelot.

– Befehlen Sie; Sie sind der Kapitän.

– Sie aber der General, antwortete Boisberthelot. Der Greis betrachtete den Mann; dann sprach er:

– Tritt näher.

Hierauf that der Artillerist einen Schritt vorwärts. Der Greis wendete sich gegen den Grafen du Boisberthelot, nahm das Ludwigskreuz von dessen Brust und heftete es an den Kittel des Kanoniers.

– Hurrah! riefen die Matrosen. Die Marinesoldaten präsentirten das Gewehr. Der Passagier aber fügte, auf den von seinem Glück geblendeten Artilleristen deutend hinzu:

0047

– So, nun führe man ihn zum Tode!

Der Jubel war zur Bestürzung erstarrt. Und mitten in einer Grabesstille erhob der Greis die Stimme und sprach:

– Dieses Schiff ist durch Fahrlässigkeit dem Verderben ausgesetzt worden. Zur Stunde ist es vielleicht verloren. An Bord sein, heißt so viel wie vor dem Feind stehen. Ein Schiff auf hoher See ist ein Heer im Gefecht; der Sturm verbirgt sich zwar, aber er verschwindet nicht; das ganze Meer ist ein einziger Hinterhalt. Pulver und Blei für jedes Vergehen im Feld! Ein Vergehen läßt sich nie wieder gut machen. Der Muth muß belohnt, der Leichtsinn bestraft werden.

Diese Reden fielen in gleichmäßigen Zwischenräumen, langsam, feierlich, so zu sagen im Takte der Unerbittlichkeit, wie Axthiebe gegen einen Baum. Und der Greis, mit einem Blick auf die Soldaten, befahl:

– Sofort!

Der Mann, an dessen Brust das Ludwigskreuz erglänzte, senkte das Haupt.

Auf ein Zeichen des Grafen du Boisberthelot stiegen zwei Matrosen ins Zwischendeck hinunter und kamen mit einem Leichentuch zurück. Der Schiffsgeistliche, welcher, seitdem in See gestochen worden war, in der Offizierskajüte im Gebet lag, begleitete sie. Ein Sergeant ließ zwölf Mann vor die Front treten, die er je sechs in zwei Reihen ausstellte. Ohne einen Laut von sich zu geben, trat der Kanonier in die Mitte. Der Priester, mit einem Kruzifix in der Hand, verfügte sich an seine Seite.

– Vorwärts Marsch! kommandirte der Sergeant, und der Zug bewegte sich langsam nach dem Vordertheil des Schiffes: die beiden Matrosen mit dem Leichentuch folgten. Auf der Korvette herrschte düsteres Schweigen; fern her grollte ein Wetter.

Einige Minuten darauf hallte eine Gewehrsalve einem Blitz folgend hinaus in die Nacht; dann wurde es wieder still, und man vernahm das Geräusch, welches ein schwerer Gegenstand verursacht, der ins Wasser geworfen wird.

Der alte Passagier lehnte noch immer an dem Mittelmast: er hatte die Arme übereinandergeschlagen und sann über etwas nach. Boisberthelot aber flüsterte, mit dem Zeigefinger hinweisend, dem Chevalier die Worte zu:

– Jetzt hat die Vendée einen Kopf.

VII.

Wer den Anker lichtet, setzt in eine Lotterie.

Was sollte die Korvette ferner noch für Schicksale erleben?

Die Wolken, die im Lauf dieser Nacht den Wellen fortwährend näher gerückt waren, hatten sich schließlich so tief gelegt, daß es keinen Horizont mehr gab und die ganze Meeresfläche wie mit einem Mantel zugedeckt war. Nebel und nichts als Nebel – unter allen Umständen eine Gefahr, selbst für ein unbeschädigtes Fahrzeug. Und zu dem Nebel gesellte sich noch eine hohle See!

Die Zeit war nicht unbenutzt verstrichen. Man hatte den Tiefgang der Korvette dadurch vermindert, daß man Alles hinauswarf, was von den Verwüstungen der Korvette hatte weggeräumt werden können, die unbrauchbaren Geschütze, die zerschlagenen Laffetten, das verbogene oder losgebrochene Fugenwerk, die zertrümmerten Holz- und Eisentheile; man hatte die Stückpfosten geöffnet und die Leichen nebst den zusammengelesenen Gliedmaßen im Segeltuch eingewickelt über ein Brett ins Meer hinuntergleiten lassen.

Mit der See war beinah nicht mehr auszukommen, nicht etwa weil der Sturm in allernächster Zeit loszubrechen drohte – im Gegentheil, der Orkan, den man in der Ferne toben hörte, schien eher nachzulassen und das Unwetter sich gegen Norden verziehen zu wollen; aber der immer noch sehr hohe Wellenschlag wies auf schlechten Grund hin und die starke Brandung konnte der Korvette, die, krank wie sie war, den Erschütterungen nur einen mangelhaften Widerstand entgegenzusetzen vermochte, verhängnißvoll werden. Gacquoil stand am Steuerrad, vor sich hinbrütend.

0054

Gacquoil stand am Steuerrad.

Zum bösen Spiel gute Miene machen, ist bei Seeoffizieren Brauch; darum redete La Vieuville, der für Nothlagen ein lustiges Naturell bei der Hand hatte, Meister Gacquoil an:

– Nun, Lootse, da verpufft ja der Sturm. Den Himmel kitzelt’s, aber zum Niesen bringt er’s nicht. Werden mit einem blauen Auge davonkommen. Wind wird’s eben geben, weiter nichts.

Gacquoil antwortete ernsthaft: – Wer den Wind hat, hat auch die Fluth.

Weder lustig noch traurig, so hält’s der echte Seemann. Die Antwort bedeutete indessen nichts Gutes.

Fluth haben heißt bei einem lecken Schiff so viel wie schnell trinken. Deshalb hatte Gacquoil seinen Ausspruch mit einem leisen Stirnrunzeln gewissermaßen unterstrichen. Vielleicht auch mochten La Vieuville’s scherzhafte, ans Leichtfertige grenzenden Worte zu bald auf die Katastrophe mit der Kanone und dem Kanonier erfolgt sein. Es giebt Dinge, die kein Glück bringen auf hoher See. Das Meer hat seine Geheimnisse; man weiß nie, wie man eigentlich mit ihm daran ist; darum Vorsicht.

La Vieuville fühlte, daß hier doch der Ernst am Platze sei und fragte: – Lootse, wo sind wir jetzt?

– Wir sind in der Hand Gottes, sagte dieser.

Ein Lootse ist ein Machthaber: man muß ihn immer gewähren lassen, auch im Reden. Reden thun übrigens diese Leute wenig. La Vieuville entfernte sich wieder. Auf die Frage, die er an den Lootsen gestellt hatte, antwortete der Horizont, denn plötzlich wurde das Meer frei. Der Nebel, der auf den Wellen lungerte, war allenthalben geborsten; in blassem Dämmerschein breitete sich das dunkle Durcheinanderwühlen der Wogen unabsehbar aus, und man gewahrte Folgendes: Oben eine feste, deckelförmige Wolkenmasse, die jedoch nicht mehr bis zur See herunterreichte; östlich eine weißliche Helle, das Grauen des Tages, westlich, wo der Mond unterging, einen anderen fahlen Schimmer, so daß am Horizont, zwischen der dunklen Fluth und dem dunklen Himmel, zwei dünne, fahle Lichtstreifen einander gegenüberlagen. Von diesen beiden Lichtstreifen hob sich, schwarz, aufrecht, unbeweglich, der Schattenriß von Gegenständen ab: im Occident am mondbeschienenen Himmel ragten, senkrecht wie keltische Peulvens, drei hochgezackte Felsen; im Orient beim bleichdämmernden Sonnenaufgang in bedrohlich geordneter Reihe, durch gleichmäßige Zwischenräume von einander getrennt, acht Segel. Die drei Felsen waren ein Riff, die acht Segel ein Geschwader; im Rücken hatte man die berüchtigten Klippen Les Minquiers und vor sich die französischen Kreuzer; gegen Abend den Abgrund, gegen Morgen das Blutbad; man schwamm zwischen einem Schiffbruch und zwischen einer Schlacht. Dem Schiffbruch gegenüber hatte die Korvette einen durchlöcherten Rumpf, schadhaftes Takelwerk, in der Wurzel erschütterte Masten; der Schlacht gegenüber eine Artillerie, von welcher einundzwanzig Kanonen auf dreißig unbrauchbar und von deren Bedienung die besten todt waren.

Der Widerschein der Sonne war sehr matt und man hatte um sich her noch immer die Nacht, vielleicht sogar auf längere Zeit hinaus, wenn sich die Wolken nicht verzogen, die schwer und dicht zusammengeballt wie ein festes Gewölbe anzusehen waren.

Derselbe Wind, der zuvor die Nebel verjagt hatte, trieb nun die Korvette gegen Les Minquiers; gänzlich erschöpft und zerrüttet, gehorchte sie kaum mehr dem Steuer; es war weniger ein Segeln als ein widerstandsloses, fluthgepeitschtes Hinrollen. Das schauerliche Riff Les Minquiers war damals noch zackiger als jetzt. Mehrere Thürme dieser Hochveste der Untiefen sind durch die unablässige Zerstückelungsarbeit des Meeres abgetragen worden. Auch die Gestalt der Klippen ist eine veränderliche und es liegt ein Sinn darin, daß der Ausdruck »lame«, womit der Franzose die Meereswelle bezeichnet, zugleich Klinge bedeutet, denn jedes Branden entspricht in der That einem Sägeschnitt. Les Minquiers damals berühren, hieß untergehen.

Was das Geschwader anbelangt, so war es dasselbe Geschwader von Cancale, welches seitdem unter jenes Kapitän Duchesne’s Führung berühmt wurde, welchen Lequinio den »Père Duchesne« nannte.

Die Lage war mehr als bedenklich. Während des Kampfes mit der Kanone war die Korvette unmerklich von der beabsichtigten Route abgewichen und eher auf Granville als auf Saint-Malo zugefahren. Jetzt hinderte, selbst wenn das Schiff ganz unversehrt geblieben wäre, die Klippe eine Rückkehr nach Jersey und das Geschwader ein Einlaufen in eine französische Bucht.

Im Uebrigen blieb der Sturm richtig aus, aber, wie es der Lootse vorausgesagt, die See ging sehr hoch, und wild rollten die Wellen unter den heftigen Windstößen über dem zerklüfteten Grund. Das Meer giebt seine ganze Absicht niemals kund; in seinen Untiefen schlummert alles Mögliche, sogar etwas wie Chikane. Es ließe sich fast behaupten, daß das Meer ein nur ihm allein bekanntes Verfahren beobachtet; es dringt vor und entweicht, macht einen Vorschlag und nimmt ihn zurück, entwirft ein Unwetter, und giebt es wieder auf, verspricht den Untergang, ohne sein Wort zu halten, droht gegen Norden zu, um nach Süden hin den Streich zu führen. So hatte man die ganze Nacht hindurch an Bord des »Claymore«, mitten im Nebel, das Losbrechen des Orkans befürchtet, den das Meer nun widerrufen hatte, widerrufen, aber mit welcher Tücke! Es hatte den Sturm in Aussicht gestellt und machte nun Ernst mit der Klippe. Auch das war Schiffbruch, nur in verschiedener Form. Und als ob zwei Feinde einander in die Hände arbeiten wollten, gesellte sich noch zu der Gefahr des Scheiterns die Gefahr der ungleichen Schlacht. La Vieuville aber bekam sein tapferes Lachen:

– Schiffbruch hier und Treffen dort.. Karambolage müssen wir machen.

VIII.

9 = 380.

Die Korvette war nicht mehr um Vieles besser daran als ein Wrack. Aus dem fahlen hin und widerschwimmenden Zwielicht, aus dem schwarzen Gewölk, aus den unbestimmten Schwankungen am Horizont, aus dem geheimnißvollen Aufschauern der Wellen wehte ein todesfeierlicher Hauch. Den Wind ausgenommen, der feindselig das Fahrzeug umbrauste, war Alles still. In stummer Majestät entstieg die letzte Stunde ihrer Nacht. Man fühlte sich eher einer Vision als einem Angriff gegenüber. Nichts regte sich auf den Klippen und drüben auf den Schiffen nichts. Allenthalben ein ungeheures Schweigen. War man noch in der Wirklichkeit oder schwebte ein Traumbild über den Wassern? Es giebt Schifferlegenden, die von derartigen Erscheinungen berichten: die Korvette war wie hingezaubert zwischen den Kraken und die Gespensterflotte.

Graf du Boisberthelot ertheilte dem Chevalier halblaut einige Befehle, mit welchen sich dieser ins Zwischendeck begab; dann ergriff er sein Fernrohr und trat zu Gacquoil hin, der, immer noch am Steuerrad, Alles aufbot, um die Korvette in der Richtung des Wellenschlags zu erhalten, denn wenn Wind und See sie von der Seite faßten, war sie rettungslos verloren.

– Lootse, sagte der Kapitän, wo sind wir?

– Auf Les Minquiers.

– Auf welcher Seite?

– Auf der schlimmen.

– Der Grund?

– Lauter Felsen.

– Können wir uns vor Anker legen?

– Sterben kann man immer, antwortete der Lootse.

Der Kapitän richtete das Glas nach Westen und untersuchte das Riff; dann wendete er sich nach Osten nach den Schiffen, die dort in Sicht waren. Wie mit sich selber redend, fuhr Gacquoil fort:

– Les Minquiers. Die lustige Möve ruht darauf aus, wenn sie aus Holland vorbeikommt und die große Seemöve mit den schwarzumränderten Flügeln.

Der Kapitän hatte die Schiffe gezählt. Es waren ihrer in der That acht, die, in ganz korrekter Ordnung ihr kriegerisches Profil über dem Wasserspiegel zeigten. In der Mitte konnte man die hohe Gestalt eines Dreideckers unterscheiden.

– Kennen Sie die Segel? fragte der Kapitän den Lootsen.

– Gewiß! antwortete Gacquoil.

– Nun?

– Es ist das Geschwader.

– Das französische Geschwader?

– Das Geschwader des Teufels. Es entstand eine Pause.

– Vollzählig? hob du Boisberthelot wieder an.

– Nein.

Jetzt erinnerte sich der Kapitän, daß ja dem durch Valazé dem Nationalkonvent am 2. April erstatteten Bericht zufolge, zehn Fregatten und sechs Linienschiffe im Kanal kreuzten.

In der That, sagte er, es könnten ihrer sechszehn sein, und dort sind ihrer nur acht.

– Die übrigen, bemerkte Gacquoil, lungern weiter drüben herum, die ganze Küste entlang, und spioniren.

– Ein Dreidecker, zwei Fregatten ersten Ranges, fünf Fregatten zweiten Ranges, murmelte der Kapitän, während er durch das Fernrohr schaute, vor sich hin.

– Aber auch ich habe spionirt, murrte Gacquoil in den Bart hinein.

– Schönes Material, sagte der Kapitän. Habe auf jedem seiner Zeit ein Weilchen kommandirt.

– Ich habe sie mir in der Nähe angesehen, meinte Gacquoil. Ich verwechsle keins mit dem anderen; habe ihre Personalbeschreibung im Hirnschädel drin. Der Kapitän trat nun sein Fernrohr an Gacquoil ab:

– Lootse, unterscheiden Sie das Linienschiff genau?

– Ja, Herr Kapitän, es ist der Dreidecker »La Côte d’Or«.

– Den sie umgetauft haben, bemerkte der Kapitän. Früher hieß er: »Les Etats de Bourgogne«. Neues Schiff. Hundertachtundzwanzig Kanonen.

Er nahm ein Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche und schrieb die Zahl 128 auf. Dann fragte er weiter:

– Lootse, wie heißt das erste Segel an Backbord?

– »L’Expérimentée«.

– Fregatte ersten Ranges. Zweiundfünfzig Kanonen. Wurde vor zwei Monaten in Brest ausgerüstet. Und der Kapitän notirte abermals: 52.

– Lootse, fuhr er fort, wie heißt das zweite Segel an Backbord?

– »La Dryade«.

– Fregatte ersten Ranges. Vierzig Achtzehnpfünder. War in Indien, hat eine schöne militärische Laufbahn hinter sich. Und er schrieb unter die Zahl 52 die Zahl 40; dann blickte er wieder auf:

– Und an Steuerbord?

– Lauter Fregatten zweiten Ranges, Herr Kapitän. Es sind ihrer fünfe.

– Wie heißt die nächste beim Dreidecker?

– »La Résolue«.

– Zweiunddreißig Achtzehnpfünder. Und die zweite?

– »La Richemont«.

– Desgleichen. Weiter.

– »L’Athée«.

– Kurioser Name das, um in See zu stechen. Weiter.

– »La Calypso«.

– Weiter.

– »La Preneuse«.

– Fünf Fregatten von je zweiunddreißig. Und der Kapitän schrieb unter die vorhergehenden Zahlen: 160.

– Lootse, sagte er dann. Sie erkennen sie doch genau?

– Und Sie, erwiderte Gacquoil, Sie kennen sie genau, Herr Kapitän. Das Erkennen hat schon etwas für sich, aber das Kennen ist mehr werth.

Der Kapitän, mit seinem Notizbuch beschäftigt, addirte zwischen den Zähnen: Hundertachtundzwanzig, zweiundfünfzig, vierzig, hundertundsechzig. In diesem Augenblick betrat La Vieuville wieder das Verdeck.

– Chevalier, rief ihm der Kapitän entgegen, wir haben dreihundertundachtzig Geschütze vor uns.

– Gut, sagte La Vieuville.

– Sie kommen von der Inspektion, La Vieuville: Wie viel Geschütze bleiben uns schließlich übrig?

– Neun.

– Gut, sagte nun auch Boisberthelot.

Er nahm das Fernrohr dem Lootsen aus der Hand und richtete es wieder nach dem Horizont. Die acht Schiffe, stumm und schwarz, schienen sich nicht zu rühren; nur wurden sie allmälig größer: sie rückten langsam näher.

La Vieuville machte die Honneurs und sagte:

– Herr Kapitän, ich habe dieser Korvette »Claymore« von vornherein nicht getraut. Es ist immer fatal, urplötzlich an Bord eines Fahrzeugs zu kommen, das Einem weder bekannt noch vertraut ist. Ein englisches Schiff, wenn auch Franzosen es führen, das thut nicht gut. Die verdammte Kanone war uns ein Beweis dafür. Ich melde gehorsamst, daß ich die Inspektion vorgenommen habe: Anker trefflich, nicht Roheisen, geschweißtes Stabeisen, starke Flügel. Taue vorzüglich, handlich, von vorschriftsmäßiger Länge, hundertundzwanzig Faden. Reichliche Munition. Sechs Todte. Jedes Geschütz kann hunderteinundsiebzig Mal feuern.

– Weil es nur noch ihrer neun sind, murmelte der Kapitän vor sich hin, indem er wieder das Fernrohr über den Horizont schweifen ließ. Langsam aber stetig rückte das Geschwader heran.

Die Geschütze des »Claymore«, Caronaden genannt, hatten zwar das für sich, daß sie blos drei Mann Bedienung erforderten, hatten aber hinwider gegen sich, daß sie weniger weit und sicher trafen als die gewöhnlichen Kanonen; deshalb mußte man das Geschwader um so viel näher rücken lassen.

Der Kapitän ertheilte seine Befehle mit leiser Stimme. Lautlose Stille herrschte am Bord. Das Verdeck wurde ohne das übliche Glockensignal zum Gefecht klar gemacht. Dem Feinde gegenüber war die Korvette ebenso kampfunfähig wie den Wellen. Man verwerthete die wenigen noch verfügbaren Vertheidigungsmittel so gut es eben ging; trug auf den Laufplanken und auf dem Back das zur Wiederherstellung der Takelage etwa erforderliche Tau- und Takelwerk zusammen und richtete die Verbandstelle her.

Nach dem damaligen Brauch wurde die Schanzverkleidung auf Deck vorgespannt, was zwar gegen das Gewehrfeuer, nicht aber gegen die Artillerie Schutz gewährte. Man schaffte die Kugelmaße herbei, trotzdem zu der Prüfung der Kaliber die Zeit kaum mehr hinreichte. Hatte doch Niemand so mannigfaltige Zwischenfälle vorhersehen können. Jeder Matrose bekam eine Patronentasche und steckte ein Paar Pistolen und ein Dolchmesser in den Gürtel. Die Hängematten wurden zusammengelegt, die Geschütze gerichtet, die Musketen, die Enterbeile und Haken bereitgehalten, die Stückpatronen und Kugeln vertheilt, die Pulverkammer geöffnet. Jeder trat an seinen Posten, und das Alles in düsterer Eile, mit dem Schweigen, das im Gemach eines Sterbenden herrscht.

Und nun ankerte die Korvette. Sie hatte sechs Anker wie die Fregatten; man warf sie alle sechs, vorn den Tagsanker, über das Heck den schweren Werfanker, den Leichtern der See, den Raumanker der Klippenseite zu, an Steuerbord vorn den Teyanker und den Pflichtanker an Backbord.

Die am Leben gebliebenen Geschütze wurden alle neun auf einer Seite dem Feinde zu in Batterie aufgepflanzt.

Die acht Schiffe hatten indessen, ebenso schweigsam, ihre Gefechtstellung eingenommen, und segelten jetzt in einem Halbkreis heran, von dem les Minquiers die Sehne bildeten. In diesem Halbkreis gefangen und übrigens schon durch seine Anker festgehalten, lehnte sich der »Claymore« an les Minquiers, das heißt an den Schiffbruch an. Man hätte ihn mit einem von der Meute umringten Eber vergleichen können; nur kläfften die Verfolger nicht, sondern zeigten stumm die Zähne. Jeder Theil schien auf den Andern zu warten.

Die Kanoniere des »Claymore« standen mit der Lunte in der Hand bereit.

Boisberthelot sagte zu La Vieuville:

– Den ersten Schuß möchte ich mir nicht nehmen lassen! Und La Vieuville antwortete:

– Wer für etwas stirbt, darf sich das Bischen Koketterie schon erlauben.

IX.

Einer entkommt.

Der Passagier hatte das Verdeck nicht verlassen; ohne eine Miene zu verziehen, schaute er zu.

– Herr General, sagte Boisberthelot, der vor ihn hingetreten war, wir sind nunmehr festgeklammert an unser Grab und werden es auch nicht fahren lassen. Eingekeilt zwischen Feind und Riff, bleibt uns außer der Gefangenschaft oder dem Schiffbruch nur eine Wahl, der Schlachtentod. Kämpfen ist noch besser als Scheitern; lieber als ich ertrinke, laß ich mich zusammenschießen; im Feuer stirbt sich’s schöner als im Wasser. Dieses Sterben haben jedoch nur wir Kleinen zu besorgen, nicht aber Sie mit uns. Sie sind der Bevollmächtigte des Prinzen, sind zu einer großen Sendung auserwählt, zum Oberbefehl über unsere Truppen in der Vendée. Wenn Sie fallen, fällt vielleicht die monarchische Fahne; also müssen Sie leben, und wie unsere Pflicht erheischt, daß wir hier ausharren, so erheischt die Ihrige, daß Sie sich retten; deshalb, Herr General, werden Sie das Schiff verlassen. Ich stelle Ihnen ein Boot und einen Ruderer zur Verfügung; auf Umwegen die Küste zu erreichen, ist nicht unmöglich; es ist noch nicht Tag; die Wellen gehen hoch; auf dem Meer ist es noch dunkel; Sie werden entkommen. Unter gewissen Umständen heißt Flucht nicht mehr Flucht, sondern Sieg.

Der Greis gab durch ein langsames Senken seines strengen Hauptes seine Zustimmung zu erkennen, und Boisberthelot rief mit lauter Stimme:

– Soldaten und Matrosen! …

Sofort ließ vom Steuer bis zum Bugspriet Jeder von seiner Beschäftigung ab und schaute nach dem Kapitän, welcher also fortfuhr:

– Der Mann, der sich hier unter uns befindet, ist der Vertreter Seiner Majestät des Königs. Er ward unserer Obhut anvertraut; wir müssen ihn unserer Sache erhalten. Die Krone Frankreichs bedarf seiner. In Ermangelung eines unserer Prinzen wird, wir hoffen es wenigstens, er das Oberhaupt der Vendée sein. Er ist ein großer Führer im Feld. Mit uns sollte er in Frankreich landen; jetzt muß er es ohne uns versuchen. Wenn der Führer gerettet wird, so ist auch die Sache gerettet.

– Ja! ja! ertönte es von allen Seiten. Und der Kapitän sprach weiter:

– Auch er wird ernstliche Gefahren bestehen müssen. Das Ufer zu erreichen, ist nichts weniger als leicht. Um der hohen See zu trotzen, wäre ein großes Boot nöthig; er aber muß ein kleines nehmen, damit ihn die Kreuzer nicht bemerken. Die Aufgabe besteht darin, an irgend einer entlegenen Stelle zu landen, womöglich näher bei Fougères als bei Coutances; gewachsen ist dieser Aufgabe nur ein vielerfahrener Seemann, ein unermüdlicher Ruderer, der auf jener Küste geboren und mit ihren kleinsten Einzelheiten vertraut ist. Es ist jetzt gerade noch so weit dunkel, daß das Boot die Korvette verlassen kann, ohne entdeckt zu werden, um so mehr als der Pulverdampf mit Nächstem das Seinige beitragen wird. Mit einem kleinen Boot läßt sich schon, eben weil es klein ist, über die versteckten Klippen hinwegkommen; wo der Panther stecken bleibt, schlüpft das Wiesel durch. Für uns giebt es kein Entrinnen, wohl aber für ihn. Das Boot wird sich mit voller Ruderkraft entfernen und dem Feind unsichtbar bleiben, dem wir übrigens, wie gesagt, unterdessen Stoff genug zur Unterhaltung geben werden – nicht wahr?

– Ja! ja! stimmte Alles ein. – Jede Minute ist kostbar, schloß der Kapitän. Wer meldet sich?

– Ich, sprach eine Stimme, und ein Matrose trat in der Dunkelheit vor die Front.

X.

Entkommt er wirklich?

Einige Minuten später stieß die kleine Kapitänsjolle vom Schiff ab. Es saßen zwei Männer darin: vorn der Matrose, der sich gemeldet hatte, hinten der Passagier. Es war immer noch ganz finster. Der Matrose ruderte, wie Boisberthelot befohlen hatte, mit aller Gewalt auf les Minquiers los. Einen andern Ausweg gab es ja nicht.

Am Boden der Jolle lagen Mundvorräthe, ein Sack voll Zwieback, eine geräucherte Zunge und ein Fäßchen Wasser.

Im Augenblick, wo die Zwei sich entfernten, lehnte sich La Vieuville, im Tode noch ein unverdrossener Spötter, über den Hintersteven der Korvette hinunter und rief der Jolle seinen Abschiedsgruß nach:

– Famos zum Fliehen, unschätzbar zum Ertrinken.

– Herr, sagte der Lootse, lassen wir den Scherz bei Seite.

Das Boot war hurtig abgestoßen, und hatte bald eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt. Wind und Wellen halfen dem Ruderer nach, und immer rascher schaukelte, hinter den hohen Wellen den Blicken entrückt, das kleine Boot im Zwielicht von dannen.

Auf dem Meer lag es wie düstere Erwartung: da, plötzlich, durch das gedehnte, ungestüm geschäftige Schweigen des Elements, brach eine Stimme, die, verstärkt durch das Sprachrohr wie durch den ehernen Mund an der Maske der griechischen Tragödie, beinah übermenschlich klang. Es war Kapitän du Boisberthelot’s Stimme:

– Leute des Königs, donnerte er, nagelt die Lilienflagge an den großen Mast. Unsere letzte Sonne geht auf.

Und die Korvette löste eines seiner Geschütze.

– Es lebe der König! rief die Mannschaft.

Drüben vom Horizont her ertönte ein anderer, mächtiger, in der Ferne verhallender und dennoch deutlich vernehmbarer Ruf:

– Es lebe die Republik!

Und ein Lärm wie von dreihundert Donnerschlägen rollte über die See.

Der Kampf begann. Das Meer verhüllte sich in Dampf und Blitze. Von allen Seiten bohrten sich die Gischtstrahlen, die unter den einschlagenden Kugeln aufspringen, in die Wogen. Der »Claymore« spie seine Flammen nach den acht Schiffen aus, und diese beschossen aus ihrer Halbmondstellung mit allen Batterien die Korvette. Der Horizont leuchtete feuerroth; ein Vulkan schien dem Meer entstiegen zu sein, und der Wind zerrte diesen ungeheuren Schlachtenpurpur hin und her, in welchem die Schiffe geisterhaft auftauchten und wieder schwanden, und von dem die Korvette wie ein schwarzes Skelett vom brennenden Hintergrund sich abhob. Hoch in den Lüften vom Mittelmast des »Claymore« sahen die zwei Männer in der Jolle noch die Lilienflagge wehen. Sie schwiegen Beide.

Das dreieckige Riff les Minquiers, eine kleine unterseeische Trinacria, hat einen weitern Umfang als die ganze Insel Jersey. Das Plateau, zu dem es sich emporgipfelt, überragt die Wasserfläche bei der höchsten Fluth; nordöstlich davon erheben sich in einer Reihe sechs mächtige Felsblöcke, die einer stellenweise eingesunkenen großen Mauer gleichen. Hindurchfahren kann zwischen dem Plateau und den sechs Klippen nur ein Boot mit sehr schwachem Tiefgang. In diesen Kanal, der in die offene See mündet, lenkte der Matrose, der sich zur Rettung des Passagiers erboten hatte, jetzt ein. Auf diese Art schoben sich les Minquiers allmälig zwischen die Schlacht und die Jolle; rechts und links den dichtgegenüberstehenden Felsen ausweichend, schlängelte diese sich mit Gewandtheit weiter. Schon war hinter dem Riff der Kampfplatz verschwunden, und schon begannen die Röthe am Horizont und das wilde Getöse der Kanonade in Folge der zunehmenden Entfernung abzunehmen; aber aus der Hartnäckigkeit des Feuers ließ sich schließen, daß die Korvette tapfer ausharrte und ihre hunderteinundneunzig Salven bis auf die letzte abgeben wollte. Ueber ein Kurzes hatte das Boot Schlacht und Klippe im Rücken, und befand sich längst außer Tragweite eines Geschosses auf offener See. Nach und nach hellten sich die äußern Umrisse des Meeres auf, die unmittelbar im Dunkel wieder verschwimmenden Lichtpunkte breiteten sich aus; die quirlenden Schaumkämme brachen in Strahlenbüschel auseinander und ein weißer Schimmer wiegte sich auf der Halbfläche der Wogen. Es wurde Tag.

Dem Feind war das Boot zwar entronnen, doch das Schwierigste war noch nicht überstanden: man hatte keine Kugel mehr, aber immerhin den Schiffbruch zu gewärtigen, auf wilder See, in dieser schwindend kleinen Nußschale ohne Deck, ohne Segel, ohne Mast, ohne Kompaß, in einem Atom, dem nichts zu Gebote stand als zwei Ruder, um den zwei Riesen Ozean und Orkan zu entfliehen.

Und nun, inmitten dieser unendlichen Einsamkeit, sein Antlitz erhebend, blaß gefärbt vom fahlen Widerschein des Morgens, starrte der Mann, welcher vorn in der Jolle saß, dem Manne, der ihm gegenüber saß, in die Augen und sagte zu ihm:

– Ich bin der Bruder von dem, der auf Ihren Befehl erschossen wurde.

  1. Im Französischen Bourbon le Bourbeux, was unter Beibehaltung des Wortspieles im Deutschen nicht wiederzugeben ist.
  2. Das Werkzeug des Krieges.
  3. Kraft und Mann, hier soviel wie die rohe Naturgewalt gegenüber der schwachen Menschenkraft.
  4. Assignaten waren die von der revolutionären Regierung herausgegebenen Banknoten, die massenhaft im Ausland, namentlich in England, nachgemacht und von den Feinden der Republik, besonders den entflohenen Adligen, nach Frankreich geschmuggelt wurden, um die Assignaten zu entwerthen und dadurch den Kredit der Republik zu schädigen.