Die Dschungel los!

Die Dschungel los!

        Hüllet sie, decket sie, schlinget sie ein,
Blüte und Ranke und Kraut!
Der Geruch und Geschmack soll vergessen sein,
Dieser Brut, ihr Blick und ihr Laut!
Schwarzfette Asche am Altarstein,
Weißflüssiger Regen, hierher!
Die Hirschkuh kalbt am verwilderten Rain,
Niemand erschrecke sie mehr.
Zerbröckelt die Mauern, zerstückelt der Schrein.
Keiner hause hier mehr!

Sicher erinnert ihr euch noch daran, wie das damals war, als Mogli Schir Khans Haut an den Rätefelsen heftete und dem Rest des Sionirudels erklärte, er wolle fortan allein in der Dschungel jagen. Nur die vier Jungen von Mutter und Vater Wolf taten sich zu ihm.

Aber leicht ist es nicht, sein ganzes Leben mit einemmal zu ändern – vornehmlich in der Dschungel. Als das aufrührerische Wolfspack abgezogen war, begab sich Mogli als erstes zur heimatlichen Höhle und schlief einen Tag und eine Nacht hindurch. Darauf erzählte er Vater und Mutter Wolf von seinen Erlebnissen bei den Menschen, soviel sie davon verstehen konnten; und als er die Morgensonne auf der Klinge seines Jagdmessers aufblitzen ließ – des Messers, mit dem er Schir Khan abgehäutet hatte –, sagten sie, er habe etwas gelernt. Dann berichteten Akela und Graubruder von ihrer Mitwirkung bei dem großen Büffeltreiben in der Schlucht, und Balu kam herangewackelt, um alles zu hören, während Baghira in seiner Freude über Moglis Kriegskunst sich am ganzen Körper kraulte.

Lange nach Sonnenaufgang war es schon, aber keiner dachte an Schlaf; von Zeit zu Zeit hob Mutter Wolf den Kopf hoch und schnupperte tief befriedigt, wenn der Wind ihr den Geruch des Tigerfells vom Rätefelsen zutrug.

»Ohne Akela und Graubruder hätte ich es nicht geschafft«, endete Mogli seine Erzählung. »O Mutter, Mutter! Hättest du die blauen Herdenbullen gesehen, wie sie die Schlucht hinabdonnerten oder durch die Tore stürmten, als das Menschenvolk mit Steinen nach mir warf.«

»Froh bin ich, das nicht gesehen zu haben«, sagte Mutter Wolf sehr steif. »Es ist nicht meine Art, zu dulden, daß meine Jungen wie Schakale gehetzt werden. Ich würde dem Menschenpack eine schöne Rechnung gemacht haben; aber die Frau, die dir Milch gab, hätte ich geschont. Ja, sie allein.«

»Frieden, halte Frieden, Raschka!« sagte Vater Wolf und dehnte sich faul. »Unser Frosch ist ja heimgekehrt und so weise geworden, daß sein eigener Vater ihm die Füße lecken muß. Was macht schon eine Schramme mehr oder weniger am Kopf? Laß die Menschen in Ruh!« – »Laßt die Menschen in Ruh!« wiederholten Balu und Baghira.

Mogli, den Kopf an Mutter Wolfs Seite gelegt, lachte zufrieden und sagte, was ihn angehe, so wünsche er nie wieder den Menschen zu sehen, zu hören oder zu riechen.

»Was aber dann«, sagte Akela, ein Ohr hochstellend, »was aber dann, wenn die Menschen dich nicht in Ruhe lassen, kleiner Bruder?«

»Wir sind unserer fünf«, rief Graubruder, sich im Kreise umsehend, und schnappte mit hartem Laut die Kiefer zusammen.

»Bei dieser Jagd möchten wir auch dabei sein«, sagte Baghira mit leisem »Switsch, switsch« des Schweifes und sah Balu an. »Aber warum jetzt an Menschen denken, Akela?«

»Darum!« entgegnete der Einsiedelwolf. »Als die Haut des gelben Diebes an den Felsen geheftet war, lief ich zurück auf unserer Fährte, dem Dorf zu; aber meiner Spur folgend, schwenkte ich bald nach rechts, bald nach links, bald wälzte ich mich, um die Fährte zu verwischen, falls jemand uns folgen sollte. Als ich aber die Fährte so getrübt hatte, daß ich sie selbst kaum wiedererkannte, kam Mang, die Fledermaus, angeschwirrt und hakte sich über mir an einem Aste fest. Sprach Mang: ›Im Dorf des Menschenpacks, wo sie das Menschenjunge ausstießen, summt es wie in einem Hornissennest.‹«

»Ich habe aber auch einen tüchtigen Stein geworfen«, lachte Mogli, der oft reife Papayas in die Nester der Hornissen geworfen hatte, um sich dann in den nächsten Pfuhl zu stürzen, ehe sie ihn einholen konnten.

»Ich fragte Mang, was er gesehen hätte. Er erzählte, die rote Blume blühe vor dem Eingang des Dorfes, und Männer mit Flinten säßen dabei. Ich aber weiß, und guten Grund habe ich dafür«, hier sah Akela nach seinen alten Narben auf Flanken und Schultern, »daß Menschen nicht zum Vergnügen Flinten tragen. Und jetzt, kleiner Bruder, sucht ein Mensch mit Flinte unsere Spur, wenn er sie nicht schon gefunden hat.«

»Aber warum sollte er?« fragte Mogli ärgerlich. »Sie haben mich ausgestoßen, die Menschen. Was wollen sie noch mehr?«

»Ein Mensch bist du, kleiner Bruder«, antwortete Akela. »Uns, den freien Jägern, steht nicht zu, dir zu sagen, was deine Brüder tun und warum.«

Er hatte gerade noch Zeit, seine Tatze hochzureißen, als Moglis Jagdmesser neben ihm tief in den Grund fuhr. Moglis Wurf war schneller, als ein menschliches Auge folgen konnte; aber Akela war ein Wolf, und selbst ein Hund, der dem Wolf, seinem wilden Vorfahren, bei weitem nachsteht, kann, aus tiefem Schlaf auffahrend, noch zur Seite springen, wenn ein Wagenrad schon seine Flanke berührt, ohne daß es ihn verletzt.

»Ein andermal«, sagte Mogli ruhig und steckte das Messer in die Scheide, »ein andermal sprich von dem Menschenvolk und Mogli nicht in einem Atemzuge.«

»Phff, das ist ein scharfer Zahn«, sagte Akela und beschnüffelte den Einschnitt, den das Messer im Boden gemacht hatte. »Aber das Leben unter den Menschen hat dein Auge verdorben, kleiner Bruder. In der Zeit, wo du das Messer warfst, hätte ich einen Bock reißen können.«

In diesem Augenblick sprang Baghira auf, warf den Kopf hoch, witterte und stand regungslos, jeden Muskel des Körpers gestrafft. Schnell folgte Graubruder dem Beispiel, sich links von ihm haltend, um den Wind zu bekommen, der von rechts kam; Akela sprang fünfzig Meter dem Wind entgegen und lag sprungbereit niedergeduckt. Mogli sah neidvoll zu. Vieles witterte er, wie kaum ein Mensch, doch nie erreichte er auch nur annähernd die haarscharfe Feinheit der Dschungelnase, und die drei Monate im Dorf unter Menschen hatten zudem seinen Geruchssinn abgestumpft. Indessen befeuchtete er den Finger, rieb ihn an seiner Nase und stand hoch aufgerichtet, um die obere Witterung zu bekommen, die, wenn auch die schwächste, doch die sicherste ist.

»Menschen«, knurrte Akela und setzte sich auf die Hinterläufe.

»Buldeo!« rief Mogli und ließ sich nieder. »Er folgt unserer Fährte; und seht, die Sonne glitzert auf seiner Büchse.«

Es war nur ein kurzes Aufblinken, der Bruchteil einer Sekunde, auf den Messingbeschlägen der alten Muskete; aber in der Dschungel blinkt niemals etwas so mit solchem Blitzen, sofern nicht Wolken über den Himmel jagen. Dann glitzert wohl im rasch wechselnden Licht ein Stück Glimmer, eine kleine Wasserpfütze oder ein glänzendes Blatt auf wie ein Sonnentelegraph. Aber heute war der Tag gleichmäßig klar und wolkenlos.

»Ich wußte, daß Menschen uns folgen würden«, sagte Akela triumphierend, »nicht umsonst war ich Führer des Rudels.« Moglis vier Wölfe schlichen schweigend, tief zur Erde geduckt, den Hügel hinab und verschwanden im Dorn und niederen Gestrüpp.

»Wohin lauft ihr denn, ohne ein Wort zu sagen?« rief Mogli.

»Still! Vor Mittag noch rollen wir seinen Schädel hierher«, antwortete Graubruder.

»Zurück! Zurück Ihr! Und wartet!« schrie Mogli. »Menschen fressen keine Menschen.«

»Wer wollte noch eben ein Wolf sein? Wer warf das Messer nach mir, weil ich sagte, er wäre ein Mensch?« und die vier krochen widerwillig gehorchend zurück.

»Muß ich Gründe nennen für das, was mir zu tun beliebt?« gab Mogli wütend zurück.

»Mensch ist das, so spricht Mensch!« murrte Baghira leise in seinen Bart. »Just so redeten die Menschen vor den Käfigen des Königs in Oodeypore. Wir von der Dschungel wissen, daß der Mensch das weiseste aller Geschöpfe ist. Dürften wir aber unseren Ohren trauen, so würden wir erkennen, daß er der törichste ist von allen.« Laut sagte er dann: »Das Menschenjunge hat recht. Menschen jagen in Rudeln. Einen zu töten, ohne zu wissen, was die anderen tun werden, ist schlechte Jagd. Kommt, laßt uns sehen, was dieser Mann gegen uns im Schilde führt.«

»Wir kommen nicht mit«, brummte Graubruder. »Jage allein, kleiner Bruder, wir wissen, was wir wollen. Jetzt könnte der Schädel schon fertig sein, um hierhergebracht zu werden.« Moglis Blicke wanderten von einem Freund zum anderen, seine Brust hob sich, und die Augen füllten sich mit Tränen. Er ging ein paar Schritte vor, fiel auf die Knie und sagte: »Weiß ich etwa nicht, was ich will? Seht mich an!«

Unsicher blickten sie auf ihn, und wenn ihre Augen sich abwenden wollten, rief er immer wieder und wieder: »Blickt mich an!« Bis jedes Haar an ihrem Körper sich sträubte und ihre Glieder zitterten unter Moglis starrendem Blick.

»Nun«, sagte er endlich, »wer ist der Führer unter den fünfen?«

»Du bist der Führer, kleiner Bruder«, sagte Graubruder und leckte Moglis Füße.

»So folgt denn«, befahl Mogli, und die vier schlichen hinter ihm drein mit eingekniffenen Schwänzen.

»Das hat man davon, wenn man sich mit Menschen abgibt«, zischte Baghira, ihm nachgleitend. »In der Dschungel gilt noch etwas anderes jetzt als Dschungelgesetz, Balu.«

Der alte Bär schwieg, aber dachte sich so manches. Geräuschlos durchquerte Mogli die Dschungel im rechten Winkel zu Buldeos Pfad. Als er das Unterholz teilte, sah er den alten Mann, die Muskete geschultert, auf der zwei Tage alten Fährte im Hundetrab herankeuchen.

Ihr entsinnt euch, wie Mogli das Dorf verließ, mit der schweren Last von Schir Khans Haut auf den Schultern, während Akela und Graubruder hinter ihm dreintrabten, so daß die Fährte sehr deutlich gezeichnet war. Nun aber kam Buldeo an die Stelle, von der aus Akela, wie ihr wißt, kreuz und quer zurückgegangen war, um die Spur zu verwischen. Buldeo setzte sich nieder, hustete, brummte, stand dann wieder auf und lief hierhin und dorthin im Dickicht, um die Fährte wiederzufinden, während er leicht hätte einen Stein werfen können auf die, die ihn belauschten. Kein anderes Geschöpf kann sich so leise bewegen wie der Wolf, wenn er nicht gehört sein will; und auch Mogli konnte kommen und gehen wie ein Schatten, wenn die anderen ihn auch plump und schwerfällig fanden. Sie umkreisten den alten Mann. Tümmlern gleich, die einen Dampfer in voller Fahrt umringen; dabei redeten sie sorglos weiter, denn ihre Sprache setzte erst nach dem untersten Ton der Skala ein, die für geübte menschliche Wesen vernehmbar ist. Das andere Ende der Skala gipfelt in dem schrillen Pfiff von Mang, der Fledermaus, die viele gar nicht hören können, und bei diesem Ton erst setzt die eigentliche Sprache der Vögel, Fledermäuse und Insekten ein.

»Das hier ist noch besser als Beute schlagen«, sagte Graubruder, indes Buldeo sich bückte, stierte und schnaufte. »Er sieht aus wie ein Schwein, das sich in der Uferdschungel verloren hat. Was sagt er?« Buldeo brummte wütend vor sich hin.

Mogli übersetzte: »Er sagt, daß hier das Wolfsrudel um mich herumgetanzt haben müßte. Er sagt, eine solche Fährte wäre ihm noch nicht in seinem ganzen Leben vorgekommen. Müde sei er.«

»Er wird zur Ruhe gebracht werden, bevor er noch die Fährte wiedergefunden hat«, sagte Baghira kühl und schlängelte sich um einen Baumstamm in ihrem gemeinsamen Blindekuhspiel. »Was tut das magere Ding jetzt?«

»Es frißt oder bläst Rauchwolken aus seinem Mund, Menschen müssen immer etwas tun mit ihrem Mund.« Und die stillen Treiber sahen, wie der alte Mann eine Pfeife füllte, anzündete und rauchte; und sie merkten sich genau den Geruch des Tabaks, um Buldeo, wenn nötig, auch in dunkelster Nacht ausmachen zu können.

Später kam ein kleiner Trupp von Köhlern des Wegs und hielt an, um mit Buldeo zu sprechen, dessen Ruhm auf zwanzig Meilen im Umkreis zum mindesten reichte. Alle setzten sich nieder und rauchten. Baghira und die anderen schoben sich näher heran und horchten, indes Buldeo die Geschichte von Mogli, dem Teufelskind, zu erzählen begann, mit allerlei Zutaten und Erfindungen. Er selbst hatte natürlich Schir Khan getötet, und Mogli hätte sich plötzlich in einen Wolf verwandelt und den ganzen Nachmittag mit ihm gekämpft, worauf er dann wieder Knabe wurde und Buldeos Büchse behexte, so daß die Kugel, als er auf Mogli schoß, um die Ecke flog und einen von Buldeos eigenen Büffeln traf; nun habe das Dorf ihn, den tapfersten Jäger in Sioni, ausgeschickt, um das Teufelskind zu erledigen. Inzwischen hätten sie im Dorf Messua und ihren Mann, zweifellos die Eltern des Teufelskindes, in ihrer eigenen Hütte eingesperrt und wollten sie nun bald foltern, damit sie geständen, Zauberer und Hexe zu sein, worauf sie dann verbrannt werden sollten.

»Wann wird das sein?« fragten die Köhler, denn sie wollten bei dem Fest nicht fehlen. Buldeo sagte, es würde nichts geschehen, bis er zurückgekehrt wäre, denn man wünsche im Dorfe, daß er zuvor den Dschungelknaben tötete. Danach sollten Messua und ihr Mann drankommen, und ihre Äcker und Büffel sollten unter die Dorfbewohner verteilt werden. Messuas Mann besäße einige kapitale Stücke. Es wäre sehr verdienstvoll, Zauberer zu vernichten, meinte Buldeo, und Leute, die Wolfskinder aus dem Dschungel aufzögen, wären sicher die allerschlimmsten Zauberer.

Aber wenn nun die Engländer davon erführen? meinten die Köhler. Die Engländer wären ein ganz verrücktes Volk, hätte man ihnen gesagt, und hinderten ehrbare Landleute daran, Hexen in Ruhe zu verbrennen.

Ach was, erklärte Buldeo, der Dorfvorsteher würde berichten, daß Messua und ihr Mann am Schlangenbiß gestorben wären. Das sei alles schon abgemacht. Die Hauptsache wäre nun, das Wolfskind zu töten. Ob sie vielleicht zufällig irgendwo eine solche Kreatur gesehen hätten?

Die Kohlenbrenner blickten sich scheu um und dankten den Sternen, einem solchen Wesen nicht begegnet zu sein; aber sie zweifelten nicht, daß ein so tapferer Mann wie Buldeo den Dämon finden würde, wenn der überhaupt zu finden wäre. Die Sonne stand schon tief, und ihnen kam der Gedanke, nach Buldeos Dorf zu wandern, um sich die Hexe anzusehen. Buldeo erklärte darauf, es wäre zuvor seine Pflicht, das Teufelskind zu töten, aber unbewaffnete Männer so ohne Schutz und Begleitung durch den Dschungel gehen zu lassen, wo jeden Augenblick der Wolfsdämon auftauchen könnte, das wäre sträflicher Leichtsinn. Er wollte daher mit ihnen gehen, und sollte das Hexenkind auftauchen – nun, dann würde er ihnen zeigen, wie der beste Jäger in Sioni mit so einem Ding fertig wird. Außerdem hätte ihm der Brahmane einen Talisman gegen den Dämon gegeben, so daß man also ganz sicher sein könne.

»Was sagt er? Was sagt er?« wiederholten die Wölfe alle Augenblicke, und Mogli übersetzte, bis er zu der Hexengeschichte kam, die etwas über seinen Verstand ging. Dann sagte er den Wölfen, daß der Mann und die Frau, die so gut zu ihm gewesen wären, in der Falle säßen.

»Fangen die Menschen denn andere Menschen in Fallen?« fragte Baghira.

»So sagt er. Ich verstehe das Geschwätz nicht. Verrückt sind sie alle zusammen. Was haben Messua und ihr Mann mit mir zu schaffen, daß man sie in der Falle fängt? Und was bedeutet das Gerede von der roten Blume? Ich muß gehen und nachsehen. Was sie auch immer vorhaben gegen Messua, sie werden nichts unternehmen, ehe Buldeo zurück ist, und so…« Mogli dachte scharf nach, mit den Fingern am Griff des langen Jagdmessers spielend, Buldeo aber und die Köhler entfernten sich, tapfer im Gänsemarsch schreitend.

»Ich muß sofort zum Menschenpack zurück«, sagte Mogli endlich.

»Und jene da?« fragte Graubruder und blickte gierig den braunen Rücken der Köhler nach.

»Singt sie heim«, sagte Mogli grinsend. »Ich wünsche nicht, daß sie vor Dunkelheit am Dorftor ankommen. Könnt ihr sie zurückhalten?«

Graubruder fletschte voller Verachtung seine weißen Zähne. »Rund herum im Kreise werden wir sie hetzen, wie festgebundene Ziegen – wie ich die Menschen kenne.«

»Das ist nicht nötig. Singt ihnen etwas vor, damit sie sich nicht einsam fühlen auf ihrem Wege, und, Graubruder, ein Wiegenlied braucht es nicht zu sein. Geh‘ mit ihnen, Baghira, und hilf singen. Wenn die Nacht gekommen ist, trefft mich bei dem Dorfe – Graubruder kennt die Stelle.«

»Leichte Jagd ist das nicht, fürs Menschenjunge zu spüren. Wann soll ich denn schlafen?« gähnte Baghira, aber seine Augen verrieten, wie er sich auf das Vergnügen freute. »Ich soll nacktem Menschenwild vorsingen? Na, versuchen wir’s!«

Er senkte den Kopf, damit der Schall weitertrage, und brüllte ein langes, langes »Große Jagd«. Ein Mitternachtsschrei am Nachmittag, Schreck erregend genug für den Anfang. Mogli hörte es rollen und steigen und fallen und hinsterben in eine Art grauenvollem Gewimmer, und lachend rannte er durch die Dschungel. Er sah, wie die Köhler sich angstvoll in einen Haufen zusammendrängten, und sah, wie der Büchsenlauf des alten Buldeo hin und her schwankte wie ein Bananenblatt im Winde. Dann gab Graubruder den Bocktreiberruf yalahei! yalaha!, mit dem das Rudel die Nilghai, die große, blaue Kuh, vor sich herjagt; und es schien vom Ende der Welt zu kommen, drang näher, näher und näher, bis es mit einem schrillen Schrei jäh abbrach. Die anderen drei antworteten, so daß selbst Mogli hätte schwören können, ein volles Rudel Wölfe stimme den großen Jagdschrei an. Dann fielen alle ein in den sieghaften Morgengesang, mit Schwingungen, Tusch und Trillern, wie sie jeder tiefmäulige Wolf des Rudels kennt. Dies hier ist nur eine ungefähre Wiedergabe des Sanges, aber stellt euch vor, wie er klingen mag, wenn er die Nachmittagsstille des Dschungels durchbricht:

        Still schlichen wir noch eben hier
Uns ohne Schatten fort,
Nun trifft er rund vor uns den Grund,
Drum auf, zum Lagerort!

Im Morgentraum ragt Fels und Baum,
Im Schweigen starrt die Welt –
Nun gebt in Hast den Ruf »Gute Rast«,
Wer Dschungelsatzung hält.

Es duckt sich schnell Horn, Zahn und Fell
In Höhle, Busch und Spalt,
Denn ruhen will, versteckt und still,
Das Freigeschlecht vom Wald.

Schon beugt vorm Flug den starren Bug
Der Stier ins Menschenjoch,
Und drohend loht des Frühlings Rot
Am Morgenhimmel hoch.

Zur Höhl‘ in Eil‘, schon schießt den Pfeil
Durchs Gras das Sonnenaug‘!
Und knisternd zieht durchs Bambusried
Des Frühlings Warnungshauch.

Fremd Busch und Strauch dem Dunkelaug‘,
Das scheu nur blinzeln mag,
In Lüften frei Wildentenschrei:
Des Menschen ist der Tag!

Und Fell und Gras, vom Taue naß,
In Sonne trocken dampft;
Es birst der Schlamm am Uferdamm,
den nächtens wir zerstampft.

Der Nacht Verrat deckt auf den Pfad
Von Pfot‘ und Klau‘ und Huf –
Nun – wer da Dschungelfrieden hält,
Gut Rast! – ihm gilt der Ruf!

Keine Übertragung aber kann die Wirkung wiedergeben noch den gellenden Hohn, den die vier in jedes Wort legten, als sie die Bäume krachen hörten, denn die Männer kletterten hastig hinauf ins Geäst, und Buldeo begann Beschwörungen und Zauberformeln vor sich hin zu lallen.

Dann legten sich die Wölfe nieder zum Schlafen, denn wie bei allen, die von eigener Körperkraft leben, war ihr Denken methodisch, und niemand kann gut arbeiten ohne Schlaf. Inzwischen legte Mogli neun Meilen in der Stunde zurück, sich leicht voranschwingend und erfreut darüber, daß er nach den einzwängenden Monaten unter den Menschen noch in so guter Form war. In seinem Kopf war der eine Gedanke, Messua und ihren Mann aus der Falle zu befreien, welcher Art diese auch sein mochte, denn er hatte ein natürliches Mißtrauen gegen Fallen. Späterhin, so gelobte er sich, würde er dem Dorf großzügig die Schuld heimzahlen.

Es begann schon zu dämmern, als er die wohlbekannten Weidegründe und den Dhâkbaum erblickte, unter dem Graubruder ihn erwartet hatte an jenem Morgen, da er Schir Khan erlegte. So zornig er auch war auf Menschen und Menschengemeinschaft, schnürte doch etwas seine Kehle zusammen, so daß er tief Atem schöpfen mußte, als er die Dächer des Dorfes erblickte. Ihm fiel auf, daß die Bewohner ungewöhnlich früh von den Feldern heimgekehrt waren, und anstatt die Abendmahlzeit zu bereiten, sich alle unter dem Dorfbaum versammelt hatten, schwatzten und schrien.

Menschen müssen immer Fallen stellen den Menschen, sonst sind sie nicht zufrieden, dachte Mogli. Vor zwei Nächten galt es Mogli, doch das scheint schon viele Regenzeiten her zu sein. Heute abend sind es Messua und ihr Mann. Morgen und viele weitere Nächte vielleicht wird wieder Mogli an der Reihe sein.

Er schlich sich an der Umwallung des Dorfes bis zu Messuas Hütte und blickte dann durch das Fenster ins Innere. Messua lag, geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt, schwer stöhnend am Boden. Ihr Mann war an der buntbemalten Bettstatt festgebunden. Die Tür der Hütte, die sich nach der Straße öffnete, war fest verrammelt, und drei oder vier Männer saßen davor, den Rücken gegen die Tür gelehnt.

Mogli kannte Sitten und Gepflogenheiten der Dörfler ziemlich genau. Solange sie essen, schwatzen und rauchen konnten, überlegte er, würde nichts weiter geschehen; aber sobald sie gesättigt waren, wurden sie gefährlich. Buldeo mußte in Kürze beim Dorfe eintreffen, und wenn seine Begleitung ihre Pflicht getan hatte, würde er eine spannende Geschichte zu erzählen haben. Mogli stieg durch das Fenster, neigte sich über den Mann und die Frau, durchschnitt die Fesseln, zog die Knebel heraus und sah sich in der Hütte nach Milch um.

Messua war halb toll vor Schmerz und Angst, denn sie war den ganzen Morgen hindurch geprügelt und gesteinigt worden; und Mogli legte ihr noch gerade rechtzeitig die Hand auf den Mund, um sie am Schreien zu hindern. Der Mann war nur zornig und verwirrt, saß da und zupfte Schmutz und Splitter aus dem Bart.

»Ich hab’s gewußt – hab’s gewußt, er würde kommen«, schluchzte Messua endlich. »Jetzt weiß ich, daß er mein Sohn ist«, und sie preßte Mogli ans Herz. Bis dahin war Mogli vollkommen gleichgültig geblieben, aber nun begann er über und über zu zittern, und das setzte ihn in unbeschreibliches Erstaunen.

»Was sollten diese Stricke? Warum haben sie dich gebunden?« fragte er nach kurzem Schweigen.

»Um zu Tode gefoltert zu werden, weil wir dich als Sohn aufnahmen – was sonst?« sagte der Mann mürrisch. »Sieh her, ich blute.«

Messua schwieg. Aber nur ihre Wunden sah Mogli, und seine Zähne knirschten beim Anblick ihres Blutes.

»Wer hat das getan? Einen hohen Preis wird man dafür zahlen.«

»Das ganze Dorf tat es. Zu reich war ich, besaß zu viele Rinder. Darum sind sie und ich Zauberer, und weil wir dir Obdach gaben.«

»Ich verstehe nicht. Messua, erzähle du.«

»Milch gab ich dir, Nathu, weißt du noch?« begann Messua zaghaft. »Denn du bist mein Sohn, den der Tiger raubte, und ich liebe dich von Herzen. Sie sagten, ich wäre deine Mutter, die Mutter eines Teufels, und deshalb verdiente ich den Tod.«

»Und was ist ein Teufel?« fragte Mogli. »Tod habe ich schon gesehen.«

Der Mann blickte düster unter seinen Brauen hervor, Messua aber lachte. »Sieh«, sprach sie zu ihrem Mann, »ich wußte – wußte immer, daß er kein Zauberer ist. Mein Sohn ist er, mein Sohn!« »Sohn oder Zauberer, was nützt uns das«, entgegnete der Mann. »Töten wird man uns trotzdem.«

»Dort läuft der Weg durch die Dschungel –«, Mogli wies durch das Fenster. »Frei sind eure Hände und Füße, geht jetzt.«

»Wir kennen die Dschungel nicht, mein Sohn, wie – wie du sie kennst«, begann Messua. »Ich glaube auch nicht, daß ich weit wandern könnte.«

»Und die Männer und Frauen würden auch hinter uns her sein und uns hierher zurückschleppen«, sagte der Mann.

»Hm«, meinte Mogli und kitzelte seine Handfläche mit der Spitze des Jagdmessers. »Ich wünsche nicht, irgendwem im Dorf ein Leids zu tun – dennoch – aber ich glaube nicht, daß sie euch zurückhalten werden. Binnen kurzem werden sie an ganz anderes zu denken haben. Aha!« Er erhob den Kopf und lauschte auf das Schreien und Trampeln draußen. »So haben sie Buldeo nun heimkehren lassen.«

»Diesen Morgen wurde er ausgeschickt, dich zu töten«, rief Messua. »Bist du ihm begegnet?«

»Ja – wir – ich begegnete ihm. Eine Geschichte kann er erzählen, und während er redet, bleibt Zeit, vieles zu tun. Aber ich muß erst wissen, was sie vorhaben. Überlegt, wohin ihr euch wenden könnt, und sagt es mir, wenn ich zurückkomme.«

Er schwang sich aus dem Fenster und lief wieder außen an der Umwallung entlang, bis er in Hörweite der Menge gelangte, die um den wilden Feigenbaum versammelt war. Buldeo lag auf der Erde, ächzte und stöhnte, und alle bestürmten ihn mit Fragen. Das Haar hing ihm wirr um den Kopf, Arme und Beine waren zerschunden vom Klettern auf die Bäume; kaum vermochte er zu sprechen, aber war sich doch der Bedeutung seiner Person sehr bewußt. Ab und zu murmelte er etwas von Teufeln, singenden Teufeln und magischen Verzauberungen, um der Menge einen Vorgeschmack zu geben von dem, was folgen würde. Dann rief er nach Wasser.

»Bah«, dachte Mogli, »immer nur Geschwätz und Geschnatter. Blutsbrüder des Affenvolkes sind die Menschen. Jetzt muß er erst seinen Mund mit Wasser waschen, dann Rauch blasen; und wenn das alles getan ist, so hat er noch seine Geschichte zu erzählen. Wahrlich, ein weises Volk, diese Menschen! Niemanden werden sie zurücklassen, um Messua zu bewachen, bis ihre Ohren vollgestopft sind mit Buldeos Geschichten, und – ich werde auch so träge wie sie!«

Er schüttelte sich und schlich nach der Hütte zurück. Gerade, als er unter dem Fenster war, fühlte er eine Berührung am Fuß.

»Mutter«, sagte er, denn er kannte diese Zunge gut, »was hast du hier zu schaffen?«

»Meine Kinder hörte ich durch den Wald singen; und ich folgte ihm, den ich am meisten liebe. Kleiner Frosch, ich habe das Verlangen, die Frau zu sehen, die dir Milch gab«, sagte Mutter Wolf, die ganz durchnäßt war vom Tau.

»Man hat sie gefesselt und wollte sie töten. Die Stricke habe ich durchschnitten, und jetzt wird sie mit ihrem Mann durch die Dschungel gehen.«

»Ich will ihr folgen. Alt bin ich, aber noch nicht zahnlos.« Mutter Wolf stellte sich auf die Hinterläufe und äugte durch das Fenster in die dunkle Hütte.

Kurz darauf ließ sie sich wieder geräuschlos nieder und sagte nur: »Die erste Milch gab ich dir; aber Baghira spricht die Wahrheit: Mensch geht zuletzt immer zu Menschen.«

»Mag sein«, sagte Mogli mit düsterem Gesicht; »aber heute nacht bin ich dieser Fährte noch sehr fern. Warte hier, aber laß dich nicht sehen.«

»Angst hattest du niemals vor mir, kleiner Frosch«, sagte Mutter Wolf und verschwand rückwärts tretend im hohen Grase. Mogli schwang sich wieder durchs Fenster in die Hütte. »Jetzt«, sagte er heiter, »sitzen sie alle um Buldeo versammelt, der ihnen erzählt, was nicht geschah. Wenn aber sein Gerede zu Ende ist, so werden sie, wie sie sagen, hierherkommen mit der roten – mit Feuer, um euch beide zu verbrennen. Und ihr?«

»Ich habe mit meinem Mann gesprochen«, sagte Messua. »Kanhiwara ist dreißig Meilen von hier entfernt, aber dort in Kanhiwara werden wir die Engländer finden – –«

»Was sind die für ein Rudel?« sagte Mogli.

»Ich weiß nicht. Weiß sollen sie sein, und man sagt, daß sie das ganze Land regieren und nicht dulden, daß die Menschen totgeschlagen und verbrannt werden ohne ihre Erlaubnis. Wenn wir heute nacht dorthin gelangen, werden wir leben. Sonst aber müssen wir sterben.«

»Lebt denn. Heute nacht wird keiner im Dorf aus dem Tor gelassen. Aber was schafft er dort?« Messuas Mann lag in einem Winkel der Hütte auf den Knien und wühlte in der Erde.

»Sein weniges Geld ist es«, erklärte Messua; »nichts anderes können wir mitnehmen.«

»Ach ja. Das Zeug, das von Hand zu Hand geht und niemals wärmer wird. Braucht man das auch anderswo als in diesem Dorf?« sagte Mogli.

Der Mann schaute ärgerlich hoch. »Ein Narr ist er und kein Teufel«, murmelte er. »Mit dem Geld kann ich mir ein Pferd kaufen. Wir sind zu zerschunden, um weit gehen zu können, und in einer Stunde wird das ganze Dorf hinter uns her sein.«

»Ich sage, sie werden euch nicht folgen, bis ich es will. Aber das Pferd ist ein guter Gedanke, denn Messua ist müde.« Der Mann stand auf und knotete die letzten Rupien in sein Hüfttuch. Mogli half Messua durch das Fenster steigen; und die kühle Nachtluft belebte sie; aber im Glanz der Sterne ragte dunkel und furchtbar die Dschungel.

»Kennt ihr die Fährte nach Kanhiwara?« flüsterte Mogli.

Sie nickten.

»Gut. Und nun fürchtet euch nicht. Auch braucht ihr nicht rasch zu wandern. Nur – nur mag da etwas Gesang sein in der Dschungel, hinter euch her und vor euch.«

»Glaubst du, wir hätten gewagt, eine Nacht in der Dschungel zu sein, wenn wir nicht fürchteten, verbrannt zu werden? Besser ist es, von wilden Tieren getötet zu werden als von Menschen«, sagte Messuas Mann; aber Messua sah Mogli an und lächelte.

»Ich sage«, fuhr Mogli fort, fast so wie Balu, wenn er ein altes Dschungelgesetz dem unaufmerksamen Jungen zum hundertsten Male wiederholte, »ich sage, daß nicht ein Zahn in der Dschungel gegen euch gefletscht, nicht eine Tatze in der Dschungel erhoben sein wird. Weder Mensch noch Tier soll euch aufhalten, bis ihr in Sehweite von Kanhiwara gelangt sein werdet. Eine Wache werdet ihr um euch haben.« Er wandte sich rasch zu Messua: »Er glaubt nicht, aber du wirst glauben?«

»Ja, wahrlich, mein Sohn. Mann, Geist oder Wolf der Dschungel – ich glaube dir.«

»Er wird sich fürchten, wenn er mein Volk singen hört. Du aber wirst wissen und verstehen. Geh‘ jetzt, und langsam, denn zu hasten braucht ihr nicht. Die Tore sind geschlossen.«

Messua warf sich aufschluchzend zu Moglis Füßen, aber rasch, sehr rasch hob er sie wieder auf und erschauerte leicht. Dann umschlang sie seinen Hals und segnete ihn mit den zärtlichsten Worten, die sie finden konnte. Aber ihr Mann sah neidvoll über seine Felder hin und sagte: »Erreichen wir Kanhiwara und gewinnen das Ohr der Engländer, werde ich die Gerichte anrufen gegen den Brahmanen, den alten Buldeo und alle übrigen; der Prozeß soll das Dorf bis auf die Knochen kahlfressen. Zwiefach sollen sie mir bezahlen für mein Korn, das ich nicht ernten, und meine Büffel, die ich nicht füttern durfte. Ja, ein großer Richterspruch wird mir werden.«

Mogli lachte: »Ich weiß nicht, was Richterspruch ist, aber – kehre du zurück vor dem nächsten Regen und sieh zu, was von allem übriggeblieben ist.«

Sie wanderten gegen die Dschungel zu davon, und Mutter Wolf sprang hervor aus ihrem Versteck.

»Folge ihnen!« sagte Mogli. »Melde allen in der Dschungel, daß diese zwei sicher sind. Gib etwas Laut, ich möchte Baghira herbeirufen.«

Das lange, tiefe Geheul stieg auf und verebbte. Mogli sah Messuas Mann zusammenfahren und sich umwenden, halb entschlossen, zur Hütte zurückzuflüchten.

»Geht weiter!« rief Mogli heiter. »Ich sagte euch ja, es könnte etwas Gesang geben; der wird euch folgen bis Kanhiwara. Es ist die Gunst der Dschungel.«

Messua drängte ihren Mann vorwärts, und alsbald verschlang die Dunkelheit sie und Mutter Wolf. Im gleichen Augenblick tauchte Baghira fast unmittelbar vor Moglis Füßen auf, zitternd vor Lust an der Nacht, die das Dschungelvolk toll macht.

»Ich schäme mich deiner Brüder«, sagte er schnurrend.

»Wie? Haben sie Buldeo nicht hübsch vorgesungen?« sagte Mogli.

»Zu schön! Zu schön! Sie ließen selbst mich meinen Stolz vergessen; und, beim gesprengten Schloß, das mich befreite, ich spazierte singend durch die Dschungel, als wäre ich auf Freite im Lenz. Hast du uns nicht gehört?«

»Anderes Spiel hatte ich im Gange. Buldeo frage, ob ihm der Sang gefallen hat. Aber wo sind die vier? Ich will nicht, daß einer vom Menschenpack heute nacht die Tore verläßt.«

»Was brauchst du die viere dazu?« sagte Baghira mit lodernden Augen, von einem Bein aufs andere tänzelnd und lauter schnurrend denn je. »Ich allein kann sie halten, kleiner Bruder. Kommt es zum Töten am Ende? Das Singen und der Anblick der Männer, wie sie an den Bäumen hochkletterten, machten mir Lust dazu. Was ist der Mensch, daß wir ihn schonen sollten – den nackten, braunen Gräber, den Haarlosen und Zahnlosen, den Erdfresser? Gefolgt bin ich ihm durch den ganzen Tag – im weißen Sonnenglast. Ich trieb ihn in Herden, wie die Wölfe den Bock. Baghira bin ich! Baghira! Baghira! Wie ich mit meinem Schatten tanze, so tanzte ich mit jenen Männern. Sieh!«

Der mächtige Panther sprang, wie ein Kätzchen einem trockenen Blatt nachspringt, das über ihm im Winde wirbelt, schlug links und rechts in die leere Luft, daß sie unter den Streichen pfiff, fiel lautlos nieder, sprang wieder und wieder, halb schnurrend, halb knurrend, lauter und stärker, wie Dampf im Kessel rumpelt. »Ich bin Baghira – in der Dschungel – in der Nacht, und über mir ist meine Kraft. Wer kann meinem Streich widerstehen? Menschenjunges, mit einem Schlag meiner Tatze könnte ich dir den Kopf so platt schlagen wie einen toten Frosch im Sommer.«

»Schlage denn!« rief Mogli in der Sprache des Dorfes und nicht in der Zunge der Dschungel. Die Menschenworte brachten Baghira mit einem Ruck zum Stillstand. Er fiel hart zurück auf die Hinterläufe, die unter ihm zitterten, Kopf an Kopf mit Mogli. Wieder starrte Mogli, wie er die meuternden Jungen angestarrt, voll in die beryllgrünen Augen, bis die rote Lohe erlosch hinter dem Grün, wie wenn der Lichtkegel eines Leuchtturms, zwanzig Meilen über die See hin suchend, plötzlich ausgeschaltet wird; Mogli starrte weiter, bis die Augen des Panthers sich senkten und der mächtige Kopf mit ihnen tiefer und tiefer – und zuletzt die rote Raspel der Zunge über Moglis Fußspann leckte.

»Bruder – Bruder – Bruder!« flüsterte der Knabe, sanft und gleichgültig über Baghiras Hals und wogenden Rücken streichend. »Sei ruhig, ruhig! Es ist Schuld der Nacht, nicht deine Schuld.«

»Die Gerüche der Nacht waren es«, sagte Baghira reuevoll. »Die Luft schreit laut zu mir. Aber wie weißt du das?«

Die Luft um ein indisches Dorf ist durchschwängert mit Gerüchen aller Art; und für Wesen, die fast nur durch die Nase denken, sind Gerüche ebenso berauschend wie Musik und geistige Getränke für die Menschen. Mogli streichelte den Panther noch einige Minuten, bis dieser sich niederlegte wie die Katze vor dem Feuer, die Pfoten unter die Brust gezogen, die Augen halb geschlossen.

»Du bist von der Dschungel und bist nicht von der Dschungel«, sagte er zuletzt. »Ich bin nur ein schwarzer Panther, aber ich liebe dich, kleiner Bruder.«

»Sehr lange reden sie schon unter dem Baum«, sagte Mogli, ohne auf Baghiras letzte Worte zu achten. »Viel Schwindelgeschichten scheint Buldeo ihnen erzählt zu haben. Bald werden sie nun kommen, um die Frau und den Mann aus der Falle zu zerren und in die rote Blume zu werfen. Die Falle werden sie zersprungen finden. Ha! Ha!«

»Nein, höre«, sagte Baghira. »Das Fieber ist jetzt fort aus meinem Blute. Mich sollen sie dort finden! Wenige aber werden ihre Hütten wieder verlassen, nachdem sie mich erblickt haben. Nicht zum erstenmal bin ich im Käfig, und glaube nicht, daß sie mich binden werden mit Stricken.«

»Sei aber vernünftig«, lachte Mogli, denn auch er wurde nun übermütig wie der Panther, der bereits in die Hütte hineinglitt.

»Puh!« fauchte Baghira, »hier stinkt es nach Mensch! Aber da ist just so ein Lager, wie sie mir gaben in den Käfigen des Königs zu Oodeypore. Dort lege ich mich nieder.« Mogli hörte das Geflecht des Lagers sich dehnen unter dem Gewicht der großen Katze. »Beim gesprengten Schloß, das mich befreite, sie werden glauben, großes Wild gefangen zu haben! Komm, kleiner Bruder, setz dich an meine Seite; wir wollen ihnen gemeinsam ›gute Jagd‹ bieten.«

»Nein, in meinem Wanst ist ein anderer Gedanke. Das Menschenvolk soll nichts erfahren von meiner Rolle im Spiel. Mache deine Jagd für dich. Ich will sie nicht sehen.«

»Sei es denn«, sagte Baghira. »Jetzt kommen sie!«

Die Versammlung unter dem Feigenbaum am entferntesten Ende des Dorfes war lauter und lauter geworden und zuletzt in gellendes Geschrei übergegangen. Nun kamen Männer und Frauen die Straße heraufgestürmt, Keulen, Bambusstöcke, Sicheln und Messer schwingend. Buldeo und der Brahmane führten die Menge an, aus der es tobend schrie: »Die Hexe und der Zauberer! Laßt sehen, ob glühendes Eisen sie zum Geständnis bringt! Zündet ihnen die Hütte an über dem Kopf! Lehren wollen wir sie, Wolfsteufel aufzunehmen! Nein, peitscht sie erst! Fackeln! Mehr Fackeln her! Buldeo, glüh‘ den Flintenlauf an!«

Das Öffnen der Tür machte Schwierigkeiten. Sie war fest verrammelt, aber die Menge brach sie ein, und der Schein der Fackeln strömte hell in den Raum – und auf dem Lager ausgestreckt lag Baghira, die Tatzen gekreuzt und leicht überhängend, schwarz wie die Hölle und furchtbar wie ein Dämon. Einen Augenblick herrschte Schweigen des Entsetzens, dann suchten die vordersten der Menge stoßend und schlagend sich zurückzudrängen. Nun erhob Baghira den Kopf und gähnte – langsam, ausgiebig und prahlerisch –, wie er gähnt, wenn er seinesgleichen verspottet. Die gefransten Lefzen schoben sich zurück und aufwärts, die rote Zunge rollte sich, der Unterkiefer sank und sank, bis man tief in den heißen Schlund hineinsah. Die grimmigen Eckzähne ragten entblößt bis zur Wölbung des Gaumens und schnappten ein mit dem Klang einer Panzertür, die in das Schloß fällt. In der nächsten Minute schon war niemand mehr in der Tür der Hütte zu sehen. Baghira sprang durch das Fenster und stand an Moglis Seite, während eine heulende, kreischende Menge, übereinander stolpernd, in panischem Schrecken in die Hütten flüchtete.

»Bis der Tag kommt, rühren sie sich nicht heraus«, sagte Baghira gelassen. »Und jetzt?« Die Stille der Nachmittagsruhe schien über dem Dorf zu liegen; aber als sie lauschten, hörten sie Geräusche, wie wenn schwere Kornkisten über den Boden geschoben und gegen die Türen gestellt würden. Baghira hatte recht; das Dorf würde sich nicht rühren vor Anbruch des Tages. Mogli aber saß unbeweglich, in Gedanken versunken; düsterer und düsterer wurde sein Antlitz.

»Was tat ich?« sagte Baghira endlich, ihn umschmeichelnd.

»Nur Gutes. Bewache sie jetzt, bis es Tag ist. Ich will schlafen.« Mogli lief in die Dschungel, warf sich auf das Moos und schlief den Tag und die folgende Nacht durch. Als er erwachte, saß Baghira an seiner Seite, und ein frisch gerissener Bock lag zu seinen Füßen. Der Panther äugte gespannt, während Mogli mit seinem Messer ans Werk ging, aß und trank und dann still saß, das Kinn in die Hand gestützt.

»Der Mann und die Frau gelangten sicher in die Sehweite von Kanhiwara«, sagte Baghira. »Deine Mutter sandte die Kunde durch Tschil, den Geier. Unterwegs in der Nacht ihrer Befreiung fanden sie ein Pferd und kamen rasch davon. Ist das nicht gut?«

»Ja, gut«, sagte Mogli.

»Und das Menschenvolk im Dorfe rührte sich nicht, bis am Morgen die Sonne hoch stand. Dann aßen sie ihr Futter und rannten schnell wieder in ihre Hütten.«

»Haben sie dich etwa gesehen?«

»Kann sein. Als der Morgen dämmerte, rollte ich mich im Staub vor dem Tore; ich mag mir wohl auch ein wenig vorgesungen haben. Nun, kleiner Bruder, bleibt nichts mehr zu tun. Komm, jage mit mir und Balu. Frische Bienenstöcke hat er entdeckt, die will er dir zeigen; wir alle aber wünschen, daß du wieder unter uns lebst wie ehedem. Lege das Gesicht ab, das sogar mir Furcht macht. Der Mann und das Weib werden nicht in die rote Blume geworfen, und in der Dschungel geht alles gut. Ist das nicht wahrlich so? Laß uns das Menschenvolk endlich vergessen.«

»Sie sollen vergessen sein – in einer kleinen Weile. Wo ist Hathi heute nacht?«

»Wo immer ihm beliebt. Wer kann wissen, was der Schweigsame tut. Aber warum? Was wäre, das Hathi tun könnte und wir nicht?«

»Richte ihm aus, er soll mit seinen drei Söhnen zu mir hierherkommen.«

»Aber, wirklich und wahrhaftig, kleiner Bruder, es – es schickt sich nicht, zu Hathi zu sagen ›Komm‹ und ›Geh‹. Bedenke, er ist der Meister der Dschungel; und bevor das Menschenpack den Ausdruck auf deinem Gesicht wandelte, lehrte er dich ein Meisterwort der Dschungel.«

»Ganz gleich. Ich habe für ihn jetzt ein Meisterwort. Bitte ihn zu Mogli, dem Frosch, zu kommen, und hört er nicht gleich, dann sage, er solle kommen, um der Verwüstung der Felder von Bhurtpore willen.«

»Verwüstung der Felder von Bhurtpore«, wiederholte Baghira zwei- oder dreimal, um es sich genau zu merken. »Ich gehe. Schlimmstenfalls kann Hathi zornig werden. Ich aber würde die Jagd eines Mondes darum geben, ein Meisterwort zu vernehmen, das den Schweigsamen zwingt.«

Er glitt davon und ließ Mogli zurück, der wütend mit seinem Jagdmesser in die Erde stieß. Nie zuvor im Leben hatte er Menschenblut gesehen, bis er sah und – was ihm viel mehr bedeutete – roch das Blut von Messua an den Stricken, mit denen man sie gebunden hatte. Messua aber war gut zu ihm gewesen, und soviel er von Liebe wußte, liebte er Messua so tief, wie er das übrige Menschenvolk haßte. Aber so sehr er auch die Menschen, ihre Sprache, ihre Grausamkeit und ihre Feigheit verabscheute, so hätte er doch für nichts, was die Dschungel ihm bieten konnte, es über sich gebracht, Menschenleben zu nehmen und den schrecklichen Blutgeruch wieder vor die Sinne zu bekommen. Sein Plan war einfacher, aber gründlicher; und er lachte vor sich hin, als ihm einfiel, daß der alte Buldeo ihm den Gedanken eingegeben hatte, als dieser wieder einmal am Abend unter dem Feigenbaum eine von seinen Geschichten erzählte.

»Wohl war es ein Meisterwort«, flüsterte ihm Baghira ins Ohr. »Sie weideten am Strom, und sie gehorchten, als ob sie zahme Ochsen wären. Sieh, dort rücken sie schon an.« Lautlos, wie gewöhnlich, waren Hathi und seine drei Söhne herangekommen. Der Flußschlamm klebte noch frisch an ihren Flanken; und Hathi kaute, in Gedanken versunken, am grünen Stamm eines jungen Pisangbaumes, den er mit den Stoßzähnen ausgegraben hatte. Aber jede Falte des wuchtigen Körpers verriet Baghira, der die Dinge richtig zu sehen verstand, wenn sie ihm vor die Augen kamen, daß es nicht der Meister der Dschungel war, der zu einem Menschenjungen kam, sondern einer, der Angst hatte, zu treten vor den, der ohne Angst war. Die drei Söhne stellten sich Seite an Seite hinter dem Vater auf.

Kaum hob Mogli den Kopf, als Hathi ihm »Gute Jagd« bot. Lange Zeit ließ Mogli den Elefanten sich wiegen und schaukeln von einem Fuß auf den anderen, ehe er endlich zu sprechen anhub, und dann wandte er sich zu Baghira, nicht zu Hathi.

»Ich will eine Geschichte erzählen, die ich von dem Jäger vernahm, den ihr heute getrieben habt«, begann Mogli. »Um einen alten und weisen Elefanten handelt es sich, der in eine Fallgrube geriet, und der spitze Pfahl im Boden der Grube brachte ihm eine große Wunde bei, und sie hinterließ eine weiße Narbe, die ihm von der Fessel bis zum Schulterblatt reicht.«

Mogli streckte seine Hand aus, und als Hathi sich zur Seite drehte, erglänzte im Mondlicht eine lange weiße Narbe, die, wie von einer rotglühenden Peitsche geschlagen, sich über die schiefergraue Haut hinzog. »Männer kamen, um ihn aus der Fallgrube zu ziehen«, fuhr Mogli fort, »aber die Stricke zerriß er, denn er war stark, und er zog von dannen, bis seine Wunde geheilt war. Dann, eines Nachts, kehrte er zornerfüllt zurück zu den Feldern dieser Jäger. Und jetzt fällt mir auch ein, er hatte drei Söhne. Das alles geschah vor vielen, vielen Regen, und sehr weit weg von hier – in den Feldern von Bhurtpore. Was wurde aus den Feldern bei der nächsten Ernte, Hathi?«

»Ich erntete sie ab und meine drei Söhne«, sagte Hathi.

»Und was wurde mit dem Pflügen, das dem Ernten folgt?«

»Es wurde nicht gepflügt«, sagte Hathi.

»Und was wurde aus den Menschen, die bei den grünen Feldern in der Ebene lebten?«

»Sie zogen fort.« »Die Dächer rissen wir in Stücke, und die Dschungel verschlang die Mauern«, sagte Hathi.

»Und was geschah noch außerdem?« fragte Mogli weiter.

»Soviel guten Boden nahm die Dschungel ein, wie ich in zwei Nächten durchwandern kann, von Osten nach Westen und in drei Nächten von Norden nach Süden. Die Dschungel ließen wir kommen über fünf Dörfer; und in den Dörfern, auf den Feldern und Wiesen, Weidegründen und weichen Äckern ist heute kein Mensch mehr, der dort Nahrung findet. Das war die Verwüstung der Felder von Bhurtpore durch mich und meine drei Söhne; und jetzt frage ich, Menschenjunges, wie dir davon Kunde wurde?« endete Hathi.

»Ein Mensch erzählte sie mir, und nun sehe ich, daß selbst Buldeo einmal Wahrheit sprechen kann. Gut getan war es, weißnarbiger Hathi; aber zum zweitenmal wird es noch besser geschehen, denn ein Mensch wird nun alles leiten. Du kennst das Dorf des Menschenvolkes, das mich ausstieß. Träge sind sie, unverständig und grausam; sie spielen mit ihren Mäulern, und sie töten die Schwächeren nicht zur Nahrung, sondern zum Spaß. Sind sie vollgefressen, wollen sie die eigene Brut in die Flamme werfen. Das alles habe ich gesehen. Es ist nicht gut, daß sie hier noch länger leben. Ich hasse sie!«

»So töte sie!« rief der jüngste von Hathis drei Söhnen, riß ein Büschel Gras aus, schlug es um seine Vorderbeine und warf es wieder fort; und die kleinen roten Augen blinzelten verstohlen von einer Seite zur anderen.

»Was soll ich mit weißen Knochen?« antwortete Mogli heftig. »Bin ich ein Wolfsjunges, um mit einem nackten Schädel in der Sonne zu spielen? Ich habe Schir Khan getötet, und seine Haut modert nun auf dem Rätefelsen; aber – aber ich weiß nicht, wohin Schir Khan geraten ist, und mein Magen ist leergeblieben. Nun will ich nehmen, was ich sehen kann und berühren. Laß die Dschungel los gegen das Dorf. Hathi!«

Baghira schauderte und duckte sich nieder. Er konnte, wenn es zum Schlimmsten kam, sich wohl einen plötzlichen Einbruch in die Dorfstraße denken, mit Tatzenhieben rechts und links in die Menge, oder auch ein lustiges Töten von Menschen, die in der Dämmerung hinter den Pflügen gehen – aber ein ganzes Dorf mit Vorbedacht auslöschen vor den Augen von Mensch und Tier, das erschien ihm fürchterlich. Nun verstand er, warum Mogli nach Hathi geschickt hatte. Nur der langlebende Elefant allein vermochte es, einen solchen Krieg zu planen und durchzuführen.

»Mache, daß sie davonfliehen, wie die Menschen aus den Feldern von Bhurtpore! Das Regenwasser allein soll der einzige Pflug sein, und das Rauschen des Regens auf den festen Blättern soll das Schnurren ihrer Spindeln ersetzen. Baghira und ich wollen lagern im Haus des Brahmanen, und der Bock soll aus der Zisterne des Tempels trinken. Laß die Dschungel los, Hathi!«

»Aber ich – aber wir haben keinen Streit mit ihnen; und erst der roten Raserei großer Schmerzen bedarf es, ehe wir Plätze niederreißen, wo Menschen wohnen«, sagte Hathi und wiegte sich nachdenklich.

»Seid ihr die einzigen Grasfresser in der Dschungel? Treibt eure Völker hinein. Lasset das Wild und die Sauen und die Nilghai die Sache besorgen. Keine Handbreit deiner Haut brauchst du zu zeigen, bis die Felder nackt sind. Laß die Dschungel los, Hathi!«

»Wird da kein Töten sein? Rot wurden meine Hauer bei der Verwüstung der Felder von Bhurtpore, und den Geruch möchte ich nicht wieder erwecken.«

»Auch ich nicht. Nicht einmal ihre Knochen will ich auf unserer reinen Erde bleichen sehen. Fortwandern sollen sie und sich ein neues Lager suchen. Nicht länger sollen sie hierbleiben! Das Blut der Frau, die mir Nahrung gab, habe ich gesehen und gerochen; und sie hätten die Frau getötet, wäre ich nicht gekommen. Nur der Duft frischen Grases auf den Schwellen ihrer Hütten kann diesen Geruch tilgen – er verbrennt mir den Mund. Laß die Dschungel los. Hathi!«

»Ja«, sagte Hathi, »so auch brannte die Narbe von dem spitzen Pfahl in meiner Haut, bis wir ihre Dörfer untergehen sahen im Blühen des Frühlings. Nun verstehe ich! Dein Krieg sei unser Krieg! Die Dschungel lassen wir los!«

Mogli hatte kaum Atem geschöpft – er bebte vor Wut und Haß –, als auch schon der Platz leer war, wo eben noch die Elefanten gestanden hatten. Baghira aber blickte voller Entsetzen auf Mogli.

»Beim gesprengten Schloß, das mich befreite!« rief der schwarze Panther nach einer Pause. »Bist du der nackte Frosch, für den ich sprach vor dem Rudel, als alles jung war? Meister der Dschungel, wenn meine Kraft von mir geht, sprich für mich – sprich für Balu – sprich für uns alle. Junge sind wir vor dir! Zerknacktes Gesträuch unter deinen Füßen! Rehkitze sind wir, von der Ricke verlassen!«

Sich Baghira als verirrtes Rehkitz vorzustellen, brachte Mogli aus der Fassung; er lachte, rang nach Atem, schluchzte und lachte wieder, bis er zuletzt, um sich zu beruhigen, in den nahen Teich sprang. Dort schwamm er in Kreisen, tauchte zwischen den Mondstrahlen hindurch, wie sein Namensvetter, der Frosch.

Indessen waren Hathi und seine drei Söhne von dannen gezogen, jeder in einer anderen Richtung der Windrose, und schritten geräuschlos durch die Täler. Weiter und weiter zogen sie, zwei Tagesmärsche – das sind sechzig Meilen – durch die Dschungel; und jeder Schritt, den sie machten, jeder Schwung der Rüssel, wurde bemerkt, beachtet und besprochen von Mang und Tschil, von dem Affenvolk und allen Vögeln. Dann begannen sie zu weiden – ruhevoll, etwa eine Woche lang. Hathi und seine Söhne sind darin wie Kaa, der Felsenpython. Niemals eilen sie, ehe es not tut. Am Ende dieser Zeit durchdrang ein Geraune die Dschungel, und niemand wußte, woher es kam; bessere Nahrang und besseres Wasser sei zu finden in dem und dem Tal. Die Wildschweine – die um eines besseren Futterplatzes willen bis ans Ende der Welt zu laufen bereit sind – zogen zuerst in Scharen, grunzend, fort über die Felsen. Dann machte sich das Rotwild auf den Weg, gefolgt von den kleinen wilden Füchsen, die von den Toten und Sterbenden der Herde leben; in gleicher Richtung mit dem Wild zogen die schwerschultrigen Nilghai, und hinter den Nilghai stampften die wilden Büffel aus den Morästen. Der geringste Anstoß hätte ausgereicht, die zerstreuten weidenden Herden, die grasten, dahinschlenderten, tranken und wieder grasten, zur Umkehr zu bestimmen; aber sobald Unruhe ausbrach, war immer einer da, der sie besänftigte. Manchmal war es Ikki, das Stachelschwein, mit guter Botschaft über reiche Nahrung nur ein kleines Stück weiter; bald erschien Mang, die Fledermaus, pfiff ermutigend und flatterte über eine Lichtung hin, um zu zeigen, daß alles frei war; oder Balu, das Maul voller Wurzeln, trottete längs einer schwankenden Reihe dahin, und halb scheuchte, halb drängte er sie wieder auf den richtigen Pfad zurück. Viele der Tiere brachen dennoch aus, liefen weg und verloren die Lust am Weiterwandern; aber sehr viele blieben und drängten vorwärts. Nach etwa zehn Tagen stand es so: Das Wild, die Sauen und die Nilghai bildeten, immer weiterziehend, einen Kreis von acht bis zehn Meilen im Durchmesser, die Fleischfresser scharmützelten außen herum, und der Mittelpunkt dieses Kreises war das Dorf. Rings um das Dorf aber reiften die Saaten, und in den Feldern saßen Männer auf sogenannten »Machans« – hohen Kanzeln, wie Taubenschläge auf vier Pfählen ruhend –, um Vögel und anderes Diebsvolk zu verscheuchen. Nun wurde das Wild schärfer gedrängt. Die Fleischfresser waren ihm dicht auf den Fersen, zwangen sie voran und hinein in den Kreis.

Eine dunkle Nacht war es, als Hathi und seine drei Söhne aus der Dschungel herangetrottet kamen und mit den Rüsseln die Pfähle der Machans aus der Erde rissen. Sie sanken um wie geknickte Schierlingstengel, und die Männer, die von den Kanzeln herabstürzten, hörten ganz dicht an ihrem Ohr das tiefe Gurgeln der Elefanten. Dann brach die Vorhut der von rückwärts gedrängten Armee des Wildes herein und überflutete die Weidegründe und die Saaten; das scharfhufige, wühlende Wildschwein kam mit ihnen und zerstörte, was das Wild übrigließ. Von Zeit zu Zeit fuhr ein Rudel Wölfe zwischen die Herden, die dann verängstigt hin und her jagten, die junge Gerste niedertraten und die Dämme der Bewässerungskanäle platt trampelten. Vor Anbruch der Morgendämmerung gab der Druck an einer Stelle des Außenringes nach; die Fleischfresser fielen zurück und ließen einen Ausgang nach Süden frei; und Herde auf Herde von Böcken flüchtete hohen Laufs hindurch. Andere, die verwegener waren, lagerten sich im Dickicht, um das Mahl in der folgenden Nacht fortzusetzen. Aber das Werk war fast schon völlig getan. Am Morgen sahen die Dorfbewohner, daß ihre Ernte für dieses Jahr verloren war. Das bedeutete den Tod für sie, so sie nicht fortziehen konnten, denn jahraus, jahrein lebten sie so nahe dem Verhungern, wie die Dschungel ihnen nahe war. Als die Büffel des Dorfes hinausgelassen wurden, fanden die hungrigen Tiere die Weidegründe vom Wild kahlgefressen, und so wanderten sie in die Dschungel hinein und trieben fort mit ihren wilden Verwandten. Als es dunkelte, lagen die vier Konies, die das Dorf besaß, mit eingeschlagenen Köpfen in ihren Ställen. Nur Baghira konnte solche Streiche geführt haben, und Baghira nur konnte es sein, der frech den letzten toten Körper offen auf die Straße zerrte.

Die Dorfbewohner wagten nicht, in dieser Nacht Feuer in den Feldern anzuzünden; so hielten Hathi und seine drei Söhne Nachlese, und wo Hathi Nachlese hält, ist kein Halm mehr zu finden. Die Menschen beschlossen, bis zur Regenzeit von dem lagernden Saatkorn zu leben und dann als Tagelöhner Arbeit zu suchen, um den Verlust des Jahres einzubringen.

Der Kornhändler überlegte noch, welche Preise er für seine wohlgefüllten Saatkörbe erzielen könnte, als Hathi bereits mit seinen mächtigen Stößern die Lehmmauern des Vorratshauses umlegte und die Körbe mit der kostbaren Saat zertrat.

Nachdem man diesen letzten Verlust entdeckt hatte, war es an dem Brahmanen, sich zu äußern. Er hatte zu seinen Göttern gefleht, ohne Erhörung zu finden. Möglich wäre es, meinte er nun, daß das Dorf unwissentlich einen der Götter der Dschungel beleidigt habe, denn zweifellos wäre die Dschungel gegen sie.

Da schickten die Dörfler Boten zu dem Führer des nächsten Stammes der wandernden Gonds; es sind kleine weise und sehr dunkelfarbige Jäger, die tief in der Dschungel hausen; sie gehören zu der ältesten Rasse Indiens, und ihre Vorfahren waren die ursprünglichen Beherrscher des Landes. Als der Führer der Gonds eintraf, bewirtete man ihn mit dem, was man noch besaß. Der Gond stand auf einem Bein, seinen Bogen in der Hand, zwei bis drei vergiftete Pfeile durch seinen Haarbüschel gesteckt und blickte halb ängstlich, halb verächtlich auf die trauernden Dorfleute und ihre verwüsteten Felder. Wissen wollten sie von ihm, ob seine Götter – die alten Götter – ihnen zürnten, und welche Opfer man ihnen darbringen müßte.

Der Gond aber schwieg, hob eine Ranke der Karela auf, der Schlingpflanze, die den wilden bitteren Kürbis trägt, und flocht sie hin und her über das Tempeltor, dem starrenden, roten Hindubildnis gerade gegenüber. Darauf stieß er mit der Hand in die Luft, in Richtung der Straße nach Kanhiwara, und wanderte dann heim nach seiner Dschungel.

Die Dorfbewohner brauchten nicht nach der Deutung zu fragen: Der wilde Kürbis würde wuchern dort, wo sie zu ihren Göttern gebetet hatten, und je eher sie flüchteten, desto besser für sie.

Aber es ist schwer, sich von seiner Heimat und seiner Scholle zu trennen. Sie zögerten, solange sie noch etwas Nahrung fanden; sie versuchten, Nüsse in der Dschungel zu sammeln, aber Schatten mit glühenden Augen verfolgten sie und zeigten sich selbst am hellen Mittag auf ihrem Wege. Und wenn sie dann verängstigt zurückflohen zu ihren schützenden Mauern, dann fanden sie die Rinde der Baumstämme, an denen sie vor kaum fünf Minuten vorbeigekommen waren, zerkratzt und gemeißelt vom Schlage irgendeiner großen, bekrallten Pranke. Je mehr sie sich in ihren Mauern hielten, um so dreister wurden die wilden Tiere, die auf den Weidegründen spielten und brüllen, dort am Waingungafluß.

Die Menschen fanden nicht mehr den Mut, die Hinterwände der leeren Kuhställe auszuflicken, die nach der Dschungel zu lagen. Die Wildschweine trampelten sie nieder, und die knotenwurzeligen Schlingpflanzen drängten nach und streckten ihre Fühler aus über den neugewonnenen Grund, während hinter ihnen das harte Gras hochschoß.

Zuerst flohen die ledigen Männer und verbreiteten die Kunde, daß ein Fluch auf dem Dorfe läge. Wer könnte kämpfen, sagten sie, gegen die Dschungel oder gegen die Götter der Dschungel, denn selbst die Dorfkobra habe ihre Höhle unter dem Fuß des Feigenbaums verlassen. So schrumpfte der kleine Handel mit der Außenwelt immer mehr zusammen, und die Pfade, die über die Lichtung führten, verwischten sich und wuchsen zu. Die nächtlichen Trompetenschreie Hathis und seiner drei Söhne beunruhigten die im Dorf nicht mehr, denn sie hatten nichts mehr zu verlieren. Alle Saaten waren verschwunden, schon verloren die Umrisse der Felder ihre Gestalt. Zeit war es jetzt, sich der Barmherzigkeit der Engländer in Kanhiwara anzuvertrauen.

Nach Art der Eingeborenen verschoben sie den Abzug von Tag zu Tag, bis die ersten Regen sie überraschten und die Fluten durch die durchlöcherten Dächer strömten. Bald waren die Weidegründe fußhoch überschwemmt, und nach der langen Sommerhitze schoß plötzlich überall das Grün hervor. Nun wateten sie fort – Männer, Frauen und Kinder – durch die grauen Schleier des heißen Morgenregens und wandten sich noch einmal um zu einem letzten Abschiedsblick auf ihre Heimat.

Als die letzte Familie schwerbeladen durch das Tor schlich, hörten sie das Krachen von stürzenden Balken und Strohdächern hinter den Mauern. Sie sahen einen schwarzen, schlangenartigen Rüssel für Augenblicke auftauchen und fauliges Dachstroh umherschleudern. Dann verschwand er, und abermals ertönte ein Krachen, gefolgt von einem ärgerlichen Quarren. Hathi pflückte die Dächer der Hütten ab, wie man Wasserlilien pflückt, und dabei hatte ihn ein zurückschnellender Balken empfindlich getroffen. Das hatte nur noch gefehlt, um seine volle Wut zu entfesseln, und von allen Geschöpfen in der Dschungel ist der Elefant im Wutrausch der wollüstigste Zerstörer. Jetzt trampelte Hathi rückwärts gegen eine Lehmwand, die unter seinem Stoß zerbröckelte und in gelblichem Schmutz zerfloß. Dann schwenkte er um und fegte, hell trompetend, durch die engen Straßen, rechts und links gegen die Hütten wuchtend, die Türen zersplitternd und die Dachrinnen zerknitternd; und seine drei Söhne wüteten hinter ihm, wie sie gewütet hatten bei der Verwüstung der Felder von Bhurtpore.

»Die Dschungel wird diese Reste verschlingen«, sprach eine ruhige Stimme inmitten der Vernichtung. »Die Außenmauern muß man umlegen!« Und Mogli, von dessen nackten Schultern der Regen tropfte, sprang von einer Hauswand hinweg, die eben hinsank wie ein müder Büffel.

»Alles zu seiner Zeit«, keuchte Hathi. »Ah! Aber rot waren meine Stößer in Bhurtpore. An die Außenmauern, Söhne! Jetzt zu–gleich!«

Seite an Seite stießen die vier; die Außenmauer bog sich, barst und fiel. Die Dorfbewohner, stumpf vor Entsetzen, sahen die furchtbar dräuenden Schädel der Zerstörer lehmbedeckt aus der Bresche ragen. Da flohen sie, arm und heimatlos, in das Tal hinab; und ihr Dorf, zerstückt, zerfetzt, zerstampft, versank hinter ihnen.

Einen Monat danach war der Ort, wo das Dorf gestanden hatte, ein flacher Hügel, bedeckt mit jungem grünem Gras; und zu Ende der Regenzeit herrschte schrankenlos die rauschende brausende Dschungel dort, wo vor kaum sechs Monden noch Menschen pflügten und ernteten.

Moglis Gesang wider die Menschen

Moglis Gesang wider die Menschen

        Ich laß los gegen euch die flinkfüßigen Ranken,
                Es bersten die Dächer!
                Die Pfosten zu Falle!
                Und Karela, die bittre Karela,
                Begrabe sie alle!

Meines Volkes Gesang euren Ratplatz durchschalle,
Die Fledermaus niste in Scheune und Halle;
                Am erloschenen Herdstein
                Halte, Schlange, die Hut,
                Karela soll fruchten,
                Wo zur Nacht ihr geruht!

Meine Streiter nicht seht ihr, ihr hört nur voll Graus,
Zur Nacht, eh‘ der Mond steigt, da send‘ ich sie aus,
                Der Wolf sei euch Hirte,
                Die Herde zerstiebt!
                Karela wird samen,
                Da, wo ihr geliebt!

Eure Felder beernte das Heer meiner Schnitter,
Nachles‘ mögt ihr halten um Hähnchen und Splitter!
                Pflugstier sei das Rotwild
                Und pflüge das Feld!
                Es laube Karela,
                Wo die Saat ihr bestellt!

Ich ließ los gegen euch die vielfüßigen Ranken,
Euch zu tilgen, entband ich die Dschungel der Schranken:
                Der Wald, der Wald ist über euch,
                Die Pfosten zu Falle!
                Und Karela, die bittre Karela,
                Begrabe euch alle!

Die Leichenbestatter

Die Leichenbestatter

Sprichst du zu Tabaqui: »Mein Bruder!«
und lädst die Hyäne zu Gast,
Dann ist auch der Wanst auf vier Füßen,
Tschakala, dir nicht mehr verhaßt!
(Dschungelspruch.)

»Ehret das Alter!«

Eine fette Stimme war es – eine schlammige Stimme, vor der euch geschaudert hätte –, als ob etwas Weiches sich spaltet. Zittern war in ihr, Krächzen und Gewinsel.

»Ehret das Alter! Oh, ihr Gefährten vom Strom – ehret das Alter!«

Zu sehen war nichts auf der breiten Fläche des Stroms; nur einige Barken mit Quersegeln, bausteinbeladen, trieben stromabwärts unter der Eisenbahnbrücke hervor. Die plumpen Steuerruder legten sich um, kamen frei von der Sandbank, die an die Brückenpfeiler angeschwemmt war, und als sie zu dritt nebeneinander dahinzogen, erhob sich wieder die grausige Stimme.

»Oh, ihr Brahmanen vom Strom – ehret den Greisen und Gebrechlichen!«

Ein Schiffer, der am Bugspriet saß, wandte sich um, hob die Hand und rief etwas, das kein Segensspruch war; und weiter knarrten die Barken durch das Zwielicht. Der breite indische Fluß, der eher einer Kette von kleinen Seen glich, war glatt wie Glas, und der fahlrote Abendhimmel spiegelte sich in der Stromesmitte. An den leise bewegten Ufern aber zerrann er zu gelben und dunkelpurpurnen Tupfen. Kleine Rinnsale flössen ihm in der Regenzeit zu, jetzt aber gähnten die trockenliegenden Mündungen über dem Wasser. Am linken Ufer, fast schon unter der Eisenbahnbrücke, stand ein Dorf mit strohgedeckten Häuschen aus Lehmziegeln; die Hauptstraße lief geradlinig zum Strom hinab, auf der jetzt die Rinder heim in ihre Ställe zogen, und sie endete in einem gemauerten Molenkopf, wo die Frauen die Stufen zum Wasser hinabstiegen, um Wäsche zu waschen. Das war der Ghat des Dorfes Muggerghat.

Rasch sank die Nacht über die tiefliegenden Felder mit Reis, Linsen und Baumwollstauden, die alljährlich vom Strom überschwemmt werden, über Schilf und Ried, das die Strombiegung einsäumt, und über die dickichtbewachsenen Weidegründe, die sich hinter den stillen Binsen ausdehnten.

Papageien und Krähen, die beim abendlichen Trunke geschwatzt und gekreischt hatten, zogen heimwärts zu ihrem Schlafbaum und begegneten unterwegs den ausziehenden Scharen der fliegenden Hunde. Wolke auf Wolke von Wasservögeln zog pfeifend und knarrend dem deckenden Schilf zu: Gänse mit plumpen Köpfen und schwarzen Rücken, Krickenten, Speckenten, Brachvögel, Kreuzschnäbel und auch einige Flamingos.

Ein schwerfälliger Adjutantkranich bildete den Nachtrab und zog so langsam dahin, als ob jeder Schlag seiner Flügel der letzte wäre.

»Ehret das Alter! Ihr Brahmanen vom Strom – ehret das Alter!«

Der Adjutant drehte halb den Kopf, schielte in die Richtung, aus der die Stimme kam, und ließ sich langsam auf der Sandbank unter der Brücke nieder. Jetzt erst sah man, was für eine scheußliche Kreatur er war. Rückenansicht war ungemein würdevoll; denn er war beinahe sechs Fuß hoch und glich, von hinten gesehen, einigermaßen einem ehrwürdigen kahlköpfigen Pastor. Von vorn aber sah er ganz anders aus. Sein grotesker Kopf und Hals trug nicht ein Federchen, und unter dem Kinn hing ihm ein greulicher roter Hautbeutel, der Behälter für alles, was er mit seinem Spitzhackenschnabel zusammenraffen konnte. Die Beine waren lang, dünn und häutig, aber er bewegte sie zierlich und betrachtete sie mit Stolz, indes er sich die aschgrauen Schwanzfedern putzte, warf dann einen Blick über die Glätte seiner Schultern, steifte sich hoch – und stand stramm.

Ein kleiner, räudiger Schakal, der hungrig kläffend auf einem kleinen Hügel am Ufer gesessen hatte, hob Ohren und Schwanz und planschte dann durchs Wasser zu dem Adjutanten hinüber. Er war der geringste seiner Kaste; nicht etwa, daß der beste der Schakale viel taugte, aber dieser war besonders verlumpt, halb Bettler, halb Verbrecher, Aufräumer des Abfalls der Dörfer, verzweifelt feige und blindlings tollkühn, immer hungrig und voller Schläue, die ihm doch nie etwas eintrug.

»U-i, u-i, u-uu«, winselte er beim Landen und schüttelte sich das Wasser ab. »Möge die rote Räude über alle Hunde dieses Dorfes kommen! Drei Bisse für jeden Floh, den ich auf mir habe; und das alles nur, weil ich nach einem alten Schuh im Kuhstall hinschielte – denkt euch – nur schielte! Kann ich Staub fressen?« Und er kratzte sich hinterm linken Ohr.

»Ich hörte«, sagte der Adjutant mit der Stimme einer stumpfen Säge, die durch hartes Holz fährt, »ich hörte, daß ein neugeborener Hund in jenem Schuh steckte.«

»Hören und wissen ist zweierlei«, meinte der Schakal, der stets allerlei Sprichwörter aufschnappte, wenn er abends die Menschen an den Dorffeuern belauschte.

»Vollkommen richtig. Daher überzeugte ich mich auch und nahm das neugeborene Püppchen in Verwahrung, als die Hunde anderswo beschäftigt waren.«

»Sehr stark waren sie beschäftigt«, sagte der Schakal. »Na, so bald darf ich mich nicht wieder in dem Dorf sehen lassen, um mir die Schabsel zusammenzukratzen. Also war wirklich ein blinder junger Hund in dem Schuh?«

»Jetzt ist er hier«, sagte der Adjutant und schielte über den Schnabel hinweg nach seinem gefüllten Kröpf. »Eine Kleinigkeit nur, aber nicht zu verschmähen, jetzt, da es keine Wohltätigkeit mehr in der Welt gibt.«

»Ahai! Eisern ist heutzutage die Welt«, wehklagte der Schakal. Sein rastloses Auge erspähte ein kaum merkbares Kräuseln auf dem Wasser, und eilig fuhr er fort: »Hart ist das Leben für uns alle; ich zweifle nicht, daß selbst unser erhabener Meister, der Stolz des Ghats und Ruhm des Stroms – –«

»Lügner, Schmeichler und Schakal krochen alle drei aus einem Ei«, sagte der Adjutant zu niemandem im besonderen, denn er selbst konnte leidlich lügen, wenn es sich lohnte.

»Ja, selbst der Ruhm des Stroms«, wiederholte der Schakal mit lauter Stimme, »selbst er, ich zweifle nicht, wird finden, daß gutes Futter rar geworden ist, seitdem man die Eisenbrücke baute. Indessen würde ich ihm so etwas nie in sein erhabenes Antlitz sagen, ihm, der so weise ist und tugendhaft, wie ich – wie ich, ach, leider – es nicht bin –«

»Wenn der Schakal sagt, daß er grau ist – wie schwarz muß dann der Schakal sein«, murmelte der Adjutant. Er konnte nicht sehen, was herankam.

»Daß ihm Futter niemals fehlen wird, und daher –«

Ein weiches, knirschendes Geräusch war hörbar, wie wenn ein Boot auf seichten Grund auffährt. Der Schakal schnellte herum und sah dem Wesen, von dem er eben gesprochen hatte, gerade ins Gesicht (und das ist immer am sichersten).

Ein vierundzwanzig Fuß langes Krokodil war es, umpanzert von einem Gehäuse wie von dreifach vernieteten Kesselplatten, mit Nägeln beschlagen, verkielt und verpicht. Die gelben Spitzen der Oberzähne überragten anmutig den schön geriffelten Unterkiefer. Der stumpfnasige Mugger von Muggerghar war es, älter als die Ältesten in dem Dorfe, dem er seinen Namen gegeben hatte – der Dämon des Stromes, ehe die Eisenbahnbrücke kam, Mörder, Menschenfresser und Ortsfetisch in einem. Er lag halb aufgetaucht aus dem seichten Wasser und hielt sich mit einer kaum merklichen Bewegung des Schwanzes im Gleichgewicht. Der Schakal wußte genau, daß ein einziger Schlag dieses Schwanzes den Mugger auf das Ufer hinaufbringen konnte mit der Schnelligkeit einer Dampfmaschine.

»Glückverheißende Begegnung, Beschützer der Armen«, jaulte der Schakal, mit jedem Wort weiter zurückweichend. »Wir hörten eine liebliche Stimme und kamen hierher in der Hoffnung auf eine trauliche Plauderei. Meine schweiflose Kühnheit riß mich hin, von dir zu sprechen, während wir hier deiner harrten. Ich hoffe, man hat nichts davon vernommen.«

Der Schakal aber hatte natürlich geredet, just um vernommen zu werden, denn er wußte, daß man mit Schmeicheleien am besten noch etwas Futter erschnappt; der Mugger wußte, daß der Schakal nur deshalb laut geredet hatte; und der Schakal wußte, daß der Mugger wußte, und der Mugger wußte, daß der Schakal wußte, daß der Mugger wußte – und so waren sie alle ganz zufrieden miteinander.

Der greise Unhold schob sich keuchend und grunzend das Ufer hinan und mummelte: »Ehret den Bejahrten und Gebrechlichen!« Und dabei brannten die kleinen Augen wie Kohlen unter den schweren hornigen Augenlidern, oben auf dem dreieckigen Kopf, während er den gedunsenen Tonnenleib langsam mit den rindigen krummen Beinen nachzog. Dann lag er still. Der Schakal aber, so vertraut er auch mit der Art und Weise seines Gegenübers war, fuhr zum hundertsten Male entsetzt hoch, als er sah, wie täuschend der Mugger das Aussehen eines von den Wellen an das Ufer getriebenen Baumklotzes annahm. Er hatte sich sogar bemüht, genau in demselben Winkel zum Wasser zu liegen, wie ein natürlich gestrandeter Klotz in Hinsicht auf Strömung und Jahreszeit zum Stillstand gekommen wäre. Das aber war nur Sache der Gewohnheit, denn der Mugger war diesmal nur zu seinem Vergnügen an Land gekommen; aber ein Krokodil ist niemals satt, und hätte sich der Schakal durch die Ähnlichkeit täuschen lassen, würde er wohl kaum so lange gelebt haben, um darüber noch nachdenken zu können.

»Nichts hörte ich, mein Kind«, sagte der alte Mugger, eins seiner Augen schließend. »Ich hatte Wasser in den Ohren, und mir war ganz schwach vor Hunger. Seitdem man die Eisenbahnbrücke baute, liebt mich mein Dorfvolk nicht mehr, und das bricht mir das Herz.«

»Oh, Schmach und Schande!« sagte der Schakal. »Noch dazu ein so nobles Herz! Aber die Menschen sind sich alle gleich, nach meiner Meinung.«

»Kaum. Große Unterschiede gibt es da«, entgegnete der Mugger sanft. »Manche sind dürr wie Bootshaken, andere wieder fett wie junge Schak… Hunde. Nie werde ich Menschen ohne Grund schmähen; viele Sorten habe ich schon durchprobiert, und meine langjährige Erfahrung hat mir gezeigt, daß sie sehr gut sind, alle durch die Bank, Männer, Frauen und Kinder – vorzüglich finde ich sie. Und bedenke, Kind, wer die Welt verschmäht, der wird verschmäht.«

»Schmeichelei ist schlimmer als eine leere Konservenbüchse im Bauch. Aber was wir eben hörten, das ist Weisheit«, sagte der Adjutant und wechselte von einem Bein aufs andere.

»Dennoch, bedenke doch ihre Undankbarkeit gegen diesen Erhabenen«, flötete der Schakal sanft.

»Nein, nein, nicht Undankbarkeit!« verwahrte sich der Mugger. »Sie denken nur nicht an andere, das ist alles. Aber ich habe beobachtet, als ich an meinem Posten bei der Furt lag, daß die Stufen der neuen Brücke grausam schwer zu ersteigen sind, besonders für alte Leute und kleine Kinder. Die alten, in der Tat, kommen ja weniger in Betracht, aber traurig bin ich – aufrichtig betrübt – um der kleinen fetten Kinder willen. Ich hoffe aber, in einiger Zeit, wenn die Brücke nichts Neues mehr ist, dann werde ich die nackten braunen Beine meiner Leute wieder wacker durch die Furt planschen sehen wie ehedem. Dann kommt auch der alte Mugger wieder zu Ehren.«

»Ich sah aber doch Ringelblumenkränze an der Kante des Ghats entlangtreiben, erst heute nachmittag«, behauptete der Adjutant.

Ringelblumenkränze sind Zeichen der Verehrung in ganz Indien.

»Irrtum, Irrtum. Die Frau des Zuckerbäckers ist es gewesen. Von Jahr zu Jahr erblindet sie mehr und kann mich – den Mugger vom Ghat – nicht mehr von einem Holzklotz unterscheiden. Ich erkannte das Versehen, als sie die Kränze warf, denn ich lag unmittelbar am Gemäuer des Ghat. Hätte sie nur einen einzigen Schritt weiter abwärts getan, so würde ich ihr den Unterschied klargemacht haben. Indes – sie meinte es gut, und man muß den Willen für die Tat nehmen.«

»Was hat man von Blumenkränzen auf dem Kehrichthaufen?« fragte der Schakal, indes er sich flöhte, aber dabei stets ein wachsames Auge auf den »Beschützer der Armen« gerichtet hielt.

»Wahr, aber der Kehrichthaufen, der mich tragen wird, ist noch nicht begonnen. Fünfmal habe ich den Fluß vom Dorf zurückweichen und neues Land sich am Fuß der Straße bilden sehen. Fünfmal sah ich das Dorf neu erstehen an den Ufern, und fünf weitere Male noch wird es neu erbaut werden vor meinen Augen. Ich bin kein treuloser, fischjagender Gavial, ich bin der treue, ausharrende Wächter der Furt. Nicht umsonst trägt das Dorf meinen Namen, und ,wer lange wacht‘, sagt man, ,erhält endlich seinen Lohn‘.«

»Lange, sehr lange habe ich gewacht, fast durch mein ganzes Leben, und mein Leben waren Bisse und Schläge«, klagte der Schakal.

»Ho! ho! ho!« krächzte der Adjutant,

»Der Schakal kam August zur Welt;
September hat’s geregnet –
Sprach er: Daß so viel Regen fällt,
Ist mir noch nie begegnet!«

Der Adjutant hat eine unangenehme Eigentümlichkeit. Zuzeiten leidet er an plötzlichen Anfällen krampfartiger Unruhe in den Beinen; und obwohl er würdevoller anzusehen ist als jeder andere Kranich (die alle ungemein ehrbar sind), beginnt er dann doch, einen krüppelstelzigen Kriegstanz aufzuführen, bei dem er mit den halbgeöffneten Flügeln schlägt und den kahlen Kopf auf- und niederstößt; und aus Gründen, die nur ihm bekannt sind, kreischt er während des Tanzes die boshaftesten Bemerkungen heraus. Danach steht er mit einemmal wieder steif aufgerichtet da und sieht noch zehnmal adjutantenhafter aus als zuvor.

Der Schakal kniff den Schwanz ein, obwohl er schon drei Regenzeiten alt war; aber man darf einem, der einen meterlangen Schnabel hat und ihn wie einen Wurfspieß schwingen kann, keine Beleidigung übelnehmen. Der Adjutant war ein ausgemachter Feigling, aber der Schakal war es noch mehr.

»Leben müssen wir, bevor wir lernen«, sprach der Mugger, »und folgendes wäre zu sagen: kleine Schakale sind alltäglich, Kind, aber ein Mugger, wie ich, ist niemals alltäglich. Dennoch bin ich nicht stolz, denn Stolz bringt Verderben. Aber merke dir, es gibt ein Schicksal, und wider sein Schicksal soll keiner murren, der schwimmt, geht oder läuft. Ich bin wohl zufrieden mit dem Schicksal. Viel kann man erreichen mit etwas Glück, einem scharfen Auge und der Gewohnheit, zu prüfen, ob eine Bucht oder ein seichtes Wasser einen freien Ausgang hat, ehe man hineingeht.«

»Einst hörte ich, daß sogar der Beschützer der Armen einmal einen Irrtum beging«, sagte boshaft der Schakal.

»Allerdings, aber da half ihm sein Schicksal. Es war, bevor ich noch ganz ausgewachsen war, vor der letzten von den drei letzten Hungersnöten (bei den Rechten und Linken der Ganga, wie voll waren die Ströme in jenen Tagen!). Ja, ich war jung und unbedacht, und wenn die Flut kam – wer war froher als ich! Eine Kleinigkeit konnte mich damals glücklich machen. Das Dorf war überschwemmt von der Flut, und ich schwamm über den Ghat hinweg, weit hinein ins Land, nach den Reisfeldern, die tief bedeckt waren mit gutem Schlamm.

Ich erinnere mich, daß ich an dem Abend zwei Armbänder fand (aus Glas waren sie und machten mir nicht wenig Sorge), ja, Glasarmbänder; und auch eines Schuhs entsinne ich mich. Hätte ich nur beide Schuhe beseitigt! Aber mich hungerte. Später lernte ich mir besser zu helfen. Ja, und so fraß ich und ruhte mich dann aus. Aber als ich dann wieder nach dem Fluß zurück wollte, war die Flut gefallen, und ich mußte durch den Schlamm die Hauptstraße hinunterwaten. Ja, das tat ich! Da kam all mein Volk angelaufen, Priester, Weiber und Kinder, und ich blickte mit Wohlwollen auf sie. Schlamm ist kein guter Kampfplatz! Und ein Bootsmann rief: ›Nehmet Äxte und schlaget ihn tot, denn er ist der Mugger von der Furt!‹ – ›Nicht also‹, sagte der Brahmane, ›sehet, er treibt die Fluten vor sich her! Der Schutzgott ist es des Dorfes.‹ Darauf bewarfen sie mich mit Blumen, und zum Glück führte man eine Ziege über die Straße.«

»Wie gut – wie sehr gut ist doch Ziege«, unterbrach der Schakal.

»Haarig – zuviel Pelz, und wenn man eine im Wasser findet, hat sie oft einen krummen Haken irgendwo verborgen. Aber jene Ziege geruhte ich anzunehmen, und schritt hinab zum Ghat in großen Ehren. Später sandte mir mein Schicksal den Bootsmann, der mir den Schwanz mit der Axt abzuhacken gedacht hatte. Sein Boot strandete auf einer alten Sandbank, deren ihr euch wohl kaum entsinnt.«

»Alle sind wir nicht Schakale hier«, stichelte der Adjutant.

»War es die Sandbank, wo die steinbeladenen Boote sanken im Jahre der großen Dürre – eine lange Sandbank, die drei Überflutungen standhielt?«

»Zwei gab es«, verbesserte der Mugger, »eine obere und eine untere Sandbank.«

»Richtig, ich vergaß. Eine Rinne trennte sie, die später wieder austrocknete«, ergänzte der Adjutant, ungemein stolz auf sein Gedächtnis.

»Auf der unteren Sandbank, Kinder, strandete das Boot des Schiffers, der mir so wohlwollte. Er schlief gerade im Bug; halb erwacht, sprang er über Bord, bis zur Brust im Wasser – nein, nur bis zu den Knien –, um von der Sandbank freizukommen. Sein Boot trieb leer ab und blieb weiter unterhalb an der Biegung am Ufer hängen. Ich folgte, denn ich wußte, Männer würden kommen, um es an Land zu ziehen.«

»Kamen auch welche?« fragte der Schakal etwas entsetzt, denn diese Art von Jagd machte ihm starken Eindruck.

»Ja, ja, dort und dann weiter unten. Aber die erste Stelle genügte mir schon. Drei Stück brachte sie mir – alles wohlgenährte Schiffer, und außer bei dem letzten (wo ich etwas nachlässig war) drang kein Schrei hinüber, um die am Ufer zu warnen.«

»Ah, nobler Sport das! Aber Kennerblick gehört dazu und viel Geschicklichkeit«, schmeichelte der Schakal.

»Nicht Geschicklichkeit, Kind, aber Nachdenken. Denken im Leben ist wie das Salz am Reis, sagen die Schiffer, und ich habe immer tief nachgedacht. Der Gavial, mein Vetter, der Fischfresser, erzählte mir, wie schwer es für ihn wäre, die Fische zu ergattern, wie unterschieden sie wären, einer vom anderen, und wie er sie alle genau kennen müßte, die in Haufen und die einzelnen. Das ist Weisheit, sage ich; aber andererseits: mein Vetter, der Gavial, lebt auch unter seinem Volk. Mein Volk aber schwimmt nicht in Rudeln mit dem Rachen in der Luft, wie Rewa es tut. Auch steigen sie nicht ständig an die Oberfläche des Wassers und werfen sich auf die Seite, wie Mohu und der kleine Chapta; sie versammeln sich auch nicht in den Buchten nahe der Furt, wie Badchua und Chilwa.«

»Guter Fraß sind sie alle«, sagte der Adjutant und klapperte mit dem Schnabel. »So sagt mein Vetter auch und macht viel Wesens von solcher Jagd; aber sein Volk klettert auch nicht auf die Ufer hinauf, um seiner scharfen Nase zu entgehen. Anders ist mein Volk. Sie leben auf dem Lande in Häusern, mit ihren Rindern. Ich muß genau wissen, was sie tun oder was sie tun werden; und nehme ich Schwanz und Rüssel zusammen, wie man zu sagen pflegt, so kann ich mir den ganzen Elefanten zusammendenken. Hängen über einer Haustür ein eiserner Ring und ein grüner Zweig, so weiß der alte Mugger, daß in dem Hause ein Knabe zur Welt kam, der eines Tages zum Ghat hinunterkommen wird, um zu spielen. Soll ein Mädchen verheiratet werden – der alte Mugger weiß es, denn er sieht, wie man Geschenke in das Haus bringt; und das Mädchen kommt vor der Hochzeit zum Ghat hinunter zum Baden und … der Mugger ist da. Hat der Fluß seinen Lauf geändert und neues Land geschaffen, der Mugger weiß es.«

»Und wozu nützt dir dieses Wissen?« fragte der Schakal. »Selbst in meinem kurzen Leben hat der Fluß schon seinen Lauf geändert.«

Indische Ströme verschieben sich fast ständig in ihren Betten, manchmal bis zu drei Meilen in einer Regenzeit; sie überschwemmen dabei die Felder auf dem einen Ufer und lassen auf dem anderen fruchtbaren Schlamm zurück.

»Kein Wissen ist so wertvoll wie dieses«, sagte der Mugger, »denn neues Land bedeutet immer neuen Streit. Der Mugger weiß das. Hoho! Das weiß der Mugger! Sobald sich das Wasser verlaufen hat, schleicht er sich die kleinen flachen Buchten hinauf, wo sich, nach Meinung der Menschen, nicht einmal ein Hund verstecken könnte – und dort lauert er. Bald naht ein Landmann und überlegt, daß er hier Gurken pflanzen will und dort Melonen, auf dem Neuland, das der Strom ihm gegeben hat; und er befühlt mit seinen nackten Füßen den guten fruchtbaren Schlamm. Alsbald kommt ein zweiter des Wegs und sagt, hier will er Zwiebeln züchten und dort Rüben und dort Zuckerrohr. Dann treffen sich die beiden wie steuerlose Boote auf dem Wasser und rollen die Augen gegeneinander unter großem blauem Turban. Der alte Mugger sieht und hört. Sie nennen sich Bruder und schreiten zur Umgrenzung des Neulands. Der Mugger folgt ihnen von Grenzstein zu Grenzstein, tief im Schlick krauchend. Nun fangen sie an zu streiten, hitzige Worte fallen, die Turbane reißen sie sich herunter. Jetzt schwingen sie die Keulen, und endlich fällt einer rückwärts in den Schlamm, der andere läuft davon. Wenn er zurückkommt, ist der Streit beendet, davon zeugt der eisenbeschlagene Bambus des Verlierers, der allein noch am Boden liegt. Aber dennoch sind sie dem Mugger nicht dankbar. Nein, ›Mörder‹ schreien sie, und ihre Sippen kämpfen mit Stöcken, zwanzig auf jeder Seite. Mein Volk ist ein tapferes Volk – Jats vom Hochland, Malwahs vom Bêt. Zum Vergnügen schlagen sie nicht aufeinander los, und wenn der Kampf beendet ist, wartet der alte Mugger weit unten am Fluß, vom Dorf aus nicht sichtbar, dort, hinter dem Kikargestrüpp. Dann kommen sie hinabgestiegen, meine breitschultrigen Jats – acht oder neun zusammen –, unter dem nächtlichen Sternenhimmel, einen toten Mann auf der Bahre. Alte Männer sind sie, graubärtig, mit Stimmen, so tief wie die meine. Kleines Feuer zünden sie an – ach, ach, wie gut kenne ich das Feuer! – trinken Tabak und nicken mit den Köpfen, vorwärts im Kreise oder seitwärts nach dem Toten hin, am Ufer. Sie sagen, das englische Gesetz verhängt den Strick für solches Tun, und die Familie des Totschlägers sei geschändet, denn so ein Mann muß hängen im großen Hof des Gefängnisses. Dann sprechen die Freunde des Toten: ›Er soll hängen!‹ und dann fängt die Rede wieder von vorn an, einmal, zweimal, zwanzigmal in der langen Nacht. Endlich sagt einer: ›Der Streit war ein gerechter Streit. Nehmen wir Blutgeld, etwas mehr, als der Totschläger bietet, und schweigen wollen wir dann.‹ Dann feilschen sie lange über das Blutgeld, denn der Tote war ein starker Mann mit vielen Söhnen. Doch vor Amratvela (Sonnenaufgang) schieben sie den toten Mann ein wenig nach dem Feuer hin – das ist so ihre Gewohnheit –, und dann kommt er zu mir, und er redet nicht weiter von der Sache. Oho, meine Kinder, der Mugger weiß – der Mugger weiß –, und meine Malwahjats sind ein wackeres Volk.«

»Sie sind zu groß für meinen Kopf«, krächzte der Adjutant.

»Wert sind sie überhaupt nicht viel, denn wer kann nach dem Malwah noch Nachlese halten?« »Nun, ich halte unter ihnen selbst Nachlese«, sagte der Mugger.

»In alten Zeiten«, fuhr der Adjutant fort, »wurde in Kalkutta, dort im Süden, alles auf die Straße geworfen, und wir konnten sogar mit Auswahl aufschnabeln. Leckere Tage waren das! Heutzutage aber halten sie die Straßen so rein wie die Schale vom Ei, und unsereins findet nichts Rechtes mehr. Sauber zu sein ist ja ganz schön; aber wischen, fegen und sprengen, siebenmal an jedem Tag, das muß selbst die Götter verdrießen.«

»Ein Schakal vom Tiefland, der es von seinem Bruder gehört hatte, erzählte, in Kalkutta wären alle Schakale so fett wie Ottern in der Regenzeit«, sagte der Schakal, dem das Wasser im Munde zusammenlief.

»Äh, aber die Bleichgesichter sind dort, die Engländer, und die bringen Hunde mit in ihren Schiffen, irgendwoher unten im Fluß – große fette Hunde, und sorgen ebenso dafür, daß diese Schakale mager bleiben.«

»Dann sind also die Hunde ebenso hartherzig wie die Engländer? Das hätte ich mir denken können! Weder Erde noch Himmel noch Wasser sind barmherzig zum Schakal. Nach der letzten Regenzeit kam ich zum Zelt eines Bleichgesichts und stahl mir zum Fressen einen neuen gelben Zaum. Aber die Bleichgesichter gerben ihr Leder nicht richtig. Speiübel wurde mir danach.«

»Mir erging es noch schlimmer«, sagte der Adjutant. »Nach meiner dritten Regenzeit, als ich noch ein junger Vogel war, strich ich zum Flußdelta hinab, wo die großen Boote der Engländer einlaufen. Dreimal so groß wie das Dorf hier sind die Boote der Engländer.«

»Und bis nach Delhi kam er und erzählte dann, alle Leute dort liefen auf dem Kopf«, brüllte der Schakal. Der Mugger aber klappte das linke Auge hoch und blickte den Adjutanten scharf an.

»Es ist gewißlich wahr«, behauptete der große Vogel. »Ein Lügner lügt nur, wenn er hoffen kann, daß man ihm glaubt. Wer diese Boote nicht gesehen hat, der kann nicht glauben, daß es wahr ist.« »Das klingt schon vernünftiger«, sagte der Mugger. »Und weiter?«

»Aus dem Innern des Bootes brachten sie große Stücke eines weißen Stoffes heraus, die nach einer Weile zu Wasser wurden; viel splitterte ab und fiel auf das Ufer; den Rest trugen sie schnell in ein Haus mit dicken Mauern. Ein Schiffer nahm ein großes Stück davon, nicht größer als ein kleiner Hund, warf es mir zu und lachte dabei. Ich – mein ganzes Volk schlingt hinunter ohne Nachdenken – ich verschluckte das Stück nach unserer Gewohnheit. Gleich darauf wurde ich von einer furchtbaren Kälte gepackt, oben im Kopf fing es an und ging hinunter bis in die äußerste Zehenspitze, so kalt, daß mir die Sprache wegblieb. Der Schiffer aber lachte mich aus. Niemals habe ich eine solche Kälte gespürt! In meinem Schmerz und Entsetzen tanzte ich, bis ich wieder zu Atem kam. Und als ich wieder schnaufen konnte, da tanzte ich wieder und schrie Ach und Weh über die Falschheit der Welt; und die Schiffer lachten, bis sie umfielen. Und das Hauptwunder bei der Sache war, abgesehen von der unangenehmen Kälte, daß ich nicht das geringste im Kropf hatte, als mein Wehgeschrei zu Ende war.«

Der Adjutant hatte sein Bestes getan, um die Gefühle zu beschreiben nach Verschlingen eines sieben Pfund schweren Eisklumpens, der ihm aus einem amerikanischen, nach Kalkutta bestimmten Schiffe zugeworfen worden war in den Tagen, als Kalkutta noch nicht Maschineneis herstellte. Aber da er nicht wußte, was Eis war, der Mugger und der Schakal es noch weniger wußten, so verlor die Erzählung etwas an Glanz.

»Alles«, sagte der Mugger und klappte das linke Auge wieder zu, »alles ist möglich bei Dingen, die aus einem Boote kommen, dreimal so groß wie Muggerghat. Und nicht klein ist mein Dorf.«

Ein Pfiff ertönte von der Brücke her: Der Delhipostzug fuhr darüber hin, die Wagen waren hell erleuchtet, und ihre Schatten glitten über das Wasser hin. Der Zug donnerte über die Brücke und verschwand in der Dunkelheit; aber der Mugger und der Schakal waren so daran gewöhnt, daß sie nicht einmal die Köpfe wandten.

»Ist das etwa weniger wunderbar als ein Boot, dreimal so groß wie Muggherghat?« fragte der Adjutant und spähte zur Brücke hinauf.

»Das habe ich bauen sehen, Kind«, sagte der Mugger. »Stein kam zu Stein, und ich sah die Brückenpfeiler emporwachsen; wenn die Männer herabstürzten – merkwürdig sicher waren sie für gewöhnlich auf den Füßen –, aber wenn sie stürzten, war ich bereit. Nachdem der erste Pfeiler fertig war, dachte keiner mehr daran, den Strom abzusuchen nach der Leiche, um sie zu verbrennen. Auch damals wieder ersparte ich mir viel Mühe. Nichts Wunderbares war an dem Brückenbau.«

»Aber das, was da oben entlang läuft und die Wagen schleppt mit den Dächern, das ist doch wunderbar«, meinte der Adjutant.

»Das ist ohne Zweifel eine neue Art von Zugochsen. Es wird der Tag kommen, da verlieren sie das Gleichgewicht dort oben und werden herunterstürzen wie die Männer. Der alte Mugger wird dann bereit sein.«

Der Schakal sah den Adjutanten an. Eins wußten sie ganz gewiß: daß nämlich die Lokomotive alles andere in der Welt war als ein Ochse zum Ziehen. Der Schakal hatte das Ding oft genug beobachtet, in der Aloehecke versteckt, am Damm der Strecke; und der Adjutant kannte Lokomotiven von der Zeit an, als die erste in Indien lief. Aber der Mugger hatte immer nur tief unten hinaufgesehen und die Messingkuppel für den Buckel eines Ochsen gehalten.

»M…ja, eine neue Art von Ochsen«, wiederholte der Mugger mit Nachdruck, um sich selbst zu überzeugen.

Rasch fiel der Schakal ein: »Sicherlich ist es ein Ochse.«

»Wiederum könnte es sein«, hob der Mugger launisch an.

»Sicherlich – o ganz sicher«, unterbrach der Schakal, ohne den andern ausreden zu lassen.

»Was?« knurrte der Mugger ärgerlich, denn er fühlte, daß die andern mehr wußten als er. »Was könnte es sein? Ich sprach den Satz nicht zu Ende. Ein Ochse – so meintet ihr?«

»Alles ist es, was dem Beschützer der Armen beliebt. Ich bin sein Sklave – nicht der Diener des Dinges, das über die Brücke fährt.«

»Was es auch sein mag«, sagte der Adjutant, »jedenfalls ist es Bleichgesichterarbeit, und was mich anbelangt, so würde ich doch lieber nicht auf einem Platz lagern, der so nahe daran ist wie diese Sandbank.«

»Du kennst die Engländer nicht, wie ich sie kenne«, sagte der Mugger. »Als die Brücke gebaut wurde, war ein Bleichgesicht hier. Abends fuhr er immer in einem Boot herum, schnurrte mit den Füßen auf den Bodenplanken und flüsterte: ,Ist er hier? Ist er da? Reiche mir die Flinte her.‘ Ich vernahm ihn, noch ehe ich ihn sah – jeden Laut, den er gab, das Knarren und Schnurren und das Klappern mit der Flinte, stromauf und stromab. So sicher, wie ich ihm einen seiner Arbeiter weggeschnappt und ihm dadurch die Kosten für Holz zur Verbrennung erspart hatte, so sicher kam er abends herab an den Ghat und rief mit lauter Stimme, er werde mich jagen, werde den Strom von mir befreien – von mir, dem Mugger von Muggerghat! Kinder, ich schwamm unter dem Kiel seines Bootes Stunde für Stunde und hörte, wie er mit seiner Flinte schwimmende Holzklötze beschoß. Wußte ich dann, daß er müde geworden war, tauchte ich auf an seiner Seite und schnappte ihm den Kinnladen fast ins Gesicht. Als die Brücke fertig war, ging er fort. Alle Engländer jagen so, außer – sie werden selbst gejagt.«

»Wer jagt denn Bleichgesichter?« kläffte der Schakal erregt.

»Jetzt keiner mehr; aber zu seiner Zeit habe ich sie gejagt.«

»Ich entsinne mich noch dieser Hatz. Jung war ich damals«, sagte der Adjutant, mit dem Schnabel anzüglich klappernd.

»Ich hatte mich hier mit allen Rechten angesiedelt. Mein Dorf sollte gerade zum drittenmal neu erstehen, erinnere ich mich, als mein Vetter, der Gavial, mir Kunde brachte, daß oberhalb Benares die Wässer ungemein üppig wären. Anfangs wollte ich nicht recht dorthin wechseln, denn mein Vetter, der Fischfresser, weiß nicht immer das Gute vom Schlechten zu unterscheiden. Aber an den Abenden hörte ich mein Volk an den Ufern reden, und daraufhin beschloß ich, mich aufzumachen.«

»Und was sagten sie?« fragte der Schakal.

»Genug, um mich, den Mugger von Muggerghat, zu bestimmen, das Wasser zu verlassen und zum Fußwanderer zu werden. Ich reiste bei Nacht und benutzte unterwegs die kleinsten Flüsse, weil sie mir das Fortkommen erleichterten; aber es war zu Anfang der heißen Jahreszeit, und sehr seicht war das Wasser überall. Ich kreuzte staubige Landstraßen, kroch durch hohes Gras, erklomm Hügel im Mondlicht. Sogar Felsen erstieg ich, Kinder – bedenkt das wohl. Ich querte das Ende von Sirhind, der Wasserlosen, bis ich kleine Flüsse auffand, die zur Ganga flossen. Eine Monatsreise war ich entfernt von meinem Volk und den Ufern, die mir vertraut waren. Sehr wundersam war das!«

»Was gab es denn für Nahrung auf dem Wege?« unterbrach der Schakal, dessen Seele in seinem Magen saß und dem die Landreise des Muggers nicht wenig Eindruck machte.

»Ich fraß, was ich finden konnte, Vetter«, sagte der Mugger langsam, das letzte Wort stark betonend.

In Indien nennt man niemanden »Vetter«, wenn man nicht einen Grad von Blutsverwandtschaft nachweisen kann; und da es höchstens in Märchen vorkommt, daß der Mugger je einen Schakal heiratet, so wußte der Schakal sehr wohl, warum er plötzlich zu einem Mitglied der Muggerfamilie erhoben wurde. Wäre er mit dem Mugger allein gewesen, so hätte er sich nichts daraus gemacht; aber die Augen des Adjutanten zwinkerten vergnügt über den grausamen Witz.

»Sicherlich, Vater, ich hätte das wissen sollen«, erklärte der Schakal.

Einem Mugger liegt es nicht, Vater eines Schakals genannt zu werden; und der Mugger von Muggerghat sprach das aus – und noch viel mehr, was wir hier nicht wiederholen wollen.

»Der Beschützer der Armen erhob Anspruch auf Verwandtschaft. Wie kann ich mich des genauen Grades entsinnen? Überdies, wir fressen die gleiche Nahrung, er hat es selbst gesagt«, war die Antwort des Schakals.

Das machte die Sache noch schlimmer, denn der Schakal deutete an, daß der Mugger auf dem Überlandmarsche seine Nahrung frisch, und zwar jeden Tag frisch, gefressen hatte, anstatt sie aufzubewahren, bis sie in der richtigen anständigen Verfassung war, wie es jeder sich selbst achtende Mugger tut und auch die Mehrzahl der wilden Tiere. In der Tat ist »Frischfleischfresser« die tiefste Schmähung, beinahe so schmachvoll, als wenn man »Menschenfresser« zu jemandem sagt.

»Die Nahrung wurde vor dreißig Regenzeiten gefressen«, sagte der Adjutant ruhig. »Wenn wir auch noch dreißig Regenzeiten weiter reden, so kommt sie doch nicht wieder… Erzähle nun, was geschah, als du die guten Wasser erreichtest, nach der merkwürdigen Landreise. Lauschte man jedem Schakalgeheul, so würde das Stadtleben zum Stillstand kommen, wie man zu sagen pflegt.«

Der Mugger schien dankbar für die Unterbrechung, denn mit einem Ruck fuhr er fort zu erzählen: »Bei der Rechten und Linken der Ganga! Nie zuvor sah ich ähnliche Wasser, als ich dort ankam!«

»Waren sie besser als die große Flut in der vergangenen Regenzeit?« fragte der Schakal.

»Besser? Die Flut brachte nicht mehr als alle fünf Jahre – eine Handvoll ertrunkener Menschen, ein paar Hühner und einen toten Ochsen im Schlammwasser mit Querströmungen. Aber in der Zeit, von der ich rede, stand der Fluß niedrig, die Strömung war glatt und eben; und in der Tat, wie Gavial mir schon gesagt hatte, es kamen so viel tote Engländer den Fluß herunter, daß sie sich förmlich stauten. Damals erlangte ich meinen Umfang – meinen Umfang und meine Länge. Bei Agra, bei Etawah und in den breiten Wassern und Allahabad …«

»Ah, der Strudel unter den Mauern der Festung von Allahabad«, schwelgte der Adjutant. »Der saugte sie an, wie Speckenten ins Ried fallen, rund im Kreise wirbelten sie – so!«

Wieder verfiel er in seinen scheußlichen Tanz, während der Schakal neidisch dreinblickte. Er konnte sich natürlich nicht des grausigen Jahres der Meuterei entsinnen, von dem die anderen beiden sprachen. Der Mugger fuhr fort:

»Ja, bei Allahabad lag man still im trägen Wasser und ließ zwanzig vorbei, ehe man sich die Mühe nahm, einen zu erschnappen. Vor allem aber waren die Engländer nicht mit Schmuck behangen, hatten keine Nasenringe und Fußspangen, wie die Frauen hier am Ghat. Wer allzusehr am Schmuck hängt, endet mit einem Strick als Halsband, sagt das Sprichwort. Alle Mugger an allen Flüssen wurden damals fett, aber mein Schicksal fügte es, daß ich fetter wurde als alle. Man jage die Engländer in die Flüsse, hieß es, und bei der Rechten und Linken der Ganga: wir konnten die Nachricht glauben! Soweit ich südwärts trieb, bestätigte sich die Nachricht, und bis über Monghyr hinaus kam ich flußabwärts, vorbei an den Grabmälern, die auf den Strom hinaussahen.«

»Ich kenne den Ort«, nickte der Adjutant. »Seit den Tagen ist Monghyr eine verlassene Stadt. Nur wenige leben noch dort.«

»Dann zog ich wieder stromaufwärts, sehr langsam und behaglich. Und ein Stück oberhalb von Monghyr kam ein Boot mit Bleichgesichtern herab – alle lebend! Frauen waren es, entsinne ich mich. Sie lagen unter einem Tuch, das über Stangen ausgebreitet war, und weinten laut. In jenen Tagen wurde niemals eine Flinte auf uns Wächter der Furten abgefeuert. Alle Rohre waren anderswo beschäftigt. Landeinwärts hörten wir ihr Knattern Tag und Nacht, je nachdem der Wind wehte. Ich kam ganz an die Oberfläche, dicht neben dem Boot tauchte ich auf, denn ich hatte noch nie Bleichgesichter lebendig gesehen, obwohl ich sie auf andere Art recht gut kannte. Am Bootsrande kniete ein nacktes weißes Kind, beugte sich über und versuchte gerade, die Hände in das Wasser zu tauchen. Kinder tun das gern, und lieblich ist es, sie dabei zu beobachten. Ich hatte am Tage schon reichlich gefressen, aber ein leeres Plätzchen war immerhin noch da. Eigentlich also mehr zum Zeitvertreib fuhr ich auf die Kinderhände los. Ganz hell zeichneten sie sich ab, so daß ich kaum hinsah, als ich zuschnappte; aber sie waren so klein – bestimmt weiß ich, daß ich meine Kiefer fest schloß –, daß das Kind sie doch schnell und unbeschädigt hochzog. Offenbar sind sie zwischen Zahn und Zahn hindurchgeglitten – diese kleinen weißen Hände. Kreuzweise am Ellbogen hätte ich zupacken müssen; aber wie gesagt, eigentlich nur zum Zeitvertreib und aus Neugier war ich an die Oberfläche gekommen. Im Boot schrien sie auf, und wieder ging ich hoch, um sie zu beobachten. Und das Boot zum Umkippen zu bringen, dazu war es zu schwer. Nur Frauen saßen darin; aber wer einer Frau traut, heißt es, der schreitet auf Wasserlinsen über einen Teich. Und bei der Rechten und Linken der Ganga, Wahrheit ist das.« »Einmal gab mir eine Frau etwas getrocknete Fischhaut«, erzählte der Schakal. »Ich hatte gehofft, ihr Baby zu erschnappen, aber, wie das Sprichwort sagt, Futter vom Pferd ist immer noch besser als ein Tritt vom Pferde. Was tat deine Frau?«

»Mit einer kurzen Flinte, wie ich sie nie zuvor noch nachher gesehen habe, schoß sie auf mich: fünfmal hintereinander (der Mugger bekam es anscheinend mit einem alten Trommelrevolver zu tun); und ich verharrte mit offenem Maul gaffend, und mein Kopf war ganz von Dampf umhüllt. So ein Ding sah ich noch nie. Fünfmal, und so rasch, wie ich mit dem Schwanze schlage – so!«

Der Schakal, den die Erzählung mehr und mehr fesselte, hatte gerade noch Zeit, zur Seite zu springen, als der mächtige Schwanz wie eine Sense an ihm vorbeipfiff.

»Nicht vor dem fünften Schuß«, fuhr der Mugger fort, als hätte er nie gedacht, einen seiner Zuhörer zu treffen, »nicht vor dem fünften Schuß tauchte ich unter und kam dann rechtzeitig wieder hoch, um zu hören, wie der Bootsführer den weißen Frauen erzählte, ich wäre sicherlich tot. Eine Kugel war mir unter eine Nackenplatte gefahren. Ich weiß nicht, ob sie noch dort sitzt, denn so weit kann ich meinen Kopf nicht wenden, komm und sieh nach, Kind. Die Kugel wird beweisen, daß meine Geschichte wahr ist.«

»Ich?« sagte der Schakal zusammenfahrend. »Könnte einer, der alte Schuhe frißt und Knochen nagt, sich erdreisten, an dem Wort des Erhabenen zu zweifeln? Möge der Schwanz mir abgebissen werden von blinden neugeborenen Hunden, wenn auch nur der Schatten eines solchen Gedankens meinen demütigen Sinn gestreift hätte. Der Beschützer der Armen war leutselig genug, mir, seinem Sklaven, mitzuteilen, daß ihn einmal im Leben eine Frau verwundete. Das genügt, und ich will die Geschichte allen meinen Kindern erzählen, ohne nach Beweisen zu fragen.«

»Übergroße Höflichkeit ist so oft nicht besser als übergroße Unhöflichkeit; man kann einen Gast mit Quark ersticken, wie man zu sagen pflegt. Ich wünsche nicht, daß deine Kinder erfahren, die einzige Wunde des Muggers stamme von einer Frau. An ganz andere Dinge werden sie zu denken haben, wenn sie ihr Futter so elend zusammenkratzen müssen wie der Vater.«

»Es ist längst vergessen. Es wurde niemals ausgesprochen. Nie hat es eine weiße Frau gegeben. Kein Boot war da. Nichts – gar nichts ist geschehen.«

Die Rute des Schakals wischte durch die Luft, um zu zeigen, wie vollständig alles aus seinem Gedächtnis ausgelöscht war. Mit Würde ließ er sich nieder.

»Wahrlich, sehr vieles geschah«, sagte der Mugger, dem es zum zweitenmal in dieser Nacht mißglückte, den Freund zu überlisten.

(Aber das verübelte keiner dem anderen. Fressen und gefressen werden ist Gesetz und Recht am ganzen Strome hin; und dem Schakal blieb sein Teil von der Beute, wenn der Mugger sein Mahl beendet hatte.)

»Ich ließ das Boot weiterziehen und wandte mich stromaufwärts; als ich dann Arrah erreichte und den toten Flußarm dahinter, trieben keine toten Engländer mehr. Eine Zeitlang blieb der Fluß leer. Dann kamen zuerst ein bis zwei Tote vorüber, in roten Röcken, keine Engländer, aber alle von gleicher Art – Hindus und Purbiahs –, dann fünf bis sechs in einer Reihe nebeneinander; und zuletzt von Arrah nach Norden zu bis über Agra hinaus war es, als ob ganze Dörfer in die Wasser marschiert wären. Aus kleinen Buchten kamen sie heraus, einer nach dem anderen, wie Baumklötze in der Regenzeit heruntergeschwemmt werden. Wenn der Fluß stieg, dann kamen sie in Trupps von den Sandbänken hoch, auf denen sie gerastet hatten. Und die sinkenden Fluten schleiften sie mit sich an den langen Haaren über die Felder und durch die Dschungel. Die ganzen Nächte hindurch, während ich nordwärts zog, hörte ich die Flinten; am Tage aber durchwateten Männer mit beschuhten Füßen die Furten, und man hörte den Lärm von schweren Wagenrädern im Sande unter dem Wasser; und Tote, immer mehr Tote trug jede neue Welle herbei. Zuletzt erschrak auch ich, denn ich sagte mir: ›Wenn dies den Menschen geschieht, wie soll der Mugger von Muggerghat entkommen? Auch Boote waren da, die kamen hinter mir her, ohne Segel, und immerwährend brannten sie, wie Baumwollboote manchmal brennen–trotzdem sanken sie nicht.‹« »Ah!« sagte der Adjutant. »Solche Boote kommen nach Kalkutta im Süden. Hoch und schwarz sind sie, das Wasser peitschen sie auf hinter sich mit einem Schwanz, und sie …«

»Sind dreimal so groß wie mein Dorf. Meine Boote waren niedrig und weiß; sie peitschten das Wasser an beiden Seiten und waren nicht größer, als Boote sein sollten für jemanden, der die Wahrheit spricht. Sie machten mir große Furcht, und ich verließ die Wasser und wanderte wieder zu meinem Fluß zurück, verbarg mich am Tage und reiste bei Nacht, wenn ich nicht kleine Ströme fand, um mir vorwärtszuhelfen. Zu meinem Dorf kam ich wieder, aber hoffte kaum, daß ich mein Volk auch dort antreffen würde. Aber sie pflügten und säten und ernteten und gingen so ruhig in ihren Feldern hin und her wie ihre Rinder.«

»Und gute Nahrung war auch noch am Fluß?« fragte der Schakal.

»Mehr als ich meistern konnte. Sogar ich – und ich schlinge nicht Dreck – war übersatt und wurde, wie ich mich entsinne, etwas ängstlich bei dem endlosen Antreiben der Schweigenden. Mein Volk im Dorfe hörte ich sagen, alle Engländer wären tot; aber die, die herunterkamen mit dem Strom, Gesicht nach unten, waren keine Engländer, wie mein Volk sah. Da sprach mein Volk, das beste wäre, zu schweigen, die Steuern zu zahlen und das Land zu beackern. Erst lange Zeit danach klärte sich wieder der Strom, und die nun noch herabkamen, waren in den Fluten ertrunken, wie ich sehen konnte; und wenn es nun auch nicht mehr so leicht war, Futter zu finden, so war ich doch herzlich froh. Ein bißchen Morden ist nicht übel – aber der Mugger ist zuweilen befriedigt, wie man zu sagen pflegt.«

»Wunderbar! Höchst seltsam und wahrhaft wunderbar!« staunte der Schakal. »Von soviel gutem Essen nur erzählen zu hören, hat mich schon fett gemacht. Ist es wohl erlaubt zu fragen, was tat der Wohltäter der Armen danach?«

»Ich gelobte – und bei der Rechten und Linken der Ganga, ich schloß die Kiefer auf den Schwur –, niemals mehr umherzustreifen und zu wandern. So lebte ich denn Jahr um Jahr; sie aber liebten mich sehr und warfen mir Kränze auf das Haupt, wenn sie es hochsteigen sahen. Ja, sehr gnädig ist mir das Schicksal gewesen, der ganze Strom ist freundlich genug, meine arme gebrechliche Gegenwart zu ehren; nur – –«

»Keiner ist vollkommen glücklich vom Schnabel bis zum Schwanz«, tröstete der Adjutant. »Was kann der Mugger von Muggerghat noch wünschen?«

»Das kleine weiße Kind, das mir entkam«, sagte der Mugger und seufzte tief. »Sehr klein war es noch, aber ich habe es nicht vergessen. Ein Greis bin ich jetzt, aber ehe ich hinscheide, ist mein Wunsch, eins noch zu versuchen. Schon wahr ist es, sie sind ein schwerfüßiges, närrisches und lärmendes Volk, und das Vergnügen bei der Jagd würde nicht groß sein; aber ich denke der Tage von Benares, und wenn das Kind lebt, so wird es sich auch ihrer erinnern. Vielleicht schreitet es jetzt an den Ufern eines Stromes auf und ab und erzählte aller Welt, wie es einst seine Hände zwischen den Zähnen des Muggers von Muggerghat hatte und entkam. Sehr gnädig war mein Schicksal, aber das quält mich oft im Traum – der Gedanke an das kleine weiße Kind im Bug des Bootes.« Er gähnte und schloß den Rachen. »Ruhen will ich nun und sinnen. Haltet euch still, meine Kinder, und ehret den Bejahrten.«

Steif drehte er sich und schob sich auf die Höhe der Sandbank. Schakal und Adjutant zogen sich zurück in den Schutz eines gestrandeten Baumes nahe der Eisenbahnbrücke.

»Ein vergnügliches und einträgliches Leben war das«, grinste der Schakal und schielte zu dem Vogel hoch, der über ihm auftürmte. »Nicht ein einziges Mal, denke nur, fand er es angebracht, mir zu sagen, wo am Ufer vielleicht ein Happen für mich übriggeblieben wäre. Und dabei habe ich ihm wohl hundertmal von leckeren Sachen berichtet, die stromabwärts kamen. Wie wahr ist das Sprichwort: ›Schakal und Barbier sind vergessen, sobald das Neue erzählt ist.‹ Und jetzt will er schlafen! Arrah!«

»Wie kann der Schakal mit dem Mugger jagen!« sagte der Adjutant kühl. »Großer Dieb, kleiner Dieb; da weiß man, wer die Reste schlingt.«

Der Schakal drehte sich um, gereizt winselnd, war eben im Begriff, sich im Schutz des Baumes zusammenzurollen, als er sich plötzlich duckte und durch das zerfetzte Geäst nach der Eisenbahnbrücke äugte, die fast senkrecht über ihm war.

»Was ist?« fragte der Adjutant und lüftete besorgt einen Flügel.

»Warte, bis wir Genaues erkennen. Der Wind bläst von uns zu ihnen hin, aber nach uns schauen sie nicht – die zwei Männer dort oben.«

»Menschen sind es? Mein Amt schützt mich. Ganz Indien weiß, daß ich heilig bin.«

Der Adjutant ist der beste Gassenkehrer, frei kann er gehen, wohin es ihm immer beliebt; und so schrak er nicht hoch.

»Ich bin kaum den Tritt eines alten Schuhs wert«, sagte der Schakal, gespannt horchend. »Lausche den Schritten«, fuhr er fort, »das ist kein einheimisches Leder, das ist der beschuhte Fuß eines Bleichgesichts. Horch! Eisen schlägt auf Eisen dort oben. Eine Flinte ist es! Freund, die schwerfüßigen, närrischen Engländer sind gekommen, um mit dem Mugger zu reden!«

»Warne ihn denn. Eben noch wurde er Wohltäter der Armen genannt von einem, der nicht wenig einem verhungerten Schakal glich.«

»Möge der Vetter seine Haut selbst schützen. Stets erzählt er mir, daß von Bleichgesichtern nichts zu fürchten wäre. Und Bleichgesichter müssen es sein. Kein Dorfbewohner von Muggerghat würde es wagen, ihn anzugehen. Sieh doch, ich sagte, es wäre eine Flinte! Nun, mit etwas Glück werden wir noch vor Tag Fraß bekommen. Außerhalb des Wassers hört er schlecht und, und – diesmal ist es keine Frau!«

Ein Flintenlauf blitzte kurz auf im Mondlicht von den Trägern der Brücke herab. Der Mugger lag auf der Sandbank, reglos wie sein eigener Schatten, die Vorderfüße etwas gespreizt, den Kopf dazwischengelegt und schnarchte – wie ein Mugger.

Eine Stimme auf der Brücke flüsterte: »Ein komischer Schuß ist es – beinahe senkrecht hinunter –, aber sicher wie ein Haus. Halte hart hinter das Genick! Alle Wetter, ein Mordsbiest! Die Dörfler werden rasen, wenn er erschossen wird. Es ist der Deota (Schutzgott) der Gegend.«

»Mir gleich«, antwortete eine zweite Stimme. »An die fünfzehn meiner besten Kulis hat er weggeschnappt beim Bau der Brücke; höchste Zeit, ihm das Handwerk zu legen. Wochenlang habe ich ihm im Boot nachgestellt. Hilf mit dem Martini nach, sobald ich ihm beide Kugeln aufgebrannt habe.«

»Denke aber an den Rückschlag, eine Doppelflinte von dem Kaliber ist kein Spaß.«

»Das wird er dann schon merken. Achtung jetzt – los!«

Ein Donner krachte wie von einem kleinen Geschütz (die schwerste Elefantenbüchse dröhnt fast wie eine Kanone), und dem doppelten Feuerstrahl folgte der peitschende Knall einer Martini, deren langes Stahlmantelgeschoß einen Krokodilpanzer glatt durchschlägt. Aber schon die Explosionsgeschosse taten ihre Arbeit. Der erste Einschlag saß kurz hinter dem Genick des Muggers, eine Handbreit links vom Rückgrat, der zweite weiter unten am Ansatz des Schwanzes. In neunundneunzig von hundert Fällen gelingt es einem tödlich getroffenen Krokodil, noch in tiefes Wasser zu entkommen; aber der Mugger von Muggerghat war buchstäblich in drei Stücke geborsten. Kaum zuckte noch der Kopf, als das Leben entwich, und – platt lag er, wie der Schakal.

»Donner und Blitz! Blitz und Donner!« maunzte das kleine, erbärmliche Tier. »Ist das Ding endlich in den Fluß gestürzt, das die Wagen mit den Dächern über die Brücke zieht?«

»Eine Flinte ist es nur«, sagte der Adjutant, obgleich er bis in die Schwanzfeder zitterte. »Nichts weiter als eine Flinte. Tot ist er bestimmt. Die Bleichgesichter kommen herunter.«

Die beiden Engländer eilten die Brücke herab nach der Sandbank und standen bewundernd vor der Länge des Muggers. Ein Eingeborener trennte mit der Axt den ungeheuren Kopf vom Rumpf, und vier Männer schleppten ihn über die Landzunge fort.

»Als ich das letzte Mal meine Hand in den Rachen eines Muggers steckte«, erzählte einer der Engländer und bückte sich (es war der Erbauer der Brücke), »war ich etwa fünf Jahre alt. Ich fuhr damals in einem Boot den Fluß hinab nach Monghyr, war ein sogenanntes Meuterbaby. Meine arme Mutter war mit im Boot, und oft erzählte sie mir, wie sie Vaters alten Revolver gegen den Kopf der Bestie abgefeuert hatte.«

»Na, jedenfalls hast du Rache genommen an dem Führer der Sippschaft, wenn auch deine Nase etwas blutet von dem Rückschlag. He, Bootsleute! Bringt den Kopf ans Ufer, wir wollen ihn auskochen, um den Schädel zu bekommen. Die Haut ist zu zerfetzt und hat keinen Wert mehr. Komm jetzt schlafen. Die Nachtwache hat sich gelohnt, wie?«

Sonderbarerweise machten Schakal und Adjutant die gleiche Bemerkung, kaum drei Minuten, nachdem die Männer fortgegangen waren.

Lied der Welle

Lied der Welle

          Welle wogte an dem Strand,
Griff nach eines Mädchens Hand,
Das in Abendsonnengluten
Heimwärts wandert durch die Fluten.

Zarte Brust und schlanker Fuß,
Wahrt euch vor des Schmeichlers Gruß:
»Höre, Kind, mein sanft Gebot!
Warte! Bleib! Ich bin der Tod …«

»Drüben ruft der Liebe Glück,
Schmachvoll wär’s, ich blieb zurück.«
Dort im Fluß der helle Klang,
War’s ein Fisch, der spielend sprang?

Schlanker Fuß und zartes Herz
Harrt der Fähre heimatwärts!
»Hör‘ auf mich!« die Welle droht,
»Warte, Kind! Ich bin der Tod.«

»Liebster ruft, da muß ich eilen,
Schande träfe mich, wollt‘ ich weilen.«
Welle, Welle wogt und ringt,
Mächtig ihr den Leib umschlingt.

Töricht Herze, treue Hand,
Kleiner Fuß trat nie ans Land.
Welle wandert, Welle rot,
Wogt hinab und trägt den Tod.

Des Königs Ankus

Des Königs Ankus

Das sind die vier, die nie gestillt, die nie gefüllt seit Urbeginn –
Des Schakals Schlund, des Geiers Gier, des Affen Hand, des Menschen Sinn.
(Dschungelspruch)

Kaa, der große Felsenpython, hatte vielleicht zum zweihundertstenmal seit seiner Geburt die Haut gewechselt; und Mogli, der nie vergaß, daß er in jener Nacht zu »Cold Lairs« der Riesenschlange sein Leben verdankte, kam, um ihr Glück zu wünschen. Hautwechsel verursacht den Schlangen immer etwas Unbehagen, und sie bleiben launisch, bis die neue Haut wieder hell und schön glänzt. Kaa machte sich schon längst nicht mehr über Mogli lustig; er erkannte ihn als Meister der Dschungel an, wie die übrigen Dschungelvölker es taten, und trug ihm alle Neuigkeiten zu, die ein Python von seiner Größe naturgemäß erfährt. Was Kaa von der Mitteldschungel, wie sie es nannten – dem Leben, das sich am Boden und dicht darunter abspielt, dem Felsblock-, Höhlen- und Baumwurzelleben –, nicht wußte, das hätte man leicht auf die kleinste seiner Schuppen schreiben können.

An diesem Nachmittag ruhte Mogli in einem von Kaas mächtigen Ringen und befingerte die zerschlissene, fleckige, alte Haut, die noch verschrumpft und gedreht zwischen den Felsen lag, so wie Kaa aus ihr geschlüpft war. Der Python hatte sich sehr höflich unter Moglis breite, nackte Schultern gepackt, so daß der Knabe in einem wahrhaft lebendigen Sessel ruhte.

»Bis zu den Augenschuppen ist sie noch ganz vollständig«, sagte Mogli vor sich hin, mit der Hand spielend. »Sonderbar, die eigene Kopfhülle vor den eigenen Füßen liegen zu sehen.«

»Nun, das ist so Sitte bei meinem Volk und hat für mich nichts Sonderbares«, sagte Kaa. »Aber Füße habe ich nicht. Fühlt sich nicht deine Haut auch zuweilen hart und alt an?«

»Dann gehe ich und bade, Flachkopf. Aber es ist schon wahr, in der Zeit der großen Hitze wünschte ich oft, ich könnte mir die Haut schmerzlos abstreifen und hautlos herumlaufen.«

»Ich bade und wechsle dabei doch meine Haut. Wie macht sich mein neues Kleid?«

Mogli ließ seine Hand über die schillernden Diagonalmuster des ungeheuren Rückens gleiten. »Der Schildkrötenrücken ist härter, aber nicht so bunt«, urteilte er. »Der Frosch, mein Namensvetter, ist bunter, aber nicht so hart. Prächtig sieht sie aus, deine neue Haut, wie Tupfen im Kelch der Lilie.«

»Sie hat Wasser nötig. Meine neue Haut bekommt ihre volle Farbe erst nach dem ersten Bade. Komm! Gehen wir schwimmen!«

»Ich will dich tragen«, sagte Mogli und bückte sich lachend, um Kaa in der Mitte seines großen Leibes aufzuheben, da, wo die Walze am dicksten war. Ebensogut hätte ein Mann versuchen können, einen zwei Fuß starken Mastbaum aufzuheben. Kaa lag still und blähte sich vor Vergnügen. Dann begannen sie ihr regelmäßiges Abendspiel; der Knabe in seiner überschäumenden Kraft und der Python im Prunk seiner neuen Haut richteten sich gegeneinander auf zu einem Ringkampf – zu einer Probe auf Kraft und Schnelligkeit des Blicks. Natürlich hätte Kaa, wenn er gewollt hätte, ein Dutzend Mogli zerquetschen können; aber er spielte vorsichtig und gebrauchte nie mehr als ein Zehntel seiner Kraft. Seit Mogli stark genug war, derbes Zupacken zu vertragen, hatte Kaa ihn das Spiel gelehrt, und es machte seine Glieder geschmeidig, wie kaum etwas anderes. Zuweilen stand Mogli bis an den Hals umschlungen von Kaas wogenden Ringen und bemühte sich, einen Arm frei zu bekommen, um die Schlange an der Gurgel zu packen. Dann gab Kaa weich und federnd nach; und Mogli versuchte mit raschem Sprung den ungeheuren Schwanz zu fassen, der, sich rückwärtsschwingend, nach einem Fels oder Baumstumpf als Stütze tastete. Hin und her schwankten sie, Kopf gegen Kopf, jeder auf eine günstige Gelegenheit lauernd, bis die herrliche Gruppe der beiden verschlungenen Körper sich in einem Wirbel von gelben und schwarzen Ringen, zappelnden Armen und Beinen löste, um von neuem sich gegeneinander auszurichten. »Jetzt! Und jetzt, und jetzt!« zählte Kaa und machte überraschende Ausfälle mit dem Kopf, daß selbst Moglis flinke Hände die Finte nicht parieren konnten. »Sieh her, ich treffe dich, kleiner Bruder! Hier und hier! Sind deine Hände gelähmt?! – und wieder hier!«

Das Spiel endete stets in derselben Weise: mit einem geraden, schwingenden Schlag des Kopfes der Schlange, worauf der Knabe einen Purzelbaum schoß. Mogli brachte es nie fertig, diesem blitzartigen Stoß auszuweichen; und Kaa meinte, es nütze ihm nichts, es zu versuchen, es würde ihm doch nie gelingen.

»Gute Jagd!« rief Kaa, und wie immer wurde Mogli ein paar Dutzend Meter weit fortgeschleudert. Keuchend und lachend erhob er sich, das Gesicht voller Erde, und folgte dem weisen Kaa zu seinem Lieblingsbadeplatz. Es war ein tiefer, pechschwarzer Teich, von Felsen umsäumt, und vom Grunde ragten seltsame Baumstrünke empor. Nach Dschungelart tauchte der Knabe lautlos hinein, schwamm unter Wasser dahin, stieg wieder geräuschlos auf, warf sich auf den Rücken, die Arme unter dem Kopf gekreuzt, und sah den Mond über den Felsen aufsteigen. Kaas diamantener Kopf durchschnitt messerscharf den Tümpel, tauchte auf und ruhte dann auf Moglis Schulter. Still lagen sie und ließen wohlig das kühle Wasser ihre Glieder umspülen.

»Herrlich ist das«, sagte Mogli schläfrig nach langem Schweigen. »Das Menschenvolk, wie ich mich entsinne, legte sich zu dieser Stunde auf harte Bretter im Innern einer Falle aus Lehm; alle reinen Winde schlossen sie sorgfältig aus, zogen stinkige Tücher über ihre Köpfe und sangen abscheulich durch die Nasen. Besser ist es, in der Dschungel zu sein.«

Eine hurtige Kobra glitt vom Felsen hinab, trank, bot ihnen »Gute Jagd!« und eilte weiter.

»Sssh!« züngelte Kaa, als ob ihm plötzlich etwas einfiele. »Die Dschungel gibt dir also alles, was du dir wünschen kannst, kleiner Bruder?«

»Nicht alles«, sagte Mogli lachend. »Es wäre denn, daß es in jedem Monde einmal einen starken Schir Khan zu töten gäbe. Jetzt könnte ich ihn allein mit meinen Händen zwingen und brauchte nicht mehr die Hilfe von Büffeln. Und dann habe ich oft in der Regenzeit gewünscht, die Sonne möge scheinen, und im hohen Sommer, Regenwolken möchten die Sonne verdunkeln. Niemals ging ich leer aus bei der Jagd, aber ich wünschte immer, ich hätte eine Ziege erlegt, und hatte ich eine Ziege, dann wünschte ich, es wäre ein Bock, war es ein Bock, sollte es lieber ein Nilghai sein. Aber so geht es uns allen.«

»Und andere Wünsche hattest du nicht?« fragte die große Schlange.

»Was könnte man noch wünschen? Die Dschungel habe ich, und die Gunst der Dschungel. Gibt es noch mehr zwischen Sonnenaufgang und Nacht?«

»Nun, die Kobra sagte …«, begann Kaa.

»Welche Kobra? Die eben fortglitt, sagte nichts, sie war auf der Jagd.«

»Eine andere war es.«

»Gibst du dich viel mit dem Giftvolke ab? Ich lasse sie ihrer Wege gehen. Tod tragen sie im Vorderzahn, das aber ist nicht gut, denn sie sind klein. Was war es für eine Kobra, mit der du sprachst?«

Kaa rollte sich langsam im Wasser wie ein Schiff in schwerer See. »Drei oder vier Monde sind es her, da jagte ich in ›Cold Lairs‹, einem Ort, den du wohl kaum vergessen wirst. Und das Ding, das ich hetzte, flog kreischend an dem Brunnen vorbei nach dem Hause, dessen Wand ich einbrach deinetwegen, und verschwand dann im Boden.«

»Aber die Völker von ›Cold Lairs‹ leben nicht in unterirdischen Höhlen.« Mogli wußte, daß Kaa vom Affenvolk sprach.

»Das Ding lebte nicht, es wollte leben«, erwiderte Kaa mit schwachem Zittern der Zunge. »Es verkroch sich in einem Gang unter der Erde, der sehr weit führte. Ich folgte, tötete und schlief. Als ich erwachte, drang ich weiter vor.«

»Unter der Erde?«

»Ja. Und zuletzt traf ich auf eine weiße Kobra. Sie redete von Sachen, die mir unverständlich waren, und zeigte mir vieles, das ich nie zuvor gesehen hatte.«

»Neues Wild? Gute Jagd gab es?« fragte Mogli und warf sich rasch auf die Seite. »Nein, kein Wild, ich würde mir alle Zähne daran ausgebrochen haben. Aber die Weiße Haube raunte, daß ein Mensch – sie schien die Brut gut zu kennen –, daß ein Mensch den Atem unter seinen Rippen hergeben würde, wenn er nur diese Dinge erschauen könnte.«

»Wir wollen nachsehen«, sagte Mogli. »Einst war ich ein Mensch, entsinne ich mich.«

»Gemach – gemach! Hast tötete die gelbe Schlange, die den Sonnenball fraß. Tief unter der Erde redeten wir zwei miteinander, und ich sprach auch von dir, nannte dich einen Menschen. Da sagte die Weiße Haube (wahrlich so alt ist sie wie die Dschungel selbst): ›Lange schon ist es her, seit ich Menschen sah. Laß ihn kommen, auf daß er sehe alle diese Dinge, für deren geringstes viele Menschen ihr Leben hingeben würden.‹«

»Das muß neues Wild sein. Dennoch, die Giftvölker melden uns nie, wenn neues Wild zu spüren ist. Ungefällig sind sie.«

»Es ist kein Wild. Es ist – es ist – ich kann nicht sagen, was es ist.«

»Laß uns hingehen. Noch nie erblickte ich eine Weiße Haube. Und auch die anderen Dinge möchte ich sehen. Hat sie die alle getötet?«

»Es sind alles tote Dinge. Sie sagt, sie sei der Wächter über sie alle.«

»Aha! So wie der Wolf über dem Fleisch steht, das er in sein Lager verschleppt hat. Gehen wir!«

Mogli schwamm zum Ufer, rollte sich im Grase, um sich zu trocknen; und beide machten sich auf den Weg nach »Cold Lairs«, der verlassenen Stadt, von der ihr schon vernommen habt. Damals fürchtete sich Mogli nicht im geringsten mehr vor dem Affenvolk, wohl aber packte die Affen Entsetzen, wenn Mogli erschien. In jener Nacht trieben sich die Affenherden gerade in der Dschungel umher, so lag »Cold Lairs« verlassen und schweigend im Mondlicht. Kaa führte die Terrassen hinauf zu den Ruinen des Sommerhauses der Königin, schlüpfte über das Geröll und glitt die halb verschüttete Treppe hinab, die von der Mitte des Pavillons in die Erde führte. Mogli gab den Schlangenruf: »Wir sind vom gleichen Blute, du und ich!« und ging ihr nach, auf Händen und Knien kriechend. Lange folgten sie dem schrägen Gang, der in Windungen abwärts führte, und kamen zuletzt an ein gähnendes Loch im Mauerwerk, gesprengt von den knorrigen Wurzeln eines Baumriesen, um dessen Wipfel, dreißig Fuß über ihnen, der Nachtwind pfiff. Sie zwängten sich durch das Loch und gelangten dann in eine weite, gruftartige Höhlung, deren gewölbte Decke ebenfalls von Baumwurzeln gesprengt war, so daß bläuliche Streifen des Mondlichts die Dunkelheit ein wenig erhellten.

»Ein sicheres Lager das«, sagte Mogli und richtete den sehnigen Körper auf, »nur zu weit ab, um täglich einzufahren. Nun, was gibt es hier zu sehen?«

»Bin ich nichts?« fragte eine Stimme in der Mitte der Gruft. Und Mogli sah etwas Weißliches sich bewegen. Langsam, ganz langsam richtete sich die ungeheuerste Kobra vor ihm auf, die er je gesehen hatte, beinahe acht Fuß lang und durch die ewige Dunkelheit zu elfenbeinernem Weiß verblichen. Selbst die Brillenzeichnung auf der gespreizten Haube war zu mattem Gelb verblaßt. Ihre Augen leuchteten rubinrot, und höchst wundersam war sie anzuschauen.

»Gute Jagd!« rief Mogli, den seine Höflichkeit so wenig wie sein Messer je verließ.

»Was Neues von der Stadt?« zischelte die weiße Kobra, ohne des Grußes zu achten. »Was Neues von der mächtigen, mauerumwallten Stadt – Stadt der hundert Elefanten, der zwanzigtausend Rosse und zahllosen Rinder –, dem Herrschersitze des Königs über zwanzig Könige? Taub werde ich hier, und schon lange ist es her, seit ich die Schlachtengongs vernahm.«

»Die Dschungel breitet sich über unseren Köpfen«, antwortete Mogli. »Von Elefanten kenne ich nur Hathi und seine Söhne. Baghira zerriß alle Pferde im Dorf; und – was ist ein König?«

»Ich sagte dir«, sprach Kaa sanft zu der Kobra, »ich sagte dir schon vor drei Monden, deine Stadt stünde nicht mehr.«

»Die Stadt – die machtvolle Feste im Walde, deren Tore beschirmt sind von den Türmen des Königs –, sie kann niemals vergehen. Gebaut wurde sie, bevor meines Vaters Vater aus dem Ei kroch, und bestehen wird sie noch, wenn meines Sohnes Söhne weiß sind wie ich. Salomdhi, Sohn des Tschandrabija, Sohn des Viyeja, Sohn des Yegasuri, schuf sie, die leuchtende Stadt in den Tagen von Bappa Rawal. Wessen Vieh seid ihr?«

»Eine verlorene Fährte ist es«, sagte Mogli zu Kaa. »Ich verstehe ihre Rede nicht.«

»Ich auch nicht. Sehr alt ist sie – Urahn der Kobras, nur die Dschungel ist hier und war es von Anbeginn an.«

»Wer aber ist er«, forschte die weiße Kobra, »der da vor mir sich niedersetzt, der ohne Angst ist, den Namen des Königs nicht kennt und unsere Sprache spricht mit Menschenlippen? Wer ist der mit dem Messer und der Schlangenzunge?«

»Mogli nennt man mich«, war die Antwort. »Von der Dschungel bin ich. Die Wölfe sind mein Volk, und Kaa hier ist mein Bruder. Ahn der Kobras, wer bist du?«

»Ich bin der Wächter der Schätze des Königs. Kurrun Radscha baute den Stein über mir in den Tagen, da meine Haut dunkel war, auf daß ich Tod bringe über alle, die kommen, um zu rauben. Dann senkten sie den Schatz durch die Steinplatte hernieder, und ich hörte den Gesang der Brahmanen, meiner Meister.«

»Hm«, brummte Mogli vor sich hin. »Mit einem Brahmanen habe ich schon einmal zu tun gehabt bei dem Menschenvolk – ich weiß, was ich weiß: Böses wird auch hier bald kommen.«

»Seitdem sitze ich zur Wacht. Fünfmal wurde der Stein gehoben, immer um noch mehr und mehr zu versenken, nie, um etwas fortzunehmen. Keine Schätze in der Welt gleichen diesen – den Schätzen von Hunderten von Königen. Aber lange, lange ist es her, seit der Stein zum letztenmal gehoben ward, ich glaube, daß meine Stadt mich vergaß.«

»Es ist keine Stadt da!« rief Kaa. »Schau hinauf. Wurzeln uralter Bäume spalten die Steine. Bäume und Menschen wachsen und wuchern nicht an ein und demselben Ort.«

»Zweimal, dreimal haben Menschen den Weg hierher gefunden«, antwortete grimmig die weiße Kobra, »aber sie sprachen nicht – bis ich über sie kam, sie im Dunkeln umklammernd, und dann wimmerten sie nur kurz. Aber ihr beide, Mensch und Schlange, kommt mit Lügen und wollt mich glauben machen, daß meine Stadt nicht mehr steht und meine Wacht zu Ende geht.

Die Menschen ändern sich wenig im Lauf der Zeiten. Aber ich, ich ändere mich nie. Bis der Stein hinweggenommen wird, bis die Brahmanen herabsteigen und die Gesänge singen, die ich kenne, mich füttern mit warmer Milch und mich hinauftragen ans Tageslicht – so lange halte ich hier – ich – ich – ich und kein anderer die Wacht bei dem Horte des Königs. Tot ist die Stadt, sagt ihr, und Wurzeln sprengen die Gruft! Gut, so bückt euch denn und nehmt, was ihr begehrt. Die Erde birgt keine größeren Schätze als diese. Mensch mit der Zunge der Schlangen, wenn du lebend den Weg zurückwanderst, den du gekommen bist, dann werden Könige deine Diener sein.«

»Wieder ist die Fährte verloren«, sagte Mogli kühl. »Sollte doch etwa ein Schakal so tief unter die Erde gewühlt und die Weiße Haube gebissen haben? Sicherlich redet sie irre. Ahn der Kobras, nichts sehe ich hier, was ich mit mir nehmen könnte.«

»Bei den Göttern von Sonne und Mond«, zischte die Kobra, »Todeswahnsinn ist über dem Knaben. Bevor deine Augen für immer sich schließen, will ich dir Gnade erweisen. Blicke hin und erschaue, was vor dir Menschen niemals erschauten.«

»Wer in der Dschungel zu Mogli von Gnade reden wollte, mit dem würde es schlecht stehen«, stieß der Knabe zwischen den Zähnen hervor. »Aber die Dunkelheit ändert alles, ich weiß wohl. Hinschauen will ich, wenn es dich freut.«

Mit zusammengekniffenen Augen blickte er im Gewölbe umher und hob vom Boden eine Handvoll glitzernder Dinge auf.

»Oh«, rief er, »das ist hier derselbe Stoff, mit dem das Menschenvolk spielt; nur ist dieser gelb, der andere war braun.«

Er ließ die Goldstücke wieder fallen und ging weiter. Der ganze Boden der Gruft war bedeckt mit einer fünf bis sechs Fuß hohen Schicht gemünzten Goldes und Silbers; es war aus den Säcken, in denen es ursprünglich lagerte, herausgequollen und hatte sich die vielen Jahre hindurch gesetzt und gehäuft, wie Sand bei der Ebbe. In und auf der Schicht, aus ihr hervorstehend wie Wracks aus dem Schlick, staken edelsteinglitzernde Elefanten-Hawdahs (Sessel) aus getriebenem Silber, mit Platten von gehämmertem Gold beschlagen und reich mit Karfunkeln und Türkisen besetzt. Da waren Tragbetten und Sänften für Königinnen aus Silber und Emaille, die Stangen mit Jadegriffen und Ringen aus Bernstein; güldene Kandelaber lagen zuhauf, an deren Armen Ketten von Smaragden zitterten; fünf Fuß hohe Bildsäulen vergangener Götter aus Silber mit Diamantenaugen; Kettenpanzer, mit Gold eingelegt und mit geschwärzten, verwitterten Perlen befranst; wappengeschmückte Helme mit taubenblutfarbenen Rubinen geziert; Schilde aus Schildpatt und Rhinozeroshaut, smaragdenübersät, die Buckel und Ränder aus rotem Gold; Schwerter mit Brillantengriffen, Dolche, Jagdmesser, goldene Opferschalen, tragbare Altäre, von einer Form, wie man sie nie im Tageslicht gesehen hat, Weihrauchbehälter, Jadeschalen, Kämme, Schminktöpfe für Henna und Augenpuder – alles aus rotem, getriebenem Golde. An den Wänden lagerten unzählige Ohrringe, Armspangen, Kopfbänder, Fingerringe und Gürtel. Da waren Schwertgehenke, sieben Finger breit, mit quadratisch geschliffenen Diamanten und Rubinen besetzt; hölzerne Truhen, dreifach mit Eisen umspannt, von denen das Holz wie Zunder abfiel, und aus denen nun ganze Haufen ungeschliffener Sternsaphire, Opale, Katzenaugen, Rubine, Diamanten, Smaragde und Granaten hervorschimmerten.

Die weiße Kobra hatte recht. Nicht abzuschätzen war der Geldeswert dieser Kostbarkeiten, zusammengetragen und gehäuft aus den Kriegen, dem Raub, dem Handel und den Tributen von Jahrhunderten. Die Münzen und Edelsteine waren kaum zu zählen; das tote Gewicht des Goldes und Silbers überstieg zwei- bis dreihundert Tonnen. Noch heutigentags besitzt jeder indische Herrscher, wie arm er auch sei, einen Hort, den er ständig vergrößert. Hin und wieder – sehr selten allerdings – kommt es wohl vor, daß ein aufgeklärter Fürst vierzig bis fünfzig Ochsenkarrenladungen Silbers gegen Staatspapiere austauscht, aber die meisten bewahren ihre Schätze und halten sie sorgfältig geheim.

Mogli natürlich ahnte nichts von der Bedeutung aller dieser Gegenstände. Die Messer fesselten ihn wohl, doch da sie nicht so gut im Griff lagen wie sein eigenes, ließ er sie wieder fallen. Zuletzt aber fand er doch etwas, was ihm begehrenswert erschien: es lag auf der Kante eines Elefantensessels, halb unter Münzen begraben, und war ein drei Fuß langer Ankus – Elefantentreibstock –, einem kleinen Bootshaken ähnlich. Ein runder, glühenden Rubin bildete den Knauf; der Handgriff, acht Zoll breit, war dicht mit ungeschliffenen Türkisen besetzt, die ein sicheres Anpacken ermöglichten; darüber zog sich ein Band aus Jade mit einem Blumenmuster, mit Blüten aus feurigroten Rubinen, die aus kühlen, grünen Blättern aus Smaragden hervorlugten. Der übrige Schaft war aus Elfenbein, der spitze Stachel mit dem Widerhaken aus Stahl mit Goldeinlegearbeit, die Bilder aus der Elefantenjagd darstellten. Diese Bilder vornehmlich fesselten Mogli, denn sie hatten offenbar mit seinem Freunde Hathi, dem Schweiger, zu tun.

Die weiße Kobra war ihm dicht auf den Fersen gefolgt.

»Ist das, was du erschautest, nicht wert, das Leben dafür zu lassen?« fragte sie. »Habe ich dir nicht eine große Gunst erwiesen?«

»Ich verstehe dich nicht«, antwortete Mogli. »Hart und kalt sind diese Sachen und zum Fraß nicht zu gebrauchen. Das hier aber« – er hob den Ankus auf –, »das möchte ich mitnehmen, damit ich es draußen in der Sonne beschauen kann. Dir gehört alles, sagtest du? Gib mir den Stachel, und ich will dir dafür Frösche bringen zum Fressen.«

Die weiße Kobra zitterte förmlich vor Schadenfreude. »Gewiß will ich ihn dir geben«, sagte sie. »Alles – alles sei dein eigen hier – alles – bis du von uns gehst.«

»Sogleich werde ich gehen. Dunkel und kalt ist dieser Ort. Ich will dieses dornspitzige Ding mit in die Dschungel nehmen.«

»Blicke hinab zu deinen Füßen. Was liegt da?«

Mogli hob etwas Glattes und Weißes auf. »Der Knochen von einem Menschenschädel ist es«, sagte er gelassen; »hier liegen noch zwei weitere.«

»Vor vielen Jahren kamen sie, um den Schatz zu heben. Im Dunkel der Gruft raunte ich ihnen zu, da lagen sie still.«

»Was soll ich mit dem, was du Schatz nennst? Aber schenkst du mir den Ankus, so bedeutet das ›Gute Jagd‹. Willst du ihn mir nicht geben, nun – ›Gute Jagd‹ ist dann auch. Mit den Giftvölkern streite ich nicht, und das Meisterwort deines Stammes ist mir bekannt.« »Hier gilt nur ein einziges Meisterwort: das meine!«

Kaa schwang sich vor mit blitzenden Augen. »Wer hieß mich den Menschen bringen?« zischte er grimmig.

»Ich natürlich«, lispelte die alte Kobra. »Lange ist es her, seitdem ich den Menschen sah, und dieser Mensch hier spricht unsere Sprache.«

»Aber von Töten war keine Rede«, entgegnete Kaa. »Kann ich zur Dschungel zurückkehren und sagen, daß ich ihn in den Tod geführt habe?«

»Ich spreche nicht von Töten – vor der Zeit. Und was dein Gehen oder Nichtgehen betrifft, dort ist das Loch in der Mauer. Friede nun, du fetter Affenvertilger! Ich brauche nur deinen Nacken zu berühren, und die Dschungel weiß nichts mehr von dir. Niemals drang ein Mensch an diesen Ort, der ihn wieder verlassen hätte mit Atem unter seinen Rippen. Der Hüter bin ich vom Schatz des Königs der großen Stadt.«

»Ich sagte dir bereits, du weißer Wurm der Nacht«, schrie Kaa, »weder König ist mehr da noch Stadt! Die Dschungel allein ist über uns.«

»Aber der Schatz ist noch da. Nur eins mag noch geschehen. Verharre noch ein Weilchen, Kaa von den Felsen, und sieh den Knaben rennen. Raum genug ist hier für große Hatz. Leben ist schön, Knabe, renne hin und her noch ein bißchen und belustige uns!«

Mogli legte ruhig seine Hand auf Kaas Haupt. »Die Weiße da hat bisher nur mit Menschen und Menschenvolk zu tun gehabt. Mich kennt sie nicht«, flüsterte er. »Jagd hat sie gefordert, sie soll sie haben.«

Mogli stand da, mit dem Ankus in der Hand, die Spitze nach unten gekehrt. Blitzschnell schleuderte er den Stab, die gabelförmige Spitze traf dicht hinter der Haube die große Schlange und nagelte sie auf dem Boden fest. Schon auch lag Kaas Gewicht auf dem sich windenden Körper und lähmte ihn von der Haube bis zum Schwanz. Die roten Augen der Kobra flackerten. Der freie Kopf peitschte wütend nach rechts und links.

»Töte!« rief Kaa, als Moglis Hand zum Messer fuhr.

»Nein«, sagte er und zog die Klinge heraus. »Nie wieder will ich töten, außer zur Nahrung. Aber sieh her, Kaa!« Er packte die Kobra hinter der Haube, zwang ihr mit der Klinge des Messers den Rachen auf und zeigte, daß die furchtbaren Giftzähne des oberen Kiefers schwarz und verdorrt im Zahnfleisch staken. Die weiße Kobra hatte ihr Gift überlebt, wie es bei Schlangen vorkommt.

»Sie sind verdorrt«, sagte Mogli, und Kaa zur Seite schiebend, zog er den Ankus aus dem Boden und gab die Kobra frei.

»Des Königs Schatz bedarf eines neuen Wächters«, sagte er ernst, »Thuu – das heißt ,Verdorrte‘ –, du hast ausgedient. Renne hin und her, Thuu, und belustige uns!«

»Geschändet bin ich, töte mich«, zischte die weiße Kobra.

»Zuviel war schon von Töten die Rede, jetzt wollen wir gehen. Das dornenspitze Ding nehme ich mit, Thuu, denn ich kämpfte mit dir und habe dich überwältigt.«

»So sieh denn zu, daß das dornenspitze Ding nicht dich tötet. Es ist der Tod! Vergiß nicht, der Tod! In dem Ding ist genug, um allen Menschen in meiner Stadt den Tod zu bringen. Nicht lange wirst du es behalten, Dschungelmensch, noch der, der es von dir nimmt. Töten, töten und töten werden sie um des Dinges willen. Verdorrt ist meine Kraft, aber der Ankus wird mein Werk für mich tun. Er ist der Tod – der Tod – der Tod!«

Mogli kroch durch das Loch in der Mauer. Als letztes sah er noch, wie die weiße Kobra wutentbrannt ihre verdorrten Giftzähne in die starren, goldenen Gesichter der Götter schlug, die auf dem Boden herumlagen, und dabei zischte: »Er ist der Tod!«

Wie erlöst waren sie beide, als sie wieder das Tageslicht erblickten. Heimgekehrt zur eigenen Dschungel, ließ Mogli den Ankus im Morgenlicht glitzern und freute sich fast so darüber, als wenn er sich ein Bündel frischer Blumen ins Haar gesteckt hätte.

»Heller glänzt er als die Augen Baghiras«, sagte er, den Rubin drehend und wendend. »Zeigen will ich es ihnen. Aber was meinte die Weiße Haube, als sie vom Tode sprach?«

»Ich kann es nicht sagen«, antwortete Kaa. »Traurig bin ich bis in die Spitze meines Schwanzes, daß sie nicht dein Messer zu fühlen bekam. Unglück stets lastet auf ›Cold Lairs‹ – über und unter der Erde. Jetzt aber hungert mich. Jagst du mit mir in der Morgendämmerung?« »Nein, Baghira soll das Ding gleich sehen. Gute Jagd!«

Mogli sprang davon, den schweren Ankus schwingend. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, um ihn zu bewundern; dann kam er an den Teil der Dschungel, wo Baghira sich meist aufhielt. Er fand ihn saufend nach schwerem Töten. Mogli erzählte ihm seine Abenteuer, wobei Baghira ab und zu den Ankus beschnüffelte. Als Mogli die letzten Worte der weißen Kobra wiederholte, schnurrte Baghira zustimmend.

»Die Weiße Haube sprach also wahr?« fragte Mogli hastig.

»In den Käfigen des Königs zu Oodeypore kam ich zur Welt, und so weiß ich einiges von den Menschen. Viele würden dreimal in einer Nacht töten, nur um des einen großen roten Steins willen.«

»Aber der dumme Stein macht das Ding nur schwer in der Hand. Mein scharfes Messer ist viel nützlicher und – sieh, auch fressen kann man den roten Stein nicht. Warum also sollten sie töten um seinetwillen?«

»Mogli, geh‘ hin und leg‘ dich schlafen. Du hast unter Menschen gelebt und…«

»Und jetzt entsinne ich mich. Menschen töten nicht, um zu jagen, nein, zum Vergnügen und aus Bosheit. Wache auf, Baghira! Zu welchem Zweck diente denn das dornenspitze Ding?«

Baghira, sehr schläfrig, öffnete halb die Augen, und boshaft glänzten sie. »Die Menschen schufen es, um es in die Köpfe der Söhne Hathis zu stoßen, damit Blut herausfließt. Ich sah das oft in den Straßen von Oodeypore, vor unseren Käfigen. Das Ding da hat Blut von vielen Brüdern Hathis gekostet.«

»Aber warum stechen sie in die Köpfe von Elefanten?«

»Um sie Menschengesetz zu lehren! Da sie weder Klauen noch Hauer haben, machen die Menschen solches mit ihnen – und noch Schlimmeres.«

»Blut und immer wieder Blut, wenn ich an Dinge gerate, die vom Menschenvolk geschaffen wurden«, sagte Mogli angeekelt. Schwerer noch als zuvor schien ihm der Ankus. »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich ihn nicht mitgenommen haben. Erst war es Messuas Blut an den Stricken, nun ist es das Blut Hathis und seiner Kinder. Ich will nichts mehr damit zu schaffen haben, schau her!«

Der Ankus flog blitzend im hohen Bogen durch die Luft und grub sich dann mit der Spitze in den Boden, dreißig Meter entfernt unter den Bäumen. »Nun sind meine Hände frei vom Tode«, sagte Mogli und rieb seine Handflächen auf der frischen feuchten Erde. »Die Haube sprach, Tod würde mir folgen. Alt ist sie, weiß und wirr.«

»Weiß oder schwarz, Tod oder Leben, ich geh‘ jetzt schlafen, kleiner Bruder. Ich kann nicht die ganz Nacht durch jagen und dann den ganzen Tag heulen, wie manche Völker.«

Baghira trabte fort, nach einer ihm bekannten Jagdhöhle, die zwei Meilen entfernt lag. Mogli suchte sich einen geeigneten Baum, knotete ein paar Schlingpflanzen zusammen und schaukelte in kürzerer Zeit, als sich’s erzählen läßt, in einer Hängematte fünfzig Fuß über dem Boden. Er hatte keine ausgesprochene Abneigung gegen Tageslicht, dennoch befolgte er die Sitte seiner Freunde und vermied es soviel wie möglich. Als er von dem vielstimmigen Lärm der in den Bäumen hausenden Völker geweckt wurde, war es wiederum Zwielicht; geträumt hatte er von den wundersamen Steinen, die er von sich geworfen.

»Wenigstens will ich mir das Ding noch einmal anschauen«, sagte er und ließ sich an einer Schlingpflanze auf den Boden gleiten. Baghira aber stand bereits vor ihm. Mogli hörte im Halbdunkel sein leises Fauchen.

»Wo ist das dornenspitze Ding?« rief Mogli.

»Ein Mensch hat es mitgenommen. Hier ist noch seine Fährte.«

»Nun werden wir sehen, ob die Haube die Wahrheit sprach. Wenn das spitze Ding der Tod ist, muß der Mensch sterben. Folgen wir ihm.«

»Jagen wir erst«, sagte Baghira. »Ein leerer Magen macht das Auge achtlos. Menschen gehen sehr langsam, und die Dschungel ist feucht genug, daß auch die schwächste Spur sichtbar bleibt.«

So schnell es ging, schlugen sie eine Beute; aber es vergingen doch fast drei Stunden, bis sie Mahl und Trank beendet hatten und der Fährte zu folgen begannen. Das Dschungelvolk weiß, daß nichts wichtig genug ist, um sich beim Fressen zu überhasten. »Glaubst du, daß das spitze Ding sich in der Menschenhand umdrehen und ihn töten wird?« fragte Mogli. »Die Haube sagte, es wäre der Tod.«

»Wir werden sehen, wenn wir finden«, gab Baghira zurück und trottete mit gesenktem Kopf dahin. »Einzelfuß ist es.« (Er meinte, daß die Spur nur von einem Manne herrührte.) »Und das Gewicht des Dinges hat seine Fersen tief in den Boden gedrückt.«

»Hei! Das ist klar wie ein Blitz in der Sommernacht!« antwortete Mogli. Sie fielen in den raschen, taktmäßigen Fährtentrab und folgten durch das wechselnde Mondlicht der Spur der zwei nackten Füße.

»Hier ist er schneller gelaufen«, sagte Mogli. »Die Zehen stehen weit auseinander.« Sie kamen nun über sumpfigen Grund. »Warum ist er hier seitwärts abgebogen?«

»Warte«, sagte Baghira und schwang sich mit einem mächtigen Satz voraus, soweit er nur konnte. Sobald eine Fährte unklar wird, ist es zunächst notwendig, einen Sprung nach vorwärts zu machen, um von den eigenen verwirrenden Fußspuren freizukommen. Als Baghira gelandet war, wandte er sich um und rief:

»Hier kommt eine andere Fährte mit der ersten zusammen. Ein kleinerer Fuß ist die zweite Spur, und die Zehen stehen einwärts.«

Mogli eilte hinzu und betrachtete die neue Spur. »Es ist der Fuß eines Gondjägers«, sagte er. »Sieh, hier schleifte er den Bogen über das Gras. Deshalb drehte die erste Fährte so schnell nach der Seite ab. Großer Fuß barg sich vor kleinem Fuß.«

»So ist es«, sagte Baghira. »Wenn wir jetzt gemeinsam folgen, trüben wir die Zeichen. Jeder von uns nimmt eine Fährte auf. Ich bin großer Fuß, kleiner Bruder, und du bist kleiner Fuß, der Gond.«

Baghira sprang zurück auf die ursprüngliche Fährte und ließ Mogli an der Kreuzung zurück. Der stand gebeugt über die sonderbare Spur der einwärtsstehenden Zehen des kleinen wilden Mannes der Wälder.

»Jetzt«, rief Baghira, Schritt für Schritt an der Kette der Fußspuren entlangtretend, »jetzt wende ich, großer Fuß, hier zur Seite. Jetzt verberge ich mich hinter einem Felsblock und verharre regungslos und wage nicht, meine Füße zu verschieben. Gib deine Fährte an, kleiner Bruder.«

»Ich, kleiner Fuß, komme zu dem Felsen«, rief Mogli, auf seiner Fährte laufend. »Nun setze ich mich unter dem Felsen nieder, stütze mich auf die rechte Hand und stelle den Bogen zwischen die Zehen. Lange warte ich so, denn tief ist hier die Spur meiner Füße.«

»Auch ich«, antwortete Baghira, hinter dem Felsen verborgen.

»Ich verharre, den Knauf des dornenspitzen Dinges auf einen Stein gestützt. Es gleitet ab, hier ist eine Schramme auf dem Stein. Gib Laut auf deiner Fährte, kleiner Bruder.«

»Ein, zwei dürre Zweige sind hier gebrochen und ein großer Ast«, antwortete Mogli gedämpft. »Wie deutet sich das? Aha! Nun ist alles klar! Ich, kleiner Fuß, gehe weg, geräuschvoll, laut stampfend, damit großer Fuß mich hören möge.« Schritt für Schritt bewegte sich Mogli von dem Felsen fort, und seine Stimme schwoll an, als er sich einem kleinen Wasserfall näherte. »Ich – gehe – weit – weg –, dort – dorthin – wo rauschendes – Wasser – mein – Geräusch – verdeckt; und – hier – warte ich. Künde deine Fährte, Baghira, großer Fuß.«

Der Panther sprang nach allen Richtungen, um auszumachen, wie die Fährte von großer Fuß von dem Felsen ab verlief. Dann rief er:

»Auf den Knien krieche ich hinter dem Felsen hervor, das dornenspitze Ding schleppe ich nach. Niemanden sehe ich; springe auf und renne. Großer Fuß rennt scharf. Deutlich ist die Fährte. Jeder folge der seinen. Ich laufe.«

Baghira fegte auf der deutlich gezeichneten Fährte hin, und Mogli folgte den Fußspuren des Gond. Kurze Zeit lag Schweigen über der Dschungel.

»Kleiner Fuß, wo bist du?« tönte es dann von Baghira herüber. Moglis Stimme antwortete kaum fünfzig Meter zur Rechten.

»Um!« knurrte der Panther. »Nebeneinander laufen die zwei, jetzt nähern sie sich langsam!«

Noch eine halbe Meile etwa liefen sie nebeneinander hin; dann rief Mogli, dessen Kopf nicht so nahe der Erde war wie der Baghiras: »Sie trafen zusammen. Gute Jagd! Schau! Hier stand kleiner Fuß, ein Knie auf einem Felsblock und dort, wahrhaftig, ist großer Fuß.«

Nicht zehn Meter von ihnen entfernt, über zerbröckelten Fels hingestreckt, lag der Leichnam eines Dörflers aus dem Distrikt, Rücken und Brust durchbohrt von einem befiederten Gondpfeil.

»War die Haube wirklich so alt und so wirr, kleiner Bruder?« fragte Baghira sanft. »Ein Tod ist hier zum wenigsten.«

»Folgen wir weiter. Aber wo kam der Elefantenbluttrinker hin – der rotäugige Dorn?«

»Kleiner Fuß hat ihn vielleicht. Jetzt ist wieder nur Einzelfuß.«

Die einzelne Spur eines leichten Mannes, der mit einer Last auf der linken Schulter schnell gelaufen sein mußte, führte über einen mit trockenem Gras bewachsenen Hang hin, wo jeder Fußtritt den scharfen Augen wie in glühendes Erz gegossen erschien.

Keiner gab Laut, bis die Fährte sie bis an die Asche eines Feldfeuers führte, das in einer Schlucht verborgen schwelte.

»Wieder!« sagte Baghira, plötzlich anhaltend, als wäre er zu Stein verwandelt.

Der Leichnam eines kleinen hageren Gond lag mit den Füßen in der Asche kohlend; Baghira äugte fragend zu Mogli hinüber.

»Das ist mit einem Bambus geschehen«, sagte der Knabe nach einem Blick auf den Toten. »Mit solchem Ding hütete ich Büffel, als ich dem Menschenvolk diente. Die Weiße Haube – betrübt bin ich, über sie gelacht zu haben – kannte gut das Gesicht; ich hätte es wissen können. Sagte ich nicht, Menschen töten aus Bosheit?«

»Ja, sie töten um der roten und blauen Steine willen«, sagte Baghira. »Bedenke, ich war in den Käfigen des Königs zu Oodeypore.«

»Eins, zwei, drei, vier Fußspuren«, zählte Mogli, über die Feuerstelle gebeugt. »Vier Fährten von beschuhten Männern. So schnell wie die Gond laufen sie nicht. Was kann ihnen der kleine Waldmensch Böses getan haben? Sieh, alle fünf standen beieinander und redeten zusammen, bevor sie ihn töteten. Kehren wir zurück, Baghira! Schwer ist mein Magen in mir, dennoch wippt er auf und ab, wie das Nest des Pfingstvogels auf der äußersten Spitze des Astes.«

»Keine gute Jagd ist es, wenn man das Wild entwischen läßt«, sagte der Panther. »Folge! Nicht weit sind die acht beschuhten Füße gegangen.«

Eine Stunde lang sprach keiner ein Wort, indes sie der breiten Fährte der vier Männer folgten.

Hell und heiß stand bereits die Sonne am Himmel, da sagte Baghira: »Rauch rieche ich.«

»Immer fressen die Menschen lieber als laufen«, antwortete Mogli, indes er das niedrige Gestrüpp der neuen Dschungel kreuz und quer durchspürte. Baghira, etwas zur Linken, machte plötzlich ein unbeschreibliches Geräusch in der Gurgel.

»Hier ist einer, der kein Futter mehr braucht«, sagte er. Ein Haufen zerschlissener, buntfarbiger Kleider lag unter einem Busch, und ringsum war Mehl verstreut.

»Das geschah wieder mit dem Bambus«, sagte Mogli. »Sieh, solchen weißen Staub essen die Menschen. Sie haben diesem, der ihr Futter trug, den Tod gegeben – geben ihn nun Tschil, dem Geier, zum Futter.«

»Der dritte ist es«, sagte Baghira.

»Frische dicke Frösche will ich der Weißen Haube bringen, sie fett zu machen«, sagte Mogli zu sich selbst. »Der Elefantentrinker ist der Tod selbst – aber noch verstehe ich nicht!«

»Folge!« rief Baghira.

Sie waren kaum eine halbe Meile weiter vorgedrungen, als sie Ko, die Krähe, das Totenlied singen hörten im Wipfel eines Tamarindenbaumes, unter dessen Schatten drei Männer hingestreckt lagen. In der Mitte des Kreises rauchte ein halberloschenes Feuer unter einer eisernen Platte, auf der Brotkuchen verkohlten. Dicht bei dem Feuer lag, hell im Sonnenlicht glitzernd, der mit Rubinen und Türkisen bedeckte Ankus.

»Schnell arbeitet das Ding. Hier endet alles«, sagte Baghira. »Wie aber kamen diese Menschen um, Mogli? Kein Fleck noch Wunde ist an ihnen.«

Ein Dschungelbewohner weiß aus Erfahrung mehr über giftige Pflanzen und Beeren als die meisten Ärzte. Mogli roch in den Rauch, der vom Feuer hochstieg, brach ein Stück des geschwärzten Brotes, kostete es und spie es wieder aus.

»Apfel des Todes«, hustete er. »Der erste muß ihn in das Futter gemischt haben für die anderen, die ihn töteten, nachdem sie den Gond getötet hatten.«

»Große Jagd – wahrlich«, rief Baghira, »Tod folgt auf Tod.«

»Apfel des Todes« nennt man in der Dschungel den Dornapfel oder Datura – das stärkste Gift in ganz Indien.

»Was nun?« fragte der Panther. »Du und ich, müssen wir nun einander töten, für den rotäugigen Schläger dort?«

»Kann er reden?« flüsterte Mogli. »Habe ich ihn beleidigt, als ich ihn fortwarf? Zwischen uns kann er nicht Unheil stiften, denn wir wünschen nicht, was Menschen begehren. Bleibt er aber hier liegen, wird er sicherlich weiter Menschen töten, einen nach dem anderen, so schnell, wie Nüsse von den Bäumen fallen im Sturm. Liebe zu Menschen habe ich nicht, aber selbst ich will nicht, daß sechs in einer Nacht umkommen.«

»Was tut es? Nur Menschen sind es! Sie töteten einander und fanden Lust daran«, sagte Baghira. »Gut jagte der erste kleine Waldmensch.«

»Junge sind sie nichtsdestoweniger; ein Junges würde sich ersaufen, um den Mond im Wasser zu beißen. Meine Schuld war es«, sprach Mogli, der redete, als ob er alles über alles wüßte. »Niemals wieder schleppe ich fremde Dinge in den Dschungel – und wären sie wie Blumen so schön. Dieser«, behutsam hob er den Ankus auf, »kehrt zu dem Ahn der Kobras zurück. Aber schlafen müssen wir erst und schlafen können wir nicht in der Nähe der Schläfer dort. Auch müssen wir ihn vergraben, er könnte sonst fortrennen und noch sechs weitere töten. Scharre ein Loch unter dem Baume.«

»Aber, kleiner Bruder«, wandte Baghira ein, dem Baum zuschreitend, »ich sage dir, nicht der Blutsäufer hat schuld. An den Menschen liegt alles.«

»Einerlei«, entgegnete Mogli. »Tief grabe das Loch. Wenn wir erwachen, hole ich ihn heraus und trage ihn zurück.« Zwei Nächte später, als die weiße Kobra im Dunkel der Gruft lag – geschändet, bestohlen, einsam –, wirbelte der von Edelsteinen funkelnde Ankus durch das Loch in der Mauer und fiel klirrend in das Meer güldener Münzen am Boden.

»Urahn der Kobras!« rief Mogli – er blieb wohlweislich außerhalb der Mauer –. »Nimm dir aus deinem Volke einen Jungen und Starken zu Hilfe, um den Schatz des Königs zu hüten, auf daß nie wieder ein Mensch diesen Ort lebend verlasse.«

»Ah, ah! Er kehrt also heim«, murmelte die alte Kobra und wand sich liebkosend um den Ankus. »Ich sagte doch, das Ding ist der Tod. Wie kommt es, daß du noch lebst?«

»Bei dem Bullen, für den Baghira mich in das Rudel der Sioniwölfe einkaufte, ich weiß es nicht! Das Ding hat sechsmal getötet in einer Nacht. Bewahre es wohl in ewiger Finsternis.«

Gesang des kleinen Jägers

Gesang des kleinen Jägers

                Eh‘ Mor, der Pfau, aufflattert,
      eh‘ das Affenvolk erwacht,
Eh‘ Tschil, der Geier,
      stößt zu Tal voll Gier –
Durch die Dschungel fliegt ein Schatten,
      und ein Seufzen stöhnet sacht –
Das ist Furcht, o kleiner Jäger –
      Furcht ist hier!

Sachte, sachte, an dem Hang
      heimlich, lauernd schleicht’s entlang,
Und ein Flüstern regt sich ängstlich
      fern und nah –
Und der Schweiß deckt dein Gesicht,
      denn vorüber strich’s ganz dicht –
Das ist Furcht, o kleiner Jäger –
      Furcht ist da!

Eh‘ der Mond den Fels erklomm,
      eh‘ den Grat in Licht er taucht,
Wann des Waldvolks Schwänze
      hangen schwer und feucht,
Ha! ein Atem heiß dich haucht –
      schnobernd durch die Nacht es faucht –
Das ist Furcht, o kleiner Jäger –
      Furcht da schleicht!

Auf die Knie, den Strang gestrafft,
      von der Sehne schnell den Schaft –
In das höhnend leere Dickicht
      wirf den Speer –
Bebend sinket dir die Hand,
      aus der Wang‘ das Blut entschwand –
Nah ist Furcht, o kleiner Jäger –
      Furcht schlich her!

Wenn die Wolke saugt den Sturm,
      krachend sich ihm beugt der Wald,
Wenn im Regensturz
      des Himmels Dach zerbricht,
Durch des Donners Toben hallt,
      horch – ein Ton, der lauter schallt –
Furcht, o kleiner Jäger,
      Furcht da spricht!

Höher schwillt des Stromes Lauf,
      wilder tanzt der Kiesel Hauf‘,
Zuckend Blitz auf Blitz
      das Blättermeer durchfurcht,
Angst vertrocknet Kehl‘ und Lippen,
      und das Herz tost an die Rippen,
Hämmert: Furcht – o kleiner Jäger –
      das ist Furcht!

Der Frühlingslauf

Der Frühlingslauf

Mensch geht zu Mensch!
    Gebt die Losung durch die Dschungel!
Er, der unser Bruder war, geht hin.
Hört es und richtet,
    Geschlechter ihr von der Dschungel!
Sagt, wer hält ihn – wendet seinen Sinn?

Mensch geht zu Mensch!
    Hört ihn weinen in der Dschungel!
Schwer ist unsres Bruders Herz betrübt!
Menschenfährten sucht er –
    Nimmer seiner Spur in der Dschungel
Dürfen folgen wir, die ihn geliebt!

Zwei Jahre nach der großen Rothundschlacht und dem Tode Akelas war Mogli annähernd siebzehn Jahre. Er sah älter aus, denn ständige Bewegung, kräftige Nahrung und Bäder, sooft er sich erhitzt oder staubig fühlte, hatten ihn weit über seine Jahre hinaus stark und kräftig gemacht. Er konnte sich mit einer Hand an dem obersten Zweig eines Baumes festhalten und eine halbe Stunde im Schwunge bleiben, wenn er die Baumwege überschauen wollte. Einen jungen Bock konnte er mitten im Galopp anhalten, ihn am Kopf packen und ihn aus der Bahn schleudern. Selbst die mächtigen, wilden blauen Eber, die in den Morästen des Nordens lebten, konnte er umwerfen. Als er jung war, fürchteten und achteten ihn die Dschungelvölker um seiner Klugheit willen, jetzt aber zitterten sie vor seiner Kraft. Glitt er geräuschlos durch den Wald, für sich spürend und jagend, dann genügte schon die Kunde seines Kommens, um die Waldpfade von Tieren frei zu machen. Noch immer war der Blick seiner Augen sanft. Selbst beim Kampf flammten seine Augen niemals, wie die Baghiras, nur gespannter und erregter leuchteten sie auf; das aber gehörte zu den Rätseln, die auch Baghira sich nicht zu erklären vermochte.

Er befragte Mogli darüber. Der Knabe lachte und sagte: »Wenn ich meine Beute verfehle, so bin ich zornig; gehe ich zwei Tage leer aus, dann werde ich sehr zornig. Sprechen dann meine Augen nicht davon?«

»Hungrig ist der Mund, aber die Augen schweigen«, erwiderte Baghira. »Beim Jagen, Fressen, Schwimmen – sie bleiben sich immer gleich, wie Steine im nassen oder trockenen Wetter.«

Mogli blickte ihn lässig unter seinen langen Wimpern an, und wie stets senkte der Panther den Kopf. Baghira kannte seinen Meister.

Fernab lagerten sie an einer Hügelkette, mit dem Blick auf den Waingunga; unter ihnen hingen die Morgennebel in weißen und grünlichen Schwaden. Die Sonne stieg auf und tauchte die Täler in wallende Meere roten Goldes; die Nebel zogen ab, und matte Strahlen streiften den grasigen Hang, auf dem Mogli und Baghira ruhten. Das war zu Ende der kalten Jahreszeit. Die Bäume und Blätter sahen fahl und verwelkt aus, und ein dürres Rascheln klang durch die Wälder, wenn der Wind hindurchstrich. Vom Luftzug gleichmäßig bewegt, schlug – tapp, tapp – ein einzelnes Blatt gegen dürren Zweig. Das Geräusch weckte Baghira; mit tiefem, hohlem Husten sog er die Morgenluft ein, warf sich auf den Rücken und schlug mit der Vorderpfote nach dem nickenden Blatt über ihm.

»Das Jahr wendet«, sagte er. »In der Dschungel regt es sich. Die Zeit der ›Neuen Rede‹ naht. Das Blatt weiß es. Sehr gut und schön ist das.«

»Das Gras ist trocken«, antwortete Mogli und riß einen Büschel aus. »Selbst Frühlingsauge (eine kleine, wächserne, trompetenförmige rote Blume, die hier und da zwischen dem Gras steht) – selbst Frühlingsauge ist geschlossen. Und, Baghira, schickt es sich für einen Panther, so auf dem Rücken zu liegen und mit den Pfoten in die Luft zu schlagen, als wäre er eine Baumkatze?«

»Auoho!« machte Baghira. An anderes schien er zu denken.

»Ich sage: schickt es sich für den schwarzen Panther, so zu maulen und zu husten und zu heulen und sich herumzuwälzen? Bedenke, wir sind die Meister der Dschungel – du und ich.«

»Ja, in der Tat. Ich höre, Menschenjunges.« Baghira warf sich herum und setzte sich aufrecht. Staub bedeckte seine zerlumpten schwarzen Flanken, denn er war gerade dabei, sein Winterfell abzulegen. »Gewiß sind wir die Meister der Dschungel! Wer ist so stark wie Mogli! Wer so weise wie er?« Seltsam dehnte er seine Stimme, so daß Mogli sich umwandte, um zu sehen, ob der schwarze Panther sich vielleicht über ihn lustig machte, denn die Dschungel ist voll von Worten, die anders lauten, als sie gemeint sind. »Ich sagte, wir sind ohne Frage die Herren der Dschungel«, wiederholte Baghira. »Tat ich unrecht? Ich wußte nicht, daß das Menschenjunge nicht mehr am Boden liegt. Will es davongehen?«

Mogli saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und blickte über die Täler hinweg nach der Sonne. Irgendwo in den Wäldern übte ein Vogel mit rauher Stimme die ersten Töne seines Frühlingsliedes. Nur ein schwacher Abglanz war es des fließenden, quellenden Rufs, der sich später aus der Kehle des kleinen Sängers ergießen würde; aber Baghira verstand ihn.

»Ich sagte, die Zeit der ›Neuen Rede‹ sei nahe«, schnurrte der Panther, leicht mit dem Schweif schlagend.

»Ich höre«, gab Mogli zurück. »Baghira, warum erschauerst du über und über? Die Sonne scheint doch warm.«

»Ferao ist das, der scharlachrote Specht«, sagte Baghira. »Der weiß es noch. Nun muß auch ich meinen Gesang üben.«

Und er begann, vor sich hin zu schnurren und zu purren, fing aber immer wieder unbefriedigt von vorne an.

»Kein Wild ist in der Nähe«, sagte Mogli.

»Sind deine beiden Ohren verstopft, kleiner Bruder? Kein Jagdruf ist das, sondern mein Lied, das ich rechtzeitig üben muß.«

»Ach ja, ich vergaß. Aber ich werde es schon merken, wenn die Zeit der ›Neuen Rede‹ da ist. Denn dann läufst du fort und die anderen auch – verlassen bin ich dann von allen.« Mogli sprach ziemlich aufgebracht.

»Aber wirklich, kleiner Bruder«, begann Baghira, »nicht immer tun wir das …«

»Dennoch tut ihr das!« rief Mogli und schnalzte ärgerlich mit den Fingern. »Ihr rennt fort, und ich, der Herr der Dschungel, muß einsam wandern. Wie war es in der vergangenen Jahreszeit, als ich Zuckerrohr auf den Feldern des Menschen sammeln wollte? Einen Läufer sandte ich aus – dich sandte ich – zu Hathi, um ihn zu bitten, er solle in der folgenden Nacht kommen und mit dem Rüssel das Süßgras für mich pflücken.«

»Nur zwei Nächte später kam er«, sagte Baghira, sich ein wenig duckend. »Und von dem langen Süßgras raffte er mehr zusammen, als ein Menschenjunges in sämtlichen Nächten der Regenzeit verzehren kann. Nicht meine Schuld war es.«

»Aber er kam nicht in der Nacht, für die ich ihn bestellt hatte. Nein, trompetend lief er durch die Täler und brüllte im Mondlicht. Seine Fährte war breit wie die Fährte dreier Elefanten; denn er suchte nicht Deckung unter den Bäumen. Vor den Häusern des Menschenvolks tanzte er im Schein des Mondes. Ich sah ihn, aber zu mir wollte er nicht kommen – und ich bin Herr und Meister in der Dschungel.«

»Es war die Zeit der ›Neuen Rede‹«, meinte der Panther sehr demütig. »Vielleicht, kleiner Bruder, riefst du ihn damals nicht mit einem Meisterwort. Lausche dem Lied Feraos und freue dich.«

Moglis üble Laune schien auf einmal dahingeschwunden. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag er auf dem Rücken mit geschlossenen Augen. »Was weiß ich davon – auch kümmert’s mich nicht«, sagte er schläfrig. »Schlummern wir, Baghira. Schwer ist mein Wanst in mir. Einen Ruheplatz mache für meinen Kopf.«

Der Panther legte sich abermals nieder, aber mit einem Seufzer, denn er hörte Ferao den Sang für die Frühlingszeit der »Neuen Rede« wieder und wieder üben.

In der indischen Dschungel greifen die Jahreszeiten fast ohne Übergang ineinander. Nur zwei scheint es zu geben, die nasse und die trockene Jahreszeit. Beobachtet man aber genauer, so findet man, daß unter Regenstürzen und Wolken von Moder und Staub alle vier Jahreszeiten sich in regelmäßiger Folge ablösen. Am schönsten ist der Frühling. Er zaubert nicht aus kahlem Boden neue Gräser und Blumen, an kahlen Ästen neue Blätter hervor, wie der Frühling Europas; vielmehr treibt er die fahlgrünen überlebenden Reste, die der milde Winter übrigließ, vor sich her, fegt alles rein und macht die halbbekleidete Erde wieder jung und neu. Ganz gründlich besorgt er das, und so kommt kein Frühling der Welt dem Dschungelfrühling gleich in Reiz und Frische.

Ein Tag ist da, an dem ist alles müde, und selbst die Gerüche und Dünste, die in der schweren Luft treiben, sind alt und verbraucht. Man kann das nicht erklären, aber man fühlt das. An einem anderen Tage scheint für das Auge noch nichts verändert, plötzlich riecht die Luft froh und neu, bis zur Wurzel erbeben die Bärte des Dschungelvolks, das Winterhaar fällt in langen, zottigen Flocken von ihren Flanken. Ein leichter Regen durchtränkt den Boden, und Bäume, Büsche, Bambushaine, Moose, Pflanzen mit saftigen Blättern erwachen zu drängendem Leben. Man vermeint sie förmlich wachsen zu hören. Und daneben hört man ein tiefes Summen bei Tag und Nacht, ein vibrierendes Tönen; das kommt nicht von Bienen noch fallenden Wassern noch vom Winde in den Wipfeln der Bäume – es ist das Geräusch des erwachenden Frühlings, das Surren und Schnurren der warmen, lebensfreudigen Erde.

Bisher war der Wechsel der Jahreszeiten immer Moglis ganzes Entzücken gewesen. Als erster stets entdeckte er das Frühlingsauge im hohen Grase verborgen blühen, sah das erste zarte, schimmernde Frühlingsgewölk, dem nichts in der Dschungel an Schönheit gleicht. Seine Stimme erscholl an allen feuchten blühenden, sternenbeglänzten Pfützen; dort sang er mit den großen Fröschen im Chor oder ahmte das eintönige Pfeifen der kleinen närrischen Eulen nach, die durch die weißen Nächte riefen. Wie für alles Dschungelvolk war für ihn der Frühling die Zeit der weiten Läufe; aus überquellender Freude am Toben und Rennen schweifte er durch die warme Luft, dreißig, vierzig, fünfzig Meilen zwischen Abenddämmer und Morgenstern, und kehrte atemlos zurück und mit fremdartigen Blumen bekränzt. Seine vier Wölfe folgten ihm nicht auf seinem wilden Dschungellauf; sie wechselten fort und sangen mit den anderen Wölfen ihre Gesänge. Das Dschungelvolk ist im Frühling sehr geschäftig; Mogli hörte sie grunzen, kreischen, keckern und pfeifen, je nach ihrer Art. Fremd klangen dann die Stimmen, anders als in anderen Jahreszeiten, und deshalb nennen sie den Frühling die Zeit der »Neuen Rede«.

In diesem Frühling aber trug Mogli ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl im Wanst, wie er Baghira erzählte. Schon als die Bambussprossen sich fleckig braun färbten, hatte er sehnsüchtig den Morgen erwartet, an dem alle Düfte neu sein würden. Aber als dann der Morgen kam, als Mor, der Pfau, strahlend in Bronze, Blau und Gold, laut den Anbruch des Frühlings durch die dampfenden Wälder rief und Mogli den Mund auftat, um den Ruf weiterzugeben, da stockte ihm das Wort in der Kehle. Ein Gefühl überkam ihn, das seinen ganzen Körper vom Kopf bis zu den Zehen durchrieselte, wie ein richtiger Schmerz war es, so daß er nachsuchte, ob nicht irgendwo ein Dorn in seinem Körper steckte. Mor rief: »Die neuen Gerüche sind da!« Die anderen Vögel gaben den Ruf weiter; und Mogli hörte von dem Geklüft am Waingunga her Baghiras heisere Stimme, halb wie Adlergeschrei, halb wie Rossegewieher. Die Affenvölker kreischten und schaukelten in den junggrünenden Ästen, und Mogli stand da, die Brust geschwellt, um mit Mor zu jubilieren, aber nur in kleinen Seufzern entlud sich die Spannung, und ein unerklärlicher Kummer ergriff ihn.

Er blickte um sich, aber er sah nur das närrische Affenvolk sich in den Zweigen tummeln und Mor, den glänzenden Schweif weit gespreizt, auf den Hängen verzückt tanzen.

»Neu wehen die Düfte!« rief Mor. »Gute Jagd, kleiner Bruder! Wo bleibt deine Antwort?«

»Kleiner Bruder, gute Jagd!« pfiff Tschil, der Geier, und kam mit seinem Weibchen herabgeschossen. Beide stoben so dicht an Moglis Nase hin, daß ein Büschel weißer Flaumfedern vor ihm niederfiel.

Ein leichter Frühlingsregen, Elefantenregen nennen sie ihn, strich über die Dschungel im Umkreis von einer halben Meile dahin, ließ die jungen Blätter naßtropfend zurück und erstarb in einem Doppelregenbogen und leichtem Donnergrollen. Das Frühlingssummen schwoll an für Augenblicke, verstummte wieder; und dann schien das ganze Dschungelvolk mit eins die Stimme zu erheben. Nur Mogli nicht.

»Gutes Futter nahm ich zu mir«, sagte er zu sich selbst. »Gutes Wasser trank ich. Meine Kehle brennt nicht, zieht sich auch nicht zusammen, wie damals, als ich in die blaugesprenkelte Wurzel biß, von der Oo, die Schildkröte, sagte, sie sei reine Nahrung. Aber schwer ist mir der Wanst, und ohne Grund gab ich böse Worte Baghira, den anderen Völkern und meinen Wölfen. Bald ist mir heiß, bald kalt; dann wieder ist mir weder heiß noch kalt, nur ergrimmt bin ich über etwas, das ich nirgends erblicken kann. Hoho! Zeit ist es zu laufen! Heute nacht kreuze ich die Bergkette. Ja, einen Frühlingslauf will ich machen nach den Morästen des Nordens und wieder zurück. Lange genug jagte ich nur leicht und nachlässig. Und die vier sollen mit mir laufen; denn fett werden sie wie weiße Maden.«

Er rief, aber keiner der vier gab Antwort. Sie waren längst davon, außer Hörweite, sangen die Frühlingsgesänge, die Mond- und Sambarlieder mit den Wölfen des Packs; denn in der Frühlingszeit macht das Dschungelvolk wenig Unterschied zwischen Tag und Nacht. Mogli gab den scharfen, bellenden Ruf, doch nur das spottende »Miau« der kleinen gesprenkelten Baumkatze kam zurück, die durch das Gezweig schlich, um nach frühen Vogelnestern zu stöbern. Da packte ihn die Wut, zitternd zog er halb sein Messer heraus; aber dann richtete er sich auf, stolz, sehr stolz, obgleich keiner ihm zusah, und das Kinn erhoben, die Augenbrauen finster zusammengezogen, schritt er die Hügel hinab. Aber nicht einer vom Dschungelvolk sprach zu ihm, alle waren mit eigenem Treiben beschäftigt.

»Ja«, sagte er, doch im Herzen wußte er, daß es nicht so war, »wenn der rote Dole und Dekkan kommt oder die rote Blume im Bambus tanzt und zuckt, dann läuft alles Dschungelvolk winselnd zu Mogli und schmeichelt ihm mit großmächtigen Elefantennamen. Jetzt aber, nur weil das Frühlingsauge blüht oder Mor im Frühlingstanz die nackten Beine zeigt, wird die ganze Dschungel toll – toll wie Tabaqui. Beim Bullen, der mich loskaufte, bin ich Herr der Dschungel oder bin ich es nicht?! Heda, ihr, was schafft ihr hier?« Zwei junge Wölfe des Packs galoppierten über den Weg auf der Suche nach einem versteckten Kampfplatz (wie ihr wißt, verbietet das Dschungelgesetz, in Sicht des Rudels zu kämpfen). Ihre Nackenhaare waren gesträubt, und wütend vor Kampfbegier gaben sie Laut. Mogli sprang vor und packte mit jeder Hand einen vorgestreckten Hals, um die Tiere rückwärts zu schleudern, wie er es oft beim Spiel oder bei Rudeljagden getan hatte. Aber bis dahin hatte er sich noch nie in einen Frühlingskampf gemischt. Die beiden Wölfe sprangen unbeirrt vorwärts, warfen ihn seitwärts zu Boden; ohne ein Wort zu verlieren, fielen sie sich an und überkugelten sich fest verbissen ineinander.

Mogli stand schneller wieder auf den Füßen, als er gefallen war, die weißen Zähne entblößt und das Messer gezückt in der Hand. In diesem Augenblick hätte er beide töten können, grundlos, nur weil sie kämpften, während er sie still haben wollte, obgleich jedem Wolf das Recht zusteht, dem Gesetz gemäß seinen Kampf auszufechten. Geduckt, mit bebender Hand, tanzte er um sie herum, um einen doppelten Schlag zu führen, sobald die erste Hitze des Gefechts sich legte; aber während er lauerte und lauerte, fühlte er seine Kraft entweichen, die Spitze des Messers senkte sich, und langsam schob er es in die Scheide zurück.

»Wahrlich, Gift muß ich geschluckt haben«, seufzte er, »seitdem ich den Rat mit der roten Blume auseinandertrieb, seitdem ich Schir Khan tötete, hat keiner vom Pack mich bezwingen können. Diese da sind nur Schwanzwölfe vom Pack – geringe Jäger! Meine Stärke wich von mir, sterben muß ich. Oh, Mogli, warum tötest du nicht diese zwei?«

Der Kampf ging weiter, bis zuletzt einer der Wölfe davonflüchtete. Mogli blieb allein zurück auf der zerwühlten blutigen Walstatt, sah auf sein Messer, auf seine Beine und Arme, und wieder überflutete ihn ein unerklärliches Gefühl von Gram und Traurigkeit, wie Wasser einen Stein überflutet.

Zeitig an diesem Abend jagte er, aß aber nur wenig, um leichtfüßig zu bleiben für den Frühlingslauf. Einsam verzehrte er seine Beute, denn alles Dschungelvolk war in den Wäldern verstreut, sang oder kämpfte. Es war eine vollkommen weiße Nacht, wie sie es nennen. Seit dem Morgen schienen alle Pflanzen soviel gewachsen zu sein wie sonst in einem Monat. Der Zweig, der gestern noch gelbliche Blätter getragen, tropfte heute von Saft, als Mogli ihn abbrach. Warm und dicht kräuselte sich das Moos um seine Füße, das Gras hatte weiche junge Spitzen, und alle Stimmen in der Dschungel summten und brummten wie tiefer Harfenton, vom Mond angeschlagen, dem Mond der »Neuen Rede«. Voll warf er sein Licht über Fels und Pfuhl, glitt bläulichgelb zwischen Baumstamm und Liane hindurch und stäubte milden Schein über Millionen junger Blätter.

Mogli vergaß seinen Kummer – laut sang er vor Glück, als er seinen Frühlingslauf antrat. Mehr wie ein leichtes Fliegen war es, denn er hatte, um nach den Morästen des Nordens zu gelangen, den breiten, geneigten Hang mitten durch das Herz der Dschungel gewählt, wo der federnde Grund den Schall seiner Tritte dämpfte. Ein unter seinesgleichen aufgewachsener Mensch würde seinen Weg mit großer Mühe, stolpernd und fallend, im irreführenden Mondlicht gesucht haben, aber Moglis geübte und gestählte Muskeln trugen ihn leicht federnd dahin. Rutschte unter seinem Fuß ein verrotteter Klotz oder verborgener Stein, so gewann er leicht und mühelos wieder festen Boden, ohne den Lauf zu verzögern. Ermüdete ihn das Gehen auf der Erde, so streckte er nach Affenart die Arme nach der nächsten Schlingpflanze aus, schien die dünnen Zweige mehr hinauf zu schweben als zu klettern. Dann wurde der Marsch über eine Baumstraße fortgesetzt, bis seine Laune sich wieder änderte und er in langem, rauschendem Bogen abwärtsschoß auf den Boden. Durch stille heiße Schluchten führte sein Weg zwischen feucht dunstenden Felsen, wo der schwere Duft der Nachtblumen und der quellenden Lianenknospen ihm die Brust beklemmte. Durch dunkle Alleen kam er, wo das Mondlicht regelmäßige Streifen und Bogen spann, wie Marmorwerk in einem Kirchenchor; durch Dickichte drang er, wo das nasse dichte Gestrüpp ihm bis zur Brust reichte und sich wie Arme um seine Hüften legte; über Hügelkämme, von zerklüftetem Geröll bedeckt, wo er von Stein zu Stein sprang und die kleinen Füchse aus ihren Schlupfwinkeln aufschreckte. Aus der Ferne vernahm er das »Schugdrug« eines Ebers, der seine Hauer an einem Stamm schärfte; später kam er an dem großen Tier vorüber, das mit feuriglodernden Augen, Schaum vor dem Rachen, die rote Rinde eines Riesenbaumes zerfetzte. Oder das Geräusch von klirrenden Hörnern, Gegrunz und Gezisch führte ihn seitwärts, und er kam an zwei wütenden Sambarhirschen vorbei, die mit gesenkten Köpfen gegeneinanderrannten, und das Blut an ihren Flanken erschien schwarz im Mondlicht. An schilfbedeckter Furt hörte er Tschakala, das Krokodil, gleich einem Ochsen brüllen; oder er störte einen ineinandergeschlungenen Knäuel des Giftvolkes auf, aber war schon über glitzerndes Steingeröll hinweggeglitten, ehe sie beißen konnten, und lief wieder tief in der inneren Dschungel.

So rannte er, jauchzte manchmal oder sang vor sich hin, in dieser Nacht das glücklichste Geschöpf in der ganzen Dschungel, bis der Geruch der Blumen die Nähe der Moräste ankündigte; diese lagen weiter entfernt als seine fernsten Jagdgründe.

Hier wieder wäre ein unter seinesgleichen aufgewachsener Mensch schon nach drei Schritten bis über den Kopf versunken. Moglis Füße jedoch schienen Augen zu haben, denn wohlbehalten trugen sie ihn von Scholle zu Scholle, von einem glitschigen Klumpen zum anderen, ohne seiner Augen im Kopf zu bedürfen. Er drang bis zur Mitte des Moores vor, scheuchte Entenvölker auf und setzte sich auf einen moosbedeckten Baumstamm, der halb im schlammigen Wasser schlappte. Rings um ihn her war Leben in den Mooren; nur leicht ist im Frühling der Schlaf der Vogelvölker, und ganze Züge kamen und gingen durch die Nacht. Unbeachtet blieb Mogli im hohen Ried, summte Gesänge ohne Worte und untersuchte die Sohlen seiner harten braunen Füße nach eingedrungenen Dornen. Alle Schwermut schien er in seiner eigenen fernen Dschungel gelassen zu haben, er war gerade im Begriff, ein neues Lied mit voller Kehle anzustimmen – da überfiel ihn wieder der unerklärliche Gram, zehnmal stärker als zuvor.

Diesmal bekam Mogli Angst: »Hier ist er auch«, sagte er halblaut. »Er ist mir gefolgt.« Und er blickte scheu über seine Schulter rückwärts, um zu sehen, ob dieser »er« etwa hinter ihm stände. »Niemand ist hier.«

Weiter raunten die Nachtgeräusche in den Mooren, aber weder Vogel noch ein anderes Tier sprach zu ihm, und das neue Gramgefühl schien ins unendliche zu wachsen.

»Sicherlich habe ich Gift gegessen«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Aus Versehen muß ich es geschluckt haben, denn meine Stärke verläßt mich. Ich habe mich gefürchtet, und doch war ich es nicht, der sich fürchtete« – Mogli hatte Angst gehabt, als die beiden Wölfe miteinander kämpften. »Akela, ja selbst Phao würden sie zur Ruhe gebracht haben, aber Mogli fürchtete sich! Sicherstes Zeichen dafür, daß ich Gift geschluckt habe. Aber was fragen die in der Dschungel danach? Sie singen, heulen und laufen in Rudeln unter dem Mond, und ich – o weh! – muß sterben in den Morästen, an dem Gift, das mir im Leibe sitzt.«

Er tat sich selbst so leid, daß er am liebsten laut geweint hätte.

»Und nachher«, klagte er weiter, »werden sie mich hier finden in dem schwarzen Wasser. Nein, ich will doch lieber heimkehren nach meiner Dschungel, um auf dem Rätefelsen zu sterben. Baghira, den ich liebe – wenn er nicht singend durch das Tal rennt –, Baghira wird vielleicht Totenwacht halten bei meiner Leiche, damit Tschil nicht mit mir tut, wie er mit Akela getan hat.«

Eine dicke warme Träne fiel ihm aufs Knie, und elend, wie Mogli war, fühlte er sich doch wieder glücklich, daß ihm so elend zumute war – wenn euch diese auf den Kopf gestellte Glückseligkeit bekannt ist. »Als Tschil, der Geier, Akela aufzehrte«, wiederholte er, »errettete ich in derselben Nacht das Pack von den roten Hunden.« Er schwieg und dachte eine Weile an die letzten Worte des Einsiedelwolfes, deren ihr euch wohl entsinnt. »Viel Unsinn redete Akela zu mir, bevor er starb, denn wenn wir sterben, dann ändert sich in uns der Wanst. Er sagte… aber dennoch, ich bin von der Dschungel!«

Mogli dachte an die Schlacht am Waingungastrande, und vor Erregung schrie er die letzten Gedanken so laut in die Nacht hinein, daß eine wilde Büffelkuh im Schilf aufsprang und schnaubte: »Ein Mensch!«

»Uuh!« brummte Mysa, der wilde Büffel (Mogli hörte, wie er sich im Schlamm wälzte), »das ist nicht Mensch, nur der haarlose Wolf vom Sionipack ist es. Hin und her rennt er in solchen Nächten.«

»Umh!« machte die Kuh und senkte den Kopf, um weiter zu grasen. »Ich hielt ihn für einen Menschen.«

»Nein, sage ich! He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« brummte Mysa.

»He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« gab der Knabe spottend zurück. »Das ist alles, woran Mysa denkt, ob Gefahr ist. Aber Mogli, der Tag und Nacht durch die Dschungel wechselt und für euch beide wacht, was kümmert euch Mogli?«

»Wie laut er brüllt«, sagte die Kuh.

»So schreien sie«, antwortete Mysa verächtlich, »die Gras ausreißen und es nicht fressen können.«

»Für weniger als dies«, stöhnte Mogli, »für weniger als dies hätte ich dich noch in der letzten Regenzeit aus dem Schlamm aufgestachelt und mit einem Binsenzaum durch den Sumpf geritten.« Müde griff er mit der Hand nach einer faserigen Binse, ließ sie aber seufzend wieder sinken. Ruhig fuhr Mysa mit dem Wiederkäuen fort.

»Hier sterben, das will ich nicht!« rief Mogli zornig. »Mysa würde mich sehen, der von gleichem Blut ist mit Tschakala und dem Schwein. Von den Morästen will ich jetzt fort und sehen, was kommt. Niemals lief ich einen ähnlichen Frühlingslauf – heiß und kalt auf einmal. Auf, Mogli!«

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich durch das Schilf an Mysa heranzupirschen und ihn von hinten mit der Spitze des Messers zu stechen. Wie eine platzende Granate schoß der riesige, triefende Bulle aus dem Schlamm heraus, und Mogli lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.

»Verkünde nun, Mysa, der haarlose Wolf vom Sionipack hat dich einmal gehütet«, rief er.

»Wolf! Du?« schnaubte der Büffel und stampfte wütend den Schlamm. »Die ganze Dschungel weiß, daß du Hüter warst des zahmen Rindviehs, ein Menschenknirps, der drunten bei den Feldern herumschreit. Du willst von der Dschungel sein? Welcher rechte Jäger von der Dschungel würde sich wohl wie eine Schlange zwischen Blutegeln durchschleichen, nur um einen so schlammigen Spaß zu machen und mich vor meiner Kuh zu beschämen? Komm nur auf festen Grund – dann will ich – will ich…« Mysa schäumte vor Wut, er hatte so ziemlich das schlechteste Temperament in der Dschungel.

Mogli sah gelassen dem Schnauben und Stampfen des Bullen zu. Als er mit seiner Stimme den Lärm des Tieres und des spritzenden Schlammes übertönen konnte, rief er: »Welches Menschenvolk lagert hier bei den Morästen, Mysa? Diese Dschungel ist mir fremd.«

»Nordwärts gehe«, brüllte der vergrämte Bulle, denn Mogli hatte ihn ziemlich scharf gestochen. »Ein Spaß war das, wie er ganz für einen nackten Kuhhirten paßt. Am Rande des Moores liegt ein Dorf, geh‘ hin und erzähle ihnen die Geschichte.«

»Das Menschenvolk liebt keine Dschungelgeschichten; und ich glaube auch nicht, Mysa, daß ein Riß mehr oder weniger in deinem Fell Anlaß zu einer Ratsversammlung ist. Aber ich will gehen und mir das Dorf ansehen. Ruhig nun, Mysa, nicht in jeder Nacht kommt der Meister der Dschungel dich hüten.«

Er betrat den unsicheren Grund am Rande der Sümpfe, wohl wissend, daß Mysa im Moor nicht angreifen würde, und lachte im Laufen über den Zorn des Bullen.

»Nicht völlig schwand mir meine Kraft«, sagte er, »vielleicht ist das Gift nicht bis in die Knochen gedrungen. Sieh, dort, tief unten schimmert ein Stern.« Er betrachtete ihn durch die halbgeschlossenen Hände. »Beim Bullen, für den mich Baghira in das Rudel einkaufte, die rote Blume loht dort, die rote Blume, neben der ich lag, bevor – bevor ich zu dem ersten Sionipack kam. Zu Ende ist mein Lauf, nun ich sie wiedergesehen habe.«

Die Moräste endeten an einer breiten Ebene, und von dorther blinkte das Licht. Seit sehr langer Zeit hatte Mogli sich nicht mehr um das Tun und Treiben der Menschen gekümmert; in jener Nacht aber zog ihn der Schein der roten Blume wieder geheimnisvoll an.

»Ich will es mir ansehen, wie einst in den alten Tagen«, sagte er. »Ob sich das Menschenvolk wohl geändert hat?«

Längst lag die eigentliche Dschungel hinter ihm, und achtlos trottete er durch die taufeuchten Wiesen, bis er zu der Hütte kam, aus der das einsame Licht schimmerte. Hunde im Dorf schlugen an.

Geräuschlos setzte er sich nieder und stieß ein tiefes Wolfsknurren aus, um die Hunde zum Schweigen zu bringen. »Nun, was kommen muß, kommt. Aber was hast du, Mogli, bei den Lagern des Menschenvolkes zu schaffen?« Er rieb sich den Mund an der Stelle, wo vor Jahren ein Stein ihn getroffen hatte, als das andere Menschenvolk ihn ausstieß.

Die Tür der Hütte ging auf: eine Frau stand im Rahmen und blickte in die Dunkelheit. Drinnen weinte ein Kind, und die Frau rief über die Schulter zurück: »Schlafe! Ein Schakal war es nur, der die Hunde weckte. Bald kommt der Morgen.«

Mogli fing an, wie im Fieber zu zittern. Die Stimme kannte er wohl, aber um sicher zu sein, rief er leise: »Messua, o Messua!« und war erstaunt, daß ihm die Menschensprache zurückkam.

»Wer ruft da?« fragte die Frau mit einem Beben in ihrer Stimme.

»Hast du mich vergessen?« fragte Mogli. Die Kehle wurde ihm heiß, als er sprach.

»Wenn du es bist, nenne mir den Namen, den ich dir gab.« Halb schloß sie die Tür der Hütte und fuhr mit der Hand nach der Brust.

»Nathu! Oh-é – Nathu!« rief Mogli. – Wie ihr vielleicht noch wißt, war das der Name, den Messua ihm gegeben hatte, als er zum erstenmal bei den Menschen erschien.

»Komm, komm, mein Sohn!« rief sie. Mogli trat in das Licht und blickte auf Messua, die Frau, die gut zu ihm gewesen war und deren Leben er rettete vor langen Jahren. Sie war gealtert, und grau war ihr Haar, aber ihre Augen und ihre Stimme hatten sich nicht verändert. Nach Frauenart hatte sie erwartet, ihn so wiederzufinden, wie er sie verlassen hatte; und verwundert wanderten nun ihre Augen von seiner Brust nach seinem Kopf, der mit dem Scheitel an den Türrahmen stieß.

»Mein Sohn«, stammelte sie; und dann sank sie hin vor seine Füße. »Doch nicht mehr mein Sohn steht hier. Ein Gott der Wälder ist er! Ahei!« Kraftvoll, hoch und schön stand er da im roten Licht der Öllampe. Das lange schwarze Haar flutete über die Schultern, vor der Brust hing ihm das Messer, das Haupt schmückte ein Kranz von weißem Jasmin – wirklich erschien er so wie ein wilder Gott der Dschungelsage. Das Kind, aus tiefem Schlummer erwacht, sprang auf und schrie laut vor Schrecken. Messua wandte sich, um es zu beruhigen. Mogli stand unbeweglich und betrachtete sinnend Wasserkrüge, Kochtöpfe, Kornkiste und all die übrige menschliche Habe, die er so gut im Gedächtnis hatte.

»Willst du etwas essen und trinken?« murmelte Messua. »Alles hier ist dein. Wir verdanken dir unser Leben. Aber bist du der, den ich Nathu nannte, oder wirklich ein Gott?«

»Nathu bin ich«, sagte Mogli. »Sehr weit war ich fort von meiner Dschungel. Das Licht sah ich und kam hierher. Ich dachte nicht, dich hier zu finden.«

»Als wir nach Kanhiwara kamen«, begann Messua schüchtern, »sagten die Engländer, sie würden uns helfen gegen die Dorfleute, die uns verbrennen wollten. Erinnerst du dich?«

»Ja, ich vergaß nicht.«

»Aber als das englische Gesetz gesprochen hatte und wir zum Dorf dieser bösen Menschen gingen, war nichts mehr davon zu finden.«

»Auch das habe ich nicht vergessen«, sagte Mogli, seine Nüstern bebten.

»Mein Mann nahm nun Dienst als Feldarbeiter, und später – denn er war stark und fleißig – erwarben wir das Stückchen Land hier. So gut ist der Boden nicht wie im alten Dorfe, aber viel brauchen wir nicht, wir zwei.«

»Wo ist der Mann, der im Schmutz grub, als er sich fürchtete in jener Nacht?«

»Er starb vor einem Jahr.«

»Und er?« Mogli wies auf das Kind.

»Mein Sohn, der vor zwei Regenzeiten geboren wurde. Wenn du ein Schutzgeist bist, so schenke ihm die Gunst der Dschungel, auf daß er sicher sei unter deinem – deinem Volk, wie wir sicher waren in jener Nacht.«

Sie hob ihm das Kind entgegen. Das vergaß alle Furcht und streckte den Arm aus nach dem Messer auf Moglis Brust, um damit zu spielen; sehr behutsam legte Mogli die kleinen Finger zur Seite.

»Und wenn du Nathu bist, den der Tiger fortschleppte«, sagte Messua schluchzend, »dann ist es dein jüngerer Bruder. Gib ihm des älteren Bruders Segen.«

»Ach, ach! Was weiß ich von einem Dinge, das Segen heißt? Weder Schutzgott bin ich noch sein Bruder. O Mutter, Mutter, wie schwer ist mein Herz in mir.« Als er das Kind niedersetzte, erschauerte er.

»Leicht möglich«, sagte Messua, an den Herd tretend. »Das kommt vom nächtlichen Streifen in den Morästen. Fraglos ist dir das Fieber in das Mark gefahren.« Mogli mußte lächeln bei dem Gedanken, daß irgend etwas ihm schaden könnte in der Dschungel. »Feuer will ich machen, und warme Milch sollst du trinken. Lege den Jasminkranz fort, schwer ist der Duft in einer so kleinen Hütte.«

Mogli setzte sich nieder, vergrub das Gesicht in den Händen und murmelte vor sich hin. Fremdartige, nie gekannte Gefühle überkamen ihn, ganz so, als ob er Gift geschluckt hätte, heiß und kalt wurde ihm, schwindelig und übel. In tiefen Zügen trank er die warme Milch; Messua streichelte ihn leise, und so fühlte sie wenigstens, daß er aus Fleisch und Blut war, und das machte sie froh.

»Sohn«, sagte sie endlich, und ihre Augen blickten mit Stolz auf ihn, »hat man dir niemals gesagt, daß du schöner bist als alle anderen Menschen?«

»Ha?« fragte Mogli, denn natürlich hatte er nie derartiges gehört. Messua lachte leise und glücklich. Der Ausdruck seines Gesichts sagte ihr genug.

»Da bin ich also die erste? Aber es ist selten, daß eine Mutter dem Sohn zuerst sagt, daß er schön sei. Nie sah ich so einen Mann.«

Mogli drehte den Kopf und versuchte, über seine feste Schulter hinweg nach rückwärts zu blicken. Messua lachte lange und herzlich, daß Mogli zu seinem Befremden mitlachen mußte. Das Kind lief hin und her zwischen ihnen und lachte auch. »Nein, du darfst nicht lachen über deinen Bruder«, sagte Messua zu dem Kinde und drückte es an ihre Brust. »Wenn du nur halb so schön wirst, verheiraten wir dich mit der jüngsten Tochter eines Königs, und du sollst große Elefanten reiten.«

Mogli verstand kaum jedes dritte Wort dieser Rede. Die warme Milch machte ihn schläfrig nach dem weiten Lauf; so kauerte er sich hin und war im nächsten Augenblick eingeschlafen. Messua strich ihm das Haar aus den Augen, breitete ein Tuch über ihn und fühlte sich glücklich.

Nach Dschungelart durchschlief er den Rest der Nacht und den ganzen folgenden Tag; sein Instinkt, der niemals ganz schlummerte, sagte ihm, daß keine Gefahr drohe. Als er erwachte, sprang er hoch, daß die ganze Hütte erbebte, denn unter dem Tuche hatte ihm von Fallgruben und Fallen geträumt. Jetzt stand er mit der Hand am Messer, die rollenden Augen noch schwer vom Schlaf, zum Kampf bereit.

Messua setzte ihm lachend die Abendmahlzeit vor. Sie bestand aus einigen harten, über rauchendem Feuer gebackenen Kuchen, etwas Reis und sauren eingemachten Tamarinden; für ihn mochte das gerade reichen bis zum Abendtöten. Der Tauduft von den Morästen her machte ihn hungrig und rastlos. Er sehnte sich danach, seinen Frühlingslauf zu beenden, aber das Kind wollte durchaus auf seinen Armen sitzen, und Messua kämmte sein blauschwarzes Haar. Sie sang beim Kämmen närrische kleine Kinderlieder, nannte ihn bald »Nathu, mein Sohn«, bald bat sie ihn, von seiner Dschungelkraft dem Kinde zu schenken. Die Tür der Hütte war geschlossen, doch Mogli hörte einen vertrauten Laut und sah, wie Messua entsetzt den Mund aufriß, als eine graue Pfote sich unter der Türritze durchschob und Graubruder draußen dumpf und kläglich winselte vor Angst und Sorge.

»Draußen bleiben und warten!« rief Mogli in der Dschungelsprache, ohne den Kopf zu wenden. »Als ich rief, kamt ihr nicht.« Lautlos verschwand die große Pfote.

»Bringe nicht – bringe nicht deine – deine Diener mit dir«, sagte Messua. »Ich – wir lebten stets in Frieden mit der Dschungel.«

»Es ist Frieden«, sagte Mogli und erhob sich. »Denke an die Nacht auf der Straße nach Kanhiwara. Horden solcher Völker liefen vor dir her und hinter dir. Doch ich sehe, daß auch im Frühling die Dschungelvölker nicht immer vergessen. Ich gehe nun, Mutter.«

Messua trat demutsvoll zur Seite; ein Waldgott ist er doch, dachte sie. Aber als seine Hand auf dem Türgriff lag, erwachte die Mutter in ihr, und wieder und wieder schlang sie die Arme um Moglis Hals.

»Kehre zurück«, flüsterte sie. »Sohn oder nicht Sohn, kehre zurück, denn ich liebe dich – und sieh, auch er trauert.«

Das Kind weinte, weil der Mann mit dem blanken Messer fortgehen wollte.

»Kehre zurück«, wiederholte Messua. »Nie ist dir diese Tür verschlossen, bei Tag oder Nacht.«

Etwas stieg hoch in Moglis Kehle, als ob die Stimmbänder gedehnt würden; seine Stimme schien wie mit Stricken aus ihm gezerrt zu werden, als er endlich sagte: »Gewiß, ich komme wieder.«

»Und nun habe ich ein Wort mit dir zu reden, Graubruder«, sagte er und nahm den Kopf des Wolfes, der ihn an der Türschwelle umschmeichelte. »Warum kamt ihr nicht, alle vier, als ich euch rief vor langer Zeit?«

»Vor langer Zeit? Verstrichene Nacht war es erst. Ich – wir sangen in der Dschungel die neuen Lieder, denn es ist die Zeit der ›Neuen Rede‹. Vergaßest du?«

»Wahrlich, du hast recht.«

»Und sobald die neuen Lieder gesungen waren«, fuhr Graubruder fort, »folgte ich deiner Fährte. Ich lief fort von den anderen und folgte dir heißen Fußes. Aber, kleiner Bruder, was tatest du – fressen und schlafen mit dem Menschenpack?«

»Wäret ihr gekommen, als ich rief, wäre das nie geschehen«, antwortete Mogli und lief nun immer schneller.

»Und – was jetzt?« Graubruder sah ihn fragend an.

Mogli wollte erwidern, als ein Mädchen in weißen Gewändern den Pfad herabgeschritten kam, der zum Dorf führte. Graubruder verschwand augenblicklich außer Sicht, und Mogli trat geräuschlos in ein Feld voll hochstehender Ähren. Fast hätte er das Mädchen mit den Händen berühren können, als die warmen grünen Halme sich hinter ihm schlossen. Wie ein Geist löste er sich auf in der Dunkelheit. Das Mädchen schrie auf, denn sie vermeinte einen Nachtspuk zu sehen, dann seufzte sie tief. Mogli bog die Ähren auseinander und sah ihr sinnend nach, bis sie verschwunden war.

»Jetzt weiß ich noch immer nicht«, sagte er und seufzte nun ebenfalls, »warum ihr eigentlich kamt?«

»Wir folgen dir, wir folgen dir«, murmelte Graubruder, Moglis Füße leckend. »Immer folgen wir dir, außer in der Zeit der ›Neuen Rede‹.«

»Auch zum Menschenvolk?«

»Folgte ich dir nicht in jener Nacht, als unser altes Pack dich ausstieß? Wer weckte dich, als du zwischen Ähren lagst?«

»Ja, aber wiederum?«

»Folgte ich dir nicht auch heute nacht?«

»Ja, aber wieder und wieder und vielleicht immer wieder, Graubruder.«

Nun verstimmte Graubruder. Dann knurrte er vor sich hin: »Wahrheit sprach der Schwarze.«

»Und was sagte er?«

»Mensch geht am Ende zu Mensch. Raschka, unsere Mutter, sagte –«

»So auch sprach Akela in der Rothundnacht«, murrte Mogli.

»So sprach auch Kaa, der weiser ist als wir alle.«

»Was sagtest du, Graubruder?«

»Einst stießen sie dich aus mit böser Rede. Mit Steinen zerrissen sie deinen Mund. Buldeo schickten sie aus, dich zu töten. In die rote Blume wollten sie dich werfen. Du, nicht ich, sagtest, sie wären böse und hätten keinen Verstand. Du, nicht ich, ließest die Dschungel über sie kommen, Du, nicht ich, sangest Gesänge gegen sie, die bitterer waren als unser Sang sogar gegen den Rothund.«

»Was du sagst, Graubruder, fragte ich!«

Indes sie redeten, liefen sie ununterbrochen weiter. Graubruder galoppierte eine Weile, ohne zu antworten; dann stieß er zwischen Sprung und Sprung hervor: »Menschenjunges – Meister der Dschungel – Sohn der Raschka – mein Lagerbruder – wenn ich auch in der Frühlingszeit einmal vergeßlich bin: Deine Fährte ist meine Fährte, dein Todeskampf mein Todeskampf. Ich spreche auch für die drei. Aber was willst du der Dschungel sagen?«

»Gut gedacht ist das. Zwischen Sehen und Töten soll man nicht lange zaudern. Eile voraus, rufe alle zum Rätefelsen, denn verkünden will ich ihnen, was in meinem Wanst ist. Aber kommen werden sie kaum – in der Zeit der ›Neuen Rede‹ vergessen sie mich immer.«

»Hast du denn nichts vergessen?« schnappte Graubruder über die Schulter zurück, als er voranlief. Nachdenklich folgte Mogli.

Zu jeder anderen Zeit würde bei dieser Nachricht die ganze Dschungel mit gesträubtem Nackenhaar herbeigeeilt sein; aber jetzt waren sie beschäftigt mit Jagen, Kämpfen, Schlagen und Singen; von einem zum anderen lief Graubruder und rief: »Der Meister der Dschungel kehrt heim zu den Menschen! Kommt zum Rätefelsen!« Aber die glücklichen, eifrig beschäftigten Völker antworteten nur: »In der Sommerhitze wird er zu uns zurückkehren. Die Regen werden ihn zum Lager treiben. Laufe und singe mit uns, Graubruder!«

»Aber der Meister der Dschungel geht zum Menschenvolke«, rief Graubruder.

»Iha – yoawa? Ist die Zeit der ›Neuen Rede‹ deshalb weniger süß?« antworteten sie.

Als nun Mogli schweren Herzens durch wohlbekanntes Felsgeklüft zum Rätefelsen hinanstieg, allwo man ihn einst aufnahm in den Rat, fand er dort nur die vier, den alten, fast blinden Balu und den schweren, kaltblütigen Kaa, der auf dem hohen Sitz Akelas geringelt lag.

»Endet also deine Fährte hier, Mannling?« sprach Kaa, als Mogli sich niederwarf und sein Gesicht mit den Händen verdeckte. »Rufe deinen Ruf: Du und ich vom gleichen Blut – Mensch und Schlange.«

»Warum wurde ich nicht von den Dolen zerrissen!« stöhnte der Knabe. »Von mir wich meine Kraft, aber das Gift tat es nicht. Tag und Nacht vernehme ich doppelten Schritt auf meiner Fährte. Wende ich den Kopf, so ist es, als ob sich einer im gleichen Augenblick vor mir versteckte. Hinter den Bäumen suche ich ihn, aber er ist nicht da. Ich rufe, und keiner ruft zurück; dennoch ist es, als ob einer lauschte und mit der Antwort zögerte. Ich lege mich nieder, aber finde keine Ruhe. Ich laufe den Frühlingslauf, aber er macht mich nicht froh. Ich bade, aber finde keine Kühlung. Das Töten macht mich krank, aber zum Kämpfen fehlt mir das Herz, und ich schlage nur, wenn ich Nahrung brauche. Die rote Blume sitzt mir im Körper. Wasser kreist mir in den Knochen und – ich weiß nicht, was ich weiß.«

»Was bedarf es noch der Rede?« begann Balu langsam und wandte den Kopf nach Mogli. »Der sterbende Akela am Fluß sagte es, Mogli würde Mogli treiben zum Menschenpack. Ich sagte es. Aber wer hört jetzt auf Balu? Baghira, wo ist Baghira in dieser Nacht? Auch er weiß. Es ist Gesetz.«

»Mannling, als wir uns in ›Cold Lairs‹ zuerst trafen, wußte ich es«, sagte Kaa und wand sich ein wenig in seinen mächtigen Ringen. »Mensch geht zu Mensch am Ende, auch wenn die Dschungel ihn nicht verstößt.«

Die vier sahen sich an, dann blickten sie auf Mogli, verlegen, doch gehorsam.

»Die Dschungel stößt mich also nicht aus?« stammelte Mogli.

Graubruder und die anderen drei heulten wütend auf. »Solange wir leben, soll keiner wagen …« Balu hieß sie schweigen.

»Ich lehrte dich das Gesetz«, sagte er. »An mir ist es zu reden. Und weit reichen meine Augen, wenn ich auch die Felsen vor mir nicht mehr sehe. Laufe du auf deiner Fährte, kleiner Frosch! Mache dein Lager bei deinem eigenen Blut und Pack und Volk! Aber hast du Fuß oder Zahn oder Auge nötig oder einen Läufer, der deine Botschaft durch die Nacht trägt, dann vergiß nicht, daß die Dschungel dein ist, wenn du sie rufst.«

»Dein ist auch die Mitteldschungel«, sagte Kaa. »Ich spreche für kein kleines Volk. Hei – mai!«

»O meine Brüder!« schluchzte Mogli mit erhobenen Armen. »Ich weiß nicht, was ich weiß. Ich will nicht gehen, aber beide Füße ziehen mich. Wie soll ich diese Nächte lassen?«

»Nein, kleiner Bruder, schaue auf«, tröstete Balu. »Keine Schande ist bei dieser Jagd. Wenn der Honig verzehrt ist, verlassen wir die leeren Stöcke.«

»Wenn die Haut abgestreift ist«, sprach Kaa ebenso, »kriecht man nicht wieder in sie hinein. So das Gesetz.«

»Höre, du mir liebster von allen«, fuhr Balu fort. »Weder Wort noch Wille ist hier, dich zurückzuhalten. Blicke auf! Wer darf Rechenschaft fordern von dem Meister der Dschungel! Ich sah dich als kleiner Frosch mit weißen Kieseln spielen drüben am Strom; und Baghira, der dich einkaufte in das Pack um den Preis eines frisch gerissenen Bullen, sah dich auch. Nur wir zwei sind geblieben aus jener Zeit; denn tot ist Raschka, deine Lagermutter, tot dein Lagervater; lange schon ist das alte Wolfspack dahin, und du weißt, auf welcher Fährte Schir Khan von dannen strich. Akela starb unter den Dolen, damals aber wäre das zweite Sionipack verblutet, hätte deine Weisheit und Stärke das Pack nicht gerettet. Nur alte Knochen sind noch geblieben. Das Menschenjunge erbittet nicht mehr den Abschied vom Pack – der Meister der Dschungel wünscht seine Fährte zu ändern. Wer darf den Menschen fragen, wohin und weshalb?«

»Baghira aber und der Bulle, für den er mich einkaufte?« sagte Mogli. »Ich möchte nicht…«

Brausen und Knacken im Dickicht unter dem Felsen unterbrach ihn. Baghira, leicht, stark und furchtbar wie immer, stand vor ihm.

»Darum kam ich nicht«, sagte er, die rechte, triefende Pranke vorstreckend. »Lang war die Jagd, aber tot im Busch liegt er jetzt, ein Bulle im zweiten Jahr. Mit dem Bullen kaufe ich dich frei, kleiner Bruder. Gezahlt ist alle Schuld. Und nun – Balus Wort ist mein Wort.« Er leckte Moglis Fuß. »Denke daran, Baghira liebte dich!« rief er und war mit einem Satz davon. Am Fuß des Felsens rief er noch einmal laut: »Gute Jagd auf neuer Fährte, Meister der Dschungel! Denke daran, Baghira hat dich geliebt!«

»Du hast es gehört«, sprach Balu. »Alles ist gesagt. Geh nun! Aber erst komm zu mir, weiser, kleiner Frosch, komm zu mir!«

»Schwer ist es, die Haut abzuwerfen«, sagte Kaa, als Mogli weinte und schluchzte, den Kopf im Fell des blinden Bären vergraben und die Arme um seinen Hals geschlungen. Kraftlos versuchte Balu, die Füße des Knaben zu lecken.

»Schwach schon glänzen die Sterne«, mahnte Graubruder und witterte den Morgenwind. »Wo werden wir heute lagern – denn von nun an folgen wir neuer Fährte.«

Der Abgesang

Der Abgesang

Dies ist der Sang, den Mogli hinter sich hörte in der Dschungel, bis er wieder vor Messuas Tür stand:

Balu
              Dem zuliebe, der dich lehrte,
Weiser Frosch, der Dschungel Fährte:
Menschensatzung sollst du halten
Um Balu, den blinden Alten.
Ob die Fährte unrein scheine,
Ihr Gesetz sei doch das deine,
So bei Tag wie bei der Nacht –
Frage nicht, wer es gemacht.
(Honig, Wurzel, Palm und Mohn,
Wahrt vor Harm der Dschungel Sohn.)
Wald und Wasser, Wind und Hain,
Dschungelgunst soll mit dir sein!
 
Kaa
Ärger ist von Furcht das Ei,
Lidlos‘ Auge nur sieht frei.
Gift der Kobra lecke nimmer,
Kobra-Rede meide immer.
Offnes Wort sei deine Art,
Kraft, die sich mit Milde paart.
Guter Hieb braucht scharf Gesicht,
Morschem Ast vertrau dich nicht.
Schmecken Lamm und Ziege dir,
Still den Hunger, nicht die Gier.
Nach dem Futter willst du ruhn?
Mußt’s in sichrer Höhle tun.
Denn die Rache steigt dir nach
Aus vergeßnem Streit und Tag.
Nord und Süd und Ost und West
Wasch dein Fell, den Mund schließ fest.
Blauer Pfuhl und Spalt und Graben,
Mitteldschungel, folg dem Knaben!
Wald und Wasser, Wind und Hain,
Dschungelgunst soll mit dir sein!
 
Baghira
Im Käfig ich geboren ward,
Kein Menschenweg und Art,
Beim offnen Schloß, das mich befreit –
Menschling, Menschenbrut vermeid.
Bei Tauduft oder Sternenlicht –
Baumkatzfährten folge nicht.
Beim Rat, im Pack und auf der Jagd
Vor Schakalmenschen sei bedacht.
Mit Schweigen füttre sie, die Brut,
Die spricht: »Komm mit, die Fährt‘ ist gut!«
Mit Schweigen stopf sie, wenn sie hetzen,
Ihr helfend Schwache zu verletzen.
Prahl nie, wie’s Affenvolk, von Macht,
Und rede nie von deiner Jagd.
Darfst vor Ruf, vor Sang und Zeichen
Nie von deiner Jagdspur weichen.
(Morgennebel, Zwielicht mild,
Dient ihm, Wächter ihr vom Wild!)
Wald und Wasser, Wind und Hain,
Dschungelgunst soll mit dir sein!
 
Die Drei
Mußt nun deine Fährte ziehn
Zu der Schwelle, die wir fliehn,
Zu der Roten Blume Glühn.
Ruhst nun eng, wo frei zur Nacht
Sternenheer dich nicht mehr dacht –
Hört uns gehn, der Treuen Wacht.
Wachst, da Tag vom Himmel fällt,
Herzkrank nach der Dschungelwelt,
Zu der Mühsal, die dich hält:
Wald und Wasser, Wind und Hain,
Dschungelgunst soll mit dir sein!

Im Rukh

Im Rukh

Unter den zahlreichen Abteilungen, die der indischen Regierung unterstehen, ist kaum eine so wichtig wie die Forstverwaltung. Ihre Aufgabe ist die Wiederaufforstung ganz Indiens oder wird es sein, sobald die Regierung über die nötigen Geldmittel dazu verfügt. Ihre Beamten kämpfen mit Triebsand und Wanderdünen, errichten Dämme gegen den fliehenden Sand und bepflanzen die Dünen zur Befestigung mit Hartgras und Krüppelkiefern nach den Regeln von Nancy. Sie sind verantwortlich für alles Schlagholz in den Staatsforsten des Himalajas ebenso wie für die kahlen Hügelhänge, die der Monsun zu klaffenden Rinnen und Schluchten zerwäscht, was aussieht, als ob aufgerissene Mäuler über die Folgen der Nachlässigkeit klagten. Mit ganzen Bataillonen ausländischer Baumsorten stellen sie Versuche an und veranlassen den Eukalyptus, Wurzel zu schlagen, um damit vielleicht das Sumpffieber zu beseitigen. In der Ebene ist ihre Hauptaufgabe, die Gürtelfeuerlinien in den Waldreservaten zu überwachen und sie klarzuhalten, damit, wenn Dürre einsetzt und das Vieh Not leidet, diese Reservate den Herden der Dörfer geöffnet werden und die Menschen sich dort Feuerholz sammeln können. Ferner müssen sie dafür Sorge tragen, daß die Holzstapel längs der Eisenbahnen, die nicht mit Kohle feuern, stets genügend aufgefüllt sind; bis in die fünfte Dezimalstelle berechnen sie ihren Gewinn aus den Plantagen, sind Ärzte und Hebammen der gewaltigen Tiekholzwälder von Oberbirma, der Gummibäume der östlichen Dschungel und der Gallnüsse des Südens; stets aber sind sie gehemmt in ihrer Arbeit durch den Mangel an staatlichen Mitteln.

Da aber der Forstbeamte durch seinen Beruf weitab von begangenen Pfaden und bewohnten Orten geführt wird, sieht und lernt er mehr Dinge als solche, die nur sein Fach betreffen. Er wird vertraut mit dem Leben und mit der Art des Dschungelvolkes; er begegnet dem Tiger, Bären, Leoparden, Wildhund und all dem Getier des Waldes nicht nur einmal nach tagelangem Wandern, sondern wieder und wieder während seiner dienstlichen Verrichtungen. Den größten Teil seiner Zeit verbringt er im Sattel oder unterm Zeltdach, ist der Freund neugepflanzter Bäume, der Genosse rauher, ungeschlachter Waldhüter – bis die Wälder, die die Zeichen seiner Pflege tragen, nun ihrerseits ihm ihren Stempel aufdrücken; er singt nicht mehr die leichtfertigen französischen Lieder, die er einst in Nancy lernte, er wird schweigsam mit dem schweigenden, endlosen Dickicht. –

Gisborne hatte bereits fünf Jahre im Dienste der indischen Forstverwaltung verbracht. Anfangs liebte er seinen Beruf, da er ihn auf Pferdesrücken in die freie Natur führte und ihm Macht in die Hand gab – aber er war nicht ganz erfüllt von ihm. Dann begann er seinen Beruf wütend zu hassen und würde ein Jahresgehalt hergegeben haben für einen Monat geselligen Verkehrs, wie man ihn in Indien haben kann. Als dann die Krisis vorüber war, nahm ihn der Wald wieder zurück, und er war zufrieden, ihm zu dienen. Er erweiterte und vertiefte die Feuergürtel des Forstes, schützte das junge Grün neuer Pflanzungen vor dem älteren Laubwerk, ließ versandete Flüsse ausbaggern und stärkte den Wald da, wo er am äußersten Rande dahinsiechte und unter dem hohen Riedgras erstarb. Eines stillen Morgens dann wurde dieses Gras in Brand gesteckt, und Hunderte von Tieren, die dort gehaust hatten, flüchteten vor den fahlen Flammen in der grellen Mittagssonne eiligst davon. Später dann rückte der Wald in wohlgeordneten Reihen junger Setzlinge über den geschwärzten Grund vor, und Gisborne übersah sein Werk und war wohlzufrieden.

Sein Bungalow, ein strohgedecktes, weißgetünchtes Häuschen von zwei Räumen, lag an dem einen Ende des großen Rukhs, die Wildnis überschauend. Es gab keinen Garten, denn der Urwald brandete bis an die Tür des Hauses, endete da in einem Bambusdickicht, und Gisborne konnte von seiner Veranda aus unmittelbar in das Herz des Rukhs gelangen. Abul Gafur, sein dicker mohammedanischer Haushälter, kochte für ihn, wenn er daheim war, und die übrige Zeit schwatzte er mit der Schar kleiner eingeborener Bedienter, deren Hütten hinter dem Bungalow lagen: zwei Pferdepfleger, ein Koch, ein Wasserträger und ein Stubenboy, das war alles. Gisborne reinigte seine Gewehre selbst und hielt auch keinen Hund. Hunde verscheuchen das Wild; er aber liebte es, über die Untertanen seines Reiches genau Bescheid zu wissen, wo sie beim Mondaufgang zur Tränke gingen, wo sie vor Sonnenaufgang ästen oder schlugen und wo sie während der Hitze des Tages ruhten. Die Heger und Waldhüter wohnten in kleinen Hütten weit abseits im Rukh und erschienen nur, wenn einer von ihnen durch einen stürzenden Baum oder ein Raubtier verletzt worden war. Sonst war Gisborne immer allein.

Im Frühling zeigte das Rukh nur wenig junges Grün, im übrigen lag es noch unberührt von dem Wandel des Jahres und wartete auf Regen. Mehr Rufen und Rühren war ringsum im Dunkel während der schwülen Nächte, das Getöse eines königlichen Kampfes zwischen Tigern, das Röhren eines stolzen Bockes oder das beständige Schaben und Wetzen eines alten Ebers, der die Hauer an einem Baumstamm schärfte. Dann legte Gisborne seine wenig benutzte Büchse ganz beiseite, denn Sünde schien es ihm, zu dieser Zeit ein Lebewesen zu töten. Wenn mit der sengenden Hitze des Mais der Sommer einsetzte und das Rukh unter dem glühenden Dunst zitterte, hielt Gisborne sorgsam Ausschau nach dem ersten Zeichen kräuselnd aufsteigenden Rauchs, der den Ausbruch des Waldbrands verriet. Dann brach in Strömen der Regen los, und das Rukh verschwand unter Schwaden auf Schwaden dampfenden Nebels; die ganze Nacht durch trommelten die Tropfen auf die breiten Blätter; man hörte das Rauschen von Wasser und das Wogen saftiggrüner Stauden, wenn der Wind hindurchstrich; und die Blitze woben Muster auf die dunkle Wand des Laubwerks, bis dann die Sonne das Gewölk wieder siegreich durchbrach und das Rukh unter dem reingefegten Himmel mit dampfenden Flanken stand. Später dann verblaßten die Farben unter der Hitze und Trockenheit, und alles wurde gelb wie das Fell des Tigers. So wurde Gisborne mit dem Rukh ganz vertraut und fühlte sich glücklich.

Jeden Monat traf regelmäßig sein Gehalt ein, aber er brauchte nur wenig davon. Das Geld bewahrte er in einem Schubfach auf, zusammen mit Briefen aus der Heimat und dem Zündkapseleinsetzer. Dort häuften sich mehr und mehr die Scheine, und wenn er von dem Gelde nahm, so geschah es, um etwas von dem Botanischen Garten in Kalkutta zu kaufen oder die Witwe eines im Dienst umgekommenen Hegers mit einer Summe zu unterstützen, die von der indischen Regierung beim Tod eines Beamten niemals bewilligt worden wäre.

Mit viel Geld ließ sich manches gutmachen, aber mitunter war auch Vergeltung angebracht, und er nahm sie, wenn es notwendig war. Eines Nachts kam ein Bote atemlos und keuchend angelaufen mit der Meldung, daß am Ufer des Kanjeflusses die Leiche eines Waldhüters läge, und sein Schädel wäre wie eine Eierschale eingeschlagen. Beim Morgengrauen machte sich Gisborne auf, um den Mörder zu suchen. Nur Reisende und hin und wieder junge Soldaten rühmten sich vor der Welt ihrer weidmännischen Taten. Für den Forstmann gehört »Schikar« – die »Jagd« – zur Tagesarbeit, und selten hört man etwas davon. Gisborne begab sich zu Fuß an den Ort der Mordtat; die Witwe wehklagte an der auf einer Bahre ruhenden Leiche, während drei bis vier Männer auf dem feuchten Boden nach Fußspuren suchten.

»Der Rote ist es gewesen«, erklärte einer der Männer. »Ich wußte es, daß er früher oder später den Menschen angehen würde. Und dabei gibt es reichlich genug Wild für ihn in den Wäldern. Das hat er nur aus Bosheit gemacht.«

»Der Rote lagert hoch oben in den Felsen hinter den Salbäumen«, antwortete Gisborne. Er kannte den Tiger, den er im Verdacht hatte.

»Nicht jetzt, Sahib, nicht jetzt. Er streift blutdürstig umher. Bedenke, daß ein erster Mord immer ein dreifacher ist. Unser Blut macht ihn toll. Vielleicht lauert er ganz nahe hinter uns, während wir reden.«

»Vielleicht ist er auch zur nächsten Hütte gewechselt«, sagte ein anderer. »Nur vier Koß liegt sie entfernt. – Walla, wer ist denn das?«

Gisborne und die anderen wandten sich um. Ein Mann kam das trockene Flußbett herabgeschritten, nackt bis auf das Lendentuch, aber gekrönt von einem Kranz von hängenden weißen Blüten der Winde; so geräuschlos schritt er über die Kiesel dahin, daß selbst Gisborne, der an den leisen Tritt der Fährtensucher gewöhnt war, zusammenschrak.

»Der Tiger, der mordete«, begann der Ankömmling ohne jeden Gruß, »ist zur Tränke gegangen, und nun schläft er unter einem Felsen hinter dem Hügel dort.«

Seine Stimme klang klar und glockenrein, ganz anders als das übliche Genäsel der Eingeborenen, und als er nun, von der Sonne umstrahlt, das Antlitz hob, hätte er ein Engel sein können, der sich in die Wälder verirrte. Das Wehklagen der Witwe über der Leiche verstummte; mit runden Augen starrte sie auf den fremden Mann und kehrte dann mit verdoppeltem Eifer zu ihrer Klagepflicht zurück.

»Soll ich dem Sahib zeigen?« fragte er schlicht.

»Wenn du sicher bist…«, begann Gisborne.

»Sicher, wahrlich. Erst vor einer Stunde sah ich ihn – den Hund. Er macht sich vor seiner Zeit an Menschenfleisch. Noch hat er ein Dutzend gesunder Zähne in seinem teuflischen Schädel.«

Die Männer, die nach den Fußspuren suchten, machten sich lautlos davon aus Furcht, Gisborne möchte sie zum Mitkommen auffordern; und der junge Fremdling lachte leise vor sich hin.

»Komm, Sahib, komm!« rief er, wandte sich um und schritt leichtfüßig vor seinem Begleiter her.

»Nicht so rasch. Mit dir kann ich nicht Schritt halten«, rief der weiße Mann. »Bleib stehen. Dein Gesicht ist mir neu.«

»Schon möglich. Erst vor kurzem bin ich in diesen Forst gekommen.«

»Von welchem Dorf bist du?«

»Ich bin von keinem Dorf. Von dort kam ich her.« Er wies mit dem Arm nach Norden.

»Ein Zigeuner also?«

»Nein, Sahib, ich bin ein Mensch ohne Kaste und daher auch ohne Vater.«

»Wie nennt man dich?«

»Mogli ist mein Name; und wie heißt der Sahib?«

»Ich bin der Wächter des Rukhs – Gisborne ist mein Name.«

»Wie? Werden die Bäume und Grashalme hier gezählt?« »Gewiß, damit fahrendes Volk wie deinesgleichen sie nicht in Brand steckt.«

»Ich! Um keinen Preis würde ich der Dschungel Schaden antun, meine Heimat ist sie.«

Mit einem unwiderstehlichen Lächeln wandte er sich Gisborne zu und hob warnend die Hand.

»Jetzt müssen wir leise auftreten. Sahib. Man braucht den Hund nicht vorzeitig zu wecken, wenn er auch tief genug schläft. Vielleicht wäre es besser, wenn ich allein vorginge und ihn unter dem Winde dem Sahib zutriebe.«

»Allah! Seit wann werden Tiger von nackten Männern wie Rindvieh getrieben?« rief Gisborne entsetzt über des Mannes Kühnheit.

Wiederum lächelte Mogli sanft. »Nun, dann komm mit mir und erlege ihn auf deine Art mit der schweren englischen Büchse.«

Gisborne folgte den Fußspuren seines Führers, kletterte, klomm, kroch und wand sich durch alle Mühen eines schweren Dschungelpirschgangs. Er war hochrot und schweißtriefend, als Mogli ihn schließlich aufforderte, den Kopf zu heben und über einen bläulichen Felsblock dicht bei einem kleinen Bergteich zu spähen. Der Tiger lag ausgestreckt beim Wasser und leckte sich träge und wohlig seine riesige Vorderpranke sauber. Er war alt, gelbgezähnt und über und über räudig, bot aber doch, wie er so in der Sonne dalag, einen gewaltigen Anblick.

Gisborne hatte keinerlei falsche jagdliche Bedenken, wenn es sich um einen Menschenfresser handelte. Dieses Gewürm da mußte so bald wie möglich ausgetilgt werden. Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, stützte das Gewehr auf den Felsblock und pfiff leise. Die Bestie wandte langsam den eckigen Kopf, kaum zwanzig Schritt von der Mündung der Büchse entfernt, und Gisborne legte ganz geschäftsmäßig seine Schüsse hin, den einen unter die Schulter und den anderen dicht unter das Auge. Auf so kurze Entfernung bieten die schweren Knochen des Tigers keinen Schutz gegen Stahlmantelgeschosse.

»Na, es lohnt sich nicht einmal, ihm die Haut abzuziehen«, sagte Gisborne, als sich der Rauch verzog und das Tier sich im Todeskampf wälzte.

»Einen Hundetod für den Hund«, bemerkte Mogli gelassen. »Ja, an dem Kadaver da ist nichts, was man mitnehmen könnte.«

»Die Barthaare, schneidest du ihm nicht die Barthaare ab?« sagte Gisborne, der wußte, welchen Wert seine eingeborenen Heger auf solcherlei Dinge legten.

»Ich? Bin ich ein lausiger Schikarri der Dschungel, daß ich mich mit dem Maul eines Tigers abgebe? Laß ihn liegen. Da kommen schon seine Freunde.« Über ihren Köpfen kam ein Geier schrill pfeifend herabgestürzt, während Gisborne die leeren Hülsen auswarf und sein Gesicht trocknete.

»Und wenn du kein Schikarri bist, wo erwarbst du da deine Kenntnis des Tigervolks?« sagte er. »Kein geübter Fährtensucher hätte es besser machen können.«

»Ich hasse alle Tiger«, entgegnete Mogli kurz. »Will der Sahib mir seine Flinte zu tragen geben? Arré, eine prächtige Büchse ist das. Und wohin geht der Sahib jetzt?«

»Zu meinem Hause.«

»Darf ich mitkommen? Ich habe niemals das Haus eines weißen Mannes von innen gesehen.«

Gisborne kehrte nach seinem Bungalow zurück; Mogli schritt geräuschlos neben ihm, seine braune Haut glänzte in der Sonne.

Neugierig beäugte er die Veranda und die beiden Stühle darauf, betrachtete mißtrauisch die Rollvorhänge aus Bambusstäben, und während er eintrat, sah er sich immer wieder nach rückwärts um. Gisborne ließ einen der Vorhänge zum Schutz gegen die Sonne herunter. Dieser fiel klappernd nieder, aber noch ehe er den Boden der Veranda berührt hatte, war Mogli mit einem Satz zurückgesprungen und stand heftig atmend im Freien.

»Eine Falle ist das«, sagte er hastig.

Gisborne lachte. »Weiße stellen keine Menschenfallen. Du bist wahrhaftig ein echtes Geschöpf der Dschungel.«

»Ich sehe, das Ding hat weder Haken noch Schlinge«, sagte Mogli. »Noch – noch niemals habe ich derartiges gesehen.«

Auf Zehenspitzen kam er wieder in das Haus zurück und betrachtete mit weitgeöffneten Augen die Einrichtung der beiden Räume. Abdul Gafur, der gerade das Mittagsmahl auftrug, betrachtete ihn mit tiefem Abscheu.

»Soviel Mühe, um essen zu können, und soviel Mühe, um zu ruhen nach dem Essen«, sagte Mogli grinsend. »Wir in der Dschungel haben es leichter. Sehr wunderbar ist alles. Viele kostbare Dinge gibt es hier. Fürchtet der Sahib nicht, daß man ihn berauben könnte? Nie zuvor habe ich so herrliche Dinge erblickt.« Er schaute bewundernd auf eine staubige Messingschale aus Benares auf einem wackeligen Ständer.

»Rauben würde hier nur ein Dieb aus der Dschungel«, warf Abdul Gafur ein und klapperte geräuschvoll mit den Tellern. Mogli öffnete weit seine Augen und blickte den weißbärtigen Mohammedaner an.

»In meinem Reich schneidet man Ziegen den Hals durch, wenn sie allzu laut blöken«, entgegnete er heiter. »Aber habe keine Angst, du. Ich gehe.«

Er wandte sich um und verschwand im Rukh. Gisborne blickte ihm mit einem Lachen nach, das in einen leichten Seufzer ausklang. Außerhalb des regelmäßigen Dienstes gab es im Leben eines Forstbeamten nicht viel Abwechslung, und dieser Sohn der Wälder, der mit Tigern umging wie gewöhnliche Sterbliche mit Hunden, würde ihm willkommene Zerstreuung gewesen sein.

Ein ganz prachtvoller Bursche ist das, dachte Gisborne; fast wie ein Bild aus einem Werk der Klassik. Ich hätte ihn gern zu meinem Büchsenspanner gemacht. Allein zu pirschen ist immer langweilig, und dieser Junge würde einen vollkommenen Schikarri abgeben. Was in aller Welt mag er wohl sein?

Am Abend des gleichen Tages saß er unter der Veranda unter den Sternen, rauchte und sann. Aus dem Pfeifenkopf stieg eine Rauchwolke hoch. Als sie abgezogen war, sah er Mogli mit gekreuzten Armen auf dem Geländer der Veranda sitzen. Ein Geist konnte nicht geräuschloser erschienen sein. Gisborne stutzte und ließ die Pfeife fallen.

»Draußen im Rukh gibt es keinen, mit dem man reden könnte. Deshalb bin ich zu dir gekommen«, sagte Mogli, hob die Pfeife auf und gab sie Gisborne zurück.

»Oh«, meinte Gisborne und fuhr nach einer längeren Pause fort: »Was gibt es Neues im Rukh? Hast du wieder einen Tiger ausgemacht?«

»Die Nilghais wechseln ihre Weidegründe, wie immer zur Zeit des Neumonds, die Sauen wühlen jetzt am Kanjefluß, denn sie wollen nicht mit den Nilghais zusammen fressen, und eine ihrer Bachen wurde von einem Leoparden gerissen in dem hohen Gras der Flußmündung. Mehr weiß ich nicht.«

»Und woher weißt du das alles?« fragte Gisborne, lehnte sich vor und blickte in die Augen des Fremden, die im Sternenlicht glitzerten.

»Wie sollte ich nicht wissen? Die Nilghais haben ihre Gewohnheiten und Bräuche, und jedes Kind weiß, daß Schwarzwild niemals mit ihnen zusammen äst.«

»Ich wußte es nicht.«

»Tck, tck! Und du bist Oberaufseher, wie die Männer in den Hütten mir sagten – Oberaufseher über alle diese Forsten?« Mogli lachte leise.

»Kindermärchen zu erzählen ist leicht genug«, gab Gisborne, gereizt über das Lachen, zurück. »Du kannst wer weiß was berichten, was alles im Rukh vorgeht, wenn keiner das nachprüfen kann.«

»Die Knochen der gerissenen Bache werde ich dir morgen zeigen«, entgegnete Mogli gänzlich unbewegt. »Und was die Sache mit den Nilghais betrifft, so möge der Sahib nur still sitzen bleiben, und ich werde einen Nilghaibullen hierhertreiben. Wenn der Sahib gut auf die Geräusche achtet, dann wird er erkennen, von woher der Nilghai getrieben wird.«

»Die Dschungel hat deine Gedanken verwirrt, Mogli«, sagte Gisborne. »Wer in der Welt könnte Nilghaibüffel treiben?«

»Sitze still denn, ich gehe.«

Beim Himmel, ein Geist ist dieser Mann, dachte Gisborne. Denn Mogli war in der Nacht verschwunden, ohne daß man auch nur den leisesten Tritt gehört hätte. Das Rukh breitete sich wie in breiten Falten aus schwarzem Samt unter dem ungewissen Licht der Sterne aus – so still lag es, daß der leiseste, durch die Baumwipfel streichende Windhauch herüberklang wie das Seufzen eines tief schlafenden Kindes. In der Küche klapperte Abdul Gafur mit dem Geschirr.

»Ruhe da!« rief Gisborne und sammelte sich, um zu lauschen wie einer, der mit der Grabesstille des Rukhs wohlvertraut war. Er hatte die Gewohnheit, sich regelmäßig zum Essen feierlich anzukleiden, um so seine Selbstachtung in der Abgeschiedenheit seines Daseins zu wahren, und nun knarrte die steife Hemdbrust bei jedem Atemzug, bis er die Lage änderte. Dann begann der Tabak in der etwas verstopften Pfeife zu schmoren, und er legte sie beiseite. Bis auf den leisen Atem der Nacht im Rukh war nun alles totenstill.

Aus unbestimmter Ferne drang durch das tiefe Dunkel das ganz schwache Echo eines Wolfsgeheuls. Dann trat wieder völliges Schweigen ein, für lange Stunden, wie es schien. Endlich, als seine Beine unterhalb der Knie schon alles Gefühl verloren hatten, vernahm Gisborne etwas wie ein Krachen sehr weit weg im Unterholz. Er zweifelte, bis sich das Krachen ständig wiederholte.

»Das kommt vom Westen«, murmelte er; »irgend etwas ist dort im Gange.« Der Lärm wuchs, das Knacken und Krachen wurde immer deutlicher, und dann hörte man das tiefe Grunzen eines heiß verfolgten Nilghaibullen, der in panischer Angst flüchtete, ohne seines Weges zu achten.

Zwischen den Baumstämmen brach ein Schatten hervor, wuchtete wie erschrocken zurück, stürzte grunzend und brummend von neuem vor und kam mit Getrappel über den festen Boden so dicht an der Veranda vorbeigejagt, daß Gisborne ihn fast mit der Hand berühren konnte. Ein Nilghaibulle war es, triefend vom Tau, um die Hörner hingen Schlingpflanzen, und seine Augen glühten auf in dem aus dem Hause fallenden Licht. Beim Anblick des Menschen stutzte das Tier und flüchtete am Rande des Rukhs entlang, bis es in der Dunkelheit verschwand. Als erstes dachte Gisborne in seinem verwirrten Sinn, daß es höchst ungehörig war, den schweren, blauen Bullen so aufzustöbern und so zu treiben – ihn gleichsam zur Musterung vorzuführen während der Nacht, während der man die Tiere in Ruhe lassen sollte.

Dann sagte eine sanfte Stimme an seinem Ohr, während er noch starrend dastand:

»Von der Flußmündung kam er, wo er die Herden anführte. Vom Westen her. Glaubt der Sahib jetzt, oder soll ich auch noch die Herde herantreiben, auf daß sie gezählt wird? Der Sahib ist doch der Wächter des Rukhs.«

Mogli hatte sich auf der Veranda niedergelassen, ein wenig kürzer atmend als sonst. Gisborne blickte ihn mit offenem Munde an. »Wie ist das möglich gewesen?« fragte er.

»Der Sahib sah. Getrieben wurde der Bulle – getrieben wie ein zahmer Büffel. Ho, ho! eine schöne Geschichte wird er zu erzählen haben, wenn er zu seiner Herde zurückkommt.«

»Dieser Trick ist mir neu. Kannst du denn ebenso schnell laufen wie ein Nilghai?«

»Der Sahib hat gesehen. Wenn der Sahib genaue Nachricht braucht vom Wechsel des Wildes zu irgendeiner Zeit, so bin ich, Mogli, zur Stelle. Ein gutes Rukh ist das, ich werde hierbleiben.«

»Bleibe denn. Wenn du essen willst, so ist eine Mahlzeit für dich immer bereit.«

»Ja, wahrlich, gekochte Nahrung liebe ich sehr«, antwortete Mogli rasch. »Keiner darf sagen, daß ich nicht Gekochtes und Gebratenes ebenso gern esse wie jeder andere Mensch. Für die Mahlzeit komme ich her. Dafür verspreche ich, daß der Sahib ruhig in seinem Hause schlafen kann bei Nacht, und kein Dieb soll einbrechen, um ihm die reichen Schätze wegzutragen.«

Mit Moglis plötzlichem Verschwinden nahm die Unterhaltung ein Ende. Gisborne saß noch lange rauchend auf der Veranda, und das Ergebnis seines Nachdenkens war, daß er in Mogli endlich den idealen Forstwart und Waldhüter gefunden hatte, nach dem er und die Verwaltung schon lange suchten.

Ich muß ihn in den Dienst der Regierung nehmen. Ein Mann, der Nilghaiherden zu treiben versteht, weiß mehr vom Walde als zwei Dutzend gute Forstbeamte. Ein wahres Wunder ist er – ein Jusus naturae –, aber Wildhüter muß er werden; wenn man ihn nur dazu bringen kann, sich an einem Ort niederzulassen, dachte Gisborne.

Weniger günstig war Abdul Gafurs Urteil. Er bemerkte zu Gisborne beim Schlafengehen, daß derartige Fremdlinge von Gott-weiß-woher zumeist berufsmäßige Diebe wären, und er persönlich hätte überhaupt nichts übrig für solche nackten Kastenlosen, die sich weißen Männern gegenüber nicht zu benehmen wüßten. Gisborne lachte und schickte ihn fort, worauf sich Abdul Gafur brummend verzog. In der Nacht sah er sich veranlaßt, seine dreizehnjährige Tochter durchzuprügeln. Niemanden war der Grund des Streits bekannt, aber Gisborne hörte das Geschrei.

Während der folgenden Tage kam und ging Mogli wie ein Schatten. In der Nähe des Bungalows, hart am Waldrand, hatte er sich eine Art Wohnplatz eingerichtet; und Gisborne sah ihn zuweilen, wenn er auf die Veranda trat, im Mondlicht mit der Stirn auf den Knien hocken oder ausgestreckt auf einem gegabelten Ast liegen, angeschmiegt wie ein Tier des Waldes. Mogli grüßte dann herüber, rief Gisborne zu, ruhig zu schlafen, oder kam auch zu ihm herabgestiegen und erzählte wundersame Geschichten von dem Leben der Tiere im Rukh. Einmal drang Mogli auch bis zu den Ställen vor, und man fand ihn dort, wie er lange aufmerksam die Pferde betrachtete.

»Das ist ein sicheres Zeichen, daß er bald eins stehlen wird«, bemerkte Abdul Gafur gehässig. »Wenn er ständig hier um das Haus herumlungert, warum macht er da nicht eine ordentliche Arbeit, wie es sich gehört? Aber nein, er muß andauernd hin und her tapsen wie ein losgebundenes Kamel, den Narren den Kopf verdrehen und den Dummen das Maul zu törichter Rede öffnen.« So gab er denn Mogli, wann immer er ihn traf, unfreundliche Worte und hieß ihn mit barscher Stimme Wasser holen oder Hühner rupfen; und gutmütig lachend gehorchte Mogli.

»Kastenlos ist er«, schmähte Abdul Gafur. »Alles will er tun. Gib nur acht, Sahib, daß er nicht einmal zuviel tut. Eine Schlange ist eine Schlange, und ein Dschungelzigeuner ist ein Dieb, solange die Erde besteht.«

»Hör auf damit«, erklärte Gisborne. »Ich erlaube dir, deinen Haushalt in Ordnung zu halten, wenn damit nicht zuviel Lärm verknüpft ist, denn ich kenne dich und deine Gewohnheiten. Meine Art kennst du noch nicht. Ein wenig verrückt scheint der Mann ja zu sein.«

»Ein klein bißchen verrückt allerdings«, stichelte Abdul Gafur. »Man wird ja sehen, was dabei herauskommt.« Kurze Zeit danach führte Gisborne der Dienst drei Tage in das Rukh. Abdul Gafur, der alt und fett war, wurde zu Hause gelassen. Es lag ihm auch nichts daran, in den Hütten der Waldhüter zu nächtigen, auch benutzte er gern die Abwesenheit seines Herrn, um in dessen Namen Steuern für Getreide, Öl oder Milch von denen einzutreiben, die dergleichen Abgaben schwer aufbringen konnten. Als Gisborne beim Morgengrauen abritt, war er etwas enttäuscht, den seltsamen Waldmenschen nicht bei der Veranda zu finden, um ihn zu begleiten. Er schätzte ihn – schätzte seine Kraft, Gewandtheit, den geräuschlosen Schritt und das freie, offene Lächeln; die völlige Unkenntnis aller Umgangsformen gefiel ihm und ebenso die kindlichen Erzählungen Moglis (denen Gisborne jetzt Glauben schenkte) über das Tun und Treiben des Wildes im Rukh. Nachdem er schon eine Stunde durch den Forst geritten war, hörte er ein leises Rascheln hinter sich, und Mogli trabte neben seinem Steigbügel.

»Wir haben drei Tage Arbeit vor uns in den Schonungen«, sagte Gisborne.

»Schön«, erwiderte Mogli. »Junge Bäume zu pflanzen ist immer schön. Sie geben Schutz, wenn die Tiere sie nur unberührt ließen! Das Schwarzwild müssen wir wieder verschieben.«

»Wieder? Wieso?« Gisborne lächelte.

»Ach, vergangene Nacht wühlten und gruben sie unter den jungen Salbäumen, und ich trieb sie fort. Deshalb war ich heute morgen nicht an der Veranda. Auf dieser Seite des Rukhs sollte sich das Schwarzwild überhaupt nicht aufhalten. Wir müssen es unten am Kanjefluß halten.«

»Wenn man Wolken treiben könnte, möchte das vielleicht gelingen. Aber, Mogli, wenn du Treiber bist im Rukh, wie du sagst, ohne Lohn und Gewinn …«

»Das Rukh gehört dem Sahib«, sagte Mogli rasch aufschauend. Gisborne nickte Dank und fuhr fort: »Wäre es nicht besser, um festen Lohn von der Regierung zu arbeiten? Am Ende einer langen Dienstzeit winkt dir dann ein Ruhegehalt.«

»Daran habe ich schon gedacht«, sagte Mogli, »aber die Heger leben in Hütten mit verschließbaren Türen, und all das hat für mich zu sehr das Aussehen von Fallen. Doch ich meine …« »Überlege wohl und gib mir später Bescheid. Jetzt wollen wir haltmachen und frühstücken.«

Gisborne saß ab und machte sich an die in hausgenähten Satteltaschen mitgeführte Morgenmahlzeit. Heiß stieg der Tag auf über dem Rukh. Mogli lag im Gras und starrte in den Himmel. Plötzlich flüsterte er in schläfrigem Ton: »Sahib, hast du irgendeinen Befehl im Bungalow gegeben, die weiße Stute heute zu bewegen?«

»Nein, sie ist fett und alt und lahmt etwas. Warum fragst du?«

»Sie wird jetzt geritten, und durchaus nicht langsam, auf der Straße, die nach der Eisenbahn führt.«

»Bah, die Straße liegt zwei Koß weit entfernt. Ein hämmernder Specht ist es.«

Mogli hob den Oberarm, um seine Augen gegen die Sonne zu schützen.

»Vom Bungalow macht die Straße einen großen Bogen nach hierher. Es ist nicht weiter als ein Koß im Geierflug; der Schall fliegt mit den Vögeln. Wollen wir nachsehen?«

»Unsinn! Einen Koß weit in der Sonnenglut zu laufen, nur um ein Geräusch im Forste festzustellen!«

»Nun, das Pferd ist das Pferd des Sahibs. Ich meinte nur, es hierherzubringen. Ist es nicht die Stute des Sahibs, dann gut. Ist sie es – der Sahib kann tun, was ihm beliebt. Ganz augenscheinlich wird sie sehr scharf geritten.«

»Und wie willst du sie hierherbringen? Narr, du.«

»Hat der Sahib vergessen? Auf die Art der Nilghais.«

»Auf denn und laufe, wenn dir der Sinn danach steht.«

»Oh, zu laufen brauch‘ ich gar nicht.« Er streckte seine Hand aus zum Zeichen des Schweigens, und, ruhig auf dem Rücken liegenbleibend, rief er dreimal laut – mit tiefem, gurgelndem Schrei, wie ihn Gisborne noch nie gehört hatte.

»Sie wird kommen«, sagte Mogli zuletzt. »Wir wollen im Schatten warten.« Die langen Wimpern senkten sich über seine herrischen Augen, und er begann in der Morgenstille leicht einzuduseln. Gisborne wartete geduldig. Mogli war zweifellos nicht recht bei Sinnen, aber der unterhaltsamste Begleiter, den sich ein einsamer Forstbeamter wünschen konnte. »Ho, ho«, machte Mogli lässig mit geschlossenen Augen. »Er ist heruntergefallen. Die Stute wird also zuerst kommen und danach der Mann.« Dann gähnte er, indes Gisbornes Ponyhengst zu wiehern begann. Drei Minuten später kam die weiße Stute gezäumt und gesattelt in die Lichtung getrabt und drängte sich zu ihrem Gefährten.

»Sehr warm ist sie geworden«, sagte Mogli, »aber in dieser Hitze kommt der Schweiß leicht. Gleich werden wir den Reiter sehen, denn ein Mann geht langsamer als ein Pferd, besonders – wenn er dabei noch dick und alt ist.«

»Allah, das ist Teufelsblendwerk!« rief Gisborne und sprang auf die Füße, denn ein Schrei drang aus der Dschungel.

»Habe keine Sorge, Sahib, er kommt nicht zu Schaden. Auch er wird sagen, daß es Teufelswerk ist. Horch! Wer ist das?«

Die Stimme Abdul Gafurs drang in Todesschrecken herüber. Unbekannte Mächte flehte er an, ihn und seine grauen Haare zu schonen.

»Nein, keinen Schritt mehr kann ich weiter«, jammerte er. »Ich bin alt, und verloren ist mein Turban. Arré! Ja, ja, ich gehe schon, eilen will ich, laufen, was ich kann! Oh, ihr Teufel der Hölle, ein Muselman bin ich!«

Das Unterholz teilte sich, und Abdul Gafur tauchte auf, ohne Turban, ohne Schuhe, das Hüfttuch aufgelöst, Schmutz und Gras in den geballten Fäusten und das Gesicht purpurrot. Als er Gisborne erblickte, schrie er von neuem auf, wankte vor und fiel erschöpft und am ganzen Leibe zitternd vor seinem Herrn nieder. Mogli betrachtete ihn mit sanftem Lächeln.

»Das ist kein Scherz mehr«, sagte Gisborne streng. »Der Mann kann sterben, Mogli.«

»Er wird nicht sterben, er hat nur Angst. Es war gar nicht nötig, daß er ins Laufen verfiel.«

Abdul Gafur erhob sich stöhnend, an allen Gliedern zitternd.

»Hexerei war es, Hexerei und Teufelswerk«, schluchzte er und tastete mit seiner Hand auf der Brust herum. »Meiner Sünde wegen haben mich Teufel durch den Wald gepeitscht. Es ist alles aus, ich bereue. Nimm sie, Sahib!« Und er hielt Gisborne eine Rolle zerdrückter Papiere hin. »Was soll das bedeuten, Abdul Gafur!« Gisborne erriet bereits, was geschehen war.

»Wirf mich ins Gefängnis – hier sind die Banknoten alle –, aber laß mich so sicher verschließen, daß keine Teufel mehr folgen können. Versündigt habe ich mich gegen den Sahib und gegen sein Salz, das ich aß; aber wären die verfluchten Walddämonen nicht über mich gekommen, so würde ich weit weg von hier haben Land kaufen können und in Frieden leben bis an mein seliges Ende.«

Voller Verzweiflung und Reue schlug er mit dem Kopf auf den Boden. Gisborne drehte das Banknotenpäckchen in den Händen. Es war sein Gehalt der letzten neun Monate, das angesammelte Geld, das immer im Schubfach lag, zusammen mit den Briefen aus der Heimat und dem Zündkapseleinsetzer.

Mogli betrachtete Abdul Gafur und lachte leise vor sich hin.

»Es ist nicht nötig, mich wieder auf das Pferd zu setzen. Ich will zusammen mit dem Sahib langsam zu Fuß nach Hause gehen, und dann kann er mich unter Bedeckung ins Gefängnis schicken. Die Regierung gibt viele Jahre für ein solches Vergehen«, sagte der Diener mit gebrochener Stimme.

In der Einsamkeit des Rukhs beginnt man über sehr vieles im Leben anders zu denken. Gisborne blickte auf Abdul Gafur und dachte daran, daß er ein sehr brauchbarer Diener war, ein Nachfolger sich erst in die Gewohnheiten des Hauses langsam einarbeiten müsse und bestenfalls eine neue, fremde Erscheinung mit fremder Stimme sein würde.

»Höre, Abdul Gafur«, sagte er schließlich. »Du hast großes Unrecht getan, hast deine Ehre und dein Ansehen eingebüßt. Ich glaube aber, daß die Versuchung ganz plötzlich über dich gekommen ist.«

»Allah! Nie zuvor habe ich nach dem Geld Verlangen getragen. Der Teufel packte mich an der Gurgel, während ich hinsah.«

»Das meine ich auch. Geh jetzt zurück zu meinem Haus, und wenn ich heimkehre, werde ich die Noten durch einen Läufer zur Bank schicken, und es soll nicht mehr davon die Rede sein. Du bist zu alt für das Gefängnis, und deine Familie hat doch keine Schuld daran.«

Abdul Gafur schluchzte und hielt Gisbornes rindslederne Reitstiefel umklammert. »Und der Sahib wird mich nicht entlassen?« stieß er hervor.

»Das wird sich finden. Das hängt ganz davon ab, wie du dich in Zukunft führst. Setze dich jetzt auf die Stute und reite langsam heim.«

»Aber die Teufel?! Das Rukh steckt voller Teufel.«

»Keine Sorge, alter Papa. Sie werden dir nichts tun, außer, du gehorchst nicht den Befehlen des Sahibs«, sagte Mogli. »In diesem Falle aber werden sie dich nach Hause treiben – auf die Art der Nilghais.« Abdul Gafur starrte Mogli sprachlos an, während er sich das Hüfttuch umschnürte.

»Sind es seine Teufel? Seine Teufel? Und ich dachte bei der Heimkehr alle Schuld auf diesen Hexenmeister zu schieben!«

»Gut ausgedacht war das, Huzrud. Aber bevor du eine Falle machst, sieh zu, wie groß das Wild ist, das da hineingeraten soll. Ich glaubte anfangs nur, daß irgendein Fremder das Pferd des Sahibs gestohlen hätte. Wenn ich gewußt hätte, daß du mich vor dem Sahib zum Diebe machen wolltest, da hätten dich meine Teufel bei den Beinen hierhergeschleppt. Doch es ist noch nicht zu spät dazu.«

Mogli blickte fragend auf Gisborne; aber Abdul Gafur watschelte hastig zu der weißen Stute, kletterte auf ihren Rücken und floh davon, daß die Waldpfade hinter ihm krachten und hallten.

»Gut getan«, sagte Mogli. »Aber er wird wieder herunterfallen, wenn er sich nicht an der Mähne festhält.«

»Jetzt wirst du mir aber erklären, was das alles zu bedeuten hat«, befahl Gisborne streng. »Was redest du da von Teufeln? Wie können Menschen im Rukh hin und her getrieben werden wie Rindvieh? Sprich!«

»Ist der Sahib zornig, weil ich ihm sein Geld gerettet habe?«

»Nein, aber da ist irgendein Trugwerk dabei, und das gefällt mir nicht.«

»Sehr wohl. Aber wenn ich jetzt aufstünde und drei Schritt in das Rukh ginge, dann würde niemand, selbst der Sahib nicht, mich finden, bis es mir beliebte. Das aber würde ich ungern tun, ebenso ungern wie Rede stehen. Gedulde dich ein wenig, Sahib, und eines Tages werde ich dir alles zeigen, und wenn du willst, treiben wir eines Tages den Bock gemeinsam. Teufelei ist nicht dabei, ganz und gar nicht, nur… Ich kenne das Rukh so gut wie der Koch seine Küche.«

Mogli sprach wie zu einem ungeduldigen Kinde. Gisborne schwieg verwirrt und verärgert, starrte zu Boden und dachte nach. Als er aufsah, war der Waldmensch verschwunden.

»Es ist nicht gut, wenn Freunde sich erzürnen«, sagte eine leise Stimme aus dem Dickicht. »Warte bis zum Abend, Sahib, wenn es kühler geworden ist.«

»Im Stich gelassen, mitten im Herzen des Rukhs«, fluchte Gisborne; dann lachte er, stieg wieder auf und ritt weiter. Er besuchte eine Hegerhütte, besichtigte neue Anpflanzungen, gab Weisung zum Abbrennen eines trockenen Grasstreifens und machte sich dann zu seinem gewohnten Übernachtungsort auf, einer Anhäufung von Felsstücken, dürftig mit Zweigen und Blättern überdacht, unweit vom Ufer des Kanjeflusses gelegen. Es dunkelte schon, als er sich dem Ruheplatz näherte, und der Wald erwachte schon zu dem heimlichen, blutgierigen Leben der Nacht.

Von einem Erdhügel blinkte ein Lagerfeuer, und der Wind trug den Duft eines vortrefflichen Mahls heran.

»Hm«, meinte Gisborne, »das ist auf jeden Fall besser als kaltes Fleisch. Das kann nur Müller sein; offiziell sollte er das Tschangamanga-Rukh abreiten, und deshalb ist er, denke ich, zur Zeit auf meinem Grund und Boden.«

Der gigantische Deutsche, den Gisborne meinte, war Haupt und König der gesamten Wälder und Forsten Indiens, Oberforstmeister von Birma bis Bombay. Er hatte die Gewohnheit, wie eine hurtige Fledermaus von einem Revier zum anderen zu flitzen, ohne vorherige Ankündigung, und tauchte immer da auf, wo er am wenigsten erwartet wurde. Nach seiner Theorie waren überraschende Kontrollbesuche das beste Mittel, um Fehler oder Nachlässigkeiten im Dienst richtigzustellen; er zog die persönliche Rüge dem umständlichen schriftlichen Dienstverkehr vor, der gewöhnlich mit einem amtlichen Verweis endete und dem sonst tüchtigen Forstmann das Führungszeugnis verdarb. Müller erklärte das so: »Wenn ich zu meinen Leuten wie ein holländischer Onkel reden kann, dann sagen sie: ›Na ja, der olle Müller hat wieder mal Krach geschlagen‹, und das nächste Mal machen sie’s besser. Aber wenn sich mein dicker Schreiber erst hinsetzt und eine lange Schrift losläßt: ›Der Herr Generalinspektor kann nicht begreifen, ist äußerst befremdet –‹, dann kommen wir erstens nicht weiter, denn ich bin nicht zur Stelle, und zweitens kann mein Ochse von Nachfolger zu meinem besten Beamten sagen: ›Sehen Sie hier, schon mein Vorgänger war höchst unzufrieden mit Ihnen.‹ Sie können mir glauben, von wegen dicker Achselstücke und goldener Knöpfe wachsen die Bäume nicht.«

Aus der Dunkelheit hinter dem Feuerschein erscholl Müllers tiefe Stimme, der sich über die Schulter seines Lieblingskochs beugte: »Nicht soviel Sauce, Sohn Belials! Worcestersauce ist eine Würze und keine Brühe. Siehe da, Gisborne! Mit dem Essen haben Sie heute nicht viel Glück. Wo ist Ihr Lager?« Er kam heran und schüttelte Gisborne kräftig die Hand.

»Ich bin mein eigenes Lager«, erwiderte Gisborne. »Ich wußte gar nicht, daß Sie in der Nähe waren.«

Müller betrachtete wohlgefällig die schlanke Figur des jungen Mannes. »Gut, sehr gut! Ein Pferd und etwas kaltes Fleisch zur Nahrung. Als ich jung war, machte ich es genauso. Jetzt essen Sie mit mir. Ich war gerade bei der Regierung, um meinen letzten Monatsbericht vorzulegen. Halb habe ich ihn selbst geschrieben – ho! ho! –, und den Rest habe ich meinen Schreibern überlassen und bin spazierengegangen. Die Regierung ist ganz verrückt mit solchen Berichten. Das habe ich auch dem Vizekönig neulich in Simla zu verstehen gegeben.«

Gisborne lachte und erinnerte sich der vielen Geschichten, die über Müllers ständige Reibereien mit der hohen Regierung im Umlauf waren. Er war der leibhaftige Schrecken aller Amtsstellen, aber als Forstmann hatte er nicht seinesgleichen.

»Ich sage Ihnen, Gisborne, wenn ich Sie mal in Ihrem Bungalow antreffe beim Berichteschreiben an mich, anstatt beim Abreiten der Pflanzungen, dann versetze ich Sie mitten in die Bikkanerwüste, damit Sie die aufforsten. Mir ist das Papierkauen schon zum Kotzen, die Arbeit kommt dabei nicht vorwärts.« »Es ist keine Gefahr, daß ich meine Zeit mit Berichtschreiben vergeude. Mir ist das ebenso zuwider wie Ihnen.«

Die Unterhaltung ging auf Berufsangelegenheiten über. Müller hatte einige Fragen zu stellen, und Gisborne empfing dienstliche Weisungen, bis das Essen fertig war. Für Gisborne war es seit Monaten wieder einmal eine menschenwürdige Mahlzeit. Keine noch so große Entfernung von den Nahrungsmittelmärkten durfte Müllers Koch in seinem Werk beeinträchtigen; und das Essen in der Wildnis begann mit frischen Süßwasserfischen in vortrefflicher Würze und endete mit Kaffee und Kognak.

Mit einem Ah! höchster Befriedigung streckte sich Müller in seinem abgenutzten Feldstuhl aus und zündete sich eine Zigarre an. »Wenn ich meine Berichte verfasse, dann bin ich Freidenker und Atheist; aber hier im Rukh bin ich richtiggehender Christ. Auch Heide bin ich übrigens.« Genießerisch zog er an seiner Zigarre, ließ die Hände auf die Knie fallen und blickte vor sich hin in das leise schlagende Herz des Waldes, aus dem geheimnisvolle Geräusche drangen. Zweige knackten, wie das Knacken des Lagerfeuers hinter ihm, Äste, von der Sonnenhitze krumm gebogen, reckten und dehnten sich seufzend in der Kühle der Nacht; das leise Rauschen des Kanjeflusses mischte sich mit den mannigfachen Tönen des reichbevölkerten Graslands, das, der Sicht entzogen, jenseits einer Hügelwelle lag. Müller stieß eine dicke Rauchwolke aus und begann Goethe zu zitieren.

»Ja, schön ist es, sehr schön. ›Und mit Geistesstärke wirke Wunder ich‹, und weiß Gott, sie werden wahr. Ich denke an die Zeit, wo das Rukh kaum kniehoch war von hier bis zum Ackerland; und zur Trockenheit fraßen die Tiere alle die Reste des verendeten Rindviehs. Jetzt stehen überall wieder hohe Bäume: die sind von einem Freidenker gepflanzt, weil der etwas von Ursache und Wirkung verstand. Aber unter den Bäumen hier herrscht der Kult der alten Götter – ›und die Christengötter wimmern‹. Sie können nicht leben im Rukh, Gisborne.«

Auf dem zum Lager führenden Pfade bewegte sich ein Schatten – glitt heran und trat in das Licht der Sterne.

»Recht habe ich. Still! Hier ist Faunus höchstselbst, der kommt, um sich den Generalinspektor anzusehen. Wahrhaftig, der Gott ist es! Sehen Sie doch!«

Mogli war es, auf dem Kopf einen Kranz weißer Blüten und in der Hand einen Ast. Er mißtraute dem flackernden Feuer und schien jeden Augenblick bereit, wieder in das Dickicht zu entfliehen.

»Mein Freund ist es,« erklärte Gisborne. »Er sucht mich. Hallo! Mogli!«

Ehe sich Müller von seinem Staunen erholen konnte, stand der seltsame Mensch schon neben Gisborne und rief: »Unrecht war es von mir, fortzugehen. Unrecht war es. Aber ich wußte nicht, daß die Gefährtin des Tigers, den du hier am Flusse getötet hast, wachte und dir auflauerte. Sonst wäre ich nicht fortgegangen. Sie schleicht dir nach, Sahib, auf der Schneise dahinten.«

»Er ist ein wenig verrückt«, sagte Gisborne. »Er spricht von allen Tieren hier herum, als ob sie seine Freunde wären.«

»Natürlich – natürlich, wer sonst als Faun kann mit Tieren vertraut sein?« entgegnete Müller ernst. »Was meint er denn mit den Tigern – dieser Gott, der sie so gut kennt?«

Gisborne steckte sich eine frische Zigarre an, und sie war bis zum Ende heruntergebrannt, als er die Geschichte von Mogli und seinen Heldentaten beendet hatte. Müller hatte zugehört, ohne einmal zu unterbrechen. »Das ist kein Wahnsinn, ganz und gar nicht«, sagte er schließlich, als ihm Gisborne die Hetze Abdul Gafurs beschrieben hatte.

»Was soll es sonst sein? Heute morgen verließ er mich aufgebracht, nur weil ich ihn fragte, wie er das zuwege gebracht hätte. Irgendwie ist der Bursche besessen, glaube ich.«

»Nein, das ist keine Besessenheit, aber höchst wunderbar ist es. Gewöhnlich sterben sie jung, diese Leute. Und Sie sagen, Ihr Spitzbube von Diener hat nichts darüber ausgesagt, wer die Stute trieb – der Nilghaibulle kann natürlich nicht sprechen.«

»Nein, und verdammt noch mal, da war auch nichts. Ich habe genau gehorcht, und meine Ohren sind gut. Der Bulle und der Mann kamen einfach angestürzt – wie irrsinnig vor Angst.«

Müller schwieg, musterte Mogli von oben bis unten und winkte ihm dann, näher zu treten. Mogli kam heran wie ein Rehbock auf verwischter Fährte. »Brauchst keine Angst zu haben«, sagte Müller in der Landessprache. »Streck‘ deinen Arm aus.«

Er betastete den Arm am Ellenbogen und nickte. »Das habe ich mir gleich gedacht. Nun die Knie.« Gisborne sah, wie er die Kniescheibe betastete, und lächelte. Ein paar Narben dicht über dem Fußgelenk fielen ihm auf.

»Die kamen, als du noch ganz jung warst?« fragte Müller.

»Ja, Liebesbeweise der Kleinen«, antwortete Mogli lächelnd. Dann zu Gisborne gewandt: »Dieser Sahib weiß alles; wer ist er?«

»Das kommt später, mein Freund. Wo sind denn nun die Kleinen?« fragte Müller.

Mogli schwenkte seinen Arm im Kreis über dem Kopf.

»So! Also Nilghais kannst du treiben? Paß auf. Dort drüben steht angepflockt meine Stute. Kannst du sie hierher zu mir bringen, ohne sie zu erschrecken?«

»Kann ich die Stute zu dem Sahib bringen, ohne sie zu erschrecken?« wiederholte Mogli und erhob dabei ein wenig seine Stimme. »Was ist leichter, wenn die Fußfesseln gelockert sind?«

»Lockere die Kopf- und Fußriemen«, rief Müller dem Pferdewärter zu. Kaum war das geschehen, als das Pferd, ein riesiger schwarzer Australier, den Kopf aufwarf und die Ohren spitzte.

»Vorsicht! Ich möchte nicht, daß sie ins Rukh getrieben wird«, sagte Müller.

Mogli stand unbeweglich und starrte in das Licht des Feuers – in Gestalt und Haltung dem vielgepriesenen griechischen Gott gleichend. Die Stute wieherte, hob ein Hinterbein, fühlte sich von den Fesseln frei, kam rasch zu ihrem Herrn getrabt und legte ihm den Kopf auf die Schulter.

»Sie kam von selbst, meine Pferde tun das auch«, wandte Gisborne ein.

»Fühle, ob sie heiß ist«, sagte Mogli.

Gisborne legte die Hand auf die feuchte Flanke des Pferdes.

»Das genügt«, erklärte Müller.

»Das genügt«, wiederholte Mogli, und ein Fels hinter ihm warf die Worte hallend zurück.

»Unheimlich, nicht wahr?« fragte Gisborne. »Nein, aber wunderbar, höchst wunderbar. Sie begreifen noch immer nicht, Gisborne?«

»Ich muß gestehen, nein.«

»Na, dann erzähle ich Ihnen auch nichts. Er sagt, daß er Ihnen später alles zeigen wird. Es wäre doch grausam, ihm die Freude zu nehmen. Aber höchst seltsam ist es, daß er noch lebt. Nun höre, du.«

Müller blickte Mogli scharf an und redete wieder in der Landessprache: »Ich bin der Herr aller Wälder im Lande Indien und anderer jenseits des schwarzen Wassers. Wie viele Leute ich unter mir habe, weiß ich nicht – vielleicht fünf-, vielleicht zehntausend. Das aber sei deine Aufgabe – nicht mehr umherzustreifen im Rukh und Tiere zur Kurzweil oder zur Schau zu treiben, sondern in den Dienst zu treten unter mir, der für Wälder und Forsten die Regierung ist. Von nun ab sollst du im Rukh als Waldhüter leben, sollst die Ziegen der Dörfler verjagen, wenn nicht Weisung gegeben ist, sie im Rukh grasen zu lassen, dafür sorgen, daß Schwarzwild und Nilghais nicht allzusehr überhandnehmen, sollst Gisborne Sahib melden, wo Tiger wechseln und was für jagdbares Wild im Walde ist und ihm sichere Warnung zukommen lassen vor Waldbränden, denn du kannst schneller Meldung bringen als jeder andere. Für diese Arbeit bekommst du jeden Monat dein Gehalt in Silber und später, wenn du dir ein Weib genommen hast, Kinder und Vieh besitzt, eine Rente vom Staat. Was sagst du dazu?«

»Genau das habe ich ihm …«, begann Gisborne.

»Mein Sahib sprach diesen Morgen von solch einem Dienst. Den ganzen Tag wanderte ich umher und sann darüber nach. Dies meine Antwort: Ich diene, aber nur in diesem Rukh und unter keinem anderen als Gisborne Sahib.«

»So sei es. In einer Woche bekommst du deine schriftliche Anstellung und die Verpflichtung der Regierung auf eine Rente für dich nach Ablauf der Dienstzeit. Dann wirst du dir eine Hütte aufbauen, wo Gisborne Sahib es bestimmt.«

»Ich wollte schon darüber mit Ihnen reden«, sagte Gisborne.

»Besser war es, daß ich den Mann selbst sah. Einen besseren Waldhüter wird es niemals geben. Ein Wunder ist er. Ich kann Ihnen sagen, Gisborne, das werden Sie eines Tages auch herausfinden. Hören Sie, er ist Blutsbruder mit jedem Tier im Rukh.«

»Es würde mir angenehmer sein, wenn ich ihn durchschauen könnte.«

»Das kommt schon noch. Ich will Ihnen sagen, daß ich nur einmal in meiner Dienstzeit, und das sind dreißig Jahre, einen Jungen getroffen habe, der so anfing wie dieser Mann hier. Aber er starb. Manchmal ist in den Regierungsberichten von solchen Wesen die Rede, aber alle sterben sie früh. Der hier ist am Leben geblieben und ist ein richtiger Anachronismus, denn sein Ursprung liegt noch vor der Eisen- und Steinzeit. Er steht gewissermaßen noch am Anfang der Geschichte der Menschheit – Adam im Garten Eden, und nur die Eva fehlt noch. Ach wo, älter ist er noch als diese Kindermärchen. So wie das Rukh noch älter ist als die Götter. Gisborne, von nun an bin ich Heide, ein für allemal.«

Den ganzen langen Abend noch saß Müller, rauchte und rauchte und starrte in die dunkle Nacht; seine Lippen formten mannigfache Zitate, und ein großes Staunen lag auf seinem Gesicht. Dann ging er in sein Zelt, trat aber dann bald in seinem majestätisch-prachtvollen Schlafanzug wieder heraus, und als letztes hörte Gisborne ihn das Rukh anreden, und durch die Totenstille der schwarzen Mitternacht klang es mit dröhnender Stimme:

»Wir bedecken, verhängen, verhüll’n uns,
Du aber bist edel, nackt und antik;
Libidina deine Mutter, Priapus
Dein Vater, Grieche und Gott.«

»Ob Heide oder Christ, in die Seele des Rukhs werde ich nie ganz eindringen können.«

Es war Mitternacht im Bungalow eine Woche später, als Abdul Gafur, aschgrau vor Wut, an Gisbornes Bett stand und ihn mit Geflüster weckte.

»Auf, Sahib«, stammelte er. »Auf und nimm dein Gewehr. Meine Ehre ist dahin. Auf, und töte, ehe die Schande ans Tageslicht kommt.« Das Gesicht des alten Mannes war derart verändert, daß Gisborne ihn verständnislos anstarrte.

»Darum also half mir dieser Dschungelauswurf den Tisch des Sahibs säubern, Wasser tragen und Hühner rupfen. Auf und davon sind alle beide, trotz aller meiner Prügel, und jetzt sitzt er unter seinen Teufeln und schleift ihre Seele hinab zur Hölle. Steh auf, Sahib, und folge mir.«

Er drückte dem noch halb schlafenden Gisborne die Flinte in die Hand und zerrte ihn fast aus dem Zimmer auf die Veranda.

»Dort im Rukh sind sie, kaum auf Flintenschußweite vom Haus entfernt. Komm mit, aber leise!«

»Was ist denn los? Was hast du denn, Abdul?«

»Mogli und seine Teufel und meine Tochter dazu.«

Gisborne pfiff durch die Zähne und folgte seinem Führer. Nicht ohne Grund also hatte Abdul Gafur in den Nächten seine Tochter geschlagen, und nicht ohne Grund hatte Mogli einem Manne bei der Hausarbeit geholfen, den er vor kurzem noch, kraft seiner unbegreiflichen Macht, des Diebstahls überführt hatte. Ja, schnell freit man in der Dschungel.

Die Töne einer Flöte kamen aus dem Rukh, es klang fast wie der Gesang eines schweifenden Waldgottes; und beim Nähertreten hörten sie Stimmengemurmel. Der Pfad endete in einer kleinen halbkreisförmigen Lichtung, die zum Teil von Bäumen, zum Teil von hohem Gras umhegt war. In der Mitte der Lichtung, mit dem Rücken zu den Beobachtern, saß Mogli auf einem Baumstamm, festlich bekränzt mit frischen Blumen, hatte einen Arm um den Nacken von Abdul Gafurs Tochter gelegt und spielte auf einer Bambusflöte, zu deren Klängen vier riesige Wölfe das Paar mit feierlichen Bewegungen umtanzten.

»Seine Teufel sind das«, flüsterte Abdul Gafur. In der Hand hielt er ein Bündel Patronen. Auf einen langgezogenen zitternden Ton hin legten sich die Wölfe still nieder und blickten mit grünlich schillernden Augen auf das Mädchen.

»Schau doch«, sagte Mogli und legte die Flöte beiseite. »Ist hier irgend etwas zu fürchten? Ich sagte es dir gleich, und du, kleines tapferes Herz, du glaubst mir. Dein Vater – o hättest du ihn laufen sehen, als er getrieben wurde wie ein Nilghai –, dein Vater sagte, daß es Teufel wären, und bei Allah, deinem Gott, ich wundere mich nicht, daß er sie dafür hielt.«

Das Mädchen lachte mit einem kleinen girrenden Lachen, und Gisborne hörte Abdul Gafur mit seinen paar noch übriggebliebenen Zähnen knirschen. Das war nicht mehr das kindliche Mädchen, das Gisborne kannte, schweigsam und mit scheuem Blick hinter dem dichten Schleier, sondern – ein Weib, voll erblüht über Nacht, wie die Orchidee, die sich in wenigen Augenblicken entfaltet in der feuchten Hitze.

»Spielgefährten sind sie mir und Brüder, Kinder der Mutter, die mich säugte«, fuhr Mogli fort. »Kinder des Vaters, der mich mit seinem Leibe schützte vor der eindringenden Kälte am Rande der Höhle, als ich ein kleines nacktes Kind war. Schau!« – Ein Wolf erhob seinen grauen Kopf und beleckte Moglis Knie. – »Mein Bruder weiß, daß ich von ihm spreche. Ja, als ich ein Kind war, war er ein Wolfsjunges und wälzte sich mit mir auf dem lehmigen Boden der Höhle.«

»Aber du sagtest doch, daß du von Menschen geboren bist?« gurrte das Mädchen und nestelte sich dichter an seine Schulter. »Bist du von Menschen geboren?«

»Ich sagte es. Nun fühle ich es auch, daß ein Menschenweib mich gebar, denn du hältst mein Herz, Geliebte.« Ihr Kopf schmiegte sich an Moglis Brust. Gisborne hob abwehrend eine Hand, um Abdul Gafur zurückzuhalten, der nicht im geringsten von dem Wunder dieses Anblicks berührt war.

»Aber dennoch war ich ein Wolf unter Wölfen, bis eine Zeit kam, da mich die von der Dschungel baten, heimzukehren zu meiner Art, da ich ein Mensch war.«

»Wer bat dich, zu gehen? Du sprichst nicht wie ein ehrlicher Mann.«

»Die Tiere selbst taten es. Du wirst es mir nie glauben, aber es war so. Die Tiere der Dschungel baten mich, sie zu verlassen; diese vier aber folgten mir, weil ich ihr Bruder war. Dann war ich Hüter der Viehherden der Menschen und lernte ihre Sprache. Hoho! Zoll zahlten die Herden an meine Brüder, bis eine Frau, eine alte geliebte Frau, mich spielen sah bei Nacht mit meinen Brüdern in den Saaten. Teufelsbesessen wäre ich, sagten die Menschen, mit Stöcken und Steinen vertrieben sie mich aus dem Dorf, und die vier folgten mir heimlich, von niemandem gesehen. Damals lernte ich gekochtes Fleisch essen und dreist reden. Von Dorf zu Dorf ging ich, Herz meines Herzens, Kühehüter, Wärter der Büffel, Fährtensucher des Wildes, aber niemanden gab es, der es wagte, zum zweitenmal gegen mich die Hand zu erheben.« Mogli beugte sich nieder und streichelte einen der grauen Köpfe. »Tue das auch. Nichts Böses ist an ihnen und keinerlei Zauber. Sieh, sie kennen dich.«

»Alle Arten Teufel hausen in den Wäldern«, sagte das Mädchen mit einem Schaudern.

»Lügen, Kindermärchen«, erwiderte Mogli fest. »Oft lag ich im Tau unter den Sternen oder der schwarzen Nacht, und ich weiß, die Dschungel ist meine Wohnstatt. Soll der Mann die Balken seines eigenen Daches fürchten oder die Frau ihres Mannes Herd? Beuge dich nieder und streichele sie.«

»Hunde sind sie und unrein«, murmelte das Mädchen, indes sie sich mit abgewandtem Gesicht vorbeugte.

»Die verbotene Frucht ist verzehrt. Gedenken wir nun des Gesetzes«, erklärte Abdul Gafur düster. »Was zögerst du noch, Sahib? Töte!«

»Still, du! Laß uns hören, was geschah«, gab Gisborne ihm zurück.

»Das hast du gut gemacht«, lobte Mogli und legte wieder seinen Arm um das Mädchen. »Hunde oder nicht Hunde, durch tausend Dörfer sind sie mir gefolgt.«

»So, und wem gehörte damals dein Herz? Durch tausend Dörfer! Tausend Mädchen hast du gesehen. Ich – ich – die ich – die ich aber kein Mädchen mehr bin – besitze ich ganz dein Herz?«

»Bei wem soll ich schwören, bei Allah, deinem Gott?«

»Nein, schwöre bei dem Leben, das in dir ist, und das sei mir genug. Wo war dein Herz in jenen Tagen?«

Mogli lachte leise. »In meinem Wanst, denn ich war jung und immer hungrig. So lernte ich jagen und der Fährte folgen und sandte meine Brüder aus in alle Winde, wie ein König seine Heere. Auf diese Weise trieb ich den Nilghaibullen für den jungen törichten Sahib und die große fette Stute für den großen fetten Sahib, damals, als sie zweifelten an meiner Macht. Ebenso leicht hätte ich die Männer selbst treiben können. Jetzt sogar« – er hob ein wenig die Stimme – »jetzt sogar weiß ich, daß dein Vater und Gisborne Sahib hinter mir stehen. Nein, flüchte nicht davon, denn nicht zehn Mann würden wagen, sich auch nur einen Schritt vorzubewegen. Denke daran, wie oft dich dein Vater schlug. Soll ich das Wort sprechen und ihn abermals im Kreise durch die Dschungel jagen?« Einer der Wölfe richtete sich auf mit gefletschten Zähnen.

Gisborne merkte, wie Abdul Gafur neben ihm am ganzen Leibe zitterte. Gleich darauf war der Platz neben ihm leer, und der fette Mann stolperte eiligst davon.

»Bleibt nur noch Gisborne Sahib«, stellte Mogli fest, ohne sich umzudrehen. »Aber ich aß sein Brot, und bald stehe ich in seinem Dienst; auch meine Brüder werden seine Diener sein, Wild für ihn treiben und Meldungen bringen. Verbirg dich im Grase.«

Das Mädchen entwich, und das hohe Gras schloß sich hinter ihr, während ein Wächterwolf ihr folgte. Mogli, umgeben von den drei anderen Wölfen, wandte sich Gisborne zu, als dieser auf die Lichtung hinaustrat.

»Das ist der ganze Zauber«, Mogli deutete auf seine drei Begleiter. »Der dicke Sahib wußte, daß wir, die wir unter Wölfen aufwachsen, auf Ellbogen und Knien laufen eine Zeitlang. Er befühlte meine Arme und Beine und begriff die Wahrheit, die du nicht kanntest. Ist das so wunderbar?«

»Wahrhaftig, noch wunderbarer ist es als Zauberei. Diese also trieben die Nilghais?«

»Ja, sogar Eblis, den Engel der Finsternis, würden sie treiben, wenn ich es sie hieße. Augen und Füße sind sie mir.«

»Dann nimm dich nur in acht, daß Eblis keine Doppelflinte führt. Sie haben noch einiges zu lernen, deine Teufel, denn einer hinter dem anderen stehen sie jetzt, und zwei Schüsse würden genügen, um sie alle drei umzulegen.«

»Recht, aber sie wissen, daß sie deine Diener sein werden, wenn ich erst Waldhüter bin.« »Hüter oder nicht, Mogli, du hast Scham und Schande über Abdul Gafur gebracht. Sein Haus hast du entehrt und sein Antlitz geschwärzt.«

»Schwarz war es ohnehin, als er dein Geld nahm. Und wurde noch schwärzer, als er vor kurzem dir ins Ohr flüsterte, einen nackten Mann zu töten. Ich selbst werde mit Abdul Gafur reden, denn ich stehe im Dienst der Regierung mit einer Altersrente. Er soll die Heirat vollziehen, in einer Form, die ihm beliebt, oder er wird wiederum gehetzt werden. Wenn der Morgen kommt, gehe ich zu ihm. Im übrigen, dort ist das Haus des Sahibs, und hier ist das meinige. Es ist Zeit, sich wieder schlafen zu legen.«

Mogli wandte sich um und verschwand im Grase – allein blieb Gisborne zurück.

Der Wink des Waldgottes war nicht mißzuverstehen, und Gisborne ging nach seinem Bungalow zurück, wo Abdul Gafur ihn rasend vor Wut und Angst empfing.

»Friedlich, friedlich«, beruhigte Gisborne und schüttelte den Mann, denn er sah aus, als könnte er jeden Augenblick einen Schlaganfall bekommen. »Müller Sahib hat ihn zum Waldhüter ernannt, und nun steht er im Dienst der Regierung und hat, wie du weißt, Anspruch auf eine Altersrente.«

»Paria ist er – ein Mletsch –, Hund unter Hunden, Aasfresser! Welche Rente wäre dafür hoch genug!«

»Allah weiß es; und du hast’s gehört, daß das Unglück geschehen ist. Willst du es allen Leuten in die Ohren blasen? Richte schnell die Hochzeit, und das Mädchen wird ihn zum Muselman machen. Er ist sehr schön. Ist es ein Wunder, daß sie zu ihm lief, nachdem du sie verprügelt hast?«

»Drohte er, mich wieder hetzen zu lassen durch seine Tiere?«

»So schien es. Wenn er ein Zauberer ist, so ist er immerhin ein sehr mächtiger.«

Abdul Gafur sann einen Augenblick nach, dann brach er heulend zusammen, vergessend, daß er ein Muselman war.

»Brahmane bist du. Ich bin deine Kuh. Bringe die Sache in Ordnung und rette meine Ehre, wenn es noch möglich ist!«

Zum zweitenmal in dieser Nacht ging Gisborne in den schweigenden Wald und rief nach Mogli. Die Antwort kam hoch oben aus den Wipfeln der Bäume und in durchaus nicht unterwürfigem Ton.

»Rede anständig«, rief Gisborne und blickte auf. »Es gibt noch Mittel genug, dich zu zähmen und dich samt deinen Wölfen zu jagen. Das Mädchen kehrt sofort in das Haus ihres Vaters zurück. Morgen wird Schadi – Hochzeit – sein nach moslemischem Brauch. Dann kannst du sie mit dir nehmen. Bringe sie jetzt zu Abdul Gafur.«

»Ich höre.« Oben in den Zweigen war das Gemurmel zweier sich beratender Stimmen. »Also, wir wollen gehorchen, zum letztenmal.«

Ein Jahr später ritten Müller und Gisborne zusammen durch das Rukh und unterhielten sich über den Dienst. Bei den Felsen, nahe des Kanjeflusses, kamen sie aus dem Wald heraus; Müller ritt um eine Pferdelänge vor Gisborne. Im Schatten eines Dornbusches kroch ein nacktes braunes Kind herum, und aus dem Dickicht, unmittelbar dahinter, äugte der graue Kopf eines Wolfes. Gisborne hatte gerade noch Zeit, Müllers Büchse hochzuschlagen, und die Kugel schlug prasselnd in das Geäst darüber.

»Sind Sie von Sinnen?« donnerte Müller. »Sehen Sie gefälligst hin.«

»Ich sehe«, erwiderte Gisborne gelassen. »Die Mutter ist irgendwo in der Nähe. Sie werden das ganze Pack in Aufruhr bringen.«

Das Gebüsch teilte sich, eine unverschleierte Frau stürzte hervor und riß das Kind an sich.

»Wer hat geschossen, Sahib?« rief sie Gisborne zu.

»Dieser Sahib. Er dachte nicht an die Diener deines Mannes.«

»Dachte nicht. Aber das mag wohl sein, denn wir, die wir mit ihnen leben, vergessen ganz, daß sie fremde Geschöpfe sind. Mogli ist unten am Fluß und fängt Fische. Will der Sahib ihn sehen? Kommt heraus, ihr, aus dem Gebüsch und macht eure Reverenz vor den Sahibs.«

Größer und größer wurden Müllers Augen. Er schwang sich von der bäumenden Stute, indes die Dschungel drei riesige Wölfe auswarf, die Gisborne umschmeichelten. Die Mutter wiegte das Kind in den Armen und drängte die Tiere beiseite, wenn sie ihr die nackten Füße beleckten.

»Sie hatten ganz recht mit Mogli«, wandte sich Gisborne an Müller. »Ich wollte Ihnen schon immer davon erzählen, aber ich habe mich so an den Burschen gewöhnt in den letzten zwölf Monaten, daß ich es ganz vergaß.«

»Ach, nur keine Entschuldigungen«, erwiderte Müller. »Hat nichts zu sagen. Gott im Himmel! ›Und mit Geistesstärke wirk‘ ich Wunder auch‹ – und sie werden dann wahr.«

Das Wunder des Purun Baghat

Das Wunder des Purun Baghat

        Denn wir liebten ihn mit der Liebe Macht,
Da schlichen wir hin und berührten ihn leis‘,
Als die Erd‘ zu wanken begann in der Nacht,
Die nicht versteht, aber fühlt und weiß.

Und als mit Brüllen der Berg zerbrach,
Im Regensturz unsere Welt zerfiel,
Wir Kleinen schützten ihn – doch ach!
Nun lauscht er nie mehr unsrem Spiel.

Mit scheuer Lieb‘, nach Wildlings Art,
Hat unsre Schar ihn treu bewacht,
Weh! Unser Bruder schläft, und hart
Von hinnen seine Sipp‘ uns jagt.

Klagelied des Langurs

Einst lebte ein Mann in Indien, der war Erster Minister eines der halb unabhängigen Eingeborenenstaaten im nordwestlichen Teil des Landes. Ein Brahmane war er, von so hoher Kaste, daß Kaste aufhörte, eine besondere Bedeutung für ihn zu haben. Sein Vater war ein wichtiger Beamter gewesen in dem farbig heiteren und bequemen Trott eines altmodischen Hinduhofes. Aber als Purun Daß heranwuchs, erkannte er, daß die alten Zeiten im Schwinden waren, und daß man, um vorwärtszukommen, sich mit den Engländern freundlich stellen und alles nachahmen müßte, was sie für gut hielten. Gleichzeitig aber mußte ein eingeborener Beamter sich auch die Gunst seines eigenen Herrn zu erhalten suchen. Das war eine schwierige Aufgabe, aber der ruhige, wortkarge junge Brahmane, dem auch eine gute englische Erziehung an der Universität in Bombay dabei half, faßte die Sache mit kühlem Kopf an und stieg Stufe für Stufe höher auf, bis er zuletzt Erster Minister des Königreichs wurde. Das will heißen, daß er mehr wirkliche Macht besaß als sein Herr, der Maharadscha.

Als der alte König – der den Engländern mit ihren Eisenbahnen und Telegraphen immer mißtraut hatte – starb, stand Purun Daß in hoher Gunst bei dem jungen Thronerben, der von einem Engländer erzogen worden war. Beide zusammen gründeten nun Schulen für Mädchen, legten Straßen an, eröffneten Staatsapotheken, landwirtschaftliche Ausstellungen und gaben ein jährliches Blaubuch heraus über den »moralischen und materiellen Fortschritt des Staates«. Das Auswärtige Amt in London und die Regierung in Indien waren natürlich entzückt darüber; aber Purun Daß trug stets Sorge, daß alle Ehre seinem Herrn und König zuteil wurde.

Nur sehr wenige Eingeborenenstaaten nehmen den englischen Fortschritt ohne Vorbehalt an, weil sie nämlich nicht der Meinung sind, daß alles, was für Engländer gut ist, für Asien doppelt gut sein müßte; aber Purun Daß war dieser Meinung. So wurde der Erste Minister der geachtete Freund von Vizekönig und Gouverneuren, ärztlichen Missionaren und gewöhnlichen Missionaren und gut zu Pferde sitzenden englischen Offizieren, die kamen, um in den Schutzstaaten zu jagen, sowie auch der Freund ganzer Scharen von Reisenden, die Indien während der kalten Jahreszeit durchquerten und den Leuten zeigten, wie alles gemacht werden müßte. In seiner Mußezeit gründete er Stipendien für das medizinische Studium, Fabriken aller Art genau nach englischem Muster und schrieb Artikel für den »Pionier«, die größte indische Tageszeitung, in denen er die Ziele und Pläne seines Herrn erklärte.

Zuletzt reiste er zu einem Besuch nach England und hatte bei seiner Rückkehr riesige Summen an die Priester zu zahlen. Denn selbst ein Brahmane von so hohem Rang wie Purun Daß verlor die Rechte seiner Kaste, sobald er das dunkle Meer kreuzte. In London traf er mit allen Persönlichkeiten zusammen, deren Bekanntschaft ihm von Bedeutung war – Männer mit Namen von Weltklang –, und sah ein gut Teil mehr, als er sagte. Ihm wurden Ehrengrade von Universitäten und gelehrten Gesellschaften verliehen; er hielt Reden, unterhielt sich mit Damen in ausgeschnittenen Kleidern über soziale Reformen der Hindu: bis ganz London rief: Das ist der interessanteste Mann, den wir bei einem Essen trafen, seitdem es überhaupt gedeckte Tische gibt!

Als er nach Indien zurückkehrte, strahlte sein Ruhm im höchsten Glanz, denn der Vizekönig kam in eigener Person zu Besuch, um dem Maharadscha das Großkreuz des »Sterns von Indien«, diamanten-, schmelz- und bänderflimmernd, zu überreichen. Bei der gleichen Zeremonie wurde unter dem Donnern der Kanonen Purun Daß zum Großritter des »Ordens vom Indischen Reich« ernannt, so daß sein Name fortan lautete: Sir Purun Daß, K.C.I.E.

Am Abend beim Diner im vizeköniglichen Zelt erhob er sich, geschmückt mit Stern und Ordensband, und hielt in Erwiderung einer Rede auf seines Königs Gesundheit eine Ansprache, die kaum ein Engländer hätte übertreffen können.

Im Monat darauf, als über der Stadt wieder sonnendurchglühte Ruhe lag, tat er etwas, was einem Engländer auch nicht im Traume eingefallen wäre – er starb für die Welt. Der juwelengeschmückte Orden seiner Ritterschaft ging an die indische Regierung zurück, ein neuer Erster Minister wurde mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut, und ein eifriges Spiel »Wechselt das Bäumchen« begann in den untergeordneten Beamtenstellen. Die Priester wußten, was vorgegangen war, und das Volk erriet es; aber Indien ist das einzige Land in der Welt, wo man tun kann, was einem beliebt, ohne daß nach dem »Warum« gefragt wird. Nichts Außergewöhnliches fand man in der Tatsache, daß Sir Purun Daß K.C.I.E. Amt, Palast und Macht entsagte, um das ockergelbe Gewand eines »Sunnjasi« oder heiligen Mannes anzulegen und die Bettelschale zu nehmen. Wie das alte Gesetz empfiehlt, war er zwanzig Jahre ein Jüngling gewesen, zwanzig Jahre ein Kämpfer – obgleich er nie in seinem Leben eine Waffe geführt hatte – und zwanzig Jahre das Haupt eines Hausstandes. Reichtum und Macht hatte er entsprechend dem Werte, den er ihnen beimaß, genutzt; Ehren hatte er genommen, wenn sie ihm entgegengebracht wurden; Menschen und Städte hatten sich vor ihm geneigt und ihn geehrt. Nun ließ er das alles fallen, wie ein Mann den Mantel abwirft, wenn er seiner nicht mehr bedarf.

Als er durch das Stadttor schritt, ein Antilopenfell auf den Stab mit messingnem Griff über dem Arm, die Bettelschale aus poliertem braunem Seekokos in der Hand, barfuß, einsam, die Blicke gesenkt, ertönten hinter ihm von den Bastionen die Salutschüsse zu Ehren seines glücklichen Nachfolgers. Purun Daß nickte. Das Leben war beendet; belanglos war für ihn das Vergangene, nicht besser und nicht schlechter als ein farbloser Traum.

Ein Sunnjasi war er jetzt – unbehaust, ein wandernder Bettler, für sein tägliches Brot auf die Gnade seiner Mitmenschen angewiesen, und solange noch ein bißchen zu teilen ist in Indien, hungert kein Priester und kein Bettler. Fleisch hatte er nie in seinem Leben geschmeckt und Fisch nur sehr selten gegessen. Eine Fünfpfundnote hätte ausgereicht, seine Bedürfnisse an Nahrungsmitteln auf ein Jahr auch in jener Zeit zu decken, als er unbestritten Herr über Millionen war. Sogar als er in London der Löwe des Tages gewesen war, hatte er sich immer seinen Traum von Frieden und Ruhe vor Augen gehalten – die lange weiße staubige indische Landstraße, bedeckt mit zahllosen Spuren nackter Füße, dem ununterbrochen träge dahinfließenden Verkehr und dem beißenden Holzrauch, der in der Dämmerung unter den Feigenbäumen aufsteigt, wo die Wanderer bei ihrer Abendmahlzeit sitzen.

Als die Zeit gekommen war, diesen Traum zu verwirklichen, unternahm der Erste Minister die nötigen Schritte – und schon nach drei Tagen wäre es leichter gewesen, ein Bläschen in dem Becken des weiten Atlantischen Ozeans zu finden, als Purun Daß unter den umherstreifenden, sich ballenden und wieder trennenden Millionen Menschen Indiens. Für die Nacht breitete er das Antilopenfell aus, wo immer die Dämmerung ihn überraschte – zuweilen in einem Sunnjasikloster am Rande der Straße; zuweilen bei einem Lehmschrein der Göttin Kala Pir, wo ihn dann die Jogis, eine andere geheimnisvolle Sekte heiliger Männer, aufnahmen wie einen Mann der Bedeutung von Kasten und Sekten; manchmal auch am Rande eines kleinen Hindudorfes, wo die Kinder sich heranstahlen mit Nahrung, von den Eltern gesandt; und zuweilen bei der Quelle eines mageren Weideplatzes, wo dann die Flamme eines kleinen Holzfeuers schläfrige Kamele weckte. Es war alles gleich für Purun Daß oder Purun Baghat, wie er sich jetzt nannte – Erde, Menschen, Nahrung, alles nur eins. Aber seine Füße zogen ihn unbewußt fort, nach Norden und Osten hin; von Süden nach Rohtak, von Rohtak nach Kurnol, von Kurnol nach dem verfallenen Samanah und dann stromaufwärts, das ausgetrocknete Bett des Guggerflusses entlang, das sich nur mit Wasser füllt, wenn in den Bergen die Regen niedergehen, bis er eines Tages die ferne Kette des Großen Himalaja erblickte.

Da lächelte Purun Baghat, denn er entsann sich, daß seine Mutter, von Geburt eine Rajputbrahmanin, aus der Gegend des Kulupasses stammte – eine Frau der Berge, immer mit dem Heimweh nach den Schneegipfeln –, und daß der kleinste Tropfen Bergblut den Menschen am Ende immer dahin zurück» lockt, wo er ursprünglich wurzelte. »Dort oben«, sagte Purun Baghat, indes er die tiefer gelegenen Hänge des Sevalik hinanstieg, wo die Kakteen wie siebenarmige Leuchter stehen, »dort oben werde ich niedersitzen und Wissen erlangen.« Und der kühle Wind des Himalaja pfiff ihm um die Ohren, als er die Straße wanderte, die nach Simla führt.

Das letztemal, als er diese Straße gekommen war, geschah es mit großem Gepränge, mit klirrender Kavallerieeskorte, um den gütigsten und leutseligsten der Vizekönige zu besuchen; und die beiden hatten sich wohl eine Stunde lang über ihre gemeinsamen Bekannten in London unterhalten und von dem, was das indische Volk in Wahrheit dachte und fühlte. Diesmal aber sprach Purun Baghat bei niemandem vor, sondern lehnte am Geländer des Mall, vertieft in die herrliche Aussicht über die Ebene, die sich unter ihm vierzig Meilen weit ausdehnte, bis ein einheimischer mohammedanischer Schutzmann ihm bedeutete, daß er den Verkehr behindere; und Purun Baghat verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor dem Gesetz, denn er kannte dessen Wert, suchte er doch ein Gesetz für sich selbst. Dann pilgerte er weiter und schlief des Nachts in einer leeren Hütte zu Chota Simla, das aussieht, als läge es am Ende der Welt; aber es war nur der Anfang seiner Wanderung.

Dann folgte er der Himalaja-Tibet-Straße, dem zehn Fuß breiten Pfade, der aus massigen Felsen gesprengt ist oder auf Balken über tausend Fuß tiefen Schluchten hängt – dem Pfade, der in feuchte, eingeschlossene Täler hinabtaucht, über kahle grasbewachsene Berghänge klettert, wo die Sonne wie ein Brennglas sticht, oder durch dunkle triefende Wälder sich windet, wo Baumfarne die Stämme von oben bis unten umhüllen und der Goldfasan sein Weibchen lockt.

Tibetanischen Hirten begegnete er mit Hunden und Schafherden, jedes Schaf mit einem Stückchen Borax auf dem Rücken, und wandernden Holzfällern und Lamas aus Tibet, in Mäntel und Wolldecken gehüllt, die nach Indien zur Pilgerfahrt zogen, und Boten kleiner, einsamer Gebirgsstaaten, die auf ihren scheckigen Ponies hastig vorbeijagten, oder der bunten Kavalkade eines Radschas, der auf einen Besuch unterwegs war; oder er sah einen ganzen kristallklaren Tag lang nichts als etwa einen schwarzen Bären, der unten im Tal brummte und wühlte.

Zu Beginn seiner Wanderung tönte noch das Getöse der Welt in seinen Ohren, so wie der Donner im Tunnel nachhallt, wenn ein Zug hindurchgefahren ist. Als er aber den Muttieaniepaß hinter sich hatte, war das alles verklungen – und Purun Baghat war allein mit sich selbst, wandernd, staunend, sinnend, die Augen am Boden, die Gedanken in den Wolken.

Eines Abends erreichte er nach zweitägigem Aufstieg den höchsten Paß, den er bisher erklommen hatte, und stand nun plötzlich vor einer Kette von Schneegipfeln, die wie ein Gürtel den Horizont umschlossen – Berge von fünfzehn» bis zwanzigtausend Fuß Höhe schienen so nahe, als könnte man sie mit einem Steinwurf erreichen, und waren doch fünfzig bis sechzig Meilen entfernt. Die Paßhöhe war bedeckt mit dunklem dichtem Wald – Deoda, Walnuß, wilder Kirsche, wilder Olive und wilden Birnbäumen –, aber zumeist mit Deoda, das ist die Himalaja-Zeder; und im Schatten der Deodazedern stand ein verlassener Schrein der Kali – das ist Durga oder Sitala, die manchmal gegen die Blattern angerufen wird.

Purun Daß fegte den Steinboden sauber, lächelte der grinsenden Gottheit zu, baute sich im Hintergründe des Schreins eine kleine Feuerstelle aus Lehm, breitete sein Antilopenfell über ein Lager von frischen Fichtenreisern, schob den Bairagi – die Stütze mit Messinggriff – in die Achselhöhle und setzte sich nieder, um zu ruhen.

Unmittelbar zu seinen Füßen fiel die Bergwand jäh ab, fünfzehnhundert Fuß tief bis zu einem kleinen Dorf mit Häusern aus Steinmauern und gestampften Erddächern, die am steilen Hange klebten. Rund um das Dorf lagen in winzige Terrassen geteilte Felder, die wie eine Schürze aus Flickwerk die Knie des Berges bedeckten, und Kühe, nicht größer als Käfer, weideten zwischen den glatten Steinen der kreisförmigen Dreschtennen. Beim Blick über das Tal hinweg täuschte man sich über die Größenverhältnisse, und zuerst war nicht gleich zu erkennen, daß scheinbar niedriges Gestrüpp auf der Bergseite gegenüber in Wahrheit ein Wald mit fünfhundert Fuß hohen Fichten war. Purun Baghat sah einen Adler über dem gewaltigen Talgrund schweben, aber der große Vogel schrumpfte zu einem Punkte ein, ehe er noch halb hinüber war. Einzelne Wolkenfetzen strichen an den Talwänden dahin, hafteten wohl an einem Bergvorsprung oder trieben hoch und verwehten auf der Höhe des Passes. Und Purun Baghat sprach: »Hier werde ich Frieden finden.«

Nun bedeutet einem Bergbewohner einige hundert Fuß Auf- und Abstieg herzlich wenig; und sobald die Dörfler den Rauch in dem verlassenen Schrein bemerkt hatten, stieg der Dorfpriester die Hügelterrassen hinauf, um den Fremdling zu begrüßen. Als er Purun Baghats Blick begegnete – dem Blick eines Mannes, der gewohnt war, Tausenden zu befehlen –, neigte er sich zur Erde, nahm schweigend die Bettelschale, stieg ins Dorf zurück und sagte: »Endlich haben wir einen Heiligen bei uns. Nie zuvor sah ich einen solchen Mann. Vom Flachland ist er, aber von heller Farbe – ein Brahmane über Brahmanen.«

»Glaubt ihr, daß er bleiben wird?« fragten sogleich die Frauen des Dorfes, und jede beeilte sich, schmackhafte Speisen für den Baghat zu bereiten.

Gebirgskost ist sehr einfach; aber mit Buchweizen, Mais und Reis und rotem Pfeffer, Fischen aus dem Flüßchen im Tal und Honig aus den röhrenartigen Bienenstöcken in den Felskaminen, mit getrockneten Aprikosen und Gelbwurz, wildem Ingwer und Haferkuchen – mit all dem kann eine fromme Frau schon etwas Gutes zubereiten; und so war die Schale wohlgefüllt, die der Priester dem Baghat hinauftrug.

Würde er bleiben? fragte der Priester, wünsche er einen Chela – einen Schüler –, der für ihn bettle? Habe er eine Decke gegen die Kälte? Wäre das Essen gut gewesen? Purun Baghat aß und dankte dem Spender. Er gedenke zu bleiben. Genug wäre das, sagte der Priester; möge die Bettelschale immer vor dem Schrein stehen, in der kleinen Höhlung zwischen den beiden knorrigen Wurzeln, so würde sie täglich für den Baghat gefüllt werden. Denn das Dorf sei geehrt, wenn so ein Mann – scheu blickte er zu dem Baghat auf – wenn so ein Mann unter seinen Bewohnern weile.

An diesem Tage endete die Wanderschaft des Purun Baghat. Er hatte den Platz gefunden, der ihm bestimmt war – allwo Schweigen war und Weite. Von nun an stand für ihn die Zeit still; und er saß am Eingang des Schreins und konnte nicht sagen, ob er lebte oder tot war, ob ein Mensch und Herr seiner Glieder oder ein Teil der Berge, der Wolken, des Regens und des Sonnenscheins. Leise wiederholte er einen Namen hundert- und hundertmal, und allmählich ward ihm, als ob bei jeder Wiederholung er sich mehr und mehr von seinem Körper löse und aufwärts schwebe, bis an das Tor einer machtvollen Offenbarung; aber immer gerade, wenn das Tor sich öffnete, zog ihn sein Körper niederwärts, und er erkannte mit Schmerz, daß er wieder eingeschlossen war in Fleisch und Bein von Purun Baghat.

Jeden Morgen stellte man die gefüllte Bettelschale schweigend in die Gabel der Wurzeln vor dem Schrein. Mitunter trug der Priester sie hinauf, manchmal ein Händler von Ladakh, der im Dorf übernachtet hatte und sich Verdienst erwerben wollte; aber für gewöhnlich kam die Frau, die das Essen über Nacht bereitet hatte, und kaum hörbar murmelte sie etwa: »Sprich für mich vor den Göttern, Baghat. Sprich für die und die, das Weib des soundso!« Dann und wann wurde wohl auch einem beherzten Kinde die Ehre zuteil; und Purun Baghat hörte, wie es hastig die Schale niederstellte und dann eilig zurücklief, so schnell es seine kleinen Beine tragen konnten. Aber niemals kam der Baghat in das Dorf hinunter. Es lag wie ein Bild zu seinen Füßen ausgebreitet. Er sah die abendlichen Versammlungen auf dem Rund der Dreschtennen, denn das war der einzige ebene Grund, sah das herrliche leuchtende Grün vom jungen Reis, das Indigoblau der Maisblüte, die dunklen Flecken der Buchweizensaat und zu seiner Zeit das Purpurblühen des Amarant, dessen winzige Samen zur Fastenzeit, da weder Korn noch Hülsenfrucht genossen werden, die vom Gesetz erlaubte Nahrung für den gläubigen Hindu geben.

Um die Jahreswende lagen die Maiskolben zum Trocknen auf den Dächern und ließen sie wie Flächen von reinstem Gold erscheinen. Imkern und Ernten, Reissäen und -aushülsen geschah vor seinen Augen dort unten auf den vielflächigen Feldern, und er dachte an das alles – dachte daran, wohin am Ende alles führen würde.

Sogar in dem bevölkerten Indien kann ein Mann nicht den ganzen Tag dasitzen, ohne daß Getier über ihn hinwegläuft, als wäre er ein Felsblock. In dieser Wildnis aber kamen die Tiere, die Kalis Schrein kannten, sehr bald wieder zurück, um sich den Eindringling anzusehen. Die Langurs, die großen graubärtigen Affen des Himalaja, waren natürlich die ersten, denn sie brannten vor Neugier.

Sie warfen die Bettelschale um, rollten sie über den Steinboden, versuchten ihre Zähne an dem Messinggriff des Bettelstabes und schnitten Fratzen vor dem Antilopenfell; und darauf entschieden sie, daß der so unbeweglich verharrende Mensch harmlos war. Am Abend kamen sie aus den Fichten heruntergeklettert, bettelten mit ausgestreckten Händen um etwas Eßbares und schwangen sich dann in anmutigem Bogen wieder in die Wipfel. Sie liebten die Wärme des Feuers und drängten sich so dicht darum, daß Purun Baghat sie beiseite schieben mußte, um Holz aufzulegen; und am Morgen fand er oft einen zottigen Affen mit sich unter der Decke liegen. Während des ganzen Tages saß der eine oder andere des Stammes an seiner Seite, starrte nach den fernen Schneegipfeln, surrte leise und sah unendlich weise und kummervoll aus. Nach den Affen kam der Barasingh, der große Hirsch, der unserm Edelhirsch gleicht, aber weit stärker ist. Er gedachte, den Bast seines Geweihes an den kalten Steinen von Kalis Bildwerk zu fegen, und als er den Mann am Schrein sah, stampfte er zornig mit dem Lauf. Aber Purun Baghat rührte sich nicht, und nach und nach schob sich der königliche Hirsch näher und schnüffelte an Purun Baghats Schulter. Purun Baghat strich mit kühler Hand über das heiße Gehörn, und die Berührung besänftigte das erregte Tier; es senkte den Kopf, und Purun Baghat rieb sehr behutsam das Geweih und zog den Bast ab. Später brachte der Barasingh seine Hindin mit dem Kälbchen, sanfte Geschöpfe, die sich auf der Decke des heiligen Mannes niederlegten und geruhsam wiederkäuten; oder er kam auch allein zurück in der Nacht, grün die Augen im Feuerschein, und er bekam seinen Anteil an frischen Walnüssen. Zuletzt aber kam das Moschustier, das scheueste und kleinste Rotwild, die langen Kaninchenohren steif aufgerichtet, und selbst dieses scheckige, schweigsame Tier mußte feststellen, was das Licht im Schrein zu bedeuten habe; es drückte seine moosweiche Nase an Purun Baghats Schoß und kam und ging mit dem Schatten des Feuers.

Purun Baghat nannte sie alle seine Brüder; und sein leiser Ruf »Bhai, Bhai« lockte sie, wenn sie um die Mittagszeit in Hörweite waren, vom Walde herbei. Der schwarze Himalajabär, der launische und argwöhnische Sona, mit dem V-förmigen weißen Zeichen unter dem Kinn, kam mehr als einmal vorüber, und da der Baghat keine Furcht zeigte, zeigte Sona keinen Grimm, sondern beäugte ihn und bettelte schließlich um ein Stück Brot, um wilde Beeren oder um eine Liebkosung. Oft in der schweigenden Frühe, wenn der Baghat den Gipfel des gewundenen Passes erstieg, um den roten Morgen über die Schneegipfel wandern zu sehen, watschelte Sona leise brummend dicht hinter ihm drein, schob die Vorderpranke unter einen herabgefallenen Ast und schob ihn mit einem ungeduldigen »Wuff« beiseite. Oder des Baghat morgenfrühe Schritte weckten Sona, wo er im Schlaf zusammengekauert lag, und das gewaltige Tier erhob sich auf die Hinterpranken, bereit zum Kampf, bis es die Stimme Baghats vernahm und den liebsten Freund erkannte.

Fast alle Eremiten und heiligen Männer, die abseits der großen Städte leben, stehen im Ruf, Wunder zu wirken bei wilden Tieren; aber das Wunder liegt im Stillhalten, im Vermeiden hastiger Bewegungen und darin, daß man, wenigstens eine Zeitlang, dem Besucher nicht gerade in die Augen schaut. Die Dorfbewohner sahen die Umrisse des Barasingh schattenhaft vom Walde her nach dem Schrein schreiten, sahen den Minaul, den Himalajafasan, vor dem Bildwerk der Kali sein glänzendes Gefieder spreizen und die Langurs im Innern auf ihren Schenkeln sitzen und mit Walnußschalen spielen. Einige der Kinder hatten auch Sona gehört, wie er hinter einem Felsblock nach Bärenart vor sich hin summte – und fest stand der Ruf des Baghat als Wunderwirker.

Dennoch, nichts lag ihm ferner, als Wunder zu wirken. Er sah die ganze Schöpfung als ein großes Wunder an, und ist ein Mensch erst zu dieser Erkenntnis gelangt, so hat er etwas, worauf er weiterbauen kann. Ihm war es Gewißheit geworden, daß es nicht Kleines und Großes auf dieser Welt gab; und Tag und Nacht strebte er danach, sich in das Herz aller Dinge hineinzudenken, dorthin zurück, woher seine Seele gekommen war.

Unter solchem Denken und Sinnen wuchs ihm das Haar bis über die Schultern hinab. Die Steinplatte zur Seite des Antilopenfells war ausgehöhlt von der Spitze des Stockes mit dem Messinggriff, und der Platz zwischen den Baumwurzeln, wo Tag und Nacht die Bettelschale stand, wurde zu einer Höhlung, so glatt fast wie die braune Schale selbst; und jedes Tier kannte seinen bestimmten Platz am Feuer.

Die Felder wechselten die Farbe mit den Jahreszeiten, die Dreschtennen füllten und leerten sich; und wieder und wieder, wenn der Winter kam, tummelten sich die Langurs in dem schneeüberdeckten Geäst, bis mit Beginn des Frühlings die Affenmütter ihre kleinen Jungen mit den traurigen Augen heraufbrachten aus den wärmeren Tälern.

Wenig änderte sich im Dorf. Der Priester war älter geworden; und manche von den Kindern, die einst die Bettelschale hinaufgetragen hatten, schickten nun ihre eigenen Kinder. Und fragte man die Dorfbewohner, wie lange der heilige Mann schon lebte auf der Paßhöhe in Kalis Schrein, so antworteten sie: »Immer schon.«

Dann aber fielen so starke Sommerregen, wie man sie seit Jahren in den Bergen nicht gekannt hatte. Drei volle Monate war das Tal in Wolken und trächtige Nebel gehüllt – unaufhörlich stürzte der Regen hernieder, unterbrochen von einer Gewitterbö nach der ändern. Kalis Schrein ragte fast immer über den Wolken, und einen ganzen Monat lang erspähte der Baghat nicht den kleinsten Schimmer seines Dorfes. Es lag begraben unter einer weißen Wolkendecke, die auf und ab schwankte, wogte und wallte, sich aber niemals von ihren Pfosten, den strömenden Flanken des Tales, löste.

In all der Zeit hörte der Baghat nichts als das Rauschen von Millionen kleiner Wasser; sie rieselten über ihn von den Bäumen, drangen aus dem Boden unter seinen Füßen, sickerten durch die Fichtennadeln, tröpfelten von zerfetzten Farnen und gurgelten in neugeschaffenen schmutzigen Furchen die Hänge hinab. Dann endlich brach die Sonne durch, sog würzigen Duft aus Zedern und Rhododendron, und alles war durchdrungen von dem fernen, klaren Duft, den das Bergvolk den Geruch der Schneegipfel nennt. Eine Woche hielt der heiße Sonnenschein an; dann sammelten sich die Regen erneut zu einem letzten Wolkenbruch; das Wasser stürzte in Strömen herab, riß den Boden fort und trug ihn als Schlamm davon.

In dieser Nacht schürte Purun Baghat sein Feuer besonders hoch, denn er war sicher, daß seine Brüder der Wärme bedurften. Aber nicht ein Tier kam zu dem Schrein, soviel er auch rief und rief, und verwundert, was wohl in den Wäldern geschehen sein könnte, sank er in Schlaf.

Mitten in der schwarzen Nacht, während der Regen mit dem Getöse von tausend Trommeln niederstürzte, erwachte er von einem Zupfen an seiner Decke. Er fuhr hoch und fühlte die kleine Hand eines Langur. Schläfrig schlug er die Decke zurück und sagte: »Hier ist es besser als draußen in den Bäumen; komm und wärme dich.«

Der Affe aber faßte erneut seine Hand und zog daran. »Willst du etwas Futter?« fragte Purun Baghat. »Warte ein wenig, ich bereite dir etwas.«

Als er niederkniete, um Reiser auf das Feuer zu legen, lief der Langur zur Tür des Schreins, gurrte leise, lief wieder zurück und zupfte den Mann am Knie.

»Was ist? Welchen Kummer hast du, Bruder?« fragte Purun Baghat, denn in den Augen des Langur lag viel verborgen, nur daß ihm die Sprache fehlte. »In das Wetter hinaus geh‘ ich nur, wenn einer von deinem Stamm in einer Falle steckt – aber hier stellt keiner Fallen. Sieh, Bruder, selbst der Barasingh sucht Schutz hier.«

Als der Hirsch in den Schrein trat, schlug er krachend das Geweih gegen das grinsende Götterbild der Kali, dann senkte er es gegen Purun Baghat, stampfte gereizt und schnob durch die halbgeschlossenen Nüstern.

»Hei, hei, hei!« sagte der Baghat und schnalzte mit den Fingern. »Ist das der Dank für das Nachtquartier?«

Aber der Hirsch drängte ihn dem Ausgang zu, und nun hörte Purun Baghat einen Laut, so als ob sich etwas öffne mit einem Seufzer, und er sah, wie zwei Steinplatten des Bodens voneinander rückten, während die fettige Erde darunter ein schmatzen» des Geräusch von sich gab.

»Nun verstehe ich«, sagte Purun Baghat. »Kein Wunder, daß meine Brüder heute nacht nicht zu meinem Feuer kamen. Der Berg stürzt ein. Dennoch – warum sollte ich flüchten?« Da aber fiel sein Blick auf die leere Bettelschale, und der Ausdruck seines Gesichtes wandelte sich. »Sie haben mir gutes Essen geschickt Tag für Tag, seit ich hier bin; und wenn ich jetzt nicht eile, wird am Morgen nicht eine lebendige Seele mehr im Tale sein. Ja, ich muß hinunter und sie warnen. Zurück da, Bruder, laß mich ans Feuer.«

Widerwillig trat der Barasingh zur Seite, während Purun Baghat eine Fackel nahm und sie tief in die Flamme stieß, bis sie hell brannte.

»Ja, ja, mich zu warnen kamt ihr«, sagte der Baghat und richtete sich auf. »Aber mehr noch müssen wir tun, Besseres noch.

Auf und fort jetzt! Leih mir deinen Nacken, Bruder, denn nur zwei Füße habe ich.«

Mit der rechten Hand griff er in den gesträubten Widerrist des Barasingh, in der Linken hielt er die Fackel und schritt so hinaus aus dem Schrein in die grauenvolle Nacht. Windstill war es, aber der strömende Regen löschte beinahe die Fackel; und der große Hirsch setzte sich auf die Hinterläufe und glitt so eilig den Abhang hinab. Als sie aus dem Walde hinaus waren, gesellten sich noch mehr von den Brüdern des Baghat zu ihnen. Sehen konnte er sie nicht, aber er hörte die Langurs sich um ihn scharen und hinter ihnen das »Wuff, wuff« des Sona.

Sein langes, schlohweißes Haar hing ihm in nassen Strähnen um den Kopf; das Wasser spritzte um seine nackten Füße, und das gelbe Gewand klebte an dem gebrechlichen alten Leib, aber unaufhaltsam eilte er hinunter, gestützt auf den Barasingh. Nun war er nicht mehr der heilige Mann, er war Sir Purun Daß, K.C.I.E., Erster Minister eines nicht kleinen Staates, ein Mann, gewohnt zu befehlen, der auszog, um Leben zu retten.

Abwärts stürmten sie miteinander den jähen, schlüpfrigen Pfad, der Baghat und seine Brüder, hinab und hinab, bis des Hirsches Hufe auf die Steinfliesen einer Dreschtenne schlugen und er zu schnauben begann, da er Menschen witterte.

Sie waren an den Ausgang der einzigen gewundenen Dorfstraße gelangt; und der Baghat schlug mit dem Stab gegen die vergitterten Fenster am Hause des Schmiedes. Seine Fackel lohte nun heller auf im Schutze der Dächer.

»Auf da und heraus!« rief Purun Baghat, und er erkannte kaum seine eigene Stimme wieder, denn seit Jahren hatte er nicht mehr laut zu Menschen gesprochen. »Der Berg stürzt! Der Berg kommt herunter! Auf und heraus, ihr da drinnen!«

»Unser Baghat ist es«, sagte das Weib des Schmiedes. »Er steht draußen mit seinen Tieren. Nimm die Kinder und gib den Ruf weiter!«

Von Haus zu Haus lief der Ruf; die Tiere, in den engen Wegen gepfercht, drängten sich dicht um Baghat, und Sona schnaubte unwillig.

Die Leute des Dorfes stürzten auf die Straße – es mochten im ganzen nicht mehr als siebzig Seelen sein –, und im Schein ihrer Fackeln sahen sie, wie ihr Baghat den entsetzten Hirsch zurückhielt, wie die Affen angstvoll an seinem Gewand zupften; Sona aber saß aufrecht da und brüllte.

»Durch das Tal hinüber und auf den nächsten Berg«, rief Purun Baghat. »Niemanden zurücklassen! Mir folgen!«

Dann liefen die Leute, wie nur Bergvolk laufen kann; denn sie wußten, daß man bei einem Bergrutsch den höchsten Punkt jenseits des Tals erreichen mußte. Sie durchwateten fliehend den kleinen Fluß in der Tiefe und keuchten am anderen Ufer die terrassenförmigen Felder hinauf. Der Baghat aber und seine Brüder folgten. Höher und höher drangen sie am jenseitigen Berg hinauf, einander mit Namen rufend; und dicht hinter ihnen arbeitete sich der Barasingh hinauf, beladen mit dem niederbrechenden Purun Baghat. Endlich hielt der Hirsch an im Dunkel eines tiefen Fichtenwaldes, fünfhundert Fuß hoch in den Bergen. Der Instinkt, der ihn vor dem nahen Bergsturz gewarnt hatte, sagte ihm jetzt, daß er hier sicher war.

Purun Baghat sank ohnmächtig an seiner Seite zu Boden. Die Frostschauer des Regens und der furchtbare Anstieg waren sein Tod; aber noch rief er den zerstreuten Fackeln über ihm zu: »Haltet an und zählt die Köpfe!« Dann, als er die Fackeln zu einem Haufen sich sammeln sah, hauchte er leise dem Hirsch zu: »Bleibe bei mir, Bruder. Bleibe – bis – ich scheide.«

Nun ging es wie ein Seufzen durch die Luft, es wuchs zu einem Murren; das Murren wuchs zum Gebrüll, und Gebrüll schwoll an über alles Hören hinaus. Die Bergseite, auf der die Dörfler standen, wurde in der Finsternis wie von einem Schlage getroffen und erbebte bis ins Innerste. Dann erklang ein Ton, stetig, tief und voll, wie das tiefe C der Orgel, und verschlang für fünf Minuten jeden anderen Laut, und die hohen Fichten erzitterten bis in ihre Wurzeln hinein. Der Ton starb dahin – und das Rauschen des Regens, der meilenweit auf harten Boden geschlagen hatte, wurde zum dumpfen Trommeln der Wässer auf weicher Erde. Das sprach seine eigene Sprache.

Keiner der Dorfbewohner, nicht einmal der Priester, war kühn genug, zu dem Baghat zu reden, der ihr Leben gerettet hatte. Still kauerten sie unter den Fichten und erwarteten den Tag. Als der Morgen kam, blickten sie über das Tal hin. Wo einst Terrassenfelder gewesen waren, Wälder und fährtendurchfurchte Weidegründe, war jetzt nur noch eine rohe, rötliche, fächerartig verspreizte Lehmmasse, aus der kopfüber gestürzte Baumstämme da und dort herausragten. Die rötliche Masse war noch hoch am Berg ihrer Rettung aufgelaufen und staute den kleinen Fluß, der sich zu einem ziegelfarbigen See auszudehnen begann. Von dem Dorfe, dem Pfad, der zu dem Schrein geführt hatte, von dem Schrein selbst und dem Wald dahinter war keine Spur mehr zu sehen. Eine Meile in der Breite und zweitausend Fuß in der Tiefe war die Bergwand abgestürzt, mit glatter Schnittfläche vom Gipfel bis zur Sohle.

Die Bewohner des Dorfes, einer nach dem andern, schritten leise durch den Fichtenwald, um vor ihrem Baghat zu beten. Sie sahen den Barasingh über ihm stehen, aber als sie näher kamen, floh er davon; sie hörten die Langurs in den Bäumen wehklagen und Sona im Geklüft stöhnen, aber ihr Baghat war tot. Er saß mit gekreuzten Beinen, den Rücken gegen einen Stamm gelehnt, die Stütze unter der Achselhöhle und sein Antlitz gegen Nordosten gekehrt.

Und der Priester sagte: »Seht, Wunder über Wunder, denn in dieser Stellung müssen alle Sunnjasis begraben werden. Deshalb lasset uns an dem Ort, wo er nun sitzt, den Tempel errichten für unsern heiligen Mann.«

Sie bauten den Tempel, ehe das Jahr verstrichen war – einen kleinen Schrein aus Stein und Erde; und sie nannten den Berg den Baghatberg; und noch heutigentags beten sie dort und bringen Blumen und Lichter und fromme Gaben. Aber niemand weiß heute, daß der Heilige, den sie verehren, der verstorbene Sir Purun Daß ist – K. C. I. E.; D. C. L.; Ph. D. und so weiter, einst Erster Minister des erleuchteten und fortschrittlichen Staates von Mohiniwala, Ehren- und korrespondierendes Mitglied von mehr wissenschaftlichen und gelehrten Gesellschaften, als gut sind in dieser Welt oder der nächsten.