32.

Lewin hatte schon seit langem die Beobachtung gemacht, daß, wenn Einem im Umgang mit den Menschen deren allzugroße Zuvorkommenheit und Ergebenheit peinlich wird, sehr schnell auch ein übermäßig anspruchsvolles Wesen und Streitsucht unerträglich wird. Er fühlte, daß dies auch mit seinem Bruder der Fall sein würde; und in der That, die Sanftmut desselben reichte nicht lange aus. Schon vom anderen Morgen an wurde er reizbar und stritt geflissentlich mit dem Bruder, indem er diesen an seinen empfindlichsten Stellen zu treffen versuchte.

Lewin fühlte sich betreten, vermochte aber die Sache nicht zu ändern. Er empfand, daß sie beide nur, wenn sie sich nicht mehr verstellten, sondern aussprächen, was man »vom Herzen herunter« sprechen nennt, das heißt, nur was sie wirklich dachten und fühlten, sich gegenseitig offen einander ins Auge blicken könnten, und Konstantin nur zu sagen hätte »du mußt sterben, sterben!« während Nikolay ihm antworten müßte »ich weiß es, daß ich sterben werde, aber ich fürchte den Tod, ich fürchte, fürchte ihn.« – Mehr würden sie nicht sprechen, wenn sie so nur vom Herzen herunter gesprochen haben würden. Aber so war nicht zu leben, und deshalb versuchte es Konstantin, zu thun, was er für sein ganzes Leben hindurch versucht hatte, ohne es zu können, das, was nach seinen Beobachtungen viele so vortrefflich zu thun verstanden, und ohne das man nicht leben kann: Er versuchte es, nicht das zu sprechen, was er dachte, fühlte aber beständig, daß dies falsch sei, daß der Bruder ihn hierbei ertappe und davon gereizt werde.

Nach Verlauf von drei Tagen forderte Nikolay seinen Bruder auf, ihm seinen Plan nochmals zu entwickeln. Er begann darauf denselben nicht nur zu verwerfen, sondern ihn sogar absichtlich mit dem Socialismus zusammenzubringen.

»Da hast du lediglich einen fremden Gedanken aufgefaßt, ihn aber verballhornistert und willst ihn dem Unmöglichen anpassen.«

»Aber ich sage dir ja, daß er durchaus nichts Allgemeines in sich trägt. Die Socialisten verwerfen das Recht des Privateigentums, des Kapitals, der Erbfolge – ich aber, ohne diese wichtigste Stimula zu verwerfen,« – Lewin selbst war es widerlich, daß er sich derartiger fremder Worte bedienen mußte, aber seit er sich mehr mit seiner Arbeit beschäftigte, begann er unwillkürlich häufig und häufiger nichtrussische Worte zu brauchen – »will nur die Arbeit regeln.«

»Das ist es eben, daß du einen fremden Gedanken aufgefaßt und von ihm alles abgetrennt hast, was seine Bedeutung ausmacht, nun aber versichern willst, es sei dies etwas Neues,« antwortete Nikolay, heftig an seiner Halsbinde zerrend.

»Aber mein Gedanke hat nichts Allgemeines« –

»Denn,« erwiderte Nikolay Lewin mit gehässigem Glanz in den Augen und ironischem Lächeln: »dort liegt doch zum wenigsten ein Reiz darin, ein, wie soll ich sagen, mathematischer – nach seiner Klarheit und unzweifelhaften Richtigkeit. Möglicherweise ist er eine Utopie. Aber zugegeben, daß man aus der ganzen Vergangenheit eine tabula rasa machen könnte, daß es kein Privateigentum mehr gäbe, keine Familie, so wird doch immerhin die Arbeit bestehen, bleiben. »Bei dir aber ist nichts« –

»Weshalb vermischst du die Dinge? Ich bin nie ein Socialist gewesen.«

»Ich aber war es, und finde, daß die Idee verfrüht ist, obwohl sie klug ist, daß sie ihre Zukunft hat, wie das Christentum in den ersten Jahrhunderten.«

»Ich glaube, daß man die Arbeitskraft nur von dem Gesichtspunkt des Naturforschers aus beurteilen darf, das heißt, daß man sie studieren und ihre Eigenschaften erkennen muß.«

»Das ist aber ganz unnütz. Diese Kraft findet von selbst je nach dem Grade ihrer Entwickelung eine bekannte Form für ihre Bethätigung. Es hat überall Knechte gegeben und dann Vögte; auch bei uns giebt es die Gesellschaftsarbeit, die Pacht, die Arbeit auf Tagelohn – was willst du noch?«

Lewin geriet bei diesen Worten plötzlich in Zorn, da er auf dem Grunde seiner Seele die Befürchtung empfand, der Bruder könne recht haben – recht darin, daß er selbst zwischen dem Socialismus und den Ordnungsformen schwanke – was doch schwerlich möglich sein konnte.

»Ich suche Mittel dafür, mit Gewinn zu arbeiten, sowohl für mich selbst, wie für den Arbeiter. Ich will organisieren,« antwortete er heftig.

»Nichts willst du organisieren; du willst einfach originell sein, wie du es Zeit deines Lebens gewesen bist; du willst zeigen, daß du nicht mit den Bauern experimentierst, sondern vielmehr mit der Idee.«

»Nun– denkst du so – lassen wir das! versetzte Lewin, welcher fühlte, daß ihm der Muskel seiner linken Wange bebte, ohne daß er dies unterdrücken konnte.

»Du hattest nie Überzeugungen, und hast auch jetzt keine; nur deine Eigenliebe willst du befriedigen.«

»Schön so; aber verlaß dieses Thema!«

»Ich werde es lassen! Es ist schon längst Zeit dazu! Zum Teufel auch mit dir, ich wünschte, ich wäre gar nicht hergekommen!«

So sehr sich Lewin nun bemühte, den Bruder zu beruhigen, Nikolay wollte nichts hören und sagte, daß er am liebsten gleich wieder fortfahren möchte; Lewin sah, daß dem Bruder das Leben unerträglich geworden war.

Nikolay hatte bereits alle Anstalten zur Abreise getroffen, als Lewin wieder zu ihm kam und ihn bat, zu verzeihen, wenn er ihn gekränkt haben sollte.

»O, diese Großmut!« antwortete Nikolay lächelnd. »Wenn du denn einmal recht behalten willst, so will ich dir dieses Vergnügen gewähren. Du hast recht. Aber ich will dennoch fahren!«

Bei der Abreise selbst küßte ihn Nikolay und sprach, plötzlich seltsam und ernst auf den Bruder blickend:

»Bei alledem; gedenke meiner nicht im Bösen, mein Konstantin!« und seine Stimme schwankte.

Dies waren die einzigen Worte, die aufrichtig gesprochen worden waren. Lewin begriff, daß in diesen Worten der Sinn lag: »Du siehst es und weißt, daß ich sehr krank bin, und wir uns vielleicht niemals wieder sehen.«

Lewin verstand dies und die Thränen strömten ihm aus den Augen. Noch einmal küßte er seinen Bruder, konnte ihm aber nichts mehr antworten, – wußte ihm auch nichts mehr zu sagen. –

Am dritten Tage nach der Abreise des Bruders reiste Lewin nach dem Auslande ab. Als er auf der Eisenbahn mit Schtscherbazkiy, einem Vetter Kitys, zusammentraf, setzte er diesen durch seine Niedergeschlagenheit sehr in Erstaunen.

»Was hast du denn?« frug ihn Schtscherbazkiy.

»Nichts weiter: es giebt ja so wenig Angenehmes auf der Welt.«

»Inwiefern denn wenig? Komm, fahre mit mir nach Paris, in Gesellschaft eines gewissen Mylus. Da sollst du sehen, wie lustig es auf der Welt ist!«

»Nein. Ich bin schon fertig und möchte bald sterben.«

»Das ist doch dein Spaß!« lachte Schtscherbazkiy, »ich bin ja erst im Begriff anzufangen!«

»So meinte ich auch noch vor kurzem, jetzt aber weiß ich, daß ich bald sterbe.«

Lewin sprach damit nur aus, was er wahrhaft gedacht hatte in diesen letzten Tagen. In allem sah er nur den Tod oder die Annäherung an denselben. Aber das von ihm unternommene Werk beschäftigte ihn nur um so mehr. Es galt ihm jetzt, sein Leben irgendwie fertig zu leben, bevor noch der Tod kam. Dunkelheit verschleierte für ihn alles, aber gerade mit dieser Dunkelheit fühlte er, daß der einzige leitende Faden in ihr nur noch sein Werk war, und mit den letzten Kräften widmete er sich diesem, klammerte er sich an ihm an.

 

1.

Die Karenin, Gatte und Gattin, fuhren fort in einem Hause zusammen zu leben: sie sahen sich wohl alltäglich, waren aber einander vollständig entfremdet.

Aleksey Aleksandrowitsch hatte es sich zum Gesetz gemacht, sein Weib alltäglich nur deshalb zu sehen, daß die Dienerschaft kein Recht haben möchte, Vermutungen zu hegen. Die Mittagstafel daheim mied er jedoch. Wronskiy war nie im Hause Aleksey Aleksandrowitschs erschienen, Anna sah ihn aber außerhalb desselben und ihr Gatte wußte dies.

Die Lage war für alle drei peinvoll; und niemand von ihnen würde die Kraft besessen haben, auch nur einen einzigen Tag in derselben auszuhalten, wäre nicht die Erwartung dagewesen, daß sie sich ändern werde, daß alles dies nur eine zeitweilige, bittere und schwere Lage sei, welche vorübergehen würde. Aleksey Aleksandrowitsch wartete, daß diese Leidenschaft vergehen sollte, wie ja alles vergeht, daß alle die Sache vergessen möchten und sein Name nicht geschändet würde. Anna, von welcher diese ganze Situation abhing, und für die dieselbe peinlicher war, als für, alle sonst, ertrug sie, weil sie nicht nur wartete, sondern fest überzeugt war, daß alles dies sehr bald zur Entwickelung und Klärung gelangen müsse. Sie wußte freilich nicht im geringsten, was denn eigentlich die Schwierigkeit lösen solle, aber sie besaß die Überzeugung, daß etwas jetzt und sehr schnell eintreten müsse.

Auch Wronskiy, der sich ihr unwillkürlich fügte, erwartete etwas, das von ihm unabhängig, alle Schwierigkeiten klären müsse.

Inmitten des Winters hatte Wronskiy eine sehr langweilige Woche durchlebt. Er war einem ausländischen, in Petersburg zugereisten Prinzen zubeordert worden, und hatte die Aufgabe, diesem die Sehenswürdigkeiten Petersburgs zu zeigen. Gerade Wronskiy war es, welcher vorgestellt wurde, denn abgesehen davon, daß dieser die Kunst, sich mit Würde und zugleich Ehrerbietung zu benehmen, besaß, war er es auch gewohnt, mit Männern ähnlichen Ranges umzugehen; allein diese Pflicht wurde ihm zu einer sehr schweren. Der Prinz wünschte nichts zu übergehen, bezüglich dessen er in der Heimat gefragt werden konnte, ob er es in Rußland gesehen, ja, er wünschte auch selbst, soviel es möglich war, russischen Vergnügungen beizuwohnen. Wronskiy war nun verpflichtet, ihn hier und dorthin zu führen, und des Vormittags fuhren sie nun, um die Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, des Abends, um an nationalen Vergnügungen teilzunehmen. Der Prinz erfreute sich einer selbst unter Prinzen ungewöhnlichen Gesundheit; sowohl durch leibliche Übungen wie durch gute Pflege seines Körpers hatte er eine solche Kraft erworben, daß er trotz des Übermaßes, mit welchem er sich den Zerstreuungen hingab, frisch aussah wie eine mächtige, grüne holländische Gurke. Der Prinz war viel gereist und hatte gefunden, daß einer der vorzüglichsten Vorteile der modernen Verkehrsbequemlichkeiten die Möglichkeit, nationalen Vergnügungen beiwohnen zu können, bilde.

Er war in Spanien gewesen und hatte dort Serenaden veranstaltet und sich einer Spanierin genähert, welche Mandoline spielte. In der Schweiz hatte er Gemsen gejagt. In England im roten Frack unter Wetten zweihundert Fasanen erlegt. In der Türkei war er in einem Harem gewesen, in Indien hatte er auf Elefanten geritten und in Rußland jetzt wollte er alle echtrussischen Vergnügungen kennen lernen.

Wronskiy, der bei ihm eine Art erster Ceremonienmeister war, kostete es große Mühe, alle die Zerstreuungen, die dem Prinzen von verschiedenen Seiten vorgeschlagen wurden, zu sichten. Da waren die russischen Trabrennen, und die Bärenjagden, die Troiken und die Zigeuner, wie das Topfschlagen. Der Prinz accomodierte sich dem russischen Geiste mit außerordentlicher Leichtigkeit; er beteiligte sich am Topfschlagen, setzte sich eine Zigeunerin auf das Knie und frug, wie es schien, ob dies alles sei, ob nur darin der ganze russische Geist bestehe.

Am meisten von allen diesen russischen Vergnügungen gefielen allerdings dem Prinzen die französischen Schauspielerinnen, eine Balleteuse und der weißgesiegelte Champagner.

Wronskiy hatte Übung im Umgang mit Prinzen, aber – kam es davon, daß er selbst sich in letzter Zeit verändert hatte, oder von der allzu großen Nähe, in welcher er sich zu dem Prinzen befand – diese Woche erschien ihm als eine furchtbar schwere.

Die ganze Woche hindurch hatte er ohne Unterbrechung ein Gefühl empfunden, ähnlich dem eines Menschen, der zu einem gefährlichen Wahnsinnigen gesteckt wird, um zu erproben, ob er diesen wohl fürchtet und infolge der Nähe bei ihm, auch für seinen Verstand fürchten müsse.

Wronskiy empfand beständig den Zwang, nicht eine Sekunde den Ton strenger offizieller Ehrerbietung sinken lassen zu dürfen, damit er keine Schlappe erleide. Dre Umgangsweise des Prinzen gerade mit denjenigen, welche zur Verwunderung Wronskiys darüber aus der Haut fuhren, daß man ihm russische Vergnügungen biete, war eine souveräne. Sein Urteil über die russischen Frauen, die er kennen zu lernen gewünscht hatte, ließen Wronskiy mehr als einmal vor Unwillen erröten, aber der Hauptgrund, weshalb der Prinz für Wronskiy außerordentlich lästig war, war der, daß er in dem Prinzen unwillkürlich sich selbst wieder erkannte, und daß das, was er in diesem Spiegel erkannte, seiner Eigenliebe nicht eben schmeichelte. Der Prinz war ein sehr beschränkter, sehr eingebildeter, sehr gesunder und an sich sehr eigener Mensch, weiter aber nichts. Er war Gentleman, das war er in Wahrheit, und Wronskiy konnte das nicht in Abrede stellen. Er war gleichmütig und nicht kriechend vor Höheren, ungezwungen und einfach im Verkehr mit Gleichstehenden und gutmütig herablassend gegenüber den unter ihm Stehenden. Ganz genau so war aber auch Wronskiy, der das für einen großen Vorzug hielt; in der Umgebung des Prinzen war er doch der tiefer Stehende und die herablassend gutmütige Behandlungsweise ihm gegenüber regte ihn auf.

»Das ist ein dummer Stier; bin ich das auch?« dachte er bei sich.

Wie dem nun sein mochte, als er sich am siebenten Tage von ihm verabschiedete, vor der Abreise des Prinzen nach Moskau, und dessen Dank entgegennahm, war er glücklich, aus dieser peinlichen Lage und von diesem unangenehmen Spiegel erlöst zu sein.

Er verabschiedete sich von ihm auf der Station, bei der Rückkehr von der Bärenjagd, an welcher während einer ganzen Nacht russische Bravour eine Galavorstellung gegeben hatte.

2.

Heimgekommen, fand Wronskiy ein Billet Annas vor.

Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich. Ich kann nicht ausfahren, kann aber auch nicht länger ohne Euren Anblick sein. Kommt am Abend zu mir. Um sieben Uhr wird Aleksey Aleksandrowitsch zum Rat fahren und bis zehn Uhr dort bleiben.«

Nachdem er eine Minute lang über den seltsamen Umstand, daß sie ihn so direkt zu sich berufe, ungeachtet der Forderung ihres Gatten, daß sie ihn nicht empfangen dürfe, nachgedacht hatte, entschloß er sich, der Einladung zu folgen.

Wronskiy war im Lauf dieses Winters Oberst geworden, aus dem Regiment ausgetreten und lebte jetzt frei. Nachdem er gefrühstückt hatte, warf er sich sogleich auf den Diwan und in fünf Minuten vermischten sich die Erinnerungen der unangenehmen Scenen, wie er sie in den letzten Tagen gesehen hatte, und verbanden sich mit dem Gedanken an Anna und an die Bärenjagd, und er schlief ein. Erst in der Dunkelheit erwachte er wieder, bebend vor Entsetzen. Sofort zündete er eine Kerze an. »Was war das? Wie? Was habe ich Furchtbares im Traume gesehen? Der eine Bauer auf der Bärenjagd, klein, schmutzig, mit wirrem Barte, hatte gearbeitet, indem er sich niederbeugte, und dann plötzlich einige seltsame Worte auf französisch gesprochen. Nun, weiter war es nichts mit dem Traume,« sprach er zu sich selbst. »Aber weshalb war dies nur so furchtbar gewesen?« Lebhaft stellte er sich wiederum den Bauern vor und jene seltsamen französischen Worte, die derselbe gesprochen hatte – und Entsetzen überlief kalt seinen Rücken.

»Welcher Unsinn!« dachte er und schaute nach der Uhr.

Es war bereits halb neun. Er schellte seinem Diener, kleidete sich hastig an und begab sich zur Treppe hinab, seinen Traum völlig vergessend und nur noch von der Besorgnis gequält, sich zu verspäten.

Als er vor der Freitreppe der Karenin anlangte, schaute er wieder nach der Uhr und sah, daß es zehn Minuten vor neun war. Ein hoher, schmaler Wagen mit einem Paar grauer Pferde bespannt, stand unter der Einfahrt; er erkannte das Geschirr Annas. »Sie fährt zu mir,« dachte Wronskiy, »und das wäre auch besser gewesen; denn es ist mir unangenehm, dieses Haus zu betreten. Doch gleichviel, ich kann mich nicht verstecken,« und mit jenen ihm von Kindheit an eigenen Manieren eines Menschen, der sich vor nichts scheut, stieg Wronskiy aus dem Schlitten und schritt zur Thür hin.

Die Thür öffnete sich und der Portier, ein Plaid auf dem Arme, rief den Wagen heran. Wronskiy, nicht gewohnt, Kleinigkeiten zu bemerken, gewahrte gleichwohl jetzt den verwunderten Gesichtsausdruck, mit welchem ihn der Portier anblickte.

In der Thür selbst wäre Wronskiy fast mit Aleksey Aleksandrowitsch zusammengestoßen. Die Gasflamme beleuchtete das blutlose, eingefallene Gesicht unter dem schwarzen Hute und die weiße Halsbinde, die aus dem Biberpelz des Überrocks herausschimmerte. Die unbeweglichen, dunklen Augen Karenins richteten sich auf das Gesicht Wronskiys. Dieser verneigte sich und Aleksey Aleksandrowitsch, den Mund ein wenig bewegend, hob die Hand an den Hut und ging vorüber. Wronskiy sah, wie er, ohne aufzublicken, sich in den Wagen setzte, das Plaid und Augenglas durch das Wagenfenster nahm, und sich zudeckte.

Wronskiy betrat das Vorzimmer; seine Brauen waren zusammengezogen und seine Augen erglänzten in bösem und stolzem Glänze.

»Ist das eine Situation!« dachte er, »wenn er kämpfte, seine Ehre wahrte, dann könnte ich handeln, meine Empfindungen äußern; aber diese Schwäche oder vielmehr Erbärmlichkeit – er versetzt mich in die Lage eines Betrügers, während ich dies doch nicht sein wollte und auch nicht sein will!«

Seit der Zeit seiner Aussprache mit Anna im Park der Wrede hatten sich die Ansichten Wronskiys geändert. Sich unwillkürlich den Schwächen Annas unterwerfend, die sich ihm ganz gegeben hatte und nur noch von ihm die Entscheidung über ihr Geschick erwartete, indem sie sich von vornherein allem unterwarf, hatte er längst aufgehört, zu glauben, daß dieses Verhältnis so enden könne, wie er damals dachte. Seine Träume voll Ehrgeiz waren wieder in den Hintergrund getreten, und er ergab sich, aus dem Kreise einer Wirksamkeit tretend, in welchem alles begrenzt war, ganz seiner Empfindung; diese Empfindung aber fesselte ihn fester und fester an sie.

Schon vom Vorzimmer aus vernahm er sich entfernende Schritte. Er erkannte, daß sie ihn erwartet hatte, gelauscht hatte und jetzt in den Salon zurückkehrte.

»Nein!« rief sie aus, als sie seiner ansichtig wurde, und beim ersten Tone ihrer Stimme traten ihr die Thränen in die Augen, »wenn das so fortgehen soll, so wird das Unglück noch viel, viel früher eintreten!«

»Was denn, mein Kind?«

»Was? Ich warte und martere mich, eine Stunde, zwei, – aber nein, ich will, ich kann nicht mit dir hadern. Du konntest wahrscheinlich nicht früher. Nein, ich will es nicht thun!«

Sie legte beide Hände auf seine Schultern und blickte ihn lange mit tiefem, verzücktem und zugleich forschendem Blicke an. Sie prüfte sein Gesicht nach der Zeit, seit welcher sie ihn nicht gesehen hatte. Wie bei jedem Wiedersehen, so verglich sie wieder ihr innerliches Bild von ihm – das unvergleichlich besser, und in der Wirklichkeit unmöglich war – mit ihm, wie er wirklich aussah.

24.

Die Nacht, welche Lewin auf dem Heuhaufen verbracht hatte, war für ihn nicht ohne Früchte gewesen. Die Ökonomie, die er betrieb, widerte ihn jetzt an und er hatte alles Interesse für dieselbe verloren.

Ungeachtet der vorzüglichen Ernte hatte es – wie ihm wenigstens schien – nie soviel Mißgeschick, soviel Reibereien zwischen ihm und den Bauern gegeben, als im gegenwärtigen Jahr, und die Ursache dieser Mißlichkeiten und Reibereien war ihm jetzt völlig klar.

Der Reiz, den er bei der Arbeit selbst empfand, die für ihn daraus hervorgehende Annäherung an die Bauern, der Neid, den er diesen gegenüber, ihrem Leben gegenüber fühlte, der Wunsch, auch zu einem solchen Leben überzugehen, welcher ihm in dieser Nacht schon nicht mehr Wunsch geblieben, sondern Absicht geworden war, deren Einzelheiten betreffs der Verwirklichung er erwogen hatte – alles dies hatte seine Anschauungen über die von ihm geleitete Wirtschaft derart verändert, daß er darin in keiner Beziehung mehr das frühere Interesse zu finden vermochte, daß er nicht umhin konnte, seine wenig freundliche Stellung den Arbeitern gegenüber zu erkennen, welche die eigentliche Grundlage für alles bildete.

Die Herden seiner veredelten Rinder, alle so wie die Pawa war, sein wohlgepflügtes Ackerland, neue Felder mit Gebüsch umsäumt, neunzig Desjatinen tiefgepflügten Düngerlandes und vieles Ähnliche – alles das war ja recht schön, wenn es nur von ihm selbst oder von ihm zusammen mit den Genossen geschaffen worden wäre, mit Leuten, die mit ihm fühlten. Aber er erkannte jetzt klar – seine Arbeit an dem Werke, welches er über Landwirtschaft schrieb, und worin er als das Hauptelement der Ökonomie den Arbeiter hinstellte, half ihm viel dabei – daß die Landwirtschaft, welche er führte, nur ein grausamer und hartnäckiger Kampf zwischen ihm und den Arbeitern war, in welchem sich auf der einen Seite, auf seiner eigenen, das beständige, angestrengte Bestreben zeigte, alles auf eine Weise zur Ausführung zu bringen, die sich nach der Berechnung als die beste erwies – auf der anderen Seite die natürliche Ordnung der Dinge.

Und in diesem Kampfe sah er, daß bei der höchsten Kraftanstrengung seinerseits, und bei dem Mangel jedes Kraftaufwands oder selbst des Bestrebens dazu auf der anderen Seite nur das erreicht wurde, daß die Wirtschaft nicht unnütz geführt, die Gerätschaften, das schöne Vieh und das Land nicht zwecklos abgenutzt wurden.

Die hierbei aufgebotene Energie ging zwar nicht vollkommen verloren, doch er mußte sich jetzt sagen, daß das Ziel dieser Energie ein unwürdiges war, wenn der leitende Gedanke seiner Landwirtschaft zu Tage kam.

Und worin bestand in Wirklichkeit jener Kampf? Er bestand auf jeden Pfennig der Einkünfte – entgegengesetzt konnte er nicht handeln, weil dies für ihn in der Energie nachlassen bedeutet und er dann nicht genug Geld gehabt hätte, seine Arbeiter zu bezahlen, sie aber strebten nur darnach, ruhig und gemächlich arbeiten zu dürfen, also so, wie sie es gewohnt waren. In seinem eigenen Interesse lag es, daß jeder Arbeiter so viel als möglich arbeitete, und dabei auch nicht vergesse, daß er nicht die Futterschwingen zerbreche, oder die Mistgabeln und die Dreschflegel; daß er daran denke, was er thue, in, dem des Arbeiters hingegen, daß er mit größter Muße arbeiten könne, dabei ausruhend und, was die Hauptsache war – sorglos, ohne zu denken, und sich selbst dabei vergessend.

Auf jedem Schritte hatte Lewin das in diesem Sommer wahrgenommen. Er hatte Leute hinausgesandt, damit der Kleber nach dem Heu geschnitten werde und die schlechtesten Desjatinen, die von Gras und Wermut durchstanden waren, und zur Saat nicht gut tauchten, ausgewählt; aber man nahm dafür die besten Felder, mit der Ausrede, daß der Verwalter es so befohlen habe und tröstete ihn damit, daß das Heu ausgezeichnet werden würde. Er aber wußte nur zu gut, daß dies nur davon komme, weil sich diese besseren Felder leichter schnitten. Er hatte eine Maschine hinausgesandt, um das Heu aufschütteln zu lassen, aber man hatte dieselbe schon bei den ersten Reihen defekt gemacht, weil es dem Bauer zu langweilig gewesen war, auf dem Bocke unter den über ihm schwingenden Schaufeln zu sitzen, und ihm geantwortet: »Habt keine Angst, die Weiber werden das Heu schnell wenden.« Die Pflugscharen erwiesen sich als untauglich geworden, weil es den Knechten nicht in den Kopf gekommen war, das Eisen hochzuheben, so daß sie, mit der Fangleine wendend, nur die Pferde abquälten und den Boden ruinierten; aber immer bat man Lewin, nur ruhig zu bleiben.

Die Pferde hatte man in die Weizenfelder gelassen, weil nicht ein einziger der Arbeiter in der Nacht hatte Wache halten wollen. Selbst auf den Befehl hin, es nicht zu thun, wechselten sich die Arbeiter die Nacht hindurch mit der Wache ab und Wanka, der den ganzen Tag gearbeitet hatte, war eingeschlafen. Er bereute nun seinen Fehltritt, sagte aber nur »macht was Ihr wollt«. –

Drei ausgezeichnete Färsen wurden vergiftet, weil man sie ohne Tränke auf das Kleberfeld gelassen hatte, und niemand wollte glauben, daß sie vom Kleber aufgetrieben worden waren, zur Beruhigung aber wurde mitgeteilt, daß bei einem Nachbar hundertundzwölf Stück Vieh innerhalb dreier Tage gefallen seien.

Alles das geschah aber nicht etwa deshalb, weil man Lewin oder seiner Ökonomie etwa übel gewollt hätte, im Gegenteil, er wußte, daß man ihn lieb hatte, ihn als einen einfachen Herrn achtete – was doch als höchstes Lob gilt, – es geschah eben nur deshalb, weil man heiter und sorglos zu arbeiten wünschte und seine Interessen den Leuten nicht nur fremd und unverständlich blieben, sondern ihren eigenen richtigsten Interessen geradezu entgegengesetzt waren. Schon lange hatte Lewin Unzufriedenheit über sein Verhältnis zu dieser Wirtschaft empfunden. Er erkannte, daß sein Fahrzeug leck geworden war, fand aber und suchte auch das Leck nicht, vielleicht um sich mit Vorsatz darüber hinwegzutäuschen. Wäre ihm doch auch nichts anderes übrig geblieben, wenn er sich dessen klar bewußt gewesen wäre. Jetzt aber konnte er sich nicht mehr täuschen; die Wirtschaft wie er sie leitete, war ihm nicht nur nicht mehr interessant, sie ekelte ihn vielmehr an, und er mochte sich nicht mehr mit ihr befassen.

Hierzu war nun das Erscheinen Kity Schtscherbazkajas gekommen, die nur dreißig Werst von ihm entfernt weilte und die er so gern wiedersehen wollte und doch nicht konnte.

Darja Aleksandrowna Oblonskaja hatte ihn eingeladen, wieder zu ihr zu kommen, als er bei ihr gewesen war; er sollte wohl hinkommen, um bei ihrer Schwester seinen Antrag zu erneuern, den sie jetzt, wie sie ihm zu verstehen gab, wahrscheinlich annehmen würde. Lewin selbst erkannte, nachdem er Kity wiedererblickt hatte, daß er nicht aufgehört habe, sie zu lieben; aber er vermochte nicht zu den Oblonskiy zu fahren, wenn er wußte, daß sie sich dort befand.

Der Umstand, daß er ihr eine Erklärung gemacht, und sie ihn zurückgewiesen hatte, zog eine unüberwindliche Schranke zwischen ihnen.

»Ich kann sie nicht mehr bitten, mein Weib zu werden, schon deshalb, weil sie nicht das Weib dessen sein kann, den sie mochte,« sprach er zu sich selbst, und der Gedanke hieran, stimmte ihn kalt und feindselig gegen sie. »Ich werde nicht die Kraft besitzen, mit ihr zu reden ohne die Empfindung, daß ich ihr Vorwürfe machen müßte, um sie anzuschauen, ohne daß sich der Haß in mir regte, und sie selbst wird mich nur mehr hassen, wie das je der Fall sein muß. Wie sollte ich daher jetzt, auch nach dem, was mir Darja Aleksandrowna gesagt hat, zu ihr kommen können? Vermöchte ich denn zu verhehlen, daß ich weiß, was diese mir gesagt hat? Ich kann allerdings voll Großmut kommen, ihr vergeben, sie mir versöhnlich stimmen; ich stehe ja vor ihr in der Rolle des Verzeihenden, der sie seiner Liebe für wert hält. Weshalb mußte mir Darja Aleksandrowna dies auch sagen? Ich hätte Kity doch zufällig wiedersehen können, und dann würde sich alles von selbst gemacht haben; jetzt aber ist das unmöglich, ganz unmöglich.«

Darja Aleksandrowna hatte Lewin ein Billet geschickt, in welchem sie um einen Damensattel für Kity bat. »Man hat mir gesagt, Ihr besäßet einen solchen,« schrieb sie ihm, »und ich hoffe, Ihr bringt ihn selbst?«

Er vermochte dies kaum zu ertragen. Wie konnte ein so kluges, feinsinniges Weib die eigene Schwester derartig erniedrigen? Er schrieb wohl zehn Billets, die er alle wieder zerriß, und schickte dann den Sattel ohne Antwort.

Schreiben, daß er kommen würde, konnte er nicht, weil er nicht kommen konnte; schreiben, daß er nicht kommen könnte, da er abgehalten sei oder verreisen müsse – das wäre noch schlimmer gewesen. –

Er sandte deshalb den Sattel ohne eine Antwort, allerdings im Bewußtsein, daß er damit etwas Beschämendes thue, überließ am andern Tage die ihm immer gleichgültiger werdende Ökonomie seinem Verwalter und fuhr nach einem fernergelegenen Kreis, zu einem Freunde Swijashskiy, welcher ausgezeichnete Entensümpfe besaß und ihm schon längst geschrieben hatte, endlich einmal sein Versprechen zu erfüllen und ihn zu besuchen. Die Jagdgründe im Surowskischen Kreise hatten Lewin schon lange am Herzen gelegen, aber wegen seiner landwirtschaftlichen Pflichten hatte er die Reise immer wieder aufgeschoben. Jetzt freute er sich, sowohl der Nachbarschaft der Schtscherbazkiy, als ganz besonders auch seiner Ökonomie einmal entgehen zu können, und zwar gerade der Jagd halber, die ihm in allem Leid stets der beste Trost gewesen war.

25.

Nach dem Surowskischen Kreis führte keine Eisenbahn, auch keine Poststraße und Lewin fuhr daher in seinem Tarantaß.

Auf der Hälfte des Weges hielt er an, um bei einem reichen Bauern zu füttern. Ein kahlköpfiger, aber noch rüstiger Alter mit breitem fuchsigem Bart, der an den Wangen grau war, öffnete das Thor, sich an den Seitenpfosten schmiegend, um die Troika hereinfahren zu lassen.

Er wies dem Kutscher einen Platz unter einem Vordach auf dem geräumigen, sauberen, in guter Ordnung befindlichen neuen Hofe an und bat dann Lewin in die Stube. Ein sauber gekleidetes junges Weib, Schuhe an den nackten Füßen, scheuerte soeben gebückt den Boden in der neuen Hausflur. Sie erschrak vor dem Hunde, der Lewin folgte und schrie auf, lachte aber sogleich über ihren Schrecken, als sie sah, daß der Hund ihr nicht zu nahe kam. Mit dem entblößten Arme Lewin die Thür zur Stube zeigend, barg sie, sich von neuem niederbeugend, das hübsche Gesicht und fuhr fort zu scheuern.

»Soll ich den Samowar bringen?«

»Ja, bitte.«

Das Zimmer selbst war geräumig; es besaß einen holländischen Ofen und eine Scheidewand. Unter den Heiligenbildern stand ein gemusterter Tisch, eine Bank nebst zwei Stühlen; am Eingang ein Schränkchen mit Geschirr. Die Fensterläden waren geschlossen, Fliegen kaum wahrnehmbar und alles erschien so reinlich, daß Lewin zu besorgen begann, Laska, der unterwegs gelaufen war, und sich in den Pfützen gebadet hatte, möchte den Boden mit den Pfoten besudeln, und dem Hunde einen Platz in der Ecke an der Thür anwies. Nachdem sich Lewin in dem Zimmer umgesehen hatte, ging er nach dem hinteren Hofe. Das junge Weib in den Schuhen lief, die leeren Eimer an dem Schulterjoch schaukeln lassend, vor ihm her, um Wasser am Brunnen zu holen.

»Bei mir geht es hurtig!« rief der Alte heiter, zu Lewin kommend. »Nicht wahr Herr, Ihr fahrt zu Nikolay Iwanowitsch Swijashskiy? Er kommt auch bisweilen zu mir,« begann er gesprächig sich auf das Geländer der Treppe stützend. Mitten in der Erzählung des Alten von seiner Bekanntschaft mit Swijashskiy kreischte das Thor und auf den Hof herein kamen Arbeiter vom Felde mit Pflugscharen und Eggen. Die Pferde, welche an die Pflüge und Eggen gespannt waren, erschienen wohlgefüttert und stattlich; die Knechte gehörten augenscheinlich zur Familie, es waren zwei junge Männer in Kattunhemden und Mützen; die beiden anderen waren Mietlinge und trugen Tuchhemden, der eine war schon bejahrt, der andere noch jung.

Die Freitreppe verlassend, begab sich der Alte zu den Pferden und machte sich daran sie auszuspannen.

»Was habt Ihr denn geackert?« frug Lewin.

»Kartoffeln gepflügt. Wir haben unser eigenes Land. Du Tjodot, laß den Wallach nicht los, bringe ihn an den Brunnen, wir wollen einen anderen einspannen.«

»Vater, ich habe angeordnet, die Pflugeisen zu nehmen; hast du welche mitgebracht?« frug der an Wuchs größere der beiden Burschen, augenscheinlich ein Sohn des Alten.

»Im Schlitten,« antwortete dieser, die im Kreis zusammengenommenen Zügel auf die Erde niederwerfend. »Du kannst sie anbringen, während zu Mittag gegessen wird.«

Das freundliche junge Weib ging mit den gefüllten, ihr die Schultern niederziehenden Eimern wieder in den Flur, noch einige Weiber, junge hübsche, mittleren Alters, und alte und häßliche, mit und ohne Kinder, erschienen jetzt.

Der Samowar sang lustig; das Gesinde und die Familienmitglieder, welche die Pferde eingestellt hatten, kamen zur Mittagsmahlzeit. Lewin holte aus dem Wagen seinen Mundvorrat und lud den Alten ein, mit ihm zusammen Thee zu trinken.

»Ach, wir haben ja heute schon getrunken,« erwiderte der Alte, augenscheinlich die Einladung mit Vergnügen aufnehmend, »aber zur Gesellschaft.«

Beim Thee erfuhr Lewin die ganze Geschichte der Ökonomie des Alten. Derselbe hatte vor zehn Jahren von seiner Gutsherrin hundertundzwanzig Desjatinen Land gepachtet, im vergangenen Jahre dasselbe erkauft und weitere dreihundert von einem benachbarten Gutsbesitzer gepachtet. Einen kleinen Teil des Landes, den schlechtesten, hatte er selbst wieder verpachtet, während er einige vierzig Desjatinen Feldes mit seiner Familie und zwei gemieteten Knechten selbst bebaute.

Der Alte klagte, daß die Geschäfte schlecht gingen, aber Lewin verstand, daß er sich nur nach dem üblichen Tone beschwerte, und seine Ökonomie in voller Blüte stand. Hätte sie schlecht gestanden, dann würde er nicht Ackerboden zu hundertundfünf Rubeln gekauft, nicht drei Söhnen und einem Neffen Frauen gegeben, sich nicht nach zwei überstandenen Feuersbrünsten immer besser und besser entwickelt haben.

Ungeachtet der Klage des Alten war es offenbar, daß er einen berechtigten Stolz auf seinen Wohlstand, auf seine Söhne, Neffen, seine Schwiegertöchter, Pferde und Kühe und besonders darauf hegte, daß dieses ganze Hauswesen so gut stand.

Aus dem Gespräch mit dem Alten erfuhr Lewin, daß auch dieser sich Neuerungen gegenüber nicht ablehnend verhielt. Er baute viel Kartoffeln und seine Kartoffeln, welche Lewin bei der Ankunft gesehen hatte, hatten schon abgeblüht, während die Lewins erst zu blühen begannen.

Er hatte die Kartoffeln mit »der Pflüge« gepflügt, wie er den Pflug nannte, den er beim Gutsbesitzer gekauft hatte und Weizen gesät. Die unbedeutende Kleinigkeit, daß der Alte, den Roggen jätend, mit dem Gejäteten die Pferde füttere, setzte Lewin ganz besonders in Erstaunen. Wie oft hatte er selbst, indem er sah, wie das schöne Krautfutter verkam, es aufsammeln lassen wollen, aber stets hatte es sich als unmöglich erwiesen. Dieser Bauer hier that es, und konnte das Futter nicht genug loben.

»Was sollten sonst die Weiber machen? Sie tragen die Haufen an den Weg und der Wagen fährt sie herein!«

»Bei uns Gutsbesitzern geht freilich alles schlecht, mit den Knechten,« sagte Lewin, dem Alten ein Glas Thee reichend.

»Danke,« sagte derselbe, nahm das Glas, wies aber den Zucker von sich, indem er auf ein liegengebliebenes von ihm angebissenes Stück zeigte. »Wie soll man mit den Arbeitern verfahren? Es kommt alles auf dieselbe Mißwirtschaft heraus. Da ist der Swijashskiy. Wir kennen sein Land; es ist ausgezeichnet – und doch brüstet er sich mit seiner Ernte nicht. Das kommt eben alles von der unrichtigen Behandlung.«

»Aber du wirtschaftest doch auch mit Gesinde?«

»Wir führen nur Bauernwirtschaft, und bekümmern uns um alles selbst. Ist ein Arbeiter schlecht, so wird er fortgejagt.«

»Batjuschka, Phinogen hat gesagt, ich soll Euch des Teers halber holen,« sagte die Frau, mit den Schuhen an den Füßen, welche wieder eintrat.

»So ist es Herr!« antwortete der Alte aufstehend, bekreuzte sich mehrmals und dankte Lewin, worauf er hinausging.

Als Lewin in die Gesindestube kam, um seinen Kutscher zu rufen, erblickte er die ganze Bauernfamilie bei Tische. Die Weiber bedienten im Stehen. Ein jüngerer, blühend aussehender Sohn, mit vollen Backen seinen Brei kauend, mochte soeben etwas Lustiges erzählt haben, denn alle lachten, und besonders lustig lachte das Weib in den Schuhen, indem es Schtschi in eine Tasse goß.

Mochte es sein, daß das freundliche Gesicht der Bäuerin in den Schuhen besonders viel zu jenem Eindruck der Behaglichkeit beitrug, den dieses Bauernheim auf Lewin machte, der Eindruck war jedenfalls ein so tiefer, daß sich dieser nicht von ihm loszumachen vermochte. Auf dem ganzen Wege von dem Alten aus bis zu Swijashskiy kam ihm immer wieder die Erinnerung an jenen Hausstand, gerade als ob etwas in demselben seine besondere Beachtung erforderte.

26.

Swijashskiy war Kreisrichter in seinem Kreis, fünf Jahre älter, als Lewin und schon lange verheiratet. In seinem Hause lebte eine junge Schwägerin, ein junges Mädchen, welches Lewin sehr sympathisch war. Dieser wußte, daß Swijashskiy und dessen Frau das junge Mädchen gar zu gern an ihn verheiratet hätten, er wußte es zweifellos sicher, wie dies gewöhnlich junge Männer wissen, die heiratsfähig genannt werden, obwohl sich noch niemand entschlossen hat, dies zu äußern. Er wußte aber auch, daß er sie, obwohl er heiraten wollte, und allem Anscheine nach das junge, sehr anziehende Mädchen eine vorzügliche Hausfrau werden mußte, ebensowenig ehelichen würde, – selbst, wenn er nicht in Kity Schtscherbazkaya verliebt gewesen wäre, – als man zum Himmel hinauffliegen kann. Diese Erkenntnis verbitterte ihm das Vergnügen, welches er von seinem Besuch bei Swijashskiy zu haben hoffte.

Als Lewin den Brief desselben mit der Einladung zur Jagd erhalten hatte, fiel ihm dies sogleich wieder ein, aber nichtsdestoweniger urteilte er so, daß alle Absichten Swijashskiys auf ihn doch wohl nur auf einer durch nichts begründeten eigenen Mutmaßung beruhten, und er also immerhin zu ihm fahren könne. Überdies jedoch empfand er auf dem Grund seiner Seele ein Gelüst, sich wiederum einmal zu prüfen, sich wieder an diesem jungen Mädchen zu erproben.

Das häusliche Leben der Swijashskiy war ein im höchsten Grade angenehmes; Swijashskiy selbst, der reinste Typus eines Landmanns, den Lewin nur kannte, war für diesen stets außerordentlich interessant.

Swijashskiy war einer von jenen Menschen, die für Lewin ewig wunderbar blieben, deren Urteil zwar sehr logisch, nie aber selbständig war und seinen eigenen Weg ging, während ihr Leben, außerordentlich bestimmt und fest in seiner Richtung, ebenfalls seinen eigenen Weg ging, vollständig unabhängig und fast stets im Widerspruch mit dem Denken.

Swijashskiy war ein außerordentlich liberaldenkender Mensch. Er blickte auf den Adel herab und hielt die Mehrheit desselben auch nur für geheime, von der Knechtschaft nicht lange erst losgekommene Leibeigene. Er hielt Rußland für ein verlorenes Reich nach Art der Türkei und die Regierung des Landes für so schlecht, daß er sich niemals dazu herbeiließ, ihre Maßnahmen auch nur ernst zu prüfen. Gleichzeitig aber diente er amtlich als ein mustergültiger adliger Beamter und setzte unterwegs stets die Mütze mit der Kokarde und dem roten Streif auf.

Er meinte, daß ein menschenwürdiges Dasein nur im Auslande möglich sei, wohin er auch bei jeder Gelegenheit die sich bot, reiste, betrieb aber nichtsdestoweniger in Rußland eine sehr umfangreiche und vervollkommnete Ökonomie. Mit außerordentlichem Interesse verfolgte er alles, und wußte alles, was in Rußland geschah. Den russischen Bauern hielt er für ein Wesen, welches in seiner Entwickelung auf dem Übergangsstadium vom Affen zum Menschen stand, nichtsdestoweniger aber drückte er bei den Kreiswahlen lieber als jedem anderen den Bauern die Hand und hörte ihre Meinungen an. Er glaubte weder an Tod noch an Leben, war aber dennoch sehr besorgt in der Frage der Verbesserung der Lage der Geistlichkeit, und der Verkürzung ihrer Einkünfte, wobei er namentlich die Kirche in seinem Dorfe im Auge hatte.

In der Frauenfrage stand er auf seiten derjenigen, welche die volle Freiheit des Weibes und insbesondere deren Recht auf die Arbeit vertraten, aber er lebte mit seiner Gattin so, daß jedermann ihr gemütvolles, kinderloses Familienleben lieb gewann; und er hatte das Leben seiner Frau so gestaltet, daß sie nichts weiter that, nichts thun konnte, als mit ihrem Manne gemeinsam die Sorge zu teilen, wie sie am besten und angenehmsten die Zeit zubrächten.

Hätte Lewin nicht die Eigenschaft besessen, sich die Menschen nach ihrer besten Seite zu erklären, so würde der Charakter Swijashskiys für ihn keine Schwierigkeiten und keine Fragen offen gelassen haben, er würde sich betreffs derselben einfach gesagt haben: »Er ist entweder ein Narr oder ein Lump« und alles wäre ihm klar gewesen.

Aber er vermochte ihn nicht einen Narren zu nennen, weil Swijashskiy ohne Zweifel nicht nur sehr klug, sondern auch sehr gebildet war und diese Bildung in einer ungewöhnlich natürlichen Weise zur Schau trug.

Es gab nichts, was er nicht kannte, aber er zeigte seine Kenntnis nur dann, wenn er dazu genötigt war. Noch weniger hätte Lewin sagen können, daß er ein Lump sei, weil Swijashskiy ohne Zweifel ein ehrenhafter, guter, verständiger Mann war, welcher heiter und lebenslustig beständig in der Ausübung eines Berufes stand, der von seiner gesamten Umgebung hoch geschätzt wurde, und weil er wahrscheinlich noch niemals bewußt etwas Schlechtes gethan hatte oder hätte thun können.

Lewin bemühte sich, ihn zu verstehen, ohne es dahin zu bringen, und immer wieder schaute er auf ihn und sein Leben, wie auf ein lebendes Rätsel.

Beide Gatten waren befreundet mit Lewin, und dieser hatte sich daher gestattet, Swijashskiy zu prüfen, seine Lebensanschauung bis auf den Grund zu erforschen, allein stets war sein Bemühen vergeblich gewesen. Stets wenn Lewin versuchte, tiefer in die entfernter liegenden Räume des geistigen Bereichs Swijashskiys einzudringen, bemerkte er, daß dieser in eine leichte Verwirrung geriet; ein kaum bemerkbarer Schrecken drückte sich in seinem Blicke aus, gleichsam als ob er fürchtete, Lewin möchte ihn fassen – und er führte in gutmütiger und launiger Weise einen Gegenschlag.

Jetzt, nach seiner Ernüchterung in Sachen der Landwirtschaft, war Lewin ein Besuch bei Swijashskiy ganz besonders willkommen. Nicht nur, daß ihn der Anblick dieses glücklichen, mit sich selbst und allen zufriedenen liebenden Taubenpaares, und ihres wohlgegründeten Nestes in freundlichere Stimmung versetzte, verlangte es ihn, der sich von seinem eigenen Dasein so unbefriedigt fühlte, jetzt auch in Swijashskiy jenes Geheimnis zu ergründen, welches diesem solche Klarheit, Bestimmtheit und Lebenslust verlieh.

Dann aber wußte Lewin auch, daß er bei Swijashskiy benachbarte Gutsbesitzer sehen würde, und es interessierte ihn nun ganz besonders, von der Landwirtschaft zu erfahren und die Gespräche über die Ernte, das Dingen der Feldarbeiter und dergleichen hören zu können, welche ihm, wenn er auch wußte, daß man dies in gewissem Sinne als simpel bezeichnete, jetzt am allerwichtigsten schienen.

»Dies war ja vielleicht nicht nötig unter der Herrschaft des Leibeigenschaftsgesetzes, ist meinetwegen nicht von Bedeutung für England. Für beide Fälle wären Grundgesetze vorhanden; aber jetzt, wo in Rußland alles sich umwälzte, und eben erst zur Ordnung kam, zeigte sich die Frage, wie man mit diesen Grundgesetzen nun auskommen solle, als die einzig wichtige hier,« dachte Lewin.

Die Jagd zeigte sich schlechter, als Lewin erwartet hatte. Die Sümpfe waren ausgetrocknet und Vögel waren gar nicht da. Er strich einen ganzen Tag im Walde und brachte nur drei Stück, dafür aber, wie gewöhnlich von der Jagd, eine ausgezeichnete Eßlust, gute Laune und jenen Zustand geistiger Frische mit, von welchem bei ihm jede starke körperliche Bewegung begleitet war.

Auf der Jagd, während er, wie es schien eigentlich an nichts dachte, fiel ihm gleichwohl jener Alte mit seiner Familie wieder ein, und der empfangene Eindruck forderte von ihm nicht nur Aufmerksamkeit, sondern vielmehr die Ausscheidung von etwas Unbestimmten, das damit verbunden war.

Am Abend beim Thee entwickelte sich in der Gegenwart zweier Gutsbesitzer, welche in Vormundschaftsgeschäften gekommen waren, das hochinteressante Gespräch, welches Lewin erwartet hatte.

Dieser saß neben der Hausfrau am Theetisch und mußte mit derselben und mit der jungen Schwägerin, welche ihm gegenüber saß, der Unterhaltung pflegen.

Die Hausfrau war ein Weib mit rundem Gesicht, blond und nicht groß; sie erglänzte förmlich mit ihrem Lächeln und ihren Grübchen. Lewin bemühte sich, durch sie die Lösung des ihm so wichtigen Rätsels zu erfahren, das ihr Gatte für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit seiner Gedanken, weil er sich in einer für ihn qualvoll peinlichen Situation befand. Qualvoll peinlich war sie ihm, weil ihm gegenüber die junge Schwägerin in einer eigens für ihn, wie ihm schien, angelegten Robe saß, mit einem eigenartigen, in Gestalt eines länglichen Vierecks angebrachten Ausschnitt auf der weißen Büste. Dieser viereckige Ausschnitt war es, der abgesehen davon, daß die Brust schneeweiß war – oder gerade eben deswegen, weil sie es war, – Lewin die Freiheit des Denkens raubte.

Er stellte sich vor – wahrscheinlich fälschlich – dieser Ausschnitt da könnte eigens für ihn gemacht sein und hielt sich nicht für berechtigt darauf zu blicken, bemühte sich vielmehr, ihn nicht zu sehen. Er fühlte aber, daß er schon damit sich etwas vorzuwerfen habe, daß der Ausschnitt überhaupt gemacht worden war.

Lewin schien, als täusche er jemand, als müsse er etwas erklären, aber als ginge diese Erklärung nicht gut an, und so kam es, daß er beständig errötete, in Unruhe war und sich in Verlegenheit befand. Seine Verlegenheit aber teilte sich auch der hübschen jungen Schwägerin mit. Die Hausfrau indessen schien das gar nicht zu bemerken, indem sie die Schwägerin absichtlich mit ins Gespräch zog.

»Ihr sagt,« fuhr die Hausfrau in der begonnenen Unterhaltung fort, »daß meinen Mann alles was russisch ist, nicht interessierte. Im Gegenteil, er befindet sich zwar recht wohl im Auslande, aber nirgends doch so, wie hier. Hier erst fühlt er sich ganz in seiner Sphäre. Er hat soviel zu thun und besitzt die Fähigkeit, sich für alles zu interessieren. Ach, wäret Ihr noch nicht in unserer Schule?«

»Ich habe sie gesehen. Das Haus ist von Epheu umrankt?«

»Das ist Nastasjas Werk,« antwortete die Hausfrau, auf ihre Schwester weisend.

»Unterrichtet Ihr selbst?« frug Lewin, sich bemühend, an dem viereckigen Ausschnitt vorbeizusehen, und dabei fühlend, daß er, wohin er in dieser Richtung auch blickte, den Ausschnitt sehen müsse.

»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte noch, wir haben aber auch eine gute Lehrerin. Selbst das Turnen wird geübt.«

– »Danke; keinen Thee weiter,« – sagte Lewin, und fühlte, daß er damit eine Unhöflichkeit beding; nicht mehr imstande, die Unterhaltung noch weiterzuführen, erhob er sich errötend. »Ich höre da ein sehr anziehendes Gespräch,« fuhr er fort und trat an das andere Ende des Tisches, an welchem der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß.

Swijashskiy saß mit der Seite am Tische, mit der einen aufgestemmten Hand die Tasse führend, mit der anderen seinen Bart in die Hand nehmend, um ihn bis an die Nase zu heben und dann wieder herabzulassen, als ob er daran riechen wollte. Mit seinen blitzenden schwarzen Augen schaute er gerade den einen der Gutsbesitzer, ein Mann mit grauem Schnurrbart, an, welcher in Erregung geraten war, und fand augenscheinlich Belustigung an dessen Rede.

Der Gutsbesitzer beklagte sich über das Volk, und Lewin war es klar, daß Swijashskiy eine Antwort auf diese Klage wisse, die mit einem Schlag den Sinn der ganzen Rede illusorisch machte, daß er aber nur in seiner Situation diese Erwiderung, nicht äußern könne und nun nicht ohne Vergnügen den komischen Vortrag des Gutsbesitzers anhören müsse.

Dieser, der Mann im grauen Schnurrbart, war offenbar ein eingefleischter Vertreter der Leibeigenschaft; er war auf dem Dorfe alt geworden und ein leidenschaftlicher Dorfregent. Die Anzeichen hierfür erblickte Lewin schon an seinem Anzug, der nach alter Mode gearbeitet war, in dem abgeschabten Überrock in welchem er sich augenscheinlich nicht behaglich fühlte, und in seinen klugen, zusammengekniffenen Augen, in seiner glatten russischen Rede, in dem selbstbewußten, augenscheinlich durch lange Gewohnheit befehlerisch gewordenen Tone und den energischen Bewegungen seiner großen, geröteten und gebräunten Hände, an denen ein alter Trauring steckte.

27.

»Wenn es mir nur nicht leid thäte, das zu verlassen, was ich habe – es steckt zu viel Arbeit darin – verkaufen und dann fortreisen, wie Nikolay Iwanowitsch, um die ’schöne Helena‘ zu hören,« sagte der Gutsbesitzer mit einem Lächeln, welches sein kluges greises Gesicht angenehm erhellte.

»Aber Ihr laßt es ja doch nicht im Stich,« antwortete Swijashkiy, müßt also doch wohl wissen, warum!«

»Meine Absicht ist nur die, zu Hause wohnen zu bleiben, ohne etwas kaufen oder pachten zu lassen! Da hofft man immer, daß das Volk zur Erkenntnis kommen soll. Aber glaubt mir – es ist in ihm nur eitel Trunksucht und Ausschweifung. Alles ist dahin, kein Bauer hat mehr ein Pferd oder eine Kuh! Alles verhungert und gleichwohl – dingt Ihr Euch Knechte, so bringen sie Euch Schaden und obenein kriegt man es noch mit dem Friedensrichter zu thun!«

»Und dafür beklagt Ihr Euch auch noch über den Friedensrichter?« frug Swijashskiy.

»Ich mich beklagen? Um keinen Preis der Welt! Es gehen ja wohl Gerüchte um, daß er einen Tadel nicht eben gern sieht. So zum Beispiel in meiner Brennerei! Da nahmen Leute Handgeld, und ich soll sie heute noch wiederkommen sehen! Was thät nun der Friedensrichter? Er rechtfertigte sie. Er hält sich nur an das Kreisgericht und den Ältesten, und das Kreisgericht spricht ihn nach altem Herkommen von einer Verantwortung frei. Wäre es aber auch nicht so – nun, dann gäbe ich dennoch am Liebsten alles auf und ginge bis ans Ende der Welt.«

Der Gutsbesitzer wollte offenbar Swijashskiy necken, dieser aber geriet nicht nur nicht in Erregung, sondern schien vielmehr sein Ergötzen daran zu haben.

»Wir führen unsere Wirtschaft ohne diese Maßnahmen, ich, Lewin und der Herr da,« antwortete er dann lächelnd, auf den anderen Gutsbesitzer weisend.

»Ja, bei Michail Petrowitsch geht es schon, aber fragt nur, wie! Ist denn das ein rationelles Wirtschaften?« sagte der Gutsbesitzer, sichtlich mit dem Ausdruck »rationell« kokettierend.

»Meine Wirtschaft ist einfach,« sagte Michail Petrowitsch, »Gott sei Dank. Meine Wirtschaft bemüht sich nur, daß zu den Steuern im Herbste das Geld daliegt. Kommen ja Bauern und sagen: Batjuschka, Vater, gieb uns Frist zur Zahlung! Nun die Bauern sind dann auch meine Nebenmenschen, und sie jammern einen. Ich lasse ihnen das erste Drittel nach und sage, ›Kinder, denkt daran, ich habe Euch geholfen, nun helft auch mir, wenn ich Euch brauche.‹ Da kommt nun der Haferschnitt, die Heuernte, die Kornernte und man macht aus, wie viel sie nach ihrer Zinsschuld dabei zu arbeiten haben. Aber freilich giebt es auch Gewissenlose unter ihnen.«

Lewin, der diese patriarchalischen Gepflogenheiten längst kannte, wechselte mit Swijashskiy einen Blick und fiel Michail Petrowitsch ins Wort, indem er sich wiederum an den Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart wandte.

»Aber wie glaubt Ihr denn,« frug er, »daß eine Ökonomie jetzt bewirtschaftet werden müsse?«

»Sie muß so geführt werden, wie es Michail Petrowitsch thut; entweder um die Hälfte losschlagen oder den Bauern leihen, das ginge eben noch – aber freilich wird dadurch der allgemeine Wohlstand des Adels vernichtet. Während mein Land unter der Arbeit der Leibeigenen und durch gute Wirtschaft das Neunfache trug, bringt es jetzt nur das Dreifache. Die Emancipation hat Rußland zu Grunde gerichtet!«

Swijashskiy blickte mit lachenden Augen auf Lewin, er machte diesem sogar ein kaum merkliches Zeichen des Spottes; aber Lewin fand diese Worte des Gutsbesitzers nicht lächerlich; er verstand sie besser, als er Swijashskiy begriff. Vieles von dem, was der Gutsbesitzer noch weiter sprach, in der Darlegung, weshalb Rußland durch die Emancipation der Bauern ruiniert sei, erschien ihm sogar sehr wahr, und ihm selbst neu und unwiderleglich.

Der Gutsbesitzer sprach augenscheinlich nur seinen eigenen Gedanken aus – was ja so selten vorkommt – und es war ein Gedanke, auf den er nicht in dem Wunsche, sein müßiges Hirn zu beschäftigen geführt worden war, sondern ein solcher, der ihm aus den Verhältnissen seines Lebens, das er in ländlicher Einsamkeit hingebracht hatte, erwachsen und nach allen Seiten hin überdacht worden war.

»Es handelt sich, wenn Ihr gefälligst Einsicht nehmen wollt, darum, daß jeglicher Fortschritt sich nur durch die Gewalt vollzieht,« sagte er, offenbar im Wunsche zu zeigen, daß er Bildung besitze. »Nehmt die Reformen eines Peter, einer Katharina, Aleksanders; nehmt die Geschichte Europas her! Hier ist der Fortschritt im Bauernstande nur um so bedeutender! Um allein von der Kartoffel zu reden – selbst die hat mit Gewalt bei uns eingeführt werden müssen! Hat man doch selbst mit dem Pfluge auch nicht immer gepflügt! Man hat ihn auch erst eingeführt, vielleicht zur Zeit der Lehnfürstentümer, aber jedenfalls mit Gewalt! Einst, zu unserer Zeit, haben wir Grundbesitzer unter dem Leibeigenschaftsgesetz unsere Wirtschaft mit Vervollkommnungen geführt, mit allen möglichen Gerätschaften, aber alles das hatten wir durch unsere Kraft eingebürgert, die Bauern waren anfangs dagegen, dann erst begannen sie, uns nachzuahmen! Jetzt, nachdem das Leibeigenschaftsgesetz beseitigt ist, hat man uns diese Macht benommen, und unsere Wirtschaft, die auf einen hohen Standpunkt gehoben worden war, muß wieder bis auf das wildeste Urzeitverhältnis zurücksinken. So fasse ich es auf!«

»Wozu so. Wenn es rationell ist, so könnt Ihr doch durch Verpachten weiter wirtschaften,« bemerkte Swijashskiy.

»Wir haben ja keine Macht mehr dazu. Mit wem sollen wir denn arbeiten, bitte ich Euch?«

»Nun, wir haben ja die Arbeitskraft – das hauptsächlichste Element der Ökonomie,« dachte Lewin.

»Mit Arbeitern.«

»Die Arbeiter wollen nicht gut arbeiten, oder mit guten Gerätschaften hantieren. Unser Arbeiter versteht nur eines – sich zu berauschen wie das liebe Vieh, und im Rausche alles zu ruinieren, was man ihm in die Hände giebt. Die Pferde vergiftet er, das gute Zaumzeug zerreißt er, die Maschinen macht er defekt. Er ärgert sich über alles, was nicht nach seinem Kopfe ist. Daher kommt es, daß der ganze Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist. Das Land liegt öde, ist mit Unkraut überwuchert oder unter die Bauern verteilt, und dort, wo man Millionen von Tschetwert produziert hat, produziert man heute nur noch nach hunderttausenden. Der allgemeine Wohlstand ist vermindert. Hätte man mit Überlegung das gethan, daß« –

Er begann nun seinen Plan der Befreiung zu entwickeln, nach welchem alle diese Übelstände vermieden werden könnten.

Lewin interessierte dies nicht, als jener indessen geendet hatte, kam er auf seinen ersten Standpunkt zurück und sagte zu Swijashskiy gewendet und sich bemühend, diesen zur Äußerung seiner eigentlichen Meinung zu veranlassen:

»Daß der Stand der Landwirtschaft zurückgegangen ist, und daß bei unseren Beziehungen zu den Arbeitern keine Möglichkeit, erfolgreich eine rationelle Ökonomie zu betreiben vorhanden ist – ist vollständig richtig,« sprach er.

»Das finde ich nicht,« erwiderte Swijashskiy ziemlich ernst, »ich sehe nur das Eine, daß wir die Ökonomie nicht zu treiben verstehen, und daß, im Gegenteil, die Landwirtschaft, die wir unter dem Leibeigenschaftsgesetz betrieben haben, nicht gerade zu hoch entwickelt war, sondern vielmehr zu niedrig stand. Wir hatten da keine Maschinen, kein gutes Arbeitsvieh, keine eigentliche Methode und verstehen nicht zu rechnen. Fragt einmal den Landbesitzer; er wird nicht wissen, was für ihn von Vorteil oder Nachteil ist!«

»Nun, die italienische Buchführung,« sagte der eine Gutsbesitzer sarkastisch. »Da giebt es keinen Gewinn, soviel man auch rechnen mag, denn man verdirbt ja alles!«

»Warum alles verderben? Wenn man Euch Eure alten russischen Geräte zerbricht, so kann man meine neuen Dampfmaschinen nicht zerbrechen. Euer Rennpferd von toskanischem Blut, das kann man Euch wohl verderben, aber führt nur ehrliche kräftige Landpferde ein, die werden sie Euch nicht zu Schanden richten. So ist es mit allem! Ihr wollt die Ökonomie eben höher bringen, als notwendig ist.«

»Das ließe sich ja hören, Nikolay Iwanowitsch; Ihr habt gut reden, aber wenn ich nun einen Sohn auf der Universität zu erhalten habe, kleinere Kinder auf dem Gymnasium erziehen lasse – da kann ich doch keine Rassepferde kaufen.«

»Nun, da giebt es ja doch Banken.«

»Um auch das Letzte unter den Hammer kommen zu lassen? Nein, ich danke.«

»Ich kann nicht zugeben, daß es nötig oder möglich wäre, den Stand der Ökonomie noch mehr zu erhöhen,« ergriff Lewin das Wort. »Ich beschäftige mich damit, und habe die Mittel dazu, aber ich habe nichts auszurichten vermocht, und die Banken, – ich weiß nicht, wozu die nützen sollen. Ich wenigstens habe – wofür ich auch immer Geld in der Ökonomie verausgabte – nur mit Mißerfolg gearbeitet; bezüglich des Viehs mit Mißerfolg, wie bezüglich der Maschinen.«

»Das ist ganz richtig,« bestätigte der Gutsherr im grauen Bart, voll Genugthuung lächelnd.

»Ich stehe hierin auch nicht allein,« fuhr Lewin fort, »sondern befinde mich dabei im Einklang mit allen Gutsbesitzern, die rationell wirtschaften; alle diese, mit wenigen Ausnahmen, arbeiten mit Verlusten. Nun, Ihr aber sagt uns jetzt, was Eure Ökonomie macht. Ist sie gewinnbringend?« frug Lewin und bemerkte im selben Moment, im Blicke Swijashskiys wieder jenen huschenden Ausdruck des Erschreckens, den er schon gewahrt hatte, als er tiefer in die verborgenen Falten des Geistes von Swijashskiy einzudringen gewünscht hatte.

Die Frage war von seiten Lewins nicht völlig mit gutem Gewissen gestellt worden. Die Hausfrau hatte ihm soeben beim Thee erzählt, daß man jetzt im Sommer einen Deutschen von Moskau eingeladen hatte, welcher Kenner der Buchführung war und für den Preis von fünfhundert Rubel ihnen die Wirtschaftsführung revidierte; derselbe hatte gefunden, daß die Ökonomie mit dreitausend und einigen Rubeln Verlust arbeite. Sie wußte es nicht ganz genau, aber der Deutsche schien die Sache bis zur Viertelkopeke ausgerechnet zu haben.

Der eine Gutsherr hatte bei der Erwähnung des Nutzertrags in der Wirtschaft Swijashskiys gelächelt, offenbar weil er wußte, wie hoch sich der Gewinn seines Nachbars und Kreisoberhauptes belaufen könne.

»Möglich schon, daß sie nicht ergiebig ist,« versetzte Swijashskiy. »Dies beweist aber nur, daß ich entweder ein schlechter Ökonom bin, oder mein Kapital zur Erhöhung meiner Rente aufwende.«

»Ach, die Rente,« rief Lewin voll Schrecken. »Es mag eine Rente in Europa geben, wo das Land infolge der auf dasselbe verwendeten Arbeit besser geworden ist, bei uns aber wird alles Land von der darauf verwendeten Arbeit nur noch schlechter, das heißt, man entkräftet es und es erzielt daher keine Rente.«

»Inwiefern nicht? Haben doch ein Gesetz dafür?«

»Dann stehen wir außerhalb dieses Gesetzes. Eine Rente schafft für uns keine Abklärung, sondern nur noch mehr Verwirrung. Aber sagt uns doch dann wenigstens, wie die Theorie der Rentenwirtschaft vielleicht« –

»Wünscht Ihr Molken? Mascha, bringe uns doch Molken oder Himbeeren hierher,« wandte sich Swijashskiy plötzlich an seine Frau. »Die Himbeere steht heuer außerordentlich lange.«

In heiterster Laune erhob sich Swijashskiy und schritt selbst hinaus, offenbar in der Annahme, daß das Gespräch abgebrochen sei, und zwar gerade hier, wo es Lewin erst beginnen zu wollen schien.

Da letzterer somit seines Gegenübers verlustig gegangen war, führte er die Unterhaltung mit dem Gutsherrn fort, indem er sich bemühte, diesem zu beweisen, die gesamte Schwierigkeit erwachse daraus, daß man nicht die Eigenschaften und Gepflogenheiten der Arbeitenden erkennen wolle: der Gutsbesitzer war indessen, wie fast alle selbständig und unabhängig denkenden Menschen, schwer empfänglich für die Annahme einer fremden Meinung, und blieb seiner eigenen mit leidenschaftlicher Überzeugung getreu.

Er verblieb beharrlich dabei, daß der russische Bauer ein Vieh sei und das Viehische liebte, daß, um ihn dieser traurigen Lage zu entreißen, Gewalt nötig sei, und, wenn diese nicht, der Stock, während die Welt gleichwohl so liberal geworden sei, daß man die tausendjährige Rute plötzlich mit Advokaten und Haftstrafen vertauscht habe, bei denen man die unnützen stinkenden Bauern noch mit guter Suppe füttere und ihnen die Luft nach Kubikfuß berechne.

»Weshalb glaubt Ihr,« fuhr Lewin fort, sich bemühend, auf seine Frage zu kommen, »daß es unmöglich sei, eine Beziehung zur Arbeitskraft zu finden, mit deren Hilfe die Arbeit nutzbringend würde?«

»Dies wird beim russischen Volke niemals der Fall sein. Es giebt keine Autorität mehr!« versetzte der Gutsherr.

»Aber dann können doch neue Bedingungen gefunden werden?« sagte jetzt Swijashskiy, der Molken gegessen hatte und eine Cigarette rauchend, soeben zu den Disputierenden zurückkehrte. »Sämtliche mögliche Beziehungen zur Arbeitskraft sind schon bestimmt und geprüft worden,« sagte er, »der Rest von alter Barbarei bricht von selbst in sich zusammen, die Leibeigenschaft ist aufgehoben, und so bleibt denn nur die freie Arbeit noch, deren Formen bestimmt und fertig sind, so daß sie nur angenommen zu werden brauchen. Arbeiter, Tagelöhner und Pächter – aus dem werdet Ihr nicht herauskommen.«

»Aber Europa ist unzufrieden mit diesen Formen.«

»Es ist unzufrieden und sucht neue, und es wird solche wahrscheinlich auch finden.«

»Ich spreche nur davon,« bemerkte Lewin, »weshalb wir dieselben nicht unsererseits suchen können?«

»Weil dies ebenso wäre, als wenn wir aufs neue Methoden für den Bau von Eisenbahnen erfinden wollten. Sie sind eben schon fertig und ausgedacht.«

»Und wie, wenn sie uns nicht anstünden, wenn sie unbeholfen wären?« Er bemerkte wiederum jenen Ausdruck des Erschreckens in den Augen Swijashskiys.

»Ja, dieses bekannte ›wir könnten es schon gefunden haben, was Europa noch sucht!‹ Ich kenne es schon, doch entschuldigt, kennt Ihr denn alles, was in Europa bezüglich der Arbeiterfrage gethan worden ist?«

»Nein, nur wenig.«

»Diese Frage beschäftigt jetzt die ersten Geister Europas. Es ist die Richtung Schultze-Delitzschs. Dann haben wir die ganze ungeheure Litteratur der Arbeiterfrage, der liberalsten Richtung Lassalles; Mühlhausens Projekt ist bereits eine Thatsache, kennt Ihr es schon?«

»Einen Begriff habe ich davon, doch nur einen dunkeln.«

»O, Ihr wollt doch nur sagen, daß Ihr alles das nicht weniger genau kennt, wie ich. Allerdings bin ich nicht Professor der Nationalökonomie, aber der Gegenstand hat mich interessiert, und wahrhaftig, falls er Euch interessieren sollte – beschäftigt Euch nur damit!«

»Und wohin sind jene Männer gelangt?« –

– »Entschuldigung!« –

Die Gutsbesitzer hatten sich zum Aufbruch erhoben und Swijashskiy, Lewin wiederum mit dessen unangenehmer Gewohnheit zu erkunden, was sich in den verstecktesten Winkeln seines Geisteslebens verberge, sitzen lassend, ging, um seine Gäste hinauszubegleiten.

 

28.

Es war Lewin an diesem Abend unerträglich langweilig geworden in der Gesellschaft der Damen. Wie nie zuvor, regte ihn der Gedanke auf, daß jene Unzufriedenheit mit der Ökonomie, die er jetzt empfand, nicht ausschließlich ihn in seiner Lage beherrsche, sondern einer allgemeinen Situation entspringe, in welcher sich Rußland befinde, daß die Schaffung einer gewissen Bestimmung für die Arbeiter nicht mehr eine Idee bleibe, sondern eine Aufgabe werde, welche unbedingt zu lösen sei. Ihm schien es, daß man diese Aufgabe lösen könne und versuchen müsse, dies zu thun.

Nachdem er sich von den Damen verabschiedet, und versprochen hatte, noch den nächsten ganzen Tag dazubleiben, in der Absicht, nach dem Walde zu reiten, um hierselbst einen interessanten Wildbruch anzusehen, begab sich Lewin noch vor dem Schlafengehen in das Kabinett des Hausherrn, um sich Bücher über die Arbeiterfrage zu holen, die ihm Swijashskiy empfohlen hatte.

Das Kabinett Swijashskiys war ein sehr geräumiges Gemach, mit Bücherschränken besetzt, in welchem sich zwei Tische befanden. Der eine, ein massiver Schreibtisch, stand in der Mitte; der andere, von runder Form, war ringsum um die auf ihm stehende Lampe mit den neuesten Nummern von Zeitungen und Journalen in verschiedenen fremden Sprachen bedeckt. Auf dem Schreibtisch befand sich ein Regal mit Kästen, welche durch goldige Schilder für Kategorien verschiedener Art ausgezeichnet waren.

Swijashskiy langte die Bücher herunter und setzte sich in seinen Rollsessel.

»Wonach seht Ihr?« frug er Lewin, der vor dem runden Tische stehen geblieben, die Journale musterte. »Ach ja, dort ist ein sehr interessanter Aufsatz,« fügte Swijashskiy, betreffs eines Journals, welches Lewin in Händen hielt, hinzu. »Es wird darin gezeigt,« fuhr er mit freundlicher Lebhaftigkeit fort, »daß der hauptsächlichste Urheber der Trennung Polens durchaus nicht Friedrich gewesen ist. Es wird gezeigt« – mit der ihm eigenen Klarheit entwickelte er nun in Kürze diese neuen, sehr wichtigen und interessanten Enthüllungen.

Ungeachtet dessen, daß Lewin jetzt vor allem doch nur der Gedanke an seine Landwirtschaft beschäftigte, frug er sich doch, während er dem Hausherrn zuhörte, »was lebt nur in diesem Manne? Warum, warum ist ihm die Teilung Polens interessant?«

Nachdem Swijashskiy geendet hatte, frug Lewin unwillkürlich: »Und was ergiebt sich hieraus?« Aber es ergab sich nichts. Es war eben einfach interessant, was in dem Artikel »gezeigt« worden war. Swijashskiy erklärte nichts und fand es auch nicht für notwendig zu erklären, warum ihm die Abhandlung interessant war.

»Mich hat übrigens jener heißspornige Gutsbesitzer, sehr interessiert,« sagte Lewin hierauf seufzend, »er ist klug und sagte viel Wahres.«

»Ach geht doch! Ein eingefleischter geheimer Anhänger der Leibeigenschaft, wie sie es alle noch sind!« erwiderte Swijashskiy.

»Alle, deren Oberhaupt Ihr seid!«

»Ja; aber nur, daß ich sie nach der anderen Seite hinüberzuleiten suche,« sagte Swijashskiy und lachte.

»Mich hat dies Eine sehr interessiert,« fuhr Lewin fort; »daß er damit recht hat, daß unser Werk, das heißt das der rationellen Ökonomie, nicht gedeiht, während allein das Geschäft der Halsabschneider blüht. Wer ist daran schuld?«

»Natürlich wir selbst, und demgemäß ist es nicht richtig, daß unser Werk nicht gediehe. Wasiltschikoff kommt vorwärts« –

»Mit seiner Fabrik« –

»Ich weiß indessen gar nicht, was Euch in Verwunderung setzt. Das Volk befindet sich auf einem so niederen Grad materieller und moralischer Entwickelung, daß es offenbar gegen alles anstreben muß, was ihm fremdartig erscheint. In Europa gedeiht die rationelle Ökonomie deshalb, weil das Volk gebildet ist; wir müßten also vielleicht auch erst das Volk bilden – das ist das ganze Geheimnis.« –

»Aber wie sollen wir das Volk bilden?«

»Dazu sind drei Dinge erforderlich: Schulen, wieder Schulen, und nochmals Schulen.«

»Aber Ihr selbst habt doch gesagt, daß das Volk auf einer niederen Stufe der materiellen Entwickelung steht; inwiefern sollen da die Schulen helfen?«

»Wißt, Ihr erinnert mich an jene Anekdote von dem Rat der einem Kranken erteilt wurde. Dem war ein Purgativ verschrieben worden – man gab es ihm – es wird schlimmer; man versucht Blutegel – es wird schlimmer; er soll zu Gott beten – es wird schlimmer. So geht es uns beiden! Ich verordne Staatsökonomie. Ihr sagt, da wird es nur schlimmer; ich verordne Socialismus – da wird es auch schlimmer: Bildung – da auch!« –

»Wodurch sollten uns die Schulen helfen?«

»Sie werden dem Volke andere Ansprüche verleihen.«

»Dies ist es, was ich eben nie verstanden habe,« rief Lewin eifrig, »wie sollen die Schulen dem Volke beistehen können, seine materielle Lage zu verbessern. Ihr sagt, die Schule, die Bildung erweckt in dem Volke neue Bedürfnisse. Um so schlimmer wäre doch das, da das Volk alsdann nicht in der Lage sein wird, diese zu befriedigen! In welcher Beziehung könnten denn die Kenntnisse im Rechnen, Lesen, und in der Bibelkunde zur Verbesserung seiner materiellen Lage beitragen? Das habe ich mir nie begreiflich machen können. Vorgestern Abend begegnete ich einem Weibe mit einem Säugling an der Brust. Ich frug es, wohin es ginge. Das Weib antwortete: »Ich war bei der Hebamme; dem Kleinen ist es so auf die Brust gefallen, da habe ich ihn mit hingenommen, daß sie ihn heile.« Ich frug, ,wie heilt ihn denn die Hebamme?« – »Nun, sie setzt das Kind zu den Hühnern auf die Stange und spricht etwas dazu.«

»Nun, da sagt Ihr es ja selbst. Eben damit sie das Kind nicht mehr zur Heilung auf die Hühnersteige trage, ist es nötig, daß« – lächelte heiter Swijashskiy.

»O nein!« antwortete Lewin ärgerlich, »diese Heilung sollte nur ähnlich erscheinen mit der Heilung des Volkes durch die Schulen. Das Volk ist arm und ungebildet; das sehen wir so klar, wie die Bäuerin die Krankheit ihres Kindes sah, da das Kind schrie. Wie nun dieser Armut und Unbildung Schulen abhelfen sollen, das ist mir so unbegreiflich, wie ich nicht verstehen kann, auf welche Weise die Hühner auf der Steige das Kind heilen könnten. Es ist nötig, in dem Abhilfe zu schaffen, wodurch das Volk wirklich elend ist!«

»Nun, da stimmt Ihr wenigstens mit Spencer überein, den Ihr so wenig liebt. Der sagt auch, die Bildung könne nur eine Folge großen Wohlstandes und großer Bequemlichkeit im Leben sein – häufiger Waschungen – wie er sagt, nicht aber eine Folge des Schreiben- und Lesenkönnens.«

»So, so; nun, da bin ich sehr froh, oder vielmehr im Gegenteil, gar nicht froh, daß ich hierin mit Spencer übereinstimme; aber das weiß ich ja schon lange. Die Schulen werden uns nicht helfen, wohl aber wird dies eine ökonomische Verfassung, bei welcher das Volk wohlhabender wird, mehr Muße hat – dann können auch Schulen existieren.«

»Gleichwohl sind doch die Schulen in ganz Europa obligatorisch.«

»Ihr befindet Euch darin doch in Übereinstimmung mit Spencer?« frug Lewin.

In den Blicken Swijashskiys erschien wieder jener Ausdruck des Erschreckens, als er lächelnd erwiderte:

»Nein, diese Geschichte mit dem Bauernweib ist vorzüglich! Solltet Ihr sie nicht schon gehört haben?«

Lewin sah ein, daß er auf diese Weise ebenfalls nicht den Zusammenhang des Lebens dieses Mannes mit seinen Ideen werde finden können. Es war ihm selbst ganz gleichgültig, wohin ihn seine Anschauungen führten; ihm selbst handelte es sich nur um eine Spekulation, und es war ihm unangenehm, daß ihn diese Spekulation in eine Sackgasse führte. Dies konnte er nicht vertragen und er entzog sich dem, indem er das Gespräch auf etwas Anderes, Angenehmes, Heiteres hinüberleitete.

Alle Eindrücke dieses Tages hatten Lewin stark erregt. Dieser freundliche Swijashskiy, der seine Gedanken nur im Interesse der gesellschaftlichen Anstandspflicht für sich behielt, und offenbar noch ganz andere, Lewin unbekannte Grundsätze des Lebens beobachtete – er, der mit einem Haufen, dessen Name Legion war, die allgemeine Meinung vermittelst ihm persönlich doch fremder Ideen leitete; dann dieser heißblütige Gutsherr, der völlig auf dem rechten Wege war mit seinen Urteilen, die ihm durch das Leben selbst abgedrungen worden waren, aber im Unrechte mit seinem Zorn gegen eine ganze Volksklasse – noch dazu die beste – Rußlands; endlich seine eigene Unzufriedenheit mit seiner Wirksamkeit und die dunkle Hoffnung, doch noch eine Besserung für alles das finden zu können, alles das vereinigte sich in ihm zu einem Gefühle innerer Unruhe und der Erwartung einer nahen Entscheidung.

Als er sich in dem ihm zugewiesenen Zimmer allein befand, konnte er, auf der Sprungfedermatratze liegend, die ihm unverhofft, sobald er eine Bewegung machte die Hände oder Füße emporschnellte, lange den Schlaf nicht finden. Kein Gespräch mit Swijashskiy hatte Lewin, so viel des Geistreichen wohl auch gesprochen sein mochte, interessiert, Wohl aber forderten die Darlegungen des Gutsbesitzers nähere Überlegung. Er vergegenwärtigte sich nochmals unwillkürlich alle seine Worte und berichtigte in seiner Vorstellungskraft alles das, was er jenem geantwortet hatte.

»Ja, ich hätte ihm sagen müssen: Ihr sprecht, unsere Landwirtschaft komme nicht vorwärts, weil der Bauer alle Vervollkommnungen hasse, und man sie mit Gewalt dazu treiben müsse; wenn die Landwirtschaft ohne diese Vervollkommnung nicht denkbar wäre, hättet Ihr recht, aber sie kommt dennoch nur dort vorwärts, wo der Arbeiter im Einklang mit seinen Gepflogenheiten thätig ist. Eure und meine Unzufriedenheit mit der Ökonomie beweist, daß wir, oder die Arbeiter die Schuld tragen. Wir haben uns schon lange nach unserer Weise, nach europäischer Mode eingerichtet, ohne nach den Eigenschaften der Arbeitskraft zu fragen. Versuchen wir es doch einmal, die Kraft des Arbeiters nicht als idealen Begriff Arbeitskraft anzuerkennen, sondern vielmehr als den russischen Bauern mit seinen Instinkten, und richten wir unsere Ökonomie demgemäß ein! Stellt Euch vor, hätte ich ihm sagen müssen, daß Eure Ökonomie so geführt wurde, daß Ihr das Mittel fändet, Eure Arbeiter für den Erfolg ihrer Thätigkeit zu interessieren und Ihr hättet das Durchschnittsmaß in der Vervollkommnung gefunden, welches jene anerkennen, und erzieltet, ohne den Boden auszumergeln, das Doppelte oder Dreifache gegen früher. Ihr teiltet das Land nun in Hälften, und gebt die eine Hälfte der Arbeitskraft, so wird der Überschuß der Euch verbliebe, immer noch größer sein und die Arbeitskraft erhielte auch mehr. Um dies aber auszuführen, ist es nötig, die Lage der Ökonomie beiseite zu lassen und die Arbeiter mit Interesse für den Ertrag derselben zu erfüllen. Wie ist das nun auszuführen? Diese Frage will bis in die Einzelheiten beleuchtet sein, aber es ist unzweifelhaft, daß sie lösbar ist.«

Der Gedanke versetzte Lewin in starke Erregung. Er konnte die halbe Nacht nicht schlafen und überlegte sich die Einzelheiten in der Ausführung der Idee.

Er wollte nun nicht erst am nächsten Tage abreisen, sondern entschloß sich jetzt, gleich am Morgen früh nach Hause zurückzukehren.

Überdies hatte jene junge Schwägerin mit dem viereckigen Ausschnitt vorn im Kleid in ihm ein Gefühl erregt, welches dem der Scham und der Reue über eine begangene Dummheit sehr ähnlich war. Die Hauptsache war jetzt, daß er heimfahren müsse, ohne unterwegs auszuspannen; er mußte den Bauern sein neues Projekt vorlegen, bevor noch die Wintersaat in die Erde kam, damit er diese schon nach den neuen Grundsätzen ernten könne. Er hatte beschlossen, seine gesamte bisherige Landwirtschaftsmethode umzuändern.

23.

Montags war die gewöhnliche Sitzung der Kommission vom zweiten Juli. Aleksey Aleksandrowitsch trat in den Sitzungssaal, begrüßte die Mitglieder und den Präsidenten wie gewöhnlich und ließ sich dann auf seinem Platze nieder, die Hände nach den vor ihm bereitliegenden Papieren legend.

Unter der Zahl derselben befanden sich auch die ihm nötigen Rekognitionen und der Entwurf jenes Berichtes, welchen er vorzulegen beabsichtigte. Die Rekognitionen waren für ihn übrigens gar nicht notwendig. Er wußte alles schon und hielt es nicht für erforderlich, in seinem Gedächtnis alles das zu wiederholen, was er sagen wollte. Er wußte, daß wenn seine Zeit käme und er das Gesicht seines Gegners vor sich sähe, das sich sorgfältig bemühte, den Stempel der Gleichmütigkeit zur Schau zu tragen, seine Rede wie von selbst fließen würde, besser, als wenn er sie jetzt vorbereitete. Er empfand, daß der Inhalt seiner Rede so bedeutungsvoll war, daß jedes Wort derselben seinen Wert haben würde. Nichtsdestoweniger zeigte er beim Anhören der üblichen Darlegung des Sachverhalts die unschuldigste, harmloseste Miene von der Welt. Niemand, der auf seine weißen, mit hohen Adern durchzogenen Hände schaute, die mit den langen Fingern leise die beiden Ränder des vor ihm liegenden weißen Blattes betasteten, sein mit dem Ausdrucke der Ermüdung seitwärts geneigtes Haupt sah, hätte denken können, daß sich sogleich aus seinem Munde jene Reden ergießen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorriefen, die Mitglieder zu Ausrufen hinrissen, daß sie sich gegenseitig unterbrachen und den Präsidenten veranlassten, zur Ordnung zu rufen.

Nachdem der Bericht beendet war, erklärte Aleksey Aleksandrowitsch mit seiner leisen, dünnen Summe, daß er zunächst einige Erwägungen betreffs der Angelegenheit der Lage der Ausländer mitzuteilen hätte. Die Aufmerksamkeit wandte sich ihm zu. Aleksey Aleksandrowitsch räusperte sich und begann, ohne seinen Gegner anzublicken, und wie er dies gewöhnlich that, wenn er eine Rede hielt, die nächste, vor ihm sitzende Person – einen kleinen, friedlichen alten Herrn, der gar keine Meinung in der Kommission hatte, ins Auge fassend, seine Ansichten auseinanderzusetzen.

Als die Rede auf das grundlegende Gesetz gekommen war, sprang der Opponent auf und fiel dem Sprecher ins Wort. Stremoff, ebenfalls Mitglied der Kommission, und gleichfalls auf seiner schwachen Seite gefaßt, begann sich zu rechtfertigen und nun fand eine stürmische Sitzungsscene statt; Aleksey Aleksandrowitsch indessen triumphierte und seine Einwände wurden als stichhaltig anerkannt. Es wurden drei neue Kommissionen gewählt und anderen Tags sprach man in den Petersburger Kreisen nur von dieser Komiteesitzung. Der Erfolg Aleksey Aleksandrowitschs war größer, als dieser selbst erwartet hatte.

Am andern Morgen – es war Dienstags – erwachend, entsann er sich mit einem Gefühle der Befriedigung seines gestrigen Sieges, und konnte nicht umhin zu lächeln, obwohl er gleichmütig zu erscheinen wünschte, als der Kanzleidirektor, in der Absicht, ihm eine Schmeichelei zu sagen, von den Gerüchten Mitteilung machte, die zu ihm gedrungen wären betreffs der stattgehabten Sitzung.

Indem er sich mit dem Kanzleidirektor beschäftigte, hatte Aleksey Aleksandrowitsch vollständig vergessen, daß heute Dienstag sei, der Tag, der von ihm für die Ankunft Annas festgesetzt worden war. Er war verwundert und fühlte sich unangenehm berührt, als ein Diener ihm meldete, daß seine Gattin angekommen sei.

Anna war früh morgens in Petersburg angekommen. Ihrem Telegramm entsprechend, war ihr ein Wagen entgegengeschickt worden und infolge dessen konnte Aleksey Aleksandrowitsch erfahren, wenn sie anlangte. Als sie indessen anlangte, erschien er nicht, sie zu bewillkommnen. Man teilte ihr mit, er habe seine Gemächer noch nicht verlassen und arbeite noch mit seinem Kanzleidirektor. Sie befahl, ihrem Gatten mitzuteilen, daß sie angekommen sei, begab sich dann in ihr Kabinett und beschäftigte sich mit dem Auspacken ihrer Sachen in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber eine Stunde verging, ohne daß er erschienen wäre. Sie begab sich nach dem Speisesalon unter dem Vorwand, Anordnungen zu treffen und sprach absichtlich möglichst laut immer in der Erwartung, daß er nun erscheinen werde, Aber er kam nicht, obwohl sie vernahm, daß er zu der Thür seines Kabinetts herausgetreten war, den Kanzleidirektor begleitend. Sie wußte, daß er wie gewöhnlich, bald ins Amt fahren werde, und wünschte ihn vorher noch zu sehen, damit ihre beiderseitigen Verhältnisse zur Klarstellung kämen.

Den Saal durchschreitend, begab sie sich daher entschlossen zu ihm. Als sie im Kabinett bei ihm eintrat, saß er in Uniform, und offenbar im Begriff, aufzubrechen, an seinem kleinen Tischchen, auf welches er sich mit den Armen gestemmt hatte, und starrte trübe vor sich hin. Sie erblickte ihn früher, als er sie selbst gesehen, und erkannte sofort, daß er an sie dachte.

Als Aleksey Aleksandrowitsch seine Frau gewahrte, wollte er sich erheben, besann sich aber anders, und sein Gesicht erglühte, was Anna nie vorher an ihm bemerkt hatte. Er erhob sich schnell und trat ihr entgegen, schaute ihr indessen nicht in die Augen, sondern höher hinauf, nach ihrer Stirn und Frisur. Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hand und bat sie Platz zu nehmen.

»Ich freue mich sehr, daß Ihr gekommen seid,« begann er, sich neben ihr niederlassend, blieb aber dann stumm, obwohl er offenbar den Wunsch hatte, noch etwas zu sagen. Er begann mehrmals zu sprechen, hielt aber wieder inne.

Wenn sich Anna auch vorgenommen hatte, ihn bei diesem Wiedersehen verächtlich zu behandeln und ihm Anklagen entgegenzuschleudern, so wußte sie doch nicht, was sie jetzt zu ihm sprechen sollte, und sie empfand Mitleid mit ihm.

Das beiderseitige Schweigen währte so ziemlich lange.

»Ist Sergey gesund?« begann er endlich und fügte dann, ohne eine Antwort abzuwarten hinzu, »ich werde heute nicht zu Hause speisen und muß sogleich wegfahren.«

»Ich wünschte nach Moskau zu fahren,« antwortete sie.

»Nein; Ihr habt sehr, sehr wohl daran gethan, hierher zu kommen,« versetzte er und verstummte dann wieder.

Als sie bemerkte, daß er nicht fähig sei selbst zu beginnen; nahm sie das Wort: »Aleksey Aleksandrowitsch,« sie blickte ihn an, ohne das Auge unter seinem, nach ihrer Frisur gerichteten Blick zu senken, »ich bin ein verbrecherisches Weib, ein schlechtes Weib, aber ich bin auch das noch, was ich war, was ich Euch damals gesagt habe, und bin gekommen, Euch zu sagen, daß ich nichts zu ändern vermag.«

»Darnach habe ich Euch nicht gefragt,« antwortete er plötzlich mit entschiedenem Tone, und ihr haßerfüllt tief in die Augen schauend. »Das habe ich ja vorausgesetzt.« Auch unter dem Einfluß des Zornes hatte er offenbar gleichwohl die vollkommene Herrschaft über alle seine Fähigkeiten, »aber wie ich Euch damals gesagt und geschrieben habe,« fuhr er mit scharfer, dünner Stimme fort, »wiederhole ich auch jetzt, daß ich keine Verpflichtung habe, davon unterrichtet zu werden. Ich ignoriere dies. Nicht alle Weiber sind so gut, wie Ihr, so zu eilen, damit ihrem Gatten eine so angenehme Nachricht mitteilen zu können.« Er betonte das Wort »angenehm« besonders. »Ich werde die Sache so lange ignorieren, als die Welt sie nicht kennt und mein Name nicht entehrt ist. Deswegen eben komme ich Euch damit zuvor, daß unsere Beziehungen so bleiben müßten, wie sie stets waren, und daß ich nur für den Fall, wenn Ihr Euch selbst kompromittiertet, gezwungen sein werde, Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu wahren.«

»Aber unsere Beziehungen können nicht so bleiben, wie sie stets waren,« antwortete Anna mit schüchterner Stimme, ihn voll Schrecken anblickend. Sobald sie diese ruhigen Bewegungen wieder gesehen, diese scharfklingende knabenhafte und höhnische Stimme gehört, hatte die Abneigung vor ihm das vorher empfundene Mitleid vernichtet und sie fürchtete nun nur noch; aber mochte es kosten was es wollte, sie wollte Klarheit über ihre Lage erlangen. »Ich kann nicht länger Euer Weib sein, da ich« – begann sie.

Er lächelte mit bösem, kaltem Ausdruck.

»Die Lebensweise, die Ihr Euch erwählt habt, scheint sich in Eurer Auffassung widerzuspiegeln. Ich achte oder verachte das Eine wie das Andere; ich achte Eure Vergangenheit und verachte Eure Gegenwart, so daß ich weit entfernt war von einer Interpretation meiner Worte, wie Ihr sie mir unterschiebt.«

Anna seufzte und senkte das Haupt.

»Übrigens verstehe ich nicht, daß Ihr, im Besitz einer solchen Selbständigkeit, daß Ihr,« fuhr er zornerfüllt fort, »unverhohlen Eurem Gatten von Eurer Untreue Mitteilung machen könnt und nicht einmal, wie es scheint, etwas Tadelnswertes darin findet; Ihr scheint die Erfüllung der Verpflichtungen für nachteilig zu halten, die das Weib gegen den Mann hat.«

»Aleksey Aleksandrowitsch. Was verlangt Ihr von mir?«

»Ich verlange, daß ich hier niemals jenem Menschen begegne und Ihr selbst Euch so führt, daß weder die Welt, noch mein Personal Euch einen Vorwurf machen kann; daß Ihr ihn nicht wiederseht! Mir scheint, das ist nicht viel verlangt, und zum Entgelt dafür werdet Ihr die Rechte eines ehrenhaften Weibes genießen, ohne daß ihr die Pflichten eines solchen erfüllt. Das ist es was ich Euch zu sagen hatte. Doch jetzt muß ich fort. Ich werde nicht zu Hause speisen.«

Er erhob sich und schritt nach der Thür.

Anna erhob sich gleichfalls; mit stummer Verbeugung ließ er sie zur Thür hinaus.

21.

»Ich komme um nach dir zu sehen. Deine Toilette hat sich heute sehr in die Länge gezogen,« sagte Petrizkiy. »Ist sie denn nun fertig?«

»Fertig,« antwortete Wronskiy, nur mit den Augen lächelnd und die Schnurrbartspitzen drehend, aber so vorsichtig, als könne nach der Klarstellung der er seine Angelegenheiten unterzogen hatte, eine allzu kühne oder schnelle Bewegung dieselbe wieder über den Haufen werfen?

»Du kommst somit also wie aus dem Bade,« fuhr Petrizkiy fort. »Ich komme von Grizkiy« – so hieß der Regimentskommandeur – »man erwartet dich.«

Wronskiy blickte ohne zu antworten, seinen Kameraden an; er dachte an etwas ganz anderes.

»Giebt es denn Konzert bei ihm?« sagte er dann, auf die zu ihm herüberdringenden bekannten Klänge von Baßtrompeten in Polka und Walzer horchend. »Was giebt es denn für eine Festlichkeit?«

»Serpuchowskiy ist angekommen!«

»Ah,« machte Wronskiy, »das habe ich gar nicht gewußt.« Das Lächeln seiner Augen wurde noch heller.

Nachdem er einmal bei sich selbst konstatiert hatte, daß er glücklich sei in seiner Liebe, opferte er dieser seinen Ehrgeiz, öder nahm doch wenigstens eine solche Rolle auf sich. Wronskiy vermochte auch nicht mehr, Serpuchowskiy zu beneiden oder sich darüber gekränkt zu fühlen, daß derselbe, nach seiner Ankunft beim Regiment, nicht zuerst zu ihm selbst gekommen war. Serpuchowskiy war sein guter Freund und er freute sich über diesen.

»Ich freue mich sehr.«

Der Regimentskommandeur Demin hatte ein großes Gutsgebäude gemietet, die ganze Gesellschaft war auf dem niedrigen geräumigen Balkon versammelt und auf dem Hofe standen – das Erste was Wronskiy in die Augen siel – Sänger neben einem großen Faß Branntwein und die gesunde und freundliche Erscheinung des Regimentskommandeurs, umgeben von den Offizieren. Auf die erste Stufe des Balkons heraustretend, überschrie er mit starker Stimme die Musik, welche eine Offenbachsche Quadrille spielte und befahl etwas, wobei er einigen seitwärts stehenden Soldaten einen Wink gab.

Ein Trupp derselben, ein Wachmeister mit einigen Unteroffizieren traten zugleich mit Wronskiy auf den Balkon. Zur Tafel zurückkehrend, trat der Regimentskommandeur dann wiederum mit einem Pokal auf die Freitreppe heraus und brachte mit lauter Stimme einen Toast: »Auf das Wohl unseres früheren Kameraden, des tapferen Generals, Fürsten Serpuchowskiy! Hurrah!«

Hinter dem Regimentskommandeur, den Pokal in der Hand, erschien lächelnd Serpuchowskiy. »Du wirst immer jünger, Bondarjonko,« wandte er sich an einen gerade vor ihm stehenden, jugendlich und rotwangig aussehenden Wachmeister.

Wronskiy hatte Serpuchowskiy drei Jahre hindurch nicht gesehen. Derselbe war zum Manne geworden, hatte sich einen Backenbart stehen lassen, zeigte sich aber noch ebenso herrlich in der Erscheinung; sowohl durch seine Schönheit, als durch seine Milde und den Adel seiner Züge und seiner Haltung bestechend, wie früher.

Nur eine Veränderung bemerkte Wronskiy an ihm; es lag eine Art stillen, beständigen Schimmers über ihm, wie er auf dem Gesicht von Leuten erscheint, welche Erfolg gehabt haben und der allseitigen Anerkennung dieser Erfolge sicher sind.

Wronskiy kannte diesen Glanz und er bemerkte ihn sofort an Serpuchowskiy. Zur Treppe herabkommend, bemerkte Serpuchowskiy Wronskiy, und ein freudiges Lächeln erleuchtete sein Gesicht. Er winkte ihm mit dem Kopfe zu, hob den Pokal, begrüßte Wronskiy und zeigte mit dieser Geste, daß er nicht früher zu ihm kommen könne, als bis er den Wachmeister abgefertigt hätte, welcher sich in Positur setzend, schon die Lippen zum Willkommenkuß spitzte.

»Da ist er ja auch!« rief der Regimentskommandeur, »nur hat Jaschwin gesagt, daß du bei schlechter Laune seiest.«

Serpuchowskiy küßte den jungen Wachmeister auf die feuchten und frischen Lippen und trat dann, sich den Mund mit dem Tuche wischend, auf Wronskiy zu.

»Ah, wie freue ich mich,« sagte er, ihm die Hand drückend und ihn mit sich auf die Seite führend.

»Widmet Euch ihm!« rief der Regimentskommandeur Jaschwin zu, auf Wronskiy zeigend und begab sich dann hinunter zu den Soldaten.

»Weshalb kamst du denn gestern nicht zu den Rennen? Ich gedachte dich dort zu sehen,« sagte Wronskiy, Serpuchowskiy anblickend.

»Ich kam hinaus, aber zu spät. Doch entschuldige,« fügte er hinzu, sich nach seinen Adjutanten umwendend, »laßt doch dies gefälligst verteilen, soviel auf den Mann kommt.« Hastig zog er aus seinem Portefeuille drei Hundertrubelscheine heraus und errötete.

»Wronskiy, ißt oder trinkst du etwas?« frug Jaschwin, »he, gebt doch dem Grafen ein Couvert – und hier, trink!« –

Das Gelage bei dem Regimentskommandeur zog sich in die Länge. Man trank sehr viel und Serpuchowskiy wurde weidlich dabei gefeiert, darauf feierte man den Obersten, welcher nun mit Petrizkiy vor den Sängern tanzte, und sich dann, bereits etwas illuminiert, auf dem Hofe auf einer Bank niederließ und Jaschwin die Vorzüge Rußlands vor Preußen, namentlich in Bezug auf die Kavallerieattacke auseinanderzusetzen begann. Der Festjubel war auf kurzer Zeit ruhiger geworden. Serpuchowskiy hatte sich ins Haus, in das Toilettezimmer begeben, um sich die Hände zu waschen und traf hier Wronskiy, der sich mit Wasser duschte. Er hatte den Waffenrock abgelegt und hielt den roten, von Härchen überwucherten Hals unter den Wasserstrahl des Beckens, sich mit den Händen Hals und Kopf abreibend. Nachdem er mit der Waschung zu Ende war, setzte er sich zu Serpuchowskiy. Die Zwei nahmen auf einem kleinen Diwan Platz und es entspann sich zwischen ihnen ein für beide sehr interessantes Gespräch.

»Ich habe durch mein Weib alles von dir erfahren,« begann Serpuchowskiy, »und ich freue mich, daß du oft mit ihr zusammengetroffen bist.«

»Sie ist befreundet mit Warja und beide sind die einzigen Frauen von Petersburg, mit denen ich gern zusammenkomme,« antwortete Wronskiy lächelnd. Er lächelte darüber, daß er das Thema schon voraussah, auf welches das Gespräch nun sogleich übergehen mußte, und dies machte ihm Vergnügen.

»Die einzigen?« frug Serpuchowskiy lächelnd dazwischen.

»Ich bin auch über dich unterrichtet gewesen, aber nicht nur durch deine Frau,« versetzte Wronskiy, mit ernstem Gesichtsausdruck die Anspielung von sich weisend. »Ich habe mich sehr gefreut über deine Erfolge, und bin durchaus nicht darüber verwundert gewesen. Ich hatte fast noch mehr erwartet.«

Serpuchowskiy lächelte. Offenbar machte ihm diese Meinung über ihn Vergnügen und er fand es nicht für nötig? dies zu verhehlen, »Ich bekenne im Gegenteil offen, ich hatte weniger von mir erwartet, allein ich bin froh, sehr froh; ich bin ehrgeizig, dies ist meine Schwäche und ich gestehe sie offen ein.«

»Vielleicht würdest du sie nicht eingestehen, wenn du keinen Erfolg gehabt hättest.« sagte Wronskiy.

»Ich glaube nicht,« antwortete Serpuchowskiy wiederum lächelnd. »Ich will nicht sagen, daß es sich nicht auch ohne dies leben ließe, aber es lebte sich doch langweilig. Freilich ist möglich, daß ich mich irre, aber mir scheint doch, als ob ich einige Fähigkeiten zu dem Wirkungskreis besäße, den ich mir erkoren habe, und daß wenn in meine Hände eine Macht, wie sie auch immer sein möge, kommen wird, sie besser aufgehoben ist, als in den Händen vieler mir Bekannter,« sprach Serpuchowskiy in dem strahlenden Bewußtsein seiner Errungenschaften. »Und je näher ich daher dieser Macht komme, um so zufriedener werde ich.«

»Vielleicht ist dies für dich etwas, aber nicht für alle. Ich habe auch schon so gedacht, lebe aber und finde, daß man nicht nur solchen Zwecken zu leben braucht,« antwortete Wronskiy.

»Da haben wir’s, da haben wir’s,« lachte Serpuchowskiy. »Ich hatte aber davon angefangen, daß ich von dir, und auch von deinem Verzicht gehört habe. Natürlich habe ich dich in Schutz genommen. Aber für alles giebt es eine Form, und ich glaube, daß dein Verhalten an sich richtig war, nur bist du nicht so verfahren, wie du mußtest.«

»Was geschehen ist, ist geschehen, und du weißt wohl, daß ich mich noch nie widerrufen habe, was ich einmal that. Ich befinde mich daher ganz wohl.«

»Ganz wohl – auf bestimmte Zeit. Aber du wirst dich hiermit nicht begnügen. Deinem Bruder würde ich das nicht sagen; er ist ein ebenso harmloses Kind, wie unser Wirt!« fügte er hinzu, auf den Hurraruf draußen lauschend. »Auch er ist zufrieden, aber du kannst dich hiermit nicht zufrieden geben.«

»Ich sage auch nicht, daß ich mich mit etwas begnügt hätte.«

»Nein, nicht darum allein handelt es sich. Aber solche Leute, wie du bist, werden gebraucht!«

»Wer braucht sie?«

»Wer? Die Gesellschaft, Rußland! Rußland braucht Männer, braucht eine Partei, oder alles kommt auf den Hund!«

»Was heißt das? Etwa die Partei des Bertenjeff gegen die russischen Kommunisten?«

»Nein,« antwortete Serpuchowskiy, sich verfinsternd, daß man ihn einer solchen Dummheit für fähig gehalten hatte. »Tout ca cest une blague; und es war stets so und wird so bleiben. Kommunisten giebt es nicht, freilich, stets haben die Menschen es für notwendig gehalten, eine schädliche und gefahrbringende Partei zu ergrübeln. Das ist eine alte Geschichte. Nein, jetzt brauchen wir eine Parteimacht von unabhängigen Männern, wie du und ich.«

»Aber wozu?« Wronskiy nannte einige Namen von Macht und Einfluß, »sind das nicht unabhängige Männer?«

»Sie sind es deswegen nicht, weil sie von Geburt an eine Unabhängigkeit ihrer Stellung nicht gehabt haben, keinen Namen führen und der Sonne nicht so nahe stehen, unter welcher wir das Licht der Welt erblickt haben. Man kann sie entweder mit Geld erkaufen oder mit Speichelleckerei, und um es mit ihnen halten zu können, muß man für sie eine Richtung erst erfinden. Sie besitzen in der Regel Wohl eine Idee, eine Richtung, an welche sie aber selbst nicht glauben und die Böses erzeugt; ihre ganze Richtung ist nur der Zweck, eine Regierungswohnung inne haben und einen Gehalt genießen zu können. CEla N’est pas plus fin que ca, sobald man ihre Karte durchschaut. Es ist ja möglich, daß ich weniger gut und dümmer bin, als sie, obwohl ich nicht einzusehen vermag, weshalb es so sein sollte, indes ich sowohl wie du, wir besitzen einen wirklichen und wichtigen Vorzug – den, daß wir uns schwerer erkaufen lassen. – Solche Männer aber sind jetzt uns mehr vonnöten, als es je der Fall gewesen ist.«

Wronskiy hörte aufmerksam zu, aber weniger der Inhalt der Worte war es, der ihn beschäftigte, als die Beziehung derselben auf Serpuchowskiys Verhältnisse, welcher bereits glaubte, sich im Kampfe mit jener Macht zu befinden und in dieser Welt bereits seine Sympathieen und Antipathieen hatte, während es für ihn selbst, für Wronskiy, nur Interessen gab, die sich auf die Eskadron bezogen. Wronskiy erkannte auch, wie stark Serpuchowskiy mit seiner unzweifelhaften Fähigkeit, zu urteilen, die Dinge richtig aufzufassen, mit seinem Geist und seiner Redegewandtheit werden konnte, die sich so selten in den Kreisen vorfinden, in denen er lebte. So viel Überwindung es ihn kosten mochte – er mußte ihn beneiden.

»Und dennoch ist mir mit diesem einzigen und höchsten Ziele nicht genug,« antwortete er, »mit diesem Wunsche, mächtig zu sein. Es war wohl einmal so, aber das ist vorbei.«

»Entschuldige, das ist nicht wahr,« lächelte Serpuchowskiy.

»Doch, es ist wahr, es ist wahr – nämlich jetzt, um aufrichtig zu sein,« fügte Wronskiy hinzu.

»Wahr – für jetzt – das ist etwas anderes; aber dieses jetzt wird nicht immerdar sein.«

»Möglich,« versetzte Wronskiy.

»Du sagst möglich,« fuhr Serpuchowskiy fort, als wenn er des Anderen Gedanken erraten hätte, »ich aber sage dir ›sicherlich‹. Und aus diesem Grunde wollte ich dich sprechen. Du hast gehandelt, wie du mußtest; das verstehe ich recht wohl, aber du darfst es nicht allzuweit treiben. Ich bitte dich jetzt um carte blanche. Zu protegieren gedenke ich dich nicht, obwohl ich nicht einsehe, weshalb ich es nicht thun sollte; hast du mich doch so oft protegiert. Ich hoffe, daß unsere Freundschaft höher steht, als diese Frage; ja,« fuhr er fort, Wronskiy mild zulächelnd, wie ein Weib, »gieb mir carte blanche, tritt aus deinem Regiment und ich bringe dich unmerklich empor.«

»Aber so begreife doch, daß ich nichts brauche,« antwortete Wronskiy, »ich wünsche nur, es möchte alles so bleiben, wie es gewesen ist.«

Serpuchowskiy erhob sich und trat vor ihn hin.

»Du sagtest, es möchte alles so bleiben, wie es gewesen ist. Ich verstehe, was das heißen soll. So höre denn: Wir sind Schulkameraden, aber du hast vielleicht zahlreichere Weiber kennen gelernt als ich.« Ein Lächeln und eine Geste Serpuchowskiys besagten, daß Wronskiy nicht zu befürchten brauchte, er werde etwa leise und vorsichtig die wunde Stelle berühren. »Aber ich bin verheiratet, und, glaube mir, hat man einmal die Frau erkannt, die man liebt, – so schrieb einmal Einer – so erkennt man alle Weiber besser, als hätte man sie sonst auch nach Tausenden kennen gelernt.«

– »Wir kommen gleich!« – rief Wronskiy einem Offizier zu, welcher soeben ins Zimmer hereinblickte und die beiden zum Regimentskommandeur lud.

Wronskiy wünschte jetzt, das Ende zu hören und zu erfahren, was Serpuchowskiy ihm sagen wollte.

»Höre also meine Meinung,« fuhr dieser fort, »die Weiber sind der größte Stein des Anstoßes in der Existenz des Mannes. Es ist schwer, ein Weib zu lieben und zugleich irgendwie zu wirken. Es giebt hierfür nur ein einziges Mittel, mit Bequemlichkeit und ohne eigne Hemmnis zu lieben – das ist die Heirat! Wie soll ich dir es doch gleich klarmachen,« fuhr Serpuchowskiy fort, der die Vergleiche liebte, »halt, paß auf! Wie man nur ein Bündel tragen und doch dabei etwas mit den Händen verrichten kann, sobald das Bündel auf den Rücken gehängt ist, so ist es auch mit der Heirat. Dies habe ich an mir erfahren, als ich geheiratet hatte. Meine Hände waren da plötzlich wieder frei. Aber ohne die Ehe ein solches Bündel mit sich schleppen, heißt mit Händen laufen, die so vollgepackt sind, daß man nichts sonst zu thun vermag. Sieh Mazankoff, Krupoff an! Sie haben ihre Carriere durch die Weiber zu Grunde gerichtet!«

»Aber was für Weiber!« antwortete Wronskiy, dem die Französin und die Schauspielerin ins Gedächtnis kam, mit denen jene beiden ein Verhältnis gehabt hatten.

»Um so schlimmer! Je fester die Stellung eines Weibes in der Welt ist, um so schlimmer wird die Sache! Es bleibt sich ganz gleich – abgesehen davon, daß man das Bündel in den Händen trägt – ob man es erst einem anderen entreißt.«

»Du hast nie geliebt,« versetzte Wronskiy leise, vor sich hinstarrend und Annas gedenkend.

»Mag sein. Aber vergiß nicht, was ich dir gesagt habe. Und noch eins: die Weiber sind stets materieller als die Männer. Wir vollbringen aus Liebe eine erhabene That, sie handeln aber stets terre-à-terre.« – –

– »Sofort, sofort!« – wandte er sich jetzt an den eintretenden Diener. Dieser war indessen nicht erschienen, um sie nochmals zu rufen wie er dachte. Der Lakai brachte Wronskiy ein Billet:

»Von der Fürstin Twerskaja brachte das ein Diener für Euch.«

Wronskiy erbrach den Brief und geriet in hohe Aufregung.

»Ich habe Kopfschmerz und muß nach Haus,« sagte er zu Serpuchowskiy.

»Nun, so lebe Wohl. Giebst du mir also carte blanche

»Wir werden später noch sprechen, ich finde dich ja in Petersburg.«

22.

Es war schon sechs Uhr, und deshalb setzte sich Wronskiy, um keine Zeit zu verlieren und zugleich auch nicht mit seinen eigenen Pferden fahren zu müssen, die jedermann kannte, in den Mietwagen Jaschwins und befahl so schnell als möglich zu fahren. Der Wagen, ein alter viersitziger Kasten, war geräumig, Wronskiy ließ sich in einer Ecke nieder, legte die Füße auf den einen Vorderplatz und versank in Nachdenken.

Die verwirrende Erkenntnis, wie sehr seine Angelegenheiten zur allgemeinen Kenntnis gekommen waren, der Zurückerinnerung an die Freundschaft und Schmeichelei Serpuchowskiys, der ihn für einen brauchbaren Mann hielt, und, vor allem, die Erwartung des Wiedersehens – alles das vereinigte sich in ihm zu einer allgemeinen Empfindung freudiger Lebenskraft.

Dieses Gefühl war so stark in ihm, daß er unwillkürlich lächeln mußte. Er streckte seine Beine von sich, legte das eine über das Knie des andern und nahm es in die Hand, die harte Wade des einen Beines befühlend, welches gestern bei dem Sturz mit dem Pferde verletzt worden war. Dann warf er sich zurück und atmete mehrmals aus voller Brust tief auf.

»Gut; sehr gut!« sprach er zu sich selbst. Er hatte schon früher oft ein Gefühl der Genugthuung über seinen Körper empfunden, aber noch niemals war er auf sich selbst so stolz gewesen, auf seinen Körper, als jetzt. Es war ihm angenehm, diesen leichten Schmerz in dem starken Fuße zu empfinden, angenehm, die Bewegungen der Muskeln seiner Brust beim Atmen zu verspüren.

Jener nämliche helle und kalte Augusttag, der so hoffnungslos auf Anna eingewirkt hatte, schien für ihn belebend und ermunternd zu sein, er erfrischte ihm das erhitzte Gesicht und den Hals. Der Geruch des Brillantine-Odeur von seinem Schnurrbart aus erschien ihm ganz besonders angenehm in dieser frischen Luft. Alles, was er durch das Fenster des Wagens sah, alles in dieser kalten reinen Luft, bei diesem bleichschimmernden Licht der untergehenden Sonne, mutete ihn so frisch an, so erheiternd und stärkend, wie er sich selbst stark fühlte. Selbst die Dächer der Häuser, glänzend in den Strahlen der sinkenden Sonne, die scharfen Umrisse der Kirchen, und Ecken der Gebäude, die ihm vereinzelt begegnenden Erscheinungen von Fußgängern oder Equipagen, und das unbewegliche Grün der Bäume und des Grases, die Felder mit den regelmäßig angelegten Kartoffelfurchen, die schrägen Schatten, welche hinter den Bäumen und Häusern fielen, hinter den Büschen und selbst in den Furchen der Kartoffeln, alles war schön, wie ein herrliches Landschaftsgemälde das soeben vollendet, und mit Lack überzogen worden war.

»Vorwärts, vorwärts!« rief er dem Kutscher zu, sich aus dem Fenster herausbeugend und ein Dreirubelpapier aus der Tasche ziehend, welches er dem umblickenden Kutscher hinreichte. Die Hand des Kutschers fühlte nach etwas bei der Laterne, dann ertönte das Sausen der Peitsche und schnell rollte der Wagen auf der ebenen Chaussee dahin. »Nichts, nichts brauche ich weiter, als diese Seligkeit,« dachte er bei sich, auf eine Beule in dem Glöckchen zwischen den Fenstern blickend, und sich dabei Anna so vorstellend, wie er sie zum letztenmal gesehen hatte. »Je länger ich sie liebe, umsomehr lerne ich sie lieben. Doch hier ist ja der Garten der Villa Wrede. Wo ist sie nun hier? Wo? Wie finde ich sie. Weshalb hat sie das Rendezvous hierher bestimmt, schreibt sie in einem Billet Bezzys?« dachte er jetzt nur noch, aber es gab nicht mehr lange zu denken. Er ließ den Kutscher halten, ohne bis zur Allee zu fahren und öffnete die Thür, sprang dann aus dem Wagen auf den Weg und schritt die Allee entlang, welche zum Hause führte.

In der Allee befand sich kein Mensch; aber als er näher Umschau hielt, erblickte er sie selbst. Ihr Gesicht war zwar von einem Schleier bedeckt, aber er erkannte sie sogleich mit freudigem Blick an dem nur ihr eigentümlichen Gange, der Neigung der Schultern und der Haltung des Hauptes und wie ein elektrischer Schlag durchlief es seinen Körper.

Mit neuer Kraft fühlte er sich selbst, von den elastischen Bewegungen seiner Füße an bis zu den leichten Regungen beim Atmen und es schien ihm, als kitzle etwas seine Lippen.

Als Anna mit ihm zusammentraf, drückte sie ihm innig die Hand.

»Du bist mir wohl nicht ungehalten, daß ich dich rufen ließ? Ich mußte dich sehen,« sprach sie, und der ernste strenge Zug um ihre Lippen, den er unter dem Schleier bemerkte, veränderte mit einem Schlage seine innere Stimmung.

»Ich, zürnen? Wie bist du denn hierher gekommen, und wo willst du hin?«

»Thut nichts zur Sache,« antwortete sie, ihren Arm in den seinen legend, »komm, ich muß mit dir reden.«

Er verstand, daß etwas vorgefallen sein müsse, und daß dieses Wiedersehen kein freudiges werden würde. In ihrer Gegenwart verlor er seine Willenskraft und ohne die Ursache ihrer Aufregung zu kennen, fühlte er schon im voraus daß diese Aufregung sich auch ihm selbst mitteilte.

»Was giebt es denn?« frug er, mit dem Ellbogen ihren Arm pressend, und sich bemühend, ihr die Gedanken von den Zügen zu lesen.

Sie ging schweigend einige Schritte weiter, wie um Kraft zu schöpfen, dann blieb sie plötzlich stehen.

»Ich habe dir gestern nicht gesagt,« begann sie schnell und mühsam atmend, »daß ich bei meiner Rückkehr Aleksey Aleksandrowitsch alles offenbart und ihm gesagt habe, daß ich nicht mehr sein Weib bleiben könne, daß ich – ich habe ihm alles gesagt« –

Er hörte sie an, sich unwillkürlich in seiner ganzen Größe beugend, gleich als wünsche er, ihr die Schwere ihrer Lage damit zu erleichtern. Kaum aber hatte sie geendet, als er sich plötzlich hoch aufrichtete und sein Gesicht einen stolzen und strengen Ausdruck annahm.

»Ja. Es ist besser so, tausendmal besser. Ich begreife, wie schwer dir das geworden sem muß,« sagte er, aber sie hörte seine Worte nicht, sie las seine Gedanken nur von seinem Gesicht ab. Freilich konnte sie nicht wissen, daß sein Gesichtsausdruck sich nur auf den Gedanken bezog, welcher Wronskiy zuerst gekommen war, auf das jetzt unvermeidliche Duell. Ihr war überhaupt der Gedanke an ein Duell gar nicht eingefallen, und sie deutete sich daher den flüchtigen Schein von Strenge anders.

Nachdem sie das Schreiben ihres Mannes erhalten hatte, erkannte sie auf dem Grunde ihrer Seele, daß alles nun beim Alten bleiben, daß sie nicht die Macht haben werde, ihre Stellung zu vernachlässigen, ihren Sohn zu verlassen, und sich mit dem Geliebten zu vereinen.

Der Morgen, den sie bei der Fürstin Twerskaja zugebracht hatte, bestärkte sie noch mehr hierin. Aber dieses Wiedersehen war dennoch von äußerster Bedeutung für sie. Sie hoffte, daß dasselbe ihre beiderseitige Lage ändern und sie retten werde. Wenn er bei ihrer Nachricht entschieden, leidenschaftlich, ohne einen Augenblick des Zauderns gesagt hätte, verlaß alles und fliehe mit mir, so würde sie ihr Kind verlassen und mit ihm gegangen sein.

Aber ihre Mitteilung erzeugte in ihm nicht die Wirkung, die sie erwartet hatte; und sie fühlte sich daher etwas verletzt.

»Es ist mir durchaus nicht schwer geworden. Es geschah wie von selbst,« sprach sie aufgeregt, »und hier« – sie reichte ihm den Brief ihres Mannes aus ihrem Handschuh.

»Ich verstehe, verstehe,« unterbrach er sie, das Schreiben ergreifend, ohne es zu lesen, und sich bemühend, sie zu beruhigen, »eines habe ich gewünscht, eines erbeten, mit diesen Verhältnissen zu brechen, damit ich mein Leben deinem Glücke weihen kann.«

»Warum sagst du nur das?« frug sie, »sollte ich denn noch daran zweifeln? Wenn ich gezweifelt hätte, dann« –

»Wer geht denn dort?« frug Wronskiy plötzlich, auf zwei Damen weisend, die ihnen entgegenkamen. »Sie kennen uns vielleicht?« und hastig wandte er sich, Anna mit sich ziehend, in einen Seitenweg.

»Ah, mir ist alles gleichgültig.« Ihre Lippen zitterten« Ihm schien es, als ob ihre Augen mit einem seltsamen Zorn unter dem Schleier hervor auf ihn blickten. »Wie gesagt, darum handelt es sich auch nicht; ich kann ja gar nicht daran zweifeln, aber hier sieh doch, was er schreibt. Lies!« und sie blieb wieder stehen.

Wiederum gab sich jetzt Wronskiy, wie in der ersten Minute bei der Nachricht von dem Bruche mit ihrem Gatten, unwillkürlich jenem natürlichen Eindruck hin, welchen in ihm sein Verhältnis zu dem beleidigten Gatten wachrief.

Jetzt, als er das Schreiben desselben in Händen hielt, stellte er sich unwillkürlich die Forderung vor, welche er wahrscheinlich noch heute oder morgen bei sich daheim vorfinden würde, und das Duell selbst, in welchem er mit der nämlichen kalten und stolzen Miene, die auch jetzt in seinem Gesicht zu lesen war, in die Luft schießen wollte, sich selbst aber dem Schuß des beleidigten Mannes auszusetzen gedachte. Dabei aber huschte ihm eine Idee durch den Kopf, die Erinnerung an das, was ihm soeben Serpuchowskiy gesagt hatte, und woran er selbst heute Morgen gedacht hatte, daß es nämlich besser sei, sich nicht zu binden; – und er erkannte, daß er diesen Gedanken Anna nicht mitteilen könne.

Nachdem er das Schreiben gelesen hatte, hob er das Auge zu ihr empor. In seinem Blick lag keine Energie mehr. Sie begriff sofort, daß er selbst schon nachgedacht hatte; sie wußte, daß er, was er ihr auch sagen mochte, nicht alles sagen würde, was er dachte; sie erkannte, daß ihre letzte Hoffnung eine trügerische gewesen sei. Das aber war es nicht, was sie erwartet hatte.

»Du siehst, was für ein Mensch er ist,« sprach sie mit bebender Stimme, »er« –

»Vergieb, aber mich freut dies,« unterbrach sie Wronskiy, – »um Gott, laß mich ausreden,« – fügte er hinzu, sie mit dem Blick beschwörend, ihm Zeit zu gönnen, seine Worte zu erläutern. »Ich freue mich, daß die Sache durchaus nicht so bleiben kann, wie er vorschlägt.«

»Und warum kann sie es nicht?« frug Anna, ihre Thränen zurückdrängend und seinen Worten offenbar nicht die geringste Bedeutung beimessend. Sie empfand, daß ihr Schicksal besiegelt war.

Wronskiy wollte sagen, daß nach dem, seiner Meinung nach unvermeidlichen Duell das Verhältnis nicht weiter fortgesetzt werden könne, aber er sprach etwas Anderes.

»Es kann nicht so fortgehen. Ich hoffe, du wirst ihn jetzt verlassen und hoffe« – er geriet in Verlegenheit und errötete, »daß du mir erlaubst, unser Leben einzurichten und alles zu erwägen. – Morgen« – begann er nochmals – aber sie ließ ihn nicht aussprechen»

»Und mein Kind?« rief sie. »Du siehst doch, was er schreibt? Ich muß ihn verlassen, aber ich kann und will es nicht thun!«

»Mein Gott, was gäbe es aber besseres, als dies? Das Kind mußt du verlassen, oder dieses erniedrigende Dasein weiterführen.«

»Für wen erniedrigend?«

»Für alle, und am meisten für dich!«

»Du sprichst beleidigend – sage das nicht! Diese Worte besitzen für mich keinen Sinn,« sagte sie mit zitternder Stimme. Sie wollte jetzt nicht, daß er eine Unwahrheit spräche, es blieb ihr nur noch seine Liebe und sie wollte ja lieben. »Bedenke, daß mit dem Tage, seit welchem ich dich geliebt, sich alles für mich verändert hat. Für mich giebt es nur eines noch und das ist deine Liebe. Wenn diese mir gehört, dann fühle ich mich so hoch, so sicher, daß nichts für mich erniedrigend werden könnte. Ich wäre stolz auf meine Lage, weil – stolz darauf – stolz« – sie sprach nicht aus, worauf sie stolz wäre. Thränen der Scham und der Verzweiflung erstickten ihr die Stimme. Sie hielt inne und schluchzte auf.

Auch er empfand, daß sich etwas in seiner Kehle nach oben hob und daß er ein eigentümliches Gefühl in der Nase hatte.

Zum erstenmal in seinem Leben fühlte er sich fähig, zu weinen. Er hätte nicht zu sagen vermocht, was ihn eigentlich so erschüttert hatte; er empfand Mitleid zu ihr und fühlte, daß er ihr nicht helfen könne; zugleich aber erkannte er auch, daß er die Ursache ihres Unglücks sei, daß er schlecht gehandelt habe.

»Ist denn eine Trennung unmöglich? sprach er kleinlaut. Sie schüttelte das Haupt, ohne zu antworten. Ging es denn nicht, daß sie ihren Sohn mitnahm und ihren Mann verließ? Allerdings, aber dies hing alles von ihm selbst ab.

»Jetzt muß ich wieder zu ihm fahren,« sprach sie trocken. Ihre Ahnung, daß alles beim Alten bleiben würde – hatte sie nicht getäuscht.

»Dienstag werde ich in Petersburg sein und alles wird sich dann entscheiden.«

»Ja,« antwortete sie, »aber wir wollen nicht mehr von der Angelegenheit sprechen.«

Der Wagen Annas, den diese fortgeschickt hatte mit der Weisung, an das Gitter des Gartens der Villa Wrede zu kommen, fuhr vor.

Anna verabschiedete sich von Wronskiy und fuhr nach Haus.