Meine Reise um die Welt – Zweite Abteilung

Neunzehntes Kapitel.

Neunzehntes Kapitel.

Katzen haben ein zähes Leben, Lügen ein noch viel zäheres.

Querkopf Wilsons Kalender.

Ende März segelten wir von Kalkutta ab, hielten uns einen Tag in Madras, drei Tage in Ceylon auf und fuhren dann westwärts, nach der Insel Mauritius.

Aus dem Tagebuch, 7. April. – Wir sind jetzt weit draußen auf der glatten Wasserwüste des Indischen Ozeans. Unter dem großen Leinwandzelt sitzt sich’s behaglich und friedlich im Schatten; wir führen ein Leben, das ganz ideal genannt werden kann.

Unser Kapitän hat die Eigentümlichkeit, daß die Wahrheit in seinem Munde immer unglaubwürdig klingt, während ein ernster Schotte an unserer Tafel jede Lüge, die er vorbringt, wahrscheinlich zu machen weiß. Tut der Kapitän eine Aeußerung, so sehen sich die Zuhörer fragend an, jeder denkt: »Ist das auch wahr?« Stellt der Schotte eine Behauptung auf, so liest man in allen Blicken: »Wie interessant, wie merkwürdig!« Diese Tatsache läßt sich nur aus der verschiedenen Art und Weise beider Männer erklären. Der Kapitän trägt aus Schüchternheit und Mangel an Selbstvertrauen, bei den einfachsten Angaben, die er macht, eine ängstliche Miene zur Schau. Der Schotte sagt die offenkundigsten Lügen mit einem Schein strengster Wahrhaftigkeit, so daß man, selbst gegen besseres Wissen, gezwungen ist ihm zu glauben.

Einmal erzählte uns der Schotte, er habe sich im Springbrunnen seines Gewächshauses einen zahmen fliegenden Fisch gehalten, der selbst für seinen Unterhalt sorgte, und sich in den umliegenden Feldern, Vögel, Frösche und Ratten zur Nahrung fing. Man sah deutlich, daß keiner der Tischgäste an dieser Geschichte zweifelte.

Als dann später von Zollbelästigungen die Rede war, und der Kapitän berichtete, wie es ihm einmal in Neapel ergangen sei, tat er es mit so unsicherem Wesen, daß niemand seinen Worten Glauben schenkte.

Er sagte: »Der Beamte fragte mich mehrmals, ob ich etwas Verzollbares bei mir hätte und sah mich sehr zweifelnd an, als ich es verneinte. Nun forderte mich ein Passagier auf, zum Abschied ein Glas Wein mit ihm zu trinken, was ich jedoch mit dem Bemerken ausschlug, ich hätte soeben an Bord einen Schluck Cognac genommen. Das hörte der Beamte und ließ sich einen Sixpence Zollgebühren für den Cognac bezahlen, ferner fünf Pfund Sterling als Strafe für undeklarierte Ware, fünf Pfund wegen falscher Angabe, daß ich nichts Verzollbares hätte, fünf Pfund, weil die Ware verborgen worden sei und fünf Pfund wegen unerlaubten Schmuggels. Alles in allem fünfundsechzig Pfund und Sixpence für solche Kleinigkeit.«

Ich bin überzeugt, der Schotte sagt lauter Lügen und man glaubt ihm alles, wahrend der Kapitän, so viel ich weiß, immer die Wahrheit spricht und doch für einen Lügner gehalten wird. Das ist fast so merkwürdig wie die Erfahrung, welche ich selbst als Schriftsteller in dieser Beziehung gemacht habe: ich konnte nie eine Lüge sagen, welche Zweifel erregte, noch eine Wahrheit, der jemand Glauben schenkte.

*

10. April. – Die See ist blau wie das Mittelmeer, und das ist wohl eine der himmlischsten Farben, welche die Natur besitzt. –

Wie wunderbar ist doch die verschwenderische Großmut, mit welcher die Natur ihre Geschöpfe bedacht hat! Das heißt, alle, mit Ausnahme des Menschen. Für die, welche fliegen, hat sie ein Haus gebaut, das vierzig Meilen hoch ist, den ganzen Erdball umgibt und ihnen kein Hindernis bietet. Denen, welche schwimmen, weist sie ein Gebiet an, wie es kein Kaiser besitzt, ein Gebiet, das vier Fünftel der Erde bedeckt und meilenweit in die Tiefe geht. Den Menschen dagegen speist die Natur mit allerlei Brocken und Ueberbleibseln der Schöpfung ab. Sie hat ihm nur die obere Schicht gegeben, die magere Haut, mit welcher ein Fünftel der Erde so dünn überzogen ist, daß überall die nackten Knochen hervorragen. Obendrein liefert die Hälfte seines Gebietes nichts als Schnee, Eis, Sand und Felsgestein. So verbleibt ihm denn nur noch ein Zehntel des ganzen Familienerbes als wirklich wertvoller Besitz. Er kann im Schweiße seines Angesichts kaum genug erwerben, um sein Leben zu fristen, denn er muß außerdem noch für den Unterhalt der Könige und Soldaten sorgen, und Pulver herbeischaffen, damit die Segnungen der Zivilisation weiter ausgebreitet werden. Und doch glaubt der Mensch, weil er nicht zu rechnen versteht, in seiner Einfalt und Selbstgefälligkeit, daß die Mutter Natur ihn als das wichtigste Glied der Familie betrachtet, daß er ihr Lieblingskind ist. Es müßte doch wahrlich selbst seinem blöden Verstande zuweilen auffallen, welche sonderbare Art sie hat, ihre Vorliebe zu beweisen.

Nachmittags. – Der Kapitän hat uns soeben erzählt, es sei auf einer seiner Fahrten im Nördlichen Eismeer so kalt gewesen, daß der Schatten des Schiffsmaats auf dem Deck festfror, und man nur mit Gewalt zwei Drittel davon wieder loseisen konnte. Alle schwiegen bei dieser Mitteilung, niemand äußerte ein Wort, und der Kapitän ging ganz betreten davon. – Er wird noch alle Lust verlieren, überhaupt etwas zu sagen.

Es gibt doch nichts Ruhevolleres als einen Tag auf dem Tropenmeer: die blaue See ist glatt und ohne Bewegung, nur die schnelle Fahrt des Schiffes erzeugt einen frischen Lufthauch, und bis zum fernsten Horizont kann man nicht das kleinste Segel erspähen. Es kommen keine Briefe an, die gelesen und beantwortet werden müssen, man wird nicht durch Zeitungsnachrichten aufgeregt, durch Telegramme beunruhigt und erschreckt; die Welt liegt weit abseits, sie ist für uns nicht vorhanden – anfangs verblaßte sie wie ein Traum, jetzt ist sie ins Wesenlose versunken. All ihr Arbeiten und Streben, ihr Glück und Unglück, ihre Wonne und Verzweiflung, ihre Freuden und Kümmernisse, ihre Sorgen und Qualen, haben nichts mehr mit unserem Leben zu schaffen, sie sind vorübergezogen wie ein Sturm, auf den tiefe Windstille gefolgt ist.

Die in schneeweißes Linnen gekleideten Passagiere versammeln sich in Gruppen auf dem Deck; sie lesen, rauchen, spielen Karten, plaudern, halten ein Mittagsschläfchen, kurz tun was sie wollen. Auf andern Schiffen stellt man fortwährend Berechnungen an, wie lange die Fahrt noch dauern wird, auf diesen Meeren geschieht das höchst selten. Kein Mensch kümmert sich um das Anschlagebrett, wo die tägliche Fahrgeschwindigkeit verzeichnet wird, auch wettet man natürlich nicht auf den Lauf des Schiffes, wie das bei Reisen über den Atlantischen Ozean zu geschehen pflegt.

Mir selbst ist es vollständig gleichgültig, wann wir in den Hafen kommen; auch habe ich noch keinen der andern Passagiere darnach fragen hören. Wenn es nach mir ginge, würden wir überhaupt nie mehr landen; denn dies Leben auf dem Wasser hat für mich einen unaussprechlichen Reiz. Da gibt es weder Ermüdung, noch Abspannung, noch Mißstimmung, man hat keine Sorge, keine Arbeit, keine Verantwortlichkeit, Wo wäre wohl auf dem Lande solches Behagen, solche Heiterkeit, solcher Friede und ein so volles Genügen zu finden? Hätte ich die Wahl, ich segelte endlos weiter auf diesem wundervollen Meer und schlüge meinen Wohnsitz nie wieder am festen Lande auf.

Mittwoch 15. April. – Mauritius. – Um zwei Uhr nachmittags gingen wir bei Port Louis vor Anker. Die Klippen und Spitzen der zerklüfteten Felsengruppen sind bis zum höchsten Gipfel hinauf bewaldet; auf der grünen Ebene liegen die Wohnhäuser zwischen tropischen Gebüschen verstreut. Hier ist der Schauplatz der Geschichte von Paul und Virginie.

Donnerstag 16. April. – In Port Louis ans Land gegangen. Wir fanden in der kleinen Stadt die Mannigfaltigsten Nationalitäten und Hautschattierungen, die uns bisher vorgekommen waren: Franzosen, Engländer, Chinesen, Araber, Afrikaner mit Wollköpfen oder glattem Haar, Ostindier, Mischlinge, Quadronen in den verschiedensten Trachten und Farben. – Die Geschichte von Mauritius verzeichnet offenbar nur eine wichtige Begebenheit, und diese hat sich obendrein niemals zugetragen. Ich meine den romantischen Aufenthalt von Paul und Virginie, welcher jedermann mit dem Namen der Insel vertraut machte, während ihre geographische Lage aller Welt verborgen blieb.

18. April. – Dies ist das einzige Land auf Erden, wo man den Fremden nicht fragt: »Wie gefällt Ihnen unsere Gegend?« Alles Reden über die Insel geht von den Bewohnern selbst aus, der Reisende braucht nur zuzuhören und erhält allerlei Belehrung. Von einem Bürger erfährt er, daß Mauritius zuerst erschaffen wurde und dann der Himmel nach dem Vorbild von Mauritius. Ein anderer erklärt das für Uebertreibung und behauptet, man lebe in Mauritius durchaus nicht wie im Himmel; wer zum Beispiel nicht gezwungen wäre in Port Louis zu wohnen, würde sich den Aufenthaltsort gewiß nicht wählen.

Ein Engländer sagte mir:

»Die Insel ist bekannt wegen der ungewöhnlich langen Quarantäne, welche die Schiffe für nichts und wieder nichts halten müssen; dieselbe dauert oft drei bis vier Wochen. Einmal wurde sogar die Quarantäne über ein Schiff verhängt, weil der Kapitän als Knabe die Blattern gehabt habe. Außerdem war er auch Engländer. Der französische Einfluß ist von früherher noch immer am vorherrschendsten auf der Insel; die Zahl der Engländer ist gering und der Gouvernementsrat besteht fast nur aus Franzosen.

»Die Bevölkerung beträgt etwa 375 000. Die meisten sind Ostindier; außer ihnen gibt es Mischlinge und Neger, welche Abkömmlinge der Sklaven aus der Zeit der französischen Herrschaft sind; ferner Franzosen und Engländer. Die Mischlinge stammen aus Verbindungen von Weißen und Schwarzen, Mulatten, Quadronen oder Quarteronen; es sind daher alle nur denkbaren Schattierungen vertreten: ebenholzschwarz, Mahagoni, kastanienbraun, fuchsrot, syrupfarben, dunkelbernsteingelb, hellgelb, crêmefarben, elfenbeinweiß und aschgrau. Letzteres ist die Farbe, welche der Angelsachse bei längerem Aufenthalt im Tropenklima annimmt.

»Die meisten Bewohner von Mauritius kennen nichts als ihre Insel und haben weder viel gelernt noch gelesen – außer der Bibel oft nur Paul und Virginie. Von diesem Roman werden jährlich viele Exemplare verkauft, und es gibt Leute, welche glauben, er wäre ein Teil der Bibel. Es ist das berühmteste Buch, das je über Mauritius geschrieben worden ist – aber auch das einzige. Die drei Hauptländer der Erde sind nach Ansicht der Bürger: Judäa, Frankreich und Mauritius, und daß sie in einem der drei geboren sind, erfüllt sie mit Stolz. Rußland und Deutschland gehören, ihres Wissens, zu England und von letzterem haben sie keine große Meinung. Wer über die Vereinigten Staaten und den Aequator etwas hat verlauten hören, glaubt, das seien zwei Königreiche.

»Der Buchhandel auf der Insel ist unbedeutend; für Bildung und Unterhaltung des Volks müssen die Zeitungen sorgen, welche aus zwei ureinfach gedruckten Seiten bestehen, die eine mit französischem, die andere mit englischem Text. Die englische Seite ist eine Übersetzung der französischen; einen Korrekturleser gibt es nicht – der Mann ist gestorben.

»Und was steht darin? Wo nimmt man auf der kleinen, entlegenen Insel mitten im indischen Ozean täglich den Stoff her, um eine ganze Druckseite zu füllen? – Den muß Madagaskar liefern, Madagaskar und Frankreich. Ratschläge, die man der Regierung erteilt und abfällige Bemerkungen über die englische Verwaltung bilden den übrigen Inhalt der Tagesblätter, deren Besitzer und Herausgeber französische Kreolen sind.

»Das Französische ist Landessprache. Jeder muß es sprechen, er mag wollen oder nicht. Besonders ohne das Mischlings-Französisch, das die Leute mit den vielen verschiedenfarbigen Gesichtern reden, kann man sich hier gar nicht verständlich machen.

»Mauritius war früher sehr wohlhabend, denn man macht hier den besten Zucker in der ganzen Welt. Aber zuerst verdarb der Suez-Kanal die Handelsverbindungen der Insel, und dann verschloß ihr der Rübenzucker mit Hilfe der Zuckerprämien den europäischen Markt. Viele der größten Zuckerpflanzer befinden sich in Geldverlegenheit und würden ihre Besitzungen gern für die Hälfte der Summen hergeben, die sie hineingesteckt haben. Wenn ein Land erst anfängt die Teekultur zu betreiben, so ist das ein sicheres Zeichen für den Rückgang seines Hauptprodukts, dafür liefern Bengalen und Ceylon den Beweis. Auch in Mauritius macht man jetzt Versuche mit der Teekultur.«

20. April. – Der jährliche Cyklone richtet oft große Verwüstungen in den Zuckerfeldern an. Im Jahre 1892 wurden Hunderte von Menschen durch den Cyklone getötet oder zu Krüppeln gemacht, und der sündflutartige Regen, der dabei Port Louis überschwemmte, erzeugte großen Wassermangel. Das ist buchstäblich wahr, denn er zerstörte das Wasserwerk und die Leitungsröhren, und als sich die Flut verlaufen hatte, herrschte eine Zeitlang arge Not, weil man kein Wasser bekommen konnte. – Die Wut jenes Wirbelsturms war fürchterlich; er machte ganze Straßen von Port Louis zu Trümmerhaufen, entwurzelte Bäume, deckte Dächer ab, schmetterte einen Obelisken zu Boden, riß, Schiffe vom Anker los und schleuderte ein amerikanisches Fahrzeug bis in den Wald hinauf. Ueber eine Stunde lang krachte der Donner ohne Unterlaß, die Blitze zuckten und der Wind heulte – es war ein Höllenlärm ohne gleichen. Dann trat plötzlich, Ruhe ein, heller Sonnenschein und völlige Windstille; die Menschen wagten sich hinaus, um den Verwundeten beizustehen und nach ihren Freunden und Angehörigen zu suchen. Da brach der rasende Sturm unvermutet aus einer andern Himmelsgegend von neuem los und richtete vollends alles zu Grunde.

Die Wege auf der Insel sind fest und eben, die Bungalows bequem ausgestattet, die Höfe sehr geräumig; längs der Fahrstraßen wachsen hohe grüne Bambushecken, und – was ich noch nie gesehen habe – Hecken von roten und weißen Azaleen, die sich wunderhübsch ausnehmen. Mauritius ist ein einziger, großer, gartenähnlicher Park. Die wogenden Zuckerrohrfelder mit ihrem frischen Grün tun dem Auge wohl; überall entfaltet sich tropischer Pflanzenwuchs in üppigster Fülle, helles und dunkles Grün, dicht verschlungenes Unterholz von hohen Palmen überragt, große schattige Wälder mit klaren Flüssen, die sich bald im Dunkel verlieren, bald lustig wieder ans Tageslicht gesprungen kommen; auch kleine Berge mit spielzeugartigen Klippen und Felsengruppen hat Mauritius aufzuweisen und dann und wann einen Durchblick auf das Meer mit dem weißen Schaum der Brandung. Die Insel ist sehr hübsch in ihrer Art, doch fehlt ihr das Erhabene, Großartige, Geheimnisvolle, wie es unersteigliche Bergeshöhen mit Gipfeln, die in den Himmel ragen, und weite Fernsichten einer Gegend verleihen; der Gesamteindruck ist reizend, aber nicht überwältigend, er berührt uns angenehm, dringt aber nicht bis in die Tiefe der Seele.

Als die Franzosen noch Mauritius besaßen, belästigten sie von dort aus die indischen Kauffahrteischiffe; deshalb nahm ihnen England die Insel fort und auch das benachbarte Bourbon. Letzteres gab es jedoch wieder an Frankreich heraus und ließ sich auch Madagaskar fortschnappen, was sehr zu beklagen ist. England hätte mit geringer Anstrengung die harmlosen Eingeborenen vor dem Unheil der französischen Zivilisation schützen können. Leider hat es das unterlassen, und jetzt ist es zu spät.

Vor der Sünde, einen Raub an Frankreich zu begehen, hatte sich England schwerlich gescheut. Aller Grundbesitz sämtlicher Staaten der Erde – Amerika natürlich nicht ausgeschlossen – besteht aus gestohlenem Gut, aus Ländereien, die andern Nationen gehörten, denen man sie entrissen hat. In Europa, Asien und Afrika ist jeder Fußbreit Land schon Millionen mal wieder und wieder gestohlen worden. Ein Verbrechen aber, das seit Jahrtausenden verübt wird, hört auf ein Verbrechen zu sein und wird zur Tugend. Das Gewohnheitsrecht ist stärker als jedes andere Gesetz. Auch werden ja heutzutage unter den christlichen Regierungen die allseitigen Pläne solchen Länderraubs ganz frei und offen verhandelt.

Ohne Frage lassen die Zeichen der Zeit deutlich erkennen, welchen Verlauf die Sache nehmen wird: Alle noch unzivilisierten Länder der Erde müssen unter die Herrschaft der christlichen Staaten Europas kommen. Mir macht das keinen Kummer, im Gegenteil, ich freue mich darüber. Vor zweihundert Jahren wäre dies unabwendbare Geschick noch ein Unheil für die wilden Völker gewesen, aber jetzt wird es, unter gewissen Umständen, für manche ein Segen sein. Die Europäer sollen nur je eher je lieber alles Land in Besitz nehmen, damit Friede, Ordnung und Gerechtigkeit an die Stelle der Bedrückung, des Blutvergießens und der Gesetzlosigkeit tritt, unter der die Wilden Jahrhunderte lang geschmachtet haben. Wenn man bedenkt, was zum Beispiel Indien zu der Zeit gewesen ist, als die Hindus und die Mohammedaner es beherrschten, und wie es jetzt um das Land steht, wenn man an das frühere Elend der Millionen zurückdenkt, die heutzutage Schutz und eine menschenwürdige Behandlung genießen, so wird man zugeben müssen, daß es für Indien kein größeres Glück geben konnte, als unter britische Oberherrschaft zu kommen. Geht nun alles Land der wilden Völker in europäischen Besitz über, und müssen sie selbst sich den fremden Herrschern auf Gnade oder Ungnade unterwerfen, so wollen wir von Herzen hoffen und wünschen, daß alle Wilden bei dem Tausch nur gewinnen möchten.

Zwanzigstes Kapitel.

Zwanzigstes Kapitel.

In der Staatskunst bringe alle Formalitäten in Ordnung und kümmere dich nicht um die Moralitäten.

Querkopf Wilsons Kalender.

28. April. – Nach Afrika abgesegelt. – ›Arundel Castle‹ ist das schönste Dampfboot, in dem ich auf diesen Meeren gefahren bin, es ist durch und durch modern und das will viel sagen. An einem Mangel, den man überall trifft, leidet aber auch dieses Schiff: die Betten lassen zu wünschen übrig. Es ist ein großer Fehler, daß man die Auswahl der Betten stets dem ersten besten Mann mit starkem Rückgrat anvertraut, statt einer zarten Frau dies Amt zu übertragen, die von Kindheit auf an Schlaflosigkeit und Gliederweh gelitten hat. Nichts ist sowohl diesseits wie jenseits des Ozeans eine größere Seltenheit, als Betten, welche allen Anforderungen entsprechen. Zwar sind sie in einigen Hotels der Erde zu finden, aber auf keinem Schiff, weder jetzt noch in vergangenen Zeiten. In der Arche Noah waren die Betten geradezu niederträchtig, und darin liegt die Wurzel des Uebels. Noah hat die Mode eingeführt und die Welt wird sie mit geringen Abänderungen bis zur nächsten Sündflut beibehalten.

8 Uhr abends. – An der Insel Bourbon vorbeigesegelt; ihr zerklüftetes, vulkanisches Gebirge hebt sich klar gegen den Himmel ab. – Wie töricht ist es doch, erholungsbedürftige Menschen nach Europa zu schicken. Das Rasseln von Stadt zu Stadt bei Rauch und Kohlendunst, das ewige Besichtigen von Schlössern und Galerien, ist doch kein Ausruhen zu nennen! Man trifft fortwährend alte und neue Bekannte, wird zum Frühstück, zu Mittag, zum Tee ausgebeten und erhält aufregende Briefe und Depeschen. Auch die Fahrt über den Atlantischen Ozean nützt nichts; die Reise ist zu kurz und das Meer zu unruhig. Wahre Heilung für Seele und Leib findet man nur auf dem friedlichen Indischen und dem Stillen Ozean, wo sich die Zeit so behaglich lang ausdehnt.

2. Mai nachmittags. – Ein schönes großes Schiff in Sicht – fast das erste, das wir auf der wochenlangen einsamen Seefahrt erblickt haben. Wir sind jetzt im Kanal von Mozambique zwischen Madagaskar und Südafrika und steuern in westlicher Richtung nach der Delagoabai.

Montag 4. Mai. – Wir dampfen langsam in die ungeheure Bai hinein; ihre Arme erstrecken sich weit ins Land, bis sie den Blicken entschwinden, hier wäre Raum genug für sämtliche Schiffe der Welt, aber die Bai hat nur geringe Tiefe; oftmals zeigte unser Senkblei nicht mehr als viertehalb Faden.

Eine 150 Fuß hohe und etwa eine Meile breite Felswand von stark rötlicher Färbung steigt senkrecht vor uns auf. Auf dem Tafelland über den roten Felsen sieht man Gruppen hübscher Häuser und Bäume, dazwischen die grüne, wellenförmige Ebene, wie in England. Siebzig Meilen lang, bis zur Grenze, gehört die Eisenbahn den Portugiesen – täglich fährt ein Personenzug – weiterhin ist die Bahn Eigentum der Niederländischen Kompagnie. Haufenweise lagen die Frachtgüter am Strande umher; Schuppen, um sie unterzubringen, waren nicht vorhanden. Das ist echt portugiesisch – Trägheit, Frömmigkeit, Armut und Unfähigkeit im schönsten Verein.

Die Mannschaft der kleinen Boote und Schlepper besteht aus sehr muskulösen, kohlschwarzen Wollköpfen.

Winter. – Der südafrikanische Winter hat eben angefangen, aber nur Sachverständige können ihn vom Sommer unterscheiden. Mir ist das sehr recht, denn ich habe den Sommer herzlich satt, der jetzt für uns schon ununterbrochen elf Monate lang dauert.

Den Nachmittag brachten wir in Delagoabai am Ufer zu. Der Ort ist klein; er hat keine Sehenswürdigkeiten, keine Wagen. Die drei Rickschas waren Privateigentum, wir konnten sie nicht mieten. Die Portugiesen hier haben eine schöne braune Hautfarbe, wie einige unserer Indianerstämme; man sieht auch Schwarze mit länglicher Kopfform und sehr langem Kinn, wie die Neger in den Bilderbüchern, aber die meisten gleichen den Schwarzen in unsern Südstaaten, haben runde Gesichter mit platten Nasen und sind gutmütige, lustige Geschöpfe.

Scharen schwarzer Weiber zogen vorüber mit zentnerschweren Frachtstücken auf dem Kopf. Sie waren Packträgerinnen und arbeiteten wie die stärksten Männer; doch mußten sie ihre ganze Kraft anstrengen, um die Last zu bewältigen, man sah, wie ihnen jedesmal beim Aufsetzen der Füße die Beine zitterten. Wenn sie unbeladen einherkommen, haben sie einen aufrechten Gang und eine ebenso schöne und stolze Haltung wie die Indianerinnen. Die Gewohnheit Lasten auf dem Kopf zu tragen, bringt das mit sich. – Man sah keine bunten Farben, obgleich es hier viele Hindus gibt.

6. Mai. – 3 Uhr nachmittags. Ganz allmählich machte das Schiff langsamere Fahrt und dampfte vorsichtig und bedächtig in den hübschen Hafen von Durban in Südafrika ein.

Aus dem Tagebuch. Hotel Royal. – Sehr behaglich; gutes Essen, gute Bedienung von Eingeborenen; ein sonderbares Gemisch von Altem und Neuem, Dorf und Stadt, Ureinfachheit und ihrem Gegenteil. Die elektrischen Glocken geben keinen Ton; der Aufseher im Bureau sagte mir, sie wären vermutlich in Unordnung geraten, weil einige klingelten und andere nicht. Als ich ihn fragte, ob es nicht ratsam wäre, sie in Ordnung zu bringen, sah er mich zweifelnd an, wie jemand der seiner Sache nicht gewiß ist – stimmte mir dann aber doch bei.

7. Mai. – Um sechs Uhr klopft es laut an meine Tür: Ob meine Stiefel geputzt werden sollen? Eine Viertelstunde später wiederholtes Klopfen: Ob wir Kaffee wünschen? Nach abermals fünfzehn Minuten: das Bad für meine Frau ist fertig; gleich darauf: mein Bad ist fertig. Es klopft noch zweimal, weshalb weiß ich nicht mehr. Die Diener lärmen draußen und schreien einander bald dies bald das zu – gerade wie in einem indischen Hotel.

Abends. – Um vier Uhr nachmittags herrscht drückende Schwüle; eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang zieht man den Sommerüberzieher an, um acht Uhr den Wintermantel. Daß Durban eine hübsche, saubere Stadt ist, sieht der Fremde von selbst, man braucht ihn nicht darauf aufmerksam zu machen. – Die Rickschas werden von prächtig gewachsenen schwarzen Zulus gezogen, mit so überschüssiger Kraft, daß es ein wahres Vergnügen ist ihnen zuzusehen. Gutmütige Menschen – wie sie lachen und ihre Zähne zeigen! Die Stunde kostet für eine Person 2 Schilling, für zwei Personen 3; jede Fahrt drei Pence für die Person. Ein Rickscha-Mann darf nicht trinken.

Die Polizei besteht nur aus heidnischen Zulus; christliche werden nicht angestellt. Nach dem Abendläuten darf kein Eingeborener ohne Paß ausgehen. In Natal kommen auf einen Weißen zehn Schwarze. Die Weiber sind handfeste, rundliche Gestalten. Sie kämmen ihre Wolle auf dem Kopf in die Höhe und machen sie mit rotbraunem Lehm steif, daß sie stehen bleibt. Ist dieser Turm bis zur Hälfte gefärbt, so bedeutet es Verlobung; die verheiratete Frau färbt ihn ganz.

9. Mai. – Gestern machte ich mit Bekannten eine Ausfahrt. Sehr schöne Straßen über die Hügel, von wo man einen herrlichen Blick auf die ganze Stadt, den Hafen und das Meer genießt. Ueberall Wohnhäuser, von grünem Rasen und Buschwerk umgeben; hie und da bildet die brennend scharlachrote Euphorbia einen scharfen Gegensatz zu dem saftigen Grün ringsum; Kaktusbäume der verschiedensten Art in Kandelaberform und einer, dessen Zweige so verrenkt und gekrümmt sind, daß sie aussehen wie lauter graue, sich windende Schlangen. Auf allen Seiten sieht man eine Menge der prächtigsten, uns völlig unbekannten Bäume, einige mit so dichtem, dunkelgrünem Laub, daß sie sofort ins Auge fallen, trotz der vielen Orangenbäume daneben. Ein Baum hat wunderschöne rote, aufrechtstehende Büschel, die zwischen seiner grünen Blätterpracht leuchten wie feurige Kohlen. Auch Gummibäume sind da, und ein paar hochgewachsene Norfolktannen strecken ihre grünen Wedel himmelan, dann kommt wieder hohes Bambusgebüsch. Ich sah nur einen Vogel; sie sind hier selten und singen nicht. Die Blumen haben wenig Duft, sie wachsen zu schnell. Nirgends habe ich eine so große Mannigfaltigkeit der herrlichsten Bäume gesehen wie hier, außer in der Nähe von Dardschiling im Himalaja. Vermutlich ist Natal der Garten von Südafrika, aber ich habe noch niemand dies Land so nennen hören.

*

Colenso war Bischof von Natal, als er durch seine Schriften einen solchen Sturm in der theologischen Welt erregte. Noch jetzt sind alle religiösen Angelegenheiten hier von großer Wichtigkeit. Die Sonntagsruhe wird eifersüchtig bewacht. Museen und dergleichen gefährliche Vergnügungsorte sind geschlossen. Eine Fahrt auf der Bai ist gestattet, aber das Cricketspiel gilt für sündhaft. Eine Zeitlang fanden Sonntags-Konzerte statt, bei denen kein Eintrittsgeld bezahlt wurde, sondern der Klingelbeutel herum ging. Dadurch kam jedoch so beunruhigend viel zusammen, daß man die Sache wieder eingehen ließ. In betreff der Säuglinge ist man sehr streng. Ein Geistlicher verweigerte einem Kinde das kirchliche Begräbnis, weil es nicht getauft worden war. Da ist der Hindu weitherziger. Er verbrennt kein Kind unter drei Jahren, weil er glaubt, daß es noch nicht der Läuterung bedarf.

Zwei Stunden von Durban entfernt liegt ein großes Trappisten-Kloster, das ich in Gesellschaft von Mr. Milligan und Mr. Hunter, dem Generalinspektor der Staatseisenbahnen von Natal, in Augenschein nahm. Die beiden Herren kannten die Vorsteher des Klosters.

Es war wirklich alles da, was man für so unglaublich hält, wenn man es in Büchern liest: die harte Arbeit, das Aufstehen zu unmöglichen Stunden, die karge Nahrung, das grobe Gewand, das harte Lager, das Verbot der menschlichen Rede, des geselligen Verkehrs, der Gegenwart irgend eines weiblichen Wesens, jeder Erholung, Abwechslung und Unterhaltung. Alles wurde durchgeführt – es war kein Traum, keine Lüge. Aber selbst wenn man die Tatsache leibhaftig vor sich hatte, blieb sie ebenso unerklärlich. Es streitet zu sehr gegen die Natur, die Individualität des Menschen so gänzlich Zu unterdrücken.

Wie mag La Trappe nur herausgefunden haben, daß es Menschen gibt, die in solchem Elend einen Genuß finden? Hätte er mich oder dich um Rat gefragt, wir würden ihm versichert haben, daß sein Plan zu sehr aller Reize entbehrte und niemals verwirklicht werden könnte. Aber, da steht das Kloster und liefert den Beweis, was für ein Menschenkenner La Trappe gewesen ist. Er hat alles aus dem Leben verbannt, was das Herz wünscht und begehrt, und dennoch hat der Erfolg seit zweihundert Jahren sein Werk gekrönt und es wird ohne Zweifel auch ferner blühen und gedeihen.

Wir Menschen lieben persönliche Auszeichnung – dort im Kloster gibt es nichts dergleichen. Wir sind wählerisch in betreff der Speisen – die Mönche erhalten Bohnen, Brot und Tee und nicht einmal genug um sich satt zu essen. Wir betten uns gern weich – sie liegen auf Sandmatratzen und haben zwar ein Kissen und eine Decke, aber keine Leintücher. Bei Tische lachen und plaudern wir gern in Gesellschaft von Freunden – hier liest ein Mönch während der Mahlzeit laut aus einem frommen Buche vor und niemand spricht ein Wort. Wenn wir mit vielen Gefährten zusammen sind, so machen wir uns einen lustigen Abend und gehen spät zur Ruhe; hier begeben sich alle schweigend um acht Uhr zu Bett und obendrein im Dunkeln; sie brauchen nur die lose, braune Kutte abzulegen, da wäre ein Licht ganz unnötig. Wir schlafen gern in den Tag hinein – hier stehen die Mönche nachts zweimal auf zum Gottesdienst und gehen um zwei Uhr morgens an ihr Tagewerk. Wir wünschen uns leichte Arbeit oder gar keine – hier wird den ganzen Tag auf dem Felde geschafft oder in der Schmiede und andern Werkstätten, wo man Sattler-, Schuhmacher-, Tischlerarbeit und dergleichen betreibt. Wir lieben die Gesellschaft von Frauen und Mädchen – die fehlt hier gänzlich. Wir sind gern von unsern Kindern umringt und scherzen und spielen mit ihnen – Kinder gibt es hier nicht. Es ist kein Billardtisch vorhanden, man hat keine Spiele im Freien, weder Konzert noch Theater, noch gesellige Freuden. Auch das Wetten ist hier verboten; wer in Zorn gerät darf seinen Aerger nicht am ersten besten auslassen, der ihm gerade in den Weg kommt; man darf sich kein Lieblingstier halten. Nicht einmal das Rauchen ist gestattet. Weder Tageblätter noch Zeitschriften werden hier gelesen. Wenn wir fern von der Heimat sind, möchten wir wissen, wie es unsern Eltern und Geschwistern ergeht und ob sie sich nach uns sehnen – hier erfährt man das nicht. Wir lieben freundliche Wohnungen, eine gefällige Einrichtung, hübsche Möbel, allerlei niedliche Sächelchen und schöne Farben – hier ist alles kahl, armselig und düster. Was wünscht sich der Mensch nicht alles – führt die Liste selbst weiter fort! – Aber was ihr auch nennen mögt, in diesem Kloster ist es nicht zu finden.

Und zum Lohn für alle diese Entbehrungen kann man dort weiter nichts erwerben, wie mir gesagt wurde, als die Rettung seiner Seele.

Es ist wirklich höchst sonderbar und unbegreiflich. Aber La Trappe kannte, wie gesagt, das Menschengeschlecht und den mächtigen Reiz, der in diesem reizlosen Dasein lag. Er wußte, daß auf manche Leute ein solches Leben um so größere Anziehungskraft übt, je abstoßender und unbehaglicher es ist.

Das Mutterkloster wurde vor fünfzehn Jahren von deutschen Mönchen gegründet, die arm und fremd waren und keine Unterstützung fanden; jetzt besitzt es 15 000 Morgen Land, baut Korn, Obst und Wein und betreibt alle möglichen Gewerbe. In seinen Werkstätten werden eingeborene Lehrlinge in den verschiedensten Handwerken unterrichtet, mit denen sie sich nach der Entlassung ihr Brot verdienen können, auch lehrt man sie Lesen und Schreiben. Elf Zweiganstalten des Klosters sind in ganz Südafrika verbreitet, in denen 1200 eingeborene Knaben und Mädchen christlich erzogen und zu tüchtigen Handwerkern ausgebildet werden. Von dem Wirken der protestantischen Mission unter den Heiden hat man in den kaufmännischen Kreisen der weißen Kolonisten meist keine hohe Meinung; ihre Zöglinge tragen den Spitznamen ›Reis-Christen‹, womit ungelernte Müßiggänger gemeint sind, die sich nur um äußerer Vorteile willen in die Kirche aufnehmen lassen. An der Tätigkeit dieser katholischen Mönche wird sich aber schwerlich etwas aussetzen lassen, und ich glaube, es hat auch noch niemand gewagt, sich abfällig darüber zu äußern.

Dienstag 12. Mai. – Die Transvaal-Politik ist in große Verwirrung geraten. Zuerst jagte die schwere Verurteilung der Johannesburger Rädelsführer England einen großen Schrecken ein. Unmittelbar nachher veröffentlichte Krüger die Korrespondenz in Chiffreschrift, aus welcher hervorgeht, daß der Einfall in Transvaal von Cecil Rhodes und Beit mit der Absicht geplant worden ist, sich des Landes zu bemächtigen, um es dem englischen Reich einzuverleiben. Dies brachte einen Umschwung in den Gefühlen Englands hervor und entfesselte einen Sturm der Entrüstung gegen Rhodes und die Chartered Company, weil sie der britischen Ehre zu nahe getreten seien.

Lange war ich außer stande klug aus der Sache zu werden – sie war mir zu verwickelt. Aber endlich glaube ich durch Geduld und Nachdenken doch dahinter gekommen zu sein: Soviel ich verstehe, waren die Uitlanders und die andern Holländer unzufrieden, weil die Engländer ihnen nicht gestatteten an der Regierung teil zu nehmen, nur ihre Steuern durften sie bezahlen. Da geschah es, daß Dr. Krüger und Dr. Jameson, denen ihr ärztlicher Beruf nicht genug einbrachte, in das Matabeleland einfielen mit der Absicht, die Hauptstadt Johannesburg zu erobern und Frauen und Kinder als Geißeln gefangen zu halten, bis die Uitlanders und andere Buren ihnen und der Chartered Company die politischen Rechte zugestehen wollten, die man ihnen bisher vorenthalten hatte. Dieser kühne Plan wäre sicherlich gelungen, hätten sich nicht Cecil Rhodes, Mr. Beit und andere Häuptlinge der Matabele eingemischt und ihre Landsleute aufgereizt sich zu empören und Deutschland den Gehorsam aufzusagen. Nun stachelte letzteres wieder den König von Abessynien auf, die italienische Armee zu vernichten und Johannesburg zu überfallen. Das alles hatte Cecil Rhodes aber angestiftet, um die Aktien in die Höhe zu treiben.

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Durch Übung lernt man leicht Unglück ertragen – das Unglück anderer Leute, meine ich.

Querkopf Wilsons Kalender.

In unsicherm Glanz, wie das Mondlicht am Rande des Horizonts erscheint, so tauchten die alten Träume von Indiens Herrlichkeit allmählich wieder in meinem Bewußtsein auf. Das Bild, das mir in den Knabenjahren lebendig vor der Seele gestanden hatte, als ich noch in den Märchen des Orients schwelgte, erwachte wieder mit tausend längst vergessenen Einzelheiten. Zum Beispiel, die barbarische Pracht und die großartigen, volltönenden Fürstentitel, bei denen einem das Wasser im Munde zusammenläuft: Nizam von Hyderabad, Maharadscha von Travancore, Nabob von Jubbelpore, Begum von Bhopal, Nawab von Mysore, Raja von Gulnare, Abkoond von Swat, Rao von Rohilkund, Gaikawar von Baroda. Namen wachsen überhaupt dort im Lande wie Pilze. Der große Gott Wischnu hat ihrer hundertundacht ganz besonders heilige – sozusagen nur zum Feiertagsgebrauch. Ich habe die hundertundacht Namen Wischnus einmal alle auswendig gelernt, aber ich konnte sie nicht behalten und weiß jetzt keinen einzigen mehr davon.

Romantische Begebenheiten knüpfen sich noch heutigen Tages an die Namen jener indischen Fürsten, gerade wie in alten Zeiten. Kurz vor unserer Ankunft war ein solcher Roman vor einem englischen Gerichtshof in Bombay zur Verhandlung gekommen: Ein junger sechzehnjähriger Prinz hatte seine Güter, Titel und Würden vierzehn Jahre lang unbehelligt genossen. Da ward plötzlich behauptet, daß er gar kein Fürstensohn, sondern ein armes Bauernkind sei, welches man in die fürstliche Wiege eingeschmuggelt hatte, als der wahre Erbe im Alter von drittehalb Jahren gestorben war. Genau derselbe Stoff, der so vielen alten orientalischen Geschichten zu Grunde liegt.

Umgekehrt ging es mit dem Thron des Gaikawar von Baroda, für den sich eine Zeitlang kein Erbe fand, bis man ihn in der Person eines Bauernknaben erkannte, der, seiner hohen Abkunft unbewußt, im Schmutz der Dorfstraße spielte. Sein Stammbaum war jedoch ganz in Ordnung, er erwies sich als der wirkliche Prinz und herrscht seitdem unangefochten in seinem Reich.

Auf ähnliche Weise ist kürzlich der Erbe eines andern indischen Fürstenhauses aufgefunden worden. Seit vierzehn Generationen hatten seine Vorfahren in niedrigem Stande gelebt. Aber man entdeckte seinen fürstlichen Ahnen in dem Verzeichnis eines der großen Wallfahrtsorte der Hindus, wo die Herrscher ihren Namen und das Datum ihres Besuchs einzuschreiben pflegen. Der eigentliche Zweck dieser Sitte ist, daß man über die religiösen Angelegenheiten der Fürsten Buch führen und ihr Seelenheil sichern kann; aber auch die Richtigkeit ihres Stammbaums läßt sich aus solcher Liste feststellen, wodurch sie noch besonderen Wert erhält.

Wenn ich jetzt an Bombay denke, glaube ich in ein Kaleidoskop zu sehen; ich höre das Klirren der Glasstückchen, wenn die schönen Bilder wechseln und auseinander fallen, um sich zu immer neuen Formen und Figuren zu vereinigen, bei deren Anblick jeder Nerv in mir vor Wonne erbebt und Schauer des Entzückens durch meine Glieder rieseln. Die ganz verschiedenartigen Erinnerungsbilder ziehen immer in gleicher Reihenfolge, rasch wie ein Traum, an mir vorüber; sie lassen mir das Gefühl zurück, als hatte das wirkliche Erlebnis kaum eine Stunde gedauert, während es oft gewiß mehrere Tage in Anspruch genommen hat.

Die Wandelbilder beginnen mit der Wahl eines eingeborenen Dieners, eines ›Trägers‹, bei der man sehr sorgfältig zu Werke gehen muß, denn solange er sein Amt versieht, kommt er uns fast so nahe auf den Leib, wie unsere eigenen Kleider.

In Indien wird der Tag damit eröffnet, daß der ›Träger‹ an die Schlafzimmertür klopft und dazu eine gewisse Formel hersagt, welche ausdrücken soll, daß das Bad bereit ist. Es kommt uns vor als ob sie gar keinen Sinn hätte, aber das ist nur, weil man noch nicht an das Träger-Englisch gewöhnt ist. Erst mit der Zeit lernt man es verstehen.

Wo diese Sprache herstammt, ist ein Geheimnis; jedenfalls wird man auf Erden nichts Aehnliches finden und im Paradiese erst recht nicht – möglicherweise aber unter den Verdammten. Man mietet einen ›Träger‹, sobald man den Boden Indiens betritt, denn niemand, ob Mann oder Weib, kann ohne ihn bestehen. Er ist Bote, Kammerdiener, Zimmermädchen, Aufwärter, Kurier, Jungfer – alles in einer Person. Bei seinem Eintritt bringt er, außer einem grobleinenen Wäschesack auch eine Decke mit; er schläft auf den Steinfliesen vor der Stubentür; wo und wann er seine Mahlzeiten hält, ist unbekannt; man weiß nur, daß er im Hause kein Essen bekommt, mag man in einem Hotel wohnen oder als Gast in einer Privatfamilie. Er bezieht einen hohen Lohn – nach indischen Begriffen – und sorgt selbst für seine Kost und Kleidung. Wir hatten in drittehalb Monaten drei ›Träger‹, der erste erhielt monatlich 30 Rupien – etwa 27 Cents täglich – die beiden andern 40 Rupien den Monat. Eine fürstliche Bezahlung! In Indien erhält der eingeborene Weichensteller auf der Eisenbahn höchstens 7 Rupien monatlich, desgleichen der eingeborene Bediente in einem Privathaus, und der Knecht auf dem Lande nur 4 Rupien. Die beiden ersteren beköstigen und kleiden sich und ihre Familien selbst; ob das der Knecht bei dem Monatslohn von 1 Dollar 8 Cents auch tut, möchte ich bezweifeln. Vermutlich nährt ihn das Land, und mit seinem Verdienst bestreitet er den Unterhalt der Familie, nebst einer kleinen Abgabe für den Priester. Kleidung und Wohnung der Seinigen kosten nichts; sie leben in einer selbsterbauten Erdhütte, für die sie schwerlich Miete zahlen und tragen die ersten besten Lumpen; bei Knaben ist selbst das nicht vonnöten. Uebrigens sind für den Tagelöhner auf dem Lande jetzt gute Zeiten, er hat nicht immer ein so üppiges Leben geführt. Als der Hauptbevollmachtigte der Provinzen des Innern unlängst die Klagen einer Abordnung von Eingeborenen in einem amtlichen Erlaß als unbegründet zurückwies, erinnerte er sie daran, daß vor kurzem der Tagelohn noch eine halbe Rupie monatlich betragen habe, täglich nicht ganz einen Cent, $ 2.90 im Jahr. Wenn ein solcher Lohnarbeiter eine große Familie hatte – und mit diesem Reichtum beschenkt der Himmel die armen Eingeborenen ohne Ausnahme – so konnte er bei strengster Sparsamkeit vielleicht 15 Cents vom Ertrag seiner Jahresarbeit erübrigen. Eine Schuld von $ 13.50 hätte er in 90 Jahren abtragen können, wenn er Leben und Gesundheit behielt. Man stelle sich nur einmal vor, was das sagen will: Indien hat verhältnismäßig wenige Städte; fast das ganze Land ist mit unabsehbaren Feldern bedeckt, die durch Lehmmauern von einander getrennt sind. Die ungeheure Masse der Bevölkerung besteht also einzig und allein aus landwirtschaftlichen Arbeitern. Kennt man diese Tatsachen, so erhält man erst einen Begriff von der grenzenlosen Armut, die sich hier ansammeln muß.

Der erste Diener, der sich bei uns meldete, wartete unten und schickte seine Zeugnisse herauf; es war am Morgen nach unserer Ankunft in Bombay. Wir prüften sie sorgfältig und fanden nichts daran auszusetzen, bis auf das eine: sie waren alle von Amerikanern ausgestellt. Wir sind ein zu gutmütiges Volk und bringen es nicht übers Herz, einem armen Menschen, der sein Brot verdienen muß, durch unser Urteil zu schaden. So erwähnen wir in dem Zeugnis nur seine guten Eigenschaften, ja, wir preisen sie nicht selten über Gebühr, und lassen die schlechten auf sich beruhen. Ueber diese stumme Lüge machen wir uns keine Gewissensbisse, und doch ist sie im Grunde verächtlicher als eine ausgesprochene Unwahrheit, mit der man die Leute nicht so leicht betrügt, weil sie sich durchschauen läßt. In Frankreich ist das anders; dort hat man wenigstens die Entschuldigung, daß ein Herr dem entlassenen Diener ein gutes Zeugnis geben und seine Fehler verschweigen muß, er mag wollen oder nicht. Erwähnt man zum Schutz für den nächsten Brotherrn die Untugenden des Dieners, so kann er auf Schadenersatz klagen, und der Gerichtshof erkennt seine Forderungen an, ja, er erteilt dem wahrheitsliebenden Herrn noch eine derbe Rüge, weil er versucht hat, einen armen Menschen um sein Brot zu bringen und ihm den guten Ruf abzuschneiden. – Ich würde dergleichen nicht behaupten, wüßte ich es nicht aus dem Munde eines berühmten französischen Arztes, eines geborenen Parisers, der mir sagte, das sei nicht nur allgemein bekannt, sondern er selber habe in dieser Hinsicht sehr schlimme persönliche Erfahrungen gemacht.

Die reisenden Amerikaner hatten, wie gesagt, den Manuel X. in seinem Zeugnis so warm empfohlen, daß Sankt Petrus selbst ihn darauf hin zum Himmelstor eingelassen hätte, wenn der Heilige, wie ich vermute, mit den Gepflogenheiten meiner Landsleute nicht gerade sehr vertraut ist. Der Diener war als ein Ausbund von Geschicklichkeit in allen Künsten seines vielgestaltigen Berufs geschildert. Mit ganz besonderem Entzücken wurde seine ausgezeichnete Kenntnis des Englischen erwähnt, was mich sehr freute, denn ich hoffte, es würde doch etwas Wahres daran sein.

Einen Diener mußten wir unverzüglich haben; die Meinigen nahmen Manuel daher für eine Woche zur Probe an und schickten ihn zu mir herauf. Ich hütete wegen meines Bronchialkatarrhs das Zimmer und sehnte mich nach einer kleinen Abwechslung und Unterhaltung. Da kam mir Manuel gerade recht. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt, groß und schlank, hielt sich aus gewohnheitsmäßiger Ehrerbietung etwas vornüber gebeugt, hatte ein Gesicht von europäischem Schnitt, kohlschwarzes Haar, ein paar sanfte, fast furchtsame schwarze Augen, eine sehr dunkle Hautfarbe und ein glattgeschorenes Kinn. Anders als barhaupt und barfuß habe ich ihn während seiner Dienstwoche bei uns nie gesehen; die europäischen Kleider, welche er anhatte, waren schlecht, dünn und sehr abgetragen.

So stand er vor mir, verbeugte sich zum Gruß mit dem ganzen Oberkörper nach der feierlichen Art der Inder und berührte seine Stirn mit den Fingerspitzen der rechten Hand.

»Offenbar bist du ein Hindu, Manuel,« sagte ich, »aber du hast einen spanischen Namen – wie kommt das?«

Der Diener machte ein verblüfftes Gesicht; er hatte nichts verstanden und wollte es sich doch nicht merken lassen.

»Name Manuel. Ja Herr,« antwortete er gelassen.

»Das weiß ich, aber woher hast du ihn?«

»O ja, vermutlich. Wird wohl so sein. Vater heißt ebenso, Mutter nicht.«

Ich versuchte mich einfacher auszudrücken, um von diesem gelehrten Engländer verstanden zu werden, und sprach sehr langsam und deutlich:

»Von – wem – hat – dein – Vater – seinen – Namen?«

»O, der –« sein Gesicht erhellte sich – »er Christ sein, portugiesischer – wohnen in Goa. Ich geboren Goa. Mutter nicht Portugiesin – Mutter Eingeborene – Brahminenkaste – oberste Stufe – keine Kaste so hoch wie diese. Ich auch hochgeborener Brahmine. Auch Christ, wie Vater – hoher christlicher Brahmine, Herr – Heilsarmee.«

Diese Worte brachte er stotternd und schwerfällig heraus. Dann kam es plötzlich wie Begeisterung über ihn und er erging sich in einem langen Schwall unverständlicher Reden.

»Höre auf,« unterbrach ich ihn. »Hindustani verstehe ich nicht.«

»Nicht Hindustani, Herr – Englisch. Ich sprechen Englisch immer, den ganzen Tag, manchmal.«

»Gut, so lasse ich mir’s gefallen; es ist zwar nicht was ich nach deinem Zeugnis erwartet und gehofft hatte, doch ist es verständlich. Schmücke es nicht weiter aus. Sprachverschnörkelungen, die den Sinn beeinträchtigen, sind mir verhaßt.«

»Herr?«

»Das war nur eine allgemeine Bemerkung. Aber sage mir, wie kommst du zu deinem Englisch? Hast du es gelernt, oder ist es nur eine Gabe Gottes?«

Manuel zögerte mit der Antwort.

»Ja,« sagte er dann in frommem Ton. »Er sehr gut. Christengott sehr gut, Hindugott auch sehr gut. Zwei Millionen Hindugott, ein Christengott. Gehören alle mein, zwei Millionen und ein Gott – ich haben sehr viele. Manchmal ich beten zu sie allezeit, gehen jeden Tag an Altar, geben Geld; gut für mich – macht mich besserer Mann, gut für meine Kinder auch, verdammt gut.«

Nun fing er wieder an, allerhand unzusammenhängendes Zeug zu schwatzen, bis ich unserm Gespräch ein Ende machte und ihm befahl, das Badezimmer in Ordnung zu bringen und den Boden aufzuwischen – ich wollte ihn los sein. Er tat als verstünde er mich, nahm meine Kleider aus dem Schrank und begann sie zu bürsten. Endlich, nachdem ich ihm meine Wünsche noch mehrmals in immer einfacheren Worten kundgetan, begriff er was ich wollte. Er ging hin und holte einen Kuli, um die Arbeit zu tun. Wenn er sie selbst verrichtete, erklärte er mir, würde er das Gesetz seiner Kaste übertreten und sich verunreinigen. Er könne sich dann nur mit großer Not und Schwierigkeit wieder zu Ehren bringen. Dergleichen Arbeit sei den höheren Kasten streng verboten, sie müßte von den Hindus der untersten Kaste, den verachteten Sudras getan werden.

Darin hatte Manuel vollkommen recht. Auch haben sich die armen Sudras anscheinend seit Jahrhunderten in ihr elendes Los ergeben, das sie sozusagen von Anbeginn der Welt dem Schimpf und der Bedrückung preisgibt. In den Verordnungen des Manu (900 v. Chr.) steht, daß wenn sich ein Sudra nicht auf einen niedrigeren Platz setzt als der Höhergestellte, er verbannt und gebrandmarkt werden soll … beleidigt er ein Mitglied der höheren Kaste, so wird er mit dem Tode bestraft. Hört er zu, wenn die heiligen Bücher vorgelesen werden, so soll ihm siedendes Oel in die Ohren gegossen werden; lernt er Stellen davon auswendig, so bringt man ihn um; verheiratet er seine Tochter an einen Brahminen, so fährt der Gatte in die Hölle, weil er sich durch die Berührung mit einem so unendlich tief unter ihm stehenden Weibe verunreinigt hat. Auch ist es dem Sudra verboten, Reichtum zu erwerben. »Der Hauptbestandteil der indischen Bevölkerung« (heute auf 300 000 000 geschätzt) sagt Bukle »sind die Sudras – die Arbeiter, Landbauer und Erzeuger des Wohlstands, und doch hat schon der Name Sudra eine verächtliche Bedeutung.«

*

Den armen alten Manuel konnten wir nicht gebrauchen; er mochte wohl schon zu bejahrt für uns sein. Ueber seine Langsamkeit wollte man schier verzweifeln und seine Vergeßlichkeit überstieg alle Grenzen. Um eine Besorgung in der nächsten Straße zu machen, blieb er zwei Stunden aus und vergaß unterwegs, was er holen sollte. Zum Packen eines Koffers brauchte er eine Ewigkeit und wenn er schließlich damit zustande kam, war der Inhalt ein unbeschreibliches Chaos. Auch die Aufwartung bei Tische besorgte er schlecht, und das ist ein sehr wesentlicher Mangel, denn wer sich in einem indischen Hotel nicht auf seinen eigenen Diener verlassen darf, ist übel dran und muß meist hungrig von Tische aufstehen. Sein Englisch verstanden wir ebensowenig wie er das unsrige, und als sich herausstellte, daß er selbst nicht verstand was er sagte, war es hohe Zeit uns von ihm zu trennen. Fortschicken mußte ich ihn, das ließ sich nicht ändern, aber ich tat es so sanft und freundlich, wie ich irgend konnte. »Wir müssen scheiden,« sagte ich, »doch hoffe ich, daß wir uns in einer bessern Welt wiederfinden.« Die kleine Unwahrheit nahm ich mir nicht übel, sie kostete nichts und ersparte ihm eine Kränkung.

Sobald er fort war, fiel mir eine Last vom Herzen, ich fühlte frische Kraft und neuen Mut, meine Unternehmungslust wuchs und ich war bereit zu allen Taten. Da kam auch schon Manuels neu gemieteter Nachfolger hereingeflitzt; er berührte seine Stirn, flog hierhin und dorthin auf sammetweichen Sohlen, brachte in fünf Minuten das ganze Zimmer in die musterhafteste Ordnung und stand dann ehrerbietig da, weitere Befehle erwartend. Potztausend, was war das für ein rühriges Kerlchen! Eine wahre Erquickung nach der schläfrigen alten Schnecke, dem Manuel. Vom ersten Augenblick an hing mein ganzes Herz voll Liebe und Bewunderung an dem zweibeinigen, flinken, schwarzen Geschöpfchen, diesem Inbegriff von Tatkraft, Schnelligkeit und Zuversicht, diesem klugen, freundlichen, reizenden kleinen Teufel mit den blitzenden Augen. Das flammendrote Fez mit der feurigen Troddel, das ihm oben auf dem Kopfe saß und wie eine brennende Kohle glühte, kleidete ihn zum Entzücken.

»Wir werden gut zusammen auskommen,« sagte ich mit innerlichster Befriedigung. »Wie heißt du?«

Er wickelte seinen Namen der ganzen Länge nach mit geläufiger Zunge ab.

»Warte, laß mich meine Auswahl treffen, zum täglichen Gebrauch – den Rest versparen wir uns auf den Sonntag. Sage mir’s noch einmal, aber abteilungsweise.«

Er tat es; doch war kein kurzer Name darunter, außer Mausa, was mir nicht passend schien; es erinnerte an Maus und war zu sanft und still und viel zu unscheinbar für sein prächtiges Wesen.

»Mausa ist kurz genug,« sagte ich nach einiger Ueberlegung, »aber es gefällt mir nicht; es hat weder Saft noch Kraft und ist nicht bezeichnend genug – in solchen Dingen bin ich sehr empfindlich. Was meinst du, wenn wir dich Satan nennten?«

»Ja Herr – Satan, sehr guter Name.«

Es klopfte an der Tür; mit einem Sprunge war Satan dort, ein paar Worte auf Hindustani wurden gewechselt, dann schlüpfte er hinaus. Drei Minuten später stand er in militärischer Haltung wieder vor mir und wartete auf meine Anrede.

»Was gibt es, Satan?«

»Gott ist da, wünschen Sie zu sprechen.«

»Wer?«

»Gott. Ich ihn sollen hereinführen?«

»Wie ist denn das möglich? – ich – ich weiß wirklich nicht – so ganz unvorbereitet – erkläre mir doch – ein so ungewöhnlicher Besuch –«

»Hier seine Karte, Herr.«

War es nicht merkwürdig, schrecklich und staunenerregend, daß eine so hohe Persönlichkeit mich armen Sterblichen besuchen wollte, und mir wie ein gewöhnlicher Mensch seine Karte hereinschickte – obendrein durch Satan? – Es schien mir ein völlig verwirrendes, undenkbares Zusammentreffen. Aber wir waren ja in Indien, dem Märchenlande; es gibt nichts, was dort nicht geschehen könnte!

Die Unterredung fand statt. Satan hatte ganz recht. Mein Besucher war in den Augen seiner Anhänger wirklich ein Gott und wurde von ihnen als solcher in aller Demut verehrt und angebetet. An der Göttlichkeit seines Amtes und Ursprungs zu zweifeln, liegt ihnen ferne. Sie glauben an ihn, bringen ihm Gaben und Opfer dar und erlangen von ihm Vergebung ihrer Sünden. Seine Person und alles was diese betrifft, ist ihnen heilig; sie kaufen sich von dem Barbier die abgeschnittenen Fingernägel des Gottes, fassen sie in Gold und tragen sie als kostbare Amulette.

Ich versuchte eine ruhige Unterhaltung mit ihm zu führen, aber ich brachte es nicht zustande. Hättet ihr es tun können? – Meine Aufregung, Verwunderung und Neugier waren zu groß; ich verschlang ihn förmlich mit den Augen. Es war ein Gott, ein wirklicher, anerkannter und beglaubigter Gott, den ich da vor mir sah; seine Person, sein Anzug bis in die kleinsten Einzelheiten, hatte ein überwältigendes Interesse für mich. »Was für ein Unterschied!« dachte ich: »selbst der höchstgestellte Mensch muß sich am Zoll der Ehrerbietung und Höflichkeit genügen lassen, den man ihm darbringt, aber er ist der Empfänger weit köstlicherer Geistesgaben – vor ihm kniet man, ihn betet man an! Männer und Frauen legen die Sorgen und Kümmernisse eines schwerbeladenen Herzens ihm zu Füßen nieder und er verleiht ihnen Trost und Frieden, so daß sie geheilt von dannen gehen.«

In diesem Augenblick sagte mein erhabener Gast im einfachsten Tone von der Welt:

»Was mir an der Lebensweisheit Ihres Huckleberry Finn am besten gefällt, ist –« und dann fuhr er fort, mir sein literarisches Urteil auf klare und verständige Weise auseinander zu setzen.

O, was für wunderbare Überraschungen erlebt man doch in Indien! Ich gestehe, daß ich nicht ohne Ehrgeiz bin und gehofft hatte, Könige, Präsidenten und Kaiser würden mich lesen – aber so hoch hatte ich mich in meinen Erwartungen nie verstiegen. Wollte ich leugnen, daß mich das unendlich beglückte, so wäre es falsche Bescheidenheit. Selbst die größte Anerkennung von seiten eines Menschen hätte mir nicht solche Freude gemacht, das bekenne ich ganz offen.

Mein Gast blieb über eine halbe Stunde da und war sehr höflich und liebenswürdig. Die göttliche Würde besteht schon lange in seiner Familie, seit wann weiß ich nicht. Er ist eine mohammedanische Gottheit und nimmt auf Erden den Rang eines persischen Prinzen ein, der in gerader Linie vom Propheten abstammt. Er ist hübsch und noch recht jung – für einen Gott – fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt. Die göttliche Größe trägt er mit Ruhe und Gelassenheit, wie es sich für seinen erhabenen Beruf ziemt, und dabei sprach er das Englische geläufig und rein, wie ein geborener Engländer. Ich glaube nicht, daß ich übertreibe; ich hatte vorher noch nie einen Gott gesehen, und er machte mir einen sehr günstigen Eindruck. Als er sich erhob um Abschied zu nehmen, ging die Tür auf, ich sah draußen ein rotes Fez aufleuchten und hörte die ehrerbietige Frage:

»Soll Satan Gott hinausbegleiten?«

»Ja.« – Die beiden unzusammengehörigen Wesen verschwanden vor meinen Blicken, Satan ging voraus und der Andere folgte ihm.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Einundzwanzigstes Kapitel.

Man soll des Buren Fell nicht verkaufen, man fange ihn denn zuvor.

Querkopf Wilsons Kalender.

Als ich vor einem Jahr den letzten Paragraphen des vorigen Kapitels in mein Notizbuch kritzelte, tat ich es, um auf drastische Weise zweierlei zum Ausdruck zu bringen: Erstens, wie widersprechend die Berichte sind, welche der Fremde von den Einheimischen über die südafrikanische Politik erhält, und zweitens, was für ein Wirrwarr dadurch im Kopfe des Fremden entsteht.

Ich sehe jetzt ein, daß ich damals den Zustand der Dinge naturgetreuer geschildert habe, als ich selber wußte. In jener unruhigen und aufgeregten Zeit konnten die dortigen Bürger unmöglich die südafrikanische Politik klar und vernünftig auffassen; nicht nur ihre persönlichen Interessen, sondern auch ihre politischen Vorurteile standen ihnen sehr dabei im Wege. Der Fremde aber war natürlich nicht im stande aus ihren verworrenen Mitteilungen klug zu werden und den Zusammenhang der Ereignisse zu begreifen.

Mein Aufenthalt in Südafrika war nicht von langer Dauer. Als ich ankam befand sich das Land noch in der größten politischen Gärung. Vier Monate waren vergangen, seit Jameson mit 600 bewaffneten Reitern zum »Schutz der Frauen und Kinder in Johannesburg« die Grenze von Transvaal überschritten hatte. Am vierten Tage nach seinem Einmarsch besiegten ihn die Buren in einer Schlacht und führten ihn mit seinen Leuten gefangen nach der Hauptstadt Prätoria. Jameson und seine Offiziere waren zur Bestrafung an Großbritannien ausgeliefert und nach England eingeschifft worden, wo ihr Verhör stattfand. Inzwischen wurden in Johannesburg vierundsechzig der angesehensten Bürger als Jamesons Mitverschworene festgenommen. Präsident Krüger verurteilte die vier Haupträdelsführer zum Tode, die übrigen zu Gefängnis; er verwandelte jedoch die Strafen in längere oder kürzere Kerkerhaft, in welcher die vierundsechzig Leute damals noch schmachteten. Vor Mitte des Sommers waren alle wieder in Freiheit, außer zweien, welche sich weigerten ein Begnadigungsgesuch zu unterzeichnen. Achtundfünfzig von ihnen mußten eine Geldbuße von je 10 000 Dollars zahlen und die vier Rädelsführer 125 000 Dollars per Mann; auf immer aus dem Lande verbannt wurde nur einer.

Das war eine hochinteressante Zeit für den Fremden; ich schätzte mich glücklich, mitten in die Aufregung hineingekommen zu sein. Jedermann äußerte ohne Rückhalt seine Meinung und ich hoffte bestimmt, daß mir die ganze Angelegenheit, wenigstens von einer Seite, binnen kurzem verständlich sein würde.

Darin täuschte ich mich jedoch. Die Sache hatte so viel Eigenartiges, Schwieriges und Unerklärliches, daß ich ihrer nicht Herr wurde. Persönliche Beziehungen zu den Buren besaß ich nicht, die Anschauungen ihrer Partei blieben also für mich ein Geheimnis, soweit ich sie nicht aus den öffentlichen Bekanntmachungen erfuhr. Bald empfand ich denn auch das tiefste Mitgefühl für die Johannesburger, die im Kerker von Prätoria lagen, sowie für ihre Freunde und Angehörigen. Durch eifrige Erkundigungen bei letzteren hatte ich mich über alle Einzelheiten des Streits in Kenntnis gesetzt und glaubte sie zu verstehen; das heißt, von ihrem Gesichtspunkt aus und bis auf einen Umstand: Was die Johannesburgs durch eine bewaffnete Erhebung zu erreichen gedachten, schien niemand zu wissen.

Im Laufe des folgenden Jahres wurde in die Verwirrung jener Tage genügendes Licht gebracht. Dr. Jameson ist vor den englischen Geschworenen erschienen; auch Cecil Rhodes und andere an dem feindlichen Einfall in Transvaal direkt oder indirekt beteiligte Personen haben ihre Aussage vor Gericht erstattet, desgleichen Lionel Philipps und sonstige Mitglieder der Johannesburger Reformpartei, welche die Revolution als totgeborenes Kind zur Welt brachten. Weitere Aufklärung erhielt ich auch durch verschiedene Bücher, deren Verfasser entweder für die Buren oder für Cecil Rhodes oder für die Johannesburger Partei nahmen. Nachdem ich nun alle jene Aussagen voreingenommener Zeugen nebst den einseitigen Darstellungen der Bücher gesammelt hatte, mischte ich sie gut durcheinander, knetete alles tüchtig durch und tat den Teig in meinen eigenen (vorurteilsvollen) Backtrog. Durch dies Verfahren bin ich schließlich der verwickelten südafrikanischen Frage doch noch auf den Grund gekommen. Ich weiß nun, daß es sich damit in Wahrheit folgendermaßen verhielt:

1. Die Kapitalisten und sonstigen angesehenen Bürger von Johannesburg litten unter gewissen politischen und finanziellen Unbilden und Lasten, welche die Transvaal-Regierung ihnen auferlegte. Die Uitlanders bezahlten vier Fünftel aller Steuern, hatten kein Wahlrecht, konnten erst nach längerem Aufenthalt im Lande Staatsbürger werden und nach vierzehn Jahren in den ersten Volksraad gelangen, während die Buren alle höheren Aemter bekleideten und schon im Alter von sechzehn Jahren das volle Bürgerrecht hatten. So suchten denn die Uitlanders durch verschiedene Eingaben, Bittschriften und Vorschläge zu Gesetzesveränderungen auf friedlichem Wege eine Verbesserung ihrer Lage herbeizuführen.

2. Cecil Rhodes, Ministerpräsident der Kapkolonie, Millionär, Gründer und Direktor der sogenannten Chartered Company, verfolgte schon seit einigen Jahren den Plan, alle südafrikanischen Staaten zu einem großen Reich unter dem Schutz und Schirm der britischen Flagge zu vereinigen. So benutzte er denn die Unzufriedenheit der Johannesburger Reformpartei, um sie zur gewaltsamen Empörung gegen die Burenregierung zu bewegen. Wenn es zu einem blutigen Zusammenstoß kam, konnte sich Großbritannien ins Mittel legen; das würden sich die Buren nicht gefallen lassen, und um sie für ihren Widerstand zu strafen, besetzte dann England selbstverständlich Transvaal und vereinigte es mit seinem übrigen südafrikanischen Länderbesitz. Der Plan war keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern ganz verständig und ausführbar.

Von seinem fernen Posten in Kapstadt aus wußte Rhodes die Mißstimmung der Uitlanders von Johannesburg auf geschickte Weise zu schüren; er half auch, sie mit Waffen zu versehen. Mehrere Kanonen und fünfzehnhundert Gewehre wurden, in großen Oelbehältern und Kohlenwagen versteckt, in die Stadt geschmuggelt. Im Dezember 1895 war das Reformkomite schon von Bitten zu Drohungen übergegangen, und der Ausbruch der Revolution schien nicht mehr fern.

Rhodes hatte mit Jameson, dem Befehlshaber der Truppen der Chartered Company verabredet, daß dieser über die Grenze gehen und mit sechshundert Mann in Johannesburg einrücken solle. Vorher verlangte Jameson jedoch – wahrscheinlich auf Veranlassung seines Herrn und Meisters – das Reformkomite solle ihm eine förmliche Aufforderung schicken, der Stadt zu Hilfe zu kommen. So erhielt er den berühmten Brief, in dem er gebeten wird nach Johannesburg zu eilen, um sich der »schutzlosen Frauen und Kinder anzunehmen«. Das war kein schlechter Gedanke, denn die Verantwortlichkeit für den feindlichen Ueberfall wurde dadurch zum größten Teil der Reformpartei zugeschoben. Die Führer derselben mochten dies wohl zu ihrem Schrecken einsehen, denn sie wollten das verfängliche Schriftstück schon den Tag nach dessen Absendung an Jameson wieder zurück haben. Es wurde ihnen jedoch bedeutet, dazu sei es zu spät. Das Original des Briefes war schon an Rhodes nach der Kapstadt abgegangen. Doch hatte Jameson wohlweislich eine Abschrift zurückbehalten.

In Johannesburg versuchte man nun mit aller Anstrengung, Jameson von der Ausführung des Planes abzubringen. Es herrschte Uneinigkeit in der Stadt; einige wollten Krieg, einige Frieden. Manche stimmten für eine neue Regierung, andere wünschten die alte beizubehalten und zu reformieren. Zu Gunsten einer kaiserlich-britischen Kolonialherrschaft die Regierung in Prätoria zu stürzen, hatten nur ganz einzelne im Sinn. Und doch trat das Gerücht von Stunde zu Stunde bestimmter auf, daß dies der Zweck sei, den Cecil Rhodes mit seinem unwillkommenen Beistand verfolge.

Drei Tage lang ließ sich Jameson zurückhalten, dann beschloß er nicht länger zu warten. Ohne Befehl – Rhodes hüllte sich in vorsichtiges Schweigen – zerschnitt er die Telegraphendrähte am 29. Dezember und ging im Dunkel der Nacht über die Grenze. Er hatte 150 Meilen bis Johannesburg zurückzulegen und hoffte die Stadt ohne Hindernisse zu erreichen. Allein die Nachricht von seinem Einfall verbreitete sich wie ein Lauffeuer – man hatte übersehen, daß ein Telegraphendraht nicht zerschnitten worden war. Schon wenige Stunden später kamen die Buren von allen Seiten in Windeseile herbeigeritten, um ihn am Vordringen zu hindern.

In Johannesburg herrschte Furcht und Schrecken; Frauen und Kinder wurden bei dem Nahen ihrer Retter eiligst nach Australien eingeschifft und die friedliebenden Bürger flüchteten scharenweise auf die Eisenbahnen. Wer zuerst da war hatte es am besten, er konnte sich einen Platz im Zuge sichern, wenn er ihn acht Stunden vor der Abfahrt besetzte.

Rhodes telegraphierte den Johannesburger Brief mit dem rührenden Hilferuf ohne Zeitverlust an die Londoner Presse. Ein so altersgraues Dokument hatte das Kabel noch nie befördert; der Brief war schon vor zwei Monaten geschrieben, doch das wußte niemand, das falsche Datum lautete ja auf den 20. Dezember.

Am Neujahrstag wurde Jameson von den Buren geschlagen; tags darauf streckte er die Waffen. Er trug die Abschrift des Briefes bei sich, und wenn er die Anweisung erhalten hatte, im Notfall dafür zu sorgen, daß das Schriftstück den Buren in die Hände fiele, so führte er den Befehl pünktlich aus. Man fand den Brief auf dem Schlachtfeld in Jamesons Satteltasche – er war ohne jegliche Geheimschrift in englischer Sprache abgefaßt und mit dem Namen der beteiligten Personen unterzeichnet. Die Schuld an dem Einfall wurde dadurch auf die Reformpartei gewälzt, so paßte es in Rhodes‘ Berechnung. Das Original war ja überdies in Amerika, in England und dem übrigen Europa bekannt, ehe Jameson seine Abschrift auf dem Schlachtfelde verlor. Letzterer wurde dadurch im Lauf einer einzigen Woche in England zu einem berühmten Helden gestempelt, in Prätoria zu einem Räuberhauptmann und in Johannesburg zu einem Narren und ehrlosen Verräter – das alles hatte jener alte Brief bewirkt!

Die Mitglieder der Reformpartei waren in einer schwierigen Lage gewesen. Hindernisse und Verwicklungen engten sie auf allen Seiten ein. Wie sollten sie ihren vielen und mannigfaltigen Obliegenheiten nachkommen? –

1. Mußten sie Dr. Jamesons widerrechtlichen Einfall verdammen und ihm trotzdem beistehen.

2. Waren sie genötigt der Burenregierung Treue zu schwören und den Rebellen Reitpferde zu liefern.

3. Mußten sie alle offenen Feindseligkeiten gegen die Burenregierung verbieten und Waffen unter deren Gegner verteilen.

4. Durften sie nicht in Zwiespalt mit der englischen Regierung geraten, mußten Jameson unterstützen und der Burenregierung entblößten Hauptes den neuen Fahneneid leisten.

Sie entledigten sich dieser Pflichten so gut sie konnten; ja, sie erfüllten sie tatsächlich alle, nur nicht zu gleicher Zeit, sondern nacheinander; die gleichzeitige Erfüllung derselben wäre wirklich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Bei der ganzen Angelegenheit hat für mich die militärische Frage ein größeres Interesse als die politische, denn ich habe immer eine besondere Vorliebe für den Krieg gehabt. Das heißt, ich meine für Reden über den Krieg und Erteilung militärischer Ratschläge. Wäre ich am Morgen nach der Grenzüberschreitung bei Jameson gewesen, ich hätte ihm geraten, wieder umzukehren. Die Truppen, die er befehligte, waren nicht alte, kriegstüchtige Briten, sondern größtenteils ungeübte junge Burschen. Wie sollten sie vom Pferde herab, im Gewühl der Schlacht sicher zielen und treffen? Das war unmöglich, besonders weil es gar nichts gab, wonach man schießen konnte, als Felsen, hinter denen nach altem Brauch und Herkommen die Buren steckten, denn auf freiem Felde kämpften sie niemals. Die dreihundert Scharfschützen der Buren hinter den Felsen konnten aber natürlich Jamesons Reitern übel mitspielen. Um im Kampf gegen die Buren Sieger zu bleiben, brauchten die Engländer nicht allein Mut, sondern auch Vorsicht, ganz wie wir beim Krieg gegen die Rothäute. Die tapfern Briten, die den verborgenen Buren offen entgegentraten, hatten sich die Folgen selbst zuzuschreiben.

Das Land war voller Hügelketten, Klippenreihen, Bodensenkungen, Gräben und Moränen – für Reitergefechte völlig unbrauchbar. Jameson feuerte seine Geschütze auf die Felsen ab – er verdarb die guten Felsen und verschwendete seine Munition – aber wieviel Schaden er auch anrichtete, die Buren zeigten sich nicht. Nun strömten seine Scharen in langer Linie kühn voran, die Buren schossen aus dem Hinterhalt und nach der ersten Salve waren zwanzig englische Sättel leer. Es dauerte nicht lange, so lagen sechzig Prozent der Angreifer tot oder verwundet am Boden; letztere wurden von den Buren gefangen in das Hospital nach Krügersdorp gebracht; sie selbst hatten nur vier Mann eingebüßt, von denen zwei aus Versehen durch ihre eigenen Leute getötet worden waren. Jamesons Truppen kamen den Buren überhaupt nicht nahe genug, um sie »rund um Transvaal herumzujagen«, wie sie geprahlt hatten. Nachdem auch ein letzter verzweifelter Angriff fehlgeschlagen war, ließ Jameson die weiße Flagge wehen und ergab sich.

Die britische Methode der Kriegsführung läßt sich, wie gesagt, den Buren gegenüber durchaus nicht mit Glück anwenden. Wenn mir die Führung eines solchen Feldzugs übertragen worden wäre, hätte ich die Sache ganz anders angefangen. Den Charakter des Buren habe ich studiert: Am meisten schätzt er die Bibel, und sein Lieblingsessen ist ›Biltong‹ – an der Sonne getrocknete Fleischstreifen. Die liebt er leidenschaftlich, und es ist ihm auch gar nicht zu verdenken.

Um die Buren zu bekriegen, wäre ich nur mit Flinten ausgezogen und hätte die schweren Kanonen zu Hause gelassen, die nur unnütz den Marsch aufhalten. Heimlich würde ich mich bei Nacht bis zu einer Stelle schleichen, die etwa eine Viertelmeile vom Lager der Buren entfernt ist, um dort eine fünfzig Fuß hohe Pyramide von Biltong und Bibeln zu bauen und meine Leute dahinter zu verbergen. Am nächsten Morgen würden die Buren Kundschafter ausschicken, der ganze Schwarm käme auf einmal herbeigestürmt, meine Truppen könnten sie umringen und Mann gegen Mann im freien Felde kämpfen. Dann würden sich die Verluste auf beiden Seiten etwas gleichmäßiger verteilen.

Sechzehntes Kapitel.

Sechzehntes Kapitel.

Es gibt zwei Zeiten des Lebens, in denen der Mensch sich hüten sollte zu spekulieren: wenn seine Mittel es ihm nicht erlauben, und wenn sie es ihm erlauben.

Querkopf Wilsons Kalender.

Am Montag und Dienstag genossen wir bei Sonnenaufgang eine mittelgute Aussicht auf die großartige Gebirgslandschaft. Inzwischen hatten wir uns erfrischt und abgekühlt, so daß wir uns stark genug fühlten, es wieder mit der Hitze der unteren Welt aufzunehmen.

Wir fuhren mit dem gewöhnlichen Zug noch die fünf Meilen bis zum höchsten Punkt hinauf, um von da aus die 35 Meilen lange Rückfahrt anzutreten. Wir bestiegen eine kleine sechssitzige, mit Leinwand überspannte Draisine, welche die Größe eines Schlittens hatte und so niedrig war, daß sie den Boden zu berühren schien. Eine Lokomotive oder sonstige Triebkraft brauchte sie auf den abschüssigen Wegen nicht, nur eine starke Bremse, um ihre Fahrgeschwindigkeit zu mäßigen, und damit war sie versehen. Man erzählte uns von einer Unglücksfahrt, die der Generalleutnant von Bengalen einmal mit solcher Draisine gemacht hat: Der Wagen war aus den Schienen gekommen und hatte die Insassen in den Abgrund geschleudert. Zwar ist die Geschichte gänzlich erfunden, doch verfehlte sie ihre Wirkung auf mich nicht, denn sie machte mich ängstlich. Ein Mensch der Angst hat ist aber nicht schlafmützig, sondern munter und aufgeweckt; seine Spannung bei einem neuen und gewagten Unternehmen wird durch die Furcht wesentlich erhöht. Daß ein Unfall leicht möglich war, lag auf der Hand: ein kleiner Stein, der aus Zufall auf die Schienen geriet oder in böswilliger Absicht dorthin gelegt wurde, genügte, um den Wagen an irgend einer scharfen Biegung zu entgleisen und nach Indien hinunter zu befördern. War auch der Generalleutnant der Gefahr entgangen, so gab mir das noch keine Bürgschaft dafür, daß ich ebensoviel Glück haben würde. Als ich dastand und von meiner luftigen Höhe hinabsah auf das indische Kaiserreich, das 7 000 Fuß unter mir lag, kam es mir doch recht unangenehm und halsbrecherisch vor, aus dem Wagen in eine solche Tiefe geschleudert zu werden.

Für mich war übrigens die Gefahr nicht groß. Wenn uns Unglück drohte, so befiel es jedenfalls Mr. Pugh, den Inspektor der indischen Polizei, unter dessen Schutz wir von Kalkutta heraufgekommen waren. Er hatte lange als Artillerieoffizier gedient, war nicht so ängstlich wie ich, und wollte uns, mit einem Ghurka und einem andern Eingeborenen, als Lotse in einer Draisine vorausfahren. Sahen wir seinen Wagen in den Abgrund stürzen, so brauchten wir nur so rasch wie möglich zu bremsen und uns nach einem andern Lotsen umzutun. Das war eine höchst zweckmäßige Einrichtung. Auch daß Mr. Barnard, der erste Ingenieur des Bergbezirks, die Leitung unseres Wagens übernahm, diente mir zu großer Beruhigung, denn er hatte die Fahrt schon sehr oft gemacht.

Anscheinend war alles sicher, nur ein Punkt blieb unentschieden: der fahrplanmäßige Zug sollte unmittelbar nach unserm Wagen abgelassen werden und konnte uns leicht über den Haufen rennen. Ich war im stillen überzeugt, es würde geschehen.

Vor uns fiel die Straße steil ab und wand sich dann wie ein Korkzieher, um Klippen und an Abgründen entlang, tiefer und immer tiefer hinunter. Eine steile Rutschbahn, die in endlosen Krümmungen abwärts führt, hätte nicht ungemütlicher aussehen können.

Jetzt ließ Mr. Pugh seine Flagge wehen und flog davon, wie der Pfeil vom Bogen, und ehe ich noch Zeit hatte, aus dem Wagen zu springen, fuhren wir ihm nach. Mich durchrieselte ein Schauer, wie ich ihn ähnlich nur bei meiner allerersten Schlittenfahrt von einem steilen Berggipfel empfunden habe. Der Atem verging mir, aber doch war es ein Gefühl himmlischer Lust, eine plötzliche ungeheuere Aufregung, eine Mischung von Todesangst und unaussprechlichem Entzücken, die für uns Menschen, glaube ich, die höchste Wonne auf Erden ist.

Wie eine Schwalbe im Flug über den Boden schießt, so glitt der Lotsenwagen den Berg hinunter; leicht, rasch und anmutig schwebte er auf den geraden Strecken dahin und überwand spielend alle Biegungen und Krümmungen. Wir jagten ihm nach und flogen mit Blitzesschnelle an Vorgebirgen und Klippen vorbei; zuweilen hatten wir ihn fast eingeholt – wir hofften schon, es würde uns gelingen. Aber der Lotse trieb nur seinen Scherz mit uns: kaum kamen wir ihm in die Nähe, so ließ er die Bremse los, der Wagen tat einen Satz um die Ecke, und wenn wir ihn ein paar Sekunden später wieder zu Gesicht bekamen, sah er nicht größer als ein Schubkarren aus, so weit war er entfernt. Auch wir machten uns einen ähnlichen Spaß mit dem Eisenbahnzug. Oft stiegen wir aus, um Blumen zu pflücken oder am Abgrund sitzend die Aussicht zu bewundern; dann hörten wir plötzlich ein dumpfes Brüllen, das immer lauter wurde, und sahen den Zug hinter und über uns in Schlangenwindungen heranstürmen. Wir brauchten jedoch erst abzufahren, wenn die Lokomotive dicht bei uns war – im Nu blieb sie weit dahinten. Sie mußte bei jeder Station Halt machen, und das gab uns immer wieder einen Vorsprung. Unsere Bremsvorrichtung war so ausgezeichnet, daß wir den Wagen auf dem steilsten Abhang augenblicklich zum Stillstand bringen konnten.

Das wunderschöne Landschaftsbild bot die großartigste Abwechslung, und wir hatten alle Muße es zu betrachten, ohne daß uns der Zug dabei hinderlich war. Brauchte er die Straße für sich, so bogen wir rasch in ein anderes Geleise, ließen ihn vorbeifahren, holten ihn dann später ein und stachen ihn unsererseits wieder aus. Einmal hielten wir an, um den Gladstone-Felsen zu betrachten, auf dem die Natur im Laufe der Jahrtausende ein sprechend ähnliches Bildnis des ehrwürdigen englischen Staatsmannes gemeißelt hat, das als Huldigung für ihn gerade rechtzeitig fertig geworden ist.

Wir sahen auch einen Banianen- oder Götzenbaum, welcher von seinen sechzig Fuß hohen Zweigen herab, säulenförmige Stützen zur Erde sandte; ganz wie der große, spinnebeinige Banianenbaum mit seiner Wildnis von Pflanzensäulen, den wir im botanischen Garten zu Kalkutta bewundert hatten. Auch ganz laublose Bäume fielen uns auf, deren zahllose Aeste und Zweige von einer Unmenge feurig leuchtender Schmetterlinge bedeckt schienen. Es waren aber in Wirklichkeit Blüten, welche scharlachroten Schmetterlingen täuschend ähnlich sahen.

Als wir einige Meilen bergab gefahren waren, machten wir Halt, um eine tibetanische Theatervorstellung mit anzusehen, welche am Bergabhang unter freiem Himmel stattfand. Die Zuhörerschaft bestand aus Ghurkas, Tibetanern und andern absonderlichen Leuten. Ebenso fremdartig wie das Stück selbst, waren auch die Kostüme der Darsteller. Sie traten einer nach dem andern vor und begannen sich mit ungeheuerer Kraft und Schnelligkeit im Kreise zu drehen, was von den übrigen mit furchtbarem Lärm und Getöse begleitet wurde. Zuletzt wirbelte die ganze Truppe wie der Wind tanzend und singend umher und wühlte den Staub auf. Es war ein altes, berühmtes, geschichtliches Schauspiel, das die Leute aufführten; ein Chinese erklärte es mir auf Pidgin-Englisch, während es vor sich ging. Das Stück war schon ohne die Erklärung unverständlich genug, aber durch diese wurde sein Sinn erst recht dunkel. Als Drama mochte das alte, historische Kunstwerk wohl seine Mängel haben, aber betrachtete man es als wilde, barbarische Darstellung, so spottete es jeder Kritik.

Weiter abwärts stiegen wir wieder aus, um zu beobachten, welche merkwürdige Schleife die Bahn hier macht. Als der Zug in die Kurve einbog, sahen wir die Lokomotive unter der Brücke verschwinden auf der wir standen, gleich darauf kam sie wieder zum Vorschein und jagte ihrem eigenen Schwanze nach; sie erreichte ihn, überholte ihn, lief an den letzten Wagen vorbei und begann nun ein Wettrennen mit dem hintern Ende des Zuges. Es kam mir vor wie eine Schlange, die sich selber auffrißt.

Auf halber Höhe des Berges hielten wir eine Stunde Rast in Mr. Barnards Hause und nahmen Erfrischungen ein. Während wir auf der Veranda saßen und durch eine Lichtung des Waldes nach dem fernen Gebirgspanorama hinüberblickten, hätten wir fast gesehen, wie ein Leopard ein Kalb zerriß, (er hatte es tags zuvor getan). Es ist eine wilde, reizende Gegend. Ringsum in den Wäldern ertönte Vogelgesang, auch ein paar Vögel, die mir damals noch unbekannt waren, ließen ihr Lied erschallen: der Gehirnteufel und der Kupferschmied. Der Gehirnteufel fängt leise an zu singen, aber sein Ton wird beständig lauter und lauter, er steigt in spiralförmigen Windungen in die Höhe, immer schärfer, immer schneidender, quälender, schmerzhafter, unleidlicher, aufdringlicher, unerträglicher; zum Wahnsinn treibend, bohrt er sich tiefer und tiefer in des Hörers Kopf, bis zuletzt bei ihm eine Gehirnentzündung eintritt, die den Tod zur Folge hat. Ich bringe einige dieser Vögel mit nach Amerika, wo sie ohne Zweifel großes Aufsehen erregen werden; man glaubt, daß sie sich in unserm Klima so rasch vermehren lassen, wie die Kaninchen.

Der Gesang des Kupferschmieds klingt in gewisser Entfernung wie Hammerschläge auf Granitgestein; geht man weiter, so nimmt das Hämmern einen metallischen Klang an, man meint, der Vogel bessere einen Kupferkessel aus. In noch größerer Entfernung klingt es zwar auch laut und kräftig, aber ganz als würden Fässer verspundet; merkwürdigerweise tönt das Klopfen in nächster Nähe sanft und melodisch, doch hört es gar nicht auf und wird zuletzt so einförmig, daß man aus der Haut fahren möchte; man fühlt sich unsäglich elend, der Kopf schmerzt einem zum Zerspringen und man verliert den Verstand. Auch diesen Vogel nehme ich mit und will ihn bei uns einbürgern.

Neu gestärkt stiegen wir wieder in die Draisine und fuhren weiter den Berg hinunter; bald flogen wir, bald machten wir Halt, bis wir die Ebene erreichten und in den gewöhnlichen Personenzug nach Kalkutta einstiegen. Das war der genußreichste Tag, den ich auf Erden verlebt habe. Es gibt kein himmlischeres, aufregenderes, entzückenderes Vergnügen, als eine Fahrt in der Draisine vom Himalaja hinunter. Nichts, gar nichts läßt der wonnevolle Ausflug zu wünschen übrig, außer daß er statt fünfunddreißig Meilen mindestens fünfhundert Meilen lang sein möchte.

Siebzehntes Kapitel.

Siebzehntes Kapitel.

Gib deine Illusionen nicht auf. Hast du sie verloren, so magst du zwar noch dein Dasein fristen, aber leben im eigentlichen Sinne kannst du nicht mehr.

Querkopf Wilsons Kalender.

So weit ich es beurteilen kann, hat sich der Mensch mit der Natur um die Wette bemüht, Indien zu dem merkwürdigsten Lande zu machen, welches die Sonne bescheint. Unter all seinen Wundern habe ich bis jetzt eines noch unerwähnt gelassen, nämlich den großen Reichtum an blutgierigen Raubtieren, den es besitzt.

Seit vielen Jahren ist die britische Regierung unausgesetzt bemüht gewesen, die gefährlichen wilden Tiere in Indien auszurotten. Sie hat es sich große Summen Geldes kosten lassen, doch kann man aus den jährlich von ihr veröffentlichten Listen ersehen, wie schwierig das Unternehmen ist.

Diese amtlichen Berichte weisen eine ganz ähnliche Gleichförmigkeit auf, wie die statistischen Angaben über die Todesfälle und Todesarten in den Hauptstädten der Welt. Man braucht sich nur mit der betreffenden Statistik der letzten Jahre vertraut zu machen, um fast genau vorhersagen zu können, wie viele Menschen in London, Paris oder New York nächstes Jahr durch Selbstmord enden oder an der Schwindsucht, dem Krebs, der Tollwut sterben, wie viele aus dem Fenster fallen oder von Droschken überfahren werden. So läßt sich auch im indischen Reich mit Sicherheit aus den Verzeichnissen früherer Jahre schließen, wie viele Leute durch Bären, Wölfe oder Tiger im laufenden Jahre umkommen oder wie viele dieser Bestien von der Regierung erlegt werden. Ja man kann diese Zahlen mit ziemlicher Genauigkeit auf fünf Jahre im voraus berechnen.

Mir liegt ein statistisches Verzeichnis aus sechs aufeinander folgenden Jahren vor, aus dem sich ergibt, daß der Tiger in Indien alljährlich 800 und einige Personen tötet und die Regierung doppelt so viele Tiger. In sechs Jahren hat der Tiger 5000 Menschen weniger 50 umgebracht und die Regierung 10 000 Tiger weniger 400.

Der Wolf tötet etwa 700 Personen im Jahr, und 5000 von seinem Stamme fallen dafür zum Opfer; der Leopard bringt durchschnittlich 230 Leute um, verliert aber 3300 Anverwandte, und dem Bären kosten die 100 Personen, die er im Jahre tötet, 1250 seiner eigenen Familie.

Den gewaltigsten Kampf mit dem Menschen besteht jedoch der Elefant, der König des Dschungels; er verliert jährlich vier von seiner Genossenschaft, rächt sich aber durch den Tod von 45 Personen. Tiere bringt der Elefant nur wenige um, vielleicht 100 in sechs Jahren, meist die Pferde der Jäger; in demselben Zeitraum tötet der Tiger mehr als 84 000 Stück Vieh, der Leopard 100 000, der Bär 4000, der Wolf 70 000, die Hyäne mehr als 13 000, andere Raubtiere 27 000 und die Schlangen 19 000, was die großartige Gesamtsumme von 300 000 oder durchschnittlich 50 000 Stück im Jahr ausmacht. – Die Regierung vertilgt während der nämlichen Zeit 3 201 234 Raubtiere und Schlangen. Zehn für eins.

Die Schlangen töten viel lieber Menschen als Tiere, und es wimmelt in Indien von gefährlichen Giftschlangen. Die schlimmste, die es überhaupt gibt, ist die Kobra; gegen sie erscheint die Klapperschlange als das harmloseste Geschöpf von der Welt. Bei meinen statistischen Ermittelungen bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß die Raubtiere in sechs Jahren 20 000 Personen töteten und die Schlangen 103 000. In demselben Zeitraum vertilgt die Regierung 1 073 546 Schlangen. Es bleiben noch immer genug übrig.

In Indien schwebt man beständig in Todesgefahr und kommt oft nur knapp mit dem Leben davon. In jenem Dschungel, wo ich so viele Elefanten und sechzehn Tiger erlegt habe, wurde ich von einer Kobra gebissen; die Wunde heilte jedoch wieder, was alle Welt in Erstaunen setzte. So etwas kommt in zehn Jahren höchstens einmal vor. Im gewöhnlichen Lauf der Dinge wäre schon nach einer Viertelstunde der Tod eingetreten.

*

Von Kalkutta aus verfolgten wir bei unserer Fahrt durch Indien eine Art Zickzackweg in nordwestlicher Richtung. Wir fuhren durch lange Strecken, die wie ein einziger Garten aussahen: viele Meilen weit war alles mit den schönen Blumen bedeckt, aus deren Saft das Opium bereitet wird, und bei Muzaffurpore gerieten wir mitten in die Indigokultur. Eine Zweigbahn sollte uns in der Nähe von Dinapore an den Ganges bringen, doch sie hielt an jedem Dorfe an, ohne daß jemand einstieg oder Fracht verladen wurde; überall schwatzten die Eingeborenen wer weiß wie lange mit ihren Freunden, die Zeit verstrich, und wir machten uns schon darauf gefaßt, statt sechs Stunden, eine Woche unterwegs zu bleiben. Da beschlossen die englischen Offiziere, diese Schneckenbahn in einen Schnellzug umzuwandeln. Sie gaben dem Lokomotivführer eine Rupie, und das Mittel half. Es ging nun wie der Wind; der Zug machte neunzig Meilen in der Stunde. Im Morgengrauen fuhren wir über den Ganges und erreichten noch glücklich unsern Anschluß. Bald waren wir wieder in Benares, und nach einem vierundzwanzigstündigen Aufenthalt an diesem merkwürdigen Hauptsitz der Frömmigkeit, setzten wir unsere Reise nach Lucknow fort, wo die Engländer während des indischen Aufstands im Jahre 1857 die großartigsten Beweise von Mut und Standhaftigkeit gegeben haben, welche die britische Geschichte jemals zu verzeichnen hatte.

Die Hitze war unbeschreiblich, alles Gras auf der weiten Ebene versengt und verdorrt von der glühenden Sonne, der Boden mit gelblichem Staub bedeckt, der in Wolken durch die Luft wirbelte. Aber zu jener Schreckenszeit, als die Entsatztruppen nach dem belagerten Lucknow marschierten, herrschte noch eine ganz andere Temperatur – 138 Grad Fahrenheit im Schatten.

Es scheint jetzt eine ausgemachte Sache zu sein, daß eine der Hauptursachen des Aufstandes die Besitzergreifung des Königreichs Oudh durch die Ostindische Kompagnie war, eine Tat, welche Sir Henry Lawrence »die größte Ungerechtigkeit« nennt, »die je verübt worden ist«. – Schon im Frühling 1857 machte sich ein aufrührerischer Geist in vielen eingeborenen Regimentern bemerkbar, der mit jedem Tag weiter um sich griff. Die jüngeren Offiziere nahmen die Sache sehr ernst; sie hätten den Ungehorsam gern sofort im Keime erstickt, doch fehlte ihnen die nötige Machtbefugnis. Die höheren Militärs waren meist bejahrte Männer, die längst nicht mehr hätten im aktiven Dienst sein sollen. Sie legten den etwaigen mißlichen Vorkommnissen wenig Wert bei, da sie große Stücke auf die eingeborenen Truppen hielten und nicht glaubten, daß diese sich durch irgend welche Umstände zur Empörung treiben lassen würden. Lächelnd hörten die Greise das unterirdische Grollen des Vulkans, auf dem sie standen und meinten, es habe nichts zu bedeuten.

So hatten denn die Anstifter des Aufstandes völlig freie Hand. Ungehindert zogen sie von einem Lager zum andern, schilderten den eingeborenen Soldaten, wie ungerecht die Bedrückung des Volks durch die Engländer sei und fachten unversöhnlichen Groll und Rachedurst in allen Herzen an. Sie wurden überdies in ihrem Vorhaben durch zweierlei sehr wesentlich unterstützt: Zu Clives Zeiten waren die eingeborenen Truppen nur ungeordnete, schlecht bewaffnete Haufen gewesen, gegen welche die gutgeschulten englischen Soldaten, trotz ihrer Minderzahl, leichtes Spiel gehabt hatten. Jetzt bestand fast die ganze britische Kriegsmacht aus eingeborenen Regimentern, die wohlgeübt, trefflich bewehrt und von den Briten selbst in der Kriegführung unterrichtet waren; sie hatten alle Macht in Händen, denn die wenigen englischen Bataillone, über welche Indien verfügte, waren im ganzen Lande zerstreut. Noch größeren Einfluß auf die unzufriedenen Gemüter übte aber eine alte Prophezeiung, welche besagte, daß genau hundert Jahre nach der Schlacht, durch welche Clive das Reich gegründet hatte, die Macht der Briten in Indien von den Eingeborenen zerstört und ihrer Herrschaft ein Ende gemacht würde. Die eingeborenen Truppen hatten im allgemeinen eine heilsame Furcht vor den englischen Soldaten und würden vielleicht allen Überredungskünsten der Aufwiegler widerstanden haben, aber einer Prophezeiung vermag kein Inder sein Ohr zu verschließen. Der indische Ausstand brach am 10. Mai 1857 zu Mirat aus und hatte eine lange Reihe von Greueltaten im Gefolge. Nana Sahibs Niedermetzelung der wehrlosen Besatzung nach der Uebergabe von Cawnpore fand im Juni statt, und dann begann die lange Belagerung von Lucknow. England hat eine alte, ruhmvolle Kriegsgeschichte hinter sich, aber in keinem Abschnitt derselben erscheint es uns größer, als bei der Unterwerfung des Aufstandes. Die Briten wurden sozusagen im Schlafe überfallen; sie waren unvorbereitet und zählten nur wenige Tausend in einem Meer von feindlichen Völkerschaften. Monate mußten vergehen, bis die Nachricht England erreichte und Hilfe kam. Aber die tapfern Offiziere verloren keinen Augenblick durch Zaudern und Schwanken. Mit heldenhafter Entschlossenheit und Hingebung leisteten sie Widerstand gegen die erdrückende Uebermacht und führten den scheinbar völlig aussichtslosen Kampf zum glänzenden Siege.

Ich habe alle denkwürdigen Orte besucht, welche damals Zeugen der entsetzlichsten Schreckensszenen und des größten Heldenmutes gewesen sind; auch das kostbare Denkmal über dem Brunnen in Cawnpore habe ich gesehen, in welchen Nana Sahib die verstümmelten Leichen der hingemordeten Frauen und Kinder werfen ließ. Das Andenken an die furchtbaren Leiden und Großtaten jener Zeit wird von den Nachkommen heilig gehalten und in treuer Erinnerung bewahrt.

In Agra und später in Dehli sahen wir viele Forts, Moscheen und Grabmäler aus der Glanzzeit der mohammedanischen Kaiserherrschaft, welche an Größe, Pracht und Reichtum alles übertrafen, was die übrige Welt in dieser Beziehung zu bieten vermag. Die Kostbarkeit des Baumaterials und der Ausschmückung machen sie zu Wunderwerken ersten Ranges. Zum Glück hatte ich noch nicht viel darüber gelesen und folglich auch meine Phantasie nicht übermäßig erhitzt; ich konnte einen natürlichen und vernünftigen Maßstab anlegen und mich durch den herrlichen Anblick innerlich ergreifen, beglücken und erheben lassen, ohne Trauer und Enttäuschung zu empfinden.

Ich will ihre Pracht und Schönheit nicht eingehend beschreiben; nur von einem dieser weltbekannten Bauwerke, dem berühmtesten von allen, dem Tadsch Mahal bei Agra möchte ich noch ein Wort sagen. Ich hatte mich im voraus viel zu viel mit den verschiedenen literarischen Ergüssen über den Tadsch beschäftigt. Jetzt sah ich ihn bei Tage und sah ihn im Mondlicht, von nah und von ferne; ich wußte, daß er ein Weltwunder war und seinesgleichen weder auf Erden hatte noch jemals haben würde – aber mein Tadsch war es nicht. Meinen Tadsch hatte ich mir nach den Phantasiegebilden einer Schar leicht erregbarer Literaten erbaut, und er hatte sich so fest in meinem Kopfe eingenistet, daß er durch nichts wieder herauszubringen war.

Wie hatten mir diese Schriftsteller aber den Tadsch geschildert? – Ich will nur einige Auszüge wiedergeben: »Die innere Ausschmückung,« heißt es, »besteht aus kostbaren Steinen, Achat, Jaspis und dergleichen, mit denen jede vorspringende Stelle geschmückt ist – in dekorativer Beziehung steht der Tadsch einzig in der Welt da – er bildet die Grenze, wo die Baukunst aufhört und die Juwelierarbeit beginnt – der Tadsch besteht ganz aus Marmor und Edelsteinen – er ist mit reicher Mosaikarbeit aus Juwelen verziert, welche köstliche Blumenmuster bildet – der Tadsch ist ein Kunstwerk von vollendeter Schönheit – ein Mausoleum von ungeheuerer Größe – ein Marmor-Wunder mit Blumen aus Edelgestein u. s. w. –«

Das ist alles wahr und richtig. Auch wissen die Schriftsteller selbst recht gut, wie es gemeint ist, denn sie kennen den Wert ihrer Worte. Der Leser aber faßt diese ganz anders auf. Er nimmt seine Einbildungskraft zu Hilfe, und ehe er sich’s versieht, erhebt sich vor seinen Blicken ein über und über mit Juwelen bedeckter Tadsch, so hoch wie das Matterhorn.

Es ist mit solchen Beschreibungen ein eigenes Ding; sie stimmen zwar mit der Wahrheit überein, aber doch dienen die Worte meist nur dazu, die Tatsachen zu verdunkeln.

Als ich den Niagarafall zum erstenmal sah, schaute ich gen Himmel, denn ich erwartete einen mindestens sechzig Meilen breiten und sechs Meilen hohen Wassersturz zu erblicken – ein Atlantischer Ozean sollte sich meiner Meinung nach von einem Gipfel so hoch wie der Himalaja ergießen. Als ich statt dessen die kleine nasse Schürze gewahrte, die man zum Trocknen aufgehängt hatte, überwältigte mich die spielzeugartige Wirklichkeit dergestalt, daß ich auf der Stelle in Ohnmacht fiel.

Niemals hätte ich weder dem Niagara noch dem Tadsch Mahal in die Nähe kommen sollen! Wäre ich meilenweit fortgeblieben, so würde ich mir meinen eigenen mächtigen Niagara, der vom Himmelsgewölbe herabstürzt, unversehrt erhalten haben, und mein Tadsch würde sich noch jetzt aus farbigen Nebelgebilden auf Regenbogen von Edelsteinen erbauen, die auf Säulenhallen aus Mondschein ruhen. Wer seiner Phantasie nicht Zaum und Zügel anlegen kann, sollte niemals ausziehen, um eins der berühmten Weltwunder mit Augen zu sehen. Seine Vorstellung davon wird immer mindestens vierzigmal besser und schöner sein als die Wirklichkeit.

Vor vielen vielen Jahren habe ich mir in den Kopf gesetzt, daß der Tadsch unter den Kunstschöpfungen des Menschen, was Anmut, Schönheit, Glanz und Pracht betrifft, genau denselben Platz einnimmt, auf den unter den Schaustellungen der Natur der Rauhreif ein Anrecht hat. Ich habe den Tadsch niemals mit irgend einem Tempel oder Palast verglichen, welchen Menschenhand erbaut hat, er war für mich nichts mehr und nichts weniger als die architektonische Verkörperung des Rauhreifs.

Hier in London sprach ich neulich einmal voll Begeisterung mit meinen englischen Freunden vom amerikanischen Rauhreif; aber sonderbarerweise hatten sie nie etwas davon gehört und verstanden mich nicht. Ein Herr sagte, er habe den Rauhreif noch in keinem Buch erwähnt gefunden. Das ist sehr sonderbar, aber ich erinnere mich auch nicht, je etwas darüber gelesen zu haben, während sich doch andere Naturerscheinungen – zum Beispiel die Färbung des amerikanischen Herbstlaubs – der allgemeinsten Aufmerksamkeit erfreuen.

Und doch erregt der Rauhreif jedesmal bei uns das größte Aufsehen. Wenn er kommt, fliegt die Kunde durch das ganze Haus von Zimmer zu Zimmer, und selbst der trägste Schläfer springt aus dem Bette, um ans Fenster zu eilen. Meist tritt er mitten im Winter ein und treibt sein Zauberwesen bei nächtlicher Stille und Dunkelheit. Ein feiner Sprühregen fällt viele Stunden lang auf die kahlen Zweige und Aeste der Bäume und gefriert daran fest. Bald ist der Stamm und das ganze Geäst, ja selbst das kleinste Zweiglein mit einer Kruste von klarem Eis überzogen, der Baum sieht aus wie ein Skelett aus kristallhellem Glas. Ueberall hängen Fransen von kleinen Eiszapfen herab, manchmal auch nur runde Perlen, gleich gefrorenen Tränen.

In der Morgendämmerung hellt sich das Wetter auf, die Luft ist frisch und rein, der Himmel wolkenlos, es herrscht tiefe Stille, kein Windhauch erhebt sich. Schnell ist die Nachricht verbreitet; Große und Kleine kommen in Decken und Tücher gehüllt an das Fenster gestürzt, wo sie dicht aneinander gedrängt regungslos verharren und schweigend die feenhafte Erscheinung in den Anlagen betrachten. Alle wissen, was jetzt kommen wird und warten auf das Wunder. Man vernimmt keinen Laut, außer dem Ticken der Wanduhr, und eine Minute nach der andern verrinnt. Na schießt plötzlich die Sonne feurige Strahlen auf jeden der Geisterbäume und verwandelt ihn in lauter glitzernde funkelnde Diamanten. Die Zuschauer halten den Atem an, die Augen werden ihnen feucht, doch ihre Spannung läßt nicht nach – es kommt noch mehr. Die Sonne steigt höher, sie überflutet den Baum vom höchsten Gipfel bis zum niedrigsten Ast mit einem weißen Strahlengewand, und dann geschieht urplötzlich ohne jede Vorbereitung das Wunder aller Wunder, das seinesgleichen nicht auf Erden hat: ein Windstoß bewegt auf einmal die Aeste und der ganze weiße Baum zerstäubt und sprüht nach rechts und links und überallhin funkelnde Edelsteine von allen nur denkbaren Farben. Wie er sich rüttelt und schüttelt wirbeln blitzende Rubinen, Smaragde, Diamanten und Saphire durch die Luft. Es ist das glänzendste, köstlichste, blendendste, feenhafteste Schauspiel, das man auf Erden haben kann – eine Erscheinung von so göttlicher, berauschender Schönheit und so unaussprechlichem, überirdischem Glanz, wie man sie außerhalb der Himmelstore schwerlich wieder zu sehen bekommt.

Warum hat denn kein Maler je versucht, den Rauhreif auf die Leinwand zu zaubern? – Farben und Pinsel müssen wohl außer stande sein, die Herrlichkeit dieser sonnendurchglühten Juwelen naturgetreu wiederzugeben. Eine größere Strahlenpracht findet man nirgends im Reiche der Schöpfung; unter den Menschenwerken aber läßt sich, nach meinem Gefühl, nur der Tadsch Mahal mit der Schönheit des Rauhreifs vergleichen.

Achtzehntes Kapitel.

Achtzehntes Kapitel.

Nimm dir vor, an jedem Tage etwas zu tun, wozu du keine Lust hast. Dann wird dir die Erfüllung deiner Pflichten bald keine Last mehr sein.

Querkopf Wilsons Kalender.

Wir wanderten nun zufriedenen Sinnes weiter durch das indische Land. In Lahore lieh mir der Vizestatthalter einen Elefanten. Eine so großartige Aufmerksamkeit hatte mir noch niemand erwiesen, und da es ein schönes, wohlerzogenes, leutseliges Tier war, fürchtete ich mich auch nicht vor ihm. Ich ritt sogar ganz zuversichtlich durch die engen Gassen im Stadtteil der Eingeborenen, wo alle Pferde beim Anblick meines Elefanten vor Schrecken scheu wurden, und die Kinder ihm fortwährend vor die Füße kamen. Er schritt mit mir majestätisch mitten auf der Straße einher und zwang alle Welt ihm auszuweichen oder sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Ich glaube, mit der Zeit würde ich einen Ritt auf dem Elefanten jeder Beförderungsart vorziehen. Wer auf seinem Rücken thront, dem braucht vor keinem Zusammenstoß zu bangen, wie gewöhnlich beim Reiten oder Fahren. Auf dem hohen Platz genießt man das Bewußtsein großer Würde und eine wunderschöne Aussicht ins Weite; man kann aber auch allen Leuten in die Fenster sehen und wissen, was sie in ihren Familien treiben.

Wir fuhren bis nach Rawal Pindi an der afghanischen Grenze und dann wieder zurück nach Dehli, um die alten wundervollen Bauwerke in Augenschein zu nehmen, ohne sie zu beschreiben. Wir suchten auch den Schauplatz des tollkühnen Angriffs auf, durch den die Briten beim indischen Aufstand Dehli mit Sturm nahmen und sich unsterblichen Ruhm erwarben. In dem Hause, wo damals das Hauptquartier des englischen Generals war, fanden wir gastliche Aufnahme und konnten uns von allen Reiseanstrengungen ausruhen. Die Besitzung gehörte jetzt einem Engländer, der so gänzlich zum Orientalen geworden war, daß er sogar einen Harem hatte. Ein weitherziger Mann, wie es wenige gibt: für seinen Harem hat er eine Moschee gebaut und für sich eine englische Kirche. Sein historisch interessantes Wohnhaus steht in einem großen Garten und ist von stattlichen Bäumen umgeben, in denen Affen hausen. Die Affen sind unverschämt und unternehmungslustig, sie kennen keine Furcht, überfallen das Haus bei jeder Gelegenheit und schleppen alles fort, was ihnen in die Hände fällt – lauter Dinge, die sie nicht brauchen können. Eines Morgens, als der Hausherr sein Bad nahm, war das Fenster offen geblieben, und auf dem Sims stand ein Topf mit gelber Farbe, in welchem der Pinsel steckte. Ein paar Affen zeigten sich am Fenster, und um sie zu verscheuchen warf der Herr seinen Schwamm nach ihnen. Statt zu erschrecken kamen sie ins Zimmer gesprungen, bespritzten ihn über und über mit dem Farbenpinsel und jagten ihn hinaus. Darauf strichen sie die Wände, den Fußboden, den Wasserbehälter, die Fenster und Möbel gelb an; sie wollten eben auch noch das Ankleidezimmer auf gleiche Weise malen, als die Diener herbeikamen und sie vertrieben.

Zwei dieser ungezogenen Gesellen stahlen sich morgens früh in mein Zimmer durch ein Fenster, dessen Läden ich nicht geschlossen hatte. Als ich aufwachte, sah ich den einen vor dem Spiegel stehen und sein Haar bürsten, während der andere sich meines Taschenbuchs bemächtigt hatte, die humoristischen Notizen las – und weinte. Der Affe mit der Haarbürste kümmerte mich nicht, aber das Benehmen des andern kränkte mich tief; es kränkt mich heute noch. Ich warf meinen Schuh nach ihm – das hatte ich nicht tun sollen, denn unser Wirt hatte mir gesagt, man dürfe sich nie mit den Affen einlassen. Aus Rache bombardierten sie mich nun mit allen Sachen, die sie aufheben konnten, dann wollten sie noch mehr aus dem Badezimmer holen, aber ich warf rasch die Tür hinter ihnen ins Schloß.

*

Zu Jeypore in Rajputana machten wir einen längeren Aufenthalt. Wir wohnten dort in der kleinen Vorstadt der europäischen Beamten, welche einige Meilen von der Hindustadt entfernt liegt. Es waren überhaupt nur vierzehn Europäer da und wir fühlten uns ganz wie zu Hause.

Der indische Diener ist in mancher Beziehung ein wahrer Schatz, nur muß man ihn beaufsichtigen, und das tun die Engländer. Wenn sie ihn ausschicken um eine Besorgung zu machen, genügt ihnen nicht, daß der Mann sagt, er hätte den Auftrag erfüllt. Schickte man uns Obst oder Gemüse, so kam immer eine Quittung mit, die wir unterzeichnen mußten, sonst hatten die Eßwaren vielleicht nicht den Ort ihrer Bestimmung erreicht. Stellte uns ein Herr seinen Wagen zur Verfügung, so stand auf dem Papier von dann und dann, bis dann und dann – so daß der Kutscher und seine zwei oder drei Untergebenen uns nicht mit einem Teil der festgesetzten Zeit abspeisen konnten, um sich selbst mit dem Rest eine lustige Stunde zu machen.

Wir wohnten sehr angenehm in unserm zweistöckigen Gasthaus mit dem großen Hof, den eine mannshohe Lehmmauer umgab. Die Gasthofsbesitzer, neun Hindubrüder, waren mit ihren Familien in einem einstöckigen Gebäude einquartiert, das auf einer Seite des Hofes lag; die Veranda sah man stets von Scharen hübscher brauner Kinder besetzt, zwischen denen mehrere Väter eingekeilt saßen und ihre Huka rauchten. Neben der Veranda stand ein Palmbaum, auf dem ein Affe sein einsames Leben führte; er sah immer traurig und schwermütig aus und die Krähen plagten ihn sehr.

Daß die Kuh frei umherlief gab dem Hof ein ländliches Ansehen; auch ein Hund war da, der stets in der Sonne lag und schlief, so daß er den allgemeinen Eindruck von Ruhe und Stille verstärken half, wenn die Krähen einmal durch Abwesenheit glänzten. Diener in weißen, faltigen Gewändern gingen zwar fortwährend ab und zu, aber sie glitten nur wie Gespenster lautlos auf ihren nackten Füßen vorüber. Ein Stück die Gasse hinunter hauste ein Elefant unter einem hohen Baum. Er wiegte sich hin und her und streckte den Rüssel aus; bald bettelte er um Speise bei seiner braunen Herrin, bald schäkerte er mit den Kindern, die zu seinen Füßen spielten. Auch Kamele waren in der Nähe, aber sie gehen auf sammetweichen Sohlen und paßten ganz zu der friedlichen Heiterkeit der Umgebung.

Nur eines machte mich unglücklich: Wir hatten unsern Satan verloren; er war zu meinem tiefsten Kummer kürzlich von uns geschieden und meine Trauer um ihn war groß. Noch jetzt, nach vielen Monaten, vermisse ich ihn schmerzlich. Nie werde ich vergessen, wie er alles im Umsehen fertig brachte, er flog nur so von einem Geschäft zum andern. Zwar machte er es nicht immer recht, aber gemacht wurde es jedenfalls und zwar urplötzlich, ohne Zeitverlust. Man sagte ihm zum Beispiel: »Packe die Koffer und Handtaschen, Satan!«

»Ja, Herr!«

Dann entstand rasch ein Klopfen und Hämmern, ein Sausen und Brausen – Kleider, Jacken, Röcke und Stiefel wirbelten eine Zeitlang durch die Luft, und schon im nächsten Augenblick berührte Satan seine Stirn und verbeugte sich:

»Alles fertig, Herr!«

Es war unglaublich; mir wurde ordentlich schwindlig davon. Zwar zerknitterte er die Kleider sehr und hatte anfänglich keinen andern Plan bei der Arbeit, als jedes Ding in den falschen Koffer zu tun. Aber darin besserte er sich bald, obgleich er es sich nie ganz abgewöhnte. Noch bis zuletzt pflegte er in die der Literatur geheiligte Reisetasche allen Kram hineinzupfropfen, für den sich sonst kein bequemer Platz fand. Verbot man ihm das bei Todesstrafe, so geriet er nicht im geringsten aus der Fassung; er machte ein freundliches Gesicht, sagte: »Ja, Herr!« und tat es schon am nächsten Tage wieder.

Satan war immer geschäftig; rechtzeitig waren die Zimmer aufgeräumt, die Stiefel glänzend gewichst, die Kleider gebürstet, die Waschschalen mit reinem Wasser gefüllt. Schon eine Stunde, ehe ich meinen Gesellschaftsanzug zur Vorlesung brauchte, lag alles für mich bereit und Satan kleidete mich von Kopf bis zu Fuß an, trotz meines festen Vorsatzes dies selbst zu tun, wie ich es mein Lebenlang gewohnt gewesen war.

Er schien zum Herrschen geboren und tat nichts lieber als mit Untergebenen zu streiten, sie herunterzumachen und zu überschreien. Am meisten in seinem Element war er auf der Eisenbahn. Durch die dichteste Masse der Eingeborenen stieß und drängte er sich, bis der Weg für ihn und die neunzehn Kulis in seinem Gefolge frei war; jeder von ihnen trug irgend ein kleines Gepäckstück, einen Handkoffer, Sonnenschirm, Schal, Fächer oder dergleichen, keiner mehr als einen Gegenstand, und je länger der Zug, um so zufriedener war mein Satan. Meist steuerte er auf irgend einen bestellten Schlafwagen los, verschwor sich hoch und teuer, daß er uns gehöre und fing an des Besitzers Sachen hinauszubefördern. War unser eigener Wagen gefunden, so hatte er in zwei Minuten die Bündel aufgeschnallt, die Betten gemacht und alles zurecht gelegt; dann steckte er den Kopf zum Fenster hinaus und verschaffte sich den köstlichen Genuß, auf seine Bande Kulis zu schimpfen und mit ihnen nach Herzenslust über die Bezahlung zu streiten, bis wir ankamen, dem Lärm ein Ende machten und ihm befahlen, die Leute zu befriedigen.

Ich glaube, der kleine schwarze Teufel war der größte Krakeeler in ganz Indien, und das will viel sagen. Mir persönlich war sein Lärmen sehr angenehm, aber die Meinigen gerieten oft ganz außer sich darüber. Sie konnten sich nicht daran gewöhnen und fanden es unleidlich; es verstieß gegen alle ihre Begriffe von Wohlanständigkeit. Wenn wir noch sechshundert Meter weit von einem der großen Bahnhöfe waren, hörten wir oft einen wahren Heidenlärm, ein gellendes Geschrei und Gekreisch, ein Poltern und Wüten. Ich ergötzte mich dann sehr über den Höllenspektakel, aber meine Familie sagte voll tiefer Beschämung:

»Da kannst du’s wieder hören – das ist Satan! Weshalb gibst du ihm nicht seinen Laufpaß?«

Und richtig – mitten in dem riesigen Menschengewühl stand der kleine schwarze Knirps und zappelte an allen Gliedern, wie eine Spinne, die Bauchgrimmen hat. Seine schwarzen Augen blitzten, die Troddel auf seinem Fez tanzte in der Luft und sein Mund strömte ganze Fluten von Schelt- und Schimpfwörtern über die erstaunten Kulis aus, die um ihren Lohn bettelten.

Ich war ganz verliebt in ihn, das leugne ich nicht; aber meine Angehörigen konnten kaum mehr von ihm sprechen ohne sich aufzuregen. Noch heutigen Tages bin ich untröstlich über seinen Verlust und wünsche ihn mir zurück, während bei ihnen das gerade Gegenteil stattfindet. Er war aus Surat gebürtig; zwischen seiner Vaterstadt und Manuels Geburtsort lagen zwanzig Breitegrade, aber der Abstand zwischen ihren Charakteren, ihrer beiderseitigen Gemütsart und Handlungsweise war noch unendlich viel größer. Manuel hatte ich gern; aber meinen Satan liebte ich. Sein wirklicher Name war so recht indisch, daß ich ihn nie recht begriffen habe, er klang wie Bunder Rao Ram Chunder Clam Chowder; für den Alltagsgebrauch war eine Abkürzung entschieden bequemer.

Als er etwa zwei oder drei Wochen bei uns war, fing er an allerlei Mißgriffe zu begehen, die ich nur mit Mühe wieder gutmachen konnte. In der Nähe von Benares stieg er zum Beispiel auf einer Station aus, um zu sehen, ob er nicht mit irgend jemand Streit anfangen könnte. Nach der langen, ermüdenden Fahrt bedurfte er einer Erholung. Er fand auch was er suchte, setzte jedoch sein Spektakeln etwas zu lange fort, und der Zug fuhr ohne ihn ab. Da waren wir nun in der fremden Stadt und hatten kein Zimmermädchen – eine große Unbequemlichkeit! Wir sagten ihm, das dürfe nicht wieder vorkommen, worauf er sich verbeugte und »Ja, Herr!« sagte, so lieb und freundlich wie immer.

In Lucknow beging er den großen Irrtum sich zu betrinken. Ich sagte, der arme Mensch hatte das Fieber bekommen, und die Meinigen gaben ihm aus Mitgefühl und Besorgnis ein Chininpulver ein, das ihm wie Feuer in den Eingeweiden brannte. Die Gesichter, welche er dabei schnitt, brachten mir einen bessern Begriff vom Erdbeben in Lissabon bei, als alle Gemälde und Beschreibungen dieses Naturereignisses. Auch am nächsten Morgen war sein Rausch noch nicht verflogen, doch hätte ich der Familie seinen Zustand gewiß verbergen können, wäre er nur zu bewegen gewesen, noch ein Chininpulver einzunehmen. Aber obgleich er nicht recht bei Sinnen war, kam ihm doch dann und wann wieder ein lichter Augenblick. Er machte einen ungeschickten Versuch sich zu verbeugen und lallte mit unbeschreiblich dummem Lächeln: »Bitte nicht, Mem Saheb, bitte nicht, Missy Saheb, kein Pulver für Satan, bitte.«

Eine innere Stimme verriet ihnen, daß er betrunken sei, und nun wurde ihm aufs bestimmteste angekündigt, man werde ihn augenblicklich entlassen, falls so etwas wieder vorkäme. »Bitte, bitte«, murmelte er in rührselig weinerlichem Ton unter vielen Verbeugungen.

Es verging kaum eine Woche, da hatte sich der Unglücksmensch schon wieder betrunken und diesmal, o Jammer, nicht im Hotel, sondern im Privathause eines englischen Herrn und obendrein in Agra! Also mußte er fort. Als ich es ihm ankündigte, sagte er demutsvoll: »Ja, Herr!« machte seine Abschiedsverbeugung und verließ uns auf Nimmerwiederkehr. Gott weiß, ich hätte lieber hundert Engel hergegeben als diesen einen reizenden Teufel. Wie vornehm sah er aus, wenn er in einem seinen Hotel oder Privathaus Staat machen wollte! Er war dann vom Kopf bis zu den nackten Füßen ganz in schneeweißen Musselin gekleidet, hatte einen feuerroten, mit Goldfaden gestickten Gürtel um die Hüften, und auf dem Haupt einen seegrünen Turban, wie ihn nur der Großtürke trägt.

Ein Lügner war er nicht; doch wird er wohl mit der Zeit einer werden. Einmal sagte er mir: als Knabe hätte er die Kokosnüsse immer mit den Zähnen aufgebissen. Als ich ihn fragte, wie er sie habe in den Mund stecken können, antwortete er, damals sei er sechs Fuß hoch gewesen und habe einen ungewöhnlich großen Mund gehabt. Um ihn in die Enge zu treiben, erkundigte ich mich, wie ihm denn der sechste Fuß abhanden gekommen wäre, worauf er erwiderte, ein Haus sei auf ihn gefallen und er habe seitdem seine frühere Statur nie wieder erlangen können. – Wenn ein sonst wahrheitsliebender Mensch sich einmal derartige Abschweifungen von dem wirklichen Sachverhalt gestattet, gerät er leicht immer tiefer in die Unwahrheit hinein, bis er schließlich zum Lügner wird.

Satans Nachfolger war ein Moslemin – Sahadat Mohammed Khan, ein sehr dunkler, sehr großer und sehr ernster Mann. Er trug lange faltige weiße Gewänder, schlich geräuschlos umher, sah aus wie ein Gespenst und sprach mit leiser Stimme. Wir waren mit ihm zufrieden, denn er tat seine Pflicht, aber wo er schaltete und waltete schien die ganze Woche über Sonntag zu sein. Das war zu Satans Zeit anders gewesen.

*

Jeypore ist eine ganz indische Stadt, zeichnet sich aber durch mancherlei Einrichtungen aus, die es der europäischen Wissenschaft und dem europäischen Interesse für das Gemeinwohl verdankt. Ich erwähne nur eine reichliche Wasserversorgung durch Leitungen, welche auf Staatskosten angelegt sind; allerlei hygienische Vorkehrungen, die Jeypore zu einem für indische Verhältnisse ungewöhnlich gesunden Orte machen; einen herrlichen Lustgarten, wo der Eintritt an bestimmten Tagen nur den Frauen gestattet ist; Schulen, in denen die eingeborene Jugend in allen schönen und nützlichen Künsten unterwiesen wird, sowie einen neuen, prächtigen Palast, der ein höchst wertvolles und interessantes Museum enthält. Wenn der Maharaja kein Verständnis für solche wohltätige Einrichtungen hätte und sie nicht mit Geldmitteln unterstützte, würden sie nicht bestehen können; aber er gilt für einen aufgeklärten und großmütigen Mann, der jedem Fortschritt zugänglich ist.

Die Bauart von Jeypore ist höchst eigentümlich; es liegt innerhalb einer hohen mit Türmen besetzten Mauer und wird durch vollkommen gerade, über hundert Fuß breite Straßen in sechs Teile geteilt. Die lange Front der Häuser zeigt viele sehr anziehende architektonische Eigenheiten; kleine malerische Altane mit Säulen und mancherlei Zieraten unterbrechen überall die Einförmigkeit der geraden Linie; lauschige Nischen, Simse und vorspringende Erker fallen bald hier bald da ins Auge; auch sieht man an manchen Häusern merkwürdige Malereien, und das Ganze hat eine Färbung von schönem, zartem Rosa, wie Erdbeereis. Wer die breite Hauptstraße hinunterblickt, kann sich kaum vorstellen, daß sie aus wirklichen Gebäuden besteht. Man hat den Eindruck, als sähe man ein Gemälde oder Theaterkulissen.

Diese Illusion war besonders stark an einem großen Tage, den wir in Jeypore erlebten: Ein reicher Hindu hatte auf seine Kosten eine Menge Götzenbilder anfertigen lassen, die um zehn Uhr morgens in feierlichem Zuge durch die Stadt gefahren wurden. Die langen Reihen der Dächer, die zahllosen Ballone, die phantastischen Vogelkäfige und behaglichen kleinen Nestchen an der Vorderseite der Häuser, waren dicht mit Eingeborenen besetzt. Jede dieser Gruppen bildete eine feste Masse, die in den glänzendsten Farben strahlend, sich prächtig gegen den blauen Himmel abhob und von der Sonne Indiens in ein feuriges Flammenmeer verwandelt wurde. Auch die breite Straße selbst war, so weit das Auge reichte, mit bunt geschmückten Menschen angefüllt, die alle durcheinander wimmelten, sich hierher und dorthin wälzten, sich bald vom Strom vorwärts treiben, bald im Kreise drehen ließen. Und dabei diese wundervollen Farben! Von den zartesten, blassesten, weichsten Schattierungen, bis zu den stärksten, lebhaftesten, grellsten und glänzendsten Tönen, als käme ein Riesenschwarm bunter Wickenblüten auf den Flügeln der Windsbraut einhergestürmt. Plötzlich teilte sich dieses Farbenmeer, um den majestätischen Zug der Elefanten durchzulassen, die mit ihrem prächtigsten Schmuck angetan, schwankenden Schrittes daherkamen, gefolgt von langen Reihen phantastischer Wagen und Karren, welche die verschiedenen Gruppen der ebenso seltsamen wie kostbaren Götzenbilder trugen. Den Schluß bildete der zahlreiche Nachtrab stattlicher Kamele mit ihren malerisch gekleideten Reitern.

Alles war so neu und fremdartig, so unbeschreiblich eindrucksvoll und farbenprächtig, daß wir uns von dem fesselnden Anblick kaum loszureißen vermochten. Es war der sinnenberückendste Aufzug, den ich je gesehen habe, und etwas Aehnliches zu erblicken, wird mir schwerlich noch einmal im Leben zu teil werden.

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Im Wohlstand kann man an seinen Grundsätzen am besten festhalten.

Querkopf Wilsons Kalender.

14. Januar abends. – Die ›Rosetta‹, mit der wir absegeln, ist ein schlechtes altes Schiff, das man versichern und untergehen lassen sollte. Auch hier, wie auf der ›Oceana‹, hält man die Mittagstoilette für eine Art frommer Pflicht. Aber dergleichen vornehme Formen stehen in grellem Gegensatz zu der Aermlichkeit der schäbigen Ausstattung des Fahrzeugs…. Wenn man zum Nachmittagstee eine Limonenscheibe haben möchte, muß man erst am Schenktisch eine Anweisung unterzeichnen. Und dabei kostet das Faß Limonen vierzehn Cents.

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18. Januar. Nachdem wir das Arabische Meer durchschifft haben, sind wir jetzt dicht an Bombay, das wir noch heute abend erreichen sollen.

*

20. Januar. Bombay! – wie ein Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹, entzückend, verwirrend, bezaubernd! Es ist eine ungeheure Stadt, mit etwa einer Million Einwohnern, meist braune Leute; die wenigen Weißen, die man zerstreut unter der Masse der Bevölkerung findet, kommen gegen alle die dunkeln Gesichter kaum in Betracht. Hier ist es Winter: ein himmlisches Juniwetter und frisches, köstliches Sommerlaub. Im Schatten der großen prächtigen Baumreihe dem Hotel gegenüber sitzen malerische Gruppen von Eingeborenen beiderlei Geschlechts; der Gaukler im Turban mit den Schlangen und Zauberkünsten ist natürlich dabei. Den ganzen Tag sieht man die verschiedenartigsten Trachten zu Fuß und zu Wagen vorüberziehen; es ist, als könnte man nie müde werden, diese endlosen Wandelbilder, dies glänzende und stets wechselnde Schauspiel zu betrachten… Die fest eingekeilte Masse der Eingeborenen im großen Bazar bot einen wunderbaren Anblick; es war ein Meer von buntfarbigen Turbans und faltigen Gewändern, zu dem die fremdartigen, prunkvollen indischen Bauwerke gerade den richtigen Hintergrund bildeten. Bei Sonnenuntergang folgte ein anderes Schauspiel: eine Fahrt am Seestrande bis zur Malabar-Spitze, wo Lord Sandhurst, der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay, wohnt. Auf der ersten Hälfte des Weges, den alle Welt fährt, steht ein schöner Parsenpalast neben dem andern. Die Privatequipagen der reichen Engländer und vornehmen Eingeborenen haben außer dem Kutscher noch drei Bediente in wundervollen orientalischen Livreen. Zwei davon, prächtig anzuschauen, stehen als beturbante Statuen hintenauf. Manchmal nehmen die öffentlichen Fuhrwerke dergleichen überschüssige Diener mit: einen zum Fahren, einen um neben dem Kutscher zu sitzen und ihm zuzusehen, und einen, der hinten auf dem Tritt steht und schreit, wenn jemand im Wege ist; wenn niemand da ist, schreit er auch, um nicht aus der Uebung zu kommen. Das alles bringt Leben und Bewegung mit und erhöht den Gesamteindruck von Hast, Schnelligkeit und Verwirrung.

In der Nähe der ›Läster-Spitze‹ – ein sehr bezeichnender Name – sind Felsen, auf denen man bequem sitzen kann, um nach der einen Seite hin den herrlichen Blick auf das Meer zu genießen und auf der andern die Menge der schön geschmückten Wagen bei der Hin- oder Rückfahrt vorbeirasseln und -jagen zu sehen; dort haben die Frauen wohlhabender Parsen in Gruppen Platz genommen, wahre Blumenbeete voll Farbenglanz, ein unwiderstehlich fesselndes Bild. Trab, trab, trab, kommt es die Straße entlang, einzeln, zu zweien, in Gruppen und Abteilungen – das sind Arbeiterscharen, Männer und Frauen, aber nicht gekleidet wie bei uns. Der Mann, meist eine große, stolze Athletengestalt, hat außer seinem Lendentuch nicht einen Fetzen an, seine Gesichtsfarbe ist dunkelbraun, auf der glatten Haut, die wie Atlas glänzt, treten die Muskeln in Wülsten hervor, als ob Eier darunter lägen. Die Frau ist gewöhnlich schlank und wohlgebildet, kerzengerade wie ein Blitzableiter und trägt nur ein Kleidungsstück – einen langen, hellfarbigen Stoffstreifen, den sie um Kopf und Leib windet, fast bis zu den Knieen herunter, und der sich so fest wie ihre eigene Haut an den Körper schmiegt. Füße und Beine sind nackt, desgleichen die Arme, bis auf die Gehänge von losen, verschlungenen Silberringen an den Armen und Fußgelenken. Auch in der Nase trägt sie Schmuck und glänzende Ringe an den Fußzehen. Beim Schlafengehen wird sie ihr Geschmeide wohl ablegen; mehr kann sie nicht ausziehen, sonst würde sie sich erkälten. Man sieht sie meist mit einem großen, schön geformten Wasserkrug von blankem Metall, den sie mit erhobenem Arm auf dem Kopfe festhält. Aufrecht, würdevoll und doch mit leichtem, anmutigem Gang kommt sie daher; ihr gebogener Arm und der blanke Krug erhöhen noch die malerische Wirkung und machen sie zu einer wahren Zierde für die Straße. Unsere Arbeiterfrauen können es ihr darin auch nicht entfernt gleichtun.

Farben, wohin man blickt, entzückende, bezaubernde Farben, rings umher und längs der gewundenen Straße an der großen, bunt schillernden Bucht, bis man das Haus des Gouverneurs erreicht. Dort stehen, den Turban auf dem Kopf, die großen Chuprassies, die eingeborenen Diener in ihren feuerroten Gewändern an der Eingangspforte gruppiert und bilden den theatralischen Schluß des prächtigen Schauspiels. O, wäre ich doch ein Chuprassy!

Ja, das ist Indien! Das Land der Romantik und der Träume, wo fabelhafter Reichtum und fabelhafte Armut wohnt, das Land der Pracht und Herrlichkeit, der Lumpen, der Paläste und elenden Hütten, der Pest und Hungersnot, der Schutzgeister und Riesen, wo Aladdins Lampe, Tiger, Elefanten, die Kobra, der Dschungel zu finden sind, wo hunderterlei Völker in hunderterlei Sprachen reden, das tausend Religionen und zwei Millionen Götter hat. Indien ist die Wiege des Menschengeschlechts, der Geburtsort der menschlichen Sprache, die Mutter der Geschichte, die Großmutter der Sage, die Urgroßmutter der Ueberlieferung; was für andere Völker graues Altertum ist, zählt zu Indiens jüngster Vergangenheit. Es ist das einzige Land unter der Sonne, das für den Fürsten und den Bettler, den Gebildeten und den Unwissenden, den Weisen und den Toren, den Sklaven und den Freien den gleichen, unzerstörbaren Reiz hat. Alle Menschen möchten es sehen, und wer es einmal auch nur flüchtig geschaut hat, würde die Wonne dieses Anblicks nicht für alles Schaugepränge eintauschen, das der gesamte übrige Erdball zu bieten vermag.

Selbst jetzt, nach Ablauf eines Jahres, ist mir die sinnverwirrende Freude jener Tage in Bombay noch vollkommen gegenwärtig, und ich hoffe, sie wird mich nie verlassen. Es war alles ganz neu und ungewohnt; auch warteten die Überraschungen nicht erst bis zum nächsten Morgen, sie waren da, sobald wir das Hotel betraten. In den Hallen und Vorsälen wimmelte es von braunen Eingeborenen mit Turban, Fez oder gestickter Mütze, die in baumwollenem Gewand barfuß durcheinander liefen oder ruhig auf dem Boden saßen und hockten. Einige schwatzten mit großem Nachdruck, andere saßen still und träumerisch da; im Speisezimmer stand hinter dem Stuhl jedes Gastes sein farbiger Aufwärter, angekleidet wie in einem Märchen aus ›Tausend und eine Nacht‹.

Unsere Zimmer waren nach vorn hinaus in einem oberen Stock. Ein Weißer – es war ein handfester deutscher – führte uns hinauf und nahm drei Hindus mit, um alles in Ordnung zu bringen. Etwa vierzehn andere folgten in langem Zuge mit dem Handgepäck; jeder trug nicht mehr als ein Stück, was es auch sein mochte. Ein starker Eingeborener trug meinen Ueberzieher, ein anderer einen Sonnenschirm, der dritte eine Schachtel Zigarren, der vierte einen Roman, und der letzte kam nur noch mit einem Fächer beladen daher. Sie taten das alles mit großem Ernst und Eifer; von vorn bis hinten war in dem ganzen Zuge auf keinem Gesicht ein Lächeln zu sehen. Jeder einzelne wartete, ruhig, geduldig und ohne die geringste Eile zu verraten, bis er ein Kupferstück erhielt, dann verneigte er sich ehrfurchtsvoll, legte die Finger an die Stirn und ging seiner Wege. Diese Leute scheinen sanften und milden Gemüts zu sein; es lag etwas Rührendes in ihrem Verhalten, das zugleich für sie einnahm.

Eine große Glastür führte zum Balkon hinaus. Sie sollte geputzt oder verriegelt werden – was weiß ich – und ein Hindu kniete auf dem Boden, um die Arbeit zu tun. Anscheinend machte er seine Sache ganz ordentlich, aber das mußte wohl nicht der Fall sein, denn die Miene des Deutschen verriet Unzufriedenheit, und ohne ein Wort der Erklärung schlug er den Hindu plötzlich derb ins Gesicht und sagte ihm dann erst, was er falsch gemacht hatte. Der Diener nahm die Züchtigung demütig und schweigend hin; auch zeigte weder sein Gesichtsausdruck noch sein Wesen überhaupt den geringsten Groll. Mir schien es eine wahre Schande, so etwas in unserer Gegenwart zu tun; seit fünfzig Jahren hatte ich solchen Auftritt nicht erlebt. Urplötzlich fühlte ich mich in meine Knabenzeit zurückversetzt und mir fiel ein, daß dies ja die gewöhnliche Art sei, wie man einem Sklaven seine Wünsche begreiflich machte – eine Tatsache, die mir ganz entfallen war. Damals hatte ich diese Methode richtig und natürlich gefunden, denn ich war von klein auf daran gewöhnt und glaubte, man mache das nirgends anders; aber ich erinnere mich recht gut, daß mir bei solchen stumm ertragenen Schlägen der Empfänger stets leid tat und ich mich für den Strafenden schämte. Mein Vater war ein edler, gütiger Mann, sehr ernst und enthaltsam, von strengster Gerechtigkeit und Redlichkeit, ein rechtschaffener Charakter durch und durch. Zwar war er nicht Mitglied irgend einer Kirche, sprach auch nie von religiösen Dingen und nahm an den frommen Freuden seiner presbyterianischen Familie keinen Anteil, doch schien er das nicht als Entbehrung zu empfinden. Er hat mich, so lange er lebte, nur zweimal körperlich gezüchtigt und gar nicht hart. Einmal, weil ich ihn belogen hatte – was mich höchlich überraschte und mir sein gutes Zutrauen bewies, denn es war keineswegs mein erster Versuch gewesen. Mich schlug er, wie gesagt, nur zweimal und seine anderen Kinder gar nicht; aber unsern kleinen gutmütigen Sklaven Lewis ohrfeigte er häufig für die geringfügigste Ungeschicklichkeit oder ein kleines Versehen. Mein Vater hatte von Geburt an unter Sklaven gelebt, und wenn er sie schlug, so tat er das nach damaliger Sitte, gegen seine Natur. – Als ich zehn Jahre alt war, sah ich einmal, wie ein Mann einem Sklaven im Zorn ein Stück Eisenerz an den Kopf warf, weil er etwas ungeschickt gemacht hatte – als ob das ein Verbrechen wäre. Es sprang von seinem Schädel ab, und der Mensch fiel hin, ohne einen Laut von sich zu geben. Nach einer Stunde war er tot. – Ich wußte wohl, daß der Herr das Recht hatte, seinen Sklaven zu töten, wenn er wollte, aber doch kam es mir erbärmlich vor und eigentlich unstatthaft, wiewohl ich nicht gescheit genug gewesen wäre, um zu erklären, was unrecht daran sei, wenn man mich gefragt hätte. Niemand in unserm Dorf billigte jene Mordtat, aber es war natürlich nicht viel davon die Rede.

Merkwürdig, wie der Gedanke Raum und Zeit überspringen kann! Eine Sekunde lang war mein ganzes Ich in dem kleinen Dorf von Missouri auf der andern Halbkugel der Erde; jene vergessenen Bilder von vor fünfzig Jahren standen mir lebendig vor Augen, und alles übrige versank gänzlich vor meinem Bewußtsein. In der nächsten Sekunde war ich schon wieder in Bombay, während die Backe des knieenden Dieners noch von der Ohrfeige brannte. Bis zur Knabenzeit – fünfzig Jahre – zurück ins Alter – abermals fünfzig, und ein Flug um den ganzen Erdball – alles in einem Zeitraum von zwei Sekunden!

Verschiedene Eingeborene – ich weiß nicht mehr wie viele – begaben sich nun in mein Schlafzimmer, brachten alles in Ordnung und befestigten das Moskitonetz. Dann legte ich mich zu Bett, um meine Erkältung rascher los zu werden. Es war etwa neun Uhr abends und an Ruhe gar nicht zu denken. Drei Stunden lang dauerte das Geschrei und Gekreisch der Eingeborenen in der Vorhalle noch ununterbrochen fort, auch das sammetweiche Getrappel ihrer behenden, nackten Füße hörte nicht auf. Nein, dieser Lärm! Alle Bestellungen und Botschaften wurden drei Treppen hinunter geschrieen; es klang wie Aufruhr, Meuterei, Revolution. Auch noch andere Geräusche kamen hinzu: von Zeit zu Zeit ein furchtbarer Krach, als ob Dächer einfielen, Fenster zerbrächen, Leute ermordet würden. Dann hörte man die Krähen krächzen, hohnlachen, fluchen; Kanarienvögel kreischten, Affen schimpften, Papageien plapperten, zuletzt erscholl wieder ein teuflisches Gelächter, gefolgt von Dynamitexplosionen. Bis Mitternacht hatte ich alle nur erdenklichen Schreckschüsse über mich ergehen lassen und wußte nun, daß mich nichts mehr überraschen und stören konnte – ich war auf alles gefaßt. Da trat plötzlich Ruhe ein – eine tiefe, feierliche Stille, die bis fünf Uhr morgens dauerte.

Dann ging der Spektakel aber von neuem los. Und wer hat ihn angefangen? Die indische Krähe, dieser Vogel aller Vögel. Mit der Zeit lernte ich ihn näher kennen und war dann ganz in ihn vernarrt. Ich glaube, er ist der durchtriebenste Spitzbube, der Federn trägt und dabei so lustig und selbstzufrieden wie kein anderer. Ein solcher Vogel konnte nicht mit einemmal zu dem geschaffen werden, was er ist: unvordenkliche Zeitalter haben an seiner Entwicklung gearbeitet. Er ist öfter wiedergeboren als der Gott Schiwa und hat bei jeder Seelenwanderung etwas zurückbehalten und es seinem Wesen einverleibt. Im Verlauf seines stufenweisen Fortschritts, seines glorreichen Vorwärtsschreitens zu schließlicher Vollendung, ist er ein Spieler gewesen, ein zuchtloser Priester, ein Komödiant, ein zänkisches Weib, ein Schuft, ein Spötter, ein Lügner, ein Dieb, ein Spion, ein Angeber, ein käuflicher Politiker, ein Schwindler, ein berufsmäßiger Heuchler, ein bezahlter Patriot, auch Reformator, Vorleser, Anwalt, Verschwörer, Rebell, Royalist, Demokrat; er hat sich überall eingemischt, sich unehrerbietig und zudringlich benommen, hat ein gottloses, sündhaftes Leben geführt, bloß weil es ihm das größte Gaudium machte. Und das Ergebnis der stetigen Ansammlung aller verwerflichsten Eigenschaften ist merkwürdigerweise, daß er weder Sorge, noch Kummer, noch Reue kennt; sein Leben ist eine einzige Kette von Wonne und Glückseligkeit, und er wird seiner Todesstunde ruhig entgegengehen, da er weiß, daß er vielleicht als Schriftsteller oder dergleichen wiedergeboren wird, um sich dann womöglich als noch größerer Schwerenöter behaglicher zu fühlen denn je zuvor.

Wenn die Krähe mit großen Schritten breitbeinig einherkommt, dann seitlich ein paar kräftige Hopfer macht, eine unverschämte, pfiffige Miene aufsetzt und den Kopf schlau auf die Seite legt, erinnert sie an die amerikanische Amsel. Doch ist sie viel größer und lange nicht so schlank und wohlgebaut; auch ihr schäbiger grau und schwarzer Rock hat natürlich nicht den herrlichen Metallglanz, in dem das Federkleid der Amsel prangt. Die Krähe ist ein Vogel, der nicht schweigen kann; er zankt, schwatzt, lacht, schnarrt, spottet und schimpft beständig. Seine Ansicht äußert er über alles, auch wenn es ihn gar nichts angeht, mit größter Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit. Er nimmt sich nicht erst Zeit nachzudenken, weil er keine Gelegenheit vorbeigehen lassen will, ohne seine Meinung zum Besten zu geben, selbst wenn es sich gerade um etwas ganz anderes handelt.

Ich glaube, die indische Krähe hat keinen Feind unter den Menschen. Sie wird weder von Weißen noch Mohammedanern belästigt, und der Hindu tötet schon aus religiösen Rücksichten überhaupt kein Geschöpf; er schont das Leben der Schlangen, Tiger, Flöhe und Ratten. Wenn ich an einem Ende auf dem Balkon saß, pflegten sich die Krähen auf dem Gitter am andern Ende zu versammeln und ihre Bemerkungen über mich zu machen; nach und nach flogen sie näher herzu, bis ich sie fast mit der Hand erreichen konnte. Da saßen sie und unterhielten sich ohne Scham und Scheu über meine Kleider, mein Haar, meine Gesichtsfarbe und vermutlich auch über meinen Charakter, Beruf und politischen Standpunkt, und wie ich nach Indien gekommen sei, was ich schon alles getan hätte, wie viele Tage mir zur Verfügung standen, warum ich noch nicht an den Galgen gekommen wäre, ob es mir noch lange glücken würde, dem Strick zu entgehen, ob es da, wo ich herkäme, noch mehr Leute meines Schlages gäbe, und so immer fort, bis ich es vor Verlegenheit nicht länger aushalten konnte und sie wegscheuchte. Darauf kreisten sie eine Weile in der Luft, unter Geschrei, Gespött und Hohngelächter, kamen dann wieder auf das Gitter geflogen und fingen die ganze Geschichte noch einmal von vorne an.

In wahrhaft überlästiger Weise zeigten sie aber ihre gesellige Neigung, wenn es etwas zu essen gab. Ohne daß man ihnen erst zuzureden brauchte, kamen sie auf den Tisch geflogen und halfen mir mein Frühstück verzehren. Als ich einmal ins Nebenzimmer ging und sie allein ließ, schleppten sie alles fort, was sie nur tragen konnten, und obendrein lauter für sie ganz nutzlose Dinge. Man macht sich keinen Begriff davon, in welcher Unzahl sie in Indien vorkommen, und der Lärm, den sie verursachen, ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, sie kosten dem Land mehr als die Regierung, und das ist keine Kleinigkeit. Doch leisten sie auch etwas dafür, und zwar durch ihre bloße Gegenwart. Wenn man ihre lustige Stimme nicht mehr zu hören bekäme, so würde die ganze Gegend einen trübseligen Anstrich erhalten.

Elftes Kapitel.

Elftes Kapitel.

Wer sich seiner Sittsamkeit rühmt, gleicht einer Statue mit dem Feigenblatt.

Querkopf Wilsons Kalender.

Die Reise nach Benares nahm nur wenige Stunden in Anspruch. Wir machten sie bei Tage; der Staub spottete aller Beschreibung – er legte sich in einer dicken, aschgrauen Schicht auf den Menschen und verwandelte ihn in einen Fakir, bei dem nur der Kuhdünger und die Heiligkeit fehlte. Nachmittags hatten wir in Mogul-Serai Warenwechsel – ich glaube, so heißt der Ort – und mußten zwei Stunden auf den Zug nach Benares warten. Wir hatten auch einen andern Wagen nehmen und nach der heiligen Stadt fahren können, aber dann wären wir um die schöne Wartezeit gekommen. In andern Ländern ist ein langer Aufenthalt auf einer Station unangenehm und ermüdend, aber in Indien hat man kein Recht, sich über Mangel an Unterhaltung zu beklagen. Das Gewimmel der Eingeborenen in ihrem bunten Schmuck, das Gedränge, das Leben, der Wirrwarr, der stets wechselnde Glanz der verschiedenen Trachten – wo fände man Worte, um diesen Anblick in seinem ganzen Zauber zu schildern! Die zweistündige Wartezeit verging nur allzu schnell. Ein besonders interessantes Schauspiel gewährte uns noch ein eingeborener kleiner Fürst aus den Hinterwäldern mit seiner Ehrengarde, einer Bande von fünfzig dunkeln Barbaren, zerlumpt aber sehr farbenprächtig und mit rostigen Feuersteingewehren bewaffnet. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß die bunte Mannigfaltigkeit des Gesamtbildes noch irgend welchen Zuwachs erhalten könnte, als aber dieser ›Falstaff mit seinen Gesellen‹ anmarschiert kam, trat alles andere dagegen in den Hintergrund.

Mit der Zeit fuhren wir ab und erreichten bald die Vorstädte von Benares, dann mußten wir wieder warten. Auch hier gab es etwas zu beobachten, nämlich eine Gruppe kleiner Palankins. An solchem Leinwandkasten hat man nicht viel zu sehen, wenn er leer ist; sitzt aber eine Dame darin, so erwacht unser Interesse. Die Kasten, welche etwas abseits standen, waren dreiviertel Stunden lang den erbarmungslosen Strahlen der Sonne preisgegeben. Ihre Insassen mußten kerzengerade darin ausharren, sie hatten keinen Raum, um ihre Glieder zu strecken; da es jedoch Haremsdamen waren, die ihr Lebtag in der Gefangenschaft ihres Frauengemachs schmachten müssen, so machte es ihnen vielleicht weniger aus. Wenn die Haremsdamen auf Reisen gehen, trägt man sie in solchen Leinwandkasten bis zur Bahn, und im Zuge werden sie vor allen Blicken verborgen. Viele Leute bedauern sie, und früher tat ich das auch ganz aus freien Stücken, doch jetzt zweifle ich stark, ob das Mitgefühl überhaupt angebracht ist. Während wir in Indien waren, machten einige gutherzige Europäer in einer Stadt den Vorschlag, man möchte den Haremsdamen einen großen Park zur Verfügung stellen, wo sie in sicherer Abgeschlossenheit unverschleiert umhergehen könnten, um sich an Luft und Sonnenschein zu erfreuen, wie noch nie in ihrem Leben. Obgleich man die wohlwollende Absicht nicht verkannte, welche dem Plan zu Grunde lag, so wurde er doch im Namen der Haremsdamen auf das entschiedenste abgelehnt. Sie hatten den Gedanken offenbar höchst anstößig gefunden, etwa wie wenn man Europäerinnen auffordern wollte, sich in mangelhafter und wenig anständiger Bekleidung in einem abgelegenen Privatpark zusammen zu finden. So verschieden sind die Begriffe von Schicklichkeit!

Major Sleeman schildert einmal die Entrüstung einer Dame aus vornehmer Kaste, als sie ein paar englische Mädchen unverschleiert über die Straße gehen sah. Der Anblick verletzte ihr Anstandsgefühl aufs tiefste und sie begriff nicht, wie jemand so schamlos sein könne, sich über alle Regeln hinwegzusetzen und seine Person auf solche Art zur Schau zu stellen. Dabei waren aber die Beine der sittlich empörten Dame bis weit über die Kniee entblößt. Kein Zweifel, sowohl die jungen Engländerinnen als die indische Dame waren die Lauterkeit und Sittsamkeit selbst; sie betrachteten die Sache nur von verschiedenem Standpunkt aus. Da es nun Millionen verschiedener Regeln über Sitte und Anstand gibt, so ist auch der Standpunkt der Menschen ein millionenfach verschiedener und keiner kann den seinigen ohne Schaden mit dem eines andern vertauschen. Ich glaube, alle menschlichen Regeln sind mehr oder weniger blödsinnig, aber das schadet nichts. Wie die Sachen jetzt stehen ist in den Irrenhäusern nur so viel Platz als man für die vernünftigen Menschen brauchen würde; wollten wir alle Verrückten einsperren, so würde uns bald das nötige Baumaterial mangeln. –

Man hat eine weite Fahrt durch die Vorstädte von Benares, ehe man das Hotel erreicht. Ueberall sieht es trübselig aus. Staubiges, dürres Land, zertrümmerte Tempel, eingesunkene Gräber, verfallene Lehmmauern, ärmliche Hütten; wohin man blickt Altersschwäche und Dürftigkeit. Zehntausend Hungerjahre sind vonnöten, um einen solchen Zustand hervorzubringen. Das Hotel sah recht behaglich aus, aber wir zogen vor, in einem etwas entfernten Nebenbau zu wohnen, der einstöckig war wie ein Bungalow und rings von einer Veranda umgeben. Es gibt zwar Türen in Indien, aber ich möchte wohl wissen wozu! Schließen kann man sie nicht, und gewöhnlich hängt ein Vorhang in der Oeffnung, zum Schutz gegen die grelle Sonne. Doch dringt hier niemand unbefugt in die Privatgemächer ein und man ist sicher, nicht gestört zu werden. Weiße Leute lassen sich natürlich vorher anmelden, und die eingeborenen Diener zählen nicht mit. Sie gleiten barfuß und geräuschlos herein und stehen mitten im Zimmer, ehe man sich’s versieht. Zuerst bekommt man einen Schreck und gerät manchmal in Verlegenheit, aber man muß sich darein finden und wird es mit der Zeit gewöhnt.

In unserm ›Compound‹, dem eingezäunten Hof, stand ein heiliger Feigenbaum, auf dem ein Affe wohnte. Für den Baum interessierte ich mich anfangs sehr, denn es war der berühmte ›Peepul‹, in dessen Schatten man keine Lüge sagen kann; er bestand jedoch die Probe nicht, und ich ging enttäuscht von dannen. Nicht weit davon war ein Brunnen, aus dem ein paar Ochsen stundenlang, unter leisem Knarren der Winde, Wasser heraufzogen; die Kleidung der beiden Hindus, welche dies Geschäft beaufsichtigten, bestand wie gewöhnlich aus ›Turban und Taschentuch‹. Außer dem Baum und Brunnen war im Hofe nichts zu sehen, und mir machte die vollkommene Ruhe und Einsamkeit nach dem ewigen Lärm und Gewirr den wohltuendsten Eindruck.

Wir bewohnten unser Bungalow ganz allein und gingen zu Tische in das Hotel, wo die übrigen Gäste abgestiegen waren. Angenehmer hätten wir es gar nicht haben können. Zu jedem Zimmer gehörte das gewöhnliche Bad, ein Raum von zehn bis zwölf Fuß im Quadrat, mit einer ausgemauerten und gepflasterten Vertiefung in der Mitte. Wasser gab es so viel man wollte und es wäre herrlich gewesen, hätte man nur bei der Hitze das warme Wasser ganz fortlassen und ein kaltes Bad nehmen dürfen, aber das war verboten, weil es der Gesundheit schädlich ist. Man warnt den Fremden davor, in Indien kalt zu baden; doch selbst die klügsten Fremden sind töricht genug, den guten Rat nicht zu befolgen und müssen es büßen. Ich war der klügste Tor, der in jenem Jahre des Weges kam. Zwar bin ich jetzt noch klüger – aber leider zu spät!

Benares hat mich nicht getäuscht. Es verdient seinen Ruf als große Sehenswürdigkeit. An einer tiefen Bucht des Ganges amphitheatralisch auf einem Hügel erbaut, den es ganz bedeckt, bildet es eine feste Masse, die nach allen Richtungen hin von labyrinthartig verschlungenen Spalten durchzogen wird, welche Straßen vorstellen. Mit seinen hohen schlanken Minarets und den beflaggten Tempelkuppeln und Spitzen gewährt die Stadt vom Fluß aus gesehen einen höchst malerischen Anblick. Es wimmelt darin wie in einem Ameisenhaufen; ein Wirrwarr ohne gleichen herrscht in den engen Straßen. Auch die heilige Kuh läuft dort nach Belieben umher, holt sich ihren Zehnten aus den Kornläden, ist überall im Wege und eine große Plage für alle Welt, weil man sie nicht belästigen darf.

Benares ist zweimal so alt wie die Geschichte, Ueberlieferung und Sage zusammengenommen. In Mr. Parkers klar und übersichtlich geschriebenem ›Führer durch Benares‹ steht, daß nach Anschauung der Hindus die Erschaffung der Welt dort ihren Anfang genommen hat. Mitten in das uferlose Meer stellte der gute Gott Wischnu ein aufrechtes ›Lingam‹ hin, das zuerst nicht größer war als ein Ofenrohr; allmählich erweiterte er es, bis es zehn Meilen im Durchmesser hatte. Da ihm aber das noch immer nicht genügte, baute er die ganze Erdkugel herum. Also liegt Benares in ihrem Mittelpunkt, und das wird als ein Vorzug angesehen.

Die Geschichte der Stadt ist sowohl in geistlicher als in weltlicher Beziehung höchst wechselvoll gewesen. Ursprünglich herrschten die Brahmanen dort viele Jahrhunderte lang, dann trat in neuerer Zeit, vor etwa 2500 Jahren Buddha auf, und während zwölf Jahrhunderten war Benares buddhistisch. Die Brahmanen bekamen jedoch abermals die Oberhand und haben sich seitdem nicht wieder verdrängen lassen. In den Augen der Hindus ist die Stadt unbeschreiblich heilig, aber sie ist auch ebenso ungesund und riecht ganz pestilenzialisch. Benares gilt als Hauptquartier des Brahmanismus, und die Priester bilden ein Achtel seiner Gesamtbevölkerung, doch sind ihrer nicht zu viel, da ganz Indien für ihren Unterhalt sorgt. Aus allen Himmelsgegenden drängen sich die Pilger herbei, um mit ihren Ersparnissen die Taschen der Priester zu füllen. Der Strom der frommen Spenden versiegt nie. So eine Priesterstelle am Ufer des Ganges ist der einträglichste Posten von der Welt. Ihr heiliger Inhaber sitzt sein Lebenlang in großem Staat unter seinem Regenschirm, segnet alle Pilger, steckt seine Gebühren ein und wird fett und reich dabei; die Stelle erbt sich von Vater auf Sohn weiter und weiter durch alle Zeiten hindurch und bleibt als dauernder, gewinnbringender Besitz in der Familie.

Als mir ein amerikanischer Missionar in Bombay sagte, die Zahl aller protestantischen Missionare in Indien beliefe sich auf 640, kam mir das zuerst sehr viel vor. Nachher überlegte ich mir die Sache. Ein Missionar auf 500 000 Eingeborene, das ist ja so gut wie nichts; wenn die 640 gegen das wohlverschanzte Lager von 300 000 000 anmarschieren, ist doch das Verhältnis gar zu ungleich, die Uebermacht zu groß. In Benares allein hatten 640 Missionare alle Hände voll zu tun, um gegen die 8000 Brahmanenpriester aufzukommen, die ihnen feindlich gegenüberstehen. Unsere Missionare haben von jeher in alle Teile der Welt eine starke Ausrüstung von Hoffnung und Vertrauen mitgenommen. Die besitzt auch Mr. Parker, sonst würde er nicht aus statistischen Angaben, welche andern Mathematikern höchst bedenklich erscheinen, so günstige Schlüsse ziehen. Er sagt zum Beispiel:

»Während der letzten Jahre haben die Scharen der Pilger fortwährend zugenommen, wie wir aus sicherer Quelle wissen. Aber diese religiöse Erweckung – wenn man den Ausdruck gebrauchen darf – trägt alle Spuren des Todes an sich. Es ist nur noch ein krampfhaftes Ringen, ehe die völlige Auflösung eintritt.«

Auf ähnliche Weise hat man bei uns seit Jahrhunderten den Untergang der römisch-katholischen Macht vorausgesagt. Oft schon waren wir ganz bereit sie zu Grabe zu tragen, und doch mußte die Bestattung aus allerlei Gründen – weil das Wetter zu schlecht war oder dergleichen – immer wieder verschoben werden. Durch diese Erfahrung klug geworden, sollten wir, meine ich, erst abwarten, bis sich der Leichenzug in Bewegung setzt, ehe wir den Hut in die Hand nehmen, um uns am Begräbnis des Brahmanismus zu beteiligen. Eine Religion zu Grabe zu tragen ist offenbar eine der ungewissesten Unternehmungen auf dieser Welt.

Gern hatte ich mir irgend welchen Begriff von der Theologie der Inder gemacht, aber die Sache war allzu verwickelt und die Schwierigkeiten unüberwindlich. Nicht einmal über das Abc kommt man hinaus. Es gibt eine Dreieinigkeit – Brahma, Wischnu und Schiwa – scheinbar von einander unabhängige Mächte, aber ganz sicher ist das nicht, denn in einem Tempel steht ein Bildwerk, das alle drei Gottheiten in einer Person zusammenfaßt. Jeder der drei Götter hat mehrere Benennungen, er hat auch Frauen mit verschiedenen Namen und Kinder, die bald so bald so heißen; dadurch entsteht eine heillose Verwirrung, aus der man sich in keiner Weise zurechtfinden kann. Ein Versuch, sich die Scharen der niederen Gottheiten einzuprägen, ist nicht der Mühe wert; ihre Unmenge ist allzu groß.

Will man sich einiges sparen, so könnte man füglich den obersten von allen Göttern, Brahma, ganz beiseite lassen, denn er scheint keine große Rolle in Indien zu spielen. Am meisten Verehrung genießen Schiwa und Wischnu nebst ihren sämtlichen Angehörigen. Schiwas Symbol, das ›Lingam‹, mit welchem Wischnu die Schöpfung begann, wird allgemein angebetet; man begegnet ihm in Benares auf Schritt und Tritt, das Volk bekränzt es mit Blumen und bringt ihm Gaben dar. Meist sieht es aus wie ein aufrecht stehender Stein in Form eines länglichen Fingerhuts und Mr. Parker sagt, daß es mehr ›Linga‹ als Einwohner in Benares gibt.

Die Stadt hat viele mohammedanische Moscheen, und Hindutempel ohne Zahl. Diese wunderlich geformten, mit reichen Steinornamenten versehenen Pagoden füllen alle Straßen. Aber auch der Ganges selbst, ja jeder einzelne Wassertropfen darin gilt als Heiligtum. Das Hauptprodukt von Benares, dieser heiligsten aller heiligen Städte, für welche der fromme Hindu eine unbegrenzte Liebe und Verehrung empfindet, ist Religion. Alle andern Erzeugnisse des Bodens oder Gewerbefleißes haben im Vergleich hierzu nicht die geringste Bedeutung.

»Wenn der Pilger,« sagt Mr. Parker, »der sich vor Alter und Müdigkeit fast nicht mehr auf den Füßen zu halten vermag, schweißtriefend, vom Staub geblendet und halbtot vor Erschöpfung, der Backofenhitze seines Eisenbahnwagens entsteigt und kaum den heiligen Boden berührt hat, so hebt er die abgezehrten Hände empor und ruft mit frommer Begeisterung: ›Kaschi ji ki jai – jai – jai! Heiliges Kaschi (Benares), sei mir gegrüßt! Heil, Heil dir!‹ Erwähnt ein Europäer in irgend einer fernen Stadt Indiens gelegentlich im Bazar, daß er früher einmal in Benares gewohnt hat, so werden gleich Stimmen laut, welche Glück und Segen auf sein Haupt herabwünschen. Denn, wer in Benares geweilt hat, ist der Seligste aller Sterblichen.«

Liest man diese rührende Beschreibung, so erscheinen dagegen unsere eigenen religiösen Gefühle farblos und kalt. Da nun aber die Religion ihr Leben aus dem Herzen schöpft und nicht aus dem Kopfe, so werden wir das von Mr. Parker angekündigte Begräbnis des Brahmanismus wohl noch auf unbestimmte Zeit vertagen müssen.

Zwölftes Kapitel.

Zwölftes Kapitel.

Wer einem Volk seinen Aberglauben vorschreibt, hat mehr Einfluß als wer ihm seine Gesetze macht, oder seine Gesänge.

Querkopf Wilsons Kalender.

Die Stadt Benares ist eine einzige große Kirche, eine Art religiöser Bienenstock, in dem jede Zelle als Tempel, Altar oder Moschee dient. In diesem großen theologischen Vorratshaus kann man sich alle nur erdenklichen irdischen oder himmlischen Güter verschaffen.

Ich will hier einen Wegweiser für den Pilger zusammenstellen, aus dem sich erkennen läßt, wie brauchbar, wie nützlich und vollständig dieses Religions-System ist. Wer mit dem ernstlichen Wunsch, seine geistliche Wohlfahrt zu fördern, nach Benares geht, wird es mir Dank wissen. Daß die Tatsachen, die ich angebe, richtig sind, unterliegt keinem Zweifel; ich habe sie teils in Mr. Parkers ›Führer durch Benares‹ gefunden, teils hat er sie mir bei unserer mündlichen Unterhaltung mitgeteilt.

1. Reinigung. – Bei Sonnenaufgang gehe zum Ganges hinab, bade dort, bete und trinke etwas Wasser. Dies dient zur allgemeinen Läuterung.

2. Schutz gegen den Hunger. Um dich im Kampf gegen dies traurige Erdenübel zu stärken, verrichte eine kurze Andacht im Tempel der Kuh. Am Eingang steht ein Bildnis von Ganesch, einem Sohne des Gottes Schiwa, das einen Elefantenkopf auf einem menschlichen Körper trägt, Gesicht und Hände sind aus Silber. Bete es an und gehe dann weiter auf eine bedeckte Veranda, in der roh geschnitzte, häßliche Götzenbilder stehen. Dort findest du Andächtige, die mit Hilfe ihrer Lehrer in den heiligen Büchern lesen. Gib eine Beisteuer zu ihrem Unterhalt und betritt dann den Tempel, einen düstern, übelriechenden Raum voll heiliger Kühe und Bettler. Letzteren spende ein Almosen und küsse allen Kühen, die frei herumlaufen, ehrfurchtsvoll den Schwanz, denn dieser ist ganz besonders heilig; tust du das, so wirst du an selbigem Tage keinen Hunger leiden.

3. Der Freund des armen Mannes. – Diesen Gott mußt du zunächst anbeten. Er wohnt im Grunde eines steinernen Brunnens im Tempel zu Dalbhyesvar, der im Schatten eines hohen Peepul-Baumes auf einem Felsvorsprung am Ganges steht. Gehe daher zum Fluß zurück. Der ›Freund des armen Mannes‹ ist der Gott weltlichen Glückes im allgemeinen und außerdem auch ein Regengott. Er wird dir irdische Güter gewähren, wenn du ihn anbetest, oder einen Regenguß – vielleicht auch beides. Er ist Schiwa unter fremdem Namen und weilt in Form eines steinernen ›Lingam‹ auf dem Grunde des Brunnens. Begieße ihn mit Gangeswasser und er wird dir zum Dank für die Huldigung seine Gaben spenden. Kommt der Regen nicht gleich, so gieße immer mehr Wasser in den Brunnen, bis er ganz voll ist. Dann bleibt der Regen gewiß nicht aus.

4. Fieber. Der Kedar Ghaut ist eine breite steinerne Treppe, die zum Fluß hinabführt. Auf halber Höhe findest du einen Behälter, in dem das Schmutzwasser zusammenläuft. Trinke davon soviel du willst, es vertreibt das Fieber.

5. Blattern. – Gehe von da geradeswegs nach dem Haupt-Ghaut. Stromaufwärts kommst du an ein kleines weißgetünchtes Gebäude; es ist ein Tempel, welcher der Göttin der Blattern, Sitala, geheiligt ist. Doch findest du nur ihre Stellvertreterin, dort hinter einem Metallschirm, eine rohe menschliche Gestalt, der du Anbetung erweisen sollst.

6. Der Schicksalsbrunnen. – Den suche zunächst auf. Er gehört zum Dandpan-Tempel, der in der Stadt liegt. Durch ein viereckiges Loch im Mauerwerk fällt von oben das Licht herein. Tritt mit scheuer Ehrfurcht herzu, denn es handelt sich hier um die wichtigsten Dinge. Beuge dich nieder und schaue hinein. Sind die Schicksalsgötter deinem Leben günstig, so erblickst du dein Antlitz tief unten im Brunnen. Haben sie dein Verderben beschlossen, so verhüllt plötzlich eine Wolke die Sonne und du kannst nichts sehen. Dann hast du kaum noch ein halbes Jahr zu leben. Vielleicht stehst du schon an des Todes Tür. Verliere keine Zeit, laß ab von dieser Welt, bereite dich auf das Jenseits. Dazu bietet sich dir die beste Gelegenheit dicht nebenan. Wende dich um und bete zu dem Bilde des großen Schicksalsgottes Maha Kal, das sichert dein Glück im künftigen Leben. Ist dein Atem noch nicht entflohen, so mache einen letzten Versuch, ob dir nicht eine kleine Verlängerung deines Lebens auf Erden gewährt wird. Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, denn in dem wundervoll eingerichteten Vorratshaus für weltliche und geistliche Güter kann man alles haben. Laß dich

7. – nach dem Lebensbrunnen tragen. Er ist im Vorhof des verfallenen ehrwürdigen Briddhkal-Tempels, der zu den ältesten Heiligtümern von Benares gehört. An einem Steinbilde des Affengottes Hanuman vorbei, gelangt man auf den mit Trümmern bedeckten Höfen zu einer seichten Zisterne mit stehendem Wasser. Sie riecht wie der beste Limburger Käse; der Schmutz von den Waschungen aller Kranken und Aussätzigen hat sich dort angesammelt. Aber was tut das? Bade dich darin mit Dank und Andacht, denn dies ist der Jungbrunnen, das ›Wasser des langen Lebens‹. Dein graues Haar wird verschwinden mit allen Runzeln; Gliederweh, Sorgenlast und Altersschwäche werden von dir abfallen; jung, frisch, elastisch, und begierig den Wettlauf des Lebens von neuem zu beginnen, entsteigst du dem Bade. Natürlich stürmen nun auch die mannigfachen Träume und Wünsche der holden Jugendzeit wieder auf dich ein. Deshalb gehe dahin, wo du

8. – die Erfüllung der Wünsche findest, nämlich in den Kemeschwar-Tempel, welcher Schiwa, dem Herrn der Wünsche geweiht ist und hole dir die Gewährung der deinigen. Liegt dir etwas an Götzenbildern, so kannst du dort in den zahllosen Tempeln genug zu sehen bekommen, um ein ganzes Museum auszustaffieren. Vermutlich wirst du nun mit neuem Eifer anfangen Sünden zu begehen; ich kann dir daher nur raten, häufig eine Stätte aufzusuchen, wo du 9. zeitweilige Reinigung von Sünden erhältst. Dies ist der Brunnen des Ohr-Rings, der weihevollste Ort in ganz Benares, das Allerheiligste in der Vorstellung des Volkes, dem man sich nur in tiefster Ehrfurcht nahen darf. Das Wasserbecken ist mit einem Gitter umgeben, zu dem steinerne Treppen hinabführen. Natürlich ist das Wasser nicht rein; wie wäre das möglich, da fortwährend Menschen darin baden. Wie lange man auch dort stehen mag, immer sieht man die Sünder in ununterbrochener Reihe hinab- und heraufsteigen. Mit Sünde beladen gehen sie hinunter und frei von Schuld kommen sie wieder herauf. »Der Lügner, der Dieb, der Mörder, der Ehebrecher, waschen sich hier und werden rein,« sagt Mr. Parker in seinem Buch. Gut, daß ich Mr. Parker kenne und glaube was er sagt; hatte jemand anderes das behauptet, so würde ich ihm raten, sofort ins Wasser hinunterzusteigen und sich tüchtig abzuwaschen. – Jugend, langes Leben, Sündenreinheit sind zwar köstliche Gaben, aber das ist noch nicht genug. Vor allem mußt du dich

10. deiner Seligkeit versichern. Das kannst du auf mancherlei Art. Erstens, wenn du im Ganges ertrinkst, aber das ist nicht angenehm. Oder du stirbst in Benares; dabei ist jedoch zu bedenken, daß du gerade außerhalb der Stadt sein könntest, wenn dein letztes Stündlein kommt. Am sichersten ist eine Wallfahrt rund um die Stadt. Du mußt sie barfuß machen und der Weg ist vierundvierzig Meilen lang, weil er eine Strecke weit über Land führt, so daß der Marsch wohl fünf bis sechs Tage dauern kann. An Gesellschaft wird es dir aber nicht mangeln. Scharen beglückter Pilger ziehen dieselbe Straße; der Farbenglanz ihrer Kleider gewährt dir ein schönes Schauspiel, auch erheitern ihre Loblieder und heiligen Triumphgesänge dir das Herz und lassen dich keine Ermüdung spüren. Von Zeit zu Zeit triffst du auf einen Tempel, wo du ausruhen und dich mit Speise erfrischen kannst. Ist deine Wallfahrt zu Ende, so hast du dir die Seligkeit sicher erworben. Aber du wirst ihrer doch vielleicht nicht teilhaftig, außer wenn du

11. deine Erlösung eintragen lässest. – Dies kannst du im Sakhi Binayak Tempel tun. Du darfst es ja nicht versäumen, weil du sonst nicht beweisen kannst, daß du die Pilgerfahrt wirklich gemacht hast, falls man es dir einst bestreiten sollte. Ueber der Tür dieses Heiligtums, das hinter dem Kuh-Tempel liegt, ist ein rotes Bildnis von Ganesch mit dem Elefantenkopf, dem Sohn und Erben des Gottes Schiwa, der sozusagen Kronprinz des theologischen Kaisertums ist. Der Gott im Tempel hat das Amt deine Wallfahrt einzutragen und sich für dich zu verbürgen. Ihn selber bekommst du zwar nicht zu sehen, aber ein Brahmane empfängt dich, besorgt dein Geschäft und läßt sich das Geld dafür auszahlen. Falls er letzteres vergißt, darfst du ihn daran erinnern. Er weiß jetzt, daß deine Seligkeit gesichert ist, aber natürlich möchtest du es auch gern selbst erfahren, dazu brauchst du nur

12. an den Brunnen zur Kenntnis der Seligkeit zu gehen. Er ist dicht beim Goldenen Tempel. Da steht ein Stier aus einem einzigen schwarzen Marmorblock gemeißelt und viel größer als irgend ein lebendiger Stier, der dir jemals vorgekommen ist; auch ein Bildnis von Schiwa wird dort gezeigt, eine große Seltenheit! Sein Lingam hast du vielleicht schon fünfzehntausendmal gesehen, aber dies hier ist Schiwa selbst und man sagt, das Porträt sei sehr ähnlich. Es hat drei Augen; so viele besitzt kein anderer Gott. Ueber dem Brunnen ist ein schöner steinerner Baldachin, der auf vierzig Säulen ruht; wie allenthalben in Benares, beten auch hier Scharen von andächtigen Pilgern. Das heilige Wasser wird ihnen eingelöffelt, und dabei durchströmt sie zugleich die klare und feste Zuversicht ihrer Erlösung. Man sieht es ihnen am Gesicht an, daß sie das höchste Glück gefunden haben, welches es auf Erden gibt, dem sich keine andere Freude vergleichen läßt. Wer das Wasser getrunken und seine Einzahlung gemacht hat, was sollte der noch begehren? Gold, Edelsteine, Macht oder Ruhm? – In einem Augenblick ist das alles nichtig und wertlos geworden und zu Staub und Asche zerfallen. Die Welt hat dem Menschen nichts mehr zu bieten, sie muß sich ihm gegenüber für bankerott erklären. –

Ich will nicht behaupten, daß alle Pilger ihre Andacht immer genau in der Reihenfolge verrichten, wie mein Wegweiser sie angibt, aber es wäre gar nicht so übel, wenn sie es täten. Sie hatten dann einige feste Anhaltspunkte, ein bestimmtes Ziel und brauchten ihre gottesdienstlichen Uebungen nicht aufs Geratewohl zu betreiben: Das Gangesbad am Morgen erregt des Pilgers Eßlust; sie vergeht ihm, wenn er die Kuhschwänze küßt. Nun sehnt er sich nach weltlichen Gütern; er eilt hin und gießt Wasser auf Schiwas Symbol. Das sichert ihm sein irdisches Glück, bringt ihm aber auch einen Regenschauer, von dem er das Fieber bekommt. Zur Heilung trinkt er das Schmutzwasser am Khedar Ghaut, das Fieber verläßt ihn, aber er bekommt die Blattern. Um zu wissen, welche Wendung es mit ihm nehmen wird, geht er zum Dandpan-Tempel und sieht in den Brunnen hinab. Die Sonne umwölkt sich, sie zeigt ihm, daß er dem Tode nahe ist. Was kann er da Besseres tun, als sich seine Seligkeit im Jenseits zu sichern? Das geschieht mit Hilfe des großen Schicksalsgottes. Nun ist ihm der Himmel gewiß, er wird daher vermutlich Sorge tragen, noch solange wie möglich auf Erden zu bleiben. In dieser Absicht geht er zum Briddhkal-Tempel und gewinnt Jugend und langes Leben durch ein Bad in der scheußlichen Pfütze, die selbst eine Mikrobe umbringen würde. Die Sündenlust erwacht mit der Jugend von neuem; er sucht den Tempel der ›Erfüllung der Wünsche‹ auf, um sein Verlangen zu stillen. Im Brunnen des Ohr-Rings reinigt er sich dann von Zeit zu Zeit von Sünden und stärkt sich zu ferneren verbotenen Genüssen. Da er aber ein Mensch ist, kann er sich der Zukunftsgedanken nicht entschlagen. Deshalb macht er die große Wallfahrt rund um die Stadt, sichert sich seine Erlösung, läßt sie eintragen und verschafft sich noch die persönliche Gewißheit seines künftigen Heils durch einen Gang nach dem Brunnen zur ›Kenntnis der Seligkeit ‹. – Nun ist er aller Sorgen ledig, er kann tun und lassen, was er will und genießt einen Vorzug, den er einzig und allem seiner Religion verdankt: Sollte er hinfort auch noch Millionen Sünden begehen, so schadet es nichts und niemand kann ihm etwas dafür anhaben.

So ist das ganze System klar und übersichtlich zusammengestellt und läßt an Vollständigkeit nichts zu wünschen übrig; ich möchte es allen empfehlen, denen die andern Religionen zu anspruchsvoll in ihren Forderungen erscheinen und zu beschwerlich für die kurze Spanne unseres mühevollen Erdenlebens.

Aber ich will niemand durch falsche Vorspiegelungen täuschen und so muß ich noch eines Umstands erwähnen, der in meinem Wegweiser fehlt. Trotz aller Mühe und Kosten, die sich der Pilger gemacht hat, kann sein ganzes Werk zu Schanden werden, wenn er zufällig auf das andere Ufer des Ganges gerät und dort stirbt. Er würde dann sofort wieder lebendig werden, jedoch in der Gestalt eines Esels. Gegen die Verwandlung in einen Esel hat der Hindu aber eine merkwürdige Abneigung – und doch wäre es für ihn gar kein schlechter Tausch. Er fände dadurch Erlösung aus der sklavischen Abhängigkeit von 2 000 000 Göttern und 20 000 000 Priestern, Fakirn, heiligen Bettlern und andern frommen Bazillen; auch der Hindu-Hölle könnte er entfliehen und desgleichen dem Hindu-Himmel. Würde sich der Hindu nur aller dieser Vorteile bewußt, er ginge sofort über den Ganges und stürbe am andern Ufer.

Benares ist ein religiöser Vulkan. In seinen Eingeweiden sind die theologischen Kräfte schon seit Jahrtausenden geschäftig; es donnert und grollt und kracht, es wühlt und erbebt, es brodelt und kocht, es flammt und raucht darin ohne Unterlaß. Am Fuß des Kraters aber haben kleine Gruppen von Missionaren voller Hoffnung Posten gefaßt. Sie gehören zu den Missionsgesellschaften der Baptisten, der Wesleyaner, der Londoner Mission, der Kirchenmission, der Zenana-Bibelmission und der Heilsmission. Die Haupterfolge erzielen sie in ihren Schulen unter den Kindern. Das ist auch sehr natürlich, denn erwachsene Menschen halten sich überall mit Vorliebe an das Religionsbekenntnis, in dem sie erzogen worden sind.