Ritters Geschichte.

Ritters Geschichte.

Gegen Ende des Jahres 186– brachte ich einige Monate in München zu. Im November war ich bei Fräulein Dahlweiner, Karlsstraße 1a, in Kost; meine Wohnung aber befand sich ein halbes Stündchen von dort entfernt, im Hause einer Witwe, welche an ledige Herren Zimmer vermietete und wo ich Gelegenheit fand, mich in der deutschen Sprache zu üben.

Eines Tages, während einer Wanderung durch die Stadt, besuchte ich eines der zwei Gebäude, wo die Obrigkeit die Leichname aufbewahrt und überwachen läßt, bis die Ärzte entscheiden, daß sie wirklich tot und nicht scheintot sind. Es war ein schauerlicher Ort, jener geräumige Saal. Mit den Rücken auf schrägen Brettern ausgestreckt, lagen sechsunddreißig Leichname von Erwachsenen in drei langen Reihen – alle mit wachsbleichen, starren Gesichtern, alle in weiße Leintücher gehüllt. An den Seiten des Saales waren tiefe Nischen, wie Bogenfenster, und in jeder lagen marmorbleiche Kinder, im ganzen vierzehn, – gänzlich verborgen und begraben unter Blumen; nur die Gesichter und die gekreuzten Hände waren zu sehen. Jede dieser fünfzig stillen Formen, groß und klein, hatte an einem Finger der rechten Hand einen Ring, von dem ein Draht zur Decke und von da zu einer Glocke in ein Wachtzimmer drüben ging, wo Tag und Nacht ein Wächter saß, um zur Hilfe herbeizueilen, sobald einer von jener bleichen Gesellschaft aus dem Todesschlaf erwachen und eine Bewegung machen sollte – denn jede, selbst die leiseste Bewegung bringt Draht und Glocke in Thätigkeit. Ich versetzte mich unwillkürlich in die Lage solch eines Totenwächters, der in einer stürmischen, finstern Nacht plötzlich aus dem Halbschlummer durch den Klang jenes unheimlichen Signals aufgeschreckt und bis ins tiefste Mark erschüttert wird. Wie – so fragte ich mich – wenn der Wächter beim Anblick des lebendig gewordenen Toten von einem Schlag getroffen würde? – und wenn dann der Mann, der eben noch ein Leichnam gewesen, seinem Totenwärter, der jetzt selbst im Verscheiden ist, liebreich Beistand leistete? Aber ich machte mir Vorwürfe an einem so feierlichen und traurigen Orte meine Phantasie mit so thörichten Fragen zu beschäftigen, und schlich von dannen.

Am nächsten Morgen erzählte ich der Witwe von meinem Besuch, worauf sie ausrief:

»Kommen Sie mit! Ich habe einen Zimmerherrn, der früher Leichenwärter dort war; der kann Ihnen über alles Auskunft geben.«

Er lag im Bette und sein Kopf war hoch auf Polster gebettet; sein Gesicht war abgezehrt und farblos; seine tief eingesunkenen Augen geschlossen; seine auf der Brust ruhende Hand sah aus wie eine Kralle, so knochig und langfingerig war sie. Die Witwe machte uns mit einander bekannt. Die Augen des Kranken öffneten sich langsam und funkelten grimmig aus ihren Höhlen; er runzelte finster die Stirne, erhob seine magere Hand und winkte uns gebieterisch weg. Die Witwe aber ließ sich dadurch nicht irre machen und sagte ihm, daß ich ein Fremder, ein Amerikaner sei. Das Gesicht des Kranken änderte sofort seinen Ausdruck, hellte sich auf und verriet eine lebhafte Neugierde; – im nächsten Augenblicke waren er und ich allein beisammen.

Ich begann in schwerfälligem Deutsch; er antwortete in fließendem Englisch; darauf ließen wir die deutsche Sprache fallen.

Dieser Schwindsüchtige und ich wurden gute Freunde. Ich besuchte ihn jeden Tag, und wir plauderten über alles Mögliche – ausgenommen Weiber und Kinder. Sobald jemands Weib oder Kind erwähnt wurde, erfolgte stets dreierlei: in den Augen des Mannes glänzte einen Moment das freundlichste, zärtlichste und liebevollste Licht; im nächsten Augenblick verschwand es und an seiner Stelle erschien jener grimmige Blick, den ich bemerkt hatte, als ich ihm zuerst in die Augen sah; und drittens enthielt er sich von nun an den ganzen Tag über gänzlich der Rede, lag schweigend, geistesabwesend und wie in Gedanken versunken da, nahm von meinem ›Adieu‹ keinerlei Notiz und sah und hörte offenbar nicht, wie ich das Zimmer verließ.

Als ich so zwei Monate lang der tägliche und einzige Vertraute Karl Ritters gewesen war, sagte er eines Tages plötzlich:

»Ich will Ihnen meine Geschichte erzählen!«

Das Bekenntnis eines Sterbenden.

»Ich habe nie weichgegeben, bis jetzt. Nun aber ist’s aus mit mir. Ich muß sterben und zwar bald. Sie bemerkten, daß Sie demnächst wieder an den Mississippi zurückzukehren gedächten; – dies zusammen mit einem seltsamen Erlebnis der letzten Nacht hat mich zu dem Entschluß gebracht, Ihnen meine Geschichte zu erzählen – denn Sie werden nach Napoleon in Arkansas kommen, und ich bitte Sie um meinetwillen, dort anzuhalten und etwas für mich zu thun – Sie werden es gewiß gern thun, wenn Sie meine Erzählung gehört haben.

Ich werde die Geschichte abkürzen, wo ich kann; es ist notwendig, denn sie ist lang. Sie wissen bereits, wie ich dazu kam, nach Amerika zu gehen und mich in jener einsamen Gegend im Süden niederzulassen; aber Sie wissen nicht, daß ich Weib und Kind hatte. Meine Frau war jung, schön, liebevoll und o! so göttlich gut, tugendhaft und edel! Und unser kleines Mädchen war die Mutter im kleinen. Wir waren die glücklichste aller glücklichen Familien.

Einstmals in der Nacht – es war gegen das Ende des Krieges – erwachte ich aus einer dumpfen Betäubung und fand, daß ich gebunden und geknebelt und die Luft mit Chloroform geschwängert war! Ich sah zwei Männer im Zimmer, von denen der eine dem andern in heiserem Tone zuflüsterte: »Ich sagte ihr, ich thue es, wenn sie Lärm mache, und was das Kind anbelangt, so – –«

Der andere unterbrach ihn mit leiser, weinerlicher Stimme:

»Du sagtest, wir wollten sie nur knebeln und berauben, aber nicht umbringen; sonst wäre ich nicht mitgegangen.«

»Hör‘ auf mit dem Gewinsel,« entgegnete der erstere; »ich mußte ja den Plan ändern, als sie aufwachten; du hast gethan, was du zu ihrem Schutze thun konntest, das laß dir genügen; und nun komm und hilf mir alles durchstöbern.«

Beide Männer waren maskiert und trugen grobe, zerlumpte ›Nigger‹-Kleider; sie hatten eine Blendlaterne bei sich, bei deren Lichte ich bemerkte, daß dem sanfteren der beiden Räuber der Daumen an der rechten Hand fehlte. Sie suchten eine Weile in meiner ärmlichen Hütte, dann flüsterte der Hauptbandit:

»Es ist Zeitverschwendung – er soll sagen, wo es versteckt ist. Nimm ihm den Knebel heraus und muntere ihn auf.«

»Ganz recht,« sagte der andere, »aber – keine Schläge!«

»Also keine Schlage – d.h. wenn er sich ruhig verhält.«

Sie näherten sich mir; da ließ sich plötzlich draußen ein Geräusch hören, der Schall von Stimmen und Pferdehufen; die Räuber hielten den Atem an und horchten; der Schall kam immer näher, und endlich hörte man einen Ruf:

»Heda, in dem Haus! Macht Licht, wir brauchen Wasser.«

»Des Hauptmanns Stimme, bei Gott!« sagte der größere der beiden Schurken, und beide Räuber flohen durch die Hinterthür.

Die Fremden riefen noch mehrmals und ritten dann weiter – es schien ein Dutzend Reiter zu sein – und ich hörte nichts mehr.

Ich bemühte mich aus allen Kräften, konnte mich aber nicht aus meinen Banden freimachen. Ich versuchte zu sprechen, aber der Knebel saß so fest, daß ich keinen Laut von mir geben konnte. Ich lauschte, um meines Weibes oder Kindes Stimme zu hören – lauschte lange und aufmerksam, aber kein Laut kam aus der andern Ecke des Zimmers, wo ihr Bett stand. Dies Schweigen wurde jeden Augenblick schrecklicher, unheilverkündender. Glauben Sie, daß Sie es eine Stunde lang ertragen hätten? Nein? Nun denn, so bemitleiden Sie mich, der ich deren drei auszuhalten hatte. Drei Stunden! – es waren drei Menschenalter! So oft die Uhr schlug, schien es mir, als ob Jahre verflossen wären, seit ich sie das letztemal gehört hatte! Während dieser ganzen Zeit mühte ich mich in meinen Banden ab, und endlich, gegen Tagesanbruch, gelang es mir loszukommen; ich stand auf und streckte meine steifen Glieder. Der Fußboden war mit allerlei Sachen bestreut, welche die Räuber während ihrer Suche nach meinen Ersparnissen umhergeworfen hatten. Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, war eines von meinen Papieren, das der rohere der beiden Schurken flüchtig betrachtet und dann weggeworfen hatte. Es trug die Fingerspuren des Mörders in blutiger Farbe! Ich wankte an das andere Ende der Stube. O, da lagen sie, die armen Wehr- und Hilflosen! Ihr Leiden war zu Ende, das meine hatte erst begonnen.

Ob ich das Gericht anrief? – Was hilft’s dem durstigen Armen, wenn der König für ihn trinkt? O nein, nein, nein – ich verschmähte die Einmischung des Gesetzes. Die Gesetze und der Galgen konnten diese Schuld nicht sühnen. Ich wollte den Schuldner schon finden und die Schuld eintreiben. Wie das anstellen, fragen Sie, da ich doch weder die Gesichter der Bösewichter gesehen, noch ihre unverstellte Stimme gehört, noch irgend eine Idee hatte, wer sie sein könnten? Nichtsdestoweniger war ich meiner Sache gewiß – ganz gewiß, ganz zuversichtlich – ich hatte eine Spur – eine Spur, auf die Sie vielleicht keinen Wert gelegt hätten – eine Spur, mit der selbst ein Detektiv nichts anzufangen gewußt hätte, weil er das Geheimnis, wie sie zu verwerten sei, nicht erriet. Doch, davon später. Zunächst wollen wir die Dinge in ihrer gehörigen Reihenfolge betrachten. Ein Umstand war vorhanden, der mir gleich zu Anfang einen Fingerzeig in einer bestimmten Richtung gab: Jene zwei Räuber waren offenbar als Landstreicher vermummte Soldaten, und zwar keine Neulinge mehr im Militärdienst, sondern alte Soldaten – wahrscheinlich von der Linie; sie hatten sich ihre militärische Haltung, Gebärden und Benehmen nicht in einem Tage oder Monat, noch in einem Jahr angeeignet. So dachte ich, sagte aber nichts. Und einer von ihnen hatte gesagt: »Des Hauptmanns Stimme, bei Gott!« – es war der, den ich suchte. In einer Entfernung von etwa einer Stunde lagerten mehrere Regimenter Infanterie und zwei Schwadronen Kavallerie. Als ich erfuhr, daß der Hauptmann Blakely von der 8. Schwadron in jener Nacht an unserem Hause vorbeigeritten war, und zwar mit einer Begleitung von zehn Mann, sagte ich nichts, beschloß aber, in jener Schwadron meinen Mann zu suchen. Im Gespräch bezeichnete ich die Räuber absichtlich beständig als Landstreicher, und unter dieser Klasse stellten die Leute nutzlose Nachforschungen an. Keiner außer mir beargwöhnte die Soldaten. Mit vieler Mühe flickte ich mir in nächtlicher Arbeit aus verschiedenen Tuchstücken und Kleiderfetzen eine Verkleidung zusammen; im nächsten Städtchen kaufte ich mir eine blaue Staubbrille. Als das Lager endlich aufgehoben und die dritte Schwadron zwanzig Meilen weiter nordwärts nach Napoleon beordert wurde, versteckte ich meinen kleinen Geldvorrat im Gürtel und machte mich in der Nacht auf den Weg. Als die dritte Schwadron in Arkansas ankam, war ich bereits dort; ja, ich war dort, in einem neuen Beruf – als Wahrsager. Ich befreundete mich mit allen dort liegenden Truppen und sagte allen ihre Zukunft voraus; meine Hauptaufmerksamkeit aber widmete ich der dritten Schwadron. Gegen die Leute dieser Schwadron war ich grenzenlos zuvorkommend; sie konnten keine Gefälligkeit von mir verlangen, mir nichts zumuten, dem ich mich nicht willig unterzogen hätte. Ich wurde die geduldige Zielscheibe ihrer oft rohen Spaße, und das erhöhte meine Popularität: ich wurde allgemein beliebt.

Ich entdeckte bald einen Gemeinen, dem ein Daumen fehlte – welche Freude für mich! Und als ich fand, daß ihm allein von allen Angehörigen der Schwadron der rechte Daumen fehlte, verschwand mein letzter Zweifel: ich war überzeugt, daß ich die rechte Spur gefunden hatte. Dieser Mann war ein Deutscher Namens Krüger, es waren neun Deutsche bei der Schwadron. Ich beobachtete Krüger, um seine etwaigen Vertrauten ausfindig zu machen; aber er schien keine besonders vertrauten Freunde zu haben. Von nun an wurde ich sein Vertrauter und gab mir alle Mühe, unsere Intimität so viel als möglich zu befestigen. Manchmal dürstete ich so nach Rache, daß ich mich kaum enthalten konnte, auf die Kniee zu fallen und ihn zu bitten, mir den Mann, der meine Lieben ermordet hatte zu nennen; aber es gelang mir, meine Zunge im Zaum zu halten. Ich wartete meine Zeit ab und fuhr fort wahrzusagen, wie die Gelegenheit sich bot.

Mein Geschäftsapparat war sehr einfach: ein bißchen rote Schminke und ein Stückchen weißes Papier. Kam einer zum Wahrsagen, so nahm ich seinen Daumenballen, bemalte ihn, nahm einen Abdruck davon auf dem Papier, studierte diesen in der Nacht und prophezeite am nächsten Morgen des Betreffenden Schicksal. Was ich mir bei diesem Unsinn dachte, fragen Sie? Nun, das Folgende: Als ich noch ein junger Mensch wer, kannte ich einen alten Franzosen, der dreißig Jahre lang Gefängniswärter gewesen war, und der mir gesagt hatte, jeder Mensch habe etwas an sich, was sich von der Wiege bis zum Grabe nie andere – die Linien im Daumenballen; und er hatte weiter gesagt, daß diese Linien sich niemals bei zwei Personen ganz genau gleich vorfänden. Heutzutage photographieren wir den angehenden Verbrecher und hängen sein Bild zum etwaigen späteren Gebrauch in der ‹Spitzbubengalerie‹ auf; jener Franzose aber pflegte seiner Zeit von jedem Neuangekommenen Gefangenen einen Abdruck des Daumenballens zu nehmen und diesen Abdruck zum späteren Gebrauch aufzubewahren. Er sagte immer, daß Bilder nichts taugen – spätere Verkleidungen könnten sie nutzlos machen. »Der Daumen ist das einzig sichere,« sagte er, »den kann man nicht verkleiden.« Und die Richtigkeit seiner Theorie erwies sich auch an meinen Freunden und Bekannten; seine Theorie hatte stets Erfolg.

Ich wahrsagte weiter. Jede Nacht schloß ich mich ganz allein ein und studierte die während des Tages erlangten Daumenabdrücke mit einem Vergrößerungsglas. Stellen Sie sich die verzehrende Begierde vor, mit der ich über den labyrinthartigen roten Spiralen brütete; neben mir jenes Papier aus meiner Hütte, das den Abdruck des Daumens und Zeigefingers des Mörders trug, gefärbt mit dem für mich teuersten Blute, das je auf Erden vergossen wurde! Wie oft mußte ich enttäuscht dieselbe Bemerkung wiederholen: »Werden sie denn nie übereinstimmen?«

Endlich aber wurde mein Warten belohnt; mein Lohn bestand in dem Daumenabdruck des 34. Mannes der dritten Schwadron, den ich untersucht hatte – des Gemeinen Franz Adler. Eine Stunde vorher kannte ich weder den Namen des Mörders, noch seine Stimme, Gestalt, Nationalität oder seine Züge; jetzt aber wußte ich das alles und glaubte meiner Sache sicher zu sein.

Am nächsten Morgen nahm ich Krüger beiseite, als er dienstfrei war; und an einem Orte, wo uns niemand sehen oder belauschen konnte, sagte ich eindringlich zu ihm:

»Ein Teil eures Schicksals ist so ernst und bedeutsam, daß ich es für das Beste hielt, es euch insgeheim zu sagen. Ihr und noch einer von eurer Schwadron, dessen Schicksal ich letzte Nacht erforschte, – der Gemeine Adler, – habt eine Frau und ein Kind ermordet! Ihr werdet verfolgt: innerhalb von fünf Tagen werdet ihr beide gemeuchelt werden.«

Ganz außer sich vor Schreck fiel er auf die Kniee nieder und stammelte fünf Minuten immer dieselben Worte wie ein Geistesabwesender, und in derselben weinerlichen Weise, deren ich mich von jener Mordnacht her noch so gut erinnerte:

»Ich that’s nicht – bei meiner Seele, ich that’s nicht; und ich wollte auch ihn davon abhalten – ich wollte es, Gott ist mein Zeuge. Er that es allein.«

Das war alles, was ich wissen wollte, und ich wollte mich nun des Elenden entledigen; er klammerte sich jedoch an mich und flehte mich an, ihn vor dem Meuchelmörder zu retten. Er sagte:

»Ich habe Geld – zehntausend Dollars – versteckt, die Frucht der Dieberei und Plünderung; rettet mich – sagt mir, was ich thun soll, und ihr sollt es haben – bis auf den letzten Pfennig. Zwei Drittel davon gehören meinem Vetter Adler; aber Sie dürfen meinetwegen alles nehmen. Wir versteckten es, sobald wir hieherkamen; aber ich versteckte es gestern an einem neuen Platz, ohne ihm etwas davon zu sagen – er soll es auch nie erfahren. Ich wollte desertieren und das Ganze mitnehmen. Es ist lauter Gold – zu schwer, um es mit sich zu schleppen; aber ein Weib, das ich ins Vertrauen gezogen, sollte mit dem Gelde nachfolgen. Ich hatte mit ihr verabredet, wenn ich keine Gelegenheit fände, ihr das Versteck zu beschreiben, so wollte ich ihr meine silberne Taschenuhr in die Hand gleiten lassen oder sie ihr senden; sie wüßte dann, woran sie wäre. Im Rücken des Uhrgehäuses sei ein Stück Papier, das alles Nötige besage. Hier nehmt die Uhr! Sagt mir, was ich thun soll!«

Er wollte mir durchaus seine Uhr aufdrängen, nahm das Papier heraus und erklärte es mir, als plötzlich Adler, etwa ein Dutzend Schritte von uns entfernt, auftauchte. Ich sagte zu dem armen Krüger:

»Steckt eure Uhr ein, ich will sie nicht. Ihr sollt nicht zu Schaden kommen. Geht jetzt; ich muß Adler wahrsagen. Ich werde euch bald wissen lassen, wie ihr dem Meuchelmörder entgehen könnt. Sagt Adler nichts von der Sache – auch keinem andern.«

Der arme Teufel entfernte sich, erfüllt von Furcht und Dankbarkeit. Ich wahrsagte Adler seine Zukunft – absichtlich so ausführlich, daß ich nicht ganz zu Ende kommen konnte; versprach, in der Nacht auf Wache zu ihm zu kommen und ihm den wahrhaft wichtigen Teil seiner Zukunft – den tragischen Teil, sagte ich – zu erzählen; wir müßten deshalb außerhalb des Bereiches von Horchern sein. Es wurde stets eine Feldwache außerhalb der Stadt aufgestellt, – bloß der Disziplin und Form wegen, da kein Feind in der Nähe war.

Ich erfragte die Losung, und gegen Mitternacht machte ich mich auf den Weg nach der einsamen Gegend, wo Adler auf Posten stehen sollte. Es war so dunkel, daß ich fast auf eine undeutliche Gestalt gestoßen Ware, noch ehe ich ein Wort hervorbringen konnte. Der Anruf des Postens und meine Antwort erfolgten in demselben Augenblick, ich fügte hinzu: »Ich bin’s – der Wahrsager.« Dann schlich ich mich an den Menschen heran und stieß ihm, ohne ein Wort zu sagen, meinen Dolch in das Herz! So, lachte ich, das war der tragische Teil deines Schicksals! Indem er vom Pferde fiel, griff er nach mir, und meine blaue Brille blieb ihm in der Hand; das Pferd galoppierte davon mit seinem toten Reiter. Ich floh durch die Wälder und entkam glücklich, die mich anklagende Brille in des Toten Hand zurücklassend.

Das war vor fünfzehn oder sechzehn Jahren. Seit dieser Zeit bin ich ziellos in der Welt umhergewandert, manchmal beschäftigt, manchmal müßig, manchmal mit, manchmal ohne Geld, aber immer des Lebens müde und den Tod herbeisehnend, denn meine Mission hienieden war mit jener nächtlichen That beendigt, und das einzige Vergnügen, der einzige Trost und die einzige Genugthuung, die ich in allen jenen langwierigen Jahren hatte, lag in dem täglichen Gedanken: »Ich habe ihn getötet!«

Vor vier Jahren begann meine Gesundheit mich im Stiche zu lassen. Ich war in meiner zwecklosen Weise nach München gewandert. Da ich ohne Geldmittel war, suchte ich Arbeit und fand sie auch; that ein Jahr lang treu meine Pflicht und erhielt die Stelle des Nachtwächters dort in jenem Leichenhause, das Sie kürzlich besuchten. Ich wanderte stundenlang unter jenen starren Leichnamen umher und sah in ihre bleichen Gesichter. Der Ort gefiel mir; er paßte zu meiner Gemütsstimmung. Ich war gerne bei den Toten – war gerne allein mit ihnen; je später die Stunde, desto ergreifender war es; die Stunden nach Mitternacht waren mir die liebsten. Manchmal schraubte ich die Gasflammen tiefer herab; das gab Perspektive, wissen Sie, und die Phantasie bekam freies Spiel; die trüben, im Hintergrund sich verlierenden Reihen der Toten erfüllten mich stets mit seltsamen fesselnden Vorstellungen. Vor zwei Jahren – ich war damals ein Jahr lang dort gewesen – saß ich ganz allein im Wachtzimmer (’s war eine stürmische Winternacht), erkältet, fast erstarrt, unbehaglich, und war nahe am Einschlafen; das Heulen des Windes und das Auf- und Zuschlagen ferner Fensterläden drang jeden Augenblick schwächer und schwächer an mein Ohr, als plötzlich jene Totenglocke über meinem Haupt ein Geläute begann, das mir das Blut in den Adern erstarren ließ. Die Erschütterung lähmte mich beinahe, denn es war das erstemal, daß ich die Glocke hörte.

Ich raffte mich zusammen und eilte in den Leichensaal. Etwa in der Mitte der äußern Reihe saß eine mit Leintüchern umwickelte Gestalt aufrecht da und neigte langsam den Kopf von einer Seite zur andern – ein schauerlicher Anblick! Er hatte mir die Seite zugewandt; ich eilte hinzu und sah ihm ins Gesicht: guter Gott! es war Adler!

Können Sie erraten, was mein erster Gedanke war? In Worte gebracht Folgender: »Es scheint also, du bist mir doch entkommen; diesmal soll es anders gehen!«

Jener Mensch litt offenbar unendliche Schreckensqualen. Stellen Sie sich vor: mitten in der lautlosen Stille aufzuwachen und eine grimme Totengemeinde zu überschauen! Welche Dankbarkeit glänzte in seinem knöchernen weißen Gesicht, als er ein lebendes Wesen vor sich sah! Und wie die Glut dieser stummen Dankbarkeit sich erhöhte, als seine Augen auf die lebenspendenden Stärkungsmittel fielen, die ich in den Händen trug! Und dann stellen Sie sich das Entsetzen vor, das über ihn kam, als ich diese Herzstärkungen wegstellte und höhnend sagte:

»Sprich doch, Franz Adler – ruf‘ diese Toren an. Sie werden dich ohne Zweifel hören und Mitleid mit dir hüben; sonst wirst du schwerlich jemand rühren.«

Er versuchte zu sprechen, aber jener Teil des Leintuchs, der seine Kinnladen zusammenhielt, hielt fest und erlaubte es ihm nicht. Er versuchte stehend die Hände zu erheben, aber sie waren ihm auf seiner Brust gekreuzt und zusammengebunden.

»Rufe doch, Franz Adler!« sagte ich, »daß die Schläfer in den fernen Straßen dich hören und Hilfe bringen. Rufe doch – und verliere ja keine Zeit, denn du hast wenig zu verlieren. Was? Du kannst nicht. Das ist schade; aber es macht nichts, denn es bringt ja doch nicht immer Hilfe. Als ihr, du und dein Vetter, in einer Hütte in Arkansas ein Weib und ein Kind ermordetet – mein Weib war’s und mein Kind! – da riefen sie auch um Hilfe, wie du dich erinnerst; aber es nützte nichts; du erinnerst dich dessen, – nicht wahr? Deine Zähne klappern ja – warum kannst du denn nicht rufen? Mache doch die Bandagen mit den Händen los – dann geht’s. Ah, ich sehe – deine Hände sind gebunden, sie können dir nicht helfen. Wie seltsam sich nach langen Jahren die Dinge wiederholen; denn auch meine Hände waren in jener Nacht gebunden, nicht wahr? Ja, fast ebenso gebunden wie die deinen – wie sonderbar das ist! Ich konnte mich nicht loszerren. Es fiel dir nicht ein, mich loszubinden, und mir fällt es nicht ein, deine Bande zu lösen. Pst! ein Fußtritt! er kommt hier vorüber. Horch, wie nahe er ist! Man kann die Schritte zählen – eins – zwei – drei. Da – es ist gerade da draußen. Jetzt ist es Zeit. Ruf‘, Mann, ruf‘! – es ist die allereinzige Gelegenheit zwischen dir und der Ewigkeit! Ah, du siehst, daß du zu lange gezögert hast – sie ist vorbei. Du – der Schall erstirbt; es ist aus! Denke daran – denke darüber nach – du hast zum letztenmale den Schall menschlicher Schritte gehört. Wie seltsam es sein muß, einem so gewöhnlichen Schall wie diesem zu lauschen und zu wissen, daß man nie wieder seinesgleichen hören wird!«

O, mein Freund, die Todesqual in jenem tücherumhüllten Gesicht zu sehen, war die höchste Wonne für mich! Ich erdachte eine neue Folter und wendete sie an, mit etwas lügenhafter Erfindung als Beihilfe.

»Der arme Krüger wollte mein Weib und Kind retten, zum Dank leistete ich ihm einen guten Dienst, als Zeit und Gelegenheit kamen. Ich beredete ihn, dich zu berauben, und ich und ein Weib halfen ihm, als er desertierte und brachten ihn in Sicherheit.«

Eine Miene des Triumphes gleichsam, und der Überraschung glänzte einen Augenblick trübe durch die Angst im Gesichte meines Opfers. Ich war erregt, beunruhigt, und sagte:

»Was hast du – entkam er denn nicht?«

Ein verneinendes Kopfschütteln.

»Nicht? Was geschah denn?«

Die Genugthuung in dem verhüllten Gesicht war noch deutlicher. Der Mann versuchte einige Worte zu murmeln – es gelang ihm nicht; versuchte mit den behinderten Händen etwas auszudrücken – auch das mißlang: wartete einen Augenblick und neigte dann in bedeutsamer Weise sein Haupt gegen den Leichnam, der ihm am nächsten lag.

»Tot?« fragte ich. »Entkam nicht? – wurde gefangen und erschossen?«

Verneinendes Kopfschütteln.

»Was dann?«

Wieder versuchte der Mann etwas mit den Händen zu thun. Ich beobachtete ihn genau, konnte aber seine Absicht nicht erraten; ich beugte mich über ihn und beobachtete ihn noch genauer. Er hatte einen Daumen herumgedreht und zeigte damit auf seine Brust.

»Ah – erstochen meinst du?«

Bejahendes Nicken, von einem so teuflisch-gespensterhaften Lächeln begleitet, daß ein grelles Licht in meinem stumpfen Gehirn aufblitzte und ich rief: –

»Hab‘ ihn also irrtümlich für dich gehalten und erstochen? denn jener Stoß war nur dir zugedacht.«

Der zum zweitenmale dem Tode geweihte Schurke nickte so zufrieden, als seine schwindende Kraft es auszudrücken vermochte. Ich begrub schluchzend das Gesicht in den Händen.

»O ich Elender!« rief ich, »der ich die mitleidige Seele erschlug, die als Freund zu meinen Lieben stand, als sie hilflos waren, und sie, wenn es möglich gewesen, gerettet hätte! O, ich Elender!«

Ich glaubte das dumpfe Gurgeln eines höhnischen Lachens zu hören; ich nahm die Hände vom Gesicht und sah, wie mein Feind auf sein schräges Brett zurücksank.

Sein Todeskampf währte eine befriedigend lange Zeit: er besaß eine wunderbare Lebenskraft, eine staunenswerte Konstitution. Ich holte mir einen Stuhl und eine Zeitung, setzte mich neben ihn und begann zu lesen. Gelegentlich nahm ich einen Schluck Branntwein: das war notwendig der Kälte wegen; ich that es aber teilweise, weil ich sah, daß er zuerst bei jedem Schluck erwartete, ich würde ihm auch ein wenig davon geben. Ich las laut: hauptsächlich erdichtete Berichte von Leuten, die durch einen Löffel voll Branntwein und ein warmes Bad vom Grabesrand zurückgerissen und dem Leben zurückgegeben wurden. Ja, er hatte einen recht langwierigen, harten Todeskampf – drei Stunden sechs Minuten von der Zeit an, da er die Glocke läutete.

Die schaurige Kälte des Leichensaales war mir durch Mark und Bein gedrungen; sie verursachte und beschleunigte einen Rückfall in die Krankheit, die mich schon öfter befallen hatte, aber bis zu jener Nacht immer wieder rasch vorüber gegangen war. Jener Mann mordete mein Weib und Kind, und in drei Tagen von heute an werde ich meinen Lieben nachfolgen. Thut nichts – Gott, wie köstlich ist die Erinnerung daran! – ich hatte ihn erfaßt, wie er seinem Grabe entfliehen wollte, und ihn wieder in dasselbe zurückgeworfen.

Nach jener Nacht war ich eine Woche lang an mein Bett gefesselt; sobald ich aber wieder auf den Beinen war, schlug ich in den Leichenhausbüchern die Adresse des Hauses auf, in dem Adler erkrankt war. Es war eine elende Herberge. Ich dachte, Adler werde als Krügers Vetter dessen Habseligkeiten in Besitz genommen haben. Ich wollte mir womöglich Krügers Uhr verschaffen. Aber während ich krank darniederlag, waren Adlers Sachen verkauft und überallhin zerstreut worden – alle bis auf einige alte Briefe und wertlose Kleinigkeiten. Mittels jener Briefe aber spürte ich einen Sohn Krügers auf – den einzigen Verwandter, den er hinterließ. Er ist jetzt ein Mann von dreißig Jahren, seines Zeichens ein Schuhmacher, ein Witwer mit mehreren kleinen Kindern, und wohnt zu Mannheim, Königsstr. Nr. 14. Ohne ihm einen Grund zu sagen, habe ich seitdem stets zwei Drittel zu seinem Lebensunterhalt beigesteuert.

Was nun jene Uhr angeht, so hören Sie nur, was für seltsame Dinge geschehen. Ich suchte länger als ein ganzes Jahr mit Mühe und Kosten in ganz Deutschland nach ihr – und fand sie endlich. Bekam sie und war unsäglich froh; öffnete sie und fand nichts drin. Hätte mir freilich sagen können, daß jenes Stückchen Papier nicht die ganze Zeit hindurch darin bleiben würde. Ich hatte damals die Uhr mitsamt dem Schatz verschmäht – jetzt hätte ich das Geld gerne für Krügers Sohn gehabt.

In der letzten Nacht fühlte ich, daß ich bald sterben würde. Ich verbrannte alle wertlosen Papiere; und siehe da! aus einem Briefbündel Adlers, das ich vorher nicht genau genug durchforscht hatte, viel jener langersehnte Zettel! Ich erkannte ihn augenblicklich; er lautete wie folgt:

»Pferdestall aus Backsteinen mit steinernem Fundament, Mitte der Stadt. Ecke der Orleansstraße und des Marktplatzes; Ecke gegen das Gerichtshaus zu – vierte Reihe, dritter Stein. Stecke Benachrichtigung dorthin mit der Angabe, wieviele kommen werden.«

Da, nehmen Sie’s, und heben Sie es gut auf. Krüger sagte mir, daß jener Stein entfernt werden könne und daß er in der nördlichen Mauer des Gebäudes sei, in der vierten Reihe von oben, der dritte Stein von Westen her. Das Geld sei dahinter versteckt. Er sagte, der Schlußsatz sei eine Finte um irrezuführen, falls das Papier in unrechte Hände geraten sollte. Diese Finte scheint Adler gegenüber ihren Zweck erreicht zu haben.

Und nun bitte ich Sie, wenn Sie Ihre beabsichtigte Reise den Mississippi hinab thun, dieses versteckte Geld ausfindig zu machen und an Adam Krüger unter der oben erwähnten Adresse zu senden. Es wird ihn zu einem reichen Manne machen, und ich werde sanfter ruhen in meinem Grabe, wenn ich weiß, daß ich mein Möglichstes gethan habe für den Sohn des Mannes, der mein Weib und Kind retten wollte – obgleich meine Hand ihn erschlug, wahrend der Antrieb meines Herzens dahin gegangen wäre, ihn zu beschirmen und ihm dienstlich zu sein.

*

»Das war Ritters Geschichte,« sagte ich zu meinen Freunden Rogers und Thompson, mit denen ich bald nach meiner Rückkehr von Europa den Mississippi hinabfuhr. Als ich geendet hatte, folgte eine tiefe, eindrucksvolle Stille, die beträchtliche Zeit dauerte; dann brachen beide in ein wahres Kreuzfeuer von erregten und bewundernden Ausrufen über die seltsamen Episoden der Erzählung aus, das anhielt, bis sie fast ganz außer Atem waren. Dann begannen meine Freunde kühler zu werden und sich unter dem Schutze gelegentlicher Salven in Schweigen und abgrundtiefe Träumerei zurückzuziehen. Etwa zehn Minuten lang herrschte Stillschweigen; dann sagte Rogers träumerisch –:

»Zehntausend Dollars,« und nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Zehntausend – ’s ist ein Haufen Geld.«

Gleich darauf fragte Thompson:

»Werden Sie es ihm sogleich senden?«

»Ja,« sagte ich. »Eine seltsame Frage!«

Keine Antwort. Nach einer Weile fragte Rogers zögernd:

»Alles? – Das heißt – ich meinte nur –«

» Gewiß, alles.«

Ich wollte mehr sagen, hielt aber inne, durch einen Ideengang dazu veranlaßt, der in mir auftauchte. Thompson sprach, aber meine Gedanken waren anderswo, und ich erfaßte nicht, was er sagte; doch hörte ich, wie Rogers antwortete:

»Ja, das scheint mir so. Es sollte vollständig genügen, denn ich finde nicht, daß er dabei etwas gethan hat.«

Sogleich fiel Thompson, der Dichter, ein:

»Bei Licht betrachtet, ist es mehr als genügend. Denke nur – fünftausend Dollars. Ei, er könnte das Geld in seinem ganzen Leben nicht ausgeben! Und es könnte ihm leicht schaden, ihn vielleicht zu Grunde richten – das ist wohl zu beachten. Wer weiß, wie lang es dauert, bis er alles durchgebracht hat? Dann macht er seine Bude zu, fängt vielleicht an zu trinken, mißhandelt seine Kinder, gerät auf andere Abwege und sinkt tiefer und tiefer – –«

»Ja, das ist’s,« unterbrach ihn Rogers voller Feuereifer, »ich habe das hundertmal – ja, öfter als hundertmal gesehen. Wenn du einen solchen Mann gänzlich zu Grunde richten willst, brauchst du ihm bloß Geld in die Hand zu geben; ja, gieb ihm nur Geld in die Hand – das ist alles, was dazu gehört; und wenn es ihn nicht herabzieht, ihm alle Würde, alle Selbstachtung u. s. w. raubt, dann kenne ich die menschliche Natur nicht – ist’s nicht so, Thompson? Und selbst wenn wir ihm ein Drittel davon geben; ei, in weniger als sechs Monaten – –«

»Weniger als sechs Wochen, sage lieber,« sagte ich, mich erwärmend und einfallend. »Wenn die dreitausend Dollars nicht in sicheren Händen wären, wo er sie nicht anrühren könnte, so würde er ebensowenig sechs Wochen damit reichen, als – –«

»Natürlich nicht,« sagte Thompson; »ich habe Bücher geschrieben für die Sorte von Leuten; sobald sie ihre Hände auf ein Besitztum legen – auf dreitausend Dollars etwa, oder auf zweitausend – –«

»Ich möchte wissen, was dieser Schuster mit zweitausend Dollars soll?« fiel Rogers ernsthaft ein; »ein Mann, der vielleicht jetzt dort in Mannheim, umgeben von seinesgleichen, ganz zufrieden ist; der sein Brot mit dem Appetit ißt, den Mühe und Fleiß allein geben können, und ehrlich, aufrichtig und reinen Herzens sich seines bescheidenen Daseins freut; und begnadet – ja, ich sage begnadet ist vor all‘ den vielen Tausenden, die in Sammet und Seide einhergehen und in dem hohlen, leeren Treiben der Gesellschaft umhergewirbelt werden – aber man führe diesen Mann nur einmal in Versuchung, lege nur fünfzehnhundert Dollars vor ihn hin und – –«

»Fünfzehnhundert Teufel!« rief ich, » fünfhundert würden seine Grundsätze ausrotten, seinen Fleiß lähmen und ihn in den Schnapsladen zerren, von da in die Gosse, von da ins Armenhaus, von da in – –«

»Weshalb uns dieses Verbrechen aufbürden, meine Herren?« unterbrach mich der Poet ernst und stehend. »Er ist glücklich, wo und wie er ist. Jedes Gefühl der Ehre, der Menschenliebe und des hohen, heiligen Wohlwollens ermahnt, bestürmt und befiehlt uns, ihn in Ruhe zu lassen. Das ist echte, wahre Freundschaft.«

Nach einigem weiteren Geplauder wurde es indessen ersichtlich, daß jeder von uns in seinem innersten Herzen einige Zweifel bezüglich dieser Erledigung der Sache hegte. Wir fühlten offenbar alle, daß wir dem armen Schuster irgend etwas senden sollten. Dieser Punkt wurde lange erwogen, und endlich beschlossen, daß wir ihm ein Farbendruckbild senden wollten.

Nun aber, da alles ganz zur Zufriedenheit geordnet schien, tauchte eine neue Schwierigkeit auf: es wurde mir klar, daß die beiden erwarteten, ich werde das Geld zu gleichen Stücken mit ihnen teilen. Das fiel mir gar nicht ein; ich sagte, sie könnten von Glück sagen, wenn sie zusammen die Hälfte bekämen. Rogers sagte darauf:

»Wer würde überhaupt etwas erhalten haben, wenn ich nicht gewesen wäre? Ich machte die erste Andeutung – sonst hätte der Schuster alles bekommen.«

Thompson sagte, daß er in demselben Augenblicke daran gedacht hätte, als Rogers die erste Andeutung machte.

Ich erwiderte, daß mir der Gedanke bald genug und ohne jede Beihilfe gekommen sei, »Ich denke vielleicht langsam,« sagte ich, »aber auch sicher.«

Unsere Erörterung entwickelte sich zu einem Zank, dann zu einem Faustkampf, bei dem wir alle stark mitgenommen wurden. Sobald ich mein Äußeres wieder einigermaßen präsentabel gemacht hatte, begab ich mich (in recht verdrießlicher Stimmung) aufs Oberdeck. Dort fand ich den Kapitän und redete ihn so freundlich wie möglich folgendermaßen an:

»Ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen, Kapitän; ich möchte bei Napoleon landen.«

»Wo landen?«

»Bei Napoleon.«

Der Kapitän lachte, da er aber sah, daß ich nicht zum Scherzen aufgelegt war, fügte er ernster werdend hinzu:

»Ist das Ihr Ernst?«

»Mein voller Ernst.«

Der Kapitän blickte zum Lotsenhaus hinauf und sagte:

»Er will bei Napoleon landen!«

»Bei Napoleon

»So sagt er.«

»O Geist des großen Cäsar!«

Der Lotse kam auf uns zu, und der Kapitän sagte:

»Onkel, unser guter Freund hier will bei Napoleon landen.«

»Na, da – –«

»Nun, was soll das?« unterbrach ich ihn. »Kann man denn bei Napoleon nicht ans Ufer gehen, wenn man will?«

»Ei, zum Henker, wißt Ihr’s denn nicht? Es giebt kein Napoleon mehr, seit Jahren nicht mehr. Der Arkansas River brach durch, riß alles in Stücke und schwemmte es in den Mississippi!«

»Nahm die ganze Stadt mit? – Banken, Kirchen, Gefängnisse, Zeitungsdruckereien, Gerichtshaus, Theater, Feuerversicherungsgebäude, Mietställe – alles

»Alles. Just das Werk einer Viertelstunde. Ließ weder Haut noch Haar, weder einen Stein oder Balken noch einen Dachziegel übrig – einen Schuppen und einen Kamin aus Backsteinen ausgenommen. Das Boot hier fährt jetzt gerade da, wo die Mitte der Stadt war; dort ist der Kamin – alles, was von Napoleon übrig ist. Diese dichten Wälder zur Rechten waren sonst eine gute Stunde hinter der Stadt, Seht euch einmal um – blickt stromaufwärts – nicht wahr,, jetzt erkennt ihr die Gegend nach und nach wieder?«

»Ja, ich erkenne sie jetzt. Das ist das Wunderbarste, was ich je gehört habe – weitaus das Wunderbarste und – Unerwartetste.«

Mittlerweile waren meine Freunde Thompson und Rogers mit ihren Ränzchen und Regenschirmen angekommen und hatten dem Kapitän schweigend zugehört. Thompson drückte mir einen halben Dollar in die Hand und sagte leise:

»Für meinen Anteil an dem Farbendruck.«

Rogers folgte seinem Beispiel.

Ja, es war erstaunlich, den Mississippi zwischen unbevölkerten Ufern und gerade über den Ort sich hinwälzen zu sehen, wo ich vor zwanzig Jahren eine gute, große, behäbige Stadt zu sehen gewohnt war – eine Stadt, die der Hauptort eines umfangreichen und blühenden Bezirks war; eine Stadt, wo ich das hübscheste und liebreizendste Mädchen aus dem ganzen Mississippithal gekannt hatte; – jetzt keine Stadt mehr, verschlungen, verschwunden, eine Beute der Fische! nichts übrig als ein Stück von einem Schuppen und ein verfallender Backsteinschlot!

Und wo sind die zehntausend Dollars?

Der Mann, der bei Gadsby’s abstieg.

Der Mann, der bei Gadsby’s abstieg.

Im Winter 1867 ging ich einmal mit meinem originellen Freund Riley, der, wie ich, Zeitungskorrespondent in Washington war, die Pennsylvania-Avenue hinunter. Mitternacht war fast vorüber und ein heftiger Schneesturm blies uns ins Gesicht, als wir beim Schein einer Straßenlaterne einen Mann erblickten, der uns entgegengelaufen kam.

Als er unserer ansichtig wurde, blieb er stehen und rief: »Das trifft sich ja prächtig! Sie sind Herr Riley, nicht wahr?«

Riley besaß mehr Ruhe und Kaltblütigkeit als irgend jemand in der ganzen Republik. Er stand still, betrachtete den Mann von Kopf bis zu Fuß und sagte endlich:

»Mein Name ist Riley! Wünschen Sie vielleicht etwas von mir?«

»Jawohl,« sagte der Mann voller Freude, »und ich bin überglücklich, Sie gefunden zu haben! Ich heiße Lykins und bin Lehrer am Gymnasium in San Francisco; die dortige Postmeisterstelle ist vakant, ich hab‘ mich darum beworben, und deshalb bin ich jetzt hier.«

»Ja,« sagte Riley langsam und bedächtig, – »wie Sie ganz richtig bemerken, Herr Lykins, sind Sie jetzt hier! Und haben Sie die Stelle bekommen?«

»Noch nicht, aber ich bin auf dem besten Wege dazu. Das Gesuch, das ich einreichen will, trägt die Unterschriften des Vorstands für Volksunterricht, sowie sämtlicher Lehrer, und noch zweihundert anderer Personen. Ich wollte Sie nun fragen, ob Sie die Güte hätten, mich zu der betreffenden Zivilbehörde zu begleiten, um meine Überweisung auf den Posten ausfertigen zu lassen, denn ich möchte mit, dieser Angelegenheit so schnell wie möglich fertig werden, und bald wieder zu Hause sein.«

»Wenn die Sache so dringend ist,« versetzte Riley in einem Ton, aus dem nicht jeder den Spott herausgehört hätte, »so wäre es Ihnen wohl angenehm, wenn wir den Beamten noch heute abend aufsuchten?«

»Jawohl, heute abend auf jeden Fall, ich habe nicht Zeit, mich lange herumzutreiben. Noch heute, ehe ich zu Bette gehe, muß ich die Zusage haben – ich bin kein Mann von Worten, sondern von Thaten!«

»Sehr wohl, – und da sind Sie hier am rechten Platze. – Wann sind Sie angekommen?«

»Gerade vor einer Stunde.«

»Und wann gedenken Sie wieder abzureisen?«

»Morgen abend nach New-York und tags darauf nach San Francisco!«

»Ganz recht, – und was wollen Sie morgen den Tag über thun?«

»Nun, da muß ich mich doch mit dem Gesuch und der Überweisung zum Präsidenten begeben, um seine Unterschrift zu erhalten, nicht wahr?«

»Jawohl, – das ist ganz richtig, ganz in der Ordnung, – und was dann?«

»Dann gehe ich um zwei Uhr nachmittags in die Senatssitzung und hole mir die Bestätigung, das ist der letzte Schritt.«

»Freilich, – freilich,« sagte Riley wohlbedächtig, »da haben Sie wieder ganz recht! Dann benutzen Sie den Abendzug nach New-York und am nächsten Morgen das Dampfboot nach San Francisco.«

»So ist es – ganz wie ich mir die Sache überlegt habe.«

Riley dachte eine Weile nach, dann sagte er:

»Könnten Sie nicht vielleicht einen – oder zwei Tage länger bleiben?«

»Bewahre, das wäre ganz gegen meine Grundsätze; ich kann nicht lange herumbummeln, – ich bin ein Mann der That, wie ich Ihnen schon sagte.«

Mitten im heulenden Sturm und dichtesten Schneewirbel stand Riley einige Sekunden regungslos da, augenscheinlich in tiefes Nachdenken versunken; – dann blickte er auf und sagte:

»Haben Sie wohl je von dem Manne gehört, der eines Tages bei Gadsby’s abstieg? – Aber ich sehe schon, daß Sie nichts von ihm wissen!«

Damit drängte er Herrn Lykins gegen ein eisernes Gitter, hielt ihn am Knopfloch fest und – wie Coleridges alter Matrose – bannte er ihn auf die Stelle durch den Blick seines Auges. Dann begann er seine Erzählung, so friedlich und seelenruhig, als lägen wir alle behaglich auf einer blumigen Sommerwiese ausgestreckt, anstatt um Mitternacht vom Wintersturm durchgeblasen zu werden.

»Ich will Ihnen von dem Mann erzählen: es war zur Zeit des Präsidenten Jackson und Gadsby’s das erste Hotel der Stadt. – Eines Morgens um neun Uhr kam dort ein prächtiger vierspänniger Wagen vorgefahren; auf dem Bock sah ein schwarzer Kutscher und ein wunderschöner großer Hund lief nebenher. Wirt, Kellner und Hausknecht stürzten herbei, den neuen Ankömmling zu empfangen. Dieser, ein Herr aus Tennessee, sprang eiligst heraus, befahl dem Kutscher zu warten, sagte, er habe keine Zeit, erst noch etwas zu essen, – er wolle nur eine kleine Schuldforderung bei der Regierung einkassieren und daher schnell auf das Schatzamt gehen, um das Geld zu holen; dann müsse er direkt wieder nach Tennessee zurück, da er große Eile habe.

Um 11 Uhr abends kam er wieder, ließ die Pferde in den Stall bringen, bestellte ein Zimmer und meinte, er werde die Forderung am nächsten Morgen einkassieren. Dies geschah an einem Mittwoch, den 3. Januar 1834. Am 5. Februar verkaufte er den schönen Wagen und schaffte sich einen billigen, schon gebrauchten an; – er meinte, darin könne er das Geld ebenso gut mitnehmen, und auf vornehmes Aussehen lege er kein Gewicht. Am 11. August verkaufte er das eine Paar Pferde, indem er bemerkte, es sei doch bequemer mit zwei Pferden über das steile Gebirge zu fahren, weil dabei große Vorsicht nötig sei; auch werde das Geld, das er bekäme, nicht zu schwer für einen Zweispänner sein. Am 13. Dezember verkaufte er das dritte Pferd und meinte, jetzt bei dem klaren trockenen Winterwetter seien die Straßen in so gutem Zustand, daß ein Pferd das alte Fuhrwerk schnell genug vorwärts bringen könne. – Am 17. Februar 1335 verkaufte er den alten Wagen und schaffte sich einen leichten Einspänner an, den er billig bekam. Er meinte, die Wege seien jetzt vom Frühlingsregen so aufgeweicht, daß jedes andere Gefährt zu tief einsinken würde, auch habe er schon immer gern versuchen wollen, wie es sich in einem Einspänner über die Berge fahren lasse. – Am 1. August vertauschte er den Einspänner gegen eine kleine Chaise, die schon lange im Gebrauch war, und meinte, er freue sich ordentlich darauf, wie seine lieben Landsleute in Tennessee Mund und Augen aufsperren würden, wenn er in einer Chaise dahercarriolt käme, so etwas hätten sie gewiß ihr Lebtag nicht gesehen.

Am 29. August verkaufte er auch seinen schwarzen Kutscher und meinte, auf seiner Chaise sei ja gar nicht Platz für zwei, da könne er keinen Kutscher brauchen, – es sei ein reiner Glücksfall, daß er einen Käufer gefunden, der dumm genug gewesen, 900 Dollars für einen Neger von so zweifelhafter Qualität zu bezahlen, – er sei den Kerl längst gern los gewesen, habe ihn aber doch nicht um ein Spottgeld hergeben mögen.

Anderthalb Jahre später, am 15. Februar 1837, verkaufte er die Chaise, schaffte sich einen Sattel an und meinte, der Doktor habe ihm schon mehrmals gesagt, wie gut ihm das Reiten bekommen würde, außerdem würde es ja die reinste Thorheit sein, mitten im Winter eine Fahrt durch das Gebirge zu riskieren.

Am 9. April verkaufte er den Sattel und meinte, bei den schmutzigen schlechten Wegen im April sei so ein Sattel doch ein erbärmliches Ding, mit dem alle Augenblicke etwas passieren könne; auf dem Pferderücken fühle er sich noch einmal so sicher, und warum solle er sein Leben unnütz aufs Spiel setzen?

Am 24. April verkaufte er sein Pferd und meinte: »Heute ist gerade mein siebenundfünfzigster Geburtstag, – ich bin gesund und frisch und kann mir nichts Angenehmeres denken, als eine Fußtour über die Berge, in ihrem jungen Frühlingsgrün; es wäre eine wahre Sünde, wenn ich die Gelegenheit dazu versäumte, um bei dem herrlichen Wetter aufs Pferd zu steigen! Wenn meine Forderung einkassiert ist, kann ja der Hund das kleine Bündel mit Leichtigkeit tragen. Morgen in aller Frühe will ich mich aufmachen und nach einem donnernden Lebewohl bei Gadsby’s auf Schusters Rappen nach Tennessee marschieren.«

Am 22. Juni verkaufte er seinen Hund und meinte: »wenn man so im Sommer durch Berg und Wald schweift, ist einem ja ein Hund überall im Wege, er jagt nach Eichhörnchen, bellt Tier und Menschen an, verläuft sich bald hier, bald dort, gerat in Bäche und Pfützen und läßt einen keinen Augenblick die schöne Natur in Ruhe genießen! Wenn ich mein Geld selber trage, ist es ohnehin viel sicherer. Auf einen Hund ist in Geldsachen kein Verlaß, – das weiß man aus Erfahrung! Na, lebt wohl, alte Jungens, – dies ist mein letzter Besuch, – morgen mit dem frühesten bin ich über alle Berge und auf festen Sohlen nach Tennessee unterwegs!« –

Es entstand eine Pause, – nur der Wind heulte, und der Schnee fiel in dichten Flocken. Endlich sagte Lykins ungeduldig:

»Nun, und was weiter?«

Riley versetzte:

»Ja, – das war vor dreißig Jahren!«

»Gut, gut, – aber was soll das?« –

»Der alte Herr ist mein guter Freund, er besucht mich jeden Abend, um Abschied zu nehmen. Vor einer Stunde war er bei mir und morgen früh macht er sich nach Tennessee auf – wie gewöhnlich, – er meinte, er werde seine Forderung einkassiert haben und auf und davon sein, ehe solche Nachteulen, wie ich, sich den Schlaf aus den Augen reiben. Er hatte Thränen in den Augen vor Freude, daß er nun bald seine alte Heimat und seine Freunde wiedersehen werde!« –

Es folgte eine abermalige Pause, die der Fremde unterbrach:

»Ist die Geschichte zu Ende?«

»Ja, das ist alles!«

»Sie war auch lang genug, bei dieser Nachtzeit und in solchem Wetter. Aber was wollen Sie denn damit sagen?«

»O, nichts Besonderes!«

»Ich meine, was soll sie eigentlich bedeuten?«

»Eine besondere Bedeutung hat sie nicht, – ich dachte nur so, daß, wenn Sie nicht in gar zu großer Eile sind, mit Ihrer Anstellung als Postmeister nach San Francisco zurückzukommen, so würde ich Ihnen raten, bei Gadsby’s abzusteigen, und sich Zeit zu nehmen. Leben Sie wohl, ich wünsche Ihnen recht viel Glück!«

Dabei wandte sich Riley mit freundlicher Miene zum Gehen und ließ den verblüfften Schullehrer regungslos unter der Straßenlaterne stehen, die ihren hellen Schein auf den von Schneeflocken ganz weißen Mann warf. –

Die Postmeisterstelle hat er aber nie erhalten.

Siebentes Kapitel

Siebentes Kapitel

Goldgräber.

Das eben geschilderte Thal des Sacramento war der Schauplatz der ersten und ergiebigsten Goldgräbereien. Noch jetzt sieht man viele Stellen in der Ebene und am Bergabhang, wo die Habgier jener Zeit das Erdreich aufgewühlt und ausgehöhlt hat, um nach Beute zu suchen; solche Verunstaltungen der Gegend findet man in Kalifornien weit und breit. Man kommt auch durch Strecken, wo sich jetzt nur Wiesen und Wälder ausdehnen, wo man kein Haus, kein lebendes Wesen erblickt, nicht einmal die Balken oder Steine eines verfallenen Gebäudes und kein Laut die Sabbatstille umher unterbricht. Da ist es schwer, sich vorzustellen, daß dort vor Jahren ein rasch emporgeblühtes Städtchen gestanden hat, mit zwei- bis dreitausend Einwohnern, die ihre Zeitung, ihre Feuerwehr, eine Musikkapelle, ein Freiwilligenkorps, Gasthäuser, eine Bank und Spielhöllen besaßen, wo Männer aus allen Nationen der Erde mit struppigen Bärten rauchten und fluchten, und wo der Goldstaub, der sich an den Spieltischen anhäufte, mehr wert war, als die Einkünfte eines deutschen Fürstentums.

Das Leben wogte geschäftig hin und her in den Straßen, man verkaufte Bauplätze zu vierhundert Dollars den Fuß, es wurde dort gearbeitet, gelacht, getanzt, Musik gemacht, gezecht, gerauft und Dolch und Revolver gehandhabt. Alles war vorhanden, was zum Blühen und Gedeihen einer neuerstandenen Stadt nötig und förderlich ist, was das Leben schmückt und erfreut – und jetzt sieht man dort nichts als eine verlassene, wüste Einöde, die Menschen sind fort, von den Häusern ist keine Spur geblieben, sogar der Name des Orts vergessen. Nirgends in der Welt sind in unserm Jahrhundert Städte so völlig vom Erdboden verschwunden, wie in den alten Goldgräbergegenden von Kalifornien.

In jenen Tagen aber herrschte ein rastloses Drängen und Treiben, Hasten und Arbeiten unter der eigenartigen, zusammengewürfelten Bevölkerung des damaligen Kalifornien, wie sie sich schwerlich jemals wieder irgendwo beisammen finden wird. Sie bestand aus zweihunderttausend jungen Männern, nicht gezierten, verwöhnten, behandschuhten Schwächlingen, sondern kräftigen, muskelstarken, tapfern und unerschrockenen Leuten, voll Mut und Thatkraft, die mit allen Eigenschaften, welche wahrer Männlichkeit zu Schmuck und Zier gereichen, im vollsten Maße ausgestattet waren, die Auserlesensten unter den Herren der Schöpfung. Man sah dort weder Frauen noch Kinder, noch gebückte, hinfällige Greise, nur junge Riesengestalten mit aufrechtem Gang, hellem Blick, starker Hand und geschmeidigen Gliedern. Ein schönes, ein herrliches Volk, die tapfersten Scharen, welche jemals in die menschenleeren Einöden eines noch unbekannten Landes einzogen. Und wo sind sie nun? – Zerstreut nach allen Enden der Welt, vorzeitig gealtert und verkommen, bei einem Straßenaufruhr ermordet, an gebrochenem Herzen und getäuschten Hoffnungen gestorben – alle dahin, als Opfer auf dem Altar des goldenen Kalbes verblutet. Es ist ein jammervoller Gedanke.

Nur starke, beherzte Männer waren ausgezogen, die Faulen, Schwerfälligen und Trägen hatten sie daheim gelassen; die kann man als Pioniere nicht gebrauchen, dazu gehören Leute von anderm Schrot und Korn. Aber wild ging es damals unter ihnen her. Sie schwelgten in Gold und Branntwein, in Raufereien und beim Fandango und waren unaussprechlich glücklich. Ein wackerer Goldgräber holte sich täglich seine hundert bis tausend Dollars aus dem Boden. Wenn dann die Spielhöllen und andern Vergnügungslokale dafür sorgten, daß er bis zum nächsten Morgen keinen Cent mehr in der Tasche hatte, konnte er noch von Glück sagen. Die Leute kochten sich selbst ihr Gericht Speck mit Bohnen, nähten sich die abgerissenen Knöpfe an und wuschen ihre blauwollenen Hemden. Wer öffentlich mit weißer Wäsche und einem hohen Hut erschien, ward in eine Schlägerei verwickelt, ehe er sich’s versah. In dieser wilden, freien, zügellosen Gesellschaft waren alle Aristokraten verhaßt, auch ließ sich weder ein ganz jugendliches, noch ein weibliches Element dort jemals blicken. Man sagt, die Goldgräber hätten sich oft scharenweise versammelt, wenn es galt, das für sie seltsamste und herrlichste Schauspiel, den Anblick eines Weibes, zu genießen.

In einem ihrer Lager verbreitete sich einmal am Morgen die Nachricht, daß ein Weib angekommen sei. Man hatte aus einem Wagen auf dem Lagerplatz ein Kattunkleid heraushängen sehen – es mochten wohl Auswanderer von der großen Ebene jenseits der Berge hergekommen sein. Alles drängte sich nach dem Wagen, und als man ein wirkliches Kleid im Winde flattern sah, entstand ein großes Geschrei, bis der Auswanderer erschien. Dann hieß es wie aus einem Munde:

»Bringt sie heraus!«

Er erwiderte: »Es ist meine Frau, ihr Herren, sie ist krank, die Indianer haben uns alles geraubt, Geld und Mundvorrat – wir bedürfen der Ruhe.«

»Bringt sie heraus, wir müssen sie sehen!«

»Aber ihr Herren, das arme Ding kann nicht –«

»Bringt sie heraus!«

Als er ihnen endlich den Willen that, schwenkten sie die Hüte in der Luft und brachten ein dreimaliges donnerndes Hoch aus, dann umringten sie alle, betrachteten sie, berührten ihre Kleider und horchten auf den Ton ihrer Stimme. Die Frau schien für sie mehr eine Erinnerung aus früherer Zeit, als etwas Wirkliches, Lebendiges zu bedeuten. Zuletzt brachten sie die Summe von 2500 Dollars in Gold zusammen, händigten sie dem Manne ein, schwenkten abermals die Hüte, riefen wieder dreimal Hoch und gingen befriedigt ihrer Wege.

*

Ich speiste einmal bei einem Herrn, der mir ein Abenteuer erzählte, welches seiner Tochter begegnet war, als die Familie zuerst in San Francisco landete. Die junge Dame selbst erinnerte sich nicht mehr daran, da sie zwei Jahre zählte, als sich diese wahre Geschichte zutrug. Sie waren gerade vom Schiff gekommen und gingen die Straße hinunter, voran die Dienerin mit der Kleinen auf dem Arm. Da trat ihnen ein riesiger Goldgräber entgegen mit großem Bart und breitem Gürtel, der über und über von Waffen starrte. Augenscheinlich kam der Mann soeben von einem längeren Aufenthalt im Gebirge zurück. Er hielt die Dienerin an und betrachtete sie mit Staunen und Wohlgefallen. Nach einer Weile sagte er in ehrerbietigem Ton: »Wahrhaftig, ich glaube, das ist ein Kind!« Dann zog er ein Ledersäckchen aus der Tasche und fuhr zur Wärterin gewandt fort:

»Dieser Sack enthält Goldstaub im Wert von hundertfünfzig Dollars. Lassen Sie mich das Kind einmal küssen und Sie sollen ihn haben.«

Wie sich doch die Zeiten ändern. Hätte ich damals, als ich mit bei Tische saß und die Anekdote anhörte, die doppelte Summe für die Erlaubnis geboten, dies selbe Kind küssen zu dürfen, man würde es mir abgeschlagen haben. Der Preis hatte sich in den siebzehn Jahren, welche seitdem verflossen waren, sehr beträchtlich gesteigert.

*

Hier will ich noch erwähnen, daß ich einmal bei meinem Aufenthalt in Star City im Humboldt-Gebirge mit einer Schar von Bergleuten im Gänsemarsch aufmarschiert bin, um durch den Spalt einer Hütte zu sehen, worin ein ganz neues, wunderbares Schauspiel unser wartete, nämlich der Anblick einer wirklichen, lebendigen Frau. Als endlich nach einer halben Stunde geduldigen Harrens die Reihe an mich kam, durch die Spalte zu gucken, stand sie richtig da, die eine Hand in die Seite gestemmt und beschäftigt, mit der andern Pfannkuchen zu stürzen. Sie sah aus, als sei sie hundertfünfundsechzig Jahre alt und hatte keinen Zahn mehr im Munde.

Achtes Kapitel.

Achtes Kapitel.

Erdbeben.

Einige Monate führte ich nun ein wahres Schmetterlingsdasein, wie ich es früher nie gekannt. Ich lebte in süßem Nichtsthun, war niemand verantwortlich und der Geldpunkt machte mir keine Sorgen. Nach den Alkaliwüsten und der öden Salbeigegend von Washoe erschien mir San Francisco wie ein Paradies und ich verliebte mich sterblich in diese Stadt herzlichster Geselligkeit.

Ich wohnte im besten Hotel, trug meine neuen Kleider auf allen Hauptplätzen und Straßen zur Schau, ging jeden Abend in die Oper und lernte von den Klängen der Musik hingerissen zu scheinen, die mein ungeschultes Ohr häufiger verletzten als bezauberten. Wenn ich nicht die gemeine Ehrlichkeit besaß, dies einzugestehen, so bin ich vermutlich in diesem Punkte nicht schlimmer als die meisten meiner Landsleute. Ich besuchte Privatgesellschaften im prächtigsten Ballanzug, that zimperlich, entfaltete meine ganze natürliche Anmut wie ein geborener Stutzer und tanzte Polka und Schottisch mit einem Schritt, der mir eigentümlich ist – mir und dem Känguruh. – Kurz, ich lebte als Schmetterling, wonach ich mich längst gesehnt hatte, und trat wie ein Mann auf, der (voraussichtlich) seine hunderttausend Dollars besaß und wahrscheinlich zu unbeschränktem Überfluß gelangen würde, sobald der Verkauf jener Silbermine im Osten zum Abschluß kam. Inzwischen streute ich mein Geld reichlich umher, beobachtete das Steigen und Fallen der Aktien mit lebhaftem Interesse und behielt nebenbei im Auge, was sich in Nevada zutrug.

Dort ereignete sich etwas sehr Wichtiges. Die besitzende Klasse stimmte gegen die Staatsverfassung, aber die Leute, welche nichts zu verlieren hatten, waren in der Majorität und setzten die Annahme der Verfassung durch. Das war ohne Frage ein Unglück, obgleich es anfangs nicht so aussah. Ich schwankte hin und her, berechnete die möglichen Veränderungen des Geldmarktes und entschied mich endlich dafür, nicht zu verkaufen.

Die Aktien stiegen höher und höher und es begann ein tolles Spekulationsfieber. Bankiers, Kaufleute, Advokaten, Ärzte, Handwerker, Tagelöhner, selbst Waschfrauen und Dienstmädchen legten ihre Ersparnisse in Silberkuxen an. Die Spielwut hatte sich der ganzen Bevölkerung bemächtigt. Jede Sonne, die am Morgen aufging, schien beim Untergang auf Bettler, welche reich geworden und auf Reiche, die an den Bettelstab gebracht waren. Die Gould- und Curry-Kuxe stiegen bis auf 6300 Dollars der Fuß; dann nahm die ganze Herrlichkeit plötzlich ein jähes Ende und alle Welt war zu Grunde gerichtet. Ein schrecklicher Schiffbruch! Das Faß hatte den Boden verloren, es blieb kaum ein Tropfen daran hängen. Ich war unter den ersten, die gründlich an den Bettelsack kamen. Meine sämtlichen Aktien konnte ich einfach wegwerfen, sie galten nicht einmal so viel wie das Papier, auf dem sie gedruckt waren. Ich hatte als glücklicher Narr mit dem Geld um mich geworfen und geglaubt, das Mißgeschick könne mich nicht erreichen; jetzt besaß ich keine fünfzig Dollars mehr im Vermögen, nachdem meine Schulden zusammengerechnet und bezahlt waren.

Ich verließ das Hotel, bezog ein sehr bescheidenes Kosthaus, nahm eine Stelle als Zeitungsschreiber an und machte mich an die Arbeit. Noch war mir nicht jede Hoffnung geschwunden, denn ich baute zuversichtlich auf den Verkauf der Silbermine im Osten. Mein Freund Dan ließ jedoch nichts von sich hören; entweder gingen meine Briefe alle verloren, oder sie blieben ohne Antwort.

Eines Tages fühlte ich mich wenig aufgelegt, meine Beschäftigung vorzunehmen und ging nicht ins Bureau. Als ich mich tags darauf wie immer gegen Mittag dort einstellte, fand ich auf meinem Pult ein Briefchen, das schon vierundzwanzig Stunden da gelegen hatte. Es war ›Marshall‹ unterzeichnet und enthielt die Bitte, ihn und seine Gefährten am Abend im Hotel zu besuchen. Sie seien auf der Durchreise nach dem Osten begriffen und wollten am nächsten Morgen absegeln. Es handle sich um eine große Bergwerksspekulation.

So außer mir bin ich in meinem ganzen Leben nicht gewesen. Ich schalt mich einen Thoren, daß ich von Virginia fortgegangen war und einem andern die Sache überlassen hatte, statt sie selbst in die Hand zu nehmen. Ich war wütend, daß ich gerade den einzigen Tag im Jahre aus dem Bureau wegbleiben mußte, an dem ich hätte dort sein sollen. Unter allerlei Selbstvorwürfen trabte ich eine Meile weit bis zum Hafen und kam richtig gerade an als es zu spät war. Das Schiff war bereits abgefahren und unter Segel.

Zunächst tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß vielleicht bei der Spekulation nichts herauskommen würde, jedenfalls ein armseliger Trost; dann nahm ich mein Sklavenjoch wieder auf, entschlossen, mich mit meinen 33 Dollars die Woche zu begnügen und mir die Sache aus dem Sinn zu schlagen.

*

Einen Monat später genoß ich mein erstes Erdbeben, welches noch lange nachher das ›große Erdbeben‹ genannt wurde. Es war an einem hellen Oktobersonntag, als ich kurz nach zwölf Uhr die dritte Straße herunterkam. Um diese Stunde war in dem dicht bebauten und bevölkerten Stadtteil weit und breit nichts in Bewegung als ein Mann im Einspänner hinter mir und ein Omnibus, der langsam eine Nebenstraße herauffuhr. Sonst war alles wie gefegt und es herrschte Sabbatstille. Als ich an einem Bretterhaus um die Ecke bog, hörte ich ein großes Krachen und Poltern, es mußte wohl drinnen eine Prügelei vor sich gehen, da gab es gewiß etwas zu berichten. Bevor ich aber noch die Thür gefunden hatte, kam ein wahrhaft entsetzlicher Stoß; der Boden unter mir schien in wellenförmiger Bewegung, dann folgte ein heftiges Heben und Senken und ein dumpfes, knirschendes Geräusch, als würden Backsteinhäuser an einander gerieben. Ich fiel gegen das Bretterhaus und verletzte mich am Ellenbogen. Jetzt wußte ich, was das bedeutete und zog aus reinem Reportertrieb meine Uhr heraus, um mir Zeit und Stunde zu merken. In diesem Augenblick erfolgte ein dritter, weit stärkerer Stoß und während ich noch auf dem Pflaster umhertaumelte, bemüht, mich auf den Füßen zu halten, hatte ich einen Anblick sondergleichen: Die ganze Vorderseite eines vierstöckigen Backsteinhauses ging auf wie eine Thür und stürzte mit lautem Geprassel quer über die Straße, daß der Staub aufwirbelte wie eine mächtige Rauchsäule.

Indessen kam der Einspänner herbei – der Mann flog hinunter und schneller als ich es zu berichten vermag, war das Fuhrwerk in kleinen Stücken längs der dreihundert Meter langen Straße umhergestreut. Der Omnibus hielt an, die Pferde drängten rückwärts und bäumten sich, die Fahrgäste strömten zu beiden Seiten heraus und ein dicker Herr, der mit halbem Leibe durch ein Glasfenster gezwängt und darin festgekeilt war, kreischte wie wahnsinnig, als stecke er am Spieß. Aus jeder Hausthür, soweit das Auge reichte, ergoß sich ein Strom menschlicher Wesen, in einem Moment war die ganze Straße, die ich überblicken konnte, von einer dichtgedrängten Menschenmasse bedeckt. Statt der feierlichen Stille herrschte urplötzlich das wildeste Wogen und Treiben.

Das Erdbeben brachte die wunderlichsten Erscheinungen zu Tage. Herren und Damen, die krank waren, oder gerade ihr Mittagsschläfchen hielten, oder nach durchschwelgter Nacht der Ruhe pflegten, kamen in den seltsamsten Aufzügen auf die Straße gestürzt, viele nur sehr mangelhaft bekleidet oder auch gar nicht. Angesehene Bürger, die für äußerst streng in betreff der Sonntagsheiligung galten, liefen in Hemdärmeln aus den Schenkstuben heraus, das Billard-Queue noch in der Hand. Aus den Barbierstuben flohen zu Dutzenden Leute mit umgebundenen Servietten, bis unter die Augen eingeseift, auf einer Seite noch die Bartstoppeln, während die andere bereits glatt rasiert war. In einem Hotel kam ein bekannter Redakteur, nur mit dem Hemd auf dem Leibe, die Treppe heruntergelaufen. »Was soll ich thun?« jammerte er, »wohin soll ich gehen?«

»Am besten in einen Kleiderladen,« sagte das Zimmermädchen, dem er begegnete, in heiterer Unbefangenheit.

Pferde brachen aus den Ställen und ein Hund sprang in seiner Angst die Bodenleiter zum Dach hinauf, getraute sich aber dann nicht, wieder denselben Weg zurückzukommen. In der Stadt fiel der Bewurf von so vielen Zimmerdecken herab, daß man große Felder damit hätte bestreuen können. Tagelang standen die Leute noch in Gruppen vor den Häusern, welche in breiten Zickzackrissen von oben bis unten zerborsten waren. Ein hundert Fuß langer Spalt that sich in einer Straße sechs Zoll breit auf und schloß sich dann wieder mit solcher Gewalt, daß die Erde sich an der Stelle wie ein Grabhügel aufwölbte. An einem Gebäude waren drei Schornsteine in der Mitte durchgebrochen und so herumgedreht, daß der Rauch keinen Abzug fand. Eine Dame fühlte plötzlich, daß der Salon, in dem sie saß, zu schwanken begann, gleich darauf sah sie, wie die Wand sich oben an der Decke zweimal aufthat und wieder schloß, wobei ein Backstein herunterfiel, wie ein Zahn aus einem offenen Munde. Eine andere Dame, welche die Treppe hinunter eilte, bemerkte zu ihrem Erstaunen, daß sich ein bronzener Herkules auf seinem Fußgestell zu ihr hinneigte, als wollte er sie mit der Keule erschlagen. Statue und Frau erreichten den Fuß der Treppe zu gleicher Zeit, letztere bewußtlos vor Entsetzen.

In einer der Kirchen warf der erste Stoß drei mächtige Orgelpfeifen herunter. Der Geistliche stand gerade mit emporgehobenen Händen da, um den Gottesdienst zu schließen. »Den Segen wollen wir heute fortlassen,« sagte er kurz – und an der Stelle, wo er gestanden hatte, war nur noch ein leerer Raum.

»Bleibt auf euren Sitzen,« ruft ein Prediger in Oakland nach dem ersten Stoß, »wenn ihr sterben sollt, so findet ihr nirgends einen besseren Platz dazu als hier.« Nach dem dritten Stoß fügte er jedoch hinzu: »Aber draußen ist es auch nicht schlecht,« und verschwand durch eine Hinterthür.

Die Frauen und Mädchen der Stadt erlitten schwere Verluste an Fläschchen mit Essenzen, Wohlgerüchen und allerlei Nippessachen, die das Erdbeben auf Kaminsimsen und Toilettentischen zertrümmerte. Aufgehängte Bilder wurden herabgeworfen, oder – was noch häufiger geschah – vom Erdbeben aus mutwilliger Laune so herumgewirbelt, daß die Gesichter der Wand zugekehrt waren. Von dem Schaukeln und Schwanken der Straßen und Fußböden bekamen viele Tausende die Seekrankheit und fühlten sich noch stundenlang nachher schwach und elend; einige litten sogar tagelang an dem Übel und ganz verschont blieb kaum einer.

Bald nach diesem Ereignis traf mich ein recht grausamer Schlag. In einer Nummer des ›Enterprise‹, die ich zufällig zur Hand nahm, fiel mein Blick auf folgende Mitteilung:

Nevada-Bergwerke in New-York.

Ende Juli brachten die Herren G. M. Marshall, Sheba Hurst und Amos Rose Erzproben aus Gruben im Pine-Wood-Distrikt und am Reese-River nach New-York.

Die eine, im Humboldt-County gelegene Grube haben die Eigentümer für den Preis von drei Millionen Dollars verkauft. Zum Betrieb ist bereits ein Kapital von einer Million Dollars eingezahlt worden, und die Maschinen für das große Quarz-Pochwerk, welches sogleich eingerichtet werden soll, sind schon angeschafft. Sämtliche Aktien der Gesellschaft sind vollbezahlt und steuerfrei.

Sheba Hurst, der Entdecker dieser Gruben, hat sich, bevor er seinen Fund veröffentlichte, den Besitz der besten Erzgänge gesichert, sowie den erforderlichen Grund und Boden und das nötige Bauholz. Seine Erzproben ergaben bei der Untersuchung einen außerordentlich reichen Gehalt an Silber und Gold; jedoch ist das Silber vorherrschend. Wir haben die Proben gesehen und uns überzeugt, daß es sich hier um keinen Schwindel handelt und die Gruben jenes Bezirks wirklich sehr wertvoll sind; deshalb vernehmen wir mit Befriedigung, daß sich das New-Yorker Kapital bereitwillig an dem Unternehmen beteiligt.

So hatte denn die mir angeborene Einfalt wieder den Sieg davon getragen und ich, hatte eine Million verloren.

Verweilen wir nicht länger bei dieser kläglichen Geschichte. Hätte ich sie erfunden, so wäre es mir ein Leichtes, sie humoristisch auszuschmücken, da sie aber nur allzu wahr ist, vermag ich sie selbst heutigen Tages noch nicht mit leichtem Herzen zu erzählen, trotzdem sie jetzt so weit hinter mir liegt. Ich will nur noch erwähnen, daß ich allen Mut verlor, mich in thörichtem Murren und Seufzen und fruchtlosem Gram verzehrte, darüber meine Pflichten versäumte und als Berichterstatter einer ›flotten‹ Zeitung kaum mehr zu brauchen war. Zuletzt nahm mich der Eigentümer des Blattes beiseite und erwies mir eine Wohlthat, deren ich mich noch jetzt voll Ehrerbietung erinnere. Er gab mir Gelegenheit auf die Stelle zu verzichten und rettete mich dadurch vor der Schande, meine Entlassung zu erhalten.

Neuntes Kapitel.

Neuntes Kapitel.

Am Bettelstabe.

Eine Zeitlang schrieb ich allerlei Litterarisches für die ›Goldene Ära‹ und andere Blätter. C. H. Webb hatte den ›Kalifornier‹ gegründet, ein ganz vortreffliches Wochenblatt, dessen hoher litterarischer Wert jedoch keine Bürgschaft für den Erfolg war. Das Journal siechte dahin und Webb verkaufte es an drei Drucker. Damals wurde Bret Harte für ein Gehalt von 20 Dollars die Woche Redakteur und ich verpflichtete mich für 12 Dollars allwöchentlich einen Artikel beizusteuern. Da der Absatz aber viel zu wünschen übrig ließ, verkauften die Drucker das Journal an den reichen Kapitän Opden, einen sehr angenehmen Herrn, der sich diesen teuern Luxus gestattete, ohne viel nach den Kosten zu fragen. Er bekam indessen das neue Spielzeug bald satt und gab es den Druckern zurück. Nicht lange darauf starb das Blatt eines sanften Todes und ich war wieder ohne Arbeit.

In den nächsten zwei Monaten hatte ich keine andere Beschäftigung als meinen Bekannten aus dem Wege zu gehen. Ich verdiente keinen Cent, schaffte mir nicht die geringste Kleinigkeit an und bezahlte auch Kost und Wohnung nicht. Dagegen erwarb ich mir eine große Geschicklichkeit, mich überall fortzudrücken. Von einem Hintergäßchen drückte ich mich ins andere; sah ich von fern ein Gesicht, das mir bekannt vorkam, so drückte ich mich; auch zu meinen Mahlzeiten schlich ich gedrückt, aß sie demütig und mit stummer Bitte um Verzeihung für jeden Bissen, den ich meiner großmütigen Wirtin stahl; drückte mich bis Mitternacht herum, jeden Ort vermeidend, wo Helligkeit und Heiterkeit zu finden war und schlich dann zu Bette. Ich kam mir niedriger, erbärmlicher und verächtlicher vor wie ein Wurm. Meine ganze Barschaft bestand in einem silbernen Zehn-Centstück; das hielt ich fest und wollte es um keinen Preis ausgeben, aus Furcht, der Gedanke, daß ich völlig mittellos sei, möchte mich überwältigen. Außer den Kleidern, die ich am Leibe trug, hatte ich alles versetz und so hing ich denn mit verzweifelter Hartnäckigkeit an meinem letzten Geldstück, das schon ganz abgegriffen war, so oft hatte ich es durch die Finger gleiten lassen.

Das Elend liebt Gesellschaft. Dann und wann stieß ich nachts an irgend einem abgelegenen, schwach erleuchteten Ort mit einem andern Kinde des Unglücks zusammen. Der Mensch sah so schmierig und verkommen, so heimatlos, freundlos und verlassen aus, daß ich mich zu ihm hingezogen fühlte, wie zu einem Bruder. Auch er muß wohl eine ähnliche Empfindung gehabt haben, denn die Anziehung war gegenseitig; wenigstens trafen wir uns allmählich häufiger, wenn auch allem Anschein nach noch immer zufällig. Wir sprachen zwar nicht zusammen, ließen auch nicht merken, daß wir einander wiedererkannten, aber sobald wir uns sahen, schwand die dumpfe Beklommenheit aus unserem Gemüt. Wir taumelten dann beide in gemessener Entfernung befriedigt weiter, freuten uns unserer stummen Genossenschaft und blickten aus dem nächtlichen Schatten verstohlen in Fenster hinein, nach den freundlichen Lichtern und den Familiengruppen am traulichen Kamin.

Endlich redeten wir einander an und waren seitdem unzertrennlich. Litten wir doch beide fast dieselben Schmerzen. Auch er war Berichterstatter gewesen und hatte seine Stelle eingebüßt; dann war er immer mehr heruntergekommen und unaufhaltsam tiefer und tiefer gesunken – von der Wohnung auf dem Russenhügel zu dem Kosthaus in der Kearney-Straße, von dort zu Dupont und dann in eine Matrosenkneipe. Zuletzt hatte er sich in Warenkisten und leeren Tonnen auf der Werft sein Quartier gesucht. Durch das Zunähen geplatzter Getreidesäcke, die eingeschifft werden sollten, fristete er sich eine Zeitlang notdürftig das Leben; als dieser Verdienst aufhörte, suchte er sich eine Nahrung bald hier bald da, wie es der Zufall gerade fügte. Bei Tage ließ er sich nirgends mehr blicken, denn ein Reporter kennt arm und reich, hoch und niedrig und kann es bei hellem Tage nicht gut vermeiden, bekannten Gesichtern zu begegnen.

Dieser Bettler – ich will ihn Blücher nennen – war ein prächtiger Mensch, voll Hoffnung, Thatkraft und echter Philosophie. Er war gut belesen und sein gebildet, besaß hellen Verstand und trefflichen Witz. Sein freundliches Wesen und sein großmütiges Herz gaben ihm in meinen Augen ein wahrhaft königliches Ansehen, sein Sitz aus dem Eckstein erschien mir wie ein Thronsessel und sein schäbiger Hut wie eine Krone. Ein Abenteuer, das er mir erzählte, hat durch seine Absonderlichkeit mein Mitgefühl aufs höchste erregt und sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingegraben.

Seit zwei Monaten besaß er keinen Heller und war in den dunkeln Straßen beim Schein der matt brennenden freundlichen Lichter umhergeschlichen, bis ihm die Sache zur zweiten Natur wurde. Endlich aber trieb ihn der Hunger an das Tageslicht. Achtundvierzig Stunden hatte er keinen Bissen genossen und konnte das müßige Warten in seinem Versteck nicht langer ertragen. Er schlich durch eine Hintergasse, starrte voll gierigen Verlangens nach den Fenstern der Bäckerläden und hätte sein Leben für ein Stück Brot verkaufen mögen. Der Anblick der Eßwaren verdoppelte seinen Hunger, aber doch war es ihm eine Wohlthat, sie wenigstens zu sehen und sich vorzustellen, wie ihm zu Mute sein würde, wenn er etwas zu essen hätte. Da sah er auf einmal mitten in der Straße einen glänzenden Punkt; er blickte wieder hin – durfte er seinen Augen trauen? Er wandte sich ab und sah dann noch einmal nach der Stelle, um ganz sicher zu sein. Nein, es war keine Sinnestäuschung, die der Hunger erzeugte, sondern Wirklichkeit – da lag ein silbernes Zehn-Centstück. Er schoß darauf zu, hob es auf, starrte es an, nahm es zwischen die Zähne – kein Zweifel, es war echt. Sein Herz jubelte laut, er vermochte kaum ein Jauchzen und Hallelujah zu ersticken. Dann sah er sich um – niemand beobachtete ihn; er warf die Münze wieder hin, wo sie gelegen, trat ein paar Schritte zurück, näherte sich abermals und that, als wisse er nicht, daß sie da sei, damit er noch einmal das Entzücken genießen könne, sie zu finden. Nun betrachtete er sie von verschiedenen Punkten aus, schlenderte mit den Händen in den Taschen umher, schaute nach den Ladenschildern, warf dann wieder einen raschen Blick auf das Geldstück und fühlte sich von Wonneschauern durchrieselt. Endlich hob er es auf und ging, es in der Tasche streichelnd, von dannen. Er wählte die menschenleersten Straßen, stand von Zeit zu Zeit in einem Thorweg oder an der Ecke still und zog seinen Schatz heraus, um ihn zu betrachten. In seinem Quartier, einem leeren Geschirrfaß. angelangt, überlegte er bis in die Nacht hinein, was er dafür kaufen solle. Ein schwerer Entschuß. Ihm lag daran, so viel wie möglich zu bekommen. In der Bergmannsschenke, das wußte er, gab man einen Teller voll Bohnen und ein Stück Brot für zehn Cents oder einen Fischkloß mit Zubehör, aber ohne Brot. In Peters Speisehaus konnte er ein Kalbskotelett nebst einigen Rettichen und Brot für zehn Cents haben, oder eine große Tasse Kaffee mit einer Brotschnitte, die aber schändlicherweise oft nur sehr dünn ausfiel.

Um sieben Uhr empfand er einen wahren Wolfshunger, doch hatte er noch keine Entscheidung getroffen. Er machte sich auf den Weg, ging noch immer rechnend die Straße hinauf und kaute an einem Holzstückchen, wie es Leute, die nahe am Verhungern sind, zu thun pflegen. Vor Martins erleuchtetem Restaurant, dem vornehmsten der ganzen Stadt, blieb er stehen; in besseren Tagen hatte er da oft gespeist und Martin kannte ihn gut. Er trat abseits, um aus dem Bereich der Lichter zu kommen, blickte andächtig nach den Wachteln und Beefsteaks im Schaufenster und dachte, vielleicht wären die Zeiten der Märchen noch nicht vorüber, und ein verkleideter Prinz könnte daherkommen und ihn auffordern, einzutreten und zu nehmen, was er wolle. Je mehr er sich in den Gedanken vertiefte, um so hungriger kaute er an dem Holzstückchen.

Da fühlte er plötzlich, daß jemand neben ihm stand und seinen Arm berührte. Er sah auf und erblickte ein Gespenst – das wahre Bild des Hungers. Es war ein baumlanger, hagerer Mensch, in Lumpen gehüllt, Haar und Bart ungeschoren, mit ausgemergeltem Gesicht, eingesunkenen Wangen und Augen, die ihn jammervoll anblickten.

»Kommen Sie mit mir,« sagte er und bing sich an Blüchers Arm. Als sie eine Stelle erreicht hatten, wo das Licht nur schwach schien und wenige Leute vorüber gingen, blieb er stehen und hob die Hände stehend empor.

»Freund – Fremder, sehen Sie mich an,« stammelte er. »Sie freuen sich ihres Lebens in Ruhe und Behagen, wie ich einst in meiner guten Zeit. Sie haben dort drinnen herrlich zu Abend gespeist, ein Liedchen gesummt und bei sich gedacht, es ist doch schön auf der Welt. Sie haben nie Not gelitten, Sie wissen nicht was Kummer und Elend ist, Sie kennen den Hunger nicht! – Sehen Sie mich an, Fremder, haben Sie Erbarmen mit einem freundlosen, heimatlosen Menschen. So wahr Gott lebt – seit achtundvierzig Stunden habe ich keinen Bissen gegessen; schauen Sie mir ins Auge, ich lüge nicht. Geben Sie mir nur eine Kleinigkeit, mich vom Hungertode zu retten; was Sie wollen – 25 Cents genügen mir. Thun Sie es, Fremder, ich bitte, ich beschwöre Sie. Ihnen ist es ein Leichtes und mein Leben hangt daran. Ich will vor Ihnen im Staube liegen und den Boden küssen, den Ihr Fuß betritt. Nur 25 Cents! Ich gehe zu Grunde, ich sterbe, ich verhungere. Um des Himmels willen, verlassen Sie mich nicht!«

Blücher war außer sich, bis ins Innerste gerührt und ergriffen. Er überlegte hin und her, dann rief er von einem plötzlichen Gedanken beseelt:

»Ja, so wird es gehen!« Den Arm des Elenden ergreifend, führte er ihn nach Martins Restaurant, ließ ihn dort an einem Marmortisch Platz nehmen, legte den Speisezettel vor ihn hin und sagte:

»Bestellen Sie jetzt was Sie wollen, Freund. Es geht auf meine Rechnung, Herr Martin.«

»Schon gut, Herr Blücher,« versetzte der Speisewirt.

Gegen den Schenktisch gelehnt, sah Blücher zu, wie der Mensch ein Stück Buchweizenkuchen zu 75 Cents nach dem andern heißhungrig verschlang, verschiedene Tassen Kaffee hinunterstürzte und Beefsteaks die Portion zu zwei Dollars verzehrte. Als der Fremde Speisen im Wert von etwa sechs und einem halben Dollar vertilgt hatte und sein Hunger gestillt war, begab sich Blücher nach Peters Speisehaus, kaufte für sein Zehn-Centstück ein Kalbskotelett und ein Stück Brot, machte sich darüber her und schmauste wie ein König.

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Ich kam jetzt zu dem festen Entschluß, mir ein Reitpferd anzuschaffen. Nie hatte ich, außer im Zirkus, eine so tolle, freie, prächtige Reitkunst gesehen, wie sie diese malerisch gekleideten Mexikaner, Kalifornier und mexikanisierten Amerikaner in Carson Tag für Tag zum besten gaben. Wie die ritten! Nur ein klein wenig nach vorn gebeugt, fegten sie durch die Straßen wie der Wind; die breite Krempe ihres Schlapphutes stand kerzengerade in die Höhe, und sie schwangen die lange Riata über dem Kopfe. Eine Minute darauf waren sie nur noch ein Staubwölkchen, weit draußen in der Wüste. Beim Traben waren sie stolz und anmutig auf dem Pferde, als wären sie mit demselben verwachsen und hopsten nicht auf und nieder nach der albernen Manier der Reitschulen. Ich hatte bald ein Pferd von einer Kuh unterscheiden gelernt und brannte vor Begier, noch mehr zu können; ich war entschlossen, mir ein Pferd zu kaufen. Während dieser Gedanke mir im Kopf herumschwirrte, kam der Auktionator auf einem schwarzen Tiere über die Plaza gejagt, es war höckerig und eckig wie ein Kamel und auch ebenso häßlich; allein es wurde versteigert: »zum drittenmal zweiundzwanzig – Pferd, Sattel und Zügel für zweiundzwanzig Dollars, meine Herren!« und da konnte ich kaum widerstehen.

Ein unbekannter Mann (wie sich später zeigte, war es der Bruder des Auktionators) bemerkte meine sehnsüchtigen Blicke und meinte, das sei doch für den Preis ein ganz respektables Pferd; der Sattel, fügte er bei, sei allein das Geld wert. Es war ein spanischer Sattel mit gewichtigen ›Tapidaros‹ und mit dem plumpen Überzug von Sohlenleder unaussprechlichen Namens. Ich sagte, ich hätte halb und halb Lust zu bieten. Darauf sah mich der Mensch mit seinen stechenden Augen an, als wollte er prüfen, wes Geistes Kind ich sei; doch ließ ich jeden Verdacht fallen, als er sprach, denn sein Wesen war voll argloser Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit.

»Ich kenne dieses Pferd, – kenne es genau,« sagte er, »Sie sind ein Fremder dem Anschein nach, und so können Sie vielleicht meinen, es sei ein amerikanisches Pferd, aber ich versichere Sie, das ist nicht der Fall. Es ist durchaus nichts dergleichen; es ist – entschuldigen Sie, wenn ich leise spreche, es sind noch mehr Leute um den Weg – es ist ohne den allermindesten Zweifel ein echter mexikanischer Stöpsel!« Ich wußte allerdings nicht, was ein echter mexikanischer Stöpsel war, allein es lag etwas so Besonderes in der Art, wie der Mann das sagte, daß ich mir im stillen gelobte, ich müsse einen echten mexikanischen Stöpsel haben, und sollte es mein Leben gelten. »Hat es sonst noch Vorzüge?« forschte ich mit unsicherer Stimme, indem ich meine Ungeduld nach Kräften zu bemeistern suchte.

Er faßte mit einem Finger in die Tasche meines Wollhemdes, zog mich beiseite und flüsterte mir mit Nachdruck ins Ohr: »Er ist im Bocken jedem über in ganz Amerika!«

»Zum dritten, zum dritten, zum drittenmal – vierundzwanzig ein halb Dollars meine Her–«

»Siebenundzwanzig!« schrie ich wie toll.

»Gehört Ihnen!« erklärte der Auktionator, und damit übergab er mir den echten mexikanischen Stöpsel.

Ich vermochte kaum meinen Jubel zurückzuhalten, bezahlte das Geld und stellte das Tier in den benachbarten Mietstall ein, damit es etwas zu fressen bekomme und sich ausruhe. Am Nachmittag nahm ich das Geschöpf mit auf die Plaza, wo ein paar Leute es an Kopf und Schwanz festhielten, während ich aufstieg. Sobald sie losließen, stellte der Gaul seine vier Füße dicht zusammen, senkte den Rücken und wölbte ihn dann wieder plötzlich, so daß er mich drei oder vier Fuß hoch in die Luft hinauf schnellte! Ich kam ganz senkrecht wieder herunter, mitten in den Sattel, flog aber augenblicklich wieder in die Höhe und wäre fast auf den hohen Sattelknopf gekommen, schoß dann ein drittesmal empor und kam jetzt auf den Hals des Gaules zu sitzen – alles im Verlauf von drei oder vier Sekunden. Nun bäumte er sich und stand fast kerzengerade auf den Hinterbeinen, während ich mich verzweifelt an seinen mageren Hals anklammerte und so in den Sattel zurückrutschte. Kaum stand er wieder auf allen Vieren, so hob er sofort die Hinterbeine und stellte sich auf die Vorderbeine, während er mit jenen ausschlug, als wollte er dem Himmel eins versetzen. Sodann begann er abermals Flugübungen mit mir anzustellen. Als ich das drittemal emporschnellte, hörte ich, wie ein Fremder sagte: »O, aber der kann einmal bocken!«

Ich schwebte noch in der Luft, als jemand dem Gaul einen schallenden Hieb mit einem Lederriemen gab, und als ich wieder herunterkam, war der echte mexikanische Stöpsel nicht mehr da. Ein junger Kalifornier jagte ihm nach, fing ihn ein und fragte, ob er einen Ritt mit ihm machen dürfe. Ich gestattete ihm diesen Hochgenuß. Er bestieg den Echten und flog ebenfalls einmal in die Höhe, rannte ihm aber, wie er herunterkam, die Sporen in die Rippen, worauf der Gaul davonging wie ein Telegramm. Er schwebte über drei Zäune wie ein Vogel und verschwand auf der Straße nach dem Washoe-Thal.

Ich ließ mich mit einem Seufzer auf einen Stein nieder und suchte unwillkürlich mit der einen Hand die Stirn, mit der andern den Magen. Ich glaube, ich hatte noch nie die Unzulänglichkeit der menschlichen Maschinerie so gründlich erkannt, – denn ich hätte mindestens eine oder zwei Hände mehr haben sollen, um sie noch an andere Stellen halten zu können. Keine Feder kann beschreiben, wie ich zusammengeschüttelt war. Keine Einbildungskraft reicht hin, um sich vorzustellen, wie ich gänzlich aus dem Leim gegangen, innerlich und äußerlich zerrissen, zerfahren und durch und durch gerüttelt war. Es hatte sich indes eine teilnehmende Schar um mich gesammelt, und ein Mann von ältlichem Aussehen spendete mir den Trost:

»Fremder, Sie sind hereingefallen. Jedermann in diesem Neste kennt dieses Pferd. Jedes Kind, jeder Indianer hätte Ihnen sagen können, daß es bocken würde; es ist im Bocken der schlimmste Teufel in ganz Amerika. Hören Sie, was ich sage. Ich bin Curry, der alte Curry, der alte Abe Curry. Der Gaul ist ein echter mexikanischer Stöpsel durch und durch und dazu noch ein ungewöhnlich niederträchtiger. Ei, Sie Tausendsapperlot, wenn Sie es gescheit angegriffen hätten, so hätten Sie vielleicht ein amerikanisches Pferd für weit weniger kriegen können, als Sie für die elende, alte, fremde Krake bezahlt haben.«

Ich sagte keine Silbe, aber ich nahm mir im stillen vor, falls der Bruder des Auktionators während meines Aufenthalts im Lande zu Grabe getragen werden sollte, alle andern Vergnügungen zu verschieben, um dieses Begräbnis nicht zu versäumen.

Nach einem Galopp von sechzehn Meilen kamen der kalifornische Jüngling und der echte mexikanische Stöpsel wieder in die Stadt gejagt. Die Schaumflocken flogen um sie herum, wie um das Flugwasser, das vor einem Wirbelsturm dahertreibt. Mit einem letzten Satz, den sie über einen Schubkarren und einen Chinesen weg machten, warfen sie vor dem Ranch Anker.

Dieses Keuchen und Schnauben! Wie die roten Nüstern des Pferdes arbeiteten und seine wilden Augen blitzten! Aber war der störrische Gaul etwa geduckt? Nein, wahrhaftig nicht. Seine Herrlichkeit der ‚Sprecher des Hauses‘ glaubte das und wollte auf ihm nach dem Kapitol (Regierungsgebäude) reiten. Allein sogleich machte das Geschöpf einen Satz über einen Haufen Telegraphenstangen weg, halb so hoch wie eine Kirche, und den Weg nach dem Kapitol – eine und dreiviertel Meilen – flog es anstatt zu laufen, d.h. es sauste schnurgerade über alles hinweg, indem es Zäune und Gräben den Krümmungen der Straße vorzog. Als der Sprecher nach dem Kapitol gelangte, war er weit mehr in der Luft gewesen, als auf dem Pferderücken und meinte, ihm sei zu Mute, als habe er die Tour auf einem Kometen gemacht.

Abends kam der Sprecher zu Fuß nach Hause und ließ den ›Echten‹ hinter einem Steinwagen angebunden stehen. Tags darauf überließ ich das Tier dem Sekretär des Hauses zu einem Ritt nach der sechs Meilen entfernten Silbergrube von Dana; auch er kam (um sich Bewegung zu machen) zu Fuß zurück und ließ das Pferd angebunden stehen. Ich mochte den Gaul leihen, wem ich wollte, alle kamen zu Fuß zurück, alle meinten, es fehle ihnen sonst an der nötigen Bewegung. Trotzdem borgte ich ihn fortwährend jedem, der ihn haben wollte; ich dachte, wenn der Gaul sich dabei einen Schaden thäte, könnte ich ihn dem Betreffenden aufhalsen, oder er bräche das Genick, dann müsse mir der Reiter den Wert ersetzen. Es passierte ihm jedoch nicht das Geringste. Er lieferte Stückchen, die noch nie ein Pferd geleistet hat, ohne Hals und Bein zu brechen; aber er kam immer mit heiler Haut davon. Tag für Tag unternahm er Sachen, die man sonst für unmöglich hielt, setzte aber alles durch. Manchmal verrechnete er sich allerdings ein klein wenig und brachte den Reiter in Schaden; aber ihm selbst wurde nie ein Haar gekrümmt. Natürlich hätte ich längst den Versuch gemacht, ihn zu verkaufen, doch fand dieses naive Unternehmen sehr wenig Anklang. Vier Tage lang raste der Auktionator auf ihm in den Straßen auf und ab, wobei er die Leute auseinanderjagte, den Verkehr störte und Kinder zu Boden ritt, ohne irgend ein Gebot zu erhalten – wenigstens kein anderes als die achtzehn Dollars, die ein von ihm gedungener, notorisch vermögensloser Bummler bot. Die Leute lachten nur in aller Freundlichkeit, bezwangen aber ihre Kauflust, falls eine solche überhaupt bei ihnen vorlag. Darauf behändigte mir der Auktionator seine Rechnung und zog den Gaul vom Markte zurück. Nun suchten wir denselben aus freier Hand loszuschlagen, indem wir ihn mit Verlust gegen ausrangierte Grabsteine, altes Eisen, Mäßigkeitstraktätchen – kurz gegen irgend welche Ware in Tausch anboten. Allein die Eigentümer so schöner Sachen waren auf ihrer Hut und aus dem Geschäft wurde nichts. Nie mehr machte ich den Versuch, den Gaul zu reiten. Für einen Menschen, wie ich, der nur über Brüche, innere Schäden u. dgl. zu klagen hatte, reichte das Gehen zur Bewegung vollständig hin. Endlich versuchte ich ihn zu verschenken, aber auch das verfing nicht. Die Leute meinten, an der Meeresküste seien die Erdbeben billig genug zu haben – sie wollten sich nicht selber eins anschaffen. Zuletzt verfiel ich darauf, ihn dem Gouverneur zum Gebrauch für die Brigade anzubieten. Im ersten Augenblick leuchtete sein Gesicht vor Begier auf, nahm aber bald wieder einen gleichgültigeren Ausdruck an, – er meinte, die Sache wäre denn doch gar zu durchsichtig.

Gerade um diese Zeit brachte der Inhaber des Mietstalles mir seine Rechnung für sechswöchige Pflege des Gauls – Stallraum fünfzehn Dollars, Heu zweihundertfünfzig! Der echte mexikanische Stöpsel hatte eine Tonne Heu gefressen, und der Mann behauptete, wenn er ihm den Willen gelassen hätte, würde er wohl hundert Tonnen aufgefressen haben.

Ich will hier in allem Ernste bemerken, daß der gewöhnliche Preis des Heus während dieses und eines Teils des folgenden Jahres wirklich zweihundertfünfzig Dollars die Tonne betrug. Im vergangenen Jahre hatte die Tonne bisweilen fünfhundert Dollars in Gold gekostet, und im Winter vorher war der Artikel so knapp, daß kleine Vorräte gelegentlich achthundert Dollars die Tonne eingebracht hatten! Die Folgen lassen sich leicht erraten: Die Leute trieben ihr Vieh hinaus und überließen es dem Hungertode; noch ehe der Frühling ins Land kam, waren die Thäler von Carson und Gagle mit den Leichnamen der Tiere förmlich übersäet. Jeder alte Ansiedler wird dies bestätigen. Ich ermöglichte es, die Mietstallrechnung zu zahlen, und noch am selben Tage schenkte ich den ›echten mexikanischen Stöpsel‹ einem vorüberziehenden Auswanderer aus Arkansas.

Sechstes Kapitel.

Sechstes Kapitel.

Von Virginia nach San Francisco.

Nun war ich lange genug Berichterstatter bei dem ›Enterprise‹ gewesen und sehnte mich nach Abwechslung. Es befriedigte mich nicht mehr, jährlich einmal nach Carson City zu gehen, um über die Gerichtsverhandlungen zu schreiben und alle drei Monate einmal wegen der Wettrennen und Kürbisausstellungen. Man hatte nämlich im Washoe-Eounty angefangen, Kartoffeln und Kürbisse zu bauen; natürlich gehörte dazu vor allem eine landwirtschaftliche Ausstellung, deren Kosten 10,000 Dollars betrugen, während für 40 Dollars Kürbisse zu sehen waren.

Ich wollte irgendwo anders hin, womöglich nach San Francisco. Was ich eigentlich wollte, wußte ich selber nicht; ich hatte das ›Frühlingsfieber‹ und brauchte wahrscheinlich eine Luftveränderung. Wenn die Bergwerksanteile, welche ich befaß, hunderttausend Dollars wert waren, was nach meiner Ansicht bald der Fall sein mußte, gedachte ich sie zu verkaufen und heimzukehren. Zwar war das eine weit geringere Summe, als ich erwartet hatte, aber füglich konnte ich mich doch anständigerweise damit begnügen, ohne zu fürchten, in Not zu geraten.

Die erste Veränderung verschaffte mir mein Vorgesetzter, Herr Goodman, welcher auf eine Woche verreiste und mich als Hauptredakteur zurückließ. Das war mein Verderben. Den ersten Tag schrieb ich meinen Leitartikel am Morgen. Am zweiten Tag fehlte mir ein Thema und ich verschob die Arbeit bis zum Nachmittag, den dritten Tag nahm ich sie erst am Abend vor und schrieb einen prächtigen Artikel aus der ›Amerikanischen Encyklopädie‹ ab, die eine getreue Freundin der Redakteure im ganzen Lande ist. Am vierten Tage trödelte ich bis Mitternacht und nahm wieder meine Zuflucht zur Encyklopädie. Am fünften Tage zermarterte ich mir das Hirn und ließ die Presse warten, bis ich einen erbitterten Ausfall gegen sechs verschiedene Privatpersonen zu Papier gebracht hatte. Den sechsten Tag arbeitete ich im Schweiße meines Angesichts bis tief in die Nacht hinein und doch kam nichts zu stande; die Zeitung mußte ohne Leitartikel erscheinen. Am siebenten Tage gab ich es von vornherein auf. Am achten kam Herr Goodman wieder und fand sich in sechs Duelle verwickelt. Meine erbitterten Anzüglichkeiten hatten Früchte getragen.

Nur wer selbst einmal Redakteur gewesen ist, weiß, was das heißt. Es ist leicht, aus andern Zeitungen Ausschnitte zu machen oder allerlei Lokalzeug zusammenzuschreiben, wenn man die Thatsachen vor sich hat, aber es ist unendlich schwer, Leitartikel zu verfassen. Die Themas sind schuld daran – das heißt, der häufige Mangel derselben. Tag für Tag plagt und quält man sich, zerbricht sich den Kopf und leidet namenlos – die ganze Welt ist öde und leer und doch müssen die Spalten des Blattes gefüllt werden. Weiß der Redakteur nur, worüber er schreiben soll, so ist seine Arbeit gethan, den Artikel abzufassen ist ein Kinderspiel; aber man stelle sich nur einmal vor, was es heißt, zweiundfünfzig Wochen lang jeden Tag sein Gehirn auszupumpen – der bloße Gedanke daran ist niederschmetternd. Was der Redakteur eines Tageblatts in Amerika im Laufe eines Jahres zusammenschreibt, würde sieben bis acht dicke Bände füllen, in zwanzig Jahren wäre das eine ganze Bibliothek. Was will dagegen die Fruchtbarkeit von Schriftstellern wie Scott, Dickens, Bulwer und Dumas sagen? Ja, wenn sie so massenhaft produziert hätten wie ein Zeitungsredakteur, dann könnte man sie wohl mit Recht anstaunen.

Wie diese Menschen es aushalten, ihre entsetzliche Arbeit und den ungeheuern Verbrauch von Gehirnsubstanz jahraus jahrein fortzusetzen, ist unbegreiflich, denn ihre Beschäftigung besteht nicht etwa in einem mechanischen Zusammentragen von Thatsachen, sie erfordert schöpferische Kraft. Wenn ein Pfarrer allwöchentlich zwei Predigten zu schreiben hat, findet er das auf die Dauer so angreifend, daß er im Sommer zwei Monate Ferien haben muß. Das ist auch ganz in der Ordnung. Aber ein Redakteur schreibt über zehn bis zwanzig Texte jede Woche, zehn bis zwanzig ausführliche Artikel, und fährt das ganze Jahr hindurch ohne Unterbrechung damit fort – eine unerhörte Leistung! Seit ich meine Woche als Redakteur überlebt habe, nehme ich keine Zeitung in die Hand, ohne die langen Spalten des Leitartikels mit Vergnügen zu betrachten und mich im stillen zu wundern, wie zum Henker man es nur fertig bringt.

Herrn Goodmans Rückkehr befreite mich von aller Beschäftigung, denn Berichterstatter wollte ich nicht wieder werden. Wie hatte ich auch als Gemeiner in der Armee dienen können, nachdem ich einmal Feldherr gewesen war? So beschloß ich denn, die Stadt zu verlassen und in die weite Welt zu gehen. Gerade als dies bei mir feststand, erzählte mir mein Kollege Dan eines Tages beiläufig, er sei von zwei Herren aufgefordert worden, mit nach New-York zu gehen, um ihnen beim Verkauf einer reichen Silbergrube zu helfen, die sie in einem neuen Bergwerksdistrikt unserer Gegend entdeckt hatten. Er sollte die Reisekosten vergütet erhalten und ein Dritteil des bei dem Verkauf zu erzielenden Gewinns. Dies Anerbieten, welches mir im höchsten Grade erwünscht gewesen wäre, hatte Dan ausgeschlagen und als ich schalt, daß er mir nicht früher etwas von der Sache gesagt habe, war er höchlich verwundert, daß ich aus Virginia fort wolle; er habe den Herren geraten, sich an Marshall, den Berichterstatter der andern Zeitung zu wenden.

Ich erkundigte mich nun des Näheren bei Dan, ob es sich auch nicht etwa um einen Schwindel handle und ob die Grube wirklich und wahrhaftig vorhanden sei, worauf er erwiderte, die Herren hätten ihm neun Tonnen des Gesteins gezeigt, das sie mit nach New-York nehmen wollten. Er könne getrost versichern, daß er in ganz Nevada noch keine so erzhaltigen Proben gesehen habe; auch für das nötige Bauholz und den Platz zur Errichtung des Pochhammers in der Nähe der Grube sei bereits Sorge getragen. Als ich das hörte, hätte ich Dan am liebsten umgebracht, doch stand ich trotz meines Ärgers davon ab, denn vielleicht war noch nicht alle Hoffnung verloren. Dan behauptete das wenigstens; er sagte, die Herren seien jetzt wieder nach ihrer Grube gereist und würden frühestens in zehn Tagen zurückkehren. Er habe versprochen, ihnen nach ihrer Zurückkunft Marshall oder sonst jemand als Bewerber vorzustellen. Er wolle niemand weiter etwas von der Sache sagen, bis sie wieder kämen und dann meine Person in Vorschlag bringen.

Das war eine herrliche Aussicht. Ich legte mich an jenem Abend in fieberhafter Aufregung zu Bette. Bisher war es noch niemand eingefallen, nach dem Osten zu reisen, um eine Silbergrube in Nevada zu verkaufen. Eine Mine, wie sie Dan beschrieb, mußte in New-York im Handumdrehen Abnehmer finden und eine fürstliche Summe einbringen. Schlafen konnte ich nicht, meine Einbildungskraft schwelgte in den glänzendsten Luftschlössern.

Dan hatte versprochen, genau acht zu geben, wann die Herren wiederkämen, und so fuhr ich denn am nächsten Tage frohen Mutes mit der Postkutsche nach Kalifornien ab. Es fehlte auch nicht an den Abschiedsfeierlichkeiten für mich, wie sie dort bei der Abreise eines alten Bürgers üblich sind. Wenn man im Westen nur ein halbes Dutzend Freunde hat, so machen sie Lärm genug für hundert, damit es nur nicht so aussieht, als würde man ganz vernachlässigt und müßte ohne Sang und Klang von dannen ziehen.

Nicht ohne Bedauern schied ich von der Stadt, in welcher ich mich meines Lebens gefreut hatte, wie nie zuvor. Mir ahnte wohl, daß ich der winzigen Flagge für immer Lebewohl sagte, die nicht größer als das Taschentuch einer Dame von dem höchsten Gipfel des Mount Davidson herunterwehte, zweitausend Fuß über den Dächern von Virginia. In Wirklichkeit war die Fahne dreißig Fuß lang und zehn Fuß breit.

Wir rollten durch Thal und Ebene dahin, klommen in den Sierras bis zu den Wolken empor und schauten herab auf Kalifornien im Sommerkleide. Will man die kalifornische Landschaft im höchsten Reize sehen, so muß man sie aus der Ferne betrachten. Zwar läßt sich die Erhabenheit und Majestät der Berge von jedem Standpunkt aus bewundern, erst die Ferne aber verleiht ihnen reichere Farben und läßt ihre rauhen, zerrissenen Formen weniger schroff erscheinen. Auch der kalifornische Wald macht sich am besten in der Entfernung; da er meist Baumarten von ein und derselben Familie enthält: Weißtannen und Rottannen, Sprossenfichten und Föhren, so bieten sie von nahe gesehen ein ermüdendes Einerlei; alle strecken ihre starren Arme nach unten und zur Seite, als wollten sie den Menschen immer und immer wieder warnend zurufen: »Bst! hier wird nicht gesprochen – sonst stört ihr jemand.« Auch daß es ewig nach Pech und Terpentin riecht, macht einen trostlosen Eindruck und man wird ganz schwermütig von dem fortwährenden Seufzen und Klagen in den Wipfeln. Schreitet man geräuschlos über den Teppich von zerstampfter gelber Rinde und toten Nadeln, so kommt man sich vor wie ein irrender Geist mit lautlosem Fußtritt. Die ewigen Nadelbüschel wird der Wanderer endlich überdrüssig und sehnt sich nach richtigen, wohlgeformten Blättern; er möchte sich auf Moos oder Gras lagern und findet keines, denn überall wo der Boden nicht von Nadeln bedeckt ist, giebt es nur nackten Lehm und Schmutz, was weder für träumerisches Sinnen noch reinliche Kleidung günstig ist. Zwar besitzt Kalifornien auch Grasebenen, doch nehmen sie sich ebenfalls besser in der Entfernung aus, denn die Grashalme sind zwar hoch, stehen aber steif und selbstbewußt da, ungesellig weit von einander, mit Flecken dürren Sandes dazwischen.

Es gehört zu dem Wunderlichsten, was ich kenne, wenn Reisende aus den Staaten Neuenglands über die Lieblichkeit des ›immerblühenden Kaliforniens‹ schwärmen. Sie würden ihre Begeisterung vielleicht mäßigen, wüßten sie, mit wie anbetender Bewunderung alte Kalifornier die Landschaften des Ostens anstaunen. Das glänzende Grün in seiner verschwenderischen Fülle und saftigen Frische, der üppige Reichtum des Laubes mit den mannigfaltigen Blätterformen und Arten erscheint ihnen wie ein Blick ins Paradies im Vergleich zu den staubbedeckten, mißfarbenen Sommergewächsen Kaliforniens. Über dies ernste, düstere Land in Entzücken zu geraten, wenn man die Wiesenflächen Neuenglands, seine Eichen-, Ahorn- und Ulmenbäume im Sommerschmuck gesehen hat, oder die vielfarbige Pracht des Herbstes, in der seine Wälder strahlen – wäre einfach lächerlich, wenn es nicht etwas so Rührendes hätte.

Kein Land mit unveränderlichem Klima kann sehr schön sein. Nicht einmal die Tropen sind es, man mag von ihrem Zauber schwärmen so viel man will. Sie berücken uns wohl zuerst, aber der Reiz schwindet allmählich bei dem ewigen Einerlei. Die Natur bedarf des Wechsels, um alle ihre Wunder zu entfalten. In einem Lande, das vier wohl abgegrenzte Jahreszeiten hat, kann es weder Eintönigkeit geben noch Mangel an Schönheit. Jede Jahreszeit birgt dort eine Welt von Freude und Interesse, die sich vor uns enthüllt, sich stufenweise und harmonisch zu immer reicherer Schönheit entwickelt und, wenn man anfängt, sie satt zu bekommen, rechtzeitig verschwindet, um etwas völlig anderem Platz zu machen, das den Naturfreund durch neue Pracht und Herrlichkeit zu bezaubern weiß.

*

San Francisco ist eine Stadt, in der es sich prächtig lebt; es nimmt sich in gehöriger Entfernung auch stattlich und hübsch aus, von nahe gesehen merkt man aber, daß die Bauart meist altmodisch ist. Viele Straßen bestehen aus verfallenen, rauchgeschwärzten, hölzernen Häusern, und die öden Sandhügel in der nächsten Umgebung fallen gar zu sehr ins Auge. Selbst das heitere Klima macht sich bisweilen angenehmer, wenn man davon liest, als wenn man es persönlich kennen lernt; ein klarer, wolkenloser Himmel verliert mit der Zeit seinen Reiz, doch wenn der ersehnte Regen endlich eintritt, so bleibt er um so länger. Ein Erdbeben ist zwar lustig, doch thut man auch besser daran, es von ferne zu betrachten. Hierüber sind jedoch die Ansichten verschieden.

Das Klima von San Francisco ist, wie gesagt, mild und gleichmäßig; während des ganzen Jahres steht das Thermometer ungefähr auf siebzig Grad F., es wechselt kaum jemals. Sommer und Winter schläft man unter einer leichten Decke und braucht nie ein Moskitonetz. Man trägt keinen Sommeranzug, sondern schwarze Tuchkleider, wenn man sie hat, im August wie im Januar; zieht keinen Überrock an und bedarf keines Fächers. In den Sommermonaten ist es zwar oft windig, aber wer das nicht liebt, kann nach Oakland hinübergehen, nur ein paar Meilen weit, wo gar kein Wind weht. In neunzehn Jahren hat es in San Francisco nur zweimal geschneit und selbst dann blieb der Schnee nur lange genug auf dem Boden liegen, daß die Kinder sich verwundert fragen konnten, was das wohl für federiges Zeug sein möchte.

Acht Monate hinter einander ist der Himmel hell und wolkenlos, da fallt kein Tropfen Regen. Wer aber keinen Regenschirm hat, wenn die andern vier Monate kommen, muß sich einen stehlen, denn ohne den geht es nicht. Man braucht ihn nicht etwa nur einen Tag, sondern hundertundzwanzig Tage nach einander ohne Ausnahme. Will man einen Besuch machen, in die Kirche oder ins Theater gehen, so sieht man nicht nach den Wolken, ob Regen droht oder nicht, man fragt nur den Kalender. Ist es Winter, so regnet es, ist es Sommer, so regnet es nicht, dagegen läßt sich nichts machen. Blitzableiter sind nicht vonnöten, denn es giebt keine Gewitter. Hat man sechs bis acht Wochen lang gehört, wie der Regen gleichförmig und trübselig herniederströmt, dann wünscht man von ganzem Herzen, der Donner möchte einmal durch die schläfrigen Himmelsräume rollen und krachen und brüllen, damit alles lebendig würde, der Blitz möchte das düstere Firmament zerreißen und es nur auf einen einzigen Augenblick mit blendendem Glanz erhellen. Was würde man nicht darum geben, den lieben alten Donner zu hören und zu sehen, wie jemand vom Blitz erschlagen wird! – Und hat man im Sommer vier Monate hindurch den grellen, mitleidslosen Sonnenschein erduldet, so möchte man auf den Knieen um Regen, Hagel, Schnee, Donner und Blitz flehen – um irgend eine Abwechslung in dem trostlosen Einerlei; – sogar mit einem Erdbeben wäre man zufrieden, wenn man nichts Besseres haben kann, und das ist noch am ersten zu bekommen.

San Francisco ist auf Sandhügeln erbaut, aber es sind fruchtbare Sandhügel, die einen reichen Pflanzenwuchs erzeugen. Die seltenen Blumen, welche die Leute im Osten sorgfältig in Treibhäusern und Töpfen ziehen, gedeihen dort das ganze Jahr hindurch unter freiem Himmel in üppiger Fülle: Kallas, Geranien, Passionsblumen, Moosrosen – ich weiß nicht den zehnten Teil von allen Namen. Wenn m New-York alles von Schnee und Eis starrt, bedeckt sich der Boden in Kalifornien mit Blumen und Blüten; der Mensch braucht nur alles wachsen zu lassen wie es will, ohne sich hineinzumischen.

Ich habe an einer anderen Stelle von dem ewigen Winter in Mono gesprochen und jetzt eben von dem endlosen Frühling in San Francisco. Reist man nun etwa hundert Meilen in direkter Linie weiter, so kommt man in den fortwährenden Sommer von Sacramento. In San Francisco hat man weder Sommerkleider noch Moskitos, aber in Sacramento ist beides zu finden. Nicht immer und ohne Aufhören, aber im Laufe von zwölf Jahren etwa 143 Monate lang. Der Leser kann sich leicht vorstellen, daß dort immer Blumen blühen, daß die Menschen morgens, mittags und nachts schwitzen, fluchen und ihre beste Lebenskraft damit verbrauchen, sich Luft zuzufächeln. Es ist dort heiß, aber wenn man nach Fort Duma hinunterkommt, dürfte man es noch heißer finden. Dort steht das Thermometer fast unabänderlich auf 120 Grad (Fahrenheit) im Schatten, ausgenommen, wenn es noch höher steigt. Dieser heißeste Ort der Erde ist ein Militärposten der Vereinigten Staaten und seine Bewohner gewöhnen sich so an die schreckliche Hitze, daß sie es ohne dieselbe nicht aushalten können. Die Sage erzählt, daß dort einst ein gottloser Soldat starb und natürlich sofort in den heißesten Winkel der Hölle hinunterfuhr. Und siehe da, am nächsten Tage telegraphierte er zurück, man möge ihm seine Decken schicken! – Die Wahrheit dieser Überlieferung ist nicht zu bezweifeln; ich habe selbst die Schenke gesehen, in welche der Soldat einzukehren pflegte.

In dem beständigen Sommerwetter von Sacramento kann der Reisende um acht oder neun Uhr morgens Rosen pflücken, Erdbeeren und Gefrorenes essen, sich in weiße Leinwand kleiden, nach Luft schnappen und schwitzen. Setzt er sich dann auf die Eisenbahn, so kann er um 12 Uhr den Pelz anziehen, die Schlittschuhe anschnallen und über den gefrorenen Donner-See dahinschweben, 7000 Fuß über dem Thal, zwischen fünfzehn Fuß hohen Schneewehen und in unmittelbarer Nähe der gewaltigen Berggipfel, die ihre eisigen Klippen 10 000 Fuß über der Meeresfläche erheben. In der ganzen westlichen Hemisphäre findet sich nirgends ein so plötzlicher Übergang. Die Eisenbahn fährt in kühnen Windungen durch die schneebedeckte Gegend 6000 Fuß über dem Meere bis zum Stillen Ozean. Wie ein Vogel aus der Luft schaut man herab auf den ewigen Sommer des Sacramento-Thales, das mit seinen fruchtbaren Feldern, seinen blühenden Bäumen und seinen Silberströmen in den weichen Duft der Atmosphäre eingehüllt ruht. Auf dies köstliche, traumhafte Bild aus dem Feenland blickt der Reisende durch ein furchtbares Thor von Eis und Schnee, durch wilde Klüfte und Abgründe – ein wirkungsvoller Gegensatz, der den Eindruck mächtig erhöht.

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Buck Fanshaws Begräbnis.

Irgend jemand hat einmal gesagt, daß sich der Geist, welcher in einer Bürgerschaft herrscht, am besten darnach beurteilen läßt, wen von ihren Gliedern die Gemeinde mit der größten Feierlichkeit zu Grabe trägt.

Zur flotten Zeit in Virginia erwiesen die beiden Hauptklassen der Bevölkerung ihren großen Toten ungefähr die gleiche Ehre. Wer sich durch seine Wohlthaten für das Gemeinwesen den berühmtesten Namen gemacht hatte, erhielt ein ebenso prächtiges Begräbnis, wie der berühmteste Raufbold. Als Buck Fanshaw das Zeitliche segnete, machte man viel Aufhebens von ihm. Er galt für einen würdigen Vertreter der Bürgerschaft, stand einer großartigen Schankwirtschaft vor und hatte auch ›seinen Mann getötet‹, allerdings nicht im eigenen Streit, sondern um einen Fremden gegen die Angriffe der feindlichen Übermacht zu schützen. Er hatte ein flottes Weibsbild besessen, von dem er sich auch ohne die Umstände einer Ehescheidung hätte trennen können. Bei der Feuerwehr bekleidete er ein hohes Amt und war ein Held ohne Gleichen in der Politik. Als er starb, ging eine laute Klage durch die ganze Stadt, aber ganz besonders wurde sein Tod in den untersten Schichten der Gesellschaft beweint. Die Totenschau ergab, daß Buck Fanshaw im Fieberwahn einer zehrenden Krankheit Arsenik genommen, sich dann in die Brust geschossen und die Kehle abgeschnitten hatte, worauf er vier Stock hoch aus dem Fenster gesprungen war und den Hals gebrochen hatte. Die Jury (d. h. die Behörde, welche die Totenschau vornimmt) ließ sich durch ihren Kummer die Klarheit des Urteils nicht trüben. Sie hat nach längerer Verhandlung den Ausspruch, daß Fanshaws Tod durch eine ›Heimsuchung Gottes‹ verursacht worden sei.

Für die Leichenfeier wurden die großartigsten Vorbereitungen getroffen. Alle Fuhrwerke im Ort waren bestellt, sämtliche Schankwirtschaften kleideten sich in Trauerflor, die Fahnen der Stadt und der Feuerwehr hingen auf Halbmast und die ganze Löschmannschaft zog in Uniform mit schwarzverhüllten Pumpen auf.

Beiläufig muß ich noch bemerken, daß im Silberland jedes Volk der Erde durch irgend einen Abenteurer vertreten ist und jeder dieser Abenteurer das seinem Geburtsort eigentümliche Kauderwelsch mitgebracht hat. Es giebt daher keine reichere, kräftigere und abwechslungsvollere Ausdrucksweise in der ganzen Welt als die in Nevada herrschende Sprache. Selbst Prediger mußten sich entschließen, in diesem Kauderwelsch zur Gemeinde zu sprechen, wollten sie sich verständlich machen. Gewisse Redensarten waren fortwährend in aller Munde und flossen jedem ganz unbewußt über die Lippen, ohne daß sie irgendwelchen Sinn hatten oder den geringsten Bezug auf das Thema, das gerade besprochen wurde.

Nachdem die Totenschau über Buck Fanshaw gehalten worden war, kam die trauernde Bürgerschaft zur Beratung zusammen; denn an der Küste des stillen Ozeans finden bei jeder Gelegenheit Versammlungen statt, um die Volksstimmung öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Man faßte mancherlei Beschlüsse wegen der Bestattung und verschiedene Komitees wurden eingesetzt, unter anderem auch eines, das den Auftrag erhielt, die Leichenpredigt zu bestellen.

Dies zu besorgen hatte ›Scotty‹ Briggs übernommen, welcher denn auch rechtzeitig dem Geistlichen seinen Besuch machte. Letzterer, ein zarter, friedliebender junger Mann aus dem Osten, war eben erst auf einem theologischen Seminar flügge geworden und mit den Sitten und Gebräuchen der Bergwerksbevölkerung völlig unbekannt. Wenn er in spätern Jahren seine Unterredung mit Scotty, dem Komiteemitglied, schilderte, verlohnte es sich wohl der Mühe zuzuhören.

Scotty Briggs war ein kühner Raufbold, dessen Amtstracht bei feierlicher Gelegenheit – wenn er z. B. wie jetzt im Namen des Komitees auftrat – aus einem Feuerwehr- Helm und einem scharlachroten Flanellhemde bestand; der Revolver hing ihm vom breiten Ledergürtel herab, den Rock trug er über dem Arm und seine Beinkleider steckten in hohen Stulpenstiefeln. Kein Wunder, daß er von dem blassen jungen Theologen gewaltig abstach. Scotty besaß übrigens, nebenbei gesagt, ein warmes Herz und große Anhänglichkeit an seine Freunde; auch fing er keine Händel an, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Meist stellte es sich bei Scottys Raufereien heraus, daß er ursprünglich gar nichts mit der Angelegenheit zu thun gehabt und sich nur aus angeborener Gutmütigkeit hineingemischt hatte, um dem Schwächeren beizustehen. Schon seit Jahren waren Buck Fanshaw und Scotty Busenfreunde und hatten einander getreulich geholfen in manchem Kampf und Abenteuer. Man erzählt zum Beispiel, daß sie eines Tages mehrere fremde Burschen im Handgemenge sahen, rasch die Röcke abwarfen und für den gerade unterliegenden Teil eintraten. Als sie sich nach schwer errungenem Sieg umsahen, was aus ihren Schützlingen geworden sei, waren diese längst über alle Berge und hatten die Röcke ihrer Beschützer zu eigenem Gebrauch mitgenommen.

Doch kehren wir zu Scottys Besuch bei dem Prediger zurück. Er hatte eine Trauerbotschaft auszurichten und tiefer Gram sprach aus seinen Zügen. Ohne weiteres nahm er dem Geistlichen gegenüber Platz, stellte seinen Feuerwehrhelm dem Pfarrer dicht vor die Nase, gerade auf eine halbfertig geschriebene Predigt, wischte sich mit einem rotseidenen Sacktuch die Stirn ab und stieß einen schweren Seufzer aus, als passendste Einleitung für sein trübseliges Geschäft. Vor Rührung war ihm zuerst die Kehle wie zugeschnürt und seine Augen wurden feucht; doch bezwang er sich mannhaft und sagte mit wahrer Grabesstimme:

»Sind Sie der Herr, der bei dem frommen Grubenbau hier nebenan zum Schichtmeister bestellt ist?«

»Ob ich der – entschuldigen Sie – ich habe nicht recht verstanden – wie meinen Sie?«

Scotty ließ ein schmerzliches Schluchzen vernehmen und einen noch tieferen Seufzer.

»Sehen Sie,« sagte er, »wir sitzen in der Klemme und die Jungens glaubten, Sie könnten uns vielleicht heraushelfen, wenn wir Sie ins Schlepptau nehmen. Das heißt, im Fall ich hier an der rechten Schmiede bin und den Obermeister des Hallelujah-Fahrschachts hier nebenan vor mir habe.«

»Ich bin der Hirte, dem die Sorge für die Schafe obliegt, deren Hürde hier in der Nachbarschaft steht.«

»Wer, sagen Sie?«

»Der geistliche Berater einer kleinen Schar von Gläubigen, deren Heiligtum dicht an mein Wohnhaus stößt.«

Scotty kratzte sich hinter den Ohren, überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Da sind Sie mir über. Die Karte kann ich nicht bekennen, Meister. Man muß den Eimer weitergeben.«

»Wie meinen Sie? – Verzeihung, aber ich weiß nicht recht –«

»Mir scheint, wir sind beide noch nicht im richtigen Fahrwasser. Sie haben keine Witterung mit mir und ich habe keine Witterung mit Ihnen. – Die Sache ist nämlich so: Einer von uns Jungens kann nicht mehr im Geschirr gehen und wir möchten für ihn einen ordentlichen Kehraus haben; daher bin ich hier, um jemand aufzutreiben, der uns ein wenig Klingklang dazu macht, damit der Tag noch ein gutes Ende nimmt.«

»Bester Freund, mir wird bei Ihren Worten immer verwirrter zu Sinn. Was Sie sagen, ist mir völlig unklar. Könnten Sie sich nicht etwas einfacher ausdrücken? Anfänglich glaubte ich schon zu verstehen, was Sie wünschen, aber jetzt tappe ich wieder im Dunkeln. Würde es nicht die Angelegenheit wesentlich beschleunigen, wenn Sie sich auf kategorische Angaben der Thatsachen beschränkten, ohne das Verständnis durch Anhäufung von Bildern und Allegorien zu erschweren?«

Eine abermalige Pause und Überlegung. Dann bemerkte Scotty:

»Ich kann wieder nicht bekennen – ich passe.«

»Wie?«

»Sie haben mich übertrumpft, Meister.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Was sie zuletzt ausgespielt haben, kann ich nicht stechen, kann auch nicht mit der Farbe bedienen.«

Der Pfarrer lehnte sich verblüfft in seinen Stuhl zurück. Scotty stützte den Kopf auf und versank in tiefes Nachdenken. Bald blickte er jedoch wieder in die Höhe und fügte mit trübseliger Miene, aber doch voll Zuversicht:

»Jetzt hab‘ ich’s, so daß Sie’s schlucken können. Wir brauchen einen Predigtmacher – einen Pfarrer.«

»Warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt? Ich bin der Geistliche – der Pfarrer.«

»Bravo, das ist einmal ein Wort! Sie sehen, ich war zuerst gegen die Mauer gerannt und bin nun mit einem Satz hinüber. Schlagen Sie ein!«

Er streckte seine nervige Faust aus, umschloß des Predigers kleine Hand und schüttelte sie in brüderlichem Mitgefühl und herzlichem Vertrauen. »Jetzt ist die Sache in Ordnung, Meister,« fuhr er fort; »fangen wir nun von Frischem an, und wenn ich dabei etwas greine, so achten Sie nicht weiter darauf, denn, wir sind eben in einer argen Klemme, weil einer von den Jungens plötzlich Schicht gemacht hat.«

»Schicht gemacht?«

»Ja, er hat den Eimer umgeworfen, wissen Sie.«

»Ach, Sie meinen, er ist in jenes geheimnisvolle Land gefahren, von dessen Gestaden kein Wanderer jemals wiederkehrt?«

»Nein, er kehrt nicht wieder. Die Rechnung stimmt. Er ist ja tot, Meister.«

»Ja, ja, ich verstehe schon.«

»Wirklich? Na, ich dachte doch, daß ich Sie irgendwie anhaken konnte. Es ist ganz richtig, er ist wieder tot –«

»Wieder? Ist er denn schon früher einmal gestorben?«

»Früher einmal? Bewahre! Glauben Sie denn, ein Mensch hat neun Leben wie eine Katze? Aber, was gilt die Wette – jetzt ist er ganz und gar tot, der arme Junge; hätte ich nur den Tag nie erlebt. Einen bessern Freund wie Buck Fanshaw giebt es nicht auf der Welt. Ich kannte ihn durch und durch – und wenn ich einen kenne und liebe, mit dem bin ich wie zusammengewachsen, das können Sie mir glauben. Solche Kernmenschen findet man nicht wieder, da kann man lange suchen. Keinen Freund hat Buck Fanshaw je im Stich gelassen. Aber nun ist das alles aus – und vorbei. Er hat ihn doch untergekriegt.«

»Wer denn?«

»Nun, der Tod. – Ja, ja, es hilft nichts, wir müssen ihn aufgeben. Eine arge Welt ist’s doch, in der wir leben, nicht wahr? Aber Meister, das sag‘ ich Ihnen, so einen Ringkämpfer wie den giebts nicht zum zweitenmal. Es war eine Lust ihm zuzusehen – bloß seine Fäuste brauchte er und freien Spielraum, dann gings drauf und dran. Es war ein ganzer Teufelskerl. Ich sage Ihnen, er hielt sich dran, er blieb nichts schuldig.«

»Wie meinen Sie?«

»Nun, er zahlte heim beim Faustkampf, verstehen Sie – wo’s gerade hinging: auf Schädel, Schultern, Brust! Heiliges Donnerwetter! – entschuldigen Sie dieses Wort, aber ich kann nicht alles so sanft und mild herausbringen. Und nun müssen wir ihn aufgeben, es hilft nichts, die Rechnung stimmt. Wenn Sie uns nun beistehen möchten bei der Verpflanzung –«

»Ich soll die Leichenpredigt halten und der Begräbnisfeier beiwohnen?«

»Begräbnisfeier – ja, ja. Das ist’s, wo wir hinauswollen. Er war sein Lebtag nicht knickerig und bei seiner Bestattung soll nichts abgeknapst werden. Echt silberne Beschläge am Sarg und sechs Trauerfahnen über der Bahre; auf dem Bock ein Neger in seiner Wäsche und den Seidenhut auf dem Kopf – es mag so hoch kommen, wie es will. Für Sie, Meister, werden wir auch Sorge tragen, seien Sie nur ganz ruhig. Sie bekommen einen Wagen, und wenn Sie sonst noch ‚was brauchen, nur heraus damit, es soll schon angeschafft werden. Im Trauerhause wird so ein Dingrich aufgerichtet, dahinter können Sie sich stellen. Seien Sie nur nicht bange, sondern blasen Sie in Ihr Horn und bringen Sie unsern Kameraden so glatt durch wie nur möglich. Wer ihn gekannt hat, wird Ihnen sagen, daß er der bravste Kerl in der ganzen Gegend war. Sie können das gar nicht stark genug betonen. Wenn Unrecht geschah, war er außer stande es mit anzusehen. Daß es hier in der Stadt so ruhig und friedlich zugeht, ist hauptsächlich sein Verdienst. Ich war selbst einmal dabei, wie er in einer einzigen Viertelstunde vier Schwindler durchgebläut hat. Wenn es galt Ordnung zu stiften, sah er sich nicht lange um, wer wohl Hand anlegen könnte, sondern griff selbst zu. Mit den Katholiken wollte er nichts zu thun haben; sein Wahlspruch war: »Irländer sind ausgeschlossen,« aber doch stand er für ihre Rechte ein, als einmal ein paar wüste Kerle sich Bauplätze auf dem katholischen Begräbnisort abstecken wollten. Die mußten gut Reißaus nehmen – ich hab’s mit angesehen.«

»Die Gesinnung war jedenfalls lobenswert, ob die That selbst, lasse ich dahingestellt. Hatte denn der Verstorbene religiöse Überzeugungen? Das heißt – fühlte er seine Abhängigkeit von einer höheren Macht und unterwarf er sich ihren Fügungen?«

Abermaliges Nachdenken.

»Jetzt bin ich wieder wie vor den Kopf geschlagen, Meister. Könnten Sie das nicht noch einmal sagen – so recht langsam?«

»Ich meine nur – um mich ganz klar auszudrücken – hat er je in Verbindung mit irgend einer Gemeinschaft gestanden, die sich dem weltlichen Getriebe fernhielt, sich in Selbstverleugnung übte und im Gehorsam gegen das Sittengesetz?«

»Das war ein Fehlschuß; thun Sie noch einmal Pulver auf die Pfanne.«

»Was sagen Sie?«

»Jedesmal, wenn Sie so loslegen, bleibe ich im Hintertreffen. Sie bekommen die beste Hand und ich habe kein Glück. Mischen wir lieber noch einmal von neuem.«

»Was? Soll ich von vorn anfangen?«

»Ja, das wäre mir gerade recht.«

»Nun denn – war er ein guter Mann und –«

»Halt – das leuchtet mir ein. Warten Sie erst einmal, ehe wir weiter gehen. Ein guter Mann – das will ich meinen; der beste Mann von der Welt, Sie hätten ihn auch lieb haben müssen. Noch beim letzten Wahlgang hat er die Unruhen beschwichtigt, bevor sie recht zum Ausbruch kamen; außer ihm hätte das keiner gekonnt. Vierzehn Männer mußte man in den ersten fünf Minuten vom Platze tragen, so hat er’s ihnen eingetränkt. Er stimmte immer für den Frieden, jeder Aufruhr war ihm ein Greuel und sein Tod ist ein großer Verlust für die Stadt. Es würde die Jungens freuen, wenn Sie ihm die Gerechtigkeit erwiesen, das anzubringen. Schneller laufen konnte er, höher springen, derber treffen und flotter trinken, als irgend jemand auf hundert Meilen in der Runde. Das vergessen Sie nicht, Meister, die Jungens werden es Ihnen hoch anschlagen. Dann können Sie auch noch sagen, daß er seine Mutter nie geschüttelt hat.«

»Warum sollte er denn das thun? das wäre ja entsetzlich.«

»Das meine ich auch, aber es giebt doch Leute, die es thun.«

»Aber doch niemand, der Ehre im Leibe hat!«

»Doch – welche, die sonst gar nicht so übel sind.«

»Nach meiner Meinung sollte ein Mann, der die Hand gegen seine Mutter zu erheben wagt –«

»Wo denken Sie hin, Meister – da haben Sie ‚mal gründlich fehlgeschossen. Was ich sagen will ist, daß er seine Mutter nicht abgeschüttelt hat, sie verstoßen, wissen Sie. Er hat ihr ein Haus zum wohnen gegeben und Ackerland und Geld die Fülle, hat für sie gesorgt und immer nach ihr gesehen. Und als sie die Blattern kriegte, hat er nachts bei ihr gesessen und sie gepflegt – ich will verdammt sein, wenn’s nicht wahr ist. Bitte um Verzeihung – das fuhr mir nur so heraus. Ich wollte Sie nicht kränken, Meister. Sie haben mich anständig behandelt; ich glaube, Sie sind weiß und rein und meinen es ehrlich. Ich habe Gefallen an Ihnen gefunden und jeden, der Sie nicht liebt, will ich durchbläuen, daß er das Aufstehen vergißt. Da, schlagen Sie ein!«

Er schüttelte dem Pfarrer abermals herzlich die Hand und fort war er.

*

Das Leichenbegängnis fiel ganz so aus, wie die Jungens es sich wünschten. Eine solche Trauerfeier hatte Virginia noch nie erlebt. Alle Geschäfte waren geschlossen, die Blasinstrumente ließen Totenlieder erklingen, die Bahre war schwarz verhängt, die Fahnen auf Halbmast. Bei dem Trauergefolge sah man lange Züge von Militärpersonen, Feuerwehrleuten, Mitglieder geheimer Gesellschaften in Uniform, umflorte Feuerspritzen, Wagen mit Vertretern von Behörden, Bürger in allerlei Fuhrwerken und zu Fuß. Das großartige Gepränge zog Scharen von Zuschauern herbei, von denen die Straßen, Fenster und Dächer wimmelten. Noch lange Jahre nachher kannte man keinen andern Maßstab für die Pracht und Größe einer öffentlichen Schaustellung in Virginia, als den Vergleich mit Buck Fanshaws Begräbnis.

Scotty Briggs ging als einer der Hauptleidtragenden hinter dem Sarge. Als die Leichenrede zu Ende war und das letzte Gebet für die Seele des Toten verhallt, sagte er mit leiser Stimme und tiefem Gefühl: »Amen. Irländer sind ausgeschlossen.« Dies war des Verstorbenen Lieblingsredensart gewesen und wahrscheinlich wiederholte sie Scotty in diesem Augenblick nur zum ehrenden Gedächtnis für seinen abgeschiedenen Freund.

In späteren Jahren zeichnete sich Scotty Briggs dadurch aus, daß er der einzige unter den Raufbolden Virginias war, der sich für religiöse Belehrung zugänglich erwies. Der Mann, welcher sich aus eigenem Antrieb und angeborenem Edelmut stets der Sache der Schwächeren gegen ihre Feinde angenommen hatte, war gar kein ungeeignetes Glied für die Christengemeinde. Er fand als solches Gelegenheit, die Großmut und Unerschrockenheit seines Charakters auf einem weiteren, fruchtbringenden Felde zu bethätigen. Die Kinder, welche er in der Sonntagsschule unterrichtete, machten raschere Fortschritte als alle übrigen, was gar nicht zu verwundern war, denn er redete mit den kleinen Sprößlingen der Bergleute in einer Sprache, die sie verstanden.

Noch einen Monat vor seinem Tode hatte ich das Glück, zu hören, wie er seiner Klasse die schöne Geschichte von Joseph und seinen Brüdern aus dem Kopf erzählte, ohne dabei ins Buch zu sehen. Ich überlasse es dem Leser, sich einen Begriff von dem Eindruck zu machen, den sie aus dem Munde des eifrigen Lehrers auf die kleinen Schüler hervorbrachte. Sie lauschten seinen Worten in atemloser Spannung und weder er noch sie schienen sich im geringsten bewußt, daß der biblischen Erzählung Gewalt angethan, ihre Heiligkeit entweiht, oder überhaupt ein Verstoß gegen die althergebrachte Sitte begangen werde.

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Die angesehensten Bürger-Schwurgerichte.

In den ersten sechsundzwanzig Gräbern des Kirchhofs von Virginia sind die Leichen von Ermordeten bestattet. Das sagte und glaubte man wenigstens allgemein. Das gewaltthätige Element herrscht in jedem neuen Bergwerksdistrikt vor; erst wenn einer ›seinen Mann‹ getötet hatte, wie die Redensart lautet, konnte er sich Achtung verschaffen. Mord und Totschlag waren daher an der Tagesordnung. Bei einem fremden Ankömmling fragte man nicht danach, ob er geschickt, ehrlich und arbeitsam sei, sondern, ob er schon ›seinen Mann getötet‹ habe. War dies nicht der Fall, so sank er zu der ihm gebührenden niedrigen Stellung herab, aus der er sich mit unbefleckten Händen nur mühsam emporarbeiten konnte. Ein Totschläger dagegen wurde, je nach der Zahl seiner Opfer, mit mehr oder weniger Herzlichkeit bewillkommnet und jeder beeilte sich, seine Bekanntschaft zu machen. Kein Wunder daher, daß so viele strebten, diesen Ruhm zu erwerben. Ich habe selbst zwei junge Leute gekannt, die nur zu diesem Zweck, ohne irgend welche Herausforderung, den Versuch machten, ›ihren Mann zu töten‹ und selbst dabei ums Leben kamen. Eine Zeitlang standen in Nevada der Anwalt, der Bankier, der Herausgeber der Zeitung, der stärkste Raufbold, der glücklichste Spieler und der Schenkwirt in gleichem Ansehen und nahmen die höchste gesellschaftliche Stellung ein. Wer ein einflußreiches Glied der Gemeinde werden wollte, für den gab es kein wohlfeileres und sichereres Mittel, als mit einer diamantenen Busennadel im Vorhemd hinter dem Schenktisch zu stehen und Whiskey zu verkaufen. Der Schenkwirt besaß eine große Macht über die Gemüter; von ihm hing zumeist der Ausfall der Wahlen ab, und ohne seine Unterstützung und Leitung kam kein wichtiges Unternehmen zustande. Wenn der vornehmste Schenkwirt sich herabließ, ein obrigkeitliches Amt anzunehmen oder in den Gemeinderat zu treten, so galt das als eine große Gunst. Daher war denn auch meist der Ehrgeiz der Jugend nicht darauf gerichtet einen hohen Posten bei der Verwaltung, in der Flotte oder im Heer zu bekleiden, sondern Besitzer einer Schenkwirtschaft zu werden.

Zur höchsten Berühmtheit gelangte also, wer Schenkwirt war und ›seinen Mann getötet‹ hatte. Der Mörder entging meist der ihm gebührenden Strafe, wozu hauptsächlich die Bestimmung beitrug, daß ein Geschworener über den zu verhandelnden Fall in gänzlicher Unwissenheit sein muß, zuvor weder etwas davon gehört, noch gelesen, auch nicht öffentlich seine Meinung geäußert haben darf. In unserm Jahrhundert der Zeitungen und Telegraphen schloß man hierdurch von vornherein jeden gebildeten, rechtschaffenen und verständigen Mann von der Geschworenenbank aus und machte die Schwurgerichte oft zu einem traurigen Possenspiel.

Mir ist ein derartiges Beispiel erinnerlich: Herr B., ein wackerer Bürger, war von einem bekannten Raufbold in übermütiger Laune kalten Blutes umgebracht worden. Natürlich waren alle Tagesblätter voll davon, wer lesen konnte, las die Berichte, wer nicht taub, stumm oder blödsinnig war, sprach darüber. Als es zur Wahl der Geschworenen kam, verwarf man alle tüchtigen, klugen und redlichen Männer; ein sehr angesehener Bankier, ein allgemein beliebter Prediger, ein Kaufmann von anerkannt rechtschaffenem Charakter, der hochachtbare Besitzer einer Quarzgrube, ein Bergwerksdirektor, der den besten Ruf genoß – sie alle wurden von der Liste gestrichen. Jeder einzelne von ihnen versicherte zwar, daß die umlaufenden Gerüchte und Zeitungsartikel sein Urteil nicht dergestalt beeinflußt hätten, daß er außer stande sei, sich auf Grund der Thatsachen und beschworenen Zeugenaussagen eine eigene Überzeugung zu bilden, aber das blieb unberücksichtigt. Die Männer waren sämtlich untauglich, da nur völlige Unwissenheit den Geschworenen befähigte, einen gerechten Wahrspruch zu fällen.

Nachdem alle zuerst einberufenen verworfen waren, wählte man zwölf Ersatzmänner, welche beschworen, daß sie von dem Mord, den sich die Indianer der Steppe erzählten und die Steine auf der Gasse zuraunten, weder etwas gehört, noch gelesen, auch nicht darüber gesprochen und ihre Ansicht geäußert hätten. Diese Jury bestand aus zwei Raufbolden, zwei gemeinen Bierbrüdern, drei Schenkwirten, zwei Rancheros, die nicht lesen konnten, und drei Eseln in Menschengestalt, denen die einfachsten Begriffe abgingen. Natürlich verneinten sie die Schuldfrage, das ließ sich nicht anders erwarten.

Wenn man Nevada in seiner ›flotten Zeit‹ schildern und dabei Mord und Totschlag unerwähnt lassen wollte, so könnte man ebenso gut bei einem Bericht über das Mormonentum die Vielweiberei mit Stillschweigen übergehen. Gewaltthätigkeiten waren etwas Alltägliches; der Raufbold stolzierte mit prahlerischer Großthuerei durch die Straßen und wenn er einem seiner bescheidenen Bewunderer vertraulich zunickte, so beglückte diesen der Gruß des berühmten Mannes für den Rest des Tages. In seinem langschößigen Überrock, der bis auf die glänzenden Stulpenstiefel herabhing, den Schlapphut auf dem linken Ohr, kam er den Bürgersteg dahergegangen und die kleinen Straßenlümmel machten Seiner Majestät ehrerbietigst Platz. Trat er in eine Trinkstube, so ließ der Kellner die Beamten und Kaufleute warten, um sich ihm dienstfertig zu erweisen. Wer bei dem Gedränge am Schenktisch Ellenbogenstöße von ihm erhielt, sah sich wohl zornig um, bat aber um Entschuldigung, sobald er ihn erkannt hatte. Zum Dank dafür ward ihm dann ein Blick zu teil, bei dem ihm das Blut in den Adern erstarrte. Der Schenkwirt aber eilte strahlenden Angesichts herbei, um den hohen Gast zu befriedigen, auf dessen Kundschaft er stolz war.

Die Namen dieser langschößigen Revolverhelden waren die berühmtesten im ganzen Territorium; Redner, Präsidenten, Kapitalisten und Gesetzgeber genossen, im Vergleich mit ihnen, nur ein mäßiges Ansehen. Leute, wie Sam Brown, Jack Williams, Billy Mulligan, Pächter Bease, den pockennarbigen Jack, den sechsfingerigen Peter u.a.m., kannte man weit und breit; ich könnte eine lange Liste aufzählen. Es waren furchtbare, übermütige Gesellen, die tollkühn jeder Gefahr trotzten.

Um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich noch erwähnen, daß sie sich meist unter einander rauften und totschlugen, die friedlichen Bürger aber nur selten belästigten. Einem Menschen das Leben zu nehmen, der nicht zum ›Schützenwild‹ gehörte, wie sie es nannten, und dessen Tod keine neue Perle in ihrem Ruhmeskranz bedeutet hätte, galt für unter ihrer Würde. Sie brachten sich gegenseitig bei dem geringfügigsten Anlaß um und jeder von ihnen hoffte und wartete auch seinerseits auf ein gewaltsames Ende, da es fast für eine Schande galt, anders als ›in den Stiefeln‹ zu sterben. Daß ein Raufbold es als zu leichte Beute verschmähte, einer Privatperson den Garaus zu machen, davon habe ich selbst ein Beispiel erlebt. Ich saß einmal spät beim Abendessen in einem Speisehaus mit zwei Berichterstattern und einem kleinen Buchdrucker, den ich Brown nennen will – der Name thut nichts zur Sache. Bald darauf trat ein langschößiger Fremder ein und nahm Platz, ohne Browns Hut zu bemerken, der auf dem Stuhle lag. Als der Kleine sofort aufsprang und zu schimpfen begann, lächelte der Fremde nur spöttisch, glättete den Hut wieder und erging sich in wortreichen Entschuldigungen, indem er Brown mit beißendem Hohn beschwor, ihm nicht das Lebenslicht auszublasen. Dieser entledigte sich auf der Stelle seines Rockes und forderte den Gegner zum Kampf heraus, er drohte ihm, überhäufte ihn mit Schmähungen, äußerte Zweifel an seinem Mut, ja, endlich flehte er ihn sogar an, sich mit ihm zu schlagen. Noch immer spöttisch lächelnd, bat uns der Fremde zuerst, in scheinbarer Angst, um unsern Schutz; dann sagte er, plötzlich ernst werdend:

»Nun, wenn Sie denn durchaus darauf bestehen, so wollen wir meinetwegen kämpfen. Aber, ich bitte Sie, meine Herren, stürzen Sie sich nicht blindlings in die Gefahr, um hernach zu klagen, daß ich Sie nicht gewarnt hätte. Ich kann es mit Ihnen allen zusammen aufnehmen, wenn ich erst einmal loslege. Das will ich Ihnen beweisen, und beharrt mein Freund hier dann noch auf seinem Willen, so soll er ihn haben.«

Der Tisch, an welchem wir saßen, war fünf Fuß lang und ungewöhnlich plump und schwer. Der Fremde sagte, wir möchten das Geschirr einen Augenblick festhalten – in einer der Schüsseln lag ein großer Braten. Dann setzte er sich an ein Ende des Tisches, hob es in die Höhe, stellte zwei von den Beinen auf seine Knie, nahm die Tischplatte zwischen die Zähne, und brachte so, ohne die Hände zu gebrauchen, den Tisch mit sämtlichem Gerät darauf in eine wagerechte Linie. Nach dieser Kraftprobe teilte er uns ferner mit, er könne ein Faß voll Nägel mit den Zähnen aufheben, auch biß er aus einem gewöhnlichen Trinkglas ein halbkreisförmiges Stück heraus. Dann zeigte er uns noch auf seiner nackten Brust ein ganzes Netzwerk vernarbter Stich- und Schußwunden und eine gleiche Menge auf seinen Armen und im Gesicht, wobei er uns versicherte, er habe so viele Kugeln im Leibe, daß man eine ganze Kanone daraus gießen könne. Schließlich nannte er uns seinen Namen, bei dessen gefürchtetem Klang uns angst und bange wurde; ich getraue mich nicht, ihn zu veröffentlichen, denn der Mann könnte kommen und mich in Stücke hauen. Als er zuletzt Brown fragte, ob ihn noch immer nach seinem Blute gelüste, überlegte dieser sich die Sache einen Augenblick und dann bat er ihn – mit uns zu Nacht zu speisen.

Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Der große Zeitungsroman.

Als es in unserer ›flotten Zeit‹ am herrlichsten zuging, stand auch das Laster im vollsten Flor. Die Branntweinschenken waren überfüllt, desgleichen die Polizeiämter, die Spielhöllen, die Freudenhäuser und die Gefängnisse – ein sicheres Zeichen höchsten Gedeihens in einer Bergwerksgegend – vielleicht auch an andern Orten – denn es beweist, daß der Handel nicht stockt und nirgends Mangel an Geld ist. Nun fehlte zum Höhepunkt unseres Glanzes nur noch ein Ereignis, das gewöhnlich zuletzt kommt, dann aber auch die Herrschaft der flotten Zeit außer aller Frage stellt, nämlich das Erscheinen eines Unterhaltungsblattes. Die neu gegründete ›Wochenschrift des Westens‹ beschäftigte sämtliche litterarisch begabte Persönlichkeiten Virginias als Mitarbeiter und Herr F., ein echter Held der Feder, war der Herausgeber.

Wir erwarteten große Dinge von unserer Wochenschrift, aber natürlich mußten wir, um sie in Fluß zu bringen, vor allem einen Originalroman haben, zu dessen Abfassung denn auch sofort die besten Kräfte der Gesellschaft aufgeboten wurden. Frau F., eine begabte Schriftstellerin aus der ›Schule der Überschwenglichen‹, die sich für Tugend und erhabene Gefühle begeistern, schrieb das erste Kapitel. Sie ließ darin eine reizende blonde Unschuld auftreten, die das Menschenmögliche an Vollkommenheit leistete und nur für Blumen und Verse schwärmte. Auch ein junger, französischer Herzog ward den Lesern vorgestellt, ein Muster der feinsten Bildung, der dem blonden Fräulein sein Herz geschenkt hatte. In der folgenden Woche führte Herr F. einen redegewandten Rechtsgelehrten ein, welcher trachtete, des Herzogs Güter und Geschäfte in Verwirrung zu bringen, ferner eine geistvolle junge Dame aus der höchsten Gesellschaft, die den Herzog zu fesseln suchte und der blonden Unschuld die Eßlust benahm.

Der Verfasser des dritten Kapitels war Herr D., der düsterblickende, blutdürstige Redakteur für Tagesneuigkeiten; er brachte einen geheimnisvollen Rosenkreuzer zum Vorschein, der die Geldmacherei betrieb, um Mitternacht in einer Höhle Beratungen mit dem Teufel pflog und den Helden und Heldinnen das Horoskop stellte. Dabei sagte er Verwickelungen und Unglücksfälle in Menge für die Zukunft voraus, was die Gemüter in eine schauerliche Spannung versetzte. Auch einen maskierten, melodramatischen Bösewicht ließ er auftreten, der um blutigen Sold, in seinen Mantel gehüllt, dem Herzog bei nächtlichem Dunkel mit einem vergifteten Dolch auflauern sollte; ferner einen Irländer, der als Kutscher im Dienst bei der vornehmen Dame stand, nur im Dialekt sprach und als Überbringer von Liebesbriefchen an den Herzog verwendet wurde.

Nun traf um diese Zeit ein Fremder in Virginia ein, welcher litterarische Neigungen und ausschweifende Sitten hatte; er sah etwas schäbig aus, schien aber sehr still und anspruchslos. Sein Wesen war so sanft und freundlich und sein Benehmen – mochte er betrunken sein oder nüchtern – so angenehm und rücksichtsvoll, daß, wer mit ihm in Berührung kam, ihm wohlgesinnt sein mußte. Da er um litterarische Arbeit bat und hinlängliche Beweise beibrachte, daß er eine leichte und wohlgeübte Feder führte, beauftragte ihn Herr F., uns bei der Abfassung des Romans zu helfen. Er sollte das nächste Kapitel schreiben und dann kam meines an die Reihe.

Kaum war dies beschlossen, so hatte der Unglücksmensch nichts Eiligeres zu thun, als sich zu betrinken, in sein Quartier zu gehen und sich an die Arbeit zu machen, während in seinem Hirn noch der wüsteste Wirrwarr herrschte. Die Folgen kann man sich denken. Er überflog die Kapitel seiner Vorgänger, fand genug handelnde Personen darin, die ihm gefielen, und beschloß, keine neuen mehr auftreten zu lassen. Mit der heitern Zuversicht, welche der Branntwein seinen Jüngern verleiht, begann er dann in glücklichem Selbstvertrauen sein Werk. Er verheiratete den Kutscher mit der Dame aus der höchsten Gesellschaft, um Skandal zu erregen; dem Herzog gab er die Stiefmutter der blonden Unschuld zur Gattin, das sollte Aufsehen machen; dem Bösewicht verweigerte er den bedungenen Lohn; zwischen dem Teufel und dem Rosenkreuzer schuf er ein Mißverständnis und spielte des Herzogs Güter dem schlauen Advokaten in die Hände. Letzterer mußte sich dann aus Gewissensbissen dem Trunke ergeben, in Delirium Tremens verfallen und sich das Leben nehmen; hierauf brach der Kutscher den Hals, seine Witwe versank in Armut, Kummer und Not und bekam die Schwindsucht; die Blondine ertränkte sich und ließ mit ihren Kleidern am Ufer einen Zettel zurück, worin sie dem Herzog verzieh und die Hoffnung aussprach, er werde glücklich sein. Der Herzog erkennt nun an dem herkömmlichen Muttermal in Form einer Erdbeere, daß er seine tot geglaubte Mutter geehelicht und seine längst verlorene Schwester in den Tod getrieben hat. Herzog und Herzogin nehmen sich darauf selbst das Leben, um der poetischen Gerechtigkeit genug zu thun; die Erde öffnet sich und verschlingt den Rosenkreuzer unter Donner, Blitz und Schwefelgeruch. Schließlich endigt der Verfasser mit dem Versprechen, daß er im nächsten Kapitel ein allgemeine Leichenschau halten, die noch überlebenden Charaktere einer Musterung unterziehen und dem geneigten Leser mitteilen werde, was aus dem Teufel geworden sei.

Das alles las sich merkwürdig glatt und war mit solcher Ernsthaftigkeit geschrieben, daß es einem fast den Atem benahm. Die Mitarbeiter an dem Roman gerieten jedoch darüber in die höchste Wut und es entstand ein unbeschreiblicher Aufruhr. Als der Strom von Schmähungen über den sanften Fremdling hereinbrach, welcher noch halb im Rausch war, blickte er seine Widersacher der Reihe nach schüchtern und verwirrt an, ohne begreifen zu können, was er eigentlich verbrochen habe. Endlich trat nach dem Sturm eine Windstille ein und er konnte zu Worte kommen. In leise stehendem Ton sagte er, was er geschrieben, sei ihm nicht mehr recht erinnerlich, doch habe er sich gewiß alle Mühe gegeben, um den Roman nicht nur spannend und unterhaltend, sondern auch glaubwürdig, belehrend und – man ließ ihn nicht ausreden; von allen Seiten ward er belagert und angefallen, mit Vorwürfen überhäuft und wegen seiner Behauptungen ins Lächerliche gezogen und zu Nichte gemacht. Bei jedem Versuch, seine Widersacher zu besänftigen, goß der Fremde nur Öl ins Feuer; erst als er vorschlug, das Kapitel noch einmal zu schreiben, stellte man die Feindseligkeilen ein, die Entrüstung legte sich, es wurde Friede geschlossen und der Besiegte trat den Rückzug nach seiner eigenen Festung an.

Allein, ehe er dorthin gelangte, unterlag er der Versuchung aufs neue, er betrank sich abermals und seine Phantasie verlor Zaum und Zügel. Nun warf er seine Helden und Heldinnen noch wilder durcheinander als das erstemal, aber auch dieses Machwerk trug wieder den Stempel der ehrlichsten Gesinnung und größten Zuverlässigkeit. Alle handelnden Personen gerieten in die ungewöhnlichste Lage und mußten ganz erstaunliche Dinge sagen und thun. Was der Verfasser alles vorbrachte, läßt sich nicht beschreiben, die Abgeschmacktheit war bis auf die Spitze getrieben und der Blödsinn in ein System gebracht. Auch erklärende Randbemerkungen waren beigefügt, die dem Text an Seltsamkeit nichts nachgaben.

Als Beispiel des Ganzen will ich nur eine Episode mitteilen, die mir erinnerlich ist: Der Anwalt hatte seinen Charakter verändert, er war ein hochherziger, prächtiger Mensch geworden, der Ruhm und Geld besaß und dreiunddreißig Jahre zählte. Die blonde Unschuld entdeckte mit Hilfe des Rosenkreuzers, daß der Herzog sie nur um ihres Reichtums willen zu besitzen trachte, eigentlich aber der Dame aus der höchsten Gesellschaft zugethan sei. Bis ins Innerste verwundet, riß sie die Liebe zu ihm aus ihrem Herzen und goß die ganze Fülle derselben über den Anwalt aus, bei welchem sie ebenso feurige Erwiderung fand. Allein die Eltern erhoben Einspruch; sie wollten einen Herzog zum Schwiegersohn und waren nicht davon abzubringen, wiewohl sie zugaben, daß ihnen nächst dem Herzog der Anwalt am liebsten sei. Da nun aber die Blondine zu kränkeln begann, erschraken die Eltern und beschworen sie, doch den Herzog zu heiraten; alles Zureden war aber umsonst, sie fuhr fort dahinzuwelken. Unter den Umständen hielten die Eltern es für das Beste ihr zu sagen, daß, wenn sie nach Jahresfrist noch dabei beharre, den Herzog zu verschmähen, so solle sie mit ihrer Einwilligung des Anwalts Gattin werden. Bei dieser Aussicht färbten sich des Mädchens Wangen wieder und mit der Hoffnung kehrte auch die Gesundheit zurück. Das hatte man erwartet und schritt nun rasch zur Ausführung eines bereits gefaßten Planes. Der Hausarzt mußte der Blondine zur völligen Wiedergenesung eine weite Reise zu Wasser und Land verschreiben, an welcher der Herzog teil nehmen sollte. Die Eltern rechneten darauf, daß des Herzogs stete Gegenwart und des Anwalts Abwesenheit alles zum guten Ende führen werde; denn den Anwalt hatten sie nicht eingeladen.

Sie schifften sich auf einem Dampfer nach Amerika ein; als aber am dritten Tage die Seekrankheit nachließ und sie zum erstenmal bei der Mittagstafel erschienen, da fanden sie zu ihrem Schrecken den Anwalt gemütlich bei Tische sitzen. Das war eine große Verlegenheit, allein der Herzog und seine Reisegesellschaft setzten sich darüber hinweg so gut sie konnten und die Fahrt ging weiter. Etwa zweihundert Meilen von der amerikanischen Küste geriet das Schiff jedoch in Brand; Takelwerk und Masten wurden von den Flammen verzehrt und von der Mannschaft und den Passagieren blieben nur dreißig am Leben, darunter unsere Freunde. Sie trieben einen halben Tag und die ganze Nacht umher, bis am Morgen zwei Walfischfahrer erschienen und Boote aussetzten. Das Wetter war stürmisch und die Einschiffung verursachte große Verwirrung und Aufregung. Der Anwalt that seine Pflicht mit Mannesmut, er half der fast ohnmächtigen Blondine, ihren Eltern und andern seiner Leidensgefährten in das Boot (Der Herzog stieg allein hinunter). In diesem Augenblick fiel am andern Ende des Wracks ein Kind ins Wasser, der Anwalt vernahm das Wehgeschrei der Mutter, eilte zu Hilfe und zog im Verein mit andern Rettern das Kind aus den Fluten. Dann lief er zurück, aber es war zu spät – das Boot mit der Blondine war schon abgestoßen. Der Anwalt mußte das zweite Boot besteigen und wurde von dem andern Schiff aufgenommen. Die Wut des Sturmes wuchs, er trieb die Schiffe ins Weite und bald verloren sie einander aus dem Gesicht. Als sich drei Tage später der Wind legte, befand sich das Schiff mit der Blondine siebenhundert Meilen nördlich von Boston und das andere Schiff etwa siebenhundert Meilen südlich von diesem Hafen. Der Kapitän der Blondine ging im Norden des Atlantischen Ozeans auf den Walfischfang und der Kapitän des Anwalts hatte Befehl, im Norden des Stillen Ozeans zu kreuzen.

Fast ein Jahr war vergangen; das eine Schiff befand sich an der Grönländischen Küste, das andere in der Behringsstraße. Der Blondine hatte man eingeredet, daß der Anwalt über Bord gespült worden sei, als er gerade ins Boot steigen wollte. Allmählich begann sie den Bitten des Herzogs und ihrer Eltern Gehör zu geben und sich mit dem Gedanken an die verhaßte Heirat vertraut zu machen. Doch beharrte sie fest darauf, daß die einmal bestimmte Frist eingehalten werde. Der Zeitpunkt rückte immer näher und schon begann man an Bord Vorbereitungen zu der Hochzeit zu treffen, die mitten unter Eisbergen und Walrossen gefeiert werden sollte. Nur noch fünf Tage, dann war alles vorüber. Die Blondine bedachte das mit Seufzen und Weinen. O, wenn der Geliebte ihres Herzens noch lebte, warum eilte er nicht zu ihrer Rettung herbei? –

Ach, er vermochte es nicht, denn er war in diesem Augenblick in der Behringsstraße. Fünftausend Meilen betrug ihre Entfernung von einander quer durch das nördliche Eismeer gemessen und zwanzigtausend Meilen um das Kap Hörn herum. Da des Anwalts sämtliche Habe in dem andern Boot geblieben war, hatte er Schiffsdienste thun müssen, um seinen Unterhalt zu verdienen, und war gerade beschäftigt, einen Walfisch anzuspießen. Er schleuderte die Harpune mit aller Kraft, verfehlte jedoch sein Ziel, glitt aus und fiel dem Walfisch in den offenen Schlund. Fünf Tage blieb er besinnungslos in des Walfischs Bauch; als er wieder zu sich kam, sah er das Tageslicht durch ein Loch hereinströmen, welches sich im Rücken des Fisches befand. Die Mannschaft vom Schiff der Blondine hatte den Walfisch erlegt; der Anwalt kletterte heraus und überraschte die Matrosen, als sie gerade den Speck des getöteten Tieres am Schiffsrand hinaufwanden. Er fragte nach dem Namen des Schiffes, eilte an Bord, traf die Hochzeitsgesellschaft am Traualtar und rief mit Donnerstimme: »Halt, nicht weiter – hier bin ich! Komm in meine Arme, Geliebte!« –

In den Anmerkungen, welche dieser erstaunlichen litterarischen Leistung beigefügt waren, suchte der Verfasser zu beweisen, daß der Vorgang keineswegs außerhalb des Bereichs der Möglichkeit liege. Zum Beweis, daß ein Walfisch imstande sei, in fünf Tagen von der Behringsstraße nach der Küste von Grönland zu schwimmen, führte er einen ähnlichen Vorgang aus einem Buch von Charles Reade an, und dafür, daß ein Mensch im Bauche eines Walfischs leben könne, lieferte ihm das Abenteuer des Propheten Jona ein allbekanntes Beispiel. Habe ein Prophet es drei Tage darin ausgehalten, so würde ein Anwalt es sicherlich fünf Tage ertragen, ohne Schaden zu nehmen.

Der Sturm, der sich nun im Redaktionszimmer erhob, tobte wilder als zuvor; man warf dem Fremden sein Manuskript an den Kopf und jagte ihn mit Schimpf und Schande davon. Inzwischen waren die Angelegenheiten durch seine Schuld so sehr verzögert worden, daß keine Zeit mehr blieb, ein neues Kapitel zu schreiben und so kam das Blatt diese Woche ohne Roman heraus. Der Umstand erschütterte das Vertrauen des Publikums in die ›Wochenschrift des Westens‹ vermutlich so sehr, daß sie ihr gequältes Dasein nur noch mühsam weiter fristete und bevor die nächste Nummer die Presse verließ, eines stillen und friedlichen Todes starb.

Mit Hilfe eines ansprechenden Titels hoffte man noch mit dem Blatt einen Wiederbelebungsversuch anstellen zu können. Herr F. schlug vor, es den ›Phönix‹ zu nennen, um anzudeuten, daß es aus der Asche in ungeahntem Glänze erstehen werde; statt dessen wählte man jedoch auf Anraten eines schlauen Kopfes den Namen ›Lazarus‹. Da nun aber die Leser in der biblischen Geschichte wenig bewandert waren und den vom Tode erweckten Lazarus mit dem elenden, tranken Bettler verwechselten, der vor des Reichen Thüre lag, wurde der Name zum Gespött in der ganzen Stadt und das brach dem Unternehmen vollends den Hals.