XVI.

XVI.

Worin der Leser um zwei Monate rückwärts und auch um neun Monate vorwärtsgeführt wird.

Einige Wochen früher, am 13. Juni, d. h. am Tage nach der denkwürdigen Sitzung, während der es im Weldon-Institut zu so stürmischen Verhandlungen gekommen war, herrschte unter allen Classen der Bewohner von Philadelphia, unter den Negern wie den Weißen, eine leichter zu constatirende, als zu beschreibende Aufregung.

Schon in den ersten Morgenstunden unterhielt man sich überall von den unerwarteten, lärmenden Zwischenfällen der Sitzung des letzten Abends. Ein Eindringling, der Ingenieur zu sein angab, ein Ingenieur, der den an sich unwahrscheinlichen Namen Robur – Robur der Sieger! – führen wollte, eine Persönlichkeit von unbekannter Herkunft und namenloser Nationalität hatte sich unerwartet im Sitzungssaale vorgestellt, die Ballonisten mit gröblichen Reden beleidigt, Diejenigen, welche der Lenkbarkeit von Aerostaten huldigten, verspottet, und hatte dagegen die Vorzüge von specifisch schwereren Apparaten gepriesen, ein verächtliches Hohnlachen unter dem wildesten Getöse ausgeschlagen und zu Drohungen geradezu herausgefordert, um diese seinen Gegnern wieder als Antwort in’s Gesicht zu schleudern. Endlich war er, nachdem er den Rednerstuhl unter dem Knattern von Revolvern geräumt, verschwunden, und trotz aller Nachforschungen hatte man keine weiteren Spuren von ihm entdeckt.

Natürlich waren solche Vorfälle dazu angetan, alle Zungen zu wetzen und der Phantasie ein weites Feld zu eröffnen. Daran sollte es denn auch weder in Philadelphia, noch in den sechsunddreißig anderen Staaten der Union fehlen, ja eigentlich wurde sogar die Alte Welt dadurch nicht minder erregt, wie die Neue Welt.

Wie mußte sich diese allgemeine Aufregung aber noch steigern, als es am Abend des 13. Juni stadtkundig wurde, daß weder der Vorsitzende, noch der Schriftführer des Weldon-Instituts bis dahin in ihre Wohnungen zurückgekehrt waren, und hierbei handelte es sich um zwei geachtete, gelehrte Männer von verhältnißmäßig hoher Stellung. Am Vorabend noch hatten sie den Sitzungssaal verlassen als Bürger, welche ruhig nach ihrem Heim zurückzukehren denken, als Hagestolze, deren Nachhausekunft kein mürrisch gerunzeltes Gesicht verbittert hätte. Sollten Sie vielleicht gar absichtlich verschwunden sein? Nein: mindestens hatten sie nichts geäußert, was zu diesem Glauben hätte verführen können; ja, es war sogar besprochen worden, daß sie schon am nächsten Tage wieder nach dem Bureau des Clubs kommen und die gewohnten Plätze des Vorsitzenden und Schriftführers bei einer außerordentlichen Sitzung einnehmen sollten, welche man zur weiteren Besprechung der Vorfälle des letzten Abends bestimmt hatte.

Doch nicht nur jene beiden weitbekannten Persönlichkeiten des Staates Pennsylvanien waren spurlos verschwunden, auch von dem Diener Frycollin kam keinerlei Nachricht, auch er war ebenso wenig zu finden, wie sein Herr. Wahrlich, seit Toussaint Louverture, Faustin Soulouque und Dessaline hatte noch kein Neger so viel von sich reden gemacht. Er stand im Begriff, einen hervorragenden Platz sowohl unter seinen dienenden Collegen in Philadelphia, wie unter allen jenen Originalen einzunehmen, welche irgend eine Exentricität in dem schönen Amerika schon in helleres Licht zu setzen hinreicht.

Auch am folgenden Tage nichts Neues. Weder die beiden Collegen, noch Frycollin erschienen wieder. Ernste Beunruhigung. Beginnende Aufregung. Vor den »Post and Telegraph offices« starke Ansammlung von Neugierigen, um etwaige Nachricht noch ganz warm zu erhalten.

Vergebliche Liebesmühe.

Und doch hatten so Viele deutlich genug gesehen, wie Beide in lebhaftem Gespräch aus dem Weldon-Institut weggingen, den sie erwartenden Frycollin mitnahmen und nachher die Walnut-Straße hinabwanderten, um sich dem Fairmont-Park zuzuwenden.

Jem Cip, der Vegetarianer, hatte dem Präsidenten noch die rechte Hand gedrückt und sich verabschiedet mit den Worten:

»Auf morgen also!«

Und William T. Forbes, der Fabrikant von Zucker aus Leinwand, rühmte sich eines vertraulichen Handschlags von Phil Evans, der ihm zweimal »Auf Wiedersehen!« zugerufen hatte.

Miß Doll und Miß Mat Forbes, welche ein Band reinster Freundschaft an Onkel Prudent fesselte, konnten sich über sein Verschwinden gar nicht beruhigen und schwatzten, nur um von ihm immer etwas zu hören, eher noch mehr, als gewöhnlich.

So verstrichen drei, vier, fünf, sechs Tage, eine Woche, eine zweite Woche … Weder irgendwer, noch irgendwas leitete auf die Fährte der drei Verschwundenen.

Und doch hatte man die sorgsamsten Nachsuchungen im ganzen Stadtviertel vorgenommen … vergeblich; in allen nach dem Hafen zu führenden Straßen … nutzlos; weiter im Park selbst, unter den Gruppen größerer Bäume und dichterer Gebüsche … erfolglos! … Ueberall nichts!

Auf der großen Waldblöße erkannte man jedoch, daß da und dort das Gras ganz neuerdings niedergedrückt schien. Diese Wahrnehmung erregte ihrer Unerklärlichkeit wegen einigen Verdacht. Ebenso wurden am Saume des dieselbe umschließenden Waldes Spuren eines stattgefundenen Kampfes entdeckt. Hatte nun eine Bande von Landstreichern vielleicht die beiden Collegen zu vorgerückter Nachtzeit hier in dem menschenleeren Parke getroffen und überfallen?

Das war ja möglich. Die Polizei nahm auch eine diesbezügliche regelrechte und mit gesetzlicher Langsamkeit betriebene Untersuchung in die Hand. Man führte Schleppnetze durch den Schuylkill hin, schlämmte seinen Grund und befreite die Ufer von dem Gewirr angehäuften Unkrautes. Wenn auch das vergeblich blieb, so war es doch nicht nutzlos, denn der Schuylkill bedurfte einer gründlichen Säuberung gerade recht nöthig. O, es sind praktische Leute, die Aedilen von Philadelphia!

Später wandte man sich an die verbreitetsten Zeitungen. Anzeigen, Reclamationen, wenn nicht gar Reclamen, wurden an alle demokratischen und republikanischen Blätter der Union – ohne Rücksicht auf deren Farbe – versendet. Der »Daily Negro« das specielle Organ der schwarzen Rasse, brachte Frycollin’s Bildniß nach dessen letzter Photographie. Man bot Belohnungen und versprach Preise Jedem, der von den drei Abwesenden Nachricht geben könnte, ja sogar allen Denen, die nur irgend welches Anzeichen entdeckten, das auf deren Fährte zu leiten versprach.

»Fünftausend Dollars! Fünftausend Dollars jedem Bürger, der …«

Vergeblich; die fünftausend Dollars verblieben in der Casse des Weldon-Instituts.

»Nicht aufzufinden! Nicht aufzufinden! Nicht aufzufinden!!! Onkel Prudent und Phil Evans aus Philadelphia!«

Es versteht sich von selbst, daß der Club durch dieses unerklärliche Verschwinden seines Vorsitzenden und seines Schriftführers in heillose Unordnung gerieth und von vornherein sah derselbe sich durch diese Nothlage zu dem Beschlusse gezwungen, die früher so eifrig betriebenen und schon ziemlich fortgeschrittenen Arbeiten betreffs Construction des »Go a head« auf unbestimmte Zeit einzustellen. Wie hätten die anderen Mitglieder auch in Abwesenheit der beiden Begründer und Förderer dieses Unternehmens, dem dieselben – an Zeit und Geld – einen Theil ihres Vermögens geopfert hatten, sich entschließen können, ein Werk zu Ende zu führen, wenn Jene fehlten, um es gleichsam zu krönen?

Sie mußten sich also in Geduld fassen.

Gerade zu dieser Zeit ging auf’s Neue die Rede von der wunderbaren, merkwürdigen Erscheinung, welche mehrere Wochen vorher alle Geister so lebhaft erregt hatte.

In der That war jener geheimnißvolle Gegenstand wieder und wiederholt wiedergesehen worden, wie er durch die höheren Schichten der Atmosphäre schwebte. Freilich dachte kein Mensch an einen Zusammenhang dieser auffallenden Erscheinung mit dem nicht weniger unerklärlichen Verschwinden der beiden Mitglieder des Weldon-Instituts. Es hätte auch einer außergewöhnlichen Dosis von Einbildungskraft bedurft, diese beiden Thatsachen mit einander in Verbindung zu bringen.

Auf jeden Fall war das Asteroid, die erkaltete Feuerkugel oder das Luftungeheuer, wie man die Erscheinung nennen wollte, nun unter Bedingungen gesehen worden, welche seine Größe und Gestalt besser abzuschätzen erlaubten. Zuerst in Canada über den Gebietstheilen, die sich von Ottawa bis Quebec erstrecken, und zwar schon am nächsten Tage nach dem Verschwinden der beiden Collegen; dann später über den Ebenen des Fernen Westens, als der »Albatros« sich an Schnelligkeit mit einem Zuge der großen Pacific-Bahn maß.

Von diesem Tage ab herrschte unter der gelehrten Welt keine Ungewißheit mehr; dieser Körper war kein Erzeugniß der Natur, sondern ein Flieg-Apparat mit praktischer Anwendung der Theorie des »Schwerer, als die Luft«. Und wenn der Schöpfer und Führer dieses Aeronefs auch für seine Person das bisherige Incognito noch aufrecht erhalten wollte, jedenfalls sah er davon, so weit es seine Maschine betraf, jetzt ab, weil er dieselbe so dicht über den Gebieten des Fernen Westens sehen ließ. Die von ihm gewählte mechanische Kraftquelle, wie die Natur der Maschinen, welche dem Apparate seine Bewegung ertheilten, blieb vorläufig freilich noch unbekannt. Mindestens war jedoch außer Zweifel gestellt, daß diesem Aeronef eine ganz außergewöhnliche Fortbewegungsfähigkeit innewohnte, denn nur wenige Tage später meldete man schon sein Erscheinen im Himmlischen Reiche, dann aus den nördlichen Theilen von Hindostan und kurz darauf wieder aus den Steppen Rußlands.

Wer mochte nun jener kühne Mechaniker sein, der über so große bewegende Kräfte gebot, für den weder Länder, noch Meere eine Grenze hatten, der in der Erdatmosphäre wie in einem ihm allein zugehörigen Gebiete schaltete und waltete? Sollte man glauben, es könne das jener Robur sein, der dem Weldon-Institut seine Theorien so rücksichtslos in’s Gesicht geschleudert hatte, als er an dem bewußten Abend erschien, um in die Utopien betreffs der lenkbaren Ballons eine klaffende Bresche zu legen?

Vielleicht kam einigen weiter blickenden Köpfen dieser Gedanke. Und – wunderbarer Weise – dennoch erhob sich Niemand zu der Annahme, daß besagter Robur mit dem Verschwinden des Vorsitzenden und des Schriftführers vom Weldon-Institut in irgend welchem Zusammenhange stehen könnte.

Das blieb also noch weiter Geheimniß, bis eine Depesche von Frankreich durch das transatlantische Kabel am 6. Juli um elf Uhr siebenundreißig Minuten in New-York eintraf.

Und was meldete diese Depesche? Sie übermittelte den Text jenes in Paris in einer Schnupftabaksdose gefundenen Documents – des Schriftstückes, welches endlich enthüllte, was aus den beiden Männern geworden war, um welche die Union eben Trauer anlegen wollte.

Der Urheber der Entführung war also doch Robur, der Ingenieur, der ausschließlich zu dem Zwecke nach Philadelphia kam, die Theorie der Ballonisten gleichsam im Ei zu ersticken. Er war es, der auf dem Aeronef »Albatros« umherfuhr; er, der zur Wiedervergeltung erfahrener Unbill Onkel Prudent nebst Phil Evans und Frycollin obendrein in die Lüfte entführt hatte! Und diese Personen konnte man als für immer verloren ansehen, wenn nicht durch irgend welche Hilfsmittel eine Maschine construirt wurde, welche im Stande war, jenen mächtigen Apparat zu bekämpfen, und wenn die irdischen Freunde Jener ihnen damit nicht zu Hilfe kamen.

Welche Erregung! Welches Staunen! Das Pariser Telegramm war an das Bureau des Weldon-Instituts adressirt gewesen. Die Mitglieder des Clubs erhielten davon unverzüglich Kenntniß. Nach zehn Minuten hatte ganz Philadelphia durch seine Telephons die große Neuigkeit erfahren, binnen einer Stunde ganz Amerika, denn sie hatte sich elektrisch auf den zahllosen Drähten der Neuen Welt verbreitet. Man wollte noch nicht recht daran glauben und hielt es wohl für die Mystification eines schlechten Witzbolds – sagten die Einen – für ein »Einräuchern« schlimmster Art – meinten die Andern. Wie wäre es möglich gewesen, diesen Raub in Philadelphia so im Geheimen auszuführen? Wie hätte der »Albatros« im Fairmont-Park zur Erde hernieder gehen können, ohne am Horizont des Staates Pennsylvanien bemerkt zu werden?

Recht schön – so lauteten die gewöhnlichen Argumente. – Die Ungläubigen behielten zwar noch das Recht zu zweifeln, sollten es aber sieben Tage nach dem Eintreffen des Telegramms schon verlieren. Am 13. Juli ging das französische Packetboot »Normandie« im Hudson vor Anker und – brachte die berühmte Schnupftabaksdose mit. Die Eisenbahn beförderte dieselbe in größter Eile von New-York nach Philadelphia.

Ja, das war sie, die Dose des Vorsitzenden vom Weldon-Institut. Jem Cip hätte an diesem Tage gut gethan, eine etwas substantiellere Nahrung zu sich zu nehmen, denn er war, als er sie erkannte, nahe daran, ohnmächtig umzusinken. Wie oft hatte er sich daraus ein Freundschaftsprieschen zugelangt! Miß Doll und Miß Mat erkannten sie ebenfalls, diese Dose, welche sie so oft mit dem heimlichen Wunsche betrachtet, eines Tages auch ihre dürren Altjungfernfinger hinein zu senken. Und da waren ihr Vater, William T. Forbes, Truk Milnor, Bat T. Fyn und viele Andere aus dem Weldon-Institut – hundertmal hatten sie dieselbe in den Händen ihres verehrten Vorsitzenden sich öffnen und schließen sehen. Endlich hatte sie das Zeugniß aller Freunde für sich, die Onkel Prudent in der guten Stadt Philadelphia besaß, deren Name – wie man nicht oft genug wiederholen kann – darauf hinweist, daß ihre Bewohner sich wie Brüder lieben.

Jetzt war also nach dieser Seite kein Schatten eines Zweifels mehr aufrecht zu erhalten. Nicht allein die Dose des Vorsitzenden, sondern besonders auch die von ihm herrührenden Schriftzüge des Documents erlaubten es auch den Ungläubigsten nicht mehr mit den Achseln zu zucken. Da begannen nun die Wehklagen und verzweifelte Hände erhoben sich gen Himmel. Onkel Prudent und sein College in einer Flugmaschine entführt, ohne daß man ein Mittel entdecken konnte, sie zu befreien!

Die Gesellschaft der Niagara-Fälle, deren stärkster Actionär Onkel Prudent war, hätte beinahe ihre Geschäfte eingestellt und die Wasserfälle geschlossen. Die »Walton Watch Company« dachte schon daran, ihre Uhrenfabrik zu liquidiren, da diese ihren Director Phil Evans eingebüßt hatte.

Ja, es herrschte allgemeine Trauer, und das Wort Trauer ist hier gar nicht übertrieben, denn manche hirnverbrannte Köpfe, wie man deren auch in den Vereinigten Staaten antrifft, bildeten sich steif und fest ein, die beiden ehrenwerthen Bürger niemals wiederzusehen.

Nachdem er über Paris hingefahren war, hörte man von dem »Albatros« zunächst nicht weiter reden. Einige Stunden später war er über Rom schwebend gesehen worden – das war Alles. Bei der bekannten Geschwindigkeit des Aeronefs, mit der er über Europa von Nord nach Süd und über das Mittelmeer von West nach Ost gefahren war, darf das ja nicht Wunder nehmen. Und Dank eben dieser Schnelligkeit konnte ihn auch kein Fernrohr an irgend einem Punkte seiner Fahrtlinie genauer beobachten. Und hätten die Sternwarten ihr gesammtes Personal Tag und Nacht auf Vorposten gestellt, die Flugmaschine Robur des Siegers hätte sich so weit und so hoch entfernt – in »Ikarien«, wie er zu sagen pflegte – daß Alle verzweifelt wären, deren Spur je wieder aufzufinden.

Hier sei hinzugefügt, daß wenn seine Geschwindigkeit über dem Ufer Afrikas auch vermindert wurde, sich doch, weil jenes Document noch nicht bekannt war, Niemand versah, den Aeronef in den Höhen des algerischen Himmels zu suchen. Auf jeden Fall wurde er über Timbuctu wahrgenommen; das Observatorium dieser berühmten Stadt – wenn sie überhaupt ein solches besitzt – hatte aber noch nicht Zeit gefunden, das Resultat seiner Beobachtungen nach Europa mitzutheilen. Was den König von Dahomey betrifft, so hätte dieser gewiß eher zehntausend Unterthanen, und seine Minister inbegriffen, um einen Kopf kürzer machen lassen, ehe er zugestand, im Kampfe mit einer in der Luft schwebenden Maschine unterlegen zu sein. Jeder fröhnt eben seiner kleinen Eigenliebe.

Weiterhin steuerte der Ingenieur Robur dann über den Atlantischen Ocean, wobei er zuerst nach dem Feuerlande und dann nach dem Cap Horn kam. Ferner irrte er, etwas gegen seinen Willen, über die südlichsten Landvesten und über das ausgedehnte Polargebiet hinweg. Von diesen antarktischen Gegenden aus war natürlich keine Nachricht zu erwarten.

Der Juli verrann, und kein menschliches Auge konnte sich rühmen, den Aeronef nur flüchtig wieder erblickt zu haben.

Der August ging zu Ende, ohne daß sich an der Ungewißheit über das Loos der beiden Gefangenen Robur’s etwas änderte. Man fing allmählich an, sich zu fragen, ob der Ingenieur, nach dem Beispiele des Ikarus, dieses ältesten Mechanikers, dessen die Sagengeschichte erwähnt, nicht ein Opfer seiner Kühnheit geworden sein möge.

Endlich vergingen auch die ersten siebenundzwanzig Tage des Septembers ohne jede Aenderung der Sachlage.

Bekanntlich gewöhnt man sich ja in der Welt an Alles. Es liegt in der menschlichen Natur, mit der Zeit den Stachel des Schmerzes weniger zu empfinden; man vergißt, weil es nothwendig ist, einmal zu vergessen. In diesem Falle mußte man dagegen den Bewohnern dieses Erdenthals zu ihrer Ehre nachsagen, daß sie von der allgemeinen Regel abwichen; noch immer ermattete nicht die warme Theilnahme an dem Loose zweier Weißen und eines Schwarzen, die wie durch den Propheten Elias entführt schienen, denen aber keine Rückkehr durch die Bibel geweissagt war.

In Philadelphia trat das natürlich noch deutlicher zu Tage, als an jedem anderen Orte; hier kamen dabei ja nähere persönliche Beziehungen in’s Spiel. Robur hatte den Onkel Prudent und Phil Evans aus Rache ihrer Heimat entfremdet, hatte, wenn auch ohne jedes Recht, eine grausame Wiedervergeltung geübt. Doch war seine Rache damit gekühlt? Würde er dieselbe nicht auch noch anderen Collegen des Vorsitzenden und des Schriftführers vom Weldon-Institut fühlen lassen? Und wer konnte sich gesichert wähnen gegen etwaige Angriffe jenes allmächtigen Beherrschers des Luftmeeres?

Da durchlief am 28. September eine Neuigkeit die ganze Stadt: Onkel Prudent und Phil Evans sollten danach am Nachmittage in der Privatwohnung des Vorsitzenden vom Weldon-Institut wieder aufgetaucht sein.

Das Merkwürdigste an dieser Botschaft war, daß sie sich bestätigte, obgleich die Meisten nicht daran glauben wollten.

Dennoch mußte man sich der Thatsache fügen. Das waren die beiden Verschwundenen in Person – nicht ihre Schatten – und auch Frycollin war mit ihnen zurückgekehrt.

Die Mitglieder des Clubs, darauf deren Freunde und endlich eine ungeheure Volksmenge strömten vor Onkel Prudent’s Hause zusammen. Alle begrüßten mit Jubelruf die beiden Collegen, welche unter Hurrahs und Hipps von Hand zu Hand getragen wurden.

Hier befand sich Jem Cip, der sein Frühstück – geröstete Brotschnittchen mit gekochtem Lattig – verlassen hatte, und auch William T. Forbes nebst seinen beiden Töchtern Miß Doll und Miß Mat. Wäre Onkel Prudent Mormone gewesen, heute hätte er sie alle Beide zu Frauen bekommen; doch das war er nicht und hatte auch nicht die geringste Absicht, es je zu werden. Hier waren ferner Truk Milnor, Bat T. Fyn und endlich die übrigen Mitglieder des Clubs. Es ist noch bis heutigen Tages ein Räthsel geblieben, wie Onkel Prudent und Phil Evans hatten lebend aus den Tausenden von Armen hervorgehen können, welche sie bei ihrem ersten Gange durch die Stadt ebenso viele Male zu erdrücken drohten.

An eben jenem Abende sollte das Weldon-Institut seine gewohnte wöchentliche Sitzung abhalten. Man rechnete darauf, die beiden Collegen ihre früheren Plätze wieder einnehmen zu sehen. Da sie übrigens von ihren Abenteuern bisher noch nichts erzählt hatten – vielleicht hatte der Zudrang der Leute ihnen gar nicht die nöthige Zeit gewährt – so hoffte man auch, daß sie nun von den gehabten Eindrücken während jener unfreiwilligen Reise berichten würden.

In der That hatten sich Beide aus irgend welchem Grunde bisher ganz stumm verhalten, und stumm blieb auch der Diener Frycollin, den seine Stammesgenossen vor toller Erregung fast geviertheilt hätten.

Was die beiden Collegen noch nicht gesagt und vielleicht hatten sagen wollen, war Folgendes:

Wir brauchen wohl kaum auf die dem Leser bekannten Vorgänge in der Nacht vom 27. zum 28. Juli zurück zu kommen; auf die kühn ausgeführte Flucht des Vorsitzenden und des Schriftführers vom Weldon-Institut, auf ihre lebhafte Erregung bei Durchwanderung der felsigen Insel Chatam, den auf Phil Evans abgefeuerten Gewehrschuß, auf das durchschnittene Ankertau und den »Albatros«, der damals, seiner Triebschrauben entbehrend, durch den Südwestwind weit fortgetrieben und gleichzeitig zu großer Höhe gewissermaßen emporgeschnellt wurde. Darauf war derselbe bald aus ihrem Gesichtskreis entschwunden.

Die Flüchtlinge hatten nun nichts mehr zu fürchten. Wie hätte Robur nach der Insel zurückkehren können, da seine Schrauben noch drei bis vier Stunden außer Stande waren, zu functioniren?

Nach Ablauf dieser Zeit aber mußte der durch die Explosion zerstörte »Albatros« zum elenden, auf dem Meere treibenden Wrack geworden sein, und Diejenigen, welche er trug, waren jedenfalls nur noch in Stücke gerissene Leichen, die auch der Ocean nicht wieder herausgeben konnte.

Der entsetzliche Racheact mußte dann vollkommen gelungen sein. Da Onkel Prudent und Phil Evans sich als im Stande der Nothwehr betrachteten, litten sie wegen dieser That an keinen Gewissensbissen.

Phil Evans war durch die vom »Albatros« aus entsendete Kugel nur leicht verletzt worden. Alle Drei wanderten also am Ufer hinauf, in der Hoffnung, Eingeborene anzutreffen.

Diese Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Etwa fünfzig halbwilde, vom Fischfange lebende Einwohner siedelten an der Westküste Chatams. Sie hatten den Aeronef nach der Insel herabkommen sehen und bereiteten den Flüchtlingen einen Empfang, wie sie ihn als übernatürliche Wesen verdienten. Man betete sie an, mindestens fehlte daran nicht viel, und brachte sie in der größten und schönsten Hütte unter. Frycollin fand gewiß niemals wieder eine solche Gelegenheit, die Rolle als Gott der Schwarzen spielen zu können.

Wie sie vorausgesetzt, sahen Onkel Prudent und Phil Evans den Aeronef nicht wieder zurückkehren, und mußten daraus schließen, daß die schreckliche Katastrophe in großer Höhe eingetreten sein werde. Nun würde Niemand wieder von dem Ingenieur Robur reden hören, so wenig wie von seiner wunderbaren Maschine, die seine Leute mit ihm dahingetragen hatte.

Jetzt galt es nur noch, eine Gelegenheit zur Rückkehr nach Amerika abzuwarten, denn die Insel Chatam wird von Seefahrern wenig besucht. So verstrich der ganze Monat August und die Flüchtlinge legten sich schon die Frage vor, ob sie am Ende nicht bloß ein Gefängniß gegen ein anderes eingetauscht hätten, mit dem übrigens Frycollin sich weit besser, als mit dem »Kerker in der Luft«, abzufinden schien.

Endlich am 3. September erschien ein Schiff, um an der Insel Chatam Wasser einzunehmen. Der Leser hat jedenfalls nicht vergessen, daß Onkel Prudent zur Zeit der Entführung aus Philadelphia mehrere tausend Dollars Papiergeld bei sich führte, d. h. mehr als nothwendig war, um nach Amerika zurückkehren zu können. Nachdem sie ihren Verehrern, welche ihnen stets den allergrößten Respect bewiesen hatten, herzlich gedankt, schifften sich Onkel Prudent, Phil Evans und Frycollin nach Aukland ein. Von ihren Schicksalen erzählten sie nichts, und nach zwei Tagen schon langten sie in der Hauptstadt Neu-Seelands an.

Hier nahm sie ein Packetboot des Stillen Oceans als Passagiere auf, und am 20. September landeten die Ueberlebenden vom »Albatros« nach höchst glücklicher Ueberfahrt in San Francisco. Sie hatten weder ausgesprochen, wer sie waren, noch woher sie kamen: doch da sie einen recht anständigen Preis für ihre Plätze entrichteten, so wäre es keinem amerikanischen Capitän jemals eingefallen, weitere Fragen an die Leute zu richten.

In San Francisco benützten Onkel Prudent, sein College und der Diener Frycollin den ersten Zug der großen Pacific-Bahn und trafen am 27. wohlbehalten in Philadelphia ein.

Das ist der gedrängte Bericht über Alles, was seit dem Entweichen der Flüchtlinge und ihrer Abfahrt von der Insel Chatam vorgefallen war; und somit konnten an jenem Abende der Vorsitzende und der Schriftführer, inmitten eines ungeheuren Zudrangs, ihre Plätze im Weldon-Institut wieder einnehmen.

Niemals aber hatte weder der Eine, noch der Andere eine so auffallende Ruhe zur Schau getragen. Ihr Anblick allein hätte niemals ahnen lassen, daß seit jener denkwürdigen Sitzung vom 12. Juni irgend etwas Besonderes vorgefallen sei. Diese dreiundeinhalb Monate schienen in ihrem Leben gar nicht mit zu zählen.

Nach den ersten Begrüßungssalven, welche Beide ohne das Zucken nur eines Gesichtsmuskels hinnahmen, bedeckte Onkel Prudent das Haupt und er ergriff zuerst das Wort.

»Ehrenwerthe Bürger, sagte er, die Sitzung ist eröffnet.«

Wahnsinniger und gewiß wohlberechtigter Beifall, denn wenn es auch als etwas Außergewöhnliches nicht gelten konnte, daß eine solche Wochenversammlung eröffnet wurde, so erhielt der Umstand doch ein außergewöhnliches Gewicht, daß das durch Onkel Prudent unter Assistenz von Phil Evans geschah.

Der Vorsitzende ließ den in Zurufen und Händeklatschen kundgegebenen Enthusiasmus sich ruhig austoben. Dann fuhr er fort:

»In unserer letzten Sitzung, meine Herrn, kam es zu recht lebhaftem Meinungsaustausch (Hört! Hört!) zwischen den Vertretern der Vorder- und der Rückenschraube für unseren Ballon, den »Go a head«. (Zeichen von Verwunderung.) Wir haben inzwischen ein Auskunftsmittel erfunden, um die Vorder- und Hintersteuerer unter einen Hut zu bringen, und das besteht einfach darin: Wir versehen eben beide Enden des Nachens mit je einer Triebschraube.« (Stillschweigen vor allgemeinem Erstaunen.)

Das war Alles!

Ja, Alles, von der Entführung des Vorsitzenden und des Schriftführers des Weldon-Instituts fiel kein Sterbenswörtchen; kein Wort über den Ingenieur Robur und den »Albatros«; kein Wort über die Art und Weise, wie die Gefangenen hatten entkommen können, und endlich kein Wort über das Schicksal des Aeronefs, ob er noch durch das Luftmeer schwebe und ob noch weitere Angriffe gegen Mitglieder des Clubs zu befürchten wären.

Gewiß fehlte es den Ballonisten nicht an Lust, Onkel Prudent und Phil Evans auszufragen; sie sahen dieselben aber so ernst, so zugeknöpft, daß es angezeigt schien, ihre Zurückhaltung zu respectiren. Wenn sie die Zeit zum Sprechen gekommen meinten, würden sie schon allein sprechen und Alle würden sich geehrt genug fühlen, ihnen zuzuhören.

Uebrigens konnte unter diesem Stillschweigen ja noch ein Geheimniß verborgen liegen, das heute noch nicht enthüllt werden durfte.

Da nahm Onkel Prudent unter einem, bisher bei den Sitzungen des Weldon-Instituts unerhörten Stillschweigen wieder das Wort.

»Meine Herren, sagte er, es erübrigt uns nun bloß noch, den Aerostaten »Go a head«, der bestimmt ist, sich das Luftmeer zu erobern, schleunigst der Vollendung entgegen zu führen. – Die Sitzung ist geschlossen.«

XVIII.

XVIII.

Welches diese wahrhafte Geschichte zu Ende führt, ohne sie zu beendigen.

Am 29. April des folgenden Jahres, sieben Monate nach der so unerwarteten Rückkehr des Onkel Prudent und Phil Evans, war ganz Philadelphia in reger Bewegung. Um politische Fragen handelte es sich dabei nicht, ebenso wenig um Wahlen oder Volksversammlungen. Der auf Betreiben des Weldon-Instituts nun vollendete Aerostat »Go a head« sollte endlich seinem natürlichen Element übergeben werden.

Als Aeronaut für denselben war der berühmte Harry W. Tinder, dessen wir schon zu Anfang dieser Erzählung erwähnten, bestimmt worden, und ihm hatte man noch einen erfahrenen Gehilfen beigegeben.

Die Passagiere bildeten der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts, denen diese Ehre gewiß vor allen Anderen zukam, da es für sie so zu sagen eine Lebensaufgabe geworden war, persönlich gegen jeden Apparat, der auf dem Principe »Schwerer, als die Luft« beruhte, Einspruch zu erheben.

Doch auch jetzt, nach sieben Monaten, sollten sie immer noch erst anfangen, über ihre Abenteuer zu berichten. Selbst Frycollin hatte, wie sehr es ihn auch dazu drängte, noch nicht vom Ingenieur Robur und von dessen wunderbarer Maschine gesprochen. Offenbar wollten Onkel Prudent und Phil Evans als eingefleischte und unverbesserliche Ballonisten überhaupt nicht, daß von dem Aeronef oder einer anderen Flugmaschine jemals die Rede sei. Auch wenn ihr Ballon, der »Go a head«, noch nicht die erste Stelle unter den zur Fortbewegung durch die Luft bestimmten Apparaten einnehmen sollte, so wollten sie doch keine, von irgendwelchem Anhänger der Aviation herrührende Erfindung dabei anwenden lassen. Sie glaubten noch immer und wollten auch später nur glauben, daß das einzig wahre atmosphärische Vehikel der Aerostat sei, und daß ihm allein die Zukunft gehöre.

Uebrigens existirte ja Derjenige, an dem sie eine so furchtbare, ihrer Ansicht nach aber nur gerechte Rache genommen hatten, jetzt schon längst nicht mehr. Keiner von Denen, die er trug, hatte seinen Untergang überleben können. Das Geheimniß des »Albatros« lag jetzt in den unergründlichen Tiefen des Stillen Oceans begraben.

Die Annahme, daß der Ingenieur Robur einen Zufluchtsort, eine rettende Insel im ungeheuren, verlassenen Ocean gefunden habe, erschien nur als eine sehr gewagte Hypothese. Die beiden Collegen behielten sich für später die Entscheidung darüber vor, ob es angezeigt erscheine, nach dieser Richtung besondere Nachforschungen zu veranlassen.

Man schritt also endlich zu dem großen Experimente, welches das Weldon-Institut so lange Zeit und mit so großer Sorgfalt vorbereitet hatte. Der »Go a head« war der vollendetste Typus dessen, was im Bereiche der Aerostatik bisher erfunden war – dasselbe wie der »Inflexible» und der »Formidable« (zwei neuere französische Panzerschlachtschiffe) in der Schiffsbaukunst.

Der »Go a head« besaß alle für einen Aerostaten nur wünschenswerthen Eigenschaften. Sein Volumen gestattete ihm, bis zu den allergrößten Höhen, die ein Ballon nur erreichen kann, aufzusteigen; seine Undurchlässigkeit für Gas, sich unbegrenzt lange in der Luft zu erhalten; seine Festigkeit, jeder Ausdehnung der Gase ebenso zu widerstehen, wie dem heftigsten Platzregen und stärksten Sturmwinde; sein Fassungsvermögen, eine genügende Auftriebskraft zu entfalten, um außer dem sonst nöthigen Zubehör eine elektrische Maschine mitzunehmen, die seinen Propellern eine, jeder bisher erreichten überlegene Treibkraft verleihen konnte. Der »Go a head« hatte eine längliche Gestalt, um die horizontale Fortbewegung zu erleichtern. Seine Gondel, eine derjenigen des Ballons der Capitäne Krebs und Renard ähnliche Plattform, enthielt alles für Luftschiffer nothwendige Geräth und Werkzeug, physikalische Instrumente, Taue, Anker, Rollen u. s. w., außerdem die Apparate, Batterien und Accumulatoren, welche seine mechanische Kraft lieferten. Diese Gondel trug vorne eine Schraube und hinten neben einer gleichen Schraube ein Steuerruder. Aller Wahrscheinlichkeit nach mußte jedoch die Arbeitsleistung der Maschinen des »Go a head« weit hinter der der Apparate des »Albatros« zurückbleiben.

Der »Go a head« war nach vollendeter Füllung nach der Waldblöße im Fairmont-Park übergeführt worden, d. h. genau nach derselben Stelle, an welcher früher der Aeronef einige Stunden gelegen hatte.

Wir brauchen wohl nicht zu betonen, daß ihm die Auftriebskraft durch das leichteste aller Gase verliehen worden war. Das gewöhnliche Leuchtgas entwickelt per Cubikmeter nur eine solche Hebekraft gleich 700 Gramm – was gegen die umgebende Luft nur einen unbeträchtlichen Gewichtsunterschied darstellt. Das Wasserstoffgas dagegen besitzt bei gleichem Volumen eine auf etwa 1100 Gramm zu schätzende Steigekraft. Solches, nach dem Verfahren und in den Special-Apparaten des berühmten Henry Giffard dargestellte reine Wasserstoffgas erfüllte den ungeheuren Ballon. Da der »Go a head« nun einen Fassungsraum von 40.000 Cubikmetern besaß, so entsprach die Steigkraft seines Gases einem Gewichte von 40.000 mal 1100 Gramm oder 44.000 Kilogramm.

Am Morgen des 20. April war Alles bereit. Um elf Uhr schon schwankte der riesige Aerostat wenige Fuß über dem Boden und fertig, sich in die Luft zu erheben, majestätisch hin und her.

Es herrschte ein prächtiges und wie für diesen Versuch eigens gemachtes Wetter. Vielleicht wäre eine etwas größere Windstärke wünschenswerther gewesen, da sie die Probe mehr beweisend gestaltet hätte. Man hat ja niemals bezweifelt, daß ein Ballon in ganz ruhiger Luft nach Belieben gelenkt werden könne, in bewegter Atmosphäre ist das aber ein anderes Ding und nur unter solchen Verhältnissen sollten derartige Proben ausgeführt werden.

Genug, jetzt war weder Wind zu verspüren, noch deutete etwas darauf hin, daß solcher auftreten würde. An jenem Tage sendete Nordamerika aus seinem unerschöpflichen Vorrathe ausnahmsweise keinen Sturm nach dem westlichen Europa, und niemals hätte ein Tag günstiger als dieser zur Vornahme eines solchen aeronautischen Experimentes gewählt werden können.

Kaum brauchen wir der ungeheuren, im Fairmont-Park aufgestauten Menschenmenge, ebenso wenig der zahlreichen Bahnzüge zu erwähnen, welche Ströme von Neugierigen aus allen Nachbarstaaten über Philadelphia ergossen hatten; auch nicht der Unterbrechung jeder industriellen und commerciellen Thätigkeit, welche es Allen – Chefs, Beamten, Handwerkern, Männern und Frauen, Greisen und Kindern, Congreßmitgliedern, Vertretern der bewaffneten Macht, Magistratspersonen, Reportern, weißen und schwarzen Eingeborenen, die auf der Waldblöße zusammengelaufen waren – gestattete, diesem Schauspiele beizuwohnen. Oder sollten wir das geräuschvolle Durcheinanderwogen dieser Volksmengen schildern, die unerwarteten Bewegungen, das plötzliche Drängen und das Jauchzen und Rufen des Mobs? Sollen wir die Hipp! Hipp! Hipp! nachzählen, welche von allen Seiten gleich dem Krachen von Feuerwerkskörpern laut wurden, als Onkel Prudent und Phil Evans auf der mit dem amerikanischen Sternenbanner geschmückten Plattform erschienen? Oder müßten wir es erst besonders aussprechen, daß der größte Theil dieser Neugierigen vielleicht nicht gekommen war, um den »Go a head« zu sehen, sondern um sich die zwei außerordentlichen Männer zu betrachten, um welche die Alte Welt die Neue beneidete?

Warum aber nur Zwei und nicht Drei? Warum nicht auch Frycollin? – Das kam daher, daß Frycollin die Reise mit dem »Albatros« für seine Berühmtheit als genügend erachtete und er die Ehre, seinen Herrn zu begleiten, bescheiden abgelehnt hatte. Er bekam also keinen Theil von den tollen Jubelrufen, welche den Vorsitzenden und den Schriftführer des Weldon-Instituts empfingen. Es versteht sich von selbst, daß von allen Mitgliedern der berühmten Gesellschaft keiner auf dem für diese reservirten Platze innerhalb der Pfähle und Leinen fehlte, welche einen Theil der Lichtung abgrenzten. Hier waren Truk Milnor, Bat T. Fyn, William T. Forbes, der seine beiden Töchter Miß Doll und Miß Mat an den Armen führte. Alle waren erschienen, um durch ihre Anwesenheit zu bekräftigen, daß nichts jemals im Stande sei, die Anhänger des »Leichter, als die Luft« zu trennen.

Gegen elf Uhr zwanzig Minuten verkündigte ein Kanonenschuß die Beendigung der letzten Vorbereitungen.

Der »Go a head« erwartete nur noch das Signal zum Aufsteigen.

Ein zweiter Kanonenschuß donnerte um elf Uhr fünfundzwanzig.

Der nur noch durch seine Leitseile gehaltene »Go a head« erhob sich gegen fünfzehn Meter über die Lichtung. Am anderen Ende der Plattform stehend, legten Onkel Prudent und Phil Evans die linke Hand auf die Brust, was bedeuten sollte, daß sie mit dem Zuschauerkreise eines Herzens wären. Dann streckten sie die rechte Hand nach dem Zenith aus, um anzudeuten, daß der größte, bis jetzt bekannte Ballon endlich in Begriff stehe, von seinem überirdischen Reiche Besitz zu ergreifen.

Da legten sich hunderttausend Hände auf hunderttausend Brüste; und hunderttausend andere erhoben sich zum Himmel.

Um elf Uhr dreißig krachte ein dritter Kanonenschuß.

»Alles los!« rief Onkel Prudent, die hergebrachte Redensart benützend.

Und der »Go a head« erhob sich »majestätisch« – das immer gebrauchte Beiwort in der Beschreibung von beginnenden Luftfahrten.

In der That, es war ein prächtiges Schauspiel! Man hätte ein Seeschiff zu sehen gemeint, das eben vom Stapel lief. Und war das hier nicht auch ein Schiff, das in’s Luftmeer abgelassen wurde?

Der »Go a head« stieg genau lothrecht in die Höhe – ein Beweis für die vollkommene Ruhe der Atmosphäre – und hielt etwa zweihundertfünfzig Meter über der Erde still.

Hier begann nun die Vorführung der Fahrt in wagrechter Richtung.

Der von seinen zwei Schrauben getriebene »Go a head« zog mit der Geschwindigkeit von zehn Metern in der Secunde der Sonne entgegen. Das ist die Geschwindigkeit des Walfisches im freien Wasser. Es ist auch gar nicht falsch, jenen mit dem genannten Riesen der nördlichen Meere zu vergleichen, zumal da er auch die Gestalt jenes Cetaceers hatte.

Eine neue Salve von Hurrahs drang zu den geschickten Aeronauten empor.

Hierauf führte der »Go a head« unter der Wirkung seines Steuers allerlei kreisförmige, schiefe und geradlinige Bewegungen aus, welche ihm die Hand seines Steuermannes aufnöthigte. Er wendete in engem Kreise, ging nach vorwärts, nach rückwärts, um selbst die zähesten Widersacher der Lenkbarkeit von Ballons eines Besseren zu belehren … wenn es solche Widersacher hier gab! Und wenn es dergleichen gegeben hätte, hätte man sie in die Pfanne gehauen!

Warum fehlte aber der Wind diesem herrlichen Experimente? Das war bedauerlich. Unzweifelhaft hätte der »Go a head« alle Bewegungen ohne Zögern ausgeführt, indem er entweder eine schräge Richtung einhielt, wie ein Schiff, das dicht beim Winde segelte, oder der Luftströmung gleich einem Dampfer gerade entgegentrieb.

In diesem Augenblicke stieg der Aerostat um einige hundert Meter höher hinauf.

Man begreift wohl die Absicht. Onkel Prudent und seine Begleiter suchten in den höheren Luftschichten eine Strömung zu finden, um die Probe zu vervollständigen. Ein System von inneren Ballons, entsprechend der Schwimmblase der Fische, in welche man mittelst Pumpen eine gewisse Menge Gas hineindrücken konnte, gestattete ihm nämlich, auf- und niederzusteigen. Ohne je Ballast auszuwerfen, um höher, oder Gas zu verlieren, um tiefer zu gehen, war er im Stande, sich nach Belieben des Luftschiffers in der Atmosphäre zu heben oder zu senken. Außerdem war er jedoch am oberen Scheitel mit einem Ventil versehen, für den Fall, daß er einmal sehr schnell herabzugehen gezwungen wäre. Hier waren demnach nur bereits bekannte Mittel vorgesehen, diese aber bis zum höchsten Grade der Vollkommenheit entwickelt.

Der »Go a head« erhob sich also in lothrechter Linie. Durch optische Wirkung verringerten sich seine Dimensionen allmählich den Blicken. Gewöhnlich erscheint das ziemlich merkwürdig für die Zuschauer, die sich, um gerade hinauf zu sehen, fast die Halswirbel brechen. Der ungeheure Walfisch wurde so nach und nach zum Meerschwein, um endlich bis zur Größe des gewöhnlichen Gründlings herabzusinken.

Da die aufsteigende Bewegung nicht unterbrochen wurde, erreichte der »Go a head« eine Höhe von viertausend Metern, blieb aber bei dem reinen, keine Spur von Dunst enthaltenden Himmel vollkommen klar sichtbar.

Indeß hielt er sich fortwährend über der Lichtung, als würde er daselbst von divergirenden Leinen festgehalten. Und wenn eine riesenhafte Glocke über die Umgegend gestürzt gewesen wäre, hätte die Luft darunter nicht ruhiger sein können. Weder in jener, noch in irgend einer anderen Höhe regte sich der leiseste Hauch. Stark verkleinert durch die Entfernung, als ob man ihn durch ein verkehrt gehaltenes Fernrohr betrachtet hätte, manövrirte der Aerostat, ohne den geringsten Widerstand zu finden.

Plötzlich drang ein Aufschrei aus der Menge, ein Schrei, dem sofort hunderttausend andere folgten. Alle Arme richteten sich nach einem Punkte am Horizont, und zwar nach Nordwesten hin.

Dort im tiefen Azur ist ein sich bewegender Körper erschienen, der näher herankommt und größer wird. Ist es ein Vogel, der mit mächtigem Flügelschlage durch die höchsten Luftschichten schwebt? Ist’s eine Feuerkugel, deren Bahn die Atmosphäre in schiefer Richtung durchschneidet? Jedenfalls ist der räthselhaften Erscheinung eine bedeutende Schnelligkeit eigen und sie muß bald über die erstaunte Volksmenge hinwegrauschen.

Ein Verdacht, der sich gleichsam elektrisch allen Gehirnen mittheilt, verbreitet sich über die ganze Lichtung.

Es scheint jedoch, als ob auch der »Go a head« den fremdartigen Gegenstand bemerkt hätte. Offenbar hat er das Gefühl einer drohenden Gefahr empfunden, denn plötzlich steigert sich seine Geschwindigkeit und er flieht nach Osten hin.

Ja, die Menge hat Alles begriffen. Ein von einem der Mitglieder des Weldon-Instituts ausgerufener Name wird von zweihunderttausend Lippen wiederholt: »Der ‚Albatros‘! … Der ‚Albatros‘!«

In der That, es ist der »Albatros«. Robur ist es, der in den Höhen des Himmels wieder erscheint! Er ist’s, der gleich einem gigantischen Raubvogel auf den »Go a head« losstürzt!

Und neun Monate vorher war der durch die Explosion zersprengte Aeronef, die Schrauben zerbrochen und das Verdeck in zwei Stücke zerrissen, doch vernichtet worden. Ohne die wunderbare Besonnenheit des Ingenieurs, der die Drehbewegung des vorderen Propellers veränderte, und diesen als Auftriebsschraube wirken ließ, wäre die ganze Besatzung des »Albatros« schon durch die Schnelligkeit des Sturzes erstickt worden. Doch wenn sie auch dieser Gefahr glücklich entronnen, wie kam es, daß sie nicht in den Fluthen des Pacifischen Oceans ertrunken war?

Das kam daher, daß die Trümmer des Verdecks, die Flügel der Triebschrauben, die Wände der Ruffs und was sonst noch vom »Albatros« übrig war, ihn zur schwimmenden Seetrift verwandelt hatten. Der verwundete Vogel war in’s Wasser gefallen, seine Flügel aber hielten ihn noch auf den Wellen. Einige Stunden lang blieben Robur und seine Leute noch auf diesem Wrack, dann flüchteten sie in das auf dem Ocean wieder gefundene Kautschukboot.

Die Vorsehung, für Diejenigen, welche an einen göttlichen Eingriff in irdische Dinge glauben – der Zufall, für Diejenigen, welche die Schwäche haben, an keine Vorsehung zu glauben – kam den Schiffbrüchigen zu Hilfe.

Wenige Stunden nach Sonnenaufgang wurden sie von einem Schiffe bemerkt, das nicht allein Robur und seine Leute, sondern auch die umher schwimmenden Trümmer des Aeronefs aufnahm. Der Ingenieur begnügte sich mit der Angabe, sein Fahrzeug sei durch eine Collision zerstört worden, und sein Incognito blieb auch bei dieser Gelegenheit gewahrt.

Jenes Schiff war ein englischer Dreimaster, der »Two Friends« von Liverpool. Es segelte nach Melbourne, wo es nach wenigen Tagen eintraf.

Nun war man zwar in Australien, aber sehr fern von der Insel X, nach der man doch baldigst zurückkehren mußte.

Unter den Trümmern des hinteren Ruffs hatte der Ingenieur noch eine beträchtliche Geldsumme gefunden, die ihm, ohne einen Anderen anzusprechen, alle Bedürfnisse seiner Leute zu bestreiten gestattete. Kurz nach der Ankunft in Melbourne erwarb er eine kleine Goelette von hundert Tonnen und auf dieser begab sich Robur, der auch ein tüchtiger Seemann war, nach der Insel X zurück.

Jetzt erfüllte ihn nur noch eine einzige fixe Idee – sich zu rächen. Doch um das zu können, mußte ein zweiter »Albatros« gebaut werden, was für den, der den ersten construirt hatte, ja eine leichte Aufgabe war. Man verwendete dabei, was noch vom alten Aeronef brauchbar erschien, unter anderen Maschinentheilen auch dessen Propeller, die mit allen Trümmern auf der Goelette verladen gewesen waren. Der Mechanismus wurde mittelst neuer Batterien und Accumulatoren wieder in Stand gesetzt. Kurz, binnen weniger als acht Monaten war die ganze Arbeit beendigt und ein neuer »Albatros«, ganz gleich dem durch die Explosion zerstörten und eben so mächtig wie dieser, stand bereit, durch die Luft abzusegeln.

Selbstverständlich trug er auch dieselbe Mannschaft und ebenso selbstverständlich schäumte diese Mannhaft vor Wuth auf Onkel Prudent und Phil Evans im Besonderen, wie auf das ganze Weldon-Institut im Allgemeinen.

Mit den ersten Tagen des April verließ der »Albatros« die Insel X. Während dieser Luftfahrt sollte sein Vorüberkommen von keinem Punkt der Erde aus gemeldet werden können. So schwebte er also immer zwischen den Wolken hin. Ueber Nordamerika an einer Einöde des Far-West angelangt ging er zur Erde. Das tiefste Incognito bewahrend, erfuhr der Ingenieur hier, was ihm das größte Vergnügen gewähren mußte: daß das Weldon-Institut nun so weit sei, mit seinen Probefahrten zu beginnen, und daß der »Go a head« mit Onkel Prudent und Phil Evans am 29. April von Philadelphia aus aufsteigen sollte.

Welch‘ herrliche Gelegenheit zur Kühlung jener Rache, die das Herz Robur’s und aller seiner Leute erfüllte! Eine schreckliche Rache, welcher der »Go a head« nicht entrinnen sollte! Eine öffentliche Rache, welche gleichzeitig die Ueberlegenheit des Aeronefs über die Aerostaten und alle Apparate dieser Art beweisen mußte!

Aus diesem Grunde also erschien an jenem Tage gleich dem Geier, der aus schwindelnder Höhe niederschießt, der Aeronef über dem Fairmont-Park.

Ja, das war der »Albatros«, leicht erkannt selbst von Denen, die ihn früher nie gesehen hatten.

Der »Go a head« floh noch immer. Er begriff jedoch, daß er durch eine Flucht in horizontaler Richtung niemals zu entkommen vermöge. Er suchte sein Heil also in verticaler Flucht, aber nicht durch Annäherung an die Erde, denn da hätte der Aeronef ihm den Weg verlegen können, sondern indem er sich in die Luft erhob, nach einer Zone, in der er vielleicht nicht angegriffen werden konnte. Das war sehr kühn, doch gleichzeitig recht logisch gehandelt.

Inzwischen erhob sich aber auch der »Albatros« mit ihm. Weit kleiner als der »Go a head« glich er dem Schwertfisch bei Verfolgung des Wals, den er mit seinem Stachel durchbohrt, oder dem auf das Panzerschiff zufliegenden Torpedo, der jenes mit einem Schlage in die Luft zu sprengen trachtet.

Die Zuschauer bemerkten das mit beklemmender Angst. Binnen wenigen Augenblicken hatte der Aerostat eine Höhe von fünftausend Metern erreicht. Der »Albatros« war ihm bei seiner aufsteigenden Bewegung nachgefolgt. Er tänzelte jetzt gleichsam um seine Seiten und umkreiste ihn in stetig vermindertem Umfange. Mit einem Sprung konnte er ihn vernichten, indem er seine dünne Hülle zerriß. Onkel Prudent und dessen Begleiter wären durch einen furchtbaren Absturz rein zerschmettert worden.

Die vor Schreck verstummten und nach Athem ringenden Zuschauer waren von jener Art Entsetzen gepackt, das die Brust einschnürt und die Füße lähmt, wenn man Einen aus großer Höhe herabstürzen sieht. Jetzt drohte ein Luftkampf, ein Kampf, der nicht einmal die geringen Aussichten für Rettung wie ein Wasserkampf darbot – der erste dieser Art, aber gewiß nicht der letzte, denn der Fortschritt gehört zu den ehernen Gesetzen dieser Welt. Und wenn der »Go a head« an seiner Seite das amerikanische Sternenbanner trug, so hatte der »Albatros« auch seine Flagge, das schwarze Fahnentuch mit der goldenen Sonne Robur des Siegers, entfaltet.

Der »Go a head« wollte aus dem Bereiche seines Gegners zu kommen suchen, indem er sich noch weiter erhob. Er warf den als Reserve mitgeführten Ballast aus. Noch einmal machte er einen Satz von tausend Metern und erschien jetzt nur noch als ein Punkt im Luftraum. Der »Albatros«, der ihm mit der größten Drehgeschwindigkeit seiner Schrauben nacheilte, war schon völlig unsichtbar geworden.

Plötzlich erhob sich von der Erde ein Schreckensschrei.

Der »Go a head« nahm sichtlich an Größe wieder zu, während auch der sich mit ihm senkende Aeronef auf’s Neue erschien. Jetzt war der Sturz da! Das in der furchtbaren Höhe zu stark ausgedehnte Gas hatte die Hülle des Ballons gesprengt, und nur noch halb aufgeblasen fiel dieser rasch herunter.

Der Aeronef dagegen, der nur die Bewegung seiner Auftriebsschrauben gemäßigt hatte, sank mit abgemessener Geschwindigkeit herab. Er fuhr an den »Go a head« heran, als dieser nur noch zwölfhundert Meter von der Erde entfernt war, und näherte sich ihm Bord an Bord.

Wollte Robur ihm den Gnadenstoß geben? – Nein, er wollte helfen, wollte die Insassen retten!

Seine Manövrirgeschicklichkeit war eine so erstaunliche, daß der Aeronaut und sein Genosse auf das Verdeck des Aeronefs gelangen konnten.

Sollten Onkel Prudent und Phil Evans etwa die Unterstützung Robur’s ablehnen, es verweigern, sich von ihm retten zu lassen? Sie wären es wahrlich im Stande gewesen! Die Leute des Ingenieurs bemächtigten sich jedoch derselben und schafften sie mit Gewalt vom »Go a head« nach dem »Albatros«.

Da machte sich der Aeronef von jenem klar und blieb an derselben Stelle, während der jetzt völlig gasleere Ballon auf die Bäume neben der Lichtung niederfiel, wo er gleich einem riesigen Fetzen hängen blieb.

Unten herrschte das Schweigen des Todes; es schien wirklich, als wenn alles Leben aus den Herzen der Menge entflohen wäre. Sehr Viele hatten gleich die Augen geschlossen, um das Ende der Katastrophe nicht mit anzusehen.

Onkel Prudent und Phil Evans waren also wiederum die Gefangenen des Ingenieurs Robur geworden. Sollte er, nun er sie wieder erlangt, mit ihnen noch einmal in’s Luftmeer hinausfliegen, wohin ihm Keiner folgen konnte?

Das war vielleicht zu vermuthen.

Indessen senkte sich der »Albatros«, statt höher zu steigen, langsam zur Erde nieder. Man glaubte, er wolle bis auf’s Land gehen, und die Menge drängte sich, um ihm Platz zu machen, auseinander.

Die Erregung der Leute hatte jetzt den höchsten Grad erreicht.

Zwei Meter über der Erde hielt der »Albatros« an, und unter tiefstem Stillschweigen ließ sich die Stimme des Ingenieurs vernehmen:

»Bürger der Vereinigten Staaten, sagte er, der Vorsitzende und der Schriftführer des Weldon-Instituts sind wiederum in meiner Gewalt. Hielte ich sie zurück, so würde ich nur von meinem Rechte der Wiedervergeltung Gebrauch machen. Bei der in ihrer Seele durch die Erfolge des »Albatros« entfachten Leidenschaft aber sehe ich ein, daß ihr geistiger Zustand doch nicht derart ist, um die Umwälzungen, welche die Beherrschung des Luftmeeres einst nach sich ziehen muß, vollständig zu begreifen. Onkel Prudent und Phil Evans, Sie sind frei!«

Der Vorsitzende, der Schriftführer des Weldon-Instituts, der Aeronaut und sein Gehilfe hatten nur einen Sprung zu thun, um auf die Erde zu gelangen.

Der »Albatros« erhob sich dann sofort um etwa zehn Meter über die Menge und Robur fuhr fort:

»Bürger der Vereinigten Staaten, mein Versuch ist glücklich durchgeführt, doch meine Ansicht geht dahin, nichts zu übereilen, auch nicht einmal den Fortschritt. Die Wissenschaft darf den Landessitten und Gewohnheiten nicht zu sehr vorauseilen. Die Menschheit soll nur schrittweise, nicht durch gewaltsame Umänderungen vorwärts kommen. Ich selbst würde heute noch zu zeitig auftreten, um alle widerstrebenden und getheilten Interessen zu vereinigen. Die Nationen sind zum wirklichen Bunde noch nicht reif.

»Ich ziehe also weiter und nehme mein Geheimniß mit mir. Für die Menschheit wird es deshalb nicht verloren sein, sondern ihr dereinst gehören, wenn sie unterrichtet genug sein wird, daraus Vortheil zu ziehen, und weise genug, um es nicht zu mißbrauchen. Heil Euch, Bürger der Vereinigten Staaten, Heil Euch, jetzt und immerdar!«

Die Luft mit seinen vierundsiebenzig Schrauben peitschend und von den beiden mit größter Kraft arbeitenden Propellern davongetragen, verschwand der »Albatros« im Osten inmitten eines Sturmes von Hurrahs, die jetzt der allgemeinen Bewunderung Ausdruck gaben.

Die beiden, jetzt wie das ganze Weldon-Institut tief gedemüthigten Collegen thaten das Einzige, was sie thun konnten – sie schlichen nach ihren Behausungen zurück, während die Menge infolge einer plötzlichen Sinnesänderung nicht übel Lust zeigte, sie mit jetzt ganz angebrachtem beißenden Spotte zu begrüßen.

*

Nun bleibt noch immer die Frage bestehen: »Wer ist jener Robur? Wird man das jemals erfahren?«

Man weiß es schon heute. Robur ist das Wissen und Können der Zukunft, vielleicht schon des nächsten Tages – er ist der sichere Schatz im Schooße kommender Zeiten.

Daß der »Albatros« noch immer durch die Erdatmosphäre hinschwebe, inmitten seines Reiches, das ihm Niemand streitig machen kann, ist nicht zu bezweifeln; auch Robur der Sieger wird seinem Versprechen gemäß eines Tages wiederkehren und das Geheimniß einer Erfindung offenbaren, welche die socialen und politischen Verhältnis der Erde gänzlich umgestalten dürfte.

Was die Zukunft der Luftschifffahrt angeht, so gehört diese den Aeronefs, nicht dem Aerostaten.

Den »Albatrossen« ist es noch vorbehalten, sich das Reich der Luft endgiltig zu erobern.

II.

II.

In welchem die Mitglieder des Weldon-Instituts mit einander streiten, ohne zu einer Uebereinstimmung zu gelangen.

»Und der Erste, der das Gegentheil behauptet …

– Oho, das wird man behaupten, wenn ein Grund dafür vorliegt!

– Und auch trotz Ihrer Drohungen! …

– Achten Sie auf Ihre Worte, Bat Fyn!

– Und Sie auf die Ihrigen, Onkel Prudent!

– Ich bleibe dabei, daß sich die Schraube nur am Hintertheil befinden darf!

– Wir auch! Wir auch! erschallten fünfzig Stimmen wie aus einer Kehle.

– Sie muß am Vordertheil sein! rief Phil Evans.

– Am Vordertheil! brüllten fünfzig andere Stimmen eben so stark, wie jene früheren.

– Wir werden nie zu ein und derselben Ansicht kommen!

– Niemals! … Niemals!

– Nun, warum streiten wir dann überhaupt noch?

– Das ist kein Streit … es ist nur eine Erörterung!«

Das hätte freilich kein Mensch geglaubt, der die scharfe Entgegnung, die Vorwürfe und das Geschrei hörte, welche den Sitzungssaal seit einer guten Viertelstunde erfüllten.

Gedachter Saal war nämlich der größte des Weldon-Institutes … und jenes vor allen berühmten Clubs in der Walnut Street zu Philadelphia, Pennsylvanien, Vereinigte Staaten von Nordamerika.

In genannter Stadt war es erst am Vortage bei Gelegenheit der Wahl eines Gaslaternenanzünders zu öffentlichen Kundgebungen, geräuschvollen Versammlungen und zu reichlich ausgetheilten Schlägen gekommen. Daher rührte eine noch nicht besänftigte Reizbarkeit und stammte wohl auch jene außergewöhnliche Erregung, welche die Mitglieder des Weldon-Instituts eben zeigten. Und hierbei handelte es sich nur um eine einfache Vereinigung von »Ballonisten«, welche über die noch heutigen Tages brennende Frage der Lenkbarkeit der Ballons verhandelten.

Der Vorgang aber spielte sich in einer Stadt der Vereinigten Staaten ab, welche an schneller Entwickelung selbst New-York, Chicago, Cincinnati und San Francisco überholt hat – einer Stadt, welche weder ein Hafenplatz, noch der Mittelpunkt von Petroleum- oder Steinkohlenbergwerken, auch kein Brennpunkt der Industrie, so wenig wie der Kreuzungspunkt eines vielstrahligen Bahnnetzes ist – in einer Stadt, die an Größe schon Manchester, Edinburgh, Liverpool, Wien, Petersburg und Dublin übertrifft – einer Stadt, die einen Park besitzt, in dem die sieben Parks der Hauptstadt von England zusammen Platz finden – einer Stadt endlich, welche jetzt nahezu 1,200.000 Einwohner zählt und sich nach London, Paris, New-York und Berlin als die fünfte Stadt der Welt betrachtet.

Philadelphia ist fast eine Stadt aus Marmor mit seinen vielen monumentalen Gebäuden und öffentlichen Anstalten, welche ihres Gleichen nirgends finden. Das bedeutendste aller Collegs der Neuen Welt ist das Colleg Girard, und das hat seinen Sitz in Philadelphia. Die größte Eisenbrücke der Erde ist die, welche den Schuylkill überspannt, und diese befindet sich in Philadelphia. Der schönste Tempel der Freimaurerei ist der Maurertempel in Philadelphia; endlich besteht der größte Club von Freunden und Beförderern der Luftschifffahrt ebenfalls in Philadelphia, und wer Gelegenheit gehabt hätte, diesen am Abend des 12. Juni zu besuchen, der würde sich dabei ausgezeichnet unterhalten haben.

In erwähntem großen Saale bewegten, drängten sich, gestikulirten, sprachen, verhandelten und stritten – Alle den Hut auf dem Kopfe – wohl hundert Ballonisten unter dem hohen Vorsitz eines Präsidenten, dem ein Schriftführer und ein Schatzmeister zur Seite standen. Es waren das keine Ingenieurs von Fach; nein, einfache Liebhaber alles Dessen, was mit der Aerostatik in Beziehung stand, aber begeisterte Liebhaber, und vor Allem Feinde Derjenigen, welche den Aerostaten Apparate, »schwerer als die Luft«, fliegende Maschinen, Luftschiffe u. dgl. entgegenzustellen beabsichtigen. Daß diese wackeren Leute nimmermehr die Lenkbarkeit des Ballons erfinden würden, war gewiß mehr als wahrscheinlich. Auf jeden Fall hatte ihr Vorsitzender Noth genug, um sie selbst gehörig zu lenken und zu leiten.

Dieser in Philadelphia sattsam bekannte Präsident war der Onkel Prudent – Prudent seinem Familiennamen nach. Was die weitere Bezeichnung »Onkel« betrifft, so braucht man sich in Amerika über diese nicht zu wundern, wo Jeder zum Onkel werden kann, ohne einen Neffen oder eine Nichte zu haben. Man sagt dort ebenso Onkel, wie anderwärts Vater von Leuten, welche auf eine Vaterschaft nicht den geringsten Anspruch haben.

Onkel Prudent war eine gewichtige Persönlichkeit und trotz seines Namens oft genannt gerade wegen seiner Kühnheit, daneben sehr reich, was selbst in den Vereinigten Staaten nicht von Nachtheil sein soll. Wie hätte er das auch nicht sein sollen, da er einen großen Theil der Niagarafall-Actien sein eigen nannte? Jener Zeit hatte sich nämlich in Buffalo eine Gesellschaft von Ingenieuren zur Ausbeutung der berühmten Fälle gegründet. Die 7500 Cubikmeter, welche der Niagara jede Secunde hinabwälzt, können 7 Millionen Dampfpferdekräfte erzeugen. Diese ungeheure, in einem Umkreise von 500 Kilometer nach allen Fabriken und Werkstätten vertheilte Kraftmenge lieferte eine jährliche Ersparniß von 1200 Millionen Mark, von dem ein Theil in die Cassen der Gesellschaft – speciell in die Taschen des Onkel Prudent – zurückfloß. Uebrigens war er Junggeselle, lebte höchst einfach und hatte als häuslichen persönlichen Beistand niemand Anderen, als seinen Diener Frycollin, der eigentlich am allerwenigsten verdiente, im Dienste eines so kühnen, unternehmenden Herrn zu stehen. Aber es giebt einmal Regelwidrigkeiten.

Daß der Onkel Prudent Freunde hatte, da er so reich war, versteht sich ja von selbst; aber er hatte auch Feinde, weil er Vorsitzender jenes Clubs war – unter Allen alle die, welche selbst nach diesem Amte strebten; und als der hitzigsten Einer ist hier der Schriftführer des Weldon-Institutes zu erwähnen.

Es war das der ebenfalls sehr reiche Phil Evans, der Director der Walton Watch Company, einer gewaltigen Uhrenfabrik, welche tagtäglich 500 Stück Zeitmesser erzeugt und Producte liefert, die sich den besten der Schweiz an die Seite stellen können. Phil Evans hätte also für einen der glücklichen Menschen der Welt selbst in den Vereinigten Staaten gelten können, wenn man von jener Stellung des Onkel Prudent absah. Wie letzterer, war auch er 45 Jahre alt, von scheinbar unerschütterlicher Gesundheit, wie jener von unzweifelhafter Kühnheit, und sorgte er sich wenig darum, die gewissen Vorzüge des Junggesellenstandes gegen die oft zweifelhaften Vortheile der Ehe zu vertauschen. Wahrlich, das waren zwei Männer, wie geschaffen, einander zu verstehen, die sich doch nicht verstanden, und Beide, was wohl zu bemerken ist, von ungemein stark entwickeltem Charakter, der Eine, Onkel Prudent, hitzig, der Andere, Phil Evans, eiskalt bis zum Uebermaße.

Und woher kam es, daß Phil Evans nicht zum Vorsitzenden des Clubs ernannt worden war? Die Stimmenzahl für Onkel Prudent und für ihn war die genau gleiche gewesen. Wohl zwanzig Mal wurde die Abstimmung wiederholt, aber auch zwanzig Mal ergab sich eine Majorität weder für den Einen, noch für den Anderen. Das war eine peinliche Lage, welche wahrscheinlich die Lebenszeit der beiden Candidaten hätte überdauern können.

Da schlug ein Mitglied des Clubs ein Mittel vor, die Stimmengleichheit aufzuheben. Es war Jem Cip, der Schatzmeister des Weldon-Institutes. Jem Cip war eingefleischter Vegetarianer, mit anderen Worten, ausschließlicher Gemüseesser, einer der Leute, die jede Fleischnahrung, wie alle gegohrenen Getränke verwarfen – halb Brahmanen und halb Muselmänner – der Rival eines Nievmann, Pitmann, Ward und Davie, welche der Secte dieser unschuldigen Thoren einen gewissen Namen gemacht haben.

Bei vorliegender Gelegenheit wurde Jem Cip von einem anderen Mitglied des Clubs unterstützt, von William T. Forbes, dem Director einer großen Anstalt, in der Glucose durch Behandlung von Lumpen mit Schwefelsäure hergestellt wurde – ein Verfahren, nach dem man also Zucker aus alter Wäsche zu erzeugen vermag. Es war ein gut situirter Mann, dieser William T. Forbes, und Vater von zwei reizenden, bejahrteren Töchtern, der Miß Dorothee, genannt Doll, und der Miß Martha, genannt Mat, die in der besten Gesellschaft von Philadelphia den Ton angaben.

Der von William T. Forbes nebst einigen Anderen unterstützte Vorschlag Jem Cip’s ging nun dahin, den Vorsitzenden des Clubs durch den Mittelpunkt zu bestimmen.

Wahrlich, dieser Wahlmodus könnte in allen Fällen angewendet werden, wo es sich darum handelt, den Würdigsten zu erwählen, und sehr viele, höchst vernünftige Amerikaner dachten auch schon daran, denselben bei der Ernennung des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Anwendung zu bringen.

Auf zwei tadellos weiße Tafeln wurde hierzu je eine schwarze Linie gezogen. Die Länge beider war mathematisch genau die gleiche, denn man hatte dieselbe mit ebenso viel Sorgfalt abgemessen, als handelte es sich dabei um die Grundlinien des ersten Dreiecks einer Triangulationsarbeit. Hierauf wurden beide Tafeln am nämlichen Tage inmitten des Sitzungssaales der Gesellschaft aufgestellt; die beiden Wettbewerber versahen sich Jeder mit einer sehr feinspitzigen Nadel und gingen wieder gleichzeitig auf die, Jedem durch das Loos zugefallene Tafel zu. Derjenige der beiden Rivalen aber, welcher seine Nadel am nächsten dem Mittelpunkte der Linie einstechen würde, sollte damit zum Vorsitzenden des Weldon-Institutes gewählt sein.

Es versteht sich von selbst, daß hierbei jedes Hilfsmittel, jedes Umhertappen verboten und nur die Sicherheit des Blicks entscheidend war. Es galt, nach volksthümlichem Ausdruck, den Zirkel im Auge zu haben.

Onkel Prudent stach seine Nadel ein und zu gleicher Zeit Phil Evans. Darauf wurde nachgemessen, welcher der beiden Konkurrenten sich dem Mittelpunkte am meisten genähert hatte.

Welches Wunder! Die beiden Männer hatten so vortreffliches Augenmaß entwickelt, daß die Messungen keinen schätzenswerthen Unterschied ergaben. War von ihnen auch nicht genau der mathematische Mittelpunkt getroffen worden, so erwies sich der Raum zwischen diesem und den beiden Nadeln kaum merkbar und schien bei beiden obendrein noch gleich groß zu sein.

Die Versammlung befand sich nun in neuer Verlegenheit.

Zum Glück bestand eines der Mitglieder, Truk Milnor, darauf, die Messungen mit Hilfe eines mit Perreaux‘ mikrometischer Maschine getheilten Lineals noch einmal vorzunehmen, welche die Möglichkeit gewährt noch ein Fünfzehnhundertstel eines Millimeters abzulesen. Auf dem Lineal waren in der That fünfzehnhundert Abtheilungen auf einem solchen kleinen Raum mittelst Diamant eingeritzt, und bei Abmessung der Entfernung der Stiche von den betreffenden Mittelpunkten erhielt man folgendes Resultat:

Onkel Prudent hatte sich dem Mittelpunkt auf weniger als sechs fünfzehnhundertstel Millimeter genähert, Phil Evans auf nahezu neun fünfzehnhundertstel.

Daher kam es, daß Phil Evans nur Schriftführer des Weldon-Institutes wurde, während Onkel Prudent die Würde des Präsidenten desselben erhielt.

Einer Entfernung von drei fünfzehnhundertstel, mehr hatte es nicht bedurft, um Phil Evans mit Haß gegen Onkel Prudent zu erfüllen, mit einem Haß, der, wenn er ihn auch in sich verschloß, doch nicht minder grimmig war.

Jener Zeit, und zwar seit dem letzten Viertel dieses neunzehnten Jahrhunderts, hatte die Frage der lenkbaren Ballons immerhin schon einige Fortschritte zu verzeichnen, die mit Triebschraube ausgerüsteten Gondeln, welche Henry Giffard 1852 an seinem verlängerten Ballon anbrachte, ferner Dupuy de Lôme, 1872, die Gebrüder Tissandier 1883 und die Capitäne Krebs und Renard im Jahre 1884 hatten mindestens einige Ergebnisse erzielt, denen man Rechnung tragen mußte.

Doch wenn diese Apparate in einem schwereren Medium als sie selbst, unter dem Drucke einer Schraube manövrirend, eine schräge Richtung gegen den Wind einhielten, sogar gegen einen widrigen Luftzug aufkamen, um nach ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren, also wirklich gelenkt worden waren, so konnte das doch nur unter ganz besonders günstigen Umständen erreicht werden. In großen, geschlossenen ausgedehnten Hallen allerdings! In recht ruhiger Atmosphäre – das ging auch noch recht gut. Bei einem leichten Winde von fünf bis sechs Meter in der Secunde war es vielleicht eben noch zu erzwingen – Alles in Allem hatte man eigentlich praktisch verwendbare Resultate aber noch nicht erzielt. Gegen einen Windmühlenwind von acht Metern in der Secunde würden jene Apparate nahezu stationär geblieben sein; vor einer frischen Brise von zehn Metern in der Secunde hätten sie in Gefahr geschwebt, zerrissen zu werden; und bei einer jener Cyclonen, welche hundert Meter in der Secunde überschreiten, würde man von ihnen kein Stückchen wieder gefunden haben.

Selbst nach den scheinbar glänzend gelungenen Versuchen der Capitäne Krebs und Renard dürfte als bewiesen angesehen werden, daß die Aerostaten, wenn sie an Bewegungsfähigkeit auch ein wenig gewonnen hatten, mit dieser doch gerade nur gegen eine schwache Brise aufzukommen vermochten. Es war also nach wie vor als unmöglich zu betrachten, diese Art der Fortbewegung durch die Luft praktisch zu verwenden.

Während man sich aber so eifrig mit dem Problem der Lenkbarkeit der Aerostaten, das heißt mit den Mitteln beschäftigte, diesen eine eigene Geschwindigkeit zu verleihen, hatte die Frage der Motoren unzweifelhaft weit schnellere Fortschritte gemacht. An Stelle der Dampfmaschinen und der Verwendung der bloßen Muskelkraft waren allmählich die elektrischen Motore getreten. Die Batterien mit doppeltchromsaurem Natron, deren Elemente auf hohe Spannung angeordnet waren, wie sie die Gebrüder Tissandier benützten, erzielten eine Schnelligkeit von etwa vier Metern in der Secunde. Die zwölf Pferdekraft entwickelnden dynamo-elektrischen Maschinen der Capitäne Krebs und Renard gestatteten, eine Geschwindigkeit von im Mittel sechs Meter in der Secunde zu erreichen.

Bei ihren Versuchen waren Mechaniker und Elektriker bestrebt gewesen, sich dem frommen Wunsche zu nähern, eine »Dampfpferdekraft in einem Taschenuhrgehäuse« zu erzeugen. Die Effecte der Säule, deren Zusammensetzung die Capitäne Krebs und Renard geheim gehalten hatten, wurden ebenfalls bald übertroffen, und nach ihnen fanden die Aeronauten Gelegenheit, Motore zu verwenden, deren Leichtigkeit im gleichen Verhältniß mit ihrer Kraftwirkung wuchs.

Die Anhänger der Möglichkeit einer Lenkbarkeit der Ballons hatten also gewiß Ursache, ihren Muth aufrecht zu erhalten, und doch, wie viele klare Köpfe haben es verworfen, an die Benützung solcher zu glauben. In der That, wenn der Aerostat einen Angriffspunkt der ihm innewohnenden Kraft in der Luft findet, so ist er doch mit seiner großen Masse in diese eingetaucht. Und wie könnte derselbe, da er wieder den Strömungen der Atmosphäre eine so breite Angriffsfläche bietet, jemals, und wenn sein Triebwerk noch so mächtig wäre, direct gegen einen widrigen Wind aufkommen?

Diese Frage lag noch immer vor, man hoffte dieselbe jedoch durch Anwendung sehr großer Apparate zu lösen.

Es ergab sich übrigens, daß bei diesem Wettstreite der Erfinder in der Herstellung eines sehr kräftigen und dennoch leichten Motors die Amerikaner sich dem gewünschten Ziele am meisten genähert hatten. Ein auf der Anwendung einer neuen Säule beruhender dynamo-elektrischer Apparat, dessen Construction vorläufig noch Geheimniß blieb, war seinem Erfinder, einem bisher unbekannten Chemiker in Boston, abgekauft worden. Mit größter Sorgfalt durchgeführte Berechnungen und mit äußerster Genauigkeit entworfene Diagramme ergaben, daß dieser Apparat, wenn er auf eine Schraube von angepaßter Größe wirkte, eine Fortbewegung von achtzehn bis zwanzig Metern in der Secunde gewährleisten mußte.

Wahrlich, das wäre großartig gewesen!

»Und das Ding ist nicht theuer!« hatte Onkel Prudent hinzu gesetzt, als er dem Erfinder gegen regelrecht ausgefüllte Quittung das letzte Päckchen von hunderttausend Papierdollars einhändigte, mit dem man ihm seine Erfindung bezahlte.

Unverzüglich ging das Weldon-Institut an’s Werk. Handelt es sich um ein Versuchsunternehmen, das irgend welchen praktischen Nutzen verspricht, so wird das Geld in amerikanischen Taschen stets leicht locker. Die nöthigen Mittel strömten zusammen, so daß selbst die Gründung einer Actiengesellschaft umgangen werden konnte. Dreihunderttausend Dollars (also 600.000 fl. = 11/5 Millionen Mark) füllten gleich nach dem ersten Aufruf die Cassen des Clubs. Die Arbeiten begannen unter Leitung des hervorragendsten Luftschiffers der Vereinigten Staaten, Harry W. Tinder’s, der sich unter tausend Anderen vorzüglich durch drei kühne Fahrten berühmt gemacht hat: die eine, bei der er sich bis 12000 Meter erhob, d. h. höher aufstieg, als Gay-Lussac, Coxwell, Sivel, Crocé-Spinelli, Tissandier, Glaisher; die zweite, während der er ganz Amerika von New-York bis San Francisco überflog und um mehrere hundert Lieues die längste Reise Nadar’s, Godard’s und vieler Anderen hinter sich ließ, ohne John Wise zu rechnen, der von St. Louis bis nach der Grafschaft Jefferson elfhundertfünfzig Meilen zurückgelegt hatte; die dritte endlich, welche mit einem furchtbaren Sturze aus der Höhe von fünfzehnhundert Fuß endigte, bei dem er sich doch nur den rechten Daumen verstauchte, während der minder vom Glücke begünstigte Pilâtre de Rozier bei einem Sturze von nur siebenhundert Fuß augenblicklich den Tod fand.

Zur Zeit, mit der diese Erzählung beginnt, konnte man schon beurtheilen, daß das Weldon-Institut die Angelegenheit kräftig gefördert hatte. In den Turner-Werften zu Philadelphia erhob sich schon ein ungeheurer Aerostat, dessen Haltbarkeit durch Füllung mit stark comprimirter Luft geprüft werden sollte. Vor Allem würde dieser den Namen eines Monstre-Ballons verdienen.

Wie viel faßte der Géant Nadar’s? Sechstausend Cubikmeter. Wie viel der Ballon John Wise’s? Zwanzigtausend Cubikmeter. Welchen Fassungsraum hatte der Ballon Giffard auf der Ausstellung von 1878? Fünfundzwanzigtausend Cubikmeter bei achtzehn Meter Halbmesser. Vergleicht man diese drei Aerostaten mit dem des Weldon-Institutes, dessen Volumen vierzigtausend Cubikmeter betrug, so begreift man leicht, daß Onkel Prudent und seine Clubgenossen einigermaßen Recht hatten, sich vor Stolz aufzublähen.

Dieser Ballon, der nicht dazu bestimmt war, die höchsten Schichten der Atmosphäre zu erreichen, nannte sich nicht »Excelsior«, eine Bezeichnung, welche sonst bei den Amerikanern sehr beliebt ist, nein, er war einfach »Go a head«, d. h. »Vorwärts« getauft, und es erübrigte also nur noch, daß er seinen Namen rechtfertigte, indem er den Befehlen seines Capitäns allenthalben gehorchte.

Jener Zeit war die dynamo-elektrische Maschine nach dem vom Weldon-Institute angekauften Patente fast vollendet und man durfte darauf rechnen, daß der »Go a head« seinen Flug durch das Luftmeer begonnen haben werde.

Immerhin waren bekanntlich alle mechanischen Schwierigkeiten noch nicht überwunden.

Sehr viele Sitzungen waren zu diesem Zwecke abgehalten worden, nicht etwa die Form der Schraube oder deren Größenverhältnisse festzustellen, sondern um die Frage zu entscheiden, ob dieselbe am Hintertheil des großen Apparates angebracht werden sollte, wie die Gebrüder Tissandier wollten, oder am Vordertheile, wie es die Capitäne Krebs und Renard schon gethan hatten. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß die Vertreter dieser beiden Ansichten bei den bezüglichen Verhandlungen darüber fast handgemein wurden. Die Gruppe der »Vordermänner« glich an Zahl genau der der »Hintermänner.« Onkel Prudent, dessen Stimme bei sonstiger Stimmengleichheit die entscheidende gewesen wäre, Onkel Prudent, der unzweifelhaft aus der Schule des Professors Buridan hervorgegangen war, vermied es klüglich, sich zu äußern.

Bei der Unmöglichkeit, ein Einverständniß herbeizuführen, war es natürlich auch unmöglich, die Schraube an Ort und Stelle zu setzen. Das konnte demnach lange dauern, wenn sich nicht etwa die Regierung in’s Mittel legte. In den Vereinigten Staaten liebt es die Regierung aber bekanntlich nicht, sich in Privatangelegenheiten einzumischen oder um das zu kümmern, was sie nicht direct angeht. Damit hat sie gewiß ganz Recht.

So war die Sachlage, und die Sitzung vom 13. Juni schien gar nicht endigen oder vielmehr nur in einen ungeheuren Tumult auslaufen zu wollen – der wie gewöhnlich mit Injurien begann, sich mit Faustschlägen fortsetzte, dann zu Stockschlägen überging und mit dem Knallen der Revolver abschloß – als ein Zwischenfall um acht Uhr siebenunddreißig Minuten diesen beliebten Verlauf störte.

Kalt und gemessen, wie ein Polizist inmitten der stürmischen Wogen einer Volksversammlung, hatte sich der Thürsteher des Weldon-Instituts genähert und dem Vorsitzenden eine Karte eingehändigt. Er erwartete eben noch die Befehle, welche der Onkel Prudent ihm zu ertheilen haben könnte.

Onkel Prudent ließ die Dampftrompete ertönen, die ihm als Präsidentenglocke diente, denn hier hätte, um durchzudringen, nicht einmal die große Glocke des Kremls hingereicht. Nichtsdestoweniger nahm der Lärm nur noch zu. Da »entblößte der Präsident den Kopf« und Dank diesem allerletzten Hilfsmittel entstand wenigstens eine leidliche Ruhe.

»Eine Mittheilung an den Club! rief Onkel Prudent, nachdem er sich eine Prise aus der ungeheuren Dose, die ihn niemals verließ, zugelangt.

– Reden Sie! Reden Sie! antworteten neunundneunzig Stimmen, die hierüber zufällig einer Meinung waren.

– Ein Fremdling, geehrte Collegen, wünscht in unseren Sitzungssaal Eintritt zu erhalten.

– Nimmermehr! widersetzten sich alle Stimmen.

– Er wünscht uns, fuhr Onkel Prudent fort, allem Anscheine nach den Beweis zu liefern, daß es der greulichste Wahnwitz sei, an die Lenkbarkeit von Ballons zu glauben.«

Allgemeines Murren beantwortete diese Erklärung.

»Herein, herein mit ihm!

– Wie nennt sich denn diese merkwürdige Persönlichkeit? fragte der Schriftführer Phil Evans.

– Robur, antwortete Onkel Prudent.

– Robur! … Robur! … Robur!« heulte die ganze Versammlung.

Und wenn bei Nennung dieses eigenthümlichen Namens der Träger desselben so schnell Zulassung fand, geschah es eigentlich nur, weil das ganze Weldon-Institut sich Hoffnung machte, auf den Mann den Ueberschuß seiner Erbitterung abzuschütteln.

Der Sturm hatte sich also einen Augenblick gelegt – wenigstens scheinbar. Wie könnte übrigens ein Sturm so schnell vorübergehen bei einem Volk, welches jeden Monat zwei bis drei solcher nach Europa unter der Form von Wirbelwinden entsendet?

III.

III.

In dem eine neue Persönlichkeit nicht besonders vorgestellt zu werden braucht, da sie das selbst besorgt.

»Bürger der Vereinigten Staaten, ich heiße Robur [Fußnote] und bin dieses Namens würdig. Trotz meiner vierzig Jahre sehe ich aus wie dreißig, habe eine eiserne Constitution, eine unerschütterliche Gesundheit, hervorragende Muskelkraft und einen Magen, der selbst in der Welt der Strauße als vorzüglich gelten würde.«

Die Versammlung lauschte. Jedes Geräusch hatte vorläufig aufgehört, als man diese unerwartete Vorrede »pro facie sua« vernahm. War es ein Narr oder ein Spötter, diese Persönlichkeit? Wie dem auch sein mochte, er machte Eindruck und wußte sich diesen zu erzwingen. Jetzt ging kein Lufthauch durch diese Menge, in der doch kurz vorher ein Orkan wüthete. Die Windstille nach der hohen See.

Ueberdies schien Robur wirklich der Mann zu sein, für den er sich ausgab. Von mittlerer Größe mit geometrischer Gestalt, ein regelmäßiges Trapez bildend, deren größte Parallelseite von der Schulterbreite ausgefüllt wurde; auf dieser Linie saß wieder auf einem kräftigen Halse ein gewaltiger sphäroidaler Kopf. Welchem Dickkopfe mochte derselbe zu vergleichen sein? Dem eines Stieres, aber eines Stieres mit hochintelligentem Gesicht. Darin funkelten ein paar Augen, welche der geringste Widerspruch sicherlich in volle Gluth versetzte, und über letzteren waren die Augenbrauenmuskeln – ein Zeichen entwickelter Energie – fortwährend zusammengezogen. Die Haare des Mannes waren kurz, etwas kraus und von metallischem Glanze, als trüge er ein Toupet von eisernem Stroh; seine breite Brust hob und senkte sich mit Bewegungen gleich einem Schmiedeblasebalg. Arme und Hände, Beine und Füße erwiesen sich des Rumpfes völlig würdig.

Schnurr- und Backenbart sah man bei ihm nicht, nur einen starken Seemanns-Kinnbart nach amerikanischer Mode, der die Anhaftepunkte der Kinnlade frei ließ, deren Kaumuskeln eine furchtbare Kraft entwickeln mußten. Man hat berechnet – was berechnet man denn nicht? – daß der Druck der Kinnlade des Krokodils unter gewöhnlichen Umständen dem von vierhundert Atmosphären gleich kommt, während der eines Jagdhundes von mittlerer Größe hundert erreichen soll. Daraus hat man auch folgende merkwürdige Formel abgeleitet: wenn ein Kilogramm Hund acht Kilogramm Muskelkraft entwickelt, so entwickelt ein Kilogramm Krokodil deren zwölf. Nun, ein Kilogramm des genannten Robur hätte deren gewiß zehn entwickelt. Er hielt also zwischen Hund und Krokodil in dieser Beziehung die Mitte.

Aus welchem Lande dieses merkwürdige Menschenkind stammte, hätte man nur schwer errathen können. Jedenfalls drückte sich der Mann ganz geläufig englisch aus und ohne jenen schleppenden Tonfall, der den Yankee von Neu-England auszeichnet.

Er fuhr folgendermaßen fort:

»Nun lassen Sie mich auch von meinen anderen Eigenschaften sprechen, ehrenwerthe Bürger. Sie sehen vor sich einen Ingenieur, dessen geistige Natur seiner körperlichen nicht nachsteht. Ich fürchte mich vor Nichts und vor Niemand; besitze eine Willenskraft, die noch nie vor einem Anderen gewichen ist. Hab‘ ich mir einmal ein Ziel gesetzt, so würde ganz Amerika, ja die ganze Welt sich vergeblich verbünden, mich von Erreichung desselben abzuhalten. Hab‘ ich einen Gedanken, so erwarte ich, daß Andere ihn theilen, und vertrage keinen Widerspruch. Ich betone diese Einzelnheiten, ehrenwerthe Bürger, weil Sie mich gründlich kennen lernen müssen. Sie finden vielleicht, daß ich zu viel von mir selbst spreche? Thut nichts! Jetzt aber überlegen Sie sich Alles, ehe Sie mich unterbrechen, denn ich bin hierhergekommen, Ihnen Dinge zu sagen, welche Ihnen vielleicht nicht recht gefallen dürften.«

Ein Grollen wie das der Brandung lief längs der ersten Bänke des Saales hin, ein Zeichen, daß das Meer bald wieder hoch aufwogen werde.

»Reden Sie, ehrenwerther Fremdling,« begnügte sich Onkel Prudent, der Mühe hatte, seine Ruhe zu bewahren, auf diese Ansprache zu antworten.

Und Robur sprach wie vorher, ohne sich irgendwie um Beifall oder Mißfallen seiner Zuhörer zu kümmern.

»Ja wohl, ich weiß Alles! Nach einem Jahrhundert andauernder Experimente, die zu Nichts geführt, nach Versuchen, die ergebnißlos verliefen, giebt es noch immer verkehrt beanlagte Geister, welche hartnäckig an die Lenkbarkeit von Ballons glauben. Sie erdenken irgend einen Motor, einen elektrischen oder einen anderen, der an ihre anspruchsvollen, dünnen Hüllen angebracht wurde, welche letztere den atmosphärischen Strömungen so breite Angriffsflächen darbieten. Sie bildeten sich ein, Beherrscher eines Aerostaten werden zu können, wie man etwa ein Schiff auf der Oberfläche des Meeres beherrscht. Weil einige Erfinder bei ganz oder doch fast ganz stiller Witterung den Erfolg gehabt haben, entweder schief durch den Wind oder einer ganz leichten Brise entgegen zu fahren, deshalb sollte die Lenkbarkeit von Apparaten, welche leichter sind, als die Luft, zu praktischen Erfolgen führen? O gehen Sie! Sie sind hier an hundert Männer, die an die Verwirklichung ihrer Träume glauben und viele Tausende von Dollars nicht in’s Wasser, aber in die Luft werfen. Ich sage Ihnen, das heißt gegen eine Unmöglichkeit kämpfen!«

Wunderbar, die Mitglieder des Weldon-Instituts sagten gegenüber dieser Behauptung jetzt kein Wort, als wären sie eben so taub wie langmüthig geworden, oder hielten sie nur an sich, um zu sehen, wie weit dieser kühne Widersacher zu gehen wagen würde?

Robur fuhr fort:

»Nehmen wir einen Ballon. Um ein Kilogramm an Gewicht zu verlieren, muß derselbe ein Cubikmeter Gas aufnehmen. Ein Ballon, der den Anspruch macht, mit Hilfe seines Mechanismus dem Winde zu widerstehen, wenn der Druck einer steifen Brise auf das Großsegel eines Schiffes der Kraft von 400 Pferden gleichkommt, wenn man bei dem Unglücksfalle mit der Taybrücke gesehen hat, daß ein Orkan einen Druck von 444 Kilogramm auf den Quadratmeter auszuüben im Stande ist! Ein Ballon, wo die Natur doch niemals ein fliegendes Geschöpf nach diesem System geschaffen hat, ob dasselbe nun mit Flügeln, wie die Vögel, oder mit Membranen, wie gewisse Fische und Säugethiere, ausgerüstet wurden …

– Säugethiere? rief eines der Mitglieder des Clubs.

– Gewiß, die Fledermaus, welche ja auch fliegt, wenn ich nicht irre. Sollte der Herr, welcher mich unterbrach, wirklich nicht wissen, daß die Fledermaus ein Säugethier ist, oder hat er jemals eine Omelette aus Fledermauseiern bereiten sehen?«

Darauf hielt der Heimgeschickte seine Unterbrechungen ferner für sich, Robur dagegen fuhr mit demselben Eifer fort:

»Wäre damit aber gesagt, daß der Mensch darauf verzichten müsse, das Luftmeer zu beherrschen und durch Nutzbarmachung dieses wunderbaren Beförderungsmittels die Zustände der alternden Welt umzuwandeln? Gewiß nicht! So wie er der Herr der Meere geworden durch das Schiff mit Ruder, Segel, Rad oder Schraube, so wird er auch zum Herrn der Luft werden durch Apparate, welche schwerer sind als diese, denn unbedingt müssen jene schwerer sein, um mächtiger sein zu können.«

Jetzt war in der Versammlung aber kein Halten mehr. Welche Breitseite von Zurufen donnerte aus jedem Munde, die alle auf Robur zielten, wie eben so viele Gewehrläufe oder Kanonenrohre! Sollten sie nicht antworten auf solch‘ offenbare, in’s Lager der Ballonisten geschleuderte Kriegserklärung? Wurde hiermit nicht der Kampf zwischen dem »leichter« und »schwerer als die Luft« ausgesprochener Maßen wieder aufgenommen?

Robur verzog keine Miene. Die Arme über der Brust gekreuzt wartete er es regungslos ab, bis wieder Ruhe eingetreten war.

Onkel Prudent befahl durch eine Handbewegung, das Feuer einzustellen.

»Ja, fuhr Robur fort, die Zukunft gehört den Flugmaschinen. Die Luft bietet den hinreichenden, soliden Stützpunkt. Man verleihe einer Säule dieses Mediums eine aufsteigende Bewegung von 45 Meter in der Secunde, und ein Mensch würde sich schon oberhalb derselben erhalten, wenn die Sohlen seiner Schuhe nur ein Achtel Quadratmeter Oberfläche böten. Würde die Geschwindigkeit der Luftsäule auf 90 Meter gesteigert, so könnte er mit bloßen Füßen darauf gehen. Treibt man nun durch die Flügel einer archimedischen Schraube eine Luftmasse mit derselben Schnelligkeit fort, so erzielt man dasselbe Resultat.«

Was Robur hier sagte, hatten vor ihm alle Anhänger der sogenannten Aviation ausgesprochen, deren Arbeiten langsam, aber sicher zur Lösung des vorliegenden Problems zu führen versprechen.

Die Ehre, diese einfachen Gedanken verbreitet zu haben, kommt Ponton d’Annécourt, La Landelle, Nadar, Luzi, Louvrie, Liais, Bélégnic, Moreau, den beiden Richard, Babinet, Jobert, Du Temple, Salives, Penaud, De Villeneuve, Gauchol und Tatin, Michel Loup, Edison, Planavergue und noch einer Menge anderer Männer zu. Mehrmals aufgegeben und wieder aufgenommen, mußte denselben doch eines Tages der Sieg zu Theil werden. Und hatten von dieser Seite die Feinde der Aviation, welche behaupteten, daß der Vogel nur durch Erwärmung der Luft, mit der er sich aufbläht, fliege, auf Antwort warten müssen? Hatten die Erstgenannten nicht vielmehr nachgewiesen, daß ein 5 Kilogramm wiegender Adler sich hätte mit 50 Cubikmeter jenes erwärmten Fluidums anfüllen müssen, um sich dadurch allein frei schwebend zu erhalten?

Ganz dasselbe wies auch hier Robur mit unerbittlicher Logik nach, aber inmitten eines Heidenlärmes, der sich von allen Seiten erhob. Zum Schluß warf er den Ballonisten noch folgende Worte in’s Gesicht:

»Mit Ihren Aerostaten können Sie nichts ausrichten, werden Sie zu nichts kommen und niemals etwas wagen dürfen. Der kühnste Ihrer Aeronauten, John Wise, mußte, obwohl er schon eine Luftreise von 1200 Meilen über das Festland Amerikas zurückgelegt hatte, doch auf die Absicht, über den atlantischen Ocean zu fahren, verzichten. Und seit jener Zeit sind Sie um keinen Schritt, um keinen einzigen auf diesem Wege vorwärts gekommen.

– Mein Herr, begann da der Vorsitzende, der sich vergeblich bemühte, ruhig zu bleiben, Sie vergessen offenbar, was unser unsterblicher Franklin ausgesprochen hat, als die erste Mongolfière aufstieg, also zur Zeit der Geburt des Ballons. »Jetzt ist das nur ein Kind, aber es wird wachsen!« lautete seine Prophezeiung, und es ist gewachsen!

– Nein, Herr Präsident, nein, es ist nicht gewachsen … es ist nur größer und dicker geworden, und das ist nicht das Nämliche«. [Fußnote]

Das war ein directer Angriff gegen die Pläne des Weldon-Instituts, welches die Herstellung eines Monstre-Ballons beschlossen, unterstützt und betrieben hatte. Sofort kreuzten sich denn auch ziemlich bedrohliche Ausrufe in dem geräumigen Saale, wie:

»Nieder mit dem Eindringling!

– Werft ihn von der Tribüne herunter!

– Um ihm zu beweisen, daß er schwerer ist als die Luft!«

Und Aehnliches mehr.

Man begnügte sich indessen noch mit Worten, ohne zu Thätlichkeiten überzugehen. Robur konnte also noch einmal seine Stimme erheben und laut hinausrufen:

»Fortschritte, Bürger Ballonisten, sind nicht mit dem Aerostaten, sondern nur mit fliegenden Maschinen zu erwarten. Der Vogel fliegt auch, und der ist kein Ballon, sondern ein Mechanismus! …

– Ja er fliegt wohl, schrie der vor Zorn keuchende Bat T. Fyn, aber er fliegt gegen alle Regeln der Mechanik.

– Ach so!« erwiderte Robur, die Achseln zuckend.

Dann fuhr er fort:

»Seit man den Flug der größeren und kleineren fliegenden Thiere genau beobachtet hat, ist folgender sehr einfache Gedanke in den Vordergrund getreten: Es gilt auch hier die Natur nachzuahmen, denn diese täuscht sich niemals. Zwischen dem Albatros, der kaum zehn Flügelschläge in der Minute macht, und dem Pelikan, der siebenzig macht …

– Einundsiebenzig! rief eine schnarrende Stimme.

– Und der Biene, bei der man hundertzweiundneunzig in der Secunde zählte …

– Hundertdreiundneunzig! rief ein Anderer aus Scherz.

– Und der Stubenfliege, welche dreihundertunddreißig fertig bringt …

– Dreihundertdreißigundeinhalb!

– Und dem Mosquito, der Millionen macht …

– Nein … Milliarden!«

Robur ließ sich durch alle diese Einreden nicht außer Fassung bringen.

»Zwischen diesen verschiedenen Zahlen … nahm er wieder das Wort.

– Ist ein großer Unterschied! ließ sich eine Stimme hören.

… Wird man die richtige wählen müssen, um eine praktische Lösung der Aufgabe zu finden. Schon an dem Tage, wo De Lucy nachweisen konnte, daß der Hirschkäfer, jenes Insect, welches nur zwei Gramm wiegt, ein Gewicht von vierhundert Gramm, d. h. zweihundert Mal so viel wie sein eigenes Gewicht, aufzuheben vermochte, war eigentlich das Problem der Aviation gelöst. Außerdem wurde nachgewiesen, daß die Flächenausdehnung der Flügel in gleichem Verhältniß abnimmt, wie die Größe und das Gewicht des Thieres zunehmen. Seitdem hat man schon mehr als sechzig verschiedene Apparate erdacht oder auch ausgeführt …

– Die noch niemals haben fliegen können! rief der Schriftführer Phil Evans.

– Welche geflogen sind oder noch fliegen werden, antwortete Robur, ohne sich irre machen zu lassen. Ob man sie nun Streophoren, Helicopteren, Orthoptheren nennt, oder ihrem Namen nach dem lateinischen »navis« die Silbe »nef« anhängt, meinetwegen auch nach dem Worte »avis« die Silbe »efs« – jedenfalls kommt man zu dem Apparate, dessen endliche Herstellung den Menschen zum Herren des Luftmeeres machen muß.

– Aha, die Schraube! warf Phil Evans ein. Der Vogel hat aber keine Schraube … so weit man das weiß!

– Zugegeben, erwiderte Robur, wie Penaud gezeigt hat, arbeitet eigentlich der Vogel selbst als solche und ist seinem Fluge nach Helicoptere, darum ist auch die Schraube der Motor der Zukunft …

… »Vor solchem Uebel, Heilige Helice, [Fußnote] behüte uns!« …

trällerte einer der Zuhörer, der zufällig dieses Motiv aus Hérold’s Zampa im Kopfe behalten hatte.

Alle wiederholten den Refrain im Chor und mit Intonationen, bei denen sich der Componist sicher im Grabe herumdrehte.

Dann, als die letzten Töne in einem entsetzlichen Durcheinander verhallten, glaubte Onkel Prudent unter Benützung eines augenblicklichen Stillschweigens sagen zu müssen:

»Bürger Fremdling, bis hierher haben wir Sie reden lassen, ohne Sie zu unterbrechen …«

Es scheint demnach, als ob der Vorsitzende des Weldon-Instituts die früheren Einwürfe, die Zwischenrufe, das tolle Durcheinander nicht für Unterbrechungen, sondern nur für einfachen Meinungsaustausch hielt.

»Jedenfalls, fuhr er fort, muß ich Sie daran erinnern, daß die Theorie der Aviation schon im Voraus durch die meisten amerikanischen und fremden Ingenieure verurtheilt und völlig verworfen worden ist. Ein System, auf dessen Debetseite der Tod Sarasin Volant’s in Constantinopel, der des Mönches Voador in Lissabon, der Letuo’s im Jahre 1852 und der Groof’s 1864 steht, ohne die Opfer zu zählen, die ich augenblicklich vergessen habe, und wäre es nur der mythologische Icarus …

– Dieses System, nahm Robur den Satz auf, ist nicht verdammenswerther, als das, dessen Opferliste die Namen eines Pilâtre de Rozier in Calais, der Madame Blanchard in Paris, eines Donaldson und Grimwood, welche in den Michigan-See fielen, eines Swel, Crocé-Spinelli, Eloy und so vieler Anderer enthält, welche gewiß nicht so leicht der Vergessenheit anheimfallen.«

Das hieß »mit einem Hieb parirt«, wie man in der Fechtkunst sagen würde.

»Mit Ihren Ballons, fuhr Robur fort, werden Sie übrigens, dieselben mögen noch so vervollkommnet sein, niemals eine praktisch werthvolle Schnelligkeit erzielen, zehn Jahre brauchen, um eine Reise um die Erde zu vollenden – was eine Maschine in etwa acht Tagen abmachen dürfte.«

Neue wüthende Proteste und Verneinungen, welche drei ganze Minuten anhielten, bevor dann Phil Evans das Wort ergreifen konnte.

»Mein Herr Aviator, Sie, der Sie uns so viel von der Herrlichkeit der Aviation vorreden, sind Sie denn jemals in dieser Weise geflogen?

– Ja, gewiß!

– Und Sie hätten also den Kampf mit der Luft siegreich bestanden?

– Vielleicht, mein Herr.

– Hurrah, Robur, der Sieger! rief eine Stimme spottend.

– Nun ja, Robur, der Sieger – ich nehme diesen Namen an und werde ihn führen, denn ich habe das Recht dazu.

– Wir erlauben uns indeß daran zu zweifeln! rief Jem Cip.

– Meine Herren, erklärte Robur, dessen Augenbrauen sich runzelten, wenn ich eine ernsthafte Sache ernsthaft behandle, duld‘ ich es nicht, daß mir Jemand eine Unzuverlässigkeit meiner Worte vorwirft, und ich würde gern den Namen des Herrn kennen lernen, der mich in dieser Weise unterbrach.

– Ich heiße Jem Cip … und bin Vegetarianer.

– Bürger Jem Cip, antwortete Robur, ich weiß, daß die Pflanzenesser gewöhnlich längere Eingeweide haben, als andere Menschen – mindestens um einen Fuß länger. Das ist schon viel … Nun verleiten Sie mich nicht, die Ihrigen noch mehr zu verlängern, indem ich bei den Ohren anfange …

– Durch die Thür!

– Hinaus auf die Straße!

– Man viertheile ihn!

– Lynchen, lyncht den Kerl!

– Verdrehen wir ihn zu einer Schraube! …«

Die Wuth der Ballonisten hatte ihren Gipfel erreicht. Schon sprangen sie von den Stühlen auf und umdrängten die Tribüne. Robur verschwand unter einer Unmasse von Armen, welche sich, wie von einem Sturme getrieben, auf- und abbewegten. Vergebens ließ die Dampftrompete ihren heulenden Ton durch die Versammlung brausen. An jenem Abende konnte Philadelphia wohl glauben, eine Feuersbrunst verzehre eines seiner Quartiere, und das ganze Wasser des Schuylkill-Stromes werde zum Löschen desselben nicht hinreichen.

Plötzlich entstand in der lärmenden Masse eine Bewegung nach rückwärts. Robur hatte eben die Hände wieder aus den Taschen gezogen und streckte sie gegen die vorderste Reihe der wüthenden Gegner aus.

Seine beiden Hände zeigten jetzt zwei sogenannte amerikanische Fäuste, welche gleichzeitig Revolver bilden und die schon ein Druck des Daumens ihre überall verständliche Sprache reden lassen – zwei kleine Taschen-Mitrailleusen.

Dann rief er, das Zurückgehen der Angreifer und die vorübergehende Stille, welche dabei eintrat, schnell benützend:

»Entschieden war es nicht Amerigo Vespucci, der die Neue Welt entdeckt hat, sondern Sebastian Cabot. Sie sind keine Amerikaner, Bürger Ballonisten! Sie sind nur Cabo…«

In diesem Augenblicke krachten auch schon vier oder fünf Schüsse in die Luft, welche Niemand verwundeten. Inmitten des Pulverdampfes verschwand der Ingenieur, und als jener sich zerstreute, entdeckte man von ihm keine Spur mehr. Robur der Sieger war davongeflogen, als ob irgend ein Aviations-Apparat ihn in die Lüfte entführt hätte.

I

Worin die gelehrte Welt sich ebenso wenig Rath weiß, wie die ungelehrte.

Paff! … Paff!

Zwei Pistolenschüsse knallten zu gleicher Zeit. Eine Kuh, welche eben in der Entfernung von fünfzig Schritten vorüber trabte, bekam eine Kugel in’s Rückgrat … und sie ging die Sache doch gar nichts an.

Von den beiden Gegnern war keiner getroffen worden.

Wer waren jene beide Herren? Niemand weiß es, und gerade hier wäre ja Gelegenheit gewesen, ihre Namen der Nachwelt zu überliefern. Es läßt sich über sie nichts weiter sagen, als daß der ältere ein Engländer, der jüngere Duellant ein Amerikaner war. Desto leichter läßt sich die Oertlichkeit bestimmen, an der jener unschuldige Wiederkäuer eben sein letztes Grasbündelchen abgeweidet hatte; diese ist nämlich am rechten Ufer des Niagara und unweit der Hängebrücke zu suchen, welche drei Meilen unterhalb der berühmten Fälle das canadische Ufer mit dem amerikanischen verbindet.

Der Engländer schritt jetzt auf den Amerikaner zu.

»Ich bleibe nichtsdestoweniger dabei, daß es die Melodie ›Rule Britannia‹ war, sagte er.

– Nein, der ›Yankee Doodle‹!« versetzte der Andere.

Der Streit schien auf’s Neue entbrennen zu sollen, als sich einer der Zeugen – ohne Zweifel im Interesse des weidenden Viehs – mit den Worten einmischte:

»Nehmen wir an, es wäre der ›Rule Doodle‹ und der ›Yankee Britannia‹ gewesen und begeben wir uns nun zum Frühstück.«

Dieses Compromiß zwischen den beiden Nationalgesängen Amerikas und Großbritanniens wurde zur allgemeinen Befriedigung angenommen. Längs des linken Niagara-Ufers zurückwandelnd, beeilten sich Amerikaner und Engländer, an der einladenden Tafel des Hôtels auf Goat Island – einem neutralen Gebiete zwischen den beiden Fällen – Platz zu nehmen. Während ihrer Beschäftigung mit gekochten Eiern und dem landesüblichen Schinken mit kaltem Roastbeef, einem Zwischengericht von im Munde fast brennenden Pickles und mit Hochfluthen von Thee, welche die weltbekannten Wasserfälle eifersüchtig machen könnten, wollen wir sie nicht weiter stören, zumal kaum anzunehmen ist, daß von ihnen im Laufe dieser Erzählung noch ferner die Rede sein wird.

Wer hatte nun Recht – der Engländer oder der Amerikaner? Es wäre schwer gewesen, diese Frage zu entscheiden. Jedenfalls liefert jenes Duell den Beweis für die leidenschaftliche Erregung der Geister nicht allein in der Neuen, sondern auch in der Alten Welt, und zwar über ein Ereigniß oder eine unerklärliche Erscheinung, welche seit etwa einem Monate alle Köpfe verwirrte.

»… Os sublime dedit coelumque tueri« hat Ovid einst zu Ehren der Menschheit gesungen. In der That hatte man seit dem Erscheinen des ersten Menschen auf der Erdkugel noch niemals den Himmel so vielfach betrachtet.

Gerade in der vorhergegangenen Nacht hatte nämlich eine Trompete aus der Luft ihre metallenen Töne herabgeschmettert über denjenigen Theil von Canada, der sich zwischen dem Ontario- und dem Erie-See ausdehnt. Die Einen hatten daraus den »Yankee Doodle«, die Anderen das »Rule Britannia« zu hören vermeint, daraus entstand auch obiger angelsächsische Zweikampf, der mit dem Frühstück auf Goat Island endigte. Vielleicht war es weder der eine, noch der andere Nationalgesang gewesen; nur darüber herrschte bei Niemand ein Zweifel, daß die betreffenden Töne die Eigenthümlichkeit gehabt hatten, als schienen sie vom Himmel zur Erde hernieder zu steigen.

Sollte man etwa gar an eine Himmelsposaune denken, die ein Engel oder ein Erzengel geblasen hätte? … Waren es nicht vielmehr lustige Luftschiffer gewesen, die sich des sonoren Instrumentes bedienten, von dem die Reclame so ausgebreiteten Gebrauch macht? Nein, von einem Ballon, von Luftschiffern konnte nicht die Rede sein. In hohen Himmelsregionen vollzog sich ein außergewöhnliches Ereigniß, dessen Natur und Ursprung kein Mensch zu enträthseln vermochte. Heute zeigte sich dasselbe über Amerika, vierundzwanzig Stunden später über Europa, acht Tage später in Asien über dem Himmlischen Reiche. Wenn die Trompete, welche das Vorüberziehen jener Erscheinung ankündigte, nicht die des Jüngsten Gerichtes war, welche, ja, welche war es dann?

In allen Landen der Erde, in Königreichen wie in Republiken, entstand deshalb eine gewisse Unruhe, welche gestillt werden mußte. Vernimmt Einer in seinem Hause eigenthümliche und unerklärliche Geräusche, würde er nicht schnellstens die Ursache derselben zu ermitteln suchen, und wenn das vergeblich wäre, würde er nicht sein Haus verlassen, um ein anderes zu bewohnen? Ganz sicherlich! Hier war das Haus freilich die Erdkugel, und es gab doch kein Mittel, diese zu verlassen und etwa mit dem Monde, Mars, Venus, Jupiter oder einem anderen Planeten des Sonnensystems zu vertauschen.

Es galt demnach unbedingt, aufzuklären, was im unendlichen leeren Raume, doch innerhalb der Erdatmosphäre, vorging. Ohne Luft ist ja ein Geräusch unmöglich, und da man hier ein solches vernahm – immer jene fast sagenhafte Trompete – mußte die Erscheinung auch in der Lufthülle stattfinden, deren Dichtigkeit sich nach oben zu immer mehr vermindert und die sich über unserem Sphäroid nur wenige Meilen hoch verbreitet.

Natürlich bemächtigten sich die Tagesblätter der vorliegenden Frage, behandelten sie unter allen Gesichtspunkten, beleuchteten oder verdunkelten dieselbe, berichteten falsche oder wahre Thatsachen, erregten oder beruhigten ihre Leser im Interesse der Höhe ihrer Auflage – und wiegelten endlich die schon halb verwirrten Massen nicht wenig auf. Welch‘ Wunder! Die Politik hatte den Laufpaß erhalten und die Geschäfte gingen deshalb doch nicht schlecht. Aber um was handelte es sich überhaupt?

Man befragte alle großen Observatorien der ganzen Welt. Wenn diese keine Antwort gaben, wozu nützten dann solche Observatorien eigentlich? Wenn die Astronomen, welche selbst in der Entfernung von hunderttausend Millionen Meilen noch einen Lichtpunkt zu zwei und drei Sternen aufzulösen vermögen, nicht im Stande waren, den Ursprung einer kosmischen Erscheinung zu ergründen, die nur wenige Kilometer über ihnen auftrat, wozu hatte man Astronomen?

Man konnte auch in der That kaum schätzungsweise angeben, wie viel Teleskope, Brillen, Fernrohre, Lorgnetten, Binocles und Monocles während der schönen Sommernacht nach dem Himmel gerichtet waren, noch wie viele Augen sich vor die Oculare und Instrumente von jeder Art und Vergrößerung hefteten. Vielleicht mehrere Hunderttausend, und das ist nur gering angeschlagen. Zehnmal mehr, als man am Firmament mit unbewaffnetem Auge sichtbare Sterne zählt. Nein, noch keiner, auf allen Punkten der Erdkugel gleichzeitig beobachteten Sonnenfinsterniß hatte man solche Ehre angethan!

Die Observatorien antworteten, aber unzulänglich. Jedes gab seine Meinung ab, die stets von der aller anderen abwich, so daß sich daraus während der letzten Wochen des April und der ersten des Mai ein wirklicher Bürgerkrieg unter der Gelehrtenwelt entwickelte.

Das Observatorium von Paris erwies sich sehr zurückhaltend. Keine seiner Abtheilungen sprach sich entschieden aus. In der Abtheilung für mathematische Astronomie hatte man es für unter seiner Würde gehalten, Beobachtungen anzustellen; in der für die Meridianmessung hatte man nichts entdeckt; in der für physikalische Beobachtungen hatte man nichts wahrgenommen; in der für Geodäsie nichts bemerkt; in der für Meteorologie war Niemand etwas aufgefallen; in der für die Berechnungen hatte man nichts gesehen. Das war wenigstens ein offenes Geständniß. Dieselbe Offenherzigkeit bekundete das Observatorium von Montsoucis, wie die magnetische Station im Park Saint-Maur. Dieselbe Achtung vor der Wahrheit bewies das Längenbureau. Nun ja, Frankreich heißt ja das Land, wo man »frank«, d. h. offen spricht.

Die Provinz war etwas entschiedener in ihrer Aeußerung. Etwa in der Nacht zwischen dem 6. und 7. Mai hatte sich ein Lichtschein elektrischen Ursprunges gezeigt, der 20 Secunden nicht überdauerte. Am Pic-Du-Midi war derselbe zwischen 9 und 10 Uhr Abends beobachtet worden; im meteorologischen Observatorium des Puy-de-Dôme hatte man ihn zwischen 1 und 2 Uhr Morgens bemerkt; auf dem Mont Ventoux in der Provence zwischen 2 und 3 Uhr; in Nizza zwischen 3 und 4 Uhr; auf den Semnoz-Alpen endlich zwischen Annecy, le Bourget und dem Genfer See im Augenblicke, als der Tagesschimmer sich eben bis zum Zenith erhob.

Offenbar konnte man diese Beobachtungen unmöglich in Bausch und Bogen verwerfen. Es unterlag keinem Zweifel, daß der Lichtschein an verschiedenen Punkten, und zwar im Verlauf einiger Stunden, wahrgenommen worden war. Derselbe ging also entweder von mehreren Herden aus, die sich durch die Erdatmosphäre hinbewegten, oder, wenn er nur einem einzigen solchen angehörte, so mußte dieser sich mit einer Schnelligkeit fortbewegen, welche nahezu 200 Kilometer in der Stunde erreichte.

Hatte man denn aber im Laufe des Tages niemals etwas Besonderes in der Luft bemerkt?

Nein, niemals.

Erklang nicht wenigstens jene Trompete einmal durch die Luftschichten?

Nein, zwischen Aufgang und Untergang der Sonne hatte man nicht den leisesten Ton gehört.

Im vereinigten Königreich Großbritannien wußte man nicht mehr aus, noch ein. Die Observatorien gelangten zu keinerlei Uebereinstimmung. Greenwich konnte sich nicht mit Oxford verständigen, obwohl Beide die Behauptung aufstellten, »an der ganzen Sache sei nichts«.

»Eine Gesichtstäuschung! meinte das Eine.

– Eine Gehörstäuschung!« erwiderte das Andere.

Darüber lagen sie im Streit; auf eine Täuschung lief es jedoch allemal hinaus. Die Verhandlungen zwischen den Sternwarten zu Berlin und der zu Wien drohten zu internationalen Verwicklungen zu führen. Rußland bewies ihnen in der Person des Vorstehers seiner Sternwarte zu Pulkowa, daß sie Beide Recht hätten, das hänge nur von den Gesichtspunkten ab, auf die sie sich bezüglich Bestimmung der Natur jener Erscheinung stellten, die in der Theorie unmöglich schien und in der Praxis möglich war.

In der Schweiz, auf der Sternwarte zu Säntis, im Canton Appenzell, auf dem Rigi, im Gäbris, in den Beobachtungsstationen des St. Gotthard, St. Bernhard, des Julier, des Simplon, in denen von Zürich und des Sonnblick in den Hohen Tauern, befleißigte man sich einer ganz besonderen Zurückhaltung gegenüber einer Thatsache, die bisher Niemand zu bekräftigen vermocht hatte – was gewiß recht vernünftig zu nennen ist.

In Italien dagegen, auf den meteorologischen Stationen des Vesuvs und des Aetna, welch‘ letztere sich in der alten Casa Inghlese befindet, wie auf dem Monte Cavo, zögerten die Beobachter nicht im geringsten, die Wirklichkeit jener Erscheinung anzuerkennen, und das auf Grund des Umstandes, daß sie dieselbe einmal am Tage in Form eines kleinen Dampfwölkchens und einmal in der Nacht in Gestalt einer Sternschnuppe hatten wahrnehmen können. Ueber die eigentliche Natur derselben wußten sie freilich ebenfalls nichts.

In der That begann dieses Geheimnis allmählich die Vertreter der Wissenschaft zu ermüden, erregte dagegen und erschreckte desto mehr die Einfältigen und Unwissenden, welche, Dank einem hochweisen Naturgesetze, von jeher in dieser Welt die ungeheure Mehrzahl gebildet haben, noch bilden und in aller Zukunft bilden werden. Die Astronomen und Meteorologen hatten also schon darauf verzichtet, sich mit der Sache zu beschäftigen, als in der Nacht vom 26. zum 27. auf der Sternwarte zu Cantokeino in Finnland, in Norwegen, in der Nacht vom 28. zum 29. auf der des Isfjord und auf Spitzbergen, die Norweger auf einer und die Schweden auf der anderen Seite in der Anschauung übereingestimmt hatten, daß inmitten einer Art Nordlichtscheines etwas wie ein gewaltiger Vogel oder ein Luftungeheuer sichtbar gewesen sei. War es auch nicht gelungen, dessen Structur genauer zu bestimmen, so unterlag es doch keinem Zweifel, daß derselbe kleine Körper ausgeworfen habe, welche gleich Bomben mit einem Knalle zersprangen.

In Europa neigte man wohl dazu, die Beobachtungen der Stationen von Finnmarken und Spitzbergen nicht anzuzweifeln. Ganz besonders merkwürdig erschien freilich, daß die Schweden und die Norweger doch einmal über einen Punkt einig zu sein schienen.

Man lachte und spottete über die angebliche Entdeckung auf allen Sternwarten Südamerikas, in Brasilien und Peru, ebenso wie in La Plata, auf denen von Australien, in Sidney, Adelaide, wie in Melbourne, und das australische Lachen ist bekanntlich sehr ansteckend.

Nur ein einziger Vorsteher einer meteorologischen Station verhielt sich zustimmend bei dieser Frage, trotz der Spötteleien, welche seine Erklärung derselben hervorrufen mochte. Das war ein Chinese, der Director der Sternwarte zu Zi-Ka-Wey, die sich inmitten einer ausgedehnten Ebene, mindestens zehn Lieues vom Meere, erhebt und welche bei ungemeiner Klarheit der Luft ein grenzenlos weiter Horizont umschließt.

»Es könnte ja sein, sagte er, daß der Gegenstand, um den es sich handelt, ein besonders construirter Apparat, eine fliegende Maschine wäre.«

Welcher Scherz!

Waren die vielfachen Widersprüche nun schon in der Alten Welt sehr lebhaft, so begreift man leicht, wie sie sich in jenem Theile der Neuen Welt gestalten mußten, von dem die Vereinigten Staaten das weitaus größte Gebiet einnehmen.

Ein Yankee liebt bekanntlich keine Umwege – er wählt gewöhnlich den, der am schnellsten zum Ziele führt. So zögerten auch die amerikanischen Bundesstaaten nicht im mindesten, ihre Ansichten gegenseitig auszusprechen. Wenn sie sich dabei nicht gleich die Objective ihrer Fernrohre an den Kopf warfen, so kam das nur daher, daß sie dieselben jetzt, wo sie gerade am meisten gebraucht wurden, erst hätten wieder ersetzen müssen.

In dieser so viel Staub aufwirbelnden Frage standen die Sternwarten von Washington im District Columbia und die von Cambridge im Staate Duna denen des Darmouth-Collegs in Connecticut und von Ann-Arbor in Michigan feindlich gegenüber. Ihr Streit betraf übrigens nicht die Natur des beobachteten Körpers, sondern die genaue Zeit der Beobachtung, denn Alle behaupteten, ihn in derselben Nacht, zu derselben Stunde, zur gleichen Minute und Secunde wahrgenommen zu haben, obwohl die Flugbahn des geheimnißvollen Wanderers der Lüfte nur in mäßiger Höhe über dem Horizont liegen sollte. Von Connecticut bis Michigan, von Duna nach Columbia ist aber die Entfernung eine so große, daß eine doppelte Beobachtung zu ein und demselben Zeitpunkt als unmöglich angesehen werden konnte.

Dudley in Albany, Staat New-York, und West-Point, die Militärakademie, gaben allen ihren Collegen Unrecht in einer Zuschrift, welche die gerade Aufsteigung und die Declination des bewußten Körpers bestimmte.

Später stellte sich jedoch heraus, daß diese Beobachter einem Irrthume unterlegen waren und daß der betreffende Körper nur eine Feuerkugel gewesen war, welche durch die mittleren Luftschichten hinblitzte. Um diese Feuerkugel handelte es sich aber offenbar nicht. Wie könnte auch eine solche Feuerkugel eine Trompete geblasen haben?

Was nun die erwähnte Trompete anging, versuchte man vergeblich deren schmetternden Ton als eine einfache Gehörstäuschung hinzustellen. Jedenfalls hatten sich bei dieser Gelegenheit die Ohren der Leute ebenso wenig getäuscht, wie deren Augen. Unzählige Beobachter hatten vielmehr entschieden etwas gesehen und gleichzeitig gehört. In der sehr dunklen Nacht – vom 12. zum 13. Mai – war es den Beobachtern des Yale-Collegs an der Hochschule von Sheffield sogar gelungen, einige Tacte eines musikalischen Satzes in A-dur und im Viervierteltacte in Noten zu fixiren, welche vollkommen mit einem Theile der Melodie des bekannten »Chant du départ« – eines Soldatenliedes beim Auszug zum Kampfe – übereinstimmten.

»Sehr schön! riefen dazu die Witzbolde, da hätten wir ja ein französisches Orchester, das seine Weisen mitten in der Luft ertönen läßt!«

Scherzen heißt aber nicht antworten. Diese Bemerkung machte auch das von der Atlantic Iron Works Company gegründete Observatorium zu Boston, dessen Anschauungen in Fragen der Astronomie und Meteorologie für die gelehrte Welt allmählich schon die Bedeutung von Gesetzen gewannen.

Ferner gab auch noch das, Dank der Freigebigkeit des Mr. Kilgoor im Jahre 1870 auf dem Berge Lookout entstandene Observatorium von Cincinnati eine Erklärung ab, jenes Institut, das sich durch seine mikrometrischen Messungen der Doppelsterne so vortheilhaft bekannt gemacht hat. Sein Director sprach sich in vollem guten Glauben dahin aus, daß den weitverbreiteten Gerüchten unzweifelhaft etwas zu Grunde liege, daß sich zu nahe aneinanderliegenden Zeiten an sehr verschiedenen Stellen in der Atmosphäre ein in Bewegung befindlicher Körper zeige, daß über dessen Natur, Größenverhältnisse, Geschwindigkeit und Flugbahn aber kein Urtheil möglich sei.

Da erhielt ein Journal von allergrößter Verbreitung, der New-York Herald, von einem Abonnenten folgende anonyme Mittheilung: »Noch dürfte der Wettkampf unvergessen sein, der vor einigen Jahren herrschte zwischen den beiden Erben der Begum von Ragginahra, dem französischen Arzt Sarrasin in seiner Stadt Franceville und dem deutschen Ingenieur Herrn Schulze in seiner Stadt Stahlstadt, welche Beide im südlichen Theile von Oregon, Vereinigte Staaten, angelegt waren.

»Man kann auch nicht vergessen haben, daß Herr Schulze in der Absicht, Franceville zu zerstören, ein ungeheures Geschoß, schon mehr eine Maschine, auf letztere Stadt schleuderte, welche dieselbe mit einem Schlage vernichten sollte.

»Noch weniger kann der Vergessenheit verfallen sein, daß dieses Geschoß, dessen Anfangsgeschwindigkeit beim Verlassen der Mündung der Monstrekanone falsch berechnet war, mit einer sechzehnmal größeren Geschwindigkeit, als gewöhnliche Geschosse – nämlich fünfzig Lieues in der Stunde – hinweg getragen wurde, daß es auf die Erde nicht niedergefallen ist und nach seinem Uebergang in den Zustand etwa einer Feuerkugel noch jetzt um unseren Planeten kreist und in alle Ewigkeit kreisen muß.

»Warum sollte dieses Riesengeschoß, dessen Vorhandensein nicht anzuzweifeln ist, nicht der in Frage stehende Körper sein?«

Das war ja recht scharfsinnig von dem Abonnenten des New-York Herald … aber die Trompete …? In dem Projectil des Herrn Schulze hatte sich bestimmt keine Trompete befunden.

Alle bisherigen Erklärungen erklärten also nichts, alle Beobachter beobachteten einfach falsch.

Es blieb sonach nur noch die von dem Director von Zi-Ka-Wey aufgestellte Hypothese. Aber, mein Gott, der Mann war ja Chinese!

Man darf nicht etwa glauben, daß sich der Bevölkerung der Alten und der Neuen Welt endlich ein gewisser Ueberdruß bemächtigt hätte. Im Gegentheil, die Erörterungen dauerten in gleicher Lebhaftigkeit fort, ohne daß irgendwo eine Uebereinstimmung erzielt wurde. Gleichwohl trat einmal eine Art Pause ein. Es vergingen nämlich einige Tage, ohne daß etwas von dem fraglichen Gegenstande, von der Feuerkugel oder was es sonst war, gemeldet wurde und ohne daß sich der bekannte Trompetenton aus der Luft hören ließ. War jener Körper also irgendwo auf die Erde niedergefallen, vielleicht an einem Punkte, der sein Wiederauffinden besonders erschwerte – etwa gar in’s Meer? Lag er jetzt in der unendlichen Tiefe des Atlantischen, des Pacifischen oder des Indischen Oceans? Wer hätte das sagen können?

Da vollzog sich aber zwischen dem 2. und dem 9. Juni eine neue Reihe von Thatsachen, deren Erklärung durch die Annahme eines rein kosmischen Phänomens schlechterdings unmöglich war.

Im Laufe jener acht Tage fand man nämlich auf den entlegensten Punkten eine Fahne gerade an den schwerst zugänglichen Stellen von Kirchen u. s. w. befestigt; so wurden die Hamburger überrascht durch eine solche an der Spitze des Thurmes von St. Michael, die Türken auf dem höchsten Minaret der heiligen Sophien-Moschee, die Einwohner von Rouen an der metallenen Turmspitze ihrer Kathedrale, die Straßburger am obersten Punkte des Münsters, die Amerikaner auf dem Kopfe ihrer Bildsäule der Freiheit am Eingange des Hafens und am Gipfel des Washington-Denkmals in Boston, die Chinesen an der Spitze des Tempels der fünfhundert Geister in Canton, die Hindus am sechzehnten Stockwerk der Pyramide des Tempels zu Tanjur, die Römer am Kreuze des St. Peters-Domes, die Engländer am Kreuz der St. Pauls-Kirche in London, die Egypter an der obersten Spitze der Pyramide von Gizeh, die Wiener an dem Reichsadler auf der Spitze des St. Stephansthurmes, die Pariser am Blitzableiter des dreihundert Meter hohen eisernen Thurmes der Ausstellung von 1889 und noch andere mehr.

Diese Fahne aber zeigte ein schwarzes Flaggentuch, das in der Mitte eine goldene Sonne und ringsum verstreut einzelne Sterne enthielt.

X.

X.

Worin man sehen wird, wie und warum der Diener Frycollin in’s Schlepptau genommen wurde.

Der Ingenieur hatte nicht die Absicht, seinen Apparat über die wundervollen Gefilde von Hindostan hinwegzuführen. Jedenfalls wollte er nur den Himalaya übersteigen, um zu beweisen, über welch‘ außerordentliche Fortbewegungsmaschine er verfügte, und um davon selbst Diejenigen zu überzeugen, welche nicht überzeugt sein wollten. Bedeutete das wohl so viel wie die Behauptung, daß der »Albatros« vollkommen sei, obgleich die Vollkommenheit nicht von dieser Welt ist? Das wird sich später zeigen.

Wenn Onkel Prudent und sein College auch nicht umhin konnten, innerlich anzuerkennen, daß die Kraft dieser Flugmaschine eine ganz außerordentliche war, so ließen sie sich davon wenigstens nichts merken. Sie suchten nur die Gelegenheit, zu entfliehen; ja, sie bewunderten nicht einmal das prachtvolle Schauspiel, welches sich ihren Augen bot, als der »Albatros« den reizenden Landschaften des Pendjab folgte.

Wohl giebt es am Himalaya einen Strich sumpfigen Landes, von dem gesundheitsschädliche Dünste aufsteigen, jenes Terrain, in dem Fieberkrankheiten epidemisch herrschen. Doch das ging den »Albatros« ja nichts an und konnte das Wohlbefinden seiner Insassen nicht gefährden, er erhob sich ohne große Eile nach dem Winkel zu, den Hindostan in seinem Vereinigungspunkt mit Turkestan und China bildet. Am 29. Juni öffnete sich vor ihm schon in den ersten Morgenstunden das herrliche Thal von Kaschmir.

Ja, sie ist ohne Gleichen, diese Hohlkehle, welche der Himalaya zwischen sich frei läßt! Gefurcht von Hunderten von Einzelvorsprüngen, welche die ungeheure Kette bis zum Becken des Hydaspis entsendet, wird dieselbe bewässert von den launischen Windungen des Flusses, der die Heersäulen Porus‘ und Alexanders, d. h. Indien und Griechenland, in Central-Asien zum Kampfe zusammenstoßen sah. Er füllt noch immer sein Bett, dieser Hydaspis, während die von dem Macedonier zur Erinnerung an seinen Sieg gegründeten beiden Städte so vollständig verschwunden sind, daß man nicht einmal im Stande ist, die Stelle derselben wieder zu finden.

Während dieses Vormittags schwebte der »Albatros« über Srinagar – mehr bekannt unter dem Namen Kaschmir – hin.

Onkel Prudent und sein Gefährte sahen eine sehr schöne, an beiden Flußufern sich hinziehende Stadt mit ihren Brücken gleich ausgespannten Fäden, den Sennhütten mit ihren geschnitzten Balkons, ihren von hohen Pappeln beschatteten Gebäuden mit berasten Dächern, welche fast das Aussehen großer Maulwurfshaufen haben, ihren vielfachen Canälen mit Barken gleich Nußschalen und Bootsleuten gleich Ameisen darauf, mit ihren Palästen, Tempeln, Kiosks, Moscheen und den Bungalows am Eingange der Vorstädte – das Ganze auch noch verdoppelt durch die Widerspiegelung des Wassers; endlich die alte Citadelle Hari-Parvata, die auf einem Hügel angelegt ist, wie das stärkste Fort von Paris auf dem Mont-Valérien.

»Das wäre Venedig, wenn wir uns in Europa befänden,« sagte Phil Evans.

– Und wenn wir in Europa wären, würden wir den Rückweg nach Amerika schon zu finden wissen,« antwortete Onkel Prudent.

Der »Albatros« verweilte nicht über dem See, den der Fluß durchfließt, sondern setzte seinen Flug durch das Thal des Hydaspis fort.

Nur eine halbe Stunde blieb er, bis auf zehn Meter über dem Flusse hinabsteigend, einmal an ein und derselben Stelle. Während dessen versorgten sich Tom Turner und seine Leute mittelst eines Kautschukschlauches mit neuem Wasservorrathe, der durch eine Pumpe aufgesaugt wurde, welche die Ströme der Accumulatoren in Bewegung setzten.

Onkel Prudent und Phil Evans hatten sich dabei bedeutungsvoll angesehen, da ein und derselbe Gedanke in ihnen aufstieg. Sie befanden sich nur wenige Meter über der Oberfläche des Hydaspis und nahe dem Ufer desselben. Beide waren geübte Schwimmer. Ein Sprung konnte ihnen jetzt die Freiheit wiedergeben, und wenn sie dann ein Stück unter dem Wasser fortschwammen, wie hätte Robur sie wieder ergreifen lassen können? Um den Treibschrauben ihre Beweglichkeit zu sichern, mußte er sie ja mit seinem Apparate mindestens zwei Meter über dem Seebecken halten.

In einem Augenblicke hatten sie alle günstigen und ungünstigen Umstände eines solchen Versuchs gegen einander abgewogen und schon waren sie im Begriff, sich von dem Verdeck des Luftschiffes hinabzustürzen, als sich mehrere Hände fest auf ihre Schultern legten.

Sie wurden beobachtet und erkannten die Unmöglichkeit, zu entfliehen.

Immerhin ergaben sie sich nicht ohne einigen Widerstand und bemühten sich, die, welche sie hielten, zurückzustoßen – aber es waren handfeste Burschen, diese Leute des »Albatros«!

»Meine Herren, begnügte sich der Ingenieur zu sagen, wenn man das Vergnügen hat, in Gesellschaft mit Robur dem Sieger zu reisen, wie Sie ihn selbst so passend bezeichnet haben, und an Bord seines wunderbaren »Albatros«, so verläßt man diesen nicht so … französisch. Ja, ich sage Ihnen, Sie verlassen denselben überhaupt nicht wieder!«

Phil Evans zerrte seinen Gefährten, der sich schon zu einem Gewaltacte hinreißen lassen wollte, noch zurück. Beide begaben sich nach ihrem Ruff, noch immer entschlossen, zu fliehen und wenn es ihnen, gleichviel wo, auch das Leben kosten sollte.

Der »Albatros« hatte wieder seinen Curs nach Westen eingeschlagen. Während dieses Tages überschritt er bei mittlerer Geschwindigkeit das Gebiet von Kabulistan, die Grenze des Königreichs Herat.

In diesen noch immer so bestrittenen Ländern und auf diesem Wege, der den Russen nach den englischen Besitzungen in Indien offen steht, erschienen große Haufen von Menschen, Colonnen, Gepäckwagen, mit einem Worte Alles, was das Personal und Material einer auf dem Marsche befindlichen Armee bildet. Man hörte wohl auch Kanonendonner und das Knattern von Gewehren; der Ingenieur mischte sich aber niemals in die Angelegenheiten Anderer, so lange diese für ihn nicht eine Frage des Ehrgeizes oder der Humanität bildeten. War Herat, wie man sagt, wirklich der Schlüssel Central-Asiens, so kümmerte es ihn doch gar nicht, ob dieser Schlüssel in eine englische oder eine moskowitische Tasche kam. Irdische Interessen berührten den furchtlosen Mann nicht, der das Luftmeer zu seinem ausschließlichen Gebiete erkoren hatte.

Uebrigens schwand das Land sehr bald unter einem wahrhaften Orkan von Sand, wie er in diesen Gegenden so häufig vorkommt. Dieser Sturmwind, der hier »Tebbad« genannt wird, trägt manche Fieberkeime mit dem unwägbar feinen Sand oft sehr weit mit fort, und manche Caravane ist schon in seinen wüthenden Wirbeln zu Grunde gegangen.

Um diesem harten Staube zu entgehen, der die Feinheit seiner Zahngetriebe hätte gefährden können, erhob sich der »Albatros« um zweitausend Meter nach einer reineren Zone.

Damit schwand auch die Grenze Persiens aus den Augen und blieben dessen weite Ebenen fast ganz unsichtbar. Die Gangart war dabei eine sehr gemäßigte, obwohl eine Felsenklippe nirgends zu fürchten war. Wenn eine Landkarte dieser Gegend auch einige Berge zeigte, so steigen diese doch nur zu mittlerer Höhe an. Bei der Annäherung an die Hauptstadt freilich galt es, den Demawend zu vermeiden, der fast sechstausendsechshundert Meter emporragt, und auch die Elbruskette, an deren Fuß Teheran erbaut ist.

Mit dem ersten Tagesgrauen des 2. Juli tauchte jener Demawend aus dem Sand-Samum auf.

Der »Albatros« steuerte so, um über die Stadt hinwegzugehen, welche der Wind durch eine Wolke feinen Staubes verhüllte.

Gegen zehn Uhr Morgens konnte man indeß die breiten Gräben erkennen, welche die Umwallung einschließen, und in der Mitte den Palast des Schah, dessen Mauern mit Fayenceplatten bedeckt sind und dessen Wasserbecken aus ungeheuren Türkisen von leuchtendem Blau geschnitten scheinen.

Das schöne Bild verrann leider nur zu bald. Von hier aus schlug der »Albatros« nun eine andere Richtung ein und steuerte ziemlich genau nach Norden. Einige Stunden später befanden sie sich über einer kleinen Stadt im nördlichen Winkel der persischen Grenze und am Strande einer ausgedehnten Wasserfläche, deren Ende weder nach Norden, noch nach Osten zu erkennbar war.

Diese Stadt war der Hafen Aschuarda, die südlichste Station Rußlands; die Wasserfläche aber fast ein Meer, nämlich der Kaspi-See.

Hier wirbelte kein Staub mehr umher. Man sah bequem einen Haufen nach europäischer Art gebauter Häuser, welche, mit einem sie überragenden Glockenthurm, längs eines Vorgebirges lagen.

Der »Albatros« senkte sich über dieses Meer, dessen Gewässer dreihundert Fuß unter dem Niveau des Mittelmeeres liegen. Gegen Abend glitt er längs der früher turkestanischen, jetzt aber russischen Küste hin, die nach dem Golf des Beckens zu aufsteigt, und am nächsten Tage, dem 3. Juli, schwebte er etwa hundert Meter über dem Kaspi-See.

Weder an der asiatischen, noch an der europäischen Seite war hier Land in Sicht; nur auf dem Meer bemerkte man einzelne, von schwacher Brise geschwellte Segel, an deren Form man erkannte, daß es Fahrzeuge von Eingeborenen, Kesebegs mit zwei Masten, Kajiks, das sind Piratenschiffe mit nur einem Maste, und Teimils, einfache, zur Küstenfahrt oder zum Fischfang benützte Boote waren. Dann und wann wirbelten wohl auch die Ausläufer von Rauchsäulen bis zum »Albatros« empor, welche aus den Schornsteinen der Dampfer von Aschuarda quollen, die Rußland zu Polizeizwecken auf den turkomanischen Gewässern unterhält.

An diesem Morgen plauderte der Obersteuermann Tom Turner mit dem Koch François Tapage und gab auf eine Frage des Letzteren Antwort:

»Ja, wir werden gegen achtundvierzig Stunden über dem Kaspi-See verweilen.

– Schön, erwiderte der Koch, da haben wir doch einmal Gelegenheit, zu fischen?

– Ganz gewiß.«

Da über vierzig Stunden darauf verwendet werden sollten, die sechshundertfünfundzwanzig Meilen, welche jenes Binnenmeer bei zweihundert (englischen) Meilen Breite mißt, mußte die Geschwindigkeit des »Albatros« natürlich stark gemäßigt und letzterer während eines vorzunehmenden Fischfanges ganz still gehalten werden.

Jene Antwort Tom Turner’s wurde auch von Phil Evans gehört, der sich grade auf dem Vordertheil befand.

Eben begann Frycollin wieder mit seinen unaufhörlichen Klagen und bat ihn, bei seinem Herrn ein gutes Wort einzulegen, daß er ihn »auf der Erde absetzen« lasse.

Ohne auf dieses sinnlose Verlangen zu antworten, begab sich Phil Evans nach dem Hintertheil, um den Onkel Prudent zu treffen. Diesem theilte er unter größter Vorsicht, von Niemand gehört zu werden, die wenigen zwischen Tom Turner und dem Koche gewechselten Worte mit.

»Phil Evans, meinte Onkel Prudent, ich denke, wir machen uns doch keine Illusionen über die letzten Absichten dieses Elenden?

– Gewiß nicht, antwortete Phil Evans. Er wird uns die Freiheit nur wiedergeben, wenn ihm das paßt – und wenn er sie uns überhaupt wieder giebt.

– In diesem Falle müssen wir Alles wagen, um den »Albatros« zu verlassen.

– Ein wundervoller Apparat, das muß man wohl zugestehen!

– Das ist wohl möglich, rief Onkel Prudent, aber es ist der Apparat eines Schurken, der uns gegen alles Recht und Gesetz hier zurückhält. Uebrigens bildet dieser Apparat für uns und die Unsrigen eine unausgesetzte Gefahr. Gelingt es uns also nicht, denselben zu vernichten …

– Beginnen wir damit, uns zu retten! … antwortete Phil Evans, wir werden ja später sehen.

– Zugegeben, antwortete Onkel Prudent, und benützen wir jede sich bietende Gelegenheit. Allem Anscheine nach fährt der »Albatros« über den Kaspi-See, um sich dann im Norden oder im Süden von Rußland nach Europa zu begeben. Nun, wohin wir auch den Fuß setzen mögen, bis zum Atlantischen Ocean hin wäre unsere Rettung gesichert. Wir müssen uns also jede Stunde bereit halten.

– Aber, fragte Phil Evans, wie sollten wir fliehen können?

– Hören Sie mich an, antwortete Onkel Prudent. Es kommt zuweilen vor, daß der »Albatros« während der Nacht nur wenige hundert Fuß über dem Erdboden hinschwebt. An Bord befinden sich verschiedene Kabel von dieser Länge, und mit einiger Kühnheit könnte man sich wohl hinabgleiten lassen …

– Ja, stimmte Phil Evans bei, im gegebenen Falle würde ich nicht zaudern …

– Ich auch nicht, versicherte Onkel Prudent. Ich füge noch hinzu, daß während der Nacht außer dem Steuermann auf dem Hintertheile Niemand wach ist. Eines jener Kabel liegt nun gewöhnlich auf dem Verdeck, und ohne gesehen und gehört zu werden, dürfte es möglich sein, dasselbe aufzurollen …

– Gut, gut, unterbrach ihn Phil Evans; ich sehe mit Vergnügen, Onkel Prudent, daß Sie jetzt weit ruhiger sind; das ist besser, wenn man handeln will. Augenblicklich freilich befinden wir uns auf dem Kaspi-See; verschiedene Fahrzeuge sind in Sicht. Der »Albatros« wird noch tiefer hinabgehen und während des Fischzuges anhalten … Könnten wir daraus keinen Vortheil ziehen? …

– Ah, man überwacht uns, selbst wenn wir nicht glauben, überwacht zu sein, antwortete Onkel Prudent. Sie haben’s ja gesehen, als wir versuchten, uns in den Hydaspis zu stürzen.

– Und wer sagt, daß wir nicht auch in der Nacht beobachtet sind? erwiderte Phil Evans.

– Einerlei, wir müssen ein Ende machen, rief Onkel Prudent, ein Ende machen mit diesem »Albatros« und seinem Besitzer!«

Man sieht, daß die beiden Collegen – und vorzüglich Onkel Prudent – unter der Aufregung des Zornes leicht dazu verführt werden konnten, die waghalsigsten und für ihre eigene Sicherheit vielleicht gefährlichsten Handlungen zu begehen.

Das Gefühl ihrer Ohnmacht, der verächtliche Spott, mit dem Robur sie behandelte, die derben Antworten, welche er ihnen ertheilte, Alles trug dazu bei, die Spannung ihrer Lage zu erhöhen, deren Druck jeden Tag deutlicher hervortrat.

An jenem Tage hätte übrigens ein neuer Auftritt bald einen höchst bedauerlichen Wortwechsel zwischen Robur und den beiden Collegen herbeigeführt, und Frycollin ahnte wohl kaum, daß er dazu die Veranlassung geben sollte.

Als er sich einmal über diesem Meere ohne Grenzen sah, bemächtigte sich des Hasenfußes wieder ein furchtbarer Schrecken. Wie ein Kind – und wie ein Neger, der er ja war – fing er an zu jammern zu klagen und zu protestiren und machte die tollsten Verrenkungen und Grimassen.

»Ich will fort! … Ich will weg von hier! rief er. Ich bin kein Vogel! … Ich bin nicht geschaffen zum Fliegen! … Ich will, daß ich auf der Erde abgesetzt werde, und das sogleich!«

Selbstverständlich bemühte sich Onkel Prudent keineswegs, ihn zu beruhigen, im Gegentheil. Das Heulen des Schwarzen erregte denn auch die Ungeduld Robur’s.

Da Tom Turner und die Anderen sich eben zum Fischfang anschickten, befahl der Ingenieur, um sich Frycollins zu entledigen, diesen in sein Ruff einzusperren. Der Neger setzte das vorige Unwesen fort, donnerte an die Wand und heulte aus Leibeskräften.

Es war jetzt Mittag. Der »Albatros« schwebte eben nur fünf oder sechs Meter über der Oberfläche des Meeres. Einige bei seiner Annäherung erschreckte Boote waren eiligst davongefahren. Dieser Theil des Kaspi-Sees mußte also bald ganz verlassen sein.

Man begreift leicht, daß die beiden Collegen unter diesen Verhältnissen, wo sie gelegentlich nur hätten mit dem Kopfe zu nicken brauchen, der Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit sein mußten und wirklich waren.

Doch selbst angenommen, daß sie sich über Bord gestürzt hätten, so wäre es doch leicht gewesen, sie mit Hilfe des Kautschukbootes des »Albatros« wieder einzufangen. Während dieses Fischzuges war also nichts zu thun, und Phil Evans betheiligte sich lieber selbst thätig dabei, während Onkel Prudent im Zustand fortwährend kochender Wuth sich in seine Cabine zurückzog.

Bekanntlich bildet der Kaspi-See eine beträchtliche Bodendepression wahrscheinlich vulcanischen Ursprunges. In dieses Becken ergießen sich die Gewässer sehr großer Ströme, wie der Wolga, des Ural, des Kur, der Kuma, Jemba u.A. Ohne die starke Verdunstung, welche dem Wasserbecken den Wasserüberfluß wieder entführt, hätte dieses siebzehntausend Quadratmeilen große Loch von fünf- bis sechshundert Fuß mittlerer Tiefe schon längst die niedrigen und sumpfigen Küsten im Norden und Osten überfluthet. Obgleich diese Schale weder mit dem Schwarzen, noch mit dem Aral-Meer in Verbindung steht, deren Niveau weit höher liegt, so ernährt es doch eine große Menge Fische – wohl zu bemerken aber nur solche, welche die stark hervortretende Bitterkeit seines Wassers, eine Folge der Naphthaquellen am Südende desselben, vertragen.

Bei dem Gedanken an die Abwechslung, welche dieser Fischzug ihrem gewohnten Speisezettel zu verleihen versprach, gab die Mannschaft des »Albatros« die Befriedigung, welche er derselben gewährte, deutlich genug zu erkennen.

»Achtung!« rief Tom Turner, der eben einen Fisch von ziemlich bedeutender Größe und ähnlich einem Haifisch harpunirt hatte.

Es war das ein prächtiger, gegen sieben Fuß langer Stör, von der Art, welche die Russen Belonga nennen, dessen mit Salz, Essig und Weißwein zugerichtete Eier den Caviar darstellen. Vielleicht sind die in den Flüssen gefangenen Störe noch schmackhafter als die aus dem Meere. Doch wurden letztere an Bord des »Albatros« mit großem Jubel begrüßt.

Noch weit ergiebiger gestaltete sich dieser Fischzug aber durch Anwendung von Schleppnetzen, in welchen es bald von Karpfen, Brachsen und Seehechten, vorzüglich von jenen mittelgroßen Sterlets wimmelte, welche reiche Feinschmecker lebend von Astrachan nach Moskau und Petersburg bringen lassen. Diese hier wanderten – ohne alle Transportkosten – unmittelbar aus ihrem natürlichen Element in die Siedekessel der Mannschaftsküche.

Die Leute Robur’s zogen mit großem Vergnügen die Leine ein, nachdem der »Albatros« sie mehrere Stunden lang langsam dahingeführt hatte. Der Gascogner Tapage (der Name bedeutet deutsch: Lärmen, Getöse) machte durch sein Jubelgeschrei seinem Namen alle Ehre. Eine Stunde genügte, alle Behälter des »Albatros« mit jenem Nahrungsmaterial zu füllen, und dieser fuhr darauf nach Norden zu weiter.

Während dieses Aufenthaltes hatte Frycollin nicht aufgehört, zu schreien, an die Wand seiner Cabine zu hämmern, mit einem Worte, einen unausstehlichen Lärm zu machen.

»Wird dieser verdammte Nigger denn nicht Ruhe halten lernen! sagte Robur, dem die Geduld nun wirklich zu Ende ging.

– Mir scheint, Herr Robur, daß er völlig Recht hat, sich zu beklagen, bemerkte Phil Evans.

– Ja, ganz wie ich das Recht habe, meinen Ohren diese Qual zu ersparen, erwiderte Robur.

– Ingenieur Robur! … ließ sich da der eben auf dem Verdeck erscheinende Onkel Prudent vernehmen.

– Herr Präsident des Weldon-Instituts?« …

Beide waren auf einander zugetreten und sahen sich eine Zeit lang in die Augen.

Dann zuckte Robur ein wenig die Achseln.

»An das Ende des Taues!« sagte er.

Tom Turner hatte ihn verstanden; Frycollin wurde aus seiner Cabine geholt.

Aber wie jämmerlich schrie er auf, als der Obersteuermann und einer von dessen Kameraden ihn ergriffen und in einer Art Korb festbanden, an dem sie sorgsam das Ende eines Taues festknüpften.

Es war das eines jener Taue, welche Onkel Prudent zu dem uns bekannten Zwecke benützen wollte.

Der Neger hatte zuerst geglaubt, er solle gehenkt werden … Nein, er sollte nur aufgehängt werden.

Das Tau wurde nämlich außen in der Länge von etwa hundert Fuß abgerollt und Frycollin schwebte damit frei in der Luft.

Jetzt stand es in seinem Belieben, zu schreien, so viel er wollte; der Schrecken schnürte ihm jedoch den Kehlkopf zu – er blieb stumm.

Onkel Prudent und Phil Evans hatten sich dem barbarischen Verfahren widersetzen wollen – sie wurden einfach zurückgestoßen.

»Das ist abscheulich! … Das ist Barbarei! rief Onkel Prudent, der darüber ganz außer sich war.

– Freilich! antwortete Robur.

– Das ist ein Mißbrauch der Gewalt, gegen den ich noch anders als durch Worte allein Einspruch erheben werde!

– Immer zu!

– Ich werde mich rächen, Ingenieur Robur!

– Rächen Sie sich getrost, Präsident des Weldon-Instituts.

– An Ihnen und Ihren Leuten!«

Die Mannschaft des »Albatros« hatte sich in nicht besonders wohlwollender Haltung genähert. Robur gab den Leuten ein Zeichen, sich zu entfernen.

»Ja, an Ihnen und Ihren Leuten … wiederholte Onkel Prudent, den sein College vergebens zu beruhigen suchte.

– Ganz wie es Ihnen beliebt, erwiderte der Ingenieur.

– Und ohne Rücksicht auf die Mittel!

– Genug, sagte jetzt Robur in drohendem Tone, genug! Es giebt noch mehr Taue an Bord! Schweigen Sie … oder … der Herr ganz wie der Diener.«

Onkel Prudent schwieg, aber nicht aus Furcht, sondern weil ihn eine wahre Erstickung beklemmte, so daß Phil Evans ihn in seine Cabine führen mußte.

Seit einer Stunde hatte sich das Wetter sehr merkbar verändert und es traten einzelne Zeichen hervor, welche keine Mißdeutung zuließen – ein Unwetter war im Anzug. Die elektrische Sättigung der Atmosphäre hatte einen so hohen Grad erreicht, daß Robur gegen zweieinhalb Uhr Zeuge einer bisher von ihm nie beobachteten Erscheinung wurde.

Im Norden, von wo das Unwetter herkam, stiegen dicht geballte, fast leuchtende Dünste auf – was jedenfalls von der verschiedenen und wechselnden elektrischen Spannung der Wolkenschichten herrührte.

Der Reflex von diesen Ansammlungen ließ Myriaden von Lichtern auf der Oberfläche des Meeres hintanzen, deren Intensität um so lebhafter wurde, je mehr der Himmel sich verfinsterte.

Der »Albatros« und jenes Meteor mußten bald zusammentreffen, da sie sich auf einander zu bewegten.

Und Frycollin? – Nun Frycollin folgte noch immer im Schlepptau – ja, das ist das richtige Wort, denn jenes Tau bildete einen weit offenen Winkel gegen den mit der Geschwindigkeit von hundert Kilometern hinfliegenden Apparat, wodurch der Korb nicht unerheblich zurückblieb.

Das Entsetzen des armen Teufels wird man sich unschwer ausmalen können, als die Blitze jetzt um ihn her aufzuckten und der Donner mit gewaltiger Macht durch die Himmelsräume rollte. Das ganze Personal bemühte sich angesichts dieses Unwetters so zu manövriren, daß sie entweder höher als dasselbe hinaufkamen oder in den unteren Luftschichten bald jenes im Rücken ließen.

Der »Albatros« befand sich eben ungefähr in mittlerer Höhe – etwa tausend Meter – als ein Donnerschlag von ungeheurer Heftigkeit über ihn hereinbrach, dem ein furchtbarer Windstoß folgte. Binnen wenigen Sekunden stürzten sich die feurigen Wolken auf den Aeronef.

Da raffte sich Phil Evans zusammen, um zu Gunsten Frycollins ein gutes Wort einzulegen und zu erklären, daß dieser wieder an Bord herangezogen würde.

Robur hatte eine solche Vermittlung aber gar nicht erst abgewartet und schon den nöthigen Befehl ertheilt. Jetzt waren die Leute bereits mit dem Einziehen des Taues beschäftigt, als sich eine plötzliche Verlangsamung der Rotation der Auftriebschrauben bemerkbar machte.

Robur sprang nach dem mittleren Ruff.

»Kraft! … Volle Kraft! rief er dem Maschinisten zu. Wir müssen schnell höher, als das Unwetter steht, emporsteigen.

– Es ist unmöglich, Herr Ingenieur.

– Warum?

– Die Ströme sind gestört … Es treten Unterbrechungen ein.«

In der That senkte sich der »Albatros« schon recht merkbar.

Ganz wie das bei Gewittern mit den Strömen in den Telegraphendrähten vorkommt, so versagten jetzt auch die Accumulatoren des Apparats den regelmäßigen Dienst; was aber nur eine Unbequemlichkeit ist, wenn es sich um Absendung von Depeschen handelt, wurde hier zur furchtbarsten Gefahr, das mußte damit enden, daß der Aeronef, ohne daß man seiner ferner Herr war, in’s Meer hinabstürzte.

»Lass‘ ihn sich senken, rief Robur, damit wir aus der elektrischen Zone herauskommen. Vorwärts, Jungen, bewahrt Euer kaltes Blut!«

Der Ingenieur hatte seine Commandobrücke bestiegen. Die Mannschaft war an ihrer Stelle und hielt sich bereit, jeder Anordnung ihres Herrn eiligst nachzukommen.

Obwohl der »Albatros« sich nur einige hundert Fuß gesenkt hatte, schwebte er doch immer noch in der dichten Wolkenschicht inmitten von Blitzen, die sich wie Raketen eines Feuerwerks kreuzten. Man mußte jeden Augenblick fürchten, daß ihn ein Blitzstrahl treffe. Die Bewegung der Schrauben verlangsamte sich noch mehr, und was bisher ein etwas Schnelleres Herabsinken war, drohte jetzt ein gefährlicher Sturz zu werden.

Zuletzt lag es auf der Hand, daß er in weniger als einer Minute auf der Meeresfläche angelangt sein mußte, und einmal in’s Wasser getaucht, hätte keine Macht ihn daraus zu befreien vermocht.

Plötzlich lagerte sich die elektrische Wolke dicht über ihnen. Der »Albatros« war jetzt nicht mehr als sechzig Fuß vom Kamm der Wellen entfernt. Binnen zwei bis drei Secunden drohten diese das Verdeck zu überfluthen.

Da benützte Robur noch den letzten Moment, stürzte nach dem mittleren Ruff hin und packte hier die Hebel für die Vorwärtsbewegung, wodurch die von den Batterien kommenden Ströme geschlossen wurden, auf welche die elektrische Spannung der umgebenden Atmosphäre keinen Einfluß äußerte … in einem Augenblick hatte er den Schrauben ihre normale Schnelligkeit wieder gegeben, den Sturz aufgehalten, und der »Albatros« hielt sich in geringer Höhe, entfloh jetzt aber mit rasender Eile dem Unwetter, das er bald hinter sich zurückließ.

Es bedarf wohl nicht besonderer Bemerkung, daß Frycollin, wenn auch nur für wenige Secunden, ein unfreiwilliges Bad genommen hatte. Als er an Bord zurückkam, war er durchnäßt, als hätte er die Tiefe des Meeres gemessen. Man wird es kaum glauben, aber er schrie nicht mehr.

Am nächsten Tage, am 4. Juli, hatte der »Albatros« die Nordgrenze des Kaspi-Sees überschritten.

XI.

XI.

In dem die Wuth des Onkel Prudent mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunimmt.

Wenn Onkel Prudent und Phil Evans je auf die Hoffnung, entfliehen zu können, verzichten mußten, so war das während der nun folgenden fünfzig Stunden der Fall. Befürchtete Robur, daß die Ueberwachung seiner Gefangenen bei der Fahrt über Europa weniger leicht sein möchte? Vielleicht. Er wußte ja übrigens, daß sie zu Allem entschlossen waren, um zu entweichen.

Doch, wie dem auch sein mochte, jeder Versuch wäre jetzt einem Selbstmorde gleichgekommen. Wenn Einer von einem Expreßzuge, der mit der Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Stunde dahinfliegt, herabspringt, so setzt er vielleicht sein Leben in Gefahr; wer das aber von einem zweihundert Kilometer in der Stunde dahinrasenden Blitzzuge versuchte, der kann nur den Tod wollen.

Eben diese Geschwindigkeit, die größte, die er anzunehmen im Stande war, war jetzt dem »Albatros« ertheilt worden. Er überholte noch den Flug der Schwalbe, die hundertachtzig Kilometer in der Stunde zurücklegen kann.

Hier mag auch bemerkt sein, daß bisher nordöstliche Winde in einer der Fortbewegung des »Albatros« sehr günstigen Ausdauer anhielten, da dieser in derselben Richtung, d. h. im Allgemeinen nach Westen zu flog. Dieser Wind begann aber allmählich abzuflauen, so daß es nachgerade unmöglich wurde, sich auf dem Verdeck zu halten, ohne die Athmung durch die Schnelligkeit der Bewegung fast aufgehoben zu sehen. Die beiden Collegen wären auch beinahe über Bord geschleudert worden, wenn sie nicht der Luftdruck an ihrem Ruff so zu sagen festgenagelt hätte.

Zum Glück bemerkte sie der Steuermann durch die Lichtpforten seiner Hütte, und eine elektrische Klingel setzte die auf dem Verdeck eingeschlossenen Mannschaften von ihrer Nothlage in Kenntniß.

Ueber das Verdeck hinkriechend, glitten vier Mann davon nach dem Hintertheil zu.

Diejenigen, welche sich in einem Sturm auf einem vor dem Winde liegenden Schiffe befunden haben, werden verstehen, welchen Druck der Wind dabei auszuüben vermag. Hier war es jedoch der »Albatros« selbst, der diesen durch seine maßlose Geschwindigkeit hervorrief.

Man mußte wirklich seinen Gang verlangsamen, was Onkel Prudent und Phil Evans gestattete, ihre Cabine wieder zu erreichen.

Im Inneren seiner Ruffs führte der »Albatros«, ganz wie der Ingenieur das versichert hatte, eine vollkommen athembare Atmosphäre mit sich.

Welche erstaunliche Festigkeit besaß aber dieser Apparat, um einer so schnellen Fortbewegung den nöthigen Widerstand leisten zu können. Die Triebschrauben am Bug und am Heck sah man gar nicht mehr sich drehen; sie pfiffen nur mit scharfem, durchdringendem Ton durch die Luft.

Die letzte, vom Bord aus gesehene Stadt war Astrachan gewesen, das ziemlich am nördlichsten Ende des Kaspi-Sees lag.

Der Stern der Wüste – jedenfalls hat ein russischer Dichter es so genannt – ist jetzt von der ersten Größe zur fünften oder sechsten zurückgegangen. Dieser sehr einfache Hauptort des Gouvernements hatte einen Augenblick seine alten, mit unnützen Zinnen gekrönten Mauern gezeigt, ebenso wie seine alten Thürme in der Mitte der Stadt, seine an Kirchen in modernem Stil angrenzenden Moscheen, seine Kathedrale mit fünf vergoldeten und mit blauen Sternen übersäeten Kuppeln, die einem ausgeschnittenen Stück Firmament glichen – das Ganze fast im Niveau der hier zwei Kilometer breiten Wolgamündung.

Von diesem Punkt aus war der Flug des »Albatros« schon mehr eine Art Ritt durch die Höhen des Himmels, als würde er von fabelhaften Hippogryphen fortgetragen, welche eine Meile mit jedem Flügelschlage zurücklegen.

Es war gegen zehn Uhr Morgens am 4. Juli, als der Aeronef, etwa dem Thale der Wolga folgend, nach Nordwesten weiter steuerte. An beiden Stromesufern hin dehnten sich die Steppen des Don und des Ural. Wäre es möglich gewesen, einen Blick auf diese ungeheuren Gebiete zu werfen, so hätte man die Städte und Dörfer darin kaum zählen können. Am Abend endlich zog der Aeronef über Moskau weg, ohne die auf dem Kreml flatternde Flagge zu salutiren. Binnen zehn Stunden hatte er die zweitausend Kilometer, welche Astrachan von der Hauptstadt aller Russen trennen, zurückgelegt.

Von Moskau nach Petersburg ist die Eisenbahnlinie nicht länger als zwölfhundert Kilometer, konnte also mehr Zeit als einen halben Tag nicht beanspruchen. So erreichte denn auch der »Albatros« mit der Pünktlichkeit eines Expreßzuges Petersburg und die Ufer der Newa gegen zwei Uhr Morgens. Die Helligkeit der Nacht, in der in so hoher Breite die Sonne nicht tief unter den Horizont nieder taucht, gestattete einen Augenblick, das Gesammtbild dieser großen Stadt zu überschauen.

Nachher folgte der finnische Meerbusen, das Inselgewirr von Abo, die Ostsee, Schweden in der Breite von Stockholm, Norwegen in der von Christiania – zweitausend Kilometer in nur zehn Stunden! Wahrlich, man hätte glauben können, daß keine menschliche Macht fernerhin im Stande wäre, die Geschwindigkeit des »Albatros« zu hemmen, als ob die Resultante seiner Treibkraft und der Anziehung der Erde ihn in unveränderlichem Kreislaufe um die Erde gefesselt hielte.

Danach unterbrach er seinen Lauf, und zwar genau über dem berühmten Wasserfall des Rjukanfos in Norwegen. Der Gusta, dessen Gipfel diesen herrlichen Theil von Telemarken beherrscht, erschien gleich einem riesenhaften Grenzwall, den er nach Westen nicht überschreiten durfte.

Von hier aus näherte sich der »Albatros« auch, ohne Verminderung seiner Geschwindigkeit, wieder mehr dem Erdboden.

Und was begann wohl Frycollin während dieser Fahrt ohne Gleichen?

Frycollin blieb stumm in seiner Cabine und schlief, mit Ausnahme der Zeit, wo gegessen wurde, so gut er konnte.

François Tapage leistete ihm dann Gesellschaft und ergötzte sich weidlich an seiner ewigen Angst.

»He, he, mein Junge, sagte er, Du heulst ja gar nicht mehr? Brauchst Dich gar nicht zu geniren! … Mit zwei Stunden aufgehängt sein ist Alles quitt gemacht! … He, bei der Schnelligkeit, mit der wir jetzt fahren, müßte das ein vortreffliches Luftbad gegen den Rheumatismus abgeben!

– Mir kommt es vor, als ob Alles in kurze und kleine Stücke ginge, antwortete Frycollin.

– Das ist wohl möglich, mein wackerer Frycollin; aber wir fliegen so schnell dahin, daß wir gar nicht mehr fallen könnten. Das ist doch auch eine Beruhigung.

– Glauben Sie?

– Bei meiner Gascogner-Ehre!«

Um die Wahrheit zu sagen und nicht zu übertreiben, wie François Tapage, so lag die Sache so, daß die Arbeit der Auftriebsschrauben infolge jener ungeheuren Geschwindigkeit jetzt ein wenig vermindert war, der Aeronef glitt auf den Luftschichten etwa hin, wie eine Congrève’sche Rakete.

»Und das wird noch lange so fortdauern? sagte Frycollin.

– Lange? … O nein! antwortete der Koch, nur das ganze Leben lang.

– Ach! seufzte der Neger, wieder mit seinen Klagen beginnend.

– Nimm Dich in Acht, Frycollin, nimm Dich in Acht! rief da François Tapage, denn, wie man bei mir zu Hause sagt, der Herr könnte Dich auf die Schaukel hinaussetzen.«

Und mit den Bissen, die er gleich doppelt in den Mund steckte, würgte Frycollin auch seine Seufzer hinunter.

Während dessen entwarfen Onkel Prudent und Phil Evans, welche nicht dazu angethan waren, sich unnütz zu beklagen, einen wohl durchdachten Plan. An Ausführung eines Fluchtversuches war ja unmöglich zu denken. Doch wenn sie den Fuß auch nicht auf die Erde setzen konnten, war es nicht denkbar, den Erdenbewohnern mitzutheilen, was nach ihrem Verschwinden aus dem Vorsitzenden und dem Schriftführer des Weldon-Instituts geworden war, wer sie geraubt hatte, auf welcher fliegenden Maschine sie sich befanden, um vielleicht – aber, lieber Gott, auf welche Weise? – einen kühnen Versuch ihrer Freunde, sie den Händen Robur’s zu entreißen, herbeiführen zu können?

Doch wie sollten sie von sich Nachricht geben? Hätte es dazu hingereicht, die Methode der Seeleute nachzuahmen, welche ein Schriftstück mit Bezeichnung der Stelle des Schiffbruchs in eine Flasche stecken und diese in’s Meer werfen?

Hier vertrat die Stelle des Meeres aber die Atmosphäre. Die Flasche konnte darauf natürlich nicht schwimmen. Fiel dieselbe nicht gerade auf einen zufällig Vorübergehenden, dem sie recht gut den Schädel zerschmettern konnte, so lag die Vermuthung nahe, daß sie niemals aufgefunden wurde.

Die beiden Collegen hatten leider kein anderes Mittel zur Verfügung und sie standen schon im Begriff, eine Flasche des Luftfahrzeuges zu opfern, als dem Onkel Prudent noch ein anderer Gedanke kam. Er schnupfte, wie wir wissen, und diese kleine Untugend darf man einem Amerikaner, der weit schlimmere Unsitten hätte an sich haben können, wohl nachsehen. Als Schnupfer besaß er natürlich auch eine Dose, die jetzt schon längst leer war. Diese Dose war aus Aluminium gearbeitet. Warf er dieselbe hinaus, so durfte man hoffen, daß jeder ehrbare Bürger, der sie fand, sie auch aufheben werde. Hob er sie auf, so lieferte er sie auch bei der Polizei ab, und hier würde man Kenntniß nehmen von dem Document, welches dazu dienen sollte, die Lage der beiden Opfer Robur des Siegers kund zu geben.

Das wurde denn auch ausgeführt. Das kurze einzuschließende Schriftstück sagte Alles und trug daneben die Adresse des Weldon-Instituts mit der Bitte, dasselbe dahin zu befördern.

Nachdem Onkel Prudent das Papier eingelegt, umwickelte er die Dose sorgsam mit einem dicken wollenen Band, um zu verhüten, daß dieselbe sich während des Falles schon öffne und durch das Aufschlagen nicht in Stücke gehe. Jetzt galt es nur noch eine günstige Gelegenheit abzuwarten.

Das Schwerste bei der ganzen Sache war es aber während dieser merkwürdigen Fahrt über Europa, das Ruff zu verlassen, über das Verdeck zu kriechen, auf die Gefahr hin, fortgerissen zu werden, und das ganz heimlich durchzuführen. Andererseits kam es darauf an, daß die Dose nicht in ein Meer, einen Golf, See oder einen anderen Wasserlauf fiel, denn damit – wäre sie ja verloren gewesen.

Jedenfalls schien es aber nicht unmöglich, daß die beiden Collegen sich durch dieses Mittel mit der bewohnten Welt in’s Einvernehmen setzen konnten.

Eben jetzt wurde es jedoch Tag und es schien rathsamer, die Nacht abzuwarten und entweder eine Verminderung der Geschwindigkeit oder einen Halt zu benützen, um das Ruff zu verlassen. Vielleicht konnten sie dann die Reeling erreichen und die kostbare Dose genau über einer Stadt herunterfallen lassen.

Doch selbst bei dem Zusammentreffen aller günstigen Umstände hätte das Vorhaben nicht gleich zur Ausführung gebracht werden können – wenigstens nicht am heutigen Tage.

Nachdem der Aeronef nämlich Norwegen in der Höhe des Gusta verlassen, hatte er sich nach dem Süden zu gewendet und folgte jetzt genau dem französischen Meridian Null, der bekanntlich über Paris verläuft. Er schwebte also über die Nordsee hinweg, nicht ohne an Bord der Tausende von Küstenfahrern, welche zwischen dem Festlande und England verkehren, das größte Aufsehen zu erregen. Fiel die Dose hier nicht gerade auf das Deck eines solchen Schiffes, so hatte sie die gegründete Aussicht, auf Nimmerwiedersehen in der Tiefe zu versinken.

Onkel Prudent und Phil Evans sahen sich also genöthigt, einen günstigeren Augenblick abzuwarten. Da sollte sich ihnen, wie wir sehen werden, bald eine besonders geeignete Gelegenheit darbieten.

Gegen zehn Uhr Abends erreichte der »Albatros« die Küste Frankreichs, nahezu in der Höhe von Dunkerque. Die Nacht war ziemlich dunkel. Einen Augenblick konnte man den Leuchtthurm von Gris-Nez seine elektrischen Lichtstrahlen mit denen von Dover kreuzen sehen, die also den Canal in seiner ganzen Breite erhellten. Dann steuerte der »Albatros« über Frankreich hin und hielt sich dabei in einer mittleren Höhe von etwa tausend Metern.

Seine Geschwindigkeit hatte sich freilich nicht geändert. Wie eine Bombe flog er über Städte, Schlösser und Dörfer hinweg, die so zahlreich in den fruchtbaren Provinzen des nördlichen Frankreichs zerstreut liegen. Es waren das unter dem Meridiane von Paris nach Dunkerque, Doullons, Amiens, Creil, St. Denis … Immer hielt jener dabei eine gerade Linie ein. So gelangte er gegen Mitternacht über die »Stadt des Lichts«, welche diesen Namen wenigstens verdient, wenn ihre Einwohner schlafen oder doch schlafen sollten.

Welch‘ sonderbare Laune veranlaßte nun den Ingenieur gerade über der Stadt Paris einmal anzuhalten? Niemand weiß es. Jedenfalls aber senkte sich hier der »Albatros« so weit, daß er nur wenige hundert Fuß über derselben schwebte. Robur trat aus seiner Cabine hervor und auch die ganze Mannschaft erschien, um lustwandelnd einmal frische Luft zu schöpfen, auf dem Verdeck.

Onkel Prudent und Phil Evans achteten wohl darauf, die sich jetzt bietende ausgezeichnete Gelegenheit nicht vorüber gehen zu lassen. Beide suchten sich, sobald sie aus ihrem Ruff getreten waren, von den Anderen entfernt zu halten, um den rechten Augenblick zur Ausführung ihres Vorhabens auswählen zu können. Auf keinen Fall sollten die Anderen etwas davon merken.

Einem gigantischen Käfer ähnlich zog der »Albatros« so langsam über die Stadt hin. Er überschritt die Linie der Boulevards, welche durch Edison’sche Lampen in hellem Tageslichte lagen. Das Geräusch der Wagen, welche noch durch die Straßen jagten, und das Rollen der Züge auf den vielen, in Paris zusammentreffenden Bahnlinien drang bis zu ihm hinauf.

Dann glitt er in der Höhe der höchsten Bauwerke hin, als hätte er die Kugel vom Pantheon oder das Kreuz vom Invalidendom abstreifen wollen. Er steuerte zwischen den beiden Minarets des Trocadero hindurch nach dem eisernen Thurm des Marsfeldes, dessen ungeheurer Reflector die ganze Hauptstadt mit elektrischem Lichte überströmte.

Diese Luftpromenade, dieses Flaniren in der Nacht, währte etwa eine Stunde. Es glich einer Station in den Lüften vor Fortsetzung der endlosen Reise.

Der Ingenieur Robur wollte dabei den Parisern offenbar den Anblick eines Meteors bereiten, das ihre Astronomen noch niemals gesehen oder nur geahnt hatten. Die Signallichter des »Albatros« wurden in Function gesetzt. Zwei glänzende Strahlenbündel ergossen sich über die Plätze, die Häuservierecke, Gärten und die sechzigtausend Häuser der Stadt, indem sie ungeheure Lichtmassen von einem Horizont zum anderen schweifen ließen.

Gewiß – diesmal war der »Albatros« gesehen worden, und nicht allein gesehen, sondern auch gehört worden, denn Tom Turner hatte die Trompete hervorgeholt und eine schmetternde Fanfare über die Stadt hin ertönen lassen. In diesem Augenblick beugte sich Onkel Prudent ein wenig über die Reeling, öffnete die Hand und ließ die Dose fallen.

Fast gleichzeitig erhob sich der »Albatros« wieder sehr schnell.

Da schallte durch die Höhe des Pariser Himmels ein vieltausendfältiges Hurrah aus der Menge, das sich über die Boulevards fortpflanzte – ein Hurrah der Verwunderung über das unvorhergesehene, phantastische Meteor.

Plötzlich erloschen die Lichtquellen des Aeronefs und rund um ihn wurde es wieder dunkel und still; darauf nahm er seine Fahrt mit der Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Stunde wieder auf.

Das war Alles gewesen, was seine Insassen von der Hauptstadt Frankreichs hatten sehen sollen.

Um vier Uhr Morgens hatte der »Albatros« das ganze Land schon überflogen. Um keine Zeit mit der Ueberschreitung der Pyrenäen oder der Alpen zu verlieren, glitt er jetzt an der Oberfläche der Provence bis zur Spitze des Cap d’Antibes hin.

Um neun Uhr blieben die auf der Terrasse des St. Peters-Domes versammelten Römer verblüfft stehen, als sie ihn über die Ewige Stadt hinwegschweben sahen. Zwei Stunden später schwankte er hoch über dem Golf von Neapel, einen Augenblick in der Rauchsäule des Vesuvs. Nachdem er dann das Mittelmeer in schräger Richtung überschritten, wurde er in der ersten Nachmittagsstunde von den Wachtposten in La Golette an der tunesischen Küste beobachtet.

Von Amerika über Asien! Von Asien über Europa! Mehr als dreißigtausend Kilometer hatte der wunderbare Apparat in weniger als dreiundzwanzig Tagen zurückgelegt.

Und jetzt zog er majestätisch über die bekannten und unbekannten Landmassen Afrikas dahin!

*

Vielleicht wünscht der Leser zu erfahren, was nach dem Herabfallen aus der berühmten Schnupftabaksdose geworden war?

Die Dose war in der Rivoli-Straße vor dem Hause Nummer 210 zu einer Zeit niedergefallen, wo diese Straße gerade ziemlich leer war. Am folgenden Morgen wurde sie von einer ehrlichen Straßenkehrerin aufgefunden, welche sich beeilte, dieselbe auf der Polizei-Präfectur abzuliefern.

Hier hielt man sie zuerst für einen explodirenden Körper und wickelte sie mit derselben allergrößten Vorsicht auf, wie sie zuletzt geöffnet wurde.

Da trat wirklich eine Art Explosion ein … Ein furchtbares Niesen, dessen sich der Sicherheitschef nicht zu erwehren vermochte.

Dann zog man das Schriftstück aus der Dose und las zum allgemeinen Erstaunen wie folgt:

»Onkel Prudent und Phil Evans, Vorsitzender und Schriftführer des Weldon-Instituts zu Philadelphia, entführt durch den Aeronef des Ingenieur Robur.

Freunden und Bekannten davon Nachricht zu geben.

Onkel Prudent und Phil Evans.«

Hiermit war die unerklärliche Erscheinung den Bewohnern beider Welten endlich erklärt, und die vielen Gelehrten an den Observatorien, welche es auf der Erde giebt, gewannen die längst verlorene Ruhe endlich wieder.

XII.

XII.

In dem der Ingenieur Robur handelt, als ob er sich um einen der Monthyon-Preise bewerben wollte.

Bei dieser Erdumkreisung des »Albatros« drängen sich wohl von selbst ganz verschiedene Fragen auf; zum Beispiel:

Wer ist überhaupt dieser Robur, von dem bisher nichts als der Name bekannt ist? Verbringt er sein Leben ganz in der Luft? Ruht sein Aeronef niemals aus? Hat er nicht vielleicht eine Zuflucht an unzugänglichem Orte, an dem er selbst wenn er der Ruhe nicht bedürfte, sich wenigstens mit neuen Vorräthen versorgt? Es wäre doch merkwürdig, wenn das nicht so sein sollte. Auch die mächtigsten Segler der Lüfte haben ja irgendwo einen Horst oder ein Nest.

Und weiter: Was gedenkt der Ingenieur mit den beiden, ihn doch nur belästigenden Gefangenen zu beginnen? Beabsichtigt er sie in seiner Gewalt zu behalten und für ewig zu verdammen, mit ihm umherzufliegen? Oder wird er ihnen, nachdem er sie über Afrika, Südamerika, Austral-Asien, den Indischen, den Atlantischen und den Stillen Ocean hinweggeführt, um sie wider Willen zu seinen Anschauungen zu überzeugen, die Freiheit wieder schenken, etwa mit den Worten:

»Jetzt, meine Herren, hoffe ich, werden Sie sich bezüglich des Grundsatzes: »Schwerer, als die Luft«, nicht mehr so ungläubig zeigen!–?«

Auf diese Fragen läßt sich vorläufig noch keine Antwort geben; dies ist ein Geheimniß der Zukunft; vielleicht wird dasselbe eines Tages entschleiert werden.

Auf keinen Fall schickte der Vogel Robur sich aber an, jenes angedeutete Nest an der Nordküste Afrikas aufzusuchen. Im Laufe des Tages strich er noch, je nach Laune, bald dahinrasend, bald langsamer schwebend, vom Cap Bon bis zum Cap Carthago über die Regentschaft Tunis hin. Darauf wandte er sich mehr dem Landesinneren zu und schlug den Weg durch das wundervolle Thal der Medjerda ein, indem er dem gelblichen, unter Cactus und Rosenbüschen verborgenen Wasserlauf derselben folgte. Zu vielen Hunderten flogen Vögel auf, die in langen Reihen auf den Telegraphendrähten saßen, als wollten sie die Depeschen beim Durchgang abfangen und auf ihren Flügeln weiter tragen.

Mit Einbruch der Nacht schwebte der »Albatros« über den Grenzen von Krumirien, und wenn noch ein Krumir wach war, so unterließ er es gewiß nicht, das Gesicht auf die Erde niederzuwerfen und Allah bei der Erscheinung dieses riesenhaften Adlers um Schutz und Hilfe anzuflehen.

Am folgenden Morgen waren Bona und die schönen Hügel seiner Umgebung in Sicht, später Philippeville, jetzt ein kleines Algier, mit seinen bogenförmigen Quais, seinen herrlichen Weingärten, deren grünende Reben der ganzen Landschaft ihren Charakter verleihen, einer Landschaft, welche aus Bordelais und den gesegneten Gebieten von Burgund herausgeschnitten zu sein scheint.

Diese Spazierfahrt von fünfhundert Kilometern über Groß- und Klein-Kabylien hinweg endigte gegen Mittag in der Höhe der Kasbah von Algier. Welch‘ schönes Bild bot sich da den Passagieren des Aeronefs! Die offene Rhede zwischen Cap Matifu und der Pescade-Spitze, das mit Palästen, Maravuts und Landhäusern besäete Uferland; die launenhaft gewundenen Thäler mit ihrem Mantel von Weinstocken; das tiefblaue Mittelmeer, das die hier kleinen Booten gleichenden transatlantischen Dampfer durchfurchen. So ging es weiter bis zu dem malerischen Oran, dessen in den Gartenanlagen der Citadelle versammelte Bewohner den »Albatros« mit den ersten aufleuchtenden Sternen verschmelzen sahen.

Wenn Onkel Prudent und Phil Evans sich fragten, welcher Laune der Ingenieur Robur nachgebe, als er ihr fliegendes Gefängniß über Algerien – die Fortsetzung Frankreichs an der Südküste des Mittelmeeres – hinführte, so mußten sie die Ueberzeugung gewinnen, daß diese Laune zwei Stunden nach Sonnenuntergang befriedigt sei. Eine Wendung des Steuerruders lenkte den »Albatros« nach Südosten ab, und dieser sah am folgenden Tage, nachdem er die bergige Gegend des Tell überstiegen, die Sonne über dem Wüstensande der Sahara aufgehen.

Am 8. Juli wurde nun folgende Reiseroute zurückgelegt: Zuerst erblickte man den kleinen Flecken Géryville, der, wie Laghuat, an der Grenze der Wüste gegründet wurde, um die endliche Eroberung von Kabylien zu erleichtern; nachher passirte man den Kamm von Stillen, und zwar bei dem herrschenden heftigen Gegenwinde nicht ohne Schwierigkeit. Weiter ging es über die Wüste hin, bald langsam oberhalb der grünenden Oasen oder Ksars, bald mit wilder Schnelligkeit, welche den Flug der Lämmergeier überholte. Manchmal mußte sogar auf diese gewaltigen Raubvögel Feuer gegeben werden, die sich, zu zwölf und fünfzehn vereinigt, selbst nicht scheuten, zum größten Schrecken Frycollins sich auf den Aeronef zu stürzen.

Wenn diese Lämmergeier nur durch furchtbares Geschrei, durch Schnabelhiebe und Krallenschläge zu antworten vermochten, so verschonten die nicht minder wilden Eingeborenen ihn nicht mit Flintenschüssen, vorzüglich als er über die Berge von Sel gekommen war, deren grüne und violette Grundmasse da und dort durch den weißen Mantel blickte. Jetzt schwebte das Luftschiff schon über der großen Sahara, wo an verschiedenen Stellen noch Reste der Lagerstätten Abd-el-Kader’s zu bemerken waren. Hier – und vorzüglich unter den Verbündeten Beni-Myal – bietet das Land für den europäischen Reisenden noch immer ernste Gefahren.

Jetzt mußte der »Albatros« wieder in höhere Zonen flüchten, um einem daherrasenden Samum zu entgehen, der eine gewaltige Welle röthlichen Sandes auf der Erde vor sich hintrieb, wie die steigende Fluth die Brandungswelle im Ocean. Weiterhin entluden die öden Hochplateaus der Chebka ihre schwärzlichen Lavamassen bis herunter zu dem frischen, grünen Thale des Ain-Massin. Schwerlich vermöchte sich Jemand größere Mannigfaltigkeit der Landschaften vorzustellen, welche der Blick hier in weitem Umfange umfaßte. Auf baum- und buschbedeckte Hügel folgten da lange graue Bodenwellen, gleich den Falten eines arabischen Burnus. In der Ferne erschienen »Oueds« mit brausenden Bergströmen, Wälder von Palmen, kleine Ansammlungen von Hütten, welche entweder einen Hügel krönten oder eine Moschee umrahmten, unter anderen Metliti, wo ein religiöser Häuptling, der große Marabut Sidi Scheik, seinen Sitz hat.

Während der Nacht wurden mehrere hundert Kilometer über ein ziemlich ebenes, nur von Dünen unterbrochenes Gebiet zurückgelegt. Hätte der »Albatros« hier Halt machen wollen, so würde er in der Niederung der unter einem ungeheuren Palmenwald versteckten Oase Uargla die Erde erreicht haben. Sehr deutlich zeigte sich die Stadt mit ihren drei bestimmt unterschiedenen Quartieren, mit dem alten Palast des Sultans, einer Art befestigter Kasbah, ihren Häusern aus Backsteinen, welche erst die glühende Sonne hart brennt, und mit ihren im Thale erbohrten artesischen Brunnen, an denen der Aeronef seinen Wasservorrath hätte erneuern können. Dank seiner außerordentlichen Schnelligkeit aber füllte das im Thale von Kaschmir aus dem Hydaspis geschöpfte Wasser noch immer die Vorrathstonnen, selbst in den Wüsten von Afrika, an.

Der »Albatros« wurde von den Arabern, den Mozabiten und den Negern, welche sich in die Oasen von Uargla theilen, unzweifelhaft bemerkt, denn es begrüßten ihn von hier aus Hunderte von Gewehrschüssen, ohne daß die Kugeln ihn hätten erreichen können.

Dann kam die Nacht, die grabesstille Wüstennacht, deren Geheimnisse Felicien David so hochpoetisch geschildert hat.

Während der folgenden Stunden kehrte man wieder nach Südwesten zurück und kreuzte die Straßen von El Golea, deren eine im Jahre 1859 durch den unerschrockenen Duveyrier entdeckt worden war.

Rings herrschte tiefe Finsterniß. Nichts war zu sehen von der nach den Plänen Duponchel’s zu erbauenden Sahara-Bahn, dem langen Eisenbande, das Algier mit Timbuctu über Leghuat und Gardaia verknüpfen und später bis zum Golf von Guinea fortgesetzt werden soll.

Der »Albatros« gelangte nun in die äquatorialen Gebiete jenseits des Wendekreises des Krebses. Tausend Kilometer von der Nordgrenze der Sahara überschritt er die Straße, wo der Major Loiny 1846 den Tod fand; er kreuzte den Weg der Caravane von Marokko nach dem Sudan, und über dem Theile der Wüste, in dem die Tuarys hausen, hörte er, was man den »Gesang des Sandes« zu nennen pflegt, ein sanftes, klagendes Murmeln, das dem Erdboden zu entsteigen scheint.

Nur ein einziger Zwischenfall ereignete sich hier; eine Wolke von Heuschrecken zog in großer Höhe daher und aus derselben fiel nun eine so große Menge an Bord, daß das Luftschiff davon unterzugehen drohte. Die Mannschaft beeilte sich jedoch, die unerwünschte Last wieder abzuwerfen, bis auf mehrere hundert Stück, welche François Tapage für sich in Anspruch nahm. Er richtete dieselben auf so ausgezeichnet schmackhafte Weise zu, daß Frycollin darüber sogar einmal seine eigene Angst vergaß.

»Das schmeckt so gut, wie die besten Krabben!« sagte er.

Man befand sich jetzt tausendachthundert Kilometer von der Oase Uargla entfernt, fast auf der Nordgrenze des ungeheuren Königreichs Sudan.

Gegen zwei Uhr Nachmittags wurde auch am Knie eines großen Stromes eine Stadt sichtbar. Dieser Strom war der Niger – die Stadt war Timbuctu.

Wenn dieses afrikanische Mekka bisher nur von kühnen Reisenden der Alten Welt, von einem Batouta, Khazan, Imbert, Mungo-Park, Adams, Loiny, Laillé, Barth, Lenz und Anderen besucht worden war, so konnten von heute ab, und zwar Dank den Zufälligkeiten eines Abenteuers ohne Gleichen, auch zwei Amerikaner »de visu«, »de auditu« und obendrein »de olfactu« davon bei ihrer Heimkehr nach Amerika reden – wenn sie überhaupt einmal dahin zurückgelangten.

»De visu«, weil sie alle Ecken des fünf bis sechs Kilometer großen Dreiecks, das die Stadt bildet, übersehen konnten; – »de auditu«, weil an diesem Tage großer Markt abgehalten wurde, bei dem es ohne einen Heidenlärmen nicht abgeht; – »de olfactu«, weil der Geruchsnerv sehr unangenehm erregt werden mußte durch die Dünste des Yubu-Kamo-Platzes, auf dem sich dicht neben dem alten Palaste der Könige die Fleischverkaufshalle erhebt.

Jedenfalls glaubte der Ingenieur den Vorsitzenden und den Schriftführer des Weldon-Instituts darauf aufmerksam machen zu sollen, daß es die höchste Zeit sei, sich die Königin des Sudans zu betrachten, die sich jetzt in den Händen der Touaregs von Laganet befindet.

»Timbuctu, meine Herren!« sagte er zu ihnen in demselben Tone, in dem er zwölf Tage früher zu ihnen »Indien, meine Herren!« gesagt hatte.

Dann fuhr er fort:

»Timbuctu, unter 18 Grad nördlicher Breite und 5 Grad 56 Minuten westlicher Länge von Paris, zweihundertfünfundvierzig Meter über dem mittleren Niveau des Meeres gelegen. Eine bedeutende Stadt von zwölf- bis dreizehntausend Einwohnern, die sich ehedem durch Kunst und Wissenschaft auszeichnete. – Vielleicht hätten Sie den Wunsch, hier einige Tage Halt zu machen?«

Ein solches Angebot des Ingenieurs konnte nur ironisch gemeint sein.

»Indeß, fuhr er fort, es möchte für Fremde einigermaßen gefährlich werden, inmitten von Negern, Berbern, Fullahs und Arabern, welche hier wohnen, vorzüglich wenn wir bedenken, daß die Ankunft des Aeronefs ihr Mißfallen erregt haben dürfte.

– Mein Herr, erwiderte Phil Evans in derselben Tonart, für das Vergnügen, Sie verlassen zu können, würden wir gern die Gefahr auf uns nehmen, von den Eingeborenen hier übel empfangen zu werden. Ein Kerker ist so gut wie der andere, aber Timbuctu immer noch besser, als der »Albatros«.

– Das sind Geschmackssachen, versetzte der Ingenieur. Auf keinen Fall möchte ich das Abenteuer wagen, denn ich bin verantwortlich für die Sicherheit der Gäste, welche mir die Ehre anthun, mit mir zu reisen …

– Sie begnügen sich also nicht mehr, Ingenieur Robur, platzte jetzt Onkel Prudent, dem die Galle überlief, heraus, mit der Rolle unseres Kerkermeisters – nein, Sie müssen uns auch noch beleidigen?

– O, das war höchstens eine erlaubte Ironie!

– Giebt es denn keine Waffen an Bord?

– Gewiß, ein ganzes Arsenal.

– Zwei Revolver würden genügen, wenn ich den einen nehme und Sie, mein Herr, den anderen.

– Ein Duell, rief Robur, ein Duell, das Einem von uns das Leben kosten könnte!

– Nein, ihm gewiß kosten würde!

– Nein, nein, mein Herr Präsident des Weldon-Instituts, ich ziehe es vor, Sie am Leben zu erhalten.

– Um sicherer zu sein, daß Sie selbst leben bleiben. Das ist sehr klug.

– Klug oder nicht, mir paßt es eben. Es steht Ihnen völlig frei, darüber anders zu denken und Klage zu erheben, wenn Sie es können.

– Das ist schon geschehen, Ingenieur Robur!

– Wirklich?

– War es denn bei unserer Fahrt über die bewohnten Gegenden Europas so schwierig, ein Schriftstück hinunterfallen zu lassen …

– Das hätten Sie gethan? unterbrach ihn Robur, in dem der Zorn hell aufloderte.

– Und wenn wir es gethan hätten?

– Wenn Sie es gethan hätten, verdienten Sie …

– Was denn, mein Herr Ingenieur?

– Daß man Sie Ihrem Schreiben über Bord nachfliegen ließe!

– So werfen Sie uns über Bord … Wir haben es gethan!« rief Onkel Prudent.

Robur trat auf die beiden Collegen zu. Auf ein Zeichen von ihm waren Tom Turner und einige seiner Kameraden herzugelaufen. Ja, der Ingenieur hatte verzweifelte Lust, seine Drohung zur Ausführung zu bringen, und ohne Zweifel zog er sich nur aus Besorgniß, ihr nicht widerstehen zu können, plötzlich in seine Cabine zurück.

»Sehr schön! sagte Phil Evans.

– Und was er zu thun nicht wagte, erklärte Onkel Prudent, das werde ich wagen, ich, ja, ich werde es thun!«

In diesem Augenblick liefen die Bewohner von Timbuctu auf den Plätzen und Straßen der Stadt zusammen und sammelten sich auf den Terrassen der amphitheatralisch erbauten Häuser.

In den reichen Vierteln von Sankore und Sarahama, wie in den elenden kugelförmigen Hütten des Quartiers Raguidi donnerten die Priester von den Spitzen der Minarets die schlimmsten Flüche und Verwünschungen gegen das Ungeheuer in der Luft. Das war indeß unschädlicher, als Flintenkugeln.

Und auch bis zum Hafen von Kabara an der scharfen Biegung des Niger war Alles, was sich auf Schiffen und Booten befand, in lebhafterer Bewegung. Wenn der »Albatros« hier zur Erde niedergegangen wäre, die Leute hätten ihn in Stücke gerissen.

Während einiger Stunden folgten ihm schreiend und an Schnelligkeit wetteifernd lärmende Schaaren von Störchen, Haselhühnern und Ibissen; sein rascher Flug hatte dieselben aber bald hinter sich zurückgelassen.

Gegen Abend ertönte ein dumpfes Grollen und Murren von zahlreichen Elephanten und Büffelheerden, welche in diesen, durch ganz besondere Fruchtbarkeit ausgezeichneten Gebieten umherirrten.

Während vierundzwanzig Stunden entrollte sich die ganze zwischen dem Meridian 0 und dem 2. Grade der Länge zwischen dem Knie des Stromes gelegene Gegend unter dem »Albatros« gleich einem Wandelpanorama.

Ja, wenn ein Geograph einen solchen Apparat zur Verfügung gehabt hätte, wie leicht wäre es ihm dann nicht gewesen, eine topographische Aufnahme des Landes auszuführen, die höchsten Punkte zu messen, den Lauf der Ströme und ihrer Nebenflüsse zu bestimmen und die Lage der Städte und Dörfer festzusetzen. Dann gäbe es in den Karten von Inner-Afrika nicht mehr so viel leere Stellen, so viel nur mit blassen Farben markirte Länder – und keine punktirte Linien und unsichere Abgrenzungen mehr, welche die Kartographen zur Verzweiflung bringen.

Am Morgen des 11. überschritt der »Albatros« die Berge des nördlichen Guinea zwischen dem Sudan und dem Golf, der dessen Namen trägt. Am Horizont erhoben sich schon in undeutlicher Linie die Kong-Berge des Königreichs Dahomey.

Seit der Abfahrt von Timbuctu hatten Onkel Prudent und Phil Evans beobachten können, daß sie stets die Richtung von Norden nach Süden eingehalten hatten. Sie schlossen daraus, daß sie, wenn hierin keine Aenderung eintrat, sechs Grade weiter die Aequinoctiallinie erreichen mußten. Sollte der »Albatros« sich wirklich vom Festland ganz wegwenden und hinaus, nicht auf das Behring-Meer, den Caspis-See, die Nordsee und das Mittelmeer, sondern auf den Atlantischen Ocean wagen wollen?

Diese Aussicht war für die beiden Collegen, welche damit jede Gelegenheit, zu entfliehen, verloren, freilich keine besonders angenehme.

Der »Albatros« bewegte sich jetzt jedoch nur langsam vorwärts, als zögere er noch, das afrikanische Gebiet zu verlassen. Der Ingenieur dachte indeß keineswegs an eine Umkehr, nur fesselte das Land, über welches sie kamen, seine Aufmerksamkeit im höchsten Grade.

Es ist allgemein und war ihm nicht minder bekannt, daß das Königreich Dahomey an der Westküste Afrikas eines der mächtigsten ist. Stark genug, um sich mit dem benachbarten Reiche der Aschantis im Kampfe messen zu können, sind seine Grenzen doch sehr beschränkt, denn es mißt nur fünfundzwanzig (englische) Meilen von Nord nach Süd und gegen sechzig Meilen von Ost nach West; seine Einwohnerzahl beläuft sich jedoch auf 7-800.000 Seelen, seitdem es die bisher unabhängigen Gebiete von Ardrah und Wydoch annectirt hat.

Wenn dieses Königreich Dahomey also auch nicht groß ist, so hat es doch recht oft von sich reden gemacht. Es wurde zeitig berühmt durch die entsetzlichen Grausamkeiten, welche daselbst beim Jahreswechsel begangen werden, durch die Menschenopfer, die furchtbaren Hekatomben, welche gewöhnlich dem verstorbenen und dem seine Stelle ersetzenden Könige dargebracht werden. Ja, es gehört so zu sagen zum guten Ton, daß der König von Dahomey, wenn er den Besuch einer hohen Person oder etwa eines Gesandten erhält, diesem zu Ehren einem Dutzend Gefangenen die Köpfe abschlagen läßt – abschlagen durch seinen Minister der Justiz, den »Minghan«, der sich seiner Aufgabe als Henker vortrefflich entledigt.

Zur Zeit, als der »Albatros« die Grenze von Dahomey überschritt, war eben der König Lahadu verstorben und die ganze Bevölkerung schritt zur Feier der Thronbesteigung seines Nachfolgers. Daher herrschte im ganzen Lande eine große Aufregung und Bewegung, welche Robur nicht hatte entgehen können.

Lange Züge von Landbewohnern Dahomeys drängten sich nach Abomey, der Hauptstadt des Reiches, hin. Ueberall zeigte das Land wohlunterhaltene Straßen, welche durch weite, mit sehr hohem Grase bewachsene Ebenen verlaufen. Ungeheure Maniocfelder, Wälder voll herrlicher Palmen, Cocosnußbäume, Mimosen, Orangen- und Mangobäume, deren Düfte bis zum »Albatros« hinaufstiegen, während Tausende von Papageien und Cardinälen aus dem dunklen Grün aufflatterten.

Ueber die Reeling gebeugt und in Gedanken versunken, wechselte der Ingenieur nur wenige Worte mit Tom Turner.

Es schien übrigens nicht, als ob der »Albatros« von vornherein die Aufmerksamkeit der sich fortbewegenden Menschenmasse erweckte, welche auch selbst unter den dichten Baumkronen meist nicht sichtbar war. Hauptsächlich kam das jedoch wohl daher, daß er sich in großer Höhe und zwischen leichten Wolken hielt.

Gegen elf Uhr Vormittags erschien die Stadt mit ihrem Mauergürtel, den noch ein zwölf Meilen im Umfang messender Graben vertheidigt, mit ihren breiten, regelmäßigen, sehr eben verlaufenden Straßen und dem großen Platz, den der Palast des Königs einnimmt. Alle die vielen Baulichkeiten überragt noch eine Terrasse, nicht weit vom gewöhnlichen Opferplatz. Während der größten Feste werden dem Volke von der Höhe derselben aus die in Weidenkörben angebundenen Gefangenen zugeworfen, und man kann sich schwer eine Vorstellung von der Wuth machen, mit welcher diese Unglücklichen in Stücke gerissen werden.

In einem Theile der Höfe, welche den Palast des Herrschers umschließen, sind viertausend Krieger einquartirt, eine der Abtheilungen der königlichen Armee, und natürlich nicht die schlechteste.

Wenn es auch zweifelhaft ist, daß es jemals Amazonen auf dem Strome dieses Namens gegeben habe, so liegt das in Dahomey anders. Die Einen tragen hier ein blaues Hemd, roth und blaue Schärpe, weiße, blaugestreifte Beinkleider, weiße kurze Beinkleider darüber und die Patronentasche im Gürtel; die Anderen, die Elephanten-Jägerinnen, sind bewaffnet mit einer plumpen Flinte, einem Dolch mit kurzer Klinge, und auf dem Kopfe tragen sie zwei mit einem Eisenringe befestigte Antilopenhörner; die Artilleristen haben einen halb rothen und halb blauen Ueberwurf und als Waffe die Donnerbüchse mit alten gußeisernen Rohren, noch Andere endlich, ein Bataillon junger Mädchen, trägt eine Art blauer Mäntel mit kurzem weißen Beinkleid; das sind wirkliche Vestalinnen, keusch wie Diana und wie diese mit Pfeilen und Bogen ausgerüstet.

Rechnet man zu diesen Amazonen noch fünf- bis sechstausend Mann in Baumwollhemden und mit einem Gürtel um die Taille, so hat man die ganze Armee von Dahomey Revue passiren lassen.

Abomey selbst war an diesem Tage völlig menschenleer, der König, das ganze Personal, die männliche wie die weibliche Armee, sowie die Einwohner, Alle hatten die Hauptstadt verlassen, um einige Meilen entfernt auf einem großen, von prächtigem Baumschlag eingerahmten Platze zusammenzuströmen.

Es war das die Ebene, auf der die Huldigung des neuen Königs stattfinden sollte, und hier harrten Tausende, bei Gelegenheit der letzten Razzias eingebrachte Gefangene zur Ehre desselben ihres letzten Augenblicks.

Gegen zwei Uhr Nachmittags begann der jetzt über derselben Ebene schwebende »Albatros« aus einer leichten Dunstschicht, die ihn bisher den Augen der Bevölkerung von Dahomey verhüllt hatte, etwas mehr niederzusinken.

Hier befanden sich jetzt wohl gegen sechzigtausend Menschen, die aus allen Gegenden des Reiches, aus Midah, Karapay, Ardrah, Tombory und aus allen Städten und Dörfern gekommen waren.

Der neue König – ein kräftiger Kerl, Namens Bu-Stadi und fünfundzwanzig Jahre alt – thronte auf einer kleinen Anhöhe, welche eine Gruppe von Bäumen mit langen Aesten beschattete. Vor ihm drängte sich der neue Hofstaat, seine männliche Armee, seine Amazonen und das ganze Volk hin und her.

Am Fuße dieses Erdhügels spielten etwa fünfzig Musiker auf ihren barbarischen Instrumenten, bliesen auf Elephantenzähnen, die einen rauhen Ton gaben, wirbelten auf großen, mit einer Hirschkuhhaut bespannten Trommeln, oder hatten Flaschenkürbisse, Guitarren, Glocken, die mit einem Eisenstabe angeschlagen wurden, und Flöten aus Bambusrohr, deren scharfer Klang das ganze Orchester übertönte. Jeden Augenblick krachten die Flinten, Donnerbüchsen und zuweilen die alten Kanonen, deren Lafetten dabei zurücksprangen, daß die Artilleristen in Lebensgefahr kamen; dazu herrschte ein solcher Heidenlärm und so wüstes Geschrei, daß man kaum einen Donnerschlag hätte hören können.

In einer Ecke der freien Ebene standen, von Soldaten überwacht, die Gefangenen, welche dem verstorbenen Könige das Geleit in die andere Welt geben sollten, denn durch sein Ableben darf ein solcher noch keine Einbuße an seiner hohen Würde erleiden. Bei der Leichenfeier Ghozo’s, des Vaters Bahadu’s, hatte dessen Sohn ihm dreitausend Diener mitgegeben. Bu-Stadi konnte seinem Vorgänger hierin doch nicht nachstehen. Der Todte brauchte ja eine Menge Sendboten, nicht allein, um die Geister seiner Ahnen herbeizurufen, sondern auch, um alle Bewohner des Himmels zu versammeln, welche das Gefolge des verewigten Königs bilden sollten.

Eine Stunde verging mit Gesprächen, Vorträgen und Ansprachen, unterbrochen von Tänzen, welche nicht allein die eigentlichen Bajaderen aufführten, sondern auch die Amazonen, die dabei viel kriegerische Grazie entwickelten.

Inzwischen kam die Zeit zur Hinrichtung heran. Robur, der die blutigen Gewohnheiten von Dahomey schon kannte, verlor die gefangenen Männer, Frauen und Kinder, welche abgeschlachtet werden sollten, niemals aus dem Auge.

Der Minghan verweilte am Fuße des Erdhügels. Er schwang das Richtschwert mit gebogener Klinge, auf der auch noch ein metallener Vogel saß, dessen Gewicht ihm noch mehr Schwung verlieh. Dieses Mal war er nicht allein; er wäre mit der Arbeit auch nicht fertig geworden. In seiner Umgebung befanden sich noch hundert Scharfrichter, die alle eingeübt waren, einen Kopf mit einem einzigen Hieb vom Rumpfe zu lösen.

Inzwischen näherte sich der »Albatros« allmählich in schräger Richtung und ließ seine Auftriebs- und Treibschrauben mit verminderter Geschwindigkeit spielen. Bald trat er aus der Wolkenschicht hervor, die ihn bis wenigstens hundert Meter von der Erde verhüllt hatte, und wurde jetzt zum ersten Male sichtbar.

Ganz entgegen den gewöhnlichen Erfahrungen sahen die wilden Eingeborenen in ihm nur ein himmlisches Wesen, das ganz allein zu dem Zwecke herabgestiegen sei, dem Könige Bahadu zu huldigen.

Das gab einen Enthusiasmus ohne Gleichen, unendliche Zurufe, lautes Jubeln und allgemeine Gebete, gerichtet an diesen übernatürlichen Hippogryph, der ohne Zweifel jetzt kam, um den Körper des verstorbenen Königs in die Höhe des Dahomey’schen Himmels zu tragen.

Eben da fiel der erste Kopf unter dem Schwerte des Minghan; dann wurden hundert andere Gefangene ihren schrecklichen Henkern zugeführt.

Plötzlich krachte vom »Albatros« ein Schuß. Der Justizminister stürzte getroffen zur Erde.

»Gut gezielt, Tom! sagte Robur.

– Bah! … Es war ein Schuß mitten in den Haufen!« antwortete bescheiden der Obersteuermann.

Seine ebenfalls bewaffneten Kameraden standen bereit, auf das erste Zeichen des Ingenieurs Feuer zu geben.

Die Volksmenge hatte durch diesen Vorfall aber ihre Anschauungen schnell gewechselt; dieses geflügelte Ungeheuer war kein guter, sondern ein dem guten Volk von Dahomey feindlicher Geist. Nachdem der Minghan gefallen, erhob sich ein wildes Geheul. Gleichzeitig knatterten viele Gewehre, die nach dem »Albatros« gerichtet waren.

Diese Drohungen hinderten letzteren jedoch nicht, bis auf etwa hundertfünfzig Fuß über der Erde niederzusinken. Trotz ihrer dem Ingenieur Robur gewiß ungünstigen Stimmung konnten sich Onkel Prudent und Phil Evans doch nicht versagen, an diesem menschenfreundlichen Werke theilzunehmen.

»Ja, laßt uns die Gefangenen befreien! riefen sie.

– Das ist meine Absicht!« antwortete der Ingenieur.

Schon begannen die Repetirgewehre des »Albatros« in den Händen der beiden Collegen, wie in denen der Mannschaft, ein Schnellfeuer, von dem doch keine Kugel inmitten der großen Menschenmasse verloren ging. Und selbst das kleine Geschütz an Bord, das so tief als möglich herabgerichtet wurde, sandte einige Kartätschenladungen hinunter, welche wahre Wunder wirkten.

Sofort sprengten die Gefangenen, ohne etwas von der ihnen aus der Höhe gekommenen Hilfe zu begreifen, ihre Fesseln, während die Soldaten auf den Aeronef Feuer gaben. Die vordere Schraube wurde von einer Kugel durchlöchert, während einige andere an den Rumpf des Fahrzeuges schlugen. Frycollin, der sich im Hintergrunde seiner Cabine verkrochen hatte, wäre fast noch durch die Wand des Ruffs getroffen worden.

»Aha, sie haben Appetit auf etwas mehr!« rief Tom Turner.

Er begab sich nach der Munitionskammer und kehrte von dort mit einem Dutzend Dynamitpatronen zurück, die er an die Kameraden vertheilte. Auf ein Zeichen Robur’s wurden dieselben über den Hügel hinabgeworfen und durch das Aufschlagen auf den Erdboden zersprangen sie wie kleine Bomben.

Das gab aber eine wilde Flucht! Der König, der Hof, die Armee und das ganze Volk stürzte, von gewiß nicht ungerechtfertigter Furcht ergriffen, auf und davon! Alle suchten unter den Bäumen Schutz, während die Gefangenen entflohen und Niemand daran dachte, sie zu verfolgen.

So wurden die Festlichkeiten zu Ehren des neuen Königs von Dahomey unterbrochen. Auch Onkel Prudent und Phil Evans mußten zugestehen, über wie große Machtmittel dieser Apparat verfügte, und welchen hohen Nutzen er der Menschheit hätte gewähren können.

Der »Albatros« erhob sich darauf zu mittlerer Höhe; er glitt über Mydah hinweg und hatte bald diese ungastliche Küste, welche die Westwinde mit unnahbarer Brandung peitschten, aus dem Gesichte verloren.

Er schwebte nun über dem Atlantischen Weltmeere.