Fünftes Capitel

Fünftes Capitel

Nun sieh‘ Dich um

Michael Strogoff mußte mit gefesselten Händen vor dem Thron des Emirs am Fuße der Terrasse stehen bleiben.

Ueberwältigt von physischen und moralischen Schmerzen war seine Mutter endlich zusammengesunken und wagte weder etwas zu sehen noch zu hören.

»Sieh‘ mit allen Deinen Augen, sieh‘ Dich um!« hatte Feofar-Khan mit einer drohenden Handbewegung gegen Michael Strogoff gesagt.

Ohne Zweifel verstand Iwan Ogareff bei seiner Kenntniß der tartarischen Sitte den Sinn dieser Worte genügend, denn um seine Lippen spielte einen Augenblick lang ein wahrhaft teuflisches Lächeln. Dann hatte er neben Feofar-Khan Platz genommen.

Jetzt erklangen lustige Trompetenstöße, das Signal zum Beginn der Festspiele.

»Da kommt ja das Ballet, sagte Alcide Jolivet zu Harry Blount, diese Barbaren führen es aber entgegen unserer Sitte vor dem Drama auf, statt nachher.«

Michael Strogoff sollte sich Alles anschauen. Er that es. Eine Wolke von Tänzerinnen flog auf den Platz.

Eine fremdartige Musik ertönte von den verschiedensten tartarischen Instrumenten, der »Dutare«, einer langgebauten Mandoline aus dem Holze des Maulbeerbaumes, mit zwei in dem Intervall einer Quarte gestimmten Saiten aus fest gedrehter Seide; der »Kobiz«, eine Art offenes Violoncell, dessen Pferdehaarsaiten mittels eines Bogens in Schwingungen versetzt wurden; die »Tschibyzga«, eine lange Flöte aus Rosenholz; dazu Trompeten, Tambourins, Tamtams u. dgl., und das Alles begleitet von den Kehltönen zahlreicher Sänger. Hierzu kam noch das dann und wann hörbare, leise Erklingen eines besonderen Concertes in der Luft, das von einem Dutzend Papierdrachen herrührte, vor deren durchbrochenem Mitteltheile Saiten gespannt waren, welche von dem Winde gleich Aeolsharfen erklangen.

Sofort begann nun der Tanz.

Die Theilnehmerinnen waren Alle von persischer Abkunft, aber nicht etwa Sklavinnen, sondern trieben ihr Gewerbe freiwillig.

Früher fungirten sie officiell bei den Festen am Hofe zu Teheran, wurden aber seit der Thronbesteigung der jetzigen Herrscherfamilie entlassen und aus dem Reiche verbannt, so daß sie ihr Glück in andern Ländern suchen mußten. Sie trugen ihr von Schmuck aller Art überladenes Nationalcostüm. Kleine goldene Dreiecke mit langen Gehängen schaukelten an ihren Ohren, Spangen von Niellosilber zierten ihren Hals, um die Arme und Beine schlangen sich Bracelets mit einer doppelten Gemmenreihe, während an den Enden ihrer langen Flechten eine Art Rosette von Perlen, Türkisen und Karneolen erglänzte. Den Taillengürtel schloß eine Art Diamant-Agraffe, in der Form des Großkreuzes eines europäischen Ordens.

Diese Tänzerinnen führten ihre Spiele, bald einzeln, bald in Gruppen, mit vollendeter Grazie auf. Sie trugen das Gesicht unverhüllt, von Zeit zu Zeit aber zogen sie einen feinen Schleier vor das Antlitz, so daß es schien, als lege sich eine Wolke von Gaze über alle diese lächelnden Augen, wie eine zarte Wolke den sternbesäeten Himmel bedeckt. Einzelne dieser Perserinnen trugen ferner als Schärpe eine Art Wehrgehänge aus perlengesticktem Leder, an welchem mit der Spitze nach unten eine dreikantige Tasche hing, welche sie zu bestimmter Zeit öffneten. Aus diesen von Goldfiligran gewebten Taschen holten sie lange schmale Bänder von scharlachrother Farbe hervor, auf welche Sprüche aus dem Koran gestickt waren.

Sie spannten diese Bänder zwischen sich aus und bildeten so einen Ring, unter welchem andere Tänzerinnen hindurchschlüpften, und je nach dem Verse über ihnen sich entweder zur Erde warfen oder in leichten Sprüngen dahinflogen, so als wollten sie unter den Houris des Himmels Mohamed’s verschwinden.

Auffallend erschien bei diesen Bewegungen, und vorzüglich fühlte sich Alcide Jolivet dadurch betroffen, daß sich diese Perserinnen weit eher ruhig als wild zeigten. Es mangelte ihnen alles berauschende Feuer, und sie erinnerten ebenso durch die Art ihrer Tänze, wie durch deren Ausführung, weit mehr an die stillen, decenten Bajaderen Indiens, als etwa an die leidenschaftlichen Almes (Tänzerinnen) Egyptens.

Nach Schluß dieses ersten Schauspieles ließ sich neben Michael Strogoff eine ernste Stimme vernehmen:

»Sieh‘ mit allen Deinen Augen, sieh‘ Dich um!«

Der Mann, welcher diese Worte wiederholte, ein hochgewachsener Tartar, war der Vollstrecker der peinlichen Befehle Feofar-Khan’s. Er hatte hinter dem Verurteilten Platz genommen und hielt einen langen, gekrümmten Säbel in der Faust, eine jener Damascenerklingen, wie sie die berühmten Waffenschmiede von Karschi oder Hissar liefern.

An seiner Seite hatten einige Garden ein Kohlenbecken aufgestellt, in dem, ohne irgend welchen Rauch zu verbreiten, ein Haufen Kohlen glühte. Der leichte, empor steigende Dampf rührte nur von der Verbrennung einer harzigen, wohlriechenden Substanz, einer Mischung von Weihrauch und Bernstein, her, welche man zeitweilig darauf streute.

Auf die Perserinnen war inzwischen eine andere von ihren Vorgängerinnen sehr verschiedene Gruppe Tänzerinnen gefolgt, die Michael Strogoff sehr bald erkannte.

Die beiden Journalisten zweifelten offenbar keinen Augenblick, wen sie vor sich hätten, denn Harry Blount sagte zu seinem Collegen.

»Da, die Zigeunerinnen aus Nishny-Nowgorod!

– Wahrhaftig, bestätigte Alcide Jolivet; ich meine aber, im Dienste als Spioninnen werden ihnen die Augen wohl mehr Geld einbringen, als hier ihre Beine!«

Wenn Alcide Jolivet vermuthete, daß Jene im Solde des Emirs standen, so täuschte er sich, wie wir wissen, nicht. In den ersten Reihen der Zigeunerinnen sah man Sangarre in einem wunderlichen, aber prächtigen Anzuge, der ihre Schönheit vortheilhaft hervorhob.

Sangarre selbst tanzte nicht, sondern setzte sich, einer Herrscherin vergleichbar, in die Mitte ihrer Balleteusen, deren phantastische Pas Reminiscenzen an alle in Europa von ihnen durchzogene Länder, an Böhmen, Italien, Spanien, sowie auch an Egypten wach riefen.

Sie erregten sich gegenseitig durch den Lärmen der Cymbeln an ihren Armen, und durch das Schnarren der »Daïres«, eine Art baskischer Trommeln, welche sie mit den Fingern schlugen.

Sangarre hielt ebenfalls einen solchen Daïre in der Hand, durch dessen Schall sie diese Truppe wahrhaftiger Korybanten noch mehr anfeuerte.

Dann trat ein jünger Zigeuner von kaum fünfzehn Jahren vor. Er trug eine Dutare, deren Saiten er durch das Anschlagen mit den Nägeln eine leise Melodie entlockte. Er sang. Eine Tänzerin nahm neben ihm Platz und verhielt sich ruhig, so lange er einen Vers seines Liedes vortrug; nur wenn der Refrain desselben von den Lippen des jugendlichen Sängers erklang, sprang sie zum rasenden Tanze auf, schlug ihren Daïre und suchte Jenen durch das Getöse ihrer Schellentrommel zu übertönen.

Nach dem letzten Refrain umschwärmten die Zigeunerinnen alle den Sänger und verflochten ihn gleichsam in die verworrenen Falten ihres Tanzes.

Als Belohnung fiel ein Regen von Goldstücken aus den Händen des Emirs, seiner Verbündeten und denen der Officiere aller Grade nieder, und zu dem Klingen der Münzen, welche die Cymbeln der Tänzerinnen trafen, mischten sich noch die letzten Töne der Dutares und der Tambourins.

»Verschwenderisch, wie die Räuber gewöhnlich!« raunte Alcide Jolivet seinem Gefährten in’s Ohr.

Und es war auch wirklich gestohlenes Geld, welches hier niederfiel, denn mit den tartarischen Tomans und Sequies regnete es auch Ducaten und russische Rubelstücke.

Dann ward es einen Augenblick still, und die Stimme des Henkers, der seine Hand auf Michael Strogoff’s Schulter legte, sprach noch einmal die Worte, deren Wiederholung sie um so unheilvoller klingen ließ:

»Sieh‘ mit allen Deinen Augen, sieh‘ Dich um!«

Diesesmal bemerkte Alcide Jolivet aber, daß der Henker nicht mehr seinen blanken Säbel in der Hand hatte.

Indeß sank die Sonne langsam unter den Horizont. Ein sanftes Helldunkel verhüllte schon die entfernten Theile des Platzes. Der Cedern- und Pinienwald erschien schwärzer und die in der Ferne dunkel fluthenden Wellen des Tom verschwanden in dem Abendnebel. Die Stadt ruhte im Schatten, der auch bald das Plateau erreichen mußte.

Jetzt drangen plötzlich mehrere hundert Sklavinnen mit Fackeln in den Händen auf den Platz. Von Sangarre geführt, traten die Zigeunerinnen und Perserinnen wieder vor dem Throne des Emirs auf und suchten durch den Contrast gegen ihre früheren Tänze und Evolutionen noch mehr zu ergötzen. Alle musikalischen Instrumente des tartarischen Orchesters vereinigten sich zu wilderen Harmonien, begleitet von den rauhen Kehltönen der Sänger. Die Drachen, welche man vorher herabgezogen hatte, flogen, geschmückt mit einem ganzen Sternbild buntfarbiger Lampen, wieder auf, und ihre Saiten erklangen mitten in dieser Luftillumination heller und voller.

Dann schloß sich eine Escadron Tartaren in Kriegsuniform dem Tanze an, der an Wildheit allmälig zunahm, und bald begann eine Vorstellung, die den fremdartigsten Eindruck hervorbrachte.

Während des Springens und Tanzens erfüllten diese Soldaten mit blanken Waffen die Luft durch das Knallen ihrer langen Pistolen, das Knattern der Musketen, das sich mit dem rollenden Ton der Tambourins, dem Schnarren der Daïres und dem Knirschen der Doutaren mischte. Ihre Schießwaffen waren dabei, nach chinesischer Art, mit einem durch gewisse metallische Zusätze farbig abbrennenden Pulver geladen und sprühten lange rothe, grüne und blaue Feuerstrahlen in die Luft, so daß es schien, als wogten alle diese lebenden Gruppen in einem Meere von Feuer. Dieses Divertissement erinnerte gewissermaßen an die Cybistik (Springkünste) der Alten, eine Art militärischen Tanzes, bei dem die Theilnehmer sich mitten zwischen Säbel- und Dolchspitzen hindurchwanden, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Berichte davon sich bis auf die Völker Centralasiens fortgeerbt haben; diese tartarische Cybistik aber erschien noch weit märchenhafter durch die farbigen Flammen, welche über den Tänzerinnen loderten und die ganze Gruppe mit glitzernden Funken schmückten. Es war wie ein Kaleidoskop von Blitzen, das in seinen Zusammenstellungen mit jeder Bewegung der Tanzenden wechselte. So satt ein pariser Journalist auch gegenüber derartigen Vorstellungen sein mag, in denen es die moderne Bühnentechnik ja so weit gebracht hat, so konnte Alcide Jolivet doch eine leichte Bewegung mit dem Kopfe nicht unterlassen, die zwischen dem Boulevard Montmartre und La Madelaine etwa: »Nicht übel, nicht übel!« bedeutet hätte.

Plötzlich verloschen wie auf ein Signal alle Flammen dieses Feuermeeres, die Tänze hörten auf, die Tänzerinnen verschwanden. Die Ceremonie war vorbei und nur die Fackeln leuchteten noch auf dem Plateau, das vorher in tausend Lichtern erglänzte.

Auf ein Zeichen des Emirs ward Michael Strogoff mitten auf den Platz geführt.

»Blount, sagte Alcide Jolivet zu seinem Begleiter, wollen Sie auch das Ende hiervon noch ansehen?

– Nicht um Alles in der Welt, erwiderte Harry Blount.

– Ihre Leser des Daily Telegraph werden nicht so sehr darauf erpicht sein, die Einzelheiten einer Gerichtsvollstreckung nach Sitte der Tartaren kennen zu lernen.

– Nicht mehr als Ihre Cousine.

– Armer Kerl! fügte Alcide Jolivet hinzu mit einem Blicke auf Michael Strogoff. Dieser wackere Soldat hätte einen besseren Tod auf dem Felde der Ehre verdient!

– Können wir etwas zu seiner Rettung thun? sagte Harry Blount.

– Nein, leider gar nichts.«

Die beiden Journalisten erinnerten sich des uneigennützigen Entgegenkommens Michael Strogoff’s, sie wußten nun, welche Prüfung er, ein Sklave seiner Pflicht, hatte über sich ergehen lassen, und nichts konnten sie für den Gefangenen in der grausamen Hand der Tartaren, gar nichts für ihn thun!

Da sie keineswegs begierig waren, der Vollstreckung des Urtheils an dem Unglücklichen beizuwohnen, so kehrten sie nach der Stadt zurück.

Ein Stunde später trabten sie schon auf der Straße nach Irkutsk, um unter dem russischen Heere »den Revanchekrieg«, wie Alcide Jolivet schon zu sagen beliebte, weiter zu verfolgen.

Inzwischen stand Michael Strogoff aufrecht da, mit einem Blicke voll männlichen Stolzes auf den Emir, voll Verachtung gegen Iwan Ogareff. Er erwartete sterben zu müssen, und doch hatte man vergeblich ein Zeichen der Schwäche an ihm zu entdecken gesucht.

Die Zuschauer am Rande des Platzes ebenso wie der Generalstab Feofar-Khan’s, für welche diese Hinrichtung nur ein Lockmittel zum Ausharren war, erwarteten die Vollstreckung des Urtheils. Nach Stillung ihrer Neugier brannte diese wilde Horde vor Verlangen, sich thierisch zu berauschen.

Der Emir gab ein Zeichen. Von Garden gedrängt näherte sich Michael Strogoff mehr der Terrasse, und Feofar-Khan sprach zu ihm in der auch ihm verständlichen tartarischen Mundart:

»Du kamst, um zu sehen, Spion der Russen. Du hast zum letzten Mal gesehen. Nach Verlauf einer Minute werden Deine Augen dem Lichte für immer verschlossen sein!«

Nicht den Tod sollte Michael Strogoff also erleiden, aber von ewiger Blindheit geschlagen werden. Ist der Verlust des Gesichts vielleicht nicht noch schrecklicher, als der des Lebens? Der Unglückliche war verdammt, geblendet zu werden.

Auch als Michael Strogoff das über ihn gefällte Urtheil aus dem Munde des Emirs vernahm, erbleichte er nicht. Er blieb unerschüttert, die Augen weit geöffnet, stehen, als wollte er sein ganzes Leben in diesen letzten Blick zusammendrängen. Diese Unmenschen um Gnade anzuflehen erschien nicht nur unnütz, sondern auch seiner unwürdig. Er dachte überhaupt gar nicht daran. Alle seine Geistesthätigkeit condensirte sich, so zu sagen, in seiner unwiderruflich verfehlten Mission, in seiner Mutter und Nadia, die er nie wiedersehen sollte. Dennoch ließ er äußerlich nichts von der tiefen Erregung seines Innern blicken.

Sein ganzes Wesen durchzuckte der Gedanke, sich noch einmal auf irgend eine Weise zu rächen. Er kehrte sich zu Iwan Ogareff um.

»Iwan, begann er mit drohender Stimme, Iwan, elender Verräther, die letzte Drohung meiner Augen wird für Dich sein!«

Iwan Ogareff zuckte mit den Achseln.

Aber Michael Strogoff täuschte sich. Nicht mit einem Blicke der Wuth auf Iwan Ogareff sollten sich seine Augen für immer schließen.

Marfa Strogoff näherte sich ihm.

»Meine Mutter! rief er, Dir, ja Dir sollen meine letzten Blicke noch gelten, nicht jenem Schurken dort!

– O bleibe vor mir stehen! Laß mich Dein geliebtes Angesicht noch sehen! Mögen sich meine Augen mit diesem letzten Bilde schließen! …«

Die alte Sibirerin schritt ohne ein Wort auf ihn zu.

»Fort mit diesem Weibe!« befahl Iwan Ogareff.

Zwei Soldaten suchten Marfa Strogoff fortzureißen. Sie wich zurück, blieb aber wenige Schritte vor ihrem Sohne stehen.

Der Henker erschien. Jetzt trug er wieder den bloßen Säbel in der Hand, aber dieser leuchtete in heller Weißgluth, wie er ihn aus dem Becken mit wohlriechenden Kohlen gezogen hatte.

Michael Strogoff sollte nach der gewöhnlichen Sitte der Tartaren geblendet werden, indem man eine weißglühende Klinge dicht vor seinen Augen vorbeiführte.

Michael Strogoff leistete keinen Widerstand. Für seinen Blick war nichts vorhanden, als seine Mutter, die er mit den Augen zu verzehren suchte! All‘ sein Leben drängte sich in diesem letzten Liebesblick zusammen!

Mit weit geöffneten Augen, die Arme nach ihm ausbreitend, sah Marfa Strogoff ihn an …

Die glühende Klinge streifte die Augen Michael Strogoff’s.

Ein Schrei der Verzweiflung. Leblos sank die alte Marfa zu Boden.

Michael Strogoff war blind.

Nach Ausführung seines Befehls zog sich der Emir mit seinem ganzen Hofe zurück. Bald waren nur noch Iwan Ogareff und die Fackelträger auf dem Platze.

Iwan Ogareff zog das kaiserliche Schreiben aus der Tasche, öffnete es und hielt dasselbe in grausamem Spott dem Courier des Czaaren vor die Augen.

»Lies doch nun, Michael Strogoff, lies, und gehe nach Irkutsk, zu melden, was Du gesehen hast! Der wahrhafte Courier des Czaaren, das bin ich, das ist Iwan Ogareff!« Mit diesen Worten verbarg der Verräther den Brief wieder an seiner Brust. Dann verließ er, ohne sich umzuwenden, den Platz, und lautlos folgten ihm die Fackelträger.

Michael Strogoff war allein, wenig Schritte von seiner Mutter, welche noch leblos, vielleicht wirklich todt, auf der Erde lag.

In der Ferne hörte man das Schreien und Singen, das Lärmen der Orgie. Festlich erleuchtet prangte die unglückliche Stadt.

Michael Strogoff lauschte; der Platz schien ihm still und verlassen.

Tastend suchte er die Stelle zu erreichen, auf der seine Mutter niedersank. Seine Hand fand sie, er neigte sich über sie, er legte sein Antlitz auf das ihre, er hörte die Schläge ihres Herzens. Dann schien es, als flüsterte er ihr einige Worte zu.

Lebte die alte Marfa noch, und hörte sie, was ihr Sohn zu ihr sagte?

Jedenfalls machte sie nicht die geringste Bewegung.

Michael Strogoff küßte ihr die Stirn und das weiße Haar. Dann erhob er sich, tastete mit den Füßen, suchte seine Hand auszustrecken, um den Weg zu finden, und schritt langsam nach dem Ende des Platzes.

Plötzlich erschien Nadia.

Sie ging gerade auf ihren Gefährten zu. Ein Dolch, den sie bei sich trug, diente ihr, die Fesseln zu durchschneiden, welche Michael Strogoff’s Arme drückten.

Bei seiner Blindheit wußte dieser nicht, wer ihn befreite, denn Nadia hatte noch kein Wort gesprochen.

Nachher erst flüsterte sie:

»Bruder, mein Bruder!

– Nadia, erwiderte Michael Strogoff, Du, Nadia!

– Komm, Bruder! antwortete sie. Meine Augen werden nun die Deinigen sein, ich werde Dich nach Irkutsk fuhren!«

Erstes Capitel

Erstes Capitel

Ein tartarisches Feldlager

Eine Tagereise von Kolyvan und einige Werst jenseit des Fleckens Diachinsk breitet sich eine große Ebene aus, auf der sich einige hohe Bäume, vorzüglich Tannen und Cedern, erheben.

Während der warmen Jahreszeit wird dieser Theil der Steppe gewöhnlich von sibirischen Hirten besucht und gewährt auch den zahlreichen Heerden derselben hinlängliche Nahrung. Jetzt hätte man wohl vergeblich nach einem dieser nomadisirenden Bewohner gesucht. Nicht daß diese fruchtbare Ebene verlassen und öde gewesen wäre, – im Gegentheil, sie zeigte ein ganz außergewöhnliches Leben.

Hier erhoben sich nämlich die Zelte der Tartaren, hier lagerte Feofar-Khan, der grausame Emir von Bukhara, und eben an diesem Morgen, am 7. August, wurden die bei Kolyvan nach der Zersprengung des kleinen russischen Corps gemachten Gefangenen hierher eingebracht. Von jenen 2000 Mann, welche sich zwischen die zwei auf Omsk und Tomsk gestützten, feindlichen Heersäulen gewagt hatten, waren nur noch einige hundert Soldaten davon gekommen.

Der Verlauf der Ereignisse war also kein günstiger, und die kaiserliche Regierung erschien jenseit des Ural ernstlich bedrängt, – mindestens für den Augenblick, denn früher oder später mußte es den Russen ja wohl gelingen, die Eindringlinge zu Paaren zu treiben. Jedenfalls hatten die räuberischen Horden das Herz Sibiriens erreicht und drohte der feindliche Einfall sich über das empörte Land entweder nach den Provinzen im Westen, oder nach denen im Osten zu verbreiten. Irkutsk war jetzt von aller Verbindung mit Europa abgeschnitten. Wenn die Truppen vom Amur und aus der Provinz Jakutsk nicht rechtzeitig eintrafen, um diese Hauptstadt Sibiriens zu besetzen, so mußte sie wohl, bei den mangelhaften Kräften zu ihrer Vertheidigung, den Tartaren in die Hände fallen, und bevor es dann möglich wurde, sie diesen wiederum zu entreißen, blieb der Großfürst, der Bruder des Kaisers, den Rachegelüsten Iwan Ogareff’s preis gegeben.

Was war nun mit Michael Strogoff geschehen? Beugte er sich unter der Last so vieler Prüfungen? Betrachtete er sich als besiegt durch so viel Hindernisse, die ihn seit dem Unfalle von Ichim unausgesetzt verfolgten? Gab er seine Partie verloren, sah er seine Sendung für verfehlt, die Ueberlieferung seines Mandats für unmöglich an?

Michael Strogoff gehörte zu den Menschen, die sich erst dann nicht mehr regen, wenn sie todt zusammengebrochen sind. Jetzt lebte er noch, war sogar ganz unverwundet geblieben, das kaiserliche Handschreiben verwahrte er noch immer, sein Incognito war noch unverletzt. Gewiß befand er sich unter den zahlreichen Gefangenen, welche die Tartaren wie eine Heerde Vieh daher trieben; aber mit der Annäherung an Tomsk kam er auch Irkutsk näher, und jedenfalls blieb Iwan Ogareff immer hinter ihm zurück.

»Ich werde noch ankommen!« wiederholte er sich immer wieder.

Seit jener Affaire bei Kolyvan drängte sich seine ganze Lebenskraft zusammen in dem einen Gedanken, seine Freiheit zu erlangen. Wie er den Soldaten des Emirs entrinnen würde? – Das wollte er sehen, wenn der passende Zeitpunkt da wäre.

Feofar’s Feldlager bot einen prächtigen Anblick. Zahllose Zelte aus Thierfellen, Filz oder Seidenstoffen schillerten in den Strahlen der Sonne. Lange, reiche Troddeln auf ihren schlank zulaufenden Spitzen wiegten sich zwischen buntfarbigen Fahnen, Standarten und Feldzeichen hin und her. Die am reichsten ausgestatteten Zelte gehörten den Seids und den Khodjas, den vornehmsten Männern des Khanates, an. Eine besondere Flagge, mit einem Pferdeschweif als Schmuck, deren Lanzenschaft sich aus einem kunstvoll geordneten Bündel rother und weißer Stäbe erhob, bezeichnete den hohen Rang dieser Tartarenhäuptlinge. Weit über Sehweite hinaus erstreckten sich endlich die Reihen jener turkomanischen Zelte, »Karaoys« genannt, die auf dem Rücken der Kameele mitgeführt wurden.

Das ganze Lager zählte mindestens 150 000 Mann Soldaten, sowohl Fußvolk als auch Reiterei. Unter diesen sah man, als die Urtypen von Turkestan, zuerst die Tadjiks mit ihren schönen, regelmäßigen Zügen, weißer Hautfarbe, schwarzen Augen und Haaren und dem hohen, mächtigen Wuchse, – die Hauptmacht der Tartarenarmee, zu der die Khanate von Khokhand und Kunduz nahezu ein gleich großes Contingent wie Bukhara geliefert hatten. Neben diesen Tadjiks fanden sich die Vertreter anderer Stämme, welche entweder in Turkestan seßhaft waren oder deren Heimat doch an jene Gebiete grenzte. Da sah man Usbecks von kleiner Gestalt und mit brennend rothem Barte, ganz ähnlich denen, welche zur Verfolgung Michael Strogoff’s ausgesendet worden waren. Ferner Kirghisen mit abgeplattetem, dem der Kalmücken ähnlichen Gesicht, in Panzerhemden gekleidet, von denen ein Theil Lanzen, Bogen und Pfeile asiatischer Herkunft führte, ein anderer mit dem Säbel, einem Luntengewehre und dem »Tschakane«, d. i. eine kurz gestielte Axt, welche leicht tödtliche Wunden verursacht, ausgerüstet erschien. Dazu mittelgroße Mongolen mit schwarzem, langem Haar, das in einen Zopf geflochten auf den Rücken hinabfiel, mit rundlichem, sonnenverbranntem Gesicht, dunklen, lebhaften Augen und mangelndem oder sehr spärlichem Barte, gekleidet in blaue, mit schwarzem Pelz verbrämte Nankingstoffe, geschmückt mit Ledergürteln, mit Silberschnallen, Schnürstiefeln und seidenen, wiederum mit Pelz garnirten Mützen, von denen nach rückwärts drei Bänder hinausflatterten. Endlich sah man auch tiefdunkle Afghanen; Araber, wahre Musterbilder der schönen semitischen Racen und Turkomanen mit engen gedrückten Augen, an denen die Lider ganz zu fehlen schienen, – Alle vereinigt unter der Kriegsfahne des Emirs, einer Fahne von Mordbrennern und zerstörungssüchtigen Horden.

Neben diesen freien Soldaten fand sich auch noch eine gewisse Anzahl Sklavenhaufen, vorzüglich Perser, welche von eingeborenen Anführern befehligt und in der Armee Feofar-Khans keineswegs gering geschätzt wurden.

Rechne man hierzu noch die als Diener fungirenden Juden in ihrem mittels eines Strickes zusammengehaltenen langen Rocke, den Kopf, an Stelle des ihnen verbotenen Turbans, bedeckt mit einem dunkelfarbigen Tuchkäppchen, und endlich darunter gemischt noch Hunderte »Kalender«, eine Art religiöser Bettler in zerfetzter, mit einem Leopardenfelle nothdürftig bedeckter Kleidung, so wird man zu einer nahezu vollständigen Vorstellung des fast unübersehbaren Gemisches der verschiedenen Völker und Stämme gelangen, welche die Tartarenarmee bildeten.

Fünfzigtausend Soldaten der Armee waren beritten und die Pferde derselben nicht minder verschieden, als die Mannschaften. Unter den Thieren, die zu je zehn an zwei parallelen Stricken angebunden und deren Schweife in Knoten geknüpft, deren Rücken aber mit einem seidenen Netze bedeckt waren, unterschied man die feingebauten, großen Turkomanen mit glänzendem Haar und stolzer Haltung; die ausdauernden, kräftigen Usbecks; die Khokhandiner, welche außer ihrem Reiter noch zwei Zelte und eine ganze Kücheneinrichtung tragen; die hellfarbigen Kirghisenrosse, die von den Ufern des Emba-Flusses herstammen, wo man sie mittels »Arkan«, d. i. der Lasso der Tartaren, einfängt, und endlich viele andere Abkömmlinge gekreuzter Racen von geringerem Werthe.

Lastthiere zählten hier ebenfalls nach Tausenden. Hier fanden sich kleinere, aber wohlgebaute Kameele mit langer Behaarung, deren dichte Mähne ihren Hals verhüllte, gelehrige und leichter als die Dromedare zähmbare Thiere; ferner einhöckerige »Nars« mit rothgelbem, gelocktem Felle; endlich eine Menge Esel, welche unverdrossen ihre Arbeit leisten und deren sehr geschätztes Fleisch zum nicht geringen Theile die Nahrung der Tartaren ausmacht.

Ueber diese ganze Masse von Menschen und Thieren, über diese ungeheuren Haufen von Zelten verbreiteten in größeren Gruppen zusammen stehende Cedern und Fichten einen angenehmen, erfrischenden Schatten, der da und dort durch einige besonnte Stellen unterbrochen wurde. Das Bild bot einen höchst pittoresken Anblick, zu dessen Wiedergabe ein Maler wohl alle Farben seiner Palette hätte erschöpfen müssen.

Als die bei Kolyvan gemachten Gefangenen vor den Zelten Feofar’s und der Großwürdenträger des Khanates anlangten, wirbelten die Trommeln und schmetterten die Trompeten. Zu dem entsetzlichen Getöse mischte sich aber auch noch das Knattern von Gewehrfeuer und der Donner vier- und sechspfündiger Geschütze, welche die Artillerie des Emirs bildeten.

Feofar lebte hier unter rein militärischer Umgebung und Lebensweise. Seine Haushaltung und sein Harem befanden sich, ebenso wie die seiner Bundesgenossen, jetzt in Tomsk, das in den Händen der Tartaren war.

Nach Aufhebung des Lagers sollte der Sitz des Emirs ebendahin verlegt werden, bis er diese Residenz endlich mit der Hauptstadt von Ostsibirien endgiltig zu vertauschen hoffte.

Feofar’s Fürstenzelt überragte die Zelte seiner Nachbarn. Errichtet aus breiten Stücken eines prachtvollen Seidenstoffes, den Schnuren mit goldenen Fransen zusammenhielten, überragt von dichten Troddeln, welche der Luftzug fächerartig hin und her wiegte, nahm es den Mittelpunkt einer weiten Lichtung ein, die im Vordergrunde durch prächtige Birken und gigantische Fichten abgeschlossen war. Vor diesem Zelte lag auf einem glänzenden, feinen, mit Edelsteinen ausgelegten Tische geöffnet der heilige Koran, dessen Blätter aus ganz dünnen, fein gravirten Goldplättchen bestanden. Darüber flatterte die tartarische Fahne.

Am Umfange der Lichtung erhoben sich im Halbkreise die Zelte der höchsten Beamten von Bukhara. Da wohnten der Großstallmeister, dem das Recht zusteht, dem Emir bis in den Hof seines Palastes zu Pferde zu folgen; der Groß-Falkenier, der »Housch-Vegui«, d. i. der Siegelbewahrer des Herrschers, der »Toptschi-Baschi«, d. i. der Oberbefehlshaber der Artillerie, der »Khodja« oder Vorsitzende des Großen Rathes, der von dem Fürsten geküßt wird und sich vor ihm mit offenem Gürtel zeigen darf, der »Scheik-ul-Islam«, der Erste der Ulemas und Vertreter der Priesterkaste, der »Cazi-Askev«, der in Abwesenheit des Emirs über alle Streitfragen zwischen Militärs zu entscheiden hat, und endlich der Chef der Astrologen, deren Hauptgeschäft es ist, die Sterne zu befragen, sobald der Khan beabsichtigt, seinen Aufenthalt zu wechseln.

Der Emir befand sich, als die Gefangenen in das Lager getrieben wurden, glücklicher Weise in seinem Zelte. Eine Handbewegung, ein Wort von ihm hätte wohl hingereicht, ein blutiges Strafgericht in Scene zu setzen. Er hielt sich aber zurück in jener Isolirtheit, welche zum Theil die Majestät der orientalischen Fürsten erhält. Man bewundert Den, der sich nicht zeigt, und fürchtet ihn mehr.

Die Gefangenen selbst wurden in einer Umzäunung eingepfercht, wo sie mißhandelt, nur nothdürftig ernährt und allen verderblichen Einflüssen des Klimas ausgesetzt, der Entscheidung Feofar’s entgegen harrten.

Der gelehrigste von Allen, wenn auch nicht der geduldigste, war gewiß Michael Strogoff. Er ließ sich gern führen, denn man führte ihn dahin, wohin er selbst wollte, und das in verhältnißmäßiger Sicherheit, die er, frei und allein reisend, auf dem Wege von Kolyvan nach Tomsk nie hätte finden können. Eine Flucht vor Erreichung letzterer Stadt hätte ihn unzweifelhaft in die Hände der Plänkler zurück geliefert, welche die umgebende Steppe durchschwärmten. Die östlichste, von den Schaaren der Meuterer zur Zeit besetzte Linie lag nicht über dem zweiundachtzigsten Meridian, welcher Tomsk durchschneidet, hinaus. Nach Ueberschreitung dieses Meridianes durfte Michael Strogoff darauf rechnen, sich außerhalb des von Feinden überschwemmten Gebietes zu befinden, den Yeniseï gefahrlos zu passiren und Krasnojarsk zu erreichen, bevor Feofar-Khan auch diese Provinz besetzte.

»Einmal in Tomsk, wiederholte er sich manchmal, um einige Regung seiner Ungeduld, deren er nicht völlig Meister werden konnte, Zu unterdrücken, werde ich binnen wenigen Minuten über die Vorpostenkette hinaus sein, und zwölf Stunden vor Feofar, zwölf Stunden nur vor Ogareff voraus zu sein, das genügt mir, um ihnen nach Irkutsk zuvor zu kommen!«

Was Michael Strogoff am meisten fürchtete und wohl auch fürchten mußte, das war die Anwesenheit Iwan Ogareff’s in dem tartarischen Lager. Abgesehen von der Gefahr, erkannt zu werden, verrieth ihm ein gewisser Instinct, daß es für ihn von besonderer Wichtigkeit sei, gerade diesem Verräther zuvor zu kommen. Er sah auch recht wohl ein, daß durch die Vereinigung der Heeresabtheilungen Iwan Ogareff’s und Feofar-Khan’s die feindliche Armee nun vollzählig wurde und mit aller Macht nach der ostsibirischen Hauptstadt zu aufbrechen werde. Eben diese Aussicht erregte in ihm aber die schwersten Befürchtungen, und aufmerksam lauschte er auf jeden schmetternden Trompetenstoß, ob dieser etwa das Eintreffen jenes Unterbefehlshabers des Emirs verkünde.

An solche Gedanken reihten sich dann noch die Erinnerungen an seine Mutter und an Nadia, deren Erstere in Omsk zurück geblieben, die Andere auf den Barken des Irtysch weggeschleppt worden war. Unzweifelhaft seufzte diese ebenso wie Marfa Strogoff in harter Gefangenschaft. Und er vermochte Nichts für sie zu thun! Würde er jene Zwei überhaupt wiedersehen? Krampfhaft zuckte ihm das Herz bei dieser Frage, welche er sich nicht zu beantworten wagte.

Gleichzeitig mit Michael Strogoff und vielen anderen Gefangenen waren auch Harry Blount und Alcide Jolivet in das Tartarenfeldlager transportirt worden. Ihr früherer Reisegefährte wußte zwar, daß Jene in derselben dicht mit Wachtposten besetzten Umzäunung untergebracht waren, er hatte sich ihnen aber nicht zu nähern gesucht. Nur wenig kümmerte es ihn jedoch, was sie über ihn bezüglich des Auftrittes im Posthofe zu Ichim denken möchten; er wollte vielmehr allein sein, um im gegebenen Fall schneller allein handeln zu können. Deshalb hielt er sich stets mehr bei Seite.

Alcide Jolivet hatte seit dem Augenblick, da sein College an seiner Seite fiel, diesem die größte Sorgfalt gewidmet. Von Kolyvan bis nach dem Lager, daher auf einem Wege von mehreren Stunden, konnte Harry Blount dadurch, daß er sich auf den Arm seines Rivalen stützte, dem Gefangenenzuge folgen. Erst wollte er sich in seiner Eigenschaft als Engländer legitimiren, das hätte ihm aber gegenüber diesen Barbaren, welche nur mit Lanzenstößen und Säbelhieben antworteten, nicht im mindesten genützt. Der ehrenwerthe Correspondent des Daily-Telegraph theilte also zunächst das Schicksal aller Uebrigen, und blieb es ihm überlassen, später zu reclamiren und Satisfaction für die erlittene Behandlung zu verlangen. Diesen Weg legte er aber seiner Wunde wegen nur mit der größten, schmerzlichen Anstrengung zurück, und ohne Alcide Jolivet’s Hilfe wäre er wohl kaum im Stande gewesen, das Lager zu erreichen.

Alcide Jolivet, den seine praktische Philosophie niemals im Stiche ließ, hatte seinen Genossen physisch und moralisch durch alle ihm zu Gebote stehenden Mittel möglichst gestärkt. Als er sich unabwendbar in jene Hürde eingeschlossen sah, eilte er zunächst, Harry Blount’s Wunde zu untersuchen. Es gelang ihm recht gut, Jenen zu entkleiden, und er überzeugte sich, daß dessen Schulter nur von dem Sprengstück einer Kugel gestreift worden war.

»O, es ist nichts! sagte er. Eine ganz einfache Schramme. Nach zwei oder drei kühlen Aufschlägen ist die ganze Sache vorüber.

– Aber diese nothwendigen Umschläge? … fragte Harry Blount.

– Die mache ich Ihnen selbst.

– Sie sind also ein wenig Arzt?

– Alle Franzosen sind halbe Aerzte!«

Nach dieser dreisten Versicherung zerriß Alcide Jolivet sein Taschentuch, zupfte aus einem Stücke desselben Charpie, legte ein anderes zu einem Tampon zusammen, holte aus einem in der Mitte des Platzes gelegenen Ziehbrunnen Wasser, wusch die glücklicher Weise nur leichte Wunde sorgfältig aus und legte mit großer Geschicklichkeit die feuchten Leinenstücke auf Harry Blount’s Schulter.

»Ich behandle Sie mit Wasser, sagte er. Diese Flüssigkeit ist das wirksamste Sedativum, das man bei der Behandlung von Verwundungen kennt, und wird jetzt auch ganz allgemein angewendet. Die Aerzte haben nur 6000 Jahre gebraucht, um das zu entdecken! Ja, in runder Zahl so gegen 6000 Jahre!

– Ich danke Ihnen, Herr Jolivet, erwiderte Harry Blount, indem er sich auf ein Lager von dürren Blättern hinstreckte, das sein Begleiter ihm im Schatten einer Birke zurecht gemacht hatte.

– Ei, das ist ja nicht der Rede werth. Sie hätten an meiner Stelle dasselbe gethan.

– Ja, ich weiß nicht … antwortete Harry Blount ziemlich naiv.

– Sie Spaßvogel! Alle Engländer sind edelmüthig!

– Gewiß, aber die Franzosen …?

– Nun ja, die Franzosen sind gut, vielleicht sogar etwas einfältig; aber was das wieder gut macht, ist, daß sie eben Franzosen sind. Doch sprechen wir nicht mehr davon, oder noch besser, sprechen wir jetzt lieber gar nicht mehr. Sie brauchen nun vor allen Dingen Ruhe.«

Harry Blount hatte aber verzweifelt wenig Lust zu schweigen. Wenn er als Verwundeter vernünftiger Weise daran denken konnte, zu schlafen, so war das doch mit ihm als Correspondenten des Daily-Telegraph keineswegs der Fall.

»Herr Jolivet, begann er, glauben Sie, daß unsere letzten Depeschen noch über die russische Grenze befördert worden sind?

»Wie kommen Sie darauf? antwortete Alcide Jolivet. Um die jetzige Stunde wird meine glückselige Cousine schon missen, was von dem Treffen bei Kolyvan zu halten ist.

– Wie viele Exemplare dieser Depeschen druckt Ihre Cousine? forschte Harry Blount, der diese Frage zum ersten Male unumwunden an seinen Collegen richtete.

– Sehr gut! erwiderte lachend Alcide Jolivet. Meine Cousine ist eine ungemein discrete Person, die nicht gern von sich reden hört und unglücklich sein würde, wenn sie Ihnen den so nothwendigen Schlummer störte.

– Ich mag nicht schlafen, versetzte der Engländer. – Was urtheilt Ihre Cousine wohl über die Sachlage?

– Nun, daß es mit den Russen augenblicklich nicht am besten steht. Doch, was da! die moskowitische Regierung ist mächtig, sie braucht sich wegen eines Barbareneinfalls nicht ernstlich zu beunruhigen, und Sibirien wird und kann ihr nicht verloren gehen.

– Ueberhebung hat schon die größten Reiche gestürzt! antwortete Harry Blount, der von einer gewissen »englischen« Eifersüchtelei wegen der russischen Prätensionen in Centralasien nicht ganz frei war.

– O bitte, nur keine Politik treiben, rief Alcide Jolivet. Das ist von der Facultät untersagt! Für Schulterwunden giebt es gar nichts Gefährlicheres! … Sie müßten denn dadurch einschlummern wollen!

– So sprechen wir davon, was uns zu thun übrig bleibt, lenkte Harry Blount ein. Ich, Herr Jolivet, verspüre nicht die mindeste Lust, hier unbedingt Gefangener der Tartaren zu bleiben.

– Ich bei Gott auch nicht!

– Wir werden uns bei erster bester Gelegenheit davon zu machen suchen.

– Ja, wenn’s zur Wiedererlangung unserer Freiheit kein anderes Mittel giebt.

– Wissen Sie ein anderes? fragte Harry Blount und sah seinen Begleiter erwartungsvoll an.

– Gewiß! Wir sind keine Combattanten, wir sind neutral und werden reclamiren.

– Bei Feofar-Khan? Bei diesem wilden Thiere?

– Nein, er verstände das nicht, erwiderte Alcide Jolivet; aber bei Iwan Ogareff, seinem Untergeneral.

– Der ist ein Schurke!

– Zugegeben; aber dieser Schurke ist wenigstens ein Russe. Er weiß, daß er mit dem Völkerrecht nicht spielen darf, und hat auch kein Interesse, uns zurückzuhalten. Von dem Herrn etwas zu verlangen, das soll mir nicht schwer werden.

– Dieser Herr befindet sich aber nicht im Lager, mindestens habe ich ihn noch nicht bemerkt, äußerte Harry Blount.

– Er wird hierher kommen. Das kann nicht fehlen. Er muß sich hier dem Emir anschließen. Jetzt ist Sibirien in zwei Kriegstheater getheilt, und offenbar erwartet ihn nur Feofar’s Armee, um nach Irkutsk abzumarschiren.

– Und was thun wir, wenn wir frei sind?

– Ei nun, wir setzen ebenfalls unsern Feldzug fort und folgen den Tartaren, bis sich Gelegenheit bietet, in das Lager der Gegner überzugehen. Zum Teufel, man darf doch nicht fahnenflüchtig werden! Wir stehen ja erst im Anfang. Sie, Herr College, haben schon das Glück gehabt, im Dienste des Daily-Telegraph eine Wunde davon zu tragen, aber ich, – ich habe im Dienste meiner Cousine noch gar nichts geleistet. Vorwärts! Vorwärts! – Ach, schön, fuhr Alcide Jolivet leiser fort, er schlummert ein. Einige Stunden Schlaf und ein Paar Compressen mit frischem Wasser, mehr bedarf es nicht, um einen Engländer wieder auf die Beine zu bringen. Diese Leute sind aus Eisenblech construirt!«

Und während Harry Blount der Ruhe genoß, wachte Alcide Jolivet an seiner Seite, nachdem er ein Taschenbuch hervor geholt hatte, das er mit Notizen bedeckte, gleichzeitig fest entschlossen, diese mit seinem Begleiter, gewiß zur größten Befriedigung der Abonnenten des Daily-Telegraph, ehrlich zu theilen. Der Gang der Ereignisse hatte die beiden Männer an einander geknüpft und sie weiterer Eifersüchtelei enthoben.

Was also Michael Strogoff vor Allem fürchtete, gerade das wünschten die beiden Journalisten sehnsüchtig herbei. Das Erscheinen Iwan Ogareff’s mußte für diese offenbar von Vortheil sein, denn sobald ihre Eigenschaft eines englischen und französischen Correspondenten erst festgestellt war, mußten sie höchst wahrscheinlich sofort in Freiheit gesetzt werden. Der Stellvertreter des Emirs würde Feofar schon zu belehren wissen, wenn es dessen Charakter auch entsprochen hätte, die Gefangenen einfach als Spione abzuurtheilen. Das Interesse Alcide Jolivet’s und Harry Blount’s lief also dem Michael Strogoff’s direct entgegen, und darin lag ein weiterer, zu den früheren noch hinzutretender Grund, der ihn jede Annäherung an die alten Reisegefährten sorgfältig vermeiden ließ. Er richtete sich also möglichst so ein, daß Jene ihn nicht zu Gesicht bekommen konnten.

Vier Tage verstrichen ohne irgend welche Veränderung der Sachlage. Von der Aufhebung des Lagers hörten die Gefangenen kein Wort sprechen. Sie wurden strengstens überwacht. Es wäre thatsächlich unmöglich gewesen, den Cordon von Fußvolk und Reitern, der sich um die Hürde schloß, zu durchbrechen. Die ihnen gebotene Nahrung schützte eben nur vor dem Verhungern. Zweimal binnen vierundzwanzig Stunden erhielt Jeder ein Stück auf Kohlen geröstetes Ziegenfleisch gereicht, oder eine Ration von jenem »Krut« genannten Käse, der aus saurer Schafmilch gewonnen wird und in Stutenmilch geweicht die gewöhnlich »Kumiß« genannte Speise der Kirghisen darstellt. Das war Alles. Hierzu kam, daß die Witterung wahrhaft abscheulich wurde. Heftige Störungen in der Atmosphäre führten stürmische Winde mit Regenschauern herbei. Schutzlos mußten die Unglücklichen diesen ungesunden Witterungswechsel aushalten, ohne daß man ihre Leiden irgendwie zu mindern gesucht hätte. Einige Verwundete, mehrere Frauen und Kinder starben dabei, deren Leichen die Gefangenen selbst einscharren mußten, da ihre Peiniger jenen sogar ein Grab verweigerten.

Während dieser harten Prüfungen machten sich Alcide Jolivet und Harry Blount, jeder auf seine Weise, doppelt nützlich und waren zu jedem Dienste bereit, den sie nur irgend zu leisten vermochten. Da sie früher keinen harten Entbehrungen ausgesetzt und demnach gesund und kräftig waren, so widerstanden sie auch den jetzigen üblen Einflüssen besser und konnten sich durch ihren Rath und ihre sorgende Pflege Denen nützlich erweisen, welche jetzt empfindlicher litten und der Verzweiflung verfielen.

Sollte dieser Jammerzustand länger andauern? Wollte Feofar-Khan, befriedigt durch die ersten glücklichen Erfolge, einige Zeit rasten, bevor er auf Irkutsk marschirte? Man hätte das wohl befürchten können, es kam indeß anders. Das von Alcide Jolivet und Harry Blount so herbeigesehnte, von Michael Strogoff so gefürchtete Ereigniß trat am Morgen des 12. August wirklich ein.

An diesem Tage schmetterten die Trompeten, wirbelten die Trommeln und knatterten die Musketen. Eine ungeheure Staubwolke wälzte sich langsam über der Straße von Kolyvan dahin.

Iwan Ogareff hielt, gefolgt von vielen Tausend Mann, seinen Einzug in das Lager der Tartaren.

Zweites Capitel

Zweites Capitel

Alcide Jolivet’s Haltung

Es war ein ganzes Armeecorps, das Iwan Ogareff dem Emir zuführte. Diese Reiter und Fußsoldaten bildeten einen Theil der Heeresabtheilung, welche sich der Stadt Omsk bemächtigt hatte. Da Iwan Ogareff nicht im Stande gewesen war, die obere Stadt einzunehmen, in welche sich, wie erzählt, der Gouverneur zurückgezogen hatte, so entschloß er sich, weiter zu ziehen, um die Operationen, welche im östlichen Sibirien geplant waren, nicht aufzuhalten. So ließ er nur eine hinreichende Garnison in Omsk zurück. Dann sammelte er seine Horden, verstärkte sich unterwegs durch die Sieger von Kolyvan und stellte seine Verbindung mit der Armee Feofar’s her.

Die Truppen Iwan Ogareff’s hielten vor den Außenposten des Lagers. Sie erhielten keinen Befehl zum Bivouaquiren. Die Absicht ihrer Führer ging offenbar dahin, sich gar nicht aufzuhalten, sondern sofort weiter zu dringen und in kürzester Zeit Tomsk, die bedeutendere Stadt, in ihre Gewalt zu bringen, welche von Natur zum Centrum der zukünftigen Operationen bestimmt schien.

Gleichzeitig mit den Soldaten brachte Iwan Ogareff auch einen Transport russischer und sibirischer Gefangener, die bei Omsk oder Kolyvan in Feindeshand gefallen waren. Diese Unglücklichen wurden gar nicht erst in die Umzäunung geführt, welche ohnedies schon zu klein für alle die erschien, welche darin schmachteten, sondern hielten bei den Vorposten, ohne jeden Schutz, fast ohne Nahrung. Welches Loos stand diesen wohl durch Feofar-Khan bevor? Würde er sie in Tomsk einkerkern oder sollte sie vielleicht eine blutige Execution, das gewöhnliche Verfahren der Tartarenhäuptlinge, decimiren? Noch blieb das ein Geheimniß des launischen Emirs.

Dieses Armeecorps war nicht von Omsk und Kolyvan abgezogen, ohne einen großen Haufen Bettler, Marodeurs und Zigeuner mitzubringen, welche gewöhnlich den Nachtrab einer Armee auf dem Marsche zu bilden pflegen. Diese ganze Volksmenge lebte auf Kosten der durchzogenen Landschaften und ließ wenig zu plündern hinter sich zurück. Schon hieraus ergab sich die Nothwendigkeit, weiter vorzudringen, und geschehe es nur, um für die Expeditions-Colonnen den nöthigen Proviant zu verschaffen. Der ganze Landstrich zwischen dem Laufe des Ichim und des Obi war schon verwüstet und bot keinerlei Hilfsquellen mehr. Hinter sich ließen die Tartaren eine Wüste, welche die Russen gewiß nur mit größter Schwierigkeit zu durchziehen im Stande sein konnten.

Unter den Zigeunerschaaren, welche von Westen her mitgekommen waren, befand sich auch jene Truppe, die Michael Strogoff bis Perm begleitet hatte. Sangarre zählte auch noch zu dieser. Diese wilde Spionin, der böse Geist Iwan Ogareff’s, verließ ihren Herrn und Meister niemals. Wir haben sie schon beide gesehen, wie sie, noch in Rußland selbst, im Gouvernement von Nishny-Nowgorod, ihre Pläne schmiedeten. Nach Ueberschreitung des Ural hatten sie sich nur auf einige Tage getrennt. Iwan Ogareff suchte damals Ichim so schnell als möglich zu erreichen, während Sangarre und ihre Gesellschaft durch den Süden der Provinz auf Omsk zu zogen.

Man wird leicht begreifen, welche Hilfe dieses Weib Iwan Ogareff leistete. Durch ihre Tsiganen drang sie überall ein, hörte und beobachtete Alles. Iwan Ogareff wurde von jedem Vorfalle in den besetzten Gebietstheilen auf dem Laufenden erhalten. Hundert Augen, hundert Ohren waren stets in seinem Dienst geöffnet. Uebrigens gewährte er für diese Spionendienste, deren Vortheil ihm genügend einleuchtete, gern einen hohen Lohn.

Als Sangarre früher einmal in eine sehr bedenkliche Sache verwickelt gewesen war, hatte sie der russische Offizier gerettet. Nie vergaß sie, was sie ihm schuldete, und verschrieb sich ihm mit Leib und Seele. Als Iwan Ogareff dann den Verbrecherpfad des Verräthers beschritt, erkannte er recht gut, welchen Nutzen er aus der Ergebenheit dieser Frau ziehen konnte. Er mochte einen Befehl geben, welchen er wollte, – Sangarre führte ihn aus; ein wahrhaft außergewöhnlicher Instinkt, noch mächtiger entwickelt als selbst das Gefühl ihrer Dankbarkeit, hatte sie fast gedrängt, sich dem Verräther als Sklavin zu ergeben, an den sie sich seit den ersten Tagen seiner Verbannung nach Sibirien anschloß. Geschmeichelt durch sein Vertrauen, gefiel sich die vaterlandslose Sangarre darin, ihr Vagabundenleben den Empörern zu widmen, welche Iwan Ogareff nach Sibirien führte. Mit der natürlichen Arglist ihrer Race verband sie eine wilde Energie, welche keine Vergebung und kein Mitleid kannte. Sie war eine Wilde, würdig die Hütte eines Apachen oder den Wigwam eines Andamiers zu theilen.

Seit seiner Ankunft in Omsk, wo sie sich ihm mit ihren Zigeunern wieder anschloß, hatte Sangarre Iwan Ogareff nicht mehr verlassen. Der Zufall, welcher Michael und Marfa Strogoff zusammengeführt hatte, war ihr bekannt. Die Befürchtungen Iwan Ogareff’s wegen des Durchzugs eines Couriers des Czaaren wußte und theilte sie. Für die gefangene Marfa Strogoff wäre sie die geeignete Furie gewesen, diese mit der Bosheit einer Rothhaut zu peinigen, um ihr ihr Geheimniß zu entreißen. Noch war aber die Stunde nicht gekommen, da Iwan Ogareff die alte Sibirerin zum Reden zwingen wollte. Sangarre mußte warten, und sie wartete, ohne Diejenige aus den Augen zu verlieren, welche sie wider ihr Wissen belauschte, deren geringste Geste, deren unschuldigstes Wort sie beobachtete, die sie Tag und Nacht bewachte, um das Wort »Sohn« einmal ihren Lippen entschlüpfen zu hören, während Marfa Strogoff’s außerordentliche Kaltblütigkeit vorläufig noch alle diese Bemühungen vereitelte.

Inzwischen hatten sich bei dem Schmettern der Fanfaren der Oberbefehlshaber der Artillerie und der Großstallmeister des Emirs, begleitet von einer glänzenden Escorte, zum Empfange Iwan Ogareff’s vor das Feldlager hinaus begeben.

Als sie diesem nahe kamen, erwiesen sie ihm die höchsten Ehrenbezeigungen und luden ihn ein, ihnen nach dem Zelte Feofar-Khan’s zu folgen.

Ruhig und gemessen wie immer erwiderte Iwan Ogareff nur sehr kühl die Höflichkeiten der zu seinem Empfange entgegengesendeten hohen Staatsbeamten. Er war nur sehr einfach gekleidet, trug aber, – fast erschien es wie ein Ausdruck etwas prahlerischer Frechheit, – noch russische Uniform.

Gerade als er die Zügel seines Rosses faßte, um in den Kreis des Lagers zu reiten, drängte sich Sangarre durch die Reiter der Escorte, näherte sich ihm und blieb unbeweglich stehen.

»Nichts? fragte Iwan Ogareff.

– Nichts.

– Sei geduldig.

– Nähert sich die Stunde noch nicht, wo Du die alte Frau zum Reden zwingen wirst?

– Sie kommt, Sangarre.

– Wann wird das Weib sprechen sollen?

– Sobald wir in Tomsk sind.

– Und dahin kommen wir …?

– Binnen drei Tagen.«

Wie ein Blitz leuchtete es auf in Sangarre’s großen, schwarzen Augen, dann zog sie sich still und geschmeidig zurück.

Iwan Ogareff gab seinem Pferde die Sporen und wendete sich, mit seinem Generalstabe im Gefolge, nach dem Zelte des Fürsten.

Feofar-Khan war ein hochgewachsener Mann von vierzig Jahren, mit einem bleichen Gesicht, drohenden Augen und wilder Physiognomie. Der schwarze Bart wallte in kleinen Ringeln bis auf seine Brust herab. In seiner Kriegerkleidung, dem gold- und silbermaschigen Panzerhemd, dem von edeln Steinen glitzernden Degengehänge, mit dem krummen, einem Yatagan ähnlichen Säbel, dessen Scheide mit prächtigen Gemmen eingelegt war, den schnurenbesetzten Sporenstiefeln und der asiatischen Mütze, an der eine Aigrette feuerstrahlender Diamanten funkelte, bot Feofar-Khan mehr das fremdartige, als ehrfurchtgebietende Bild eines tartarischen Sardanapal, eines unumschränkten Herrschers, der über Leib und Blut seiner Unterthanen ganz nach Gutdünken verfügt, dessen persönliche Macht ohne Grenzen ist, und dem man, nach der in Bukhara lange herrschenden Sitte, ausschließlich den Namen »Emir« beilegte.

Als Iwan Ogareff erschien, blieben die Großwürdenträger auf ihren goldbetreßten Kissen ruhig sitzen; Feofar-Khan dagegen erhob sich von dem reichen Divan im Hintergrunde des Zeltes, dessen Fußboden der weiche Sammet eines bukharischen Teppichs verhüllte.

Der Emir näherte sich Iwan Ogareff und gab ihm einen Kuß; ein Zeichen, dessen Bedeutung Jener sehr wohl kannte. Dieser Kuß erhob den Unterbefehlshaber zum Vorsitzenden des Raths und stellte ihn zeitweilig über den Khodja.

Hierauf wendete sich Feofar-Khan zu Iwan Ogareff.

»Ich habe Dich nichts zu fragen, begann er, sprich Du selbst, Iwan, Du wirst hier nur Ohren finden, welche bereit sind, Deine Reden zu hören.

– Takhsir, Dieses Wort entspricht vollkommen dem in Europa gebräuchlichen »Sir« und wird gegenüber dem Sultan von Bukhara gewöhnlich angewendet. erwiderte Iwan Ogareff, so höre, was ich zu sagen habe.«

Iwan Ogareff sprach tartarisch und drückte sich mit dem emphatischen Schwunge aus, der die Sprache der Orientalen auszeichnet.

»Takhsir, die Zeit ist unnützen Worten nicht hold! Du weißt, was ich an der Spitze Deiner Truppen gethan habe. Die Linien des Ichim und Irtysch sind in unserer Macht und die Turkomanenreiter können ihre Pferde in dem nun tartarisch gewordenen Strome tränken. Die Kirghisenhorden erheben sich auf den Ruf Feofar-Khan’s, und Dein ist die Hauptstraße Sibiriens vom Ichim bis nach Tomsk. Du kannst von hier aus Deine Heersäulen ebenso wohl nach dem Osten entsenden, wo die Sonne aufgeht, als hinaus nach dem Westen, wo sie sich niederlegt.

– Und wenn ich mit der Sonne marschire? fragte der Emir, ohne daß ein Zug des Gesichts die Gedanken seines Innern verrieth.

– Wenn Du mit der Sonne gehst, antwortete Iwan Ogareff, so wirst Du nach Europa zu gelangen und in schnellem Siegeslaufe die sibirischen Provinzen von Tobolsk bis nach den Bergen des Ural gewinnen.

– Und wenn ich der Fackel des Himmels entgegen ziehe?

– So wirst Du mit Irkutsk die reichen Gebiete des mittleren Asiens der tartarischen Herrschaft unterwerfen.

– Doch die Armeen des Sultans von Petersburg? fragte Feofar-Khan, der mit diesem sonderbaren Titel den Kaiser von Rußland bezeichnete.

– Von ihnen hast Du nichts zu fürchten, weder nach Sonnenaufgang, noch nach Sonnenuntergang zu, entgegnete Iwan Ogareff. Unser Einfall erfolgte zu plötzlich, und bevor die russische Armee im Stande ist, ihnen Hilfe zu leisten, werden Irkutsk oder Tobolsk in Deine Hände gefallen sein. Die Truppen des Czaaren sind bei Kolyvan aufgerieben worden, wie es überall geschehen wird, wo die Deinen gegen jene verächtlichen Heerhaufen des Occidentes streiten werden.

– Und welchen Rath giebt Dir Deine Ergebenheit für die Sache der Tartaren ein? fragte der Emir nach einer kurzen Pause.

– Mein Rath, entgegnete Iwan Ogareff lebhaft und schnell, geht dahin, der Sonne entgegen zu ziehen! Das Gras der östlichen Steppen sollen die Rosse der Turkomanen abweiden. Jetzt gilt es, Irkutsk einzunehmen, die Hauptstadt der Provinz des Ostens, und mit ihr eine Geißel zu gewinnen, welche den Besitz eines großen Landes aufwiegt. Jetzt muß, da es der Czaar nicht selbst sein kann, an seiner Stelle der Großfürst, sein Bruder, in Deine Hände fallen.«

Das war das letzte Ziel, dem Iwan Ogareff nachstrebte. Hörte man ihn so reden, so hätte man ihn wohl für einen Abkommen jenes grausamen Stephan Razine halten können, der das südliche Rußland im 18. Jahrhundert verwüstete. Sich des Großfürsten zu bemächtigen, ihn ohne Mitleid in Fesseln zu schlagen, nach dieser Befriedigung seines Hasses geizte er unablässig. Die Einnahme von Irkutsk unterwarf übrigens gleichzeitig das ganze östliche Sibirien der Herrschaft der Tartaren.

»Es geschehe, wie Du sagst, Iwan, erwiderte Feofar-Khan.

– Wie lauten Deine Befehle, Takhsir?

– Noch heute soll unser Hauptquartier nach Tomsk verlegt werden.«

Iwan Ogareff verneigte sich und zog sich in Begleitung des Housch-Begui zurück, um die Befehle des Emirs auszuführen.

Eben als er zu Pferde steigen wollte, nach den Vorposten zurückzukehren, entstand in einiger Entfernung, in dem von den Gefangenen eingenommenen Theil des Lagers, ein gewisser Tumult. Man vernahm wüstes Geschrei, dem zwei oder drei Gewehrschüsse folgten. Handelte es sich hier um den Versuch einer Revolte oder einer Massenflucht, welche summarisch zurückgewiesen wurde?

Iwan Ogareff und der Housch-Begui gingen ein wenig nach der Gegend zu und fast gleichzeitig erschienen zwei Männer, trotz der Anstrengung der Soldaten, sie zu halten, vor den beiden Officieren.

Der Housch-Begui machte ohne weitere Nachforschungen ein Zeichen mit der Hand, welches einem Todesbefehl gleichkam, der die Köpfe der Gefangenen wohl schnell hätte in den Sand rollen lassen, als Iwan Ogareff einige Worte fallen ließ, die dem schon über Jenen geschwungenen Säbel Halt geboten.

Der Russe hatte schnell erkannt, daß die beiden Gefangenen Fremde waren, und befahl, sie ihm vorzuführen.

Man ließ nun Harry Blount und Alcide Jolivet vortreten.

Seit der Ankunft Iwan Ogareff’s im Lager hatten sie schon verlangt, vor ihn gebracht zu werden. Die Soldaten schlugen ihren Wunsch einfach ab. Daraus entspann sich ein Streit, der mit einem Fluchtversuche und einigen Gewehrschüssen endigte, denen die Journalisten noch ohne Verwundung entgingen; immerhin hätten sie ohne das Dazwischentreten des Emirs ihren Widerstand gewiß bald mit dem Leben zu büßen gehabt.

Letzterer examinirte die ihm vollständig unbekannten Gefangenen einige Augenblicke. Dieselben hatten zwar dem Auftritt im Relais zu Ichim beigewohnt, als Michael Strogoff von Iwan Ogareff geschlagen wurde. Der brutale Reisende von damals hatte indeß den mit anwesenden Personen keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt.

Harry Blount und Alcide Jolivet dagegen erkannten Jenen vollkommen wieder und Letzterer sagte halblaut:

»Sieh da! Es scheint, der Oberst Ogareff und der grobe Reisende von Ichim sind ein und dieselbe Person!«

Dann raunte er seinem Begleiter noch ins Ohr:

»Setzen Sie ihm unsere Angelegenheit auseinander, Blount, Sie erweisen mir einen großen Gefallen. Dieser russische Oberst in einem Tartarenlager mißfällt mir gar zu sehr, und wenn mein Kopf auch nur Dank seiner Vermittlung noch auf seinen Schultern sitzt, so würden sich meine Augen doch eher verächtlich von ihm abwenden, als ihm in’s Angesicht zu sehen.«

In Alcide Jolivet’s Zügen malte sich die vollständigste und hochmüthigste Gleichgiltigkeit.

Empfand es Iwan Ogareff, daß diese Haltung des Gefangenen etwas Beleidigendes für ihn hatte? Jedenfalls ließ er nichts davon bemerken.

»Wer sind Sie, meine Herren? fragte er rasch mit zwar sehr kaltem, aber minder als gewöhnlich rauhem Tone.

– Zwei Correspondenten englischer und französischer Journale, erwiderte Harry Blount lakonisch.

– Sie besitzen jedenfalls Papiere, ihre Identität nachzuweisen?

– Hier sind Schriftstücke, welche uns in Rußland bei den Kanzlern Englands und Frankreichs accreditiren.«

Iwan Ogareff nahm die Papiere, die ihm Harry Blount hinreichte, entgegen und las sie mit Aufmerksamkeit durch.

»Sie begehren die Erlaubniß, unseren militärischen Operationen in Sibirien zu folgen? begann er darauf.

– Wir begehren nichts als frei zu sein, entgegnete lakonisch der englische Reporter.

– Sie sind es, meine Herren, antwortete Iwan Ogareff, und ich bin sehr begierig, Ihre Berichte im Daily-Telegraph zu lesen.

– Mein Herr, versetzte Harry Blount, mit seinem nie aus dem Gleichgewicht kommenden Phlegma, die Nummer kostet sechs Pence ohne das Postporto.«

Dabei wendete sich Harry Blount nach seinem Begleiter zurück, der seine Worte stillschweigend zu bestätigen schien.

Iwan Ogareff lächelte nicht, gab seinem Pferde die Sporen und verschwand an der Spitze seiner Escorte bald in einer Staubwolke.

»Nun, Herr Jolivet, was meinen Sie über Iwan Ogareff, den Oberanführer der Tartarenheere? fragte Harry Blount.

– Ich denke noch daran, lieber College, erwiderte lächelnd Alcide Jolivet, daß jener Housch-Begui eine recht hübsche Geste machte, als er den Befehl gab, uns um einen Kopf kürzer zu machen!«

Welche Empfindung Iwan Ogareff auch bei seinem Verfahren gegen die Journalisten leiten mochte, jedenfalls waren diese frei und konnten den Kriegsschauplatz nach Belieben durchwandern. Nun kam es ihnen gewiß nicht in den Sinn, die Flinte in’s Korn zu werfen. Auch die Antipathie, welche sie früher wohl gegen einander fühlten, hatte einer innigen Freundschaft Platz gemacht. Durch die Umstände einander genähert, dachten sie gar nicht daran, sich zu trennen. Die leidigen Fragen einer unnützen Eifersucht waren für immer gelöscht. Harry Blount konnte niemals vergessen, was er seinem Begleiter schuldete, der es jedoch vermied, ihn irgend wie daran zu erinnern; die gegenseitige Annäherung erleichterte die Zwecke der Reportage, gewiß zum Vortheile der beiderseitigen Leser.

»Und nun, begann Harry Blount, was werden wir nun mit unserer Freiheit anfangen?

– Zum Teufel, wir werden sie ausnutzen und ruhig nach Tomsk gehen, um zu sehen, was dort geschieht.

– Bis zu dem, hoffentlich nicht mehr fernen Augenblick, der es gestattet, uns einem russischen Corps anzuschließen? –

– Ganz recht, mein lieber Blount; man darf sich nicht zu sehr tartarisiren! Die bessere Rolle spielen immer diejenigen, deren Waffen die Civilisation verbreiten, und offenbar hätten die Volksstämme Centralasiens Alles zu verlieren und gar nichts bei diesem Einfalle der Halbwilden zu gewinnen; die Russen werden sie aber schon zu vertreiben wissen; das kann nur eine Frage der Zeit sein.«

Das Erscheinen Iwan Ogareff’s, dem Alcide Jolivet und Harry Blount ihre Freiheit verdankten, stellte im Gegentheil aber eine große Gefahr für Michael Strogoff dar. Wenn der Zufall den Courier des Czaaren Iwan Ogareff vor Augen führte, mußte dieser ohne Zweifel den Reisenden wiedererkennen, den er auf dem Relais zu Ichim so brutal behandelt hatte, und wenn Michael Strogoff damals auch sich nicht, wie er es in jedem andern Falle gethan hätte, gegen die ihm angethane Schmach vertheidigte, so mußte er doch der Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit werden, – was der Erreichung seiner Ziele gewiß nicht förderlich sein konnte.

Hierin lag die bedenklichere Seite der Anwesenheit Iwan Ogareff’s. Dagegen durfte es als eine glückliche Folge seiner Ankunft betrachtet werden, daß noch an demselben Tage der Befehl zur Aufhebung des Lagers und zur Verlegung des Quartiers nach Tomsk erging.

Michael Strogoff’s lebhafter Wunsch ging hiermit in Erfüllung. Seine Absicht war es, wie bekannt, Tomsk inmitten der übrigen Gefangenen zu erreichen, d. h. ohne dabei Gefahr zu laufen, Plänklern in die Hände zu fallen, welche die Umgegend jener wichtigen Stadt in großer Anzahl umschwärmten. In Folge der Ankunft Iwan Ogareff’s aber und der Furcht, von diesem erkannt zu werden, entstand ihm doch die Frage, ob er nicht lieber auf den ersteren Vortheil verzichten und unterwegs zu entfliehen versuchen solle.

Michael Strogoff hätte sich wahrscheinlich noch für das letztere entschieden, als ihm zu Ohren kam, daß Feofar-Khan und Iwan Ogareff an der Spitze mehrerer tausend Reiter schon nach jener Stadt abgegangen seien.

»Ich werde es also abwarten, sagte er sich, wenn sich nicht eine ganz ausnahmsweise günstige Gelegenheit zur Flucht darbietet. Diesseit Tomsk überwiegen ja die schlechten Chancen, jenseit desselben nehmen die guten immer zu, da ich dort binnen wenig Stunden über die am meisten nach Osten vorgeschobenen Posten der Tartaren hinausgelangen kann. Noch drei Tage Geduld und dann stehe Gott mir bei!«

In der That brauchte es nur einer Reise von drei Tagen, welche die Gefangenen unter strenger Aufsicht einer starken Abtheilung Tartaren durch die Steppe zurückzulegen hatten. Zwischen dem Lager und der Stadt lag eine Entfernung von einhundertfünfzig Werst. Den Soldaten des Emirs, die an nichts Mangel litten, ward dieser Weg zwar leicht genug, desto schwerer aber den unglücklichen, durch Entbehrungen aller Art geschwächten Gefangenen. Mehr als eine Leiche sollte ihren Zug über die sibirische Heerstraße bezeichnen.

Am 12. August um zwei Uhr Nachmittags, bei großer Hitze und wolkenlosem Himmel, gab der Toptschi-Baschi Befehl zum Aufbruch.

Nachdem sie sich Pferde gekauft hatten, waren Alcide Jolivet und Harry Blount schon auf dem Wege nach Tomsk, wo die Logik der Thatsachen die wichtigsten Personen dieser Geschichte voraussichtlich vereinigen mußte. Unter den von Iwan Ogareff nach dem tartarischen Lager geschleppten Gefangenen befand sich auch eine bejahrte Frau, deren Schweigsamkeit sie von allen Uebrigen, welche ihr Loos theilten, auffallend unterschied. Kein Klagelaut kam über ihre Lippen. Man hätte sie eine Bildsäule des Schmerzes nennen können. Diese fast stets unbewegliche, ruhige und aufmerksamer als die Andern bewachte Frau wurde, ohne daß sie es ahnte oder sich darum zu kümmern schien, stets von Sangarre beobachtet. Trotz ihres Alters hatte auch sie dem Gefangenentransporte zu Fuße folgen müssen, ohne daß Jemand versucht hätte, ihr irgend eine Erleichterung zu gewähren.

Dagegen sendete die weise Vorsehung ein muthiges, liebenswürdiges anderes Wesen an ihre Seite, das ganz dazu geschaffen schien, ihr Beistand zu leisten. Unter ihren Unglücksgefährten befand sich ein junges, durch seine Schönheit und Kaltblütigkeit ausgezeichnetes Mädchen, das es sich zur Aufgabe machte, über sie zu wachen. Noch war zwischen den beiden Gefangenen kaum ein Wort gewechselt worden, und doch war das junge Mädchen stets zur Hand, wenn es der alten Frau nur den geringsten Dienst leisten konnte. Letztere hatte von Anfang an die stumme Sorgfalt der Unbekannten nicht ohne einiges Mißtrauen gesehen. Nach und nach besiegte aber der gerade, offene Blick des Mädchens, ihre Zurückhaltung und die geheimnißvolle Sympathie, welche die Gemeinsamkeit des Schmerzes zwischen zwei gleichmäßig Unglücklichen so leicht hervorruft, die stolze, halb abweisende Kälte Marfa Strogoff’s. Nadia, – denn sie war es, – hatte auf diese Weise unbewußt der Mutter einen Theil der Wohlthaten zurückzahlen können, die sie dem Sohne schuldete. Ihr von Natur gutes Herz hatte sie hier doppelt gut geleitet. Dadurch, daß sie Jener gern diente, erwarb sich Nadia für ihre Jugend und Schönheit den Schutz der älteren Gefangenen. Mitten in dieser Menge elender, durch ihre Leiden gereizter Leute wußten sich diese beiden schweigsamen weiblichen Wesen, deren Eine die Großmutter, die Andere die Enkelin zu sein schien, doch immer eine Art Hochachtung zu sichern.

Nadia war, nachdem sie die tartarischen Plänkler in die Barken auf dem Irtysch geschleppt hatten, nach Omsk gebracht worden. In der Stadt gefangen gehalten, theilte sie das Loos aller derjenigen, welche die Truppen Iwan Ogareff’s bis dahin eingebracht hatten, und folglich auch das Marfa Strogoff’s.

Ohne ihre unbeugsame Energie wäre Nadia wohl dem doppelten Schlage, der sie traf, unterlegen. Die Unterbrechung ihrer Reise und der Tod Michael Strogoff’s drückten und empörten sie zu gleicher Zeit. Vielleicht für immer getrennt von ihrem Vater, nach so unsäglichen glücklich überstandenen Mühen, die sie ihm genähert hatten, und, um ihren Schmerz auf’s Höchste zu steigern, der Verlust des unerschrockenen Begleiters, den Gott selbst ihr auf den Weg gesendet zu haben schien, um sie zum Ziel zu geleiten, – Alles hatte sie mit einem Schlage verloren. Nie schwand das Bild Michael Strogoff’s, der vor ihren Augen von einem Lanzenstoße getroffen in den Fluthen des Irtysch versank, aus ihren Gedanken. Mußte ein solcher Mann einen so traurigen Tod finden? Für wen sparte Gott seine Wunder, wenn dieser Gerechte, der gewiß einem edlen Zwecke diente, so jammervoll auf seinem Wege aufgehalten werden sollte? Manchmal gewann der Zorn die Oberhand über ihren Schmerz. Die schmachvolle Behandlung, die ihr Begleiter auf dem Relais zu Ichim so unerwartet ruhig über sich ergehen ließ, kam ihr wieder in den Sinn. Ihr Herzblut kochte bei dieser Erinnerung.

»Wer wird wohl diesen Todten rächen, sagte sie zu sich selbst, da er es selbst nicht mehr kann?«

Und dann richtete sie heimlich ihr Gebet zu Gott und rief:

»Mach es, Herr, daß ich es sein darf!«

Hätte ihr Michael Strogoff nur noch vor seinem Tode sein Geheimniß anvertraut, wie gern hätte sie, wenn auch ein Weib und noch ein halbes Kind, den Auftrag des Bruders zu erledigen versucht, eines Bruders, den Gott ihr nicht erst hatte schenken sollen, wenn sie ihn so zeitig wieder verlieren sollte! …

Man begreift, daß Nadia, von solchen Gedanken erfüllt, für die Leiden ihrer Gefangenschaft fast unempfindlich wurde.

Da hatte sie der Zufall, ohne die geringste Ahnung ihrerseits, mit Marfa Strogoff zusammengeführt. Wie konnte sie auf den Gedanken kommen, daß diese alte Frau, ihre Mitgefangene, die Mutter ihres früheren Begleiters sein könne, der für sie ja stets der Kaufmann Nicolaus Korpanoff gewesen war. Und wie hätte Marfa auf der andern Seite ahnen können, welches Band der Erkenntlichkeit das junge Mädchen an ihren Sohn fesselte?

Was Nadia zuerst an Marfa auffiel, das war eine Art geheimer Uebereinstimmung, womit Jede von ihnen sich ihrem bedauernswerten Loose unterwarf. Der stoische Gleichmuth der alten Frau gegenüber den Leiden und Entbehrungen ihres täglichen Lebens, diese Verachtung aller körperlichen Beschwerden, konnte Marfa nur aus einem geheimen Schmerze gewinnen, der dem ihrigen an Größe gleichkam. Das waren die Gedanken Nadia’s, und wir wissen, daß sie sich damit nicht täuschte. Eine instinctive Sympathie für jene Schmerzen, welche Marfa Strogoff nicht zeigte, zog Nadia zuerst zu ihr hin. Diese Art und Weise, ihr Leid und Weh zu tragen, harmonirte mit der stolzen Seele des jungen Mädchens. Sie bot Jener ihre Dienste nicht erst an, sie leistete sie ihr. Marfa kam nicht dazu, diese annehmen oder abschlagen zu können. An beschwerlicheren Stellen des Weges war das junge Mädchen da und unterstützte sie mit ihren Armen. Wenn Nahrungsmittel ausgetheilt wurden, hätte die alte Frau wohl nie etwas geholt, aber Nadia theilte mit ihr die eigenen kärglichen Mahlzeiten, so daß sie Beide den qualvollen Zug durch das Land auf gleiche Weise zurücklegten. Dank ihrer jungen Begleiterin vermochte Marfa Strogoff den Soldaten, welche den Gefangenentransport leiteten, zu folgen, ohne an einen Sattelknopf gefesselt zu werden, wie manche andere Unglückliche, welche so auf ihrem Schmerzenswege dahin geschleppt wurden.

»Gott lohne es Dir, meine Tochter, was Du für meine alten Tage gethan hast!« sagte einmal Marfa Strogoff, das einzige Wort, das während einer langen Zeit zwischen den beiden armen Wesen gewechselt worden war.

Man hätte meinen sollen, daß die ältere Frau und das junge Mädchen im Verlaufe mehrerer Tage, die ihnen wie Jahrhunderte erschienen, sich einmal über ihre Verhältnisse ausgesprochen hätten. Marfa Strogoff hatte aber aus leicht begreiflichen Gründen, und auch das nur möglichst kurz, von sich allein gesprochen. Sie hatte nie ihres Sohnes oder des traurigen Augenblicks erwähnt, der sie mit ihm zusammenführte.

Ebenso verhielt sich Nadia lange Zeit fast stumm, vermied wenigstens jedes unnütze Wort. Erst als sie eines Tages immer deutlicher fühlte, daß sie eine hohe, edle Seele in ihrer Begleiterin vor sich hatte, ging ihr das Herz über und sie erzählte, ohne etwas zu verheimlichen, Alles, was ihr seit der Abreise von Wladimir bis zum Tode Nicolaus Korpanoff’s begegnet war. Was sie von ihrer jungen Begleiterin hörte, erregte die lebhafteste Theilnahme der alten Sibirerin.

»Nicolaus Korpanoff, sagte sie, erzähle mir noch mehr von diesem Nicolaus! Ich kenne nur einen Mann, nur einen einzigen unter der jetzigen Jugend, von dem mich ein solches Benehmen nicht Wunder genommen hätte! Nicolaus Korpanoff? War das auch sein Name? Bist Du dessen sicher, meine Tochter?

– Warum sollte er mich hierin getäuscht haben, erwiderte Nadia, da er in allen andern Dingen die Wahrheit sprach?«

Dennoch trieb ein ungewisses Gefühl Marfa Strogoff, an Nadia immer weitere Fragen zu stellen.

»Du sagst mir er sei unerschrocken gewesen, meine Tochter; Du hast mir versichert, daß er es war, sagte sie.

– Gewiß, unerschrocken, bestätigte Nadia.

– So wäre mein Sohn auch gewesen«, murmelte Marfa Strogoff halb für sich.

Dann fuhr sie fort:

»Du sagst mir auch, daß Nichts ihn aufhalten konnte, daß Nichts ihn erschreckte, daß er so mild war, bei aller Kraft, daß Du in ihm ebenso gut eine Schwester, wie einen Bruder hattest, daß er über Dich wachte, wie eine Mutter?

– Ja, ja, erwiderte Nadia, Bruder, Schwester, Mutter, o, er war mir Alles!

– Und auch ein Löwe, Dich zu vertheidigen?

– Wahrhaftig, ein Löwe! antwortete Nadia; ja ein Löwe, ein Held!

– Mein Sohn, mein Sohn! dachte die alte Sibirierin. Du sagst auch, daß er im Posthofe zu Ichim sich eine so unwürdige Behandlung gefallen ließ?

– Ja, er ertrug sie, meinte Nadia und senkte das Haupt.

– Er hat sie ertragen? murmelte zitternd Marfa Strogoff.

– Mutter, Mutter! rief Nadia, verdammt ihn nicht! Er trug ein Geheimniß mit sich, worüber heut nur Gott noch Richter sein kann.

– Und damals, fuhr Marfa Strogoff fort, den Kopf wieder aufrichtend und Nadia scharf ansehend, als wolle sie im tiefsten Grund ihrer Seele lesen, in jener Stunde der Erniedrigung, hast Du damals jenen Nicolaus Korpanoff verachtet?

– Ich habe ihn bewundert, ohne ihn zu verstehen! erwiderte das junge Mädchen. Ich habe niemals mehr Hochachtung für ihn gefühlt.«

Die alte Frau schwieg einen Augenblick.

»Er war groß? fragte sie hierauf.

– Sehr groß.

– Und sehr schön, nicht wahr? Sprich nur meine Tochter.

– Er war sehr schön, antwortete Nadia leicht erröthend.

– Das war mein Sohn! Ich sage Dir, das ist mein Sohn gewesen! rief die alte Frau überwältigt und schloß Nadia in ihre Arme.

– Dein Sohn? versetzte Nadia ganz erstaunt, Dein Sohn!

– Weiter, drängte Marfa, komme zum Ende, mein Kind. Dein Begleiter, Dein Freund, Dein Beschützer, er hatte doch eine Mutter. Hat er Dir niemals von seiner Mutter gesprochen?

– Von seiner Mutter? Er hat mir von seiner Mutter gesprochen, wie ich ihm von meinem Vater. O, er betete sie an, diese Mutter!

– Nadia, Nadia! Du hast mir die Geschichte meines eigenen Sohnes erzählt«, schluchzte die alte Frau.

Dann fügte sie ruhiger hinzu:

»Schien es denn gar nicht in seiner Absicht zu liegen, diese Mutter, welche er, wie Du sagst, so sehr liebte, bei seiner Durchreise in Omsk einmal zu sehen?

– Nein, erwiderte Nadia, das wollte er nicht.

– Wie, rief Marfa, Du wagst mir Nein zu sagen?

– Ja gewiß, aber ich muß wohl noch hinzufügen, daß Nicolaus Korpanoff aus Gründen, die ihm über Alles gingen und die ich auch selbst nicht kenne, gezwungen schien, das Land möglichst unerkannt zu durchziehen. Es war für ihn eine Frage auf Tod und Leben, und noch mehr, eine Frage der Ehre und Gewissenspflicht.

– Eine Frage der Pflicht, der gebieterischen Pflicht, meinte die alte Sibirierin, einer solchen Pflicht, der man Alles aufopfert, für deren Erfüllung man alles Andere aufgiebt, sogar die Freude, sich einen Kuß, ach vielleicht den letzten, von seiner alten Mutter zu holen! Ich weiß jetzt Alles, Nadia, was Dir und mir bis zu dieser Stunde unbekannt blieb. Du hast es mir klar gemacht. Dennoch darf ich Dir das Licht, das Du mir angezündet hast, nicht auch leuchten lassen. Da mein Sohn Dir sein Geheimniß nicht mittheilte, so muß auch ich es ihm bewahren. Verzeihe mir, Nadia, ich kann die Wohlthat, die Du mir erwiesen, nicht ebenso vergelten.

– Ich verlange keine Belohnung, Mutter«, antwortete Nadia.

Der alten Sibirerin war nun Alles klar geworden. Alles, bis auf das unerklärliche Benehmen ihres Sohnes bei ihrem Anblick in dem Gasthause zu Omsk, in Gegenwart der Zeugen ihres Zusammentreffens. Sie zweifelte keinen Augenblick mehr, daß der Begleiter des jungen Mädchens Michael Strogoff gewesen sei, daß eine geheime Mission, eine wichtige Depesche, die er durch das überfallene Gebiet zu besorgen hatte, ihn zwang, seine Eigenschaft als Courier des Czaaren zu verheimlichen.

»O mein braves Kind! dachte Marfa Strogoff; nein, ich werde dich nicht verrathen und keine Tortur soll mir das Geständniß ablocken, daß Du es wirklich warst, den ich in Omsk gesehen habe!«

Marfa Strogoff hätte Nadia mit einem Worte für ihre erwiesene Ergebenheit belohnen können. Sie konnte ihr mittheilen, daß ihr Begleiter Nicolaus Korpanoff, oder vielmehr Michael Strogoff, nicht in den Wellen des Irtysch umgekommen sei, da sie selbst ihn mehrere Tage nachher gesehen und selbst gesprochen hatte! …

Sie hielt aber an sich; sie schwieg und begnügte sich zu sagen:

»Gieb die Hoffnung nicht auf, mein Kind! Das Unglück kann Dich nicht für immer verfolgen. Du wirst Deinen Vater wiedersehen, ich fühle es, und vielleicht ist auch der, der Dich Schwester nannte, noch nicht todt! Gott kann es nicht gestatten, daß Dein edler Gefährte umgekommen sei! … Hoffe noch immer, meine Tochter! Mach‘ es wie ich! Die Trauerkleidung, welche ich trage, gilt meinem Sohne noch nicht!

Drittes Capitel

Drittes Capitel

Schlag für Schlag

In dieser Weise gestaltete sich also das Verhältniß Marfa Strogoff’s und Nadia’s zu einander. Die alte Sibirerin hatte Alles durchschaut, und wenn dem jungen Mädchen auch nicht bekannt war, daß ihr so aufrichtig betrauerter Begleiter noch lebte, so wußte sie doch, was seiner kindlich verehrten Mutter geschah, und sie dankte Gott dafür, daß er ihr die Freude gewährte, der Gefangenen den verlorenen Sohn einigermaßen zu ersetzen.

Weder die Eine noch die Andere konnten aber wissen, daß der bei Kolyvan gefangene Michael Strogoff sich in demselben Zuge befinde und gleichzeitig mit ihnen nach Tomsk transportirt werde.

Die von Iwan Ogareff weiter zugeführten Gefangenen wurden mit denen, welche der Emir schon in dem tartarischen Lager bewachen ließ, vereinigt. Nach Tausenden zählten diese Unglücklichen, Russen oder Sibirier, Militärs oder Civilpersonen, und bildeten einen Zug von mehreren Werst Länge. Diejenigen derselben, welche man für die gefährlichsten hielt, waren mittels Handschellen an eine lange Kette geschlossen. Frauen und Kinder band oder hängte man an die Sattelknöpfe, um sie ohne Erbarmen auf der Straße hinzuschleppen. Man trieb sie wie eine Heerde Vieh vor sich her. Die begleitenden Reiter sahen auf die Einhaltung einer gewissen Ordnung, so daß es hier keine Nachzügler gab, außer denjenigen, welche zusammen brachen, um nicht wieder aufzustehen.

In Folge dieser Ordnung kam es, daß Michael Strogoff, der sich in den ersten Reihen befand, die das Feldlager verließen, d. h. unter den Gefangenen von Kolyvan, nicht unter die zuletzt aus Omsk angelangten Gefangenen gemischt wurde. Er konnte also die Anwesenheit seiner Mutter und Nadia’s in demselben Gefangenenzuge ebenso wenig ahnen, wie diese die seinige.

Dieser Zug vom Lager bis nach Tomsk, unter der Knute der Soldaten und solch‘ traurigen Verhältnissen, wurde für nicht Wenige tödtlich, für Alle furchtbar. Man marschirte quer durch die Steppe, auf einer Straße, die durch den mit seiner Avantgarde vorausziehenden Emir nur noch staubiger geworden war. Dazu war Befehl gegeben, möglichst schnell nachzurücken, so daß nur selten und dann nur kurze Zeit Halt gemacht wurde. Diese 150 Werst unter brennender Sonne zurückzulegen schien, trotz der Schnelligkeit der Bewegung, ein endloser Weg zu sein!

Es ist eine ganz unfruchtbare Gegend, die sich dort vom rechten Ufer des Obi bis zum Fuße der Vorberge erstreckt, welche zu dem von Norden nach Süden verlaufenden Sayanskgebirge gehören. Kaum unterbrechen einige magere, halb verbrannte Gebüsche die Einförmigkeit dieser grenzenlosen Ebene. Von Bodencultur ist bei dem Wassermangel hier keine Rede, und auch den von dem anstrengenden Marsche erschöpften Gefangenen fehlte es vor allen Dingen an dem erquickenden Wasser. Um einen Fluß anzutreffen, hätte man sich etwa fünfzig Werst weiter nach Osten begeben müssen, bis zu dem Fuße jenes Landrückens, der die Wasserscheide zwischen dem Obi und Jeniseï darstellt. Dort läuft der Tom, ein kleiner Nebenfluß des Obi, der auch die Stadt Tomsk durchfließt, bevor er sich in einer der großen Wasseradern des Nordens verliert. Dort wäre Wasser in Ueberfluß, die Steppe minder dürr, die Hitze nicht so drückend gewesen. Die Führer des Zuges hatten aber die gemessensten Befehle erhalten, auf dem kürzesten Wege nach Tomsk zu marschiren, denn der Emir mußte jede Stunde fürchten, in der Flanke gefaßt und von einer aus den nördlichen Provinzen herab dringenden russischen Colonne abgeschnitten zu werden. Die große sibirische Heerstraße berührte nun aber die Ufer des Tom nicht, wenigstens nicht mit dem Tracte zwischen Kolyvan und dem nächsten kleinen, Zabediero genannten Flecken, – und von der Straße durfte nicht abgewichen werden.

Wir wollen uns nicht unnützer Weise bei den Leiden so vieler unglücklicher Gefangener aufhalten. Mehrere Hundert fielen auf der Steppe, wo ihre Leichen einfach liegen blieben, bis die vom Winter wieder hierher getriebenen hungrigen Wölfe den Rest ihrer Gebeine verzehrten.

So wie Nadia jeden Augenblick bei der Hand war, der alten Sibirerin helfend beizuspringen, so erwies auch Michael Strogoff, da er sich frei bewegen konnte, seinen schwächlicheren Leidensgefährten alle unter diesen Verhältnissen möglichen Dienste. Er sprach den Einen Muth zu, unterstützte die Andern, schonte sich selbst nach keiner Seite, ging ab und zu, bis ihn die Lanze eines Reiters zwang, den ihm in seiner Reihe angewiesenen Platz wieder einzunehmen.

Weshalb versuchte er nicht zu fliehen? – Weil jetzt sein Entschluß fest stand, sich nicht eher in die Steppe hinaus zu wagen, als bis sie ihm die nothwendige Sicherheit böte. Er hatte sich nun einmal vorgenommen, »auf Unkosten des Emirs« bis Tomsk zu gelangen, und wählte hiermit wohl auch den besten Theil. Wenn er die zahlreichen kleinen Abtheilungen berücksichtigte, welche die Ebene auf beiden Seiten des Zuges, bald im Süden und bald im Norden umschwärmten, so mußte er zu der Ueberzeugung gelangen, daß er gewiß kaum zwei Werst vorwärts gekommen wäre, ohne von diesen wieder aufgegriffen zu werden. Ueberall schwärmten die Tartarenreiter umher und schienen manchmal aus der Erde hervor zu kommen, wie die lästigen Insecten, welche nach einem Platzregen den Boden bedecken. Uebrigens erschien ein Fluchtversuch unter den obwaltenden Verhältnissen sehr schwer, wenn nicht ganz unausführbar. Die escortirenden Soldaten wachten mit äußerster Strenge, denn für eine erwiesene Nachlässigkeit stand ihr eigener Kopf auf dem Spiele.

Am 15. August erreichte der Zug mit sinkendem Tage endlich den kleinen Flecken Zabediero, etwa dreißig Werst von Tomsk. Hier vereinigte sich die Straße mit dem Laufe des Tom.

Gern wären die Gefangenen zuerst nach dem Wasser des Flusses geeilt, ihre Wächter gestatteten ihnen aber nicht eher aus den Reihen zu treten, als bis ein provisorisches Lager eingerichtet war. Trotz der zu jener Zeit gerade überaus heftigen Strömung des Tom hätte der Fluß doch die Flucht einiger Wagehälse oder Halbverzweifelter begünstigen können, weshalb die sorgsamsten Vorsichtsmaßregeln getroffen wurden. Auf den Fluß verlegte man eine Reihe aus Zabediero requirirter Boote, die eine Kette unmöglich zu durchbrechender Hindernisse bildeten. Die Außenlinie der an die ersten Häuser des Städtchens gelehnten Lagerstätte umschloß dagegen ein lückenlos dichter Cordon von Feldwachen.

Wenn Michael Strogoff auch einen Augenblick daran denken mochte, sich von hier aus in die Steppe zu flüchten, so sah er doch, nachdem er sich über die Sachlage unterrichtet, leicht ein, daß unter diesen Verhältnissen jeder Fluchtversuch unmöglich sei, und beschloß, sich in Geduld zu fassen, um nicht Alles auf’s Spiel zu setzen.

Die Gefangenen lagerten die ganze Nacht über an den Ufern des Tom. Der Emir hatte den Befehl erlassen, seine Truppen am folgenden Tage nach Tomsk hinein zu führen. Dort sollte die Verlegung des Hauptquartiers nach jener wichtigen Stadt durch ein großes militärisches Fest gefeiert werden. Feofar-Khan residirte schon in dem Fort derselben, während das Gros der Armee vor den Mauern bivouaquirte, um vereint mit der nachfolgenden Abtheilung einen imposanten Einzug zu halten.

Iwan Ogareff hatte den Emir in Tomsk gelassen, woselbst Beide am Tage vorher eingetroffen waren, und war nach dem Lager von Zabediero zurück gekehrt. Von dort wollte er am folgenden Tage mit der Arrièregarde des tartarischen Heeres aufbrechen. Zu seinem Nachtquartier fand er daselbst ein eigenes Haus vorgerichtet. Mit Sonnenaufgang setzte sich die Infanterie und Cavallerie der Truppe unter seinem Befehle nach Tomsk in Bewegung, wo der Emir Alle mit dem bei den asiatischen Souveränen gebräuchlichen Pompe empfangen wollte.

Nach Organisirung des Lagers durften die von den drei Marschtagen auf’s Aeußerste erschöpften Gefangenen endlich ihren quälenden Durst löschen und einige Ruhe genießen.

Schon war die Sonne untergegangen und der Horizont nur noch durch ein schwaches Dämmerlicht erhellt, als Nadia, am Arme Marfa Strogoff, am Ufer des Tom anlangten. Beide hatten vorher die dichten Massen der Verschmachteten, welche das Flußufer umdrängten, nicht zu durchbrechen vermocht und kamen jetzt erst dazu, sich einen erfrischenden Trank zu erobern.

Die alte Sibirerin beugte sich erschöpft über das Wasser; Nadia schöpfte daraus mit ihrer Hand und führte diese an Marfa’s Lippen. Dann erst erquickte sie sich auch selbst. Die bejahrte Frau und das junge Mädchen tranken ein neues Leben aus den wohlthätigen Fluthen.

Da wandte sich Nadia, eben als sie das Ufer wieder verlassen wollten, plötzlich um. Ein unwillkürlicher Aufschrei entrang sich ihren Lippen.

Michael Strogoff war da, nur wenige Schritte von ihr!

Ja, er war es! Das letzte Tageslicht fiel auf ihn.

Michael Strogoff erzitterte wohl bei jenem Schrei … Er gewann aber genug Herrschaft über sich, um nicht ein Wort hören zu lassen, das ihn hätte compromittiren können.

Gleichzeitig mit Nadia hatte er auch seine Mutter erkannt! …

Tiefbewegt von diesem unerwarteten Zusammentreffen drückte Michael Strogoff, um seiner Herr zu bleiben, die Hand vor die Augen und entfernte sich.

Nadia wollte instinctiv auf ihn zueilen, die alte Sibirerin aber hielt sie zurück und raunte ihr in’s Ohr:

»Bleib‘ hier, meine Tochter!

– Er ist es! entgegnete Nadia mit vor Erregung unterdrückter Stimme. Er lebt, Mutter! Er ist es!

– Ja, es ist mein Sohn, bestätigte Marfa Strogoff, das ist Michael Strogoff, und Du siehst, daß ich keinen Schritt zu ihm hin thue. Folge mir darin, meine Tochter!«

Michael Strogoff war eine Beute der tief innerlichsten Bewegung, die wohl je ein Mann empfinden kann. Er wußte seine Mutter und Nadia hier. Diese beiden Gefangenen, welche vereint in seinem Herzen wohnten, hatte der Himmel zu gemeinschaftlichem Unglück zusammen geführt. Wußte Nadia nun, wer er war? Nein, denn er hatte Marfa Strogoff’s Handbewegung bemerkt, mit der sie jene zurückhielt, als sie auf ihn zueilen wollte. Marfa Strogoff hatte Alles durchschaut und sein Geheimniß bewahrt.

Zwanzigmal während dieser Nacht stand Michael Strogoff auf dem Punkte, seine Mutter aufzusuchen, aber er sah immer wieder ein, daß er dem herzinnigen Wunsche widerstehen müsse, sie in seine Arme zu pressen und die Hand seiner jungen Gefährtin zu drücken. Die geringste Unklugheit konnte ihn ja verderben! Er hatte zudem geschworen, seine Mutter nicht zu sehen, und freiwillig wenigstens sollte es nicht geschehen. Einmal in Tomsk angekommen, wollte er, da es in dieser Nacht unmöglich war, hinausflüchten in die Steppe, ohne die beiden einzigen Wesen zu umarmen, an denen sein ganzes Leben hing und die er so vielen Gefahren ausgesetzt zurück ließ.

Michael Strogoff durfte also hoffen, daß dieses neue Zusammentreffen im Lager zu Zabediero weder für seine Mutter noch für ihn nachtheilige Folgen haben werde. Er wußte aber nicht, daß gewisse Einzelheiten dieser Scene, trotz ihres schnellen Verlaufes, von Sangarre, der Spionin Iwan Ogareff’s, beobachtet wurden.

Auch die Zigeunerin befand sich nämlich am Ufer, wo sie wie immer die alte Sibirerin ohne deren Wissen argwöhnisch überwachte. Michael Strogoff, welcher schon verschwunden war, als sie sich umsah, konnte sie damals zwar nicht gewahr werden, die hastige Bewegung seiner Mutter aber, als sie Nadia zurück hielt, entging ihr nicht, und ein Aufleuchten in den Augen Marfa’s sagte ihr Alles.

Es stand ihr nun außer Zweifel, daß der Sohn Marfa Strogoff’s, der Courier des Czaaren, sich in dieser Stunde in Zabediero, unter den Gefangenen Iwan Ogareff’s befinden müsse.

Sangarre kannte ihn nicht, aber sie wußte, daß er da war! Sie suchte ihn vorläufig also auch nicht zu entdecken, was bei der Dunkelheit und mitten in dieser zahlreichen Menschenmenge ohnehin unmöglich schien.

Auch eine weitere Beobachtung Nadia’s und Marfa Strogoff’s hielt sie für nutzlos. Offenbar würden die beiden Frauen äußerst vorsichtig sein und Alles strengstens vermeiden, was den Courier des Czaaren nur irgend compromittiren könnte.

Die Zigeunerin bewegte nur ein Gedanke, der, Iwan Ogareff Bericht zu erstatten. Sie verließ also sofort das Lager.

Nach Verlauf einer Viertelstunde gelangte sie nach Zabediero und wurde in das von dem Oberbefehlshaber des Emirs bewohnte Haus eingelassen.

Sofort empfing Iwan Ogareff die Zigeunerin.

»Was willst Du von mir, Sangarre? fragte er.

– Der Sohn Marfa Strogoff’s befindet sich im Lager, antwortete das Weib.

– Als Gefangener?

– Als Gefangener!

– O, rief Iwan Ogareff, so werde ich wissen …

– Du wirst Nichts wissen, Iwan, fiel ihm die Zigeunerin in’s Wort, denn Du kennst ihn ja nicht.

– Aber Du kennst ihn, Du! Du hast ihn gesehen, Sangarre!

– Nein, noch sah ich ihn nicht, aber seine Mutter verrieth sich durch eine Bewegung, die mir Alles erklärte.

– Täuschest Du Dich nicht?

– Ich täusche mich nicht.

– Du weißt, welches Gewicht ich auf die Einbringung dieses Couriers lege, sagte Iwan Ogareff. Wird das ihm in Moskau jedenfalls übergebene Cabinetsschreiben dem Großfürsten ausgehändigt, so wird dieser auf seiner Hut sein und ich werde mich ihm nicht zu nähern vermögen. Jenen Brief muß ich also um jeden Preis erlangen. Nun kommst Du mit der Meldung, der Ueberbringer jener kaiserlichen Botschaft befinde sich schon in meiner Gewalt. Ich frage Dich also noch einmal, Sangarre, täuschte Dich Deine Beobachtung nicht?«

Iwan Ogareff hatte sehr lebhaft gesprochen. Seine Erregung bewies, welchen Werth er auf den Besitz jenes Briefes legte. Sangarre wurde von der bestimmten Wiederholung jener Frage keineswegs betroffen oder wankend in ihrer Ueberzeugung.

»Ich täusche mich nicht, Iwan, antwortete sie mit Nachdruck.

– Im Lager befinden sich aber mehrere Tausend Gefangene, und Du sagtest, daß Dir Michael Strogoff von Person nicht bekannt sei.

– Nein, versetzte Sangarre, in deren Augen eine wilde Freude aufblitzte, ich, ich kenne ihn nicht, aber seine Mutter kennt ihn doch. Nun, Iwan, man wird seine Mutter zum Sprechen zwingen müssen.

– Morgen soll das geschehen!« erwiderte Iwan Ogareff.

Dann streckte er der Zigeunerin seine Hand hin und diese küßte sie, ohne daß diese bei den Völkerschaften des Nordens so gebräuchliche Achtungsbezeugung den Anschein der dienerhaften Unterwürfigkeit zeigte.

Sangarre kehrte nach dem Lager zurück. Sie spürte bald die Stelle aus, an der sich Nadia und Marfa Strogoff befanden, und ließ diese nun die ganze Nacht über nicht aus den Augen. Die bejahrte Frau und das junge Mädchen schliefen nicht, trotzdem daß die Erschöpfung sie fast übermannte. Eine fieberhafte Unruhe hielt sie munter. Michael Strogoff war am Leben, aber Gefangener gleich ihnen. Wußte das Iwan Ogareff, und wenn nicht, würde er es noch erfahren? Nadia beschäftigte sich nur mit dem einen Gedanken, daß ihr todt geglaubter Gefährte noch lebe. Marfa Strogoff’s Blick reichte weiter in die Zukunft, und wenn sie auch um sich selbst nicht besorgt war, so hatte sie doch Grund genug, für ihren Sohn das Schlimmste zu befürchten.

Sangarre schlich sich im Dunkeln bis dicht an die beiden Frauen heran und verweilte so einige Stunden lang gespannt lauschend … Vergeblich. Wie durch ein geheimes Gebot der Klugheit vermieden es Marfa Strogoff und Nadia, überhaupt ein Wort zu wechseln.

Am folgenden Tage, dem 16. August, Morgens gegen zehn Uhr, schmetterten helle Fanfaren am Rande des Lagers. Die tartarischen Soldaten traten augenblicklich unter die Waffen.

Aus Zabediero kam Iwan Ogareff, umgeben von einem zahlreichen Stabe tartarischer Officiere herangeritten. Sein Antlitz erschien noch finsterer, als gewöhnlich, und die strengen Züge verriethen einen verhaltenen Zorn, der nur auf eine Gelegenheit zum Ausbruch harrte.

Unter einer Gruppe Gefangener verloren sah Michael Strogoff seinen Feind vorüber kommen. Er hatte das unbestimmte Vorgefühl, daß jetzt eine Katastrophe nahe sei, denn Iwan Ogareff wußte, daß Marfa Strogoff die Mutter Michael Strogoff’s, des Officiers im Corps der Czaarencouriere, sei.

Als Iwan Ogareff in der Mitte des Lagers anlangte, stieg er vom Pferde, und die Officiere seiner Escorte bildeten einen weiten Kreis rings um ihn.

Da näherte sich Sangarre wieder und sagte:

»Ich habe Dir nichts Neues zu melden, Iwan!«

Iwan Ogareff antwortete nur durch Ertheilung eines Befehles an einen der Officiere.

Bald darauf drängten sich viele Soldaten mit roher Gewalt in die Reihen der Gefangenen. Von Peitschenschlägen getrieben oder von Lanzenschäften gestoßen, mußten die Armen sich eiligst erheben und an der Umfassung des Lagers Stellung nehmen. Ein vierfacher Cordon von Fußsoldaten, und hinter diesen von Reitern, machte jedes Entweichen unmöglich.

Bald herrschte Schweigen ringsum, und auf ein Zeichen Iwan Ogareff’s begab sich Sangarre nach der Gruppe, in deren Mitte Marfa Strogoff sich befand.

Die alte Sibirerin sah sie herankommen. Sie errieth, was geschehen solle. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre Lippen. Dann neigte sie sich zu Nadia und sagte zu ihr mit gedämpfter Stimme:

»Du kennst mich nicht mehr, meine Tochter! Was auch kommen und wie hart diese Prüfung werden möge, – kein Wort! keine Bewegung! Es handelt sich hier um ihn, nicht um mich!«

Da legte, nachdem sie sie einen Augenblick angesehen, Sangarre die Hand auf die Schulter der alten Sibirerin.

»Was begehrst Du? fragte Marfa Strogoff.

– Komm‘ mit mir!« erwiderte Sangarre.

Fortdrängend führte sie Jene in die Mitte des freien Raumes vor Iwan Ogareff.

Michael Strogoff hielt die Lider halb geschlossen, um sich nicht durch das Aufflammen seiner Augen zu verrathen.

Vor Iwan Ogareff angelangt, richtete Marfa Strogoff sich hoch und stolz empor, kreuzte die Arme und wartete.

»Du bist ja wohl Marfa Strogoff? fragte sie Iwan Ogareff.

– Die bin ich, antwortete ruhig die alte Sibirerin.

– Erinnerst Du Dich noch Deiner Antwort, als ich Dich vor drei Tagen in Omsk um Etwas fragte?

– Nein.

– Du weißt also nicht, daß Dein Sohn als Courier des Czaaren durch Omsk gekommen ist?

– Das weiß ich nicht.

– Und jener Mann, den Du im Posthofe als Deinen Sohn zu erkennen glaubtest, das war Dein Sohn nicht?

– Nein, das war er nicht.

– Und seitdem ist er Dir auch hier unter den Gefangenen nicht zu Gesicht gekommen?

– Nein.

– Und wenn ich Dir ihn zeigte, würdest Du ihn wieder erkennen?

– Nein.«

Bei dieser Antwort, dem Beweise des unerschütterlichen Entschlusses, nichts zu gestehen, durchlief ein leises Murmeln die Umgebung.

Iwan Ogareff konnte sich einer drohenden Bewegung nicht enthalten.

»So höre: Dein Sohn ist hier und Du wirst ihn mir sofort bezeichnen.

– Nein!

– Alle die bei Omsk und Kolyvan gefangenen Männer werden Dir vorgeführt werden, und wenn Du dann Michael Strogoff nicht bezeichnest, erwarten Dich ebenso viele Knutenhiebe, als Gefangene vorüber gekommen sind.«

Iwan Ogareff hatte wohl eingesehen, daß er die unbeugsame Sibirerin trotz aller Drohungen und Torturen nicht werde zum Reden bringen können. Um den Courier des Czaaren zu entdecken, rechnete er viel weniger auf jene, als auf Michael Strogoff selbst. Er hielt es für unmöglich, daß Mutter und Sohn, wenn sie einander gegenüber ständen, sich nicht durch irgend eine Bewegung verrathen sollten. Wäre es ihm nur allein um das kaiserliche Schreiben zu thun gewesen, so brauchte er ja nur einfach einen Befehl zur Durchsuchung aller Gefangenen zu erlassen. Michael Strogoff konnte das Schriftstück aber auch vernichtet haben, nachdem er seinen Inhalt durchlas; wurde er dann nicht erkannt und gelang es ihm vielleicht noch, nach Irkutsk zu flüchten, so waren Iwan Ogareff’s Pläne durchkreuzt. Der Verräther mußte sich also nicht nur des Briefes, sondern auch des Ueberbringers desselben versichern.

Nadia hatte Alles mit angehört; sie wußte nun, wer Michael Strogoff sei und warum er die von den Feinden überfallenen Provinzen Sibiriens unerkannt durchreisen wollte.

Auf Iwan Ogareffs Befehl defilirten die Gefangenen Mann für Mann vor Marfa Strogoff, welche unbeweglich blieb, wie eine Bildsäule, und deren Blicke die vollständigste Gleichgiltigkeit heuchelten.

Ihr Sohn befand sich unter den Letzten, welche herzutraten. Als er vor seiner Mutter vorüber schritt, schloß Nadia die Augen, um es nicht mit anzusehen.

Auch Michael Strogoff war scheinbar ruhig geblieben, aber seine hohle Hand blutete, so fest hatten sich die Nägel eingepreßt.

Iwan Ogareff war vorläufig besiegt durch die Mutter und den Sohn!

Sangarre, welche neben ihm stand, äußerte nur ein Wort.

»Die Knute herbei! sagte sie.

– Ja! rief Iwan Ogareff, der sich nicht mehr bemeistern konnte, die Knute dieser alten Schurkin, bis sie den Geist aufgiebt!«

Mit dem schrecklichen Zuchtinstrument in der Hand näherte sich ein tartarischer Soldat der Marfa Strogoff.

Die Knute besteht aus einer gewissen Anzahl Lederriemen, deren Enden in geflochtene Drahtstücken auslaufen. Man nimmt an, daß eine Verurtheilung zu hundertzwanzig Knutenstreichen einem Todesurtheil gleich zu achten ist. Marfa Strogoff wußte das wohl, aber sie wußte auch, daß keine Tortur sie zum Sprechen zwingen werde, und ihr Leben wollte sie gern zum Opfer bringen.

Marfa Strogoff ward von zwei Soldaten ergriffen und auf die Knie zu Boden geworfen. Man riß ihr das Kleid herunter und entblößte den Rücken. Nur wenige Zoll vor ihrer Brust wurde ein Säbel befestigt, so daß sie in dessen Spitze fallen mußte, wenn der Schmerz sie niederbeugte.

Der Tartar stand bereit.

Er wartete eines Zeichens.

»Thu‘ Deine Pflicht!« sagte Iwan Ogareff.

Die Geißel pfiff durch die Luft …

Aber bevor sie niederfiel hatte eine kräftige Faust sie der Hand des Tartaren entrissen.

Michael Strogoff war am Platze, ihn hielt es nicht bei dieser entsetzlichen Scene. Wenn er sich auf dem Relais zu Ichim bezwungen hatte, als die Peitsche Iwan Ogareffs ihn selbst traf, hier, wo sie seiner Mutter zugedacht war, konnte er sich nicht bemeistern.

Iwan Ogareff hatte gesiegt.

»Michael Strogoff!« rief er.

Dann trat er näher.

»Ah, sagte er höhnisch, der Mann von Ichim?

– Derselbe!« schrie Michael Strogoff.

Und schnell erhob er die Knute und schlug Iwan Ogareff wüthend mehrmals in’s Gesicht.

»Schlag für Schlag! rief er.

– Brav zurückerstattet!« ließ sich die Stimme eines Zuschauers vernehmen, die sich glücklicher Weise in dem allgemeinen Tumulte verlor.

Ein Haufe Soldaten stürzte sich auf Michael Strogoff, um ihn umzubringen …

Doch Iwan Ogareff, dem ein Schrei des Schmerzes und der Wuth entfuhr, hielt sie durch eine Handbewegung zurück.

»Dieser Mann bleibe der Justiz des Emirs aufgespart, sagte er. Man durchsuche ihn!«

Das Schreiben mit dem kaiserlichen Siegel ward auf der Brust Michael Strogoff’s gefunden, da dieser nicht Zeit gewonnen hatte, es zu vernichten. Man reichte es Iwan Ogareff.

Der Zuschauer, von dem der Ausruf: »Brav zurückerstattet!« herrührte, war kein Anderer, als Alcide Jolivet. Sein Gefährte und er wohnten, da sie sich noch in Zabediero aufhielten, dieser Scene bei.

»Alle Teufel! sagte er zu Harry Blount, diese Leute aus dem Norden sind doch handfeste Männer. Sie geben doch zu, daß wir unsrem Reisegefährten nun eine Ehrenerklärung schulden. Korpanoff und Strogoff halten sich die Wage! Eine schöne Revanche für die Schmach in Ichim!

– Gewiß, eine gerechte Vergeltung, erwiderte Harry Blount, aber dieser Strogoff ist nun ein Mann des Todes. In seinem Interesse hätte er wohl besser gethan, die Sache jetzt noch ruhen zu lassen.

– Um seine Mutter unter der Knute verenden zu sehen!

– Glauben Sie, daß er dieser und seiner Schwester durch seinen Zornesausbruch ein besseres Loos gesichert hat?

– Ich glaube gar nichts, erwiderte Alcide Jolivet, ich weiß auch nichts, als daß ich an seiner Stelle schwerlich anders gehandelt hätte. O, zum Teufel, manchmal muß man wohl aufwallen im gerechten Zorn. Gott hätte Wasser in unsere Adern gegossen und kein Blut, wenn er wollte, daß wir stets und allezeit unerregt blieben.

– Ein hübsches Thema für eine Erzählung! meinte Harry Blount. Nun sollte uns Iwan Ogareff nur den Inhalt jenes Briefes mittheilen! …«

Nachdem er sich das Blut, das ihm über das Antlitz rann, abgewischt, hatte Iwan Ogareff das Siegel gebrochen. Er las den Brief lange und aufmerksam durch, so als wollte er seinem Gedächtniß jedes Wort des Inhaltes einprägen.

Endlich gab er noch Befehl, Michael Strogoff sorgsam zu fesseln und mit den übrigen Gefangenen nach Tomsk zu transportiren; dann übernahm er den Befehl über die Truppen des Lagers von Zabediero und wendete sich, unter betäubendem Trommelschlag und gellendem Trompetenschall, der Stadt zu, in der der Emir ihn erwartete.

Viertes Capitel

Viertes Capitel

Der siegreiche Einzug

Tomsk, 1604, fast im Herzen der sibirischen Provinzen gegründet, ist eine der bedeutendsten Städte des asiatischen Rußlands. Tobolsk, das schon über den 60. Breitengrad, und Irkutsk, das über den 100. Meridian hinaus liegt, sahen Tomsk auf ihre Unkosten zunehmen und gedeihen.

Dennoch ist, wie schon erwähnt, Tomsk nicht die officielle Hauptstadt dieser wichtigen Provinz. Der Generalgouverneur derselben residirt vielmehr mit den obersten Beamten in Omsk. Dennoch erhob sich Tomsk zur hervorragendsten Stadt jenes Landestheiles, der an die Altaïberge, d. h. an die chinesische Grenze des Landes der Khalkas, angrenzt. An den Abhängen dieses Gebirges verlaufen bis in das Thal des Tom herab ergiebige Adern von Platin, Gold, Silber. Kupfer und goldhaltigem Bleierz. Da das Land reich ist, ist es auch die Stadt, welche den Mittelpunkt der einträglichen Montanindustrie einnimmt. Hier kann der äußere und innere Luxus der Gebäude und ihrer Einrichtung, die Pracht der Equipagen wohl mit den größten Hauptstädten Europas in die Schranken treten. Es ist eben eine Stadt der Millionäre vom Schlägel und der Spitzhaue, und wenn ihr die Ehre nicht zu Theil ward, den Stellvertreter des Czaaren in ihren Mauern zu beherbergen, so tröstet sie sich damit, daß der erste Kaufmann der Stadt, der Hauptconcessionär der Minen der kaiserlichen Regierung, zum ersten Range der Notabeln des Reiches zählt.

Früher huldigte man der Anschauung, Tomsk liege einfach am Ende der Welt. Wer sich dahin begeben wollte, wagte eine große Reise. Jetzt ist das, vorausgesetzt, daß keine wilden Feindeshorden die Straße umschwärmen, durch einen einfachen Spaziergang abzumachen. Bald wird auch der Schienenweg hergestellt sein, der es mit Ueberschreitung der Uralkette mit Perm in Verbindung setzen soll.

Hält man Tomsk für eine schöne Stadt? Die Berichte der Reisenden stimmen in dieser Hinsicht nur wenig überein. Frau von Bourboulon, welche auf ihrer Reise von Shang-haï nach Moskau einige Tage daselbst verweilte, nennt es einen wenig malerischen Häuserhaufen. Ihrer Beschreibung nach ist es eine Stadt ohne besondere Physiognomie, mit alten Gebäuden aus Granit und Ziegelstein und engen, von den Gassen, wie man sie meist in sibirischen Städten findet, wenig abweichenden Straßen, mit schmutzigen Quartieren, den Hauptansiedelungsstellen der Tartaren, in welchen schweigsame Betrunkene umhertaumeln, »deren Trunkenheit ebenso apathisch erscheint, wie bei allen Völkern des Nordens«.

Dagegen zollt der Reisende Henry Russel-Killough Tomsk seine ungetheilte Bewunderung. Sollte das nur daher rühren, daß er es mitten im Winter sah, wogegen Frau von Bourboulon es nur während des Sommers besuchte? Das ist wohl möglich und würde einen weiteren Beitrag zu der Behauptung liefern, daß man kalte Länder nur während der kalten Jahreszeit, warme nur während der heißen wirklich kennen und beurtheilen lernt.

Wie dem auch sei, Russel-Killough sagt positiv, daß Tomsk nicht nur die schönste Stadt Sibiriens, sondern vielleicht eine der hübschesten Städte überhaupt sei. Er lobt ebenso ihre mit Säulengängen und Peristylen geschmückten Häuser, die bequemen Holztrottoirs, wie überhaupt die breiten, regelmäßigen Straßen, sammt den fünfzehn prächtigen Kirchen, die sich in den Wellen des Tom, eines hier schon sehr bedeutenden Flusses, wiederspiegeln.

Die Wahrheit liegt wohl auch hier in der Mitte. Tomsk breitet sich, bei einer Einwohnerzahl von 25 000 Seelen, terrassenförmig über einen langgestreckten, aber steil abfallenden Hügel aus.

Die hübscheste Stadt der Welt wird aber zur häßlichsten, wenn Feinde in ihr hausen. Wer hätte sie jetzt auch bewundern wollen? Vertheidigt von wenigen Bataillonen Kosaken zu Fuß hatte sie dem Anprall der tartarischen Heersäulen nicht Widerstand zu leisten vermocht. Ein gewisser Theil der Stadtbevölkerung von verwandtem Ursprunge hatte diese Horden nicht eben ungern empfangen, und für den Augenblick erschien Tomsk so wenig russisch oder sibirisch, als ob es mitten in die Khanate von Khokhand oder Bukhara versetzt worden wäre.

In Tomsk wollte der Emir seine siegreichen Truppen empfangen. Diesen zu Ehren sollte ein Fest mit Gesängen, Tänzen und Schaugepränge abgehalten werden, dessen Ende wie gewöhnlich in eine lärmende, wilde Orgie auslief.

Der für diese nach asiatischem Geschmacke vorbereiteten Belustigungen ausgewählte Platz nahm eine geräumige Ebene auf einem Theile des Hügels ein, der sich etwa hundert Fuß hoch über den Tom erhebt. Den Rahmen dieser Fläche bildeten einerseits die langen eleganten Häuserreihen, die vielen Kirchen mit ihren bauchigen Kuppeln, andrerseits die vielfachen Windungen des Stromes und entfernte, in warmem Dufte verschwimmende Wälder, oder in der Nähe dichte Haine von Fichten und riesigen Cedern.

An der linken Seite des Festplatzes hatte man auf einer breiten Terrasse provisorisch eine blendende Decoration, die Nachahmung eines wunderlichen Palastes – wahrscheinlich eine Probe der bukharischen, halb maurischen, halb tartarischen Baudenkmäler, – in bizarrstem Style errichtet. Ueber diesem Palaste und den Spitzen seiner zahlreichen Minarets, zwischen den höchsten Zweigen der Bäume, die das Plateau beschatteten, schwebten zu Hunderten gezähmte Störche, welche der Tartarenarmee aus Bukhara gefolgt waren.

Jene Terrasse blieb reservirt für den Hofstaat des Emirs, für die verbündeten Khans, die Großwürdenträger des Reiches und für die Harems eines jeden der turkomanischen Fürsten.

Unter den Sultaninnen, zum größten Theile übrigens nur auf den Märkten von Transkaukasien und Persien gekaufte Sklavinnen, trugen Einige das Gesicht unverhüllt, während Andere fast vollständig unter einem dichten Schleier verborgen waren. Alle erschienen in der prächtigsten Kleidung. Reizende Oberkleider, deren weite Aermel auf der Rückseite aufgeschlagen, eine eigenthümliche Faltenordnung zeigten, ließen ihre entblößten Arme sehen, deren kostbare Bracelets durch Ketten von Edelsteinen verbunden erschienen, und ihre kleinen Hände, an denen die Fingernägel mit dem Safte der »Henneh« gefärbt waren. Bei der geringsten Bewegung dieser Kleider, welche zum Theil aus Seide, so fein wie die Fäden des Spinnengewebes, zum Theil aus wundervoll weichem »Aladja« (ein schmalgestreifter, herrlicher Baumwollstoff) bestanden, ließ sich jenes vornehme Rascheln hören, das den Ohren der Orientalen so lieblich klingt. Unter diesem Ueberwurfe erglänzten brocatne kurze Röckchen über den seidenen Beinkleidern, welche letztere ein wenig oberhalb der feinen, graziös geschweiften und mit echten Perlen geschmückten Stiefeln befestigt waren. An den schleierlos erscheinenden Frauen bewunderte man die langen, schwarzen Flechten, die unter dem Turban hervorquollen, ebenso wie die schönen Augen, die prächtigen Zähne, den blendenden Teint, der noch mehr durch die tiefschwarzen, mittels eines feinen Striches verbundenen Augenbrauen und die mit Bleiglätte gefärbten Lider hervorgehoben wurden.

Am Fuße der mit Flaggen und Bannern bedeckten Terrasse standen die Leibgarden des Emirs Wache, mit ihren zwei gekrümmten Säbeln an der Seite, einem Dolch im Gürtel und der zehn Fuß langen Lanze in der Hand. Einige dieser Tartaren trugen weiße Stäbe, Andere ungeheure Hellebarden mit mächtigen Troddeln aus Gold- und Silberfäden.

Ringsumher, bis zu den äußersten Enden dieses Plateaus, auf dem steilen Abhange, dessen Basis die Wellen des Tom badeten, drängte sich eine wahrhaft kosmopolitische Menge, zusammengewürfelt aus allen Eingeborenen Centralasiens. Da sah man die Usbecks mit ihren ungeheuren schwarzen Schaffellmützen, dem rothen Bart, grauen Augen und in dem »Arkaluk«, einer besondern Art nach tartarischer Mode geschnittenem Ueberwurf. Dort zeigten sich Turkomanen in ihrem Nationalcostüm, langen Beinkleidern von schreiender Farbe, Westen und Mänteln aus Kameelhaar, rothen entweder konisch oder auch oben erweiterten Mützen, hohen juchtenen Stiefeln, Seitengewehr und Messer an Riemen um die Taille geschnallt; in der Nähe ihrer Herren erschienen auch die turkomanischen Weiber, welche ihr von Natur üppiges Haar noch durch Schnurenschleifen aus Ziegenhaar zu verlängern pflegen, mit unter der »Tjuba« offnem, blauem, purpurnem oder grünem Hemd, die Beine in farbige Bänder eingeschnürt, die sich bis herab über den Lederstiefeln kreuzten. Endlich begegnete man auch, – so als ob sich alle Völkerschaften der russisch-chinesischen Grenze auf den Ruf des Emirs erhoben hätten, – an der Stirn und den Schläfen rasirte Mandschus mit geflochtenem Haar, langen Ueberröcken, einem Gürtel, der die Taille über einem seidnen Hemd umschloß, mit ovalen kirschrothen Atlasmützen mit gleichfarbenen Fransen; neben ihnen auch jene herrlichen Typen von Frauen aus der Mandschurei, coquett mit künstlichen Blumen coiffirt, welche reizende Häubchen, durch goldene Nadeln befestigt, auf den pechschwarzen Haaren trugen. Außer diesen Allen aber noch Mongolen, Bukharier, Perser, Chinesen aus Turkestan, welche sich unter die zu dem tartarischen Feste Geladenen mischten.

Nur die Sibirier fehlten unter diesem Schwarme von Feinden. Wer von ihnen nicht hatte fliehen können, hielt sich im Hause auf, aus Furcht, daß Feofar-Khan noch, zum würdigen Schluß dieser Siegesfestlichkeit, einen Befehl zum Plündern ergehen lassen könne.

Um vier Uhr erst hielt der Emir seinen Einzug auf den Festplatz, begleitet von lustigen Fanfaren, Tamtamschlägen, von Kanonen- und Gewehrsalven.

Feofar ritt sein Lieblingsroß, an dessen Kopfe eine Aigrette von Diamanten funkelte. Er erschien in seinem Kriegeranzuge. Ihm zur Seite marschirten die Khans von Khokhand und Kunduz, die Großwürdenträger des Khanates und als Gefolge ein zahlreicher Stab.

Zu derselben Zeit betrat auch die erste Frau Feofar’s die Terrasse, gewissermaßen die Königin, wenn man diesen Namen den Sultaninnen der bukharischen Staaten beilegen darf. Aber ob Königin oder Sklavin, jedenfalls war diese Frau, eine geborne Perserin, von bewunderungswürdiger Schönheit. Ganz entgegen der mohamedanischen Gewohnheit und wahrscheinlich nur in Folge einer Laune des Emirs, erschien sie mit unverhülltem Gesichte. Ihr in vier Flechten vertheiltes Haar schmiegte sich um die blendendweißen Schultern, welche nur leicht von einem golddurchwirkten Schleier bedeckt waren, der sich rückwärts an eine Art mit den werthvollsten Gemmen geschmückte Haube anschloß. Unter der Tunica von blauer Seide, mit breiten, dunkleren Streifen fiel der »Zir-djameh« von Seidengaze herab und über den Gürtel faltete sich der »Pirahn«, eine Art Hemd aus demselben Stoffe, welcher nach dem Halse zu graziös ausgeschnitten erschien. Vom Kopfe aber bis zu den persischen Pantoffeln an den Füßen glänzte eine solche verschwenderische Pracht von Geschmeide, goldenen Tomans an Silberschnüren, Kränze von Türkisen, Achate, Smaragde, Opale und Saphire, daß ihr ganzer Leib wie von kostbaren Steinen bedeckt erschien. Die Tausende von Diamanten, die farbenprächtig an ihrem Halse, den Armen, den Händen, am Gürtel und an den Füßen blitzten, wären mit Millionen von Rubeln wohl kaum bezahlt gewesen; ja, bei dem Strahlenkranze, den sie um sich verbreiteten, hätte man glauben können, daß sie unter einander durch einen aus Sonnenstrahlen gebildeten elektrischen Bogen verbunden seien.

Der Emir und die Khans stiegen von den Pferden, ebenso wie die hohen Staatsbeamten und militärischen Würdenträger des Gefolges. Alle nahmen Platz unter einem prachtvollen Zelte, das sich in der Mitte der Terrasse erhob. Vor dem Zelte lag wie gewöhnlich der geöffnete Koran auf dem heiligen Tische.

Feofar’s Befehlshaber ließ nicht lange auf sich warten, und noch vor fünf Uhr meldeten Trompetenstöße die Ankunft des Verbündeten.

Iwan Ogareff, – »mit der Schmarre«, wie man ihn schon nannte – kam, jetzt in der Uniform eines Tartarenoffiziers, zu Pferde bis vor das Zelt des Emirs. Er war von einer Abtheilung Soldaten aus dem Lager von Zabediero begleitet, die sich zu beiden Seiten des Platzes aufstellten, so daß in der Mitte nur der für die Vorstellungen und Spiele bestimmte Raum frei blieb. Quer über das Gesicht des Verräthers zog sich eine blutig unterlaufene Strieme hin.

Iwan Ogareff stellte dem Emir seine ersten Officiere vor, und Feofar-Khan empfing sie, wenn auch mit der seiner Würde entsprechenden Kälte, doch in einer sie scheinbar zufriedenstellenden Weise.

Das glaubten wenigstens Harry Blount und Alcide Jolivet, die beiden jetzt unzertrennlichen Neuigkeitsjäger, zu bemerken. Von Zabediero aus hatten sich diese schnellstens nach Tomsk begeben. Ihre Absicht ging zwar dahin, sich sobald als möglich aus der Gesellschaft der Tartaren wegzustehlen, sich einem russischen Truppencorps anzuschließen und mit diesem Irkutsk zu erreichen. Was sie bis jetzt von dem feindlichen Einfalle, den Feuersbrünsten, Plünderungen, Mordthaten und dergleichen gesehen, konnte nur das Gefühl der Entrüstung in ihnen erwecken und trieb sie noch mehr, in der sibirischen Armee Aufnahme zu suchen.

Alcide Jolivet machte aber seinem Begleiter begreiflich, daß er Tomsk nicht wohl eher verlassen könne, als bis er eine Skizze des zu erwartenden Triumpheinzuges der tartarischen Truppen entworfen habe, – und wäre es nur, um die Neugierde seiner Cousine zu befriedigen, – und Harry Blount hatte zugestimmt, noch einige Stunden zu verweilen; noch an demselben Abend wollten die Beiden jedoch den Weg nach Irkutsk schon wieder einschlagen, und hofften bei der Schnelligkeit ihrer guten Pferde auch den Plänklern des Emirs zuvorzukommen.

Alcide Jolivet und Harry Blount hatten sich also unter die Zuschauermenge gemischt und wandten den Festlichkeiten alle Aufmerksamkeit zu, um sich kein Detail des Bildes entgehen zu lassen, das ihnen einen hübschen Artikel für die Chronik ihrer Journale versprach. Sie bewunderten Feofar-Khan in seiner Herrscherpracht, seine Frauen, seine Officiere, die Garden und allen diesen orientalischen Luxus, von dem die europäischen Ceremonien nicht die blasseste Vorstellung geben. Sie wendeten sich aber voll Abscheu ab, als Iwan Ogareff sich dem Emir nahte, und warteten nicht ohne einige Ungeduld auf den Beginn des eigentlichen Festes.

»Sehen Sie, lieber Blount, sagte Alcide Jolivet, wir sind zu zeitig erschienen, so wie der brave Bürger, der für sein Geld auch etwas Ordentliches haben will. Das ist alles nur ein Vorspiel und es wäre besser gewesen, erst zum Ballet zu kommen.

– Zu welchem Ballet? fragte Harry Blount.

– Ei nun, zu dem obligatorischen Ballet! Ah, ich glaube der Vorhang hebt sich schon.«

Alcide Jolivet sprach, als befinde er sich im Opernhause, zog sein Perspectiv aus dem Etui und schickte sich an, »die ersten Kräfte der Truppe Feofar-Khans« möglichst genau kennen zu lernen.

Den lustigen Tänzen sollte aber noch eine höchst peinliche Scene vorhergehen.

Der Triumph der Sieger konnte ja ohne eine qualvolle Erniedrigung der Besiegten kein vollständiger sein. Es wurden also einige hundert Gefangene unter den Knuten der Soldaten vorgeführt. Diese sollten vor Feofar-Khan und seinen Verbündeten defiliren, bevor man sie in den Gefängnissen der Stadt einkerkerte.

In erster Reihe unter diesen Armen befand sich auch Michael Strogoff. Dem Befehle Iwan Ogareff’s entsprechend war eine besondere Abtheilung Soldaten zu seiner Bewachung bestimmt. Seine Mutter und Nadia waren auch gegenwärtig.

Das Gesicht der alten Sibirerin, welche stets, wenn es sich nur um sie allein handelte, eine unbeugsame Energie bewahrte, erschien ungemein bleich. Sie machte sich wohl gefaßt auf eine schreckliche Scene. Ihr Sohn ward gewiß nicht ohne besondere Ursache dem Emir vorgeführt, und sie zitterte leise für ihn. Iwan Ogareff, den vor den Augen Aller die schon für sie erhobene Knute getroffen, war sicherlich nicht der Mann dazu, solche Schmach zu verzeihen, und seine Rache würde wohl ohne Grenzen sein. Gewiß drohte Michael Strogoff ein entsetzliches Gericht, wie es die Barbaren Centralasiens gern abzuhalten pflegen. Wenn ihn Iwan Ogareff damals, als seine Knechte sich über ihn stürzen wollten, geschont hatte, so wußte er gewiß, was er damit that, ihn der Justiz des Emirs vorzubehalten.

Seit dem traurigen Auftritt auf dem Felde zu Zabediero war es Mutter und Sohn unmöglich gewesen, auch nur ein Wort zu wechseln. Man hatte sie unerbittlich von einander getrennt. Welch harte Erschwerung ihrer Leiden, hier, wo es ihnen ein süßer Trost gewesen wäre, während einiger Tage der Gefangenschaft doch vereinigt zu sein. Wie gern hätte Marfa Strogoff ihren Sohn um Verzeihung wegen all‘ des Uebels gebeten, das sie ihm wider Willen zugefügt hatte, denn sie klagte sich an, ihre mütterlichen Gefühle nicht gehörig im Zaum gehalten zu haben. Hätte sie sich damals im Posthofe zu Omsk bezwungen, als sie ihm gegenüber stand, so kam Michael Strogoff unerkannt hindurch, – und wie viel Unglück wäre dann verhütet worden!

Michael Strogoff seinerseits quälte sich mit dem Gedanken, daß man seine Mutter mit hierher schleppe, um sie für sein Vergehen büßen zu lassen, vielleicht daß sie dieselbe schreckliche Todesart erleiden sollte, wie er selbst.

Nadia endlich fragte sich, was sie thun könne, um den Einen oder die Andere zu retten, auf welche Weise sie der Mutter oder dem Sohne zu Hilfe kommen könne? Sie fand zwar kein Mittel, aber sie fühlte, daß es hier vor Allem darauf ankam, keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sondern sich mehr zu verstecken und unsichtbar zu machen. Vielleicht wäre sie doch noch im Stande, die Gitter des Käfigs ihres Löwen zu zerbrechen. Jedenfalls wollte sie, wenn sich ihr eine Gelegenheit zum Handeln böte, gewiß nicht zögern, und nöthigenfalls ihr Leben für den Sohn der Marfa Strogoff opfern.

Inzwischen zog der größte Theil der Gefangenen vor dem Emir vorüber, wobei jeder als Zeichen der Unterwerfung sich zu Boden beugen und den Sand mit der Stirn berühren mußte, das erniedrigende Merkmal für den Anfang der Sklaverei. Krümmten die Unglücklichen den Rücken zu langsam, so warf sie die rauhe Hand der Garden heftig zu Boden.

Alcide Jolivet und sein Begleiter vermochten einem solchen Schauspiel nicht ohne die Gefühle der tiefsten Indignation beizuwohnen.

»Dieser erbärmliche Kerl! Fort, fort von hier! sagte Alcide Jolivet.

– Nein, entgegnete Harry Blount, nun wollen wir auch Alles sehen!

– Alles sehen! … Ah, dort! rief plötzlich Alcide Jolivet und ergriff den Arm seines Gefährten.

– Was haben Sie? fragte dieser.

– Sehen Sie dorthin, Blount! Da ist sie!

– Sie? – Welche sie?

– Die Schwester unseres Reisegefährten! Hilflos und gefangen. Wir müssen sie retten …

– Geduld, entgegnete frostig Harry Blount. Unsere Intervention zu Gunsten des jungen Mädchens dürfte ihr eher schädlich als nützlich werden.«

Alcide Jolivet, der sich schon zu Nadia drängen wollte, ließ sich belehren, und Letztere, welche die beiden Reporter nicht gesehen hatte, ging, von ihrem reichen Haar halb verschleiert, vor dem Emir vorüber, ohne dessen besondere Aufmerksamkeit zu erwecken.

Nach Nadia kam Marfa Strogoff an die Reihe, und da sie sich nicht schnell genug in den Staub warf, drückten sie die Wachen mit rauher Faust nieder.

Marfa Strogoff fiel zu Boden.

Ihr Sohn schäumte auf vor Wuth, so daß ihn die bewachenden Soldaten kaum zu bändigen vermochten.

Die alte Marfa erhob sich wieder und sollte eben fortgeführt werden, als Iwan Ogareff das verhinderte.

»Dieses Weib bleibt hier!« rief er.

Nadia ward in den Haufen der Gefangenen zurückgeführt. Iwan Ogareff’s Blick hatte sie nicht erkannt.

Jetzt wurde Michael Strogoff vor den Emir gebracht und blieb, ohne auch nur die Augen zu senken, vor diesem stehen.

»Die Stirn auf die Erde! herrschte ihn Iwan Ogareff an.

– Nein«, antwortete Michael Strogoff.

Zwei Soldaten wollten ihn zwingen, sich zu beugen, doch die kräftige Hand des jungen Mannes drückte sie an seiner Statt zu Boden.

Iwan Ogareff sprang auf Michael Strogoff zu.

»Du verwirkst Dein Leben! rief er.

– Ich werde ruhig sterben, erwiderte stolz Michael Strogoff, aber Deine Verrätherstirn, Iwan, wird für immer die schmachvolle Schramme von der Knute tragen!«

Iwan Ogareff erbleichte bei diesen Worten.

»Wer ist dieser Gefangene? fragte der Emir, dessen ruhige Stimme nur um so drohender war.

– Ein russischer Spion«, antwortete Iwan Ogareff.

Als er Michael Strogoff für einen Spion ausgab, wußte er recht wohl, welches entsetzliche Loos ihm bevorstand.

Michael Strogoff hatte sich Iwan Ogareff genähert.

Die Soldaten hielten ihn zurück.

Der Emir machte eine Handbewegung, auf welche sich die ganze große Menge niederbeugte. Dann zeigte er nach dem Koran, den man ihm brachte. Er öffnete das Buch und legte einen Finger auf ein Blatt.

Der Zufall, oder nach dem Glauben der Orientalen, Gott selbst, sollte das Schicksal Michael Strogoff’s entscheiden.

Die Völker Centralasiens nennen dieses Gerichtsverfahren »Fal«. Nach der Auslegung des von dem Finger des Richters zufällig getroffenen Verses fällen sie das Urtheil.

Der Emir ließ den Finger auf der einen Seite des Koran liegen.

Der Erste der Ulemas trat hinzu und verlas mit lauter Stimme einen Vers, der mit den Worten schloß:

»Und er wird die Dinge der Erde nicht mehr sehen.«

»Spion der Russen, sagte der Emir, Du bist hierher gekommen, zu sehen, was im Tartarenlager vorgeht; nun sieh mit allen Deinen Augen, sieh‘ Dich um!«