Elftes Capitel

Elftes Capitel

Reisende in Noth

Wirklich vernahm man in der kurzen Ruhepause weiter oben von der Straße her und unfern der Aushöhlung, welche den Tarantaß deckte, wiederholtes Hilferufen.

Es klang wie ein verzweifelter letzter Rettungsversuch, der offenbar von irgend einem gefährdeten Reisenden ausging.

Michael Strogoff lauschte aufmerksam.

Der Jemschik horchte gleichfalls auf, aber mit einem Kopfschütteln, so als scheine es ihm unmöglich, hier Beistand zu leisten.

»Das sind Reisende, welche um Hilfe bitten, rief Nadia.

– Auf uns werden sie nicht zählen dürfen! … fiel rasch der Jemschik ein.

– Und warum das nicht? fragte Michael Strogoff etwas streng. Was Jene unter gleichen Verhältnissen gewiß für uns thun würden, sollen wir das unversucht lassen?

– Ihr setzt aber Pferde und Wagen auf’s Spiel! …

– Ich werde zu Fuß gehen, unterbrach Michael Strogoff den besorgten Geschirrführer.

– Und ich begleite Dich, Bruder, erbot sich die junge Liefländerin.

– Nein, bleibe, Nadia. Der Jemschik wird bei Dir sein. Ich möchte diesen nicht allein lassen. …

– So werd‘ ich dableiben, erwiderte Nadia.

– Was auch geschehe, verlasse diese geschützte Stelle nicht!

– Du wirst mich da wieder finden, wo ich jetzt bin.«

Michael Strogoff drückte dankend die Hand seiner Gefährtin, eilte nach der Ecke des Abhangs und verschwand bald im Dunklen.

»Dein Bruder handelt unrecht, sagte der Jemschik zu dem jungen Mädchen.

– Er handelt recht«, antwortete einfach Nadia.

Inzwischen klomm Michael Strogoff rasch bergan. Wenn er große Eile hatte den Bedrängten, welche jene Rufe erschallen ließen, helfend beizuspringen, so war doch auch sein Wunsch nicht minder groß, zu erfahren, wer jene Reisenden sein möchten, die auch dieses Unwetter nicht abgehalten hatte, sich in die Berge zu wagen, denn er zweifelte gar nicht daran, daß es dieselben Leute seien, deren Teleg immer seinem Tarantaß vorausrollte.

Der Regen hatte jetzt nachgelassen, aber der Sturm tobte eher mit verdoppelter Wuth. Die Ausrufe, welche der Wind mit dahertrug, wurden immer deutlicher. Von der Stelle, an der Michael Strogoff Nadia zurück gelassen hatte, war nichts zu sehen. Die Straße verlief mehrfach gekrümmt und der bläuliche Schein der Blitze erleuchtete nur den Bergvorsprung, der sich in einen solchen Straßenbogen hineinschob. Der Wind bildete, indem er sich an allen jenen Ecken und Kanten brach, sehr schwer zu passirende Wirbel, denen Michael Strogoff nur mit dem Aufgebot aller Kräfte zu widerstehen vermochte.

Jedoch, es zeigte sich sehr bald, daß die Reisenden, von denen jene Hilferufe ausgingen, nicht mehr sehr fern sein konnten. Waren sie für Michael Strogoff auch noch nicht sichtbar – ob das nun daher kam, daß Jene sich nicht auf der Straße selbst befanden, oder daß nur die herrschende Dunkelheit sie seinen Blicken noch verbarg, – jedenfalls verstand er ihre Worte schon ganz deutlich.

Da hörte er denn, – natürlich zu seiner nicht geringen Verwunderung, – Folgendes:

»Wirst Du wohl zurückkommen, Schlingel?

– Dich erwartet die Knute auf dem nächsten Relais.

– Hörst Du, Du Postillon der Hölle! He! Du, da unten!

– So wird man in diesem verwünschten Lande befördert.

– Und das nennen sie einen Teleg!

– He, Du dreifacher Erztölpel! – Da reißt er aus und scheint’s gar nicht zu bemerken, daß er uns hier sitzen gelassen hat!

– Nein, mich so zu behandeln! Mich, einen wohlbeglaubigten Engländer! Ich werde mich beim Kanzleramte beklagen und den Burschen dingfest machen lassen!«

Der, welcher diese Worte herauspolterte, schäumte vor Wuth. Aber plötzlich schien es Michael Strogoff, als ob ein Zweiter die Situation von ganz anderer Seite betrachtete, denn er hörte nach einem hellen, bei solcher Scene gewiß unerwarteten Gelächter die Worte:

»Bei Gott, diese Geschichte ist gar zu drollig!

– Was? Sie wagen auch noch zu lachen? entgegnete in ärgerlichem Tone der Bürger des Vereinigten Königreichs.

– Natürlich, lieber College, und ganz aus vollem Herzen; was soll ich denn Besseres dabei thun! Ich rathe Ihnen, es ebenso zu machen! Auf Ehrenwort! Das ist gar zu drollig, das ist noch gar nicht dagewesen! …«

Da erfüllte ein heftiger Donnerschlag den Engpaß mit schrecklichem Krachen, das der Widerhall der Berge noch mächtig verstärkte. Dann, als das letzte schwache Rollen verlöscht war, ließ sich wiederum die lustige Stimme vernehmen:

»Ja, ja, ganz ausnehmend drollig! Das könnte in Frankreich wahrlich nicht passiren!

– In England auch nicht!« antwortete der Brite.

Beim Scheine der Blitze sah jetzt Michael Strogoff auf der Straße und gegen zwanzig Schritt vor sich zwei Männer auf dem hohen Rücksitz eines sonderbaren Fuhrwerks, das in dem tiefen Schlamme eines ausgefahrenen Geleises fest zu sitzen schien.

Michael Strogoff näherte sich den beiden Reisenden, deren Einer immer weiter lachte, der Andre unverdrossen weiter schimpfte, und erkannte bald die beiden Zeitungscorrespondenten, welche auf dem Kaukasus den Weg von Nishny-Nowgorod nach Perm mit ihm zurückgelegt hatten.

»Ei guten Tag, mein Herr! rief der Franzose. Sehr erfreut, Sie unter diesen Umständen wieder zu sehen! Erlauben Sie, Ihnen meinen intimsten Feind, Herrn Blount, hier vorzustellen.«

Der englische Reporter grüßte und vielleicht wollte er nach allen Regeln des Anstandes eben seinerseits seinen Collegen Alcide Jolivet vorstellen, als ihn Michael Strogoff unterbrach:

»Nicht nöthig, meine Herren, wir kennen uns ja wohl, da wir die Wolga gemeinschaftlich befahren haben.

– Ah, sehr gut! Ganz richtig! Herr …?

– Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk, antwortete Michael Strogoff. Aber wollen Sie mich wissen lassen, welcher für den Einen so erheiternde, für den Andern so beklagenswerthe Unfall sich hier zugetragen hat?

– Gut, ich rufe Sie als Richter an, Herr Korpanoff, entgegnete Alcide Jolivet. Stellen Sie sich vor, daß unser Postillon mit dem Vordertheile seines vermaledeiten Fuhrwerks davon gefahren ist und hat uns hier ruhig sitzen lassen mit sammt dem Hintertheile seines nichtswürdigen Fahrzeugs. Da haben wir nun die schlechtere Hälfte eines Telegs für uns Zwei, aber keinen wegekundigen Kutscher, keine Pferde mehr! Ist das nicht unbedingt und über alle Maßen drollig?

– Ich finde gar nichts Lächerliches dabei! knurrte der Engländer.

– Und doch, College! Sie verstehen die Sache nur nicht von ihrer besten Seite anzusehen.

– Aber wie denken Sie denn, daß es möglich werden soll, unsern Weg fortzusetzen? fragte Harry Blount.

– Nichts einfacher als das, spottete Alcide Jolivet. Sie spannen sich beispielsweise vor das uns verbliebene Restchen des Wagens; ich ergreife die Zügel, ich nenne Sie »mein Täubchen«, wie ein leibhaftiger Jemschik, und Sie trotten dann drauf los, ganz wie ein ….

– Herr Jolivet, fiel der Engländer ein, ein solcher Scherz geht zu weit und ….

– O, beruhigen Sie sich, Herr College. Sobald Sie sich verfangen haben, trete ich an Ihre Stelle und Sie mögen mich dann als engbrüstige Schnecke oder ohnmächtige Schildkröte behandeln, wenn ich Sie nicht in einem Höllengalop dahinfahre!«

Alcide Jolivet schüttelte das Alles mit einem so liebenswürdigen Humor hervor, daß Michael Strogoff sich eines Lächelns nicht enthalten konnte.

»Meine Herren, nahm er darauf das Wort, da weiß ich doch besseren Rath. Wir befinden uns jetzt hier sehr nahe dem höchsten Kamme des Ural und folglich haben wir den Gebirgsabhang nur noch hinabzufahren. Mein Wagen befindet sich fünfhundert Schritt weiter rückwärts. Ich will Ihnen eines meiner Pferde abtreten, das spannen wir vor den Rest Ihres Telegs und kommen, wenn uns kein Zwischenfall abhält, morgen zusammen in Jekaterinenburg an.

– Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet verbindlich, das ist ein Vorschlag, der aus sehr edelmüthigem Herzen kommt.

– Ich bemerke noch, mein Herr, daß ich Ihnen deshalb nicht anbiete meinen Tarantaß mit zu benutzen, weil er nur zwei Plätze enthält, die ich mit meiner Schwester nothwendiger Weise selbst brauche.

– O, keine Entschuldigungen, mein Herr, antwortete Alcide Jolivet, mein College und ich würden mit Ihrem Pferde und dem Hintertheil unsers Halbtelegs nöthigenfalls bis an’s Ende der Welt kommen.

– Mein Herr, fiel nun auch Harry Blount ein, wir nehmen Ihren großmüthigen Vorschlag an. Aber jener Jemschik ….

– O glauben Sie, es wird nicht das erste Mal gewesen sein, daß ihm solch‘ kleiner Unfall zustieß, bemerkte Michael Strogoff.

– Nun, warum kehrt er dann aber nicht zurück? Er wird recht gut wissen, daß er uns hier im Stiche gelassen hat, der Elende!

– Er!? Er weiß sicher kein Sterbenswörtchen davon.

– Was? Dieser brave Kerl sollte die Zerreißung des Telegs in zwei Hälften gar nicht bemerkt haben?

– Nein, sicherlich nicht; der bringt seinen Vordertheil im besten Glauben von der Welt nach Jekaterinenburg hinein.

– Sagt‘ ich es Ihnen nicht vorher, Herr College, rief lachend Alcide Jolivet, daß uns nur die allerlustigste Geschichte passirt sei?

– Nun denn, meine Herren, mahnte Michael Strogoff, wenn es Ihnen gefällig ist mir zu folgen und meinen Wagen aufzusuchen ….

– Aber der Teleg? bemerkte der Engländer.

– Fürchten Sie nicht, daß er uns davon fliege, mein lieber Blount, tröstete Alcide Jolivet, der steht hier so gut im Erdboden fest gewurzelt, daß er kommendes Frühjahr Knospen treiben müßte, wenn man ihn stehen ließe.

– Kommen Sie also, meine Herren, sagte Michael Strogoff, wir wollen den Tarantaß nun hierher schaffen.«

Der Franzose und der Engländer verließen ihre Bank, die aus einem Rücksitz zum Vordersitz geworden war, und folgten Michael Strogoff.

Auch unterwegs plauderte Alcide Jolivet immer weiter in seiner rosenfarbenen Laune, welche eben Nichts zu zerstören im Stande war.

»Meiner Treu, Herr Korpanoff, wandte er sich an Michael Strogoff, Sie ziehen uns hier allerdings aus einer argen Verlegenheit.

– Ich that noch weiter nichts, mein Herr, erwiderte Michael Strogoff, als was jeder Andere an meiner Stelle ebenfalls gethan hätte. Wenn sich Reisende erst nicht mehr gegenseitig unterstützen wollen, möge man lieber gleich die Landstraßen sperren.

– Wir bleiben Ihnen zu Gegendiensten verbunden, mein Herr. Im Fall Sie weit durch die Steppe reisen, könnten wir uns wohl auch noch einmal begegnen, und ….«

Alcide Jolivet fragte zwar nicht direct, wohin Michael Strogoff ginge, dieser aber erwiderte, um sich nicht den Schein der Heimlichthuerei zu geben:

»Ich reise nach Omsk, meine Herren.

– Und Herr Blount und ich, erklärte Alcide Jolivet, wir reisen eigentlich nur der Nase nach, dahin, wo es vielleicht eine Kugel, jedenfalls aber Neuigkeiten zu erwischen giebt.

– Nach den empörten Provinzen? fragte Michael Strogoff mit einem gewissen Eifer.

– Ganz recht, Herr Korpanoff, und wahrscheinlich begegnen wir uns dort wohl nicht wieder!

– Wahrlich, mein Herr, antwortete Michael Strogoff, ich bin gar nicht lüstern nach einer Büchsenkugel oder einem Lanzenstiche und zu friedliebender Natur, um mich unnöthig dahin zu begeben, wo man sich herumschlägt.

– Bedaure, mein Herr, bedaure, es sollte uns gewiß leid thun, so schnell von Ihnen wieder Abschied zu nehmen. Vielleicht will es unser guter Stern aber doch, daß wir wenigstens von Jekaterinenburg aus noch ein Stück Weges zusammen zurücklegen, und wäre es nur während weniger Tage?

– Sie gehen vielleicht auch nach Omsk? fragte Michael Strogoff nach kurzer Ueberlegung.

– Das wissen wir freilich selbst noch nicht, erwiderte Alcide Jolivet. Jedenfalls wenden wir uns direct nach Ichim und dort werden die Verhältnisse unseren weiteren Weg bestimmen.

– Nun wohl, meine Herren, sagte Michael Strogoff, bis nach Ichim werden wir also zusammen sein.«

Michael Strogoff hätte es gewiß vorgezogen, allein zu reisen, er konnte sich aber, ohne damit aufzufallen, nicht wohl von den beiden Reisenden absondern, welche des nämlichen Weges zogen wie er. Bei der von Alcide Jolivet ausgesprochenen Absicht, sammt seinem Begleiter in Ichim Halt zu machen und nicht unmittelbar nach Omsk weiter zu gehen, lag für ihn übrigens kein besonderer Grund vor, diesen Theil der Reise in ihrer Gesellschaft zurück zu legen.

»Also, meine Herren, es ist abgemacht. Wir reisen zusammen.«

Dann setzte er mit möglichst gleichgiltigem Tone hinzu:

»Haben Sie vielleicht einige sicherere Nachrichten über den Tartareneinfall?

– Leider nein, erwiderte Alcide Jolivet, wir wissen davon ebenso viel, als in Perm allgemein bekannt war. Die Tartarenhaufen Feofar-Khan’s haben die ganze Provinz Semipalatinsk überschwemmt und dringen jetzt in Eilmärschen längs des Bettes des Irtysch vor. Sie werden sich also ein wenig beeilen müssen, ihnen bis Omsk noch zuvorzukommen.

– Ja, Sie haben Recht, bemerkte Michael Strogoff.

– Dazu geht das Gerücht, es sei dem Oberst Ogareff gelungen, verkleidet die Grenze zu passiren, und er werde sich, in der Mitte der insurgirten Provinz, dem Tartarenchef unverzüglich anschließen.

– Wie will man das aber wissen? warf Michael Strogoff ein, den diese mehr oder weniger begründeten Neuigkeiten selbstverständlich sehr interessirten.

– Ei, so wie man eben Alles weiß, antwortete Alcide Jolivet; das liegt so in der Luft.

– Und Sie haben begründete Ursache zu glauben, daß Colonel Ogareff in Sibirien sei?

– Ich habe mindestens davon sprechen hören, daß er den Weg von Kasan nach Jekaterinenburg eingeschlagen habe.

– O, Sie wüßten das, Herr Jolivet? ließ sich da Harry Blount vernehmen, den jene Bemerkung des französischen Correspondenten aus seiner Schweigsamkeit aufrüttelte.

– Ich wußte es, erwiderte Alcide Jolivet.

– Und es war Ihnen auch bekannt, daß er als Zigeuner verkleidet ging? fragte Harry Blount.

– Als Zigeuner! rief Michael Strogoff fast unwillkürlich, da er sich der Anwesenheit des alten Tsiganen in Nishny-Nowgorod, seiner Fahrt auf dem Kaukasus und seiner Ausschiffung in Kasan erinnerte.

– Ich hatte davon eben genug erfahren, um darüber einen Brief an meine Cousine zu richten, antwortete lächelnd Alcide Jolivet.

– Sie haben in Kasan Ihre Zeit nicht verloren! bemerkte der Engländer in trockenem Tone.

– Gewiß nicht, liebster College, und während der Kaukasus sich verproviantirte, that ich ganz dasselbe!«

Michael Strogoff achtete ferner nicht auf das Wortgeplänkel, das sich zwischen Harry Blount und Alcide Jolivet entsponnen hatte. Er gedachte jener Zigeunergruppe, jenes alten Tsiganen, dessen Gesicht er nicht ordentlich sehen konnte, des fremden Weibes in seiner Begleitung, die jenen sonderbaren Blick auf ihn geworfen hatte, und er bemühte sich, alle Details jenes Zusammentreffens wieder im Gedächtniß aufzufrischen, als in geringer Entfernung ein Knall hörbar wurde.

– Ah, vorwärts, meine Herren! rief Michael Strogoff.

– Sieh da, ein braver Kaufmann, der die Flintenschüsse flieht, meinte Alcide Jolivet, der läuft über Hals und Kopf dahin, wo er solche hört!«

Schnell eilte er aber sowohl selbst, als hinter ihm Harry Blount, der auch nicht der Mann dazu war, feig zurück zu bleiben, Michael Strogoff furchtlos nach.

Nach wenig Augenblicken befanden sich Alle bei dem Felsenvorsprunge, der den Tarantaß deckte.

Noch loderten die Flammen aus der durch den Blitzschlag entzündeten Fichtengruppe empor. Die Straße war leer. Und doch, Michael Strogoff konnte sich unmöglich getäuscht haben; das mußte ein Gewehrschuß sein, der vorher an sein Ohr schlug.

Da hörte man plötzlich ein schreckliches Brummen und am Abhänge krachte ein zweiter Schuß.

»Ein Bär! rief Michael Strogoff, dem jenes Brummen ja bekannt genug war. Nadia! Nadia!«

Sein Dolchmesser aus dem Gürtel reißend stürzte Michael Strogoff hastig vorwärts und lief um den Felsen, hinter dem das junge Mädchen zu warten versprochen hatte.

Grell beleuchteten die von der Wurzel bis zum Gipfel brennenden Fichten den Schauplatz.

In dem Augenblicke, als Michael Strogoff den Tarantaß erreichte, wälzte sich ihm eine enorme Masse entgegen.

Es war ein ungeheurer Bär. Der Sturm mochte ihn aus dem Gehölz, das diese Abhänge der Uralberge bedeckt, vertrieben und er eine Zuflucht in seiner gewohnten Höhle gesucht haben, in derselben, welche eben Nadia deckte.

Zwei von den Pferden zerrissen da, erschreckt über den Anblick des furchtbaren Raubgesellen, ihre Stränge und entflohen; der Jemschik, dem nur seine Thiere am Herzen lagen und der dabei ganz vergaß, daß das junge Mädchen nun allein dem Angriffe des Bären ausgesetzt blieb, jagte ihnen nach.

Die muthige Nadia verlor den Kopf aber nicht. Das Thier mochte sie zuerst nicht bemerkt haben, denn es stürzte sich auf das dritte Pferd. Nadia schlüpfte aus der Höhlung, welche sie verbarg, lief nach dem Wagen, ergriff einen von Michael Strogoff’s Revolvern, ging kaltblütig auf den Bären los und feuerte auf ihn aus unmittelbarer Nähe.

Leicht an der Schulter verwundet hatte sich das Thier gegen das junge Mädchen gewendet, die ihm auszuweichen suchte und um den Tarantaß lief, dessen einzig übrig gebliebenes Pferd sich ebenfalls loszureißen suchte. Verirrten sich diese Pferde aber alle in dem Gebirge, so war die ganze Weiterfahrt zunächst in Frage gestellt. Nadia war also dem Bären wieder entgegen getreten und gab mit bewunderungswürdig ruhigem Blute, gerade als jener die gewaltigen Tatzen erhob, um auf sie niederzuschlagen, zum zweiten Male Feuer.

Das war jener zweite Schuß, welcher ganz in der Nähe Michael Strogoff’s aufblitzte. Mit einem Satze warf sich dieser zwischen den Bären und das junge Mädchen. Sein Arm machte nur eine Bewegung von unten nach oben, und das gewaltige Thier fiel, aufgeschlitzt vom Bauch bis zur Gurgel, eine leblose Masse, vor ihm zusammen.

Es war ein hübsches Pröbchen jener Methode der sibirischen Jäger, die stets darauf achten, das kostbare und von ihnen hoch im Preise gehaltene Fell eines Bären nicht zu beschädigen.

»Du bist nicht verletzt, Schwester? war Michael Strogoff’s erste Frage, als er sich zu dem jungen Mädchen wandte.

– Nein, Bruder«, antwortete Nadia.

Gerade jetzt kamen auch die beiden Journalisten zur Stelle.

Alcide Jolivet sprang nach dem Kopfe des Pferdes, und er mußte wohl eine kräftige Faust haben, denn es gelang ihm, jenes zu bändigen. Sein Begleiter und er hatten den kurzen Kampf Michael Strogoff’s mit angesehen.

»Zum Teufel! platzte Alcide Jolivet heraus, für einen einfachen Kaufmann, Herr Korpanoff, wissen Sie mit dem Jagdmesser doch recht leidlich umzugehen.

– Sogar sehr geschickt, fügte Harry Blount hinzu.

– In Sibirien, meine Herren, antwortete Michael Strogoff, sind wir genöthigt, uns um Alles ein wenig zu bekümmern.«

Alcide Jolivet betrachtete den jungen Mann.

Wie er so in voller Beleuchtung dastand, das blutige Waidmesser fest in der Hand, den einen Fuß auf dem Körper des erlegten Bären, sah Michael Strogoff bei seinem hohen Wuchse und dem entschlossenen Blicke wirklich schön aus.

»Ein famoser Kerl!« sagte Alcide Jolivet für sich.

Dann trat er respectvoll, den Hut in der Hand, vor und begrüßte das junge Mädchen.

Nadia verneigte sich leicht.

Alcide Jolivet kehrte sich darauf nach seinem Begleiter um und sagte:

»Die Schwester ist des Bruders werth! Wenn ich ein Bär wäre, ich riebe mich nicht an diesem ebenso achtunggebietenden als liebenswürdigen Pärchen!«

Harry Blount stand, gerade wie eine Hopfenstange, mit abgezogenem Hute in einiger Entfernung. Die zwanglose Höflichkeit seines Collegen vermehrte nur seine natürliche Steifheit.

Jetzt erschien auch der Jemschik wieder, dem es gelungen war, seine beiden Pferde wieder einzufangen. Er warf zuerst einen bedauernden Blick auf das prächtige, am Boden liegende Thier, das hier als Beute für die Raubvögel liegen bleiben sollte, und machte sich dann erst daran, das Geschirr wieder in Ordnung zu bringen.

Michael Strogoff setzte ihn von der Lage der beiden andern Reisenden in Kenntniß und sagte, daß er diesen ein Pferd vom Tarantaß zur Verfügung stellen wolle.

»Ganz wie es Dir beliebt, entgegnete der Jemschik. Indeß, zwei Wagen statt des einen ….

– Schon gut, Freundchen, fiel Alcide Jolivet, der dieses Zögern schnell genug verstand, ihm in’s Wort, Du wirst natürlich auch doppelte Bezahlung erhalten.

– Nun denn vorwärts, meine Turteltäubchen!« rief der Jemschik.

Nadia hatte den Tarantaß wieder bestiegen, während Michael Strogoff und seine Begleiter diesem zu Fuße nachfolgten.

Es mochte gegen drei Uhr sein. Der Sturm war nun im Abnehmen und jagte nicht mehr mit unwiderstehlicher Gewalt durch den Hohlweg, so daß man leidlich schnell vorwärts kam.

Mit dem ersten Schimmer des Morgenrothes hatte der Tarantaß das Telegrestchen erreicht, das gewissenhaft bis zur Mitte der Räder in den Schlamm eingesunken war. Man erkannte jetzt recht wohl, daß ein heftiger Ruck der Bespannung die Trennung der beiden Wagentheile veranlaßt hatte.

Das eine der Seitenpferde des Tarantaß ward nun so gut es eben anging mit Stricken an den Sitzkasten des Teleg gespannt. Die beiden Journalisten nahmen auf der Bank ihres etwas sonderbaren Fahrzeugs Platz, und gleichzeitig setzten sich beide Wagen in Bewegung. Uebrigens hatte man ja nur die Bergabhänge des Ural hinunter zu fahren, was keine besondere Schwierigkeit bot.

Sechs Stunden später langten die beiden Fuhrwerke eines dicht nach dem anderen in Jekaterinenburg an, ohne daß ein weiterer Unfall diesen zweiten Theil der Fahrt noch einmal unterbrochen hätte.

Das erste Individuum, das den Journalisten schon am Thore des Posthauses in die Augen fiel, war ihr eigener Jemschik, der sie mit der größten Gemüthsruhe zu erwarten schien.

Ohne alle Verlegenheit ging der gutmüthige Russe seinen Passagieren lächelnd entgegen und streckte die Hand hin, um sein Trinkgeld einzuheimsen.

Die Wahrheit verlangt es nicht zu verschweigen, daß Harry Blount’s Zorn dabei mit voller britannischer Heftigkeit zum Ausbruch kam, und wäre der Jemschik nicht klüglich zurückgewichen, so hätte ihm ein nach allen Regeln der edlen Boxkunst geführter Faustschlag wohl sein ›na vodku‹ mitten in’s Gesicht gezeichnet.

Als Alcide Jolivet diesen Zornesausbruch sah, wand er sich fast vor Lachen und jubelte auf, wie er vielleicht früher noch nie gelacht hatte.

»Er hat ja ganz Recht, der arme Teufel da! rief er. Er ist in seinem vollen Rechte, lieber College! Das ist doch seine Schuld nicht, wenn wir keine Mittel fanden, ihm zu folgen!«

Er zog einige Kopeken aus der Tasche.

»Da, Freundchen, sagte er, indem er sie dem Jemschik hinreichte, da, steck‘ sie ein. Wenn Du sie nicht verdient hast, war’s ja Deine Schuld nicht!«

Das verdoppelte aber nur noch die Aufregung Harry Blount’s, der sich an dem Postmeister schadlos halten und ihm einen Prozeß an den Hals werfen wollte.

»Einen Prozeß! Und in Rußland! rief Alcide Jolivet; aber unter den obwaltenden Verhältnissen, bester College, wären Sie nicht im Stande, dessen Ende abzusehen. Da ist Ihnen die herrliche Geschichte von jener russischen Amme wohl nicht bekannt, welche der Familie ihres Säuglings gegenüber klagbar wurde, daß sie jenen weiter nähren wollte?

– Ich kenne sie nicht, entgegnete Harry Blount.

– Dann wissen Sie auch nicht, was aus jenem Säugling geworden war, als das Gericht das Endurtheil zu seinen Gunsten fällte?

– Und was, wenn ich bitten darf?

– Ja, mein Gott, ein Oberst der Gardehusaren war aus ihm geworden!«

Alle brachen in helles Gelächter aus.

Alcide Jolivet holte in dieser lustigen Stimmung sein Notizbuch hervor und bereicherte es, um einst in einem moskowitischen Wörterbuche zu figuriren, durch folgende Bemerkung:

»Teleg, ein in Rußland gebräuchlicher Wagen, wenn er abfährt mit vier, – wenn er ankommt mit zwei Rädern!«

Zwölftes Capitel

Zwölftes Capitel

Eine Herausforderung

Jekaterinenburg ist seiner geographischen Lage nach eine Stadt Asiens, denn es erhebt sich jenseit des Ural, auf den letzten Ausläufern der östlichen Berglehne. Trotzdem gehört es zu dem Gouvernement von Perm und bildet also einen Theil des ausgedehnten Gebietes des europäischen Rußlands. Dieser administrative Uebergriff muß wohl seinen Grund haben. Er betrifft ein Stück Sibirien, das zwischen den Kinnbacken Rußlands verblieb.

Weder Michael Strogoff noch die beiden Berichterstatter konnten in einer so großen, schon im Jahre 1723 gegründeten Stadt um die Beschaffung der nöthigen weiteren Reisegelegenheit in Verlegenheit kommen.

In Jekaterinenburg befindet sich die erste und bedeutendste Münzstätte des ganzen Reiches; dort domicilirt auch die kaiserliche Generaldirection der Erzbergwerke. Die Stadt bildet also einen wichtigen industriellen Mittelpunkt in einem Lande, wo Erzhütten, Gold- und Platinwäschereien fast im Ueberfluß vorhanden sind.

Zu jener Zeit hatte die Bevölkerung Jekaterinenburgs sich ganz ausnahmsweise stark vermehrt. Von dem feindlichen Einfall bedrohte Russen und Sibirier strömten dort zusammen nach ihrer Flucht aus den von Feofar-Khan’s Horden schon überflutheten Provinzen und vorzüglich aus dem Lande der Kirghisen, das sich im Südwesten des Irtysch bis zu den Grenzen von Turkestan ausdehnt.

Fehlten also die Beförderungsmittel sehr, um nach Jekaterinenburg zu gelangen, so waren sie dagegen im Ueberfluß vorhanden, um diese Stadt verlassen zu können. Bei der jetzigen Lage der Dinge fühlten die meisten Fremden kein besonderes Verlangen, sich nach Sibirien hinein zu begeben.

Unter eben diesen Umständen gelang es Alcide Jolivet und Harry Blount natürlich leicht, ihren Halbteleg durch einen completen Teleg zu ersetzen. Was Michael Strogoff betrifft, so gehörte der Tarantaß ja ihm an; letzterer hatte durch die Ueberschreitung der Uralkette auch nicht sonderlich gelitten, und es bedurfte nur des Vorspanns dreier flotter Pferde, um ihn schnell auf der Straße nach Irkutsk weiter zu befördern.

Bis Tiumen und selbst bis Novo-Zaimskoë verlief diese Straße noch sehr hügelig, denn sie wand sich bis dahin über die launenhaften Bodenerhebungen, welche die ersten Stufenwellen der Uralkette bilden. Jenseit der Etappe Novo-Zaimskoë aber begann die grenzenlose Steppe, die sich bis in die Nähe von Krasnojarsk erstreckt, d. h. über einen Raum von 1700 Werst (= 1815 Kilom.) Durchmesser.

Nach Ischim wollten sich die beiden Berichterstatter, wie wir es im Vorigen erfahren haben, zunächst begeben; diese Stadt liegt 630 Werst von Jekaterinenburg entfernt. Dort gedachten sie sich näher über den Verlauf der Ereignisse zu unterrichten, und beabsichtigten von hier aus nach den im Aufstand begriffenen Gegenden weiter zu ziehen, getrennt oder vereint, je nachdem ihr Jägerinstinct sie auf die eine oder die andere Fährte leiten würde.

Dieselbe Straße von Jekaterinenburg nach Ischim, – die sich auch nach Irkutsk fortsetzt, war aber auch diejenige, welche Michael Strogoff unbedingt benutzen mußte. Da er jedoch nicht dem Einsammeln von Tagesneuigkeiten nachging und das von den Rebellen besetzte Land eher zu vermeiden als aufzusuchen alle Ursache hatte, so war er für seinen Theil fest entschlossen, nirgends unnöthig eine Stunde zu verweilen.

»Meine Herrn, begann er also zu seinen neuen Begleitern, es wird mir sehr angenehm sein, einen Theil der bevorstehenden Reise in Ihrer Gesellschaft zurückzulegen, doch muß ich Sie im Voraus darauf aufmerksam machen, daß ich die größte Eile habe, in Omsk anzukommen, denn meine Schwester und ich wollen dort unsere Mutter treffen. Wer weiß, ob es uns überhaupt möglich werden wird, diese Stadt zu erreichen, bevor sie den Tartaren in die Hände fällt! Ich werde mich also auf den Relais nie längere Zeit aufhalten, als das Umspannen der Pferde erfordert, und werde Tag und Nacht reisen.

– Wir denken vorläufig nicht anders zu verfahren, bemerkte Harry Blount.

– Nun gut, erwiderte Michael Strogoff, so verlieren Sie auch keinen Augenblick. Miethen oder kaufen Sie einen Wagen, der ….

– Der so freundlich ist, fügte Alcide Jolivet hinzu, mit wohl verbundenem Vorder- und Hintertheil bei der nächsten Station anzukommen.«

Eine halbe Stunde später hatte der rührige Franzose denn auch ohne besondere Mühe einen Tarantaß aufgetrieben, der dem Michael Strogoff’s ziemlich ähnlich war und in welchem er mit seinem Begleiter sich sofort bequem einrichtete.

Michael Strogoff und Nadia nahmen ihre Plätze im Tarantaß ebenfalls wieder ein, und zu Mittag verließen beide Fuhrwerke zusammen Jekaterinenburg.

Nadia war endlich in Sibirien, auf jenem langen, weiten Wege, der nach Irkutsk führt! Welcher Art mochten die Gedanken der jungen Liefländerin da wohl sein? Drei hurtige Rosse zogen sie durch dieses Land der Verbannten, in dem ihr Vater, vielleicht lange und so unendlich weit von der geliebten Heimat zu leben verurtheilt war! Aber sie sah die unendlichen Steppen sich kaum vor ihrem Auge entrollen, jene Steppen, die sie beinahe selbst nicht einmal hätte betreten dürfen; ihr Blick schweifte hinaus über den entfernten Horizont, hinter dem sie das Gesicht des Verbannten suchte. Sie beobachtete nichts von der Landschaft, die sie mit einer Schnelligkeit von sechzehn Werst die Stunde durchflog, nichts von den Gegenden des westlichen Sibiriens, die sich von dem des östlichen so merklich unterscheiden. Hier begegnet man nur sehr selten angebauten Feldern, einem, mindest auf der Oberfläche, sehr mageren Boden, denn in seinem Innern birgt er neben einem Ueberfluß von Eisen auch viel Kupfer, Gold und Platin. Deshalb sieht man wiederholt wohl hüttengewerbliche Anlagen, aber fast nirgends landwirthschaftliche Ansiedelungen. Woher sollte man auch die nöthigen Arme nehmen, die Erde zu pflügen, die Felder zu besäen, die Erndten einzuholen, wenn es einträglicher ist, die Eingeweide der Erde mit Spitzhaue und Schlägel zu durchwühlen? Hier hat der Landbauer dem Bergmann den Platz geräumt. Die Hacke trifft man überall, den Spaten nirgends.

Manchmal lösten sich Nadia’s Gedanken indeß doch von den entlegenen Provinzen am Baikalsee los und richteten sich mit Interesse auf ihre gegenwärtige Lage. Das Bild ihres Vaters verwischte sich ein wenig und sie sah wieder ihren edelmüthigen Reisegefährten zuerst auf der Eisenbahn von Wladimir, wo sie die Vorsehung zum ersten Male mit ihm zusammen geführt hatte. Sie erinnerte sich seiner Aufmerksamkeit während der Fahrt, seines Erscheinens auf dem Polizei-Amte von Nishnij-Nowgorod, der wohlthuenden Einfachheit, mit der er sie mit der Bezeichnung Schwester anredete, seiner Sorgfalt für sie während der Fahrt auf der Wolga, endlich alles dessen, was er in der schrecklichen Gewitternacht im Ural gethan hatte, um mit Gefahr seines Lebens das ihrige zu retten!

Nadia dachte also an Michael Strogoff. Sie dankte Gott dafür, daß er ihr gerade diesen wachsamen Beschützer, diesen edelmüthigen und verschwiegenen Freund zugeführt hatte. Sie fühlte sich neben ihm, unter seinem Schutze vollkommen in Sicherheit. Ein wirklicher Bruder hätte nicht besser an ihr handeln können. Sie fürchtete jetzt kein Hinderniß mehr; sie war überzeugt, ihr Endziel zu erreichen.

Michael Strogoff selbst sprach nur wenig und gab sich vielmehr seinen Gedanken hin. Er dankte seinerseits Gott, daß er ihm durch diese Begegnung mit Nadia erstens ein Mittel gegeben habe, seine Individualität gegen Entdeckung besser zu sichern, und dann auch eine Gelegenheit, ein gutes Werk zu thun. Die ruhige Unerschrockenheit des jungen Mädchens erweckte die Sympathie seines muthigen Herzens. War sie nicht in der That seine Schwester? Er empfand für seine schöne heroische Begleiterin ebenso viel Hochachtung als Zuneigung. Er fühlte es, daß in ihr eines jener reinen und seltenen Herzen pulsire, auf welche man in jedem Fall zählen kann.

Seitdem er indeß den Boden Sibiriens durchzog, begannen für Michael Strogoff erst die eigentlichen Schwierigkeiten. Wenn die beiden Journalisten sich nicht etwa täuschten, wenn Iwan Ogareff wirklich die Grenze überschritten hatte, so mußte er überall mit der größten Vorsicht auftreten. Die Verhältnisse lagen hier umgekehrt, denn in den sibirischen Provinzen wimmelte es gewiß von tartarischen Spionen. Wurde sein Incognito gelüftet, seine Eigenschaft als Courier des Czaar erkannt, so war es um seine Mission, ja vielleicht um sein Leben geschehen. Michael Strogoff empfand die Verantwortlichkeit immer schwerer, die jetzt auf ihm lastete.

So gestalteten sich die Umstände in dem ersten Wagen, und wie sah es denn in dem zweiten aus? Ganz und gar wie gewöhnlich. Alcide Jolivet sprach in lustigen Sätzen, Harry Blount antwortete mit einsylbigen Brocken. Jeder sah die Sachen von dem ihm eigenen Standpunkte aus an und notirte sich Anmerkungen über Vorkommnisse während der Reise, Ereignisse, welche übrigens während dieses Zuges durch die ersten Gebietsteile Westsibiriens nicht von besonderem Gewichte waren.

Auf jedem Relais stiegen die beiden Berichterstatter aus und suchten Michael Strogoff auf. Sollte im Posthause nicht eine Mahlzeit eingenommen werden, so verließ Nadia den Tarantaß gar nicht. Beabsichtigte man zu frühstücken oder zu Mittag zu speisen, so nahm sie zwar mit an der Tafel Platz, hielt sich aber sehr zurückgezogen und betheiligte sich möglichst wenig bei der Unterhaltung.

Ohne jemals die Grenzen gebildeter Höflichkeit zu überschreiten, zeigte Alcide Jolivet doch für die junge Liefländerin, die er übrigens reizend fand, stets die größte Sorgsamkeit. Er bewunderte die schweigsame Energie, die sie den Strapazen einer unter so beschwerlichen Umständen ausgeführten Reise gegenüber zeigte.

Diese Zeiten gezwungenen Aufenthaltes gefielen Michael Strogoff nur sehr mittelmäßig. Auf jedem Relais trieb er zuerst zur Weiterfahrt, feuerte die Postmeister au, ließ die Jemschiks nicht zu Athem kommen und beeilte das Anspannen. War dann die Mahlzeit im Fluge verzehrt – gewöhnlich zu schnell und zum großen Leidwesen Harry Blount’s, der nun einmal ein methodischer Esser war, – so fuhr man ab, die Journalisten gleichfalls als Adler, denn sie bezahlten fürstlich und, wie Alcide Jolivet sagte, »als und mit russischen Adlern«. Eine russische Geldmünze im Werthe von 5 Rubeln.

Es versteht sich von selbst, daß Harry Blount sich des jungen Mädchens wegen in keinerlei Unkosten steckte. Es war das einer der wenigen Unterhaltungsgegenstände, über welche er mit seinem Gefährten nicht gern plauderte. Der ehrenwerthe Gentleman hatte nicht die Gewohnheit, zwei Sachen auf einmal zu thun.

Als Alcide Jolivet ihn einmal so nebenbei fragte, wie alt die junge Liefländerin wohl sein möge, antwortete er ganz ernsthaft und mit halbgeschlossenen Augen:

»Welche junge Liefländerin?«

– Nun, zum Kukuk, die Schwester Nicolaus Korpanoff’s.

– Das ist seine Schwester?

– Nein, seine Großmutter! versetzte Alcide Jolivet, den dieses Phlegma außer Fassung brachte. – Nun, welches Alter trauen Sie ihr zu?

– Wäre ich bei ihrer Geburt anwesend gewesen, so würde ich es wissen!« antwortete einfach Harry Blount, der sich offenbar nicht weiter einlassen wollte.

Der Landstrich, durch den die beiden Tarantaß dahinrollten, war fast vollkommen verlassen. Das Wetter blieb ziemlich gut, der Himmel leicht bewölkt, die Temperatur erträglich. Mit besser auf Federn befestigten Wagen hätten sich die Reisenden nach keiner Seite zu beklagen gehabt. Sie kamen wie mit den Berlinen der russischen Post, d. h. ungemein schnell vorwärts.

Wenn das Land aber verlassen schien, so lag das nur in den gegenwärtigen Verhältnissen. Auf den seltenen Feldern fanden sich nur wenig oder gar keine sibirischen Bauern mit ihrem bleichen und ernsten Gesicht, welche Bauern eine berühmte Reisende mit den Castiliern verglichen hat, nur fehlt ihnen deren trotziger Stolz. Da und dort verriethen auch schon einige verlassene Dörfer die Annäherung der tartarischen Heerhaufen. Die Einwohner waren unter Mitführung ihrer Heerden von Schafen, Kameelen und Pferden nach den nördlicheren Ebenen entflohen. Einige treu gebliebene Stämme der großen Kirghisenhorde hatten ihre Zelte gleichfalls über den Irtysch und Obi hinaus geschafft, um den Plünderungen der Eindringlinge zu entgehen.

Glücklicher Weise erlitt der Postbetrieb hier noch keine Störung, so wenig wie das Telegraphenwesen, so weit der ununterbrochene Draht eben noch reichte. Auf jedem Relais lieferten die Postmeister Pferde zu den vorschriftsmäßigen Bedingungen. Auf jeder Station befanden sich die Beamten an ihren Schaltern zur Beförderung der aufgegebenen Telegramme, welche höchstens durch die vielen Staatsdepeschen einige Verzögerung erfuhren. Auch Harry Blount und Alcide Jolivet machten von dem Telegraphen ausgiebigen Gebrauch.

Bis hierher ging Michael Strogoff’s Reise also unter befriedigenden Umständen von Statten. Der Courier des Czaar hatte sich nirgends verspätet, und wenn es ihm gelang, die Spitze der von Feofar-Khan über Krasnojarsk hinaus geschobenen Heereshaufen noch zu umgehen, war er auch sicher, vor ihnen und in der kürzesten bis jetzt gebrauchten Zeit in Irkutsk anzulangen.

Am folgenden Tage, nachdem die beiden Tarantaß Jekaterinenburg verließen, erreichten sie um sieben Uhr Morgens die kleine Stadt Tuluguisk nach Zurücklegung einer Strecke von 220 Werst, ohne daß sich dabei ein irgend nennenswerther Zufall ereignet hätte.

Dort wurde dem Frühstück ein halbes Stündchen gegönnt. Gleich darauf eilten die Reisenden mit einer Geschwindigkeit weiter, welche nur das Versprechen einer gewissen Summe Kopeken erklärlich machte.

Denselben Tag, den 22. Juli, langten die beiden Fuhrwerke sechzig Werst weiter in Tiumen an.

Tiumen, dessen normale Bevölkerung gegen 10 000 Seelen zählt, beherbergte jetzt wohl die doppelte Zahl. Diese Stadt, übrigens das erste von den Russen in Sibirien gegründete Industriestädtchen, dessen schöne metallurgische Werkstätten und Glockengießereien weithin bekannt sind, bot noch nie vorher einen so belebten Anblick.

Die beiden Correspondenten begaben sich sofort auf die Jagd nach Neuigkeiten. Was die sibirischen Flüchtlinge vom Kriegsschauplatze mittheilten, klang nicht eben sehr tröstlich.

Man sagte unter Anderem, die Armee Feofar-Khan’s nähere sich in Eilmärschen dem Thale des Ischim, und man bestätigte mehrfach, daß der Tartarenchef sich sehr bald mit dem Oberst Iwan Ogareff die Hand bieten werde, wenn das nicht gar schon geschehen sei. Man folgerte daraus ganz richtig, daß die Operationen bald mit mehr Nachdruck im Osten Sibiriens geführt werden würden.

Die russischen Truppen mußten ihrer Mehrzahl nach erst aus den europäischen Provinzen herangezogen werden, und standen noch viel zu entfernt, um sich dem Einfall entgegen werfen zu können. Dagegen bewegten sich die Kosaken des Gouvernements Tobolsk in forcirten Märschen auf Tomsk zu und hofften die Tartarenschwärme dort abzuschneiden.

Um acht Uhr Abends hatten die Tarantaß weitere fünfundsiebzig Werst zurückgelegt und kamen in Jalutorowsk an.

Man wechselte rasch die Pferde und passirte gleich außerhalb der Stadt auf einer Fähre den Tobolfluß. Sein sehr friedliches Gewässer erleichterte diese Ueberfahrt, welche sich im weiteren Verlauf der Fahrt noch mehrmals, und dann wohl unter minder günstigen Umständen wiederholen mußte.

Gegen Mitternacht wurde, fünfundfünfzig Werst weiter, der Flecken Novo-Saimsk erreicht und nun ließen die Reisenden endlich den leicht wellenförmigen Boden mit seinen waldbedeckten Hügeln, den letzten Wurzeln der Uralberge, hinter sich.

Hier begann nun wirklich die eigentliche sibirische Steppe, die sich bis in die Nachbarschaft von Krasnojarsk ausdehnt. Das war die Ebene ohne Grenzen, eine Art mit Gräsern bestandener Wüste, an deren Umfang sich Himmel und Erde, wie in einem mit dem Zirkel geschlagenen Bogen berührten. Diese Steppe bot dem Auge keine anderen Haltepunkte, als die Telegraphenpfähle zu beiden Seiten der Straße, längs der die Drähte leise, wie die Saiten einer riesigen Aeolsharfe, bei dem sanften Winde erklangen. Der Weg unterschied sich im Uebrigen von der weiten Ebene nur durch den seinen Staub, der unter den Rädern der Tarantaß aufwirbelte. Ohne dieses weißliche Band, das sich hinzog, so weit man sehen konnte, hätte man geglaubt, in der Wüste zu sein.

Durch die Steppe jagten Michael Strogoff und seine Gefährten mit noch größerer Schnelligkeit. Die von den Jemschiks angetriebenen Pferde hatten kein besonderes Hinderniß zu überwinden, und der Weg verschwand sichtbar hinter ihnen. Die Tarantaß flogen direct auf Ischim zu, woselbst die beiden Correspondenten zunächst bleiben wollten, wenn kein besonderer Zwischenfall ihre Absichten kreuzte.

Zweihundert Werst etwa trennen Novo-Saimsk von der Stadt Ischim, und am Morgen des andern Tages sollten und konnten diese zurückgelegt sein, vorausgesetzt, daß man eben keinen Augenblick verlor. In den Augen der Jemschiks verdienten die Reisenden, wenn sie nicht wirklich große Herren oder hohe Beamte waren, doch, es zu sein, mochte diese Ansicht auch nur in der Freigebigkeit bezüglich der vertheilten Trinkgelder begründet sein.

Am andern Tage, dem 23. Juli, befanden sich die beiden Tarantaß in der That nur noch dreißig Werst von Ischim.

Da bemerkte Michael Strogoff auf der Straße und vor einer wallenden Staubwolke kaum sichtbar, daß noch ein Wagen dem seinigen vorausfuhr. Da seine weniger ermüdeten Pferde sehr schnell liefen, mußte er diesen offenbar bald einholen.

Jenes war weder ein Tarantaß, noch ein Teleg, sondern eine Postkutsche; über und über mit Staub bedeckt, schien sie einen weiten Weg hinter sich zu haben. Der Postillon schlug unausgesetzt auf seine Gäule los und suchte sie mit Zurufen und mit der Peitsche im Galop zu erhalten. Diese Berline hatte Novo-Saimsk offenbar nicht passirt. Sie mußte auf die Straße nach Irkutsk über irgend einen verlorenen Weg durch die Steppe gelangt sein.

Als Michael Strogoff und seine Begleiter die Berline sahen, hatten sie Alle nur den nämlichen Gedanken, sie zu überholen, vor ihr beim Relais anzukommen und sich der disponiblen Pferde zu versichern. Nur eines Wortes an ihre Jemschiks bedurfte es, und sie befanden sich bald zur Seite der von ihren ermatteten Rossen dahin geschleppten Berline.

Michael Strogoff langte zuerst neben ihr an.

Eben wurde ein Kopf hinter dem Vorhang der Berline sichtbar.

Michael Strogoff hatte kaum Zeit diesen wahrzunehmen. So schnell er indessen vorübereilte, so hörte er den Fremden doch mit befehlendem Tone ihm zurufen:

»Anhalten!«

Die Wagen hielten aber nicht an, im Gegentheil ward die Berline schnell überholt.

Nun kam es zu einem wahren Wettrennen, denn die durch den schnellen Lauf der vorübersausenden Pferde jedenfalls angeregte Bespannung der Berline gewann die Kraft, einige Minuten mit Curs zu halten. Die drei Fuhrwerke verschwanden in einer Wolke von Staub. Aus dieser weißlich-grauen Masse erschallte wie ein Raketenfeuer das Knallen der Peitschen, vermischt mit den aufmunternden oder scheltenden Zurufen der Kutscher.

Alles in Allem blieb aber Michael Strogoff mit seinen Begleitern im Vorsprung, – ein Vorsprung, der von Bedeutung werden konnte, wenn das Relais mit nur wenigen Pferden versehen war. Zwei Wagen zu bespannen, das verlangte vielleicht mehr, als der Postmeister, wenigstens kurze Zeit nach einander, wohl zu leisten vermochte.

Eine halbe Stunde später sah man die weit überholte Berline kaum noch als ein Pünktchen am Horizonte der Steppe.

Es war acht Uhr Abends, als die beiden Tarantaß am Posthause, gleich am Eingange der Stadt Ischim anlangten.

Die Nachrichten über den Einfall lauteten immer und immer schlimmer. Die Stadt selbst war schon unmittelbar von der Vorhut der Tartarenhaufen bedroht und schon vor zwei Tagen hatten sich die Staatsbehörden auf Tobolsk zurückgezogen. Ischim besaß jetzt weder einen Beamten noch einen Soldaten.

Michael Strogoff verlangte sofort nach der Ankunft bei dem Relais für sich frische Pferde.

Er hatte sehr wohl daran gethan, die Berline noch auszustechen. Gerade drei Pferde nur waren in dem Zustande, sogleich angeschirrt zu werden. Die andern lagen erschöpft von irgend einem kurz zuvor zurückgelegten langen Wege in den Stallungen.

Der Postmeister gab Befehl, den Tarantaß zu bespannen.

Die beiden Correspondenten brauchten sich um sofortige Weiterbeförderungsmittel nicht zu sorgen, da sie es für gerathen hielten, vorläufig in Ischim zu verweilen; sie ließen also nur ihren Wagen in einer Remise des Posthofes unterbringen.

Zehn Minuten nach der Einfahrt in das Relais erhielt Michael Strogoff die Meldung, daß sein Tarantaß zum Abfahren bereit sei.

»Gut«, erwiderte er.

Dann wendete er sich zu den beiden Journalisten.

»Meine Herren, begann er, da Sie in Ischim zu bleiben gedenken, ist wohl die Zeit des Abschieds für uns gekommen.

– Wie, Herr Korpanoff, antwortete Alcide Jolivet, werden Sie sich nicht ein Stündchen lang auch in Ischim aufhalten?

– Nein, Herr Jolivet, es liegt mir etwas daran, das Posthaus verlassen zu haben, bevor die von uns überholte Berline hier eintrifft.

– Fürchten Sie, daß der nachkommende Reisende Ihnen die Postpferde streitig machen könnte?

– Ich suche gern jede Schwierigkeit zu vermeiden.

– Dann, Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, hätten wir nur nochmals für den uns geleisteten Dienst zu danken, sowie für das Vergnügen, welches es uns bereitete, mit Ihnen zu reisen.

– Es ist übrigens möglich, setzte Harry Blount hinzu, daß wir uns nach Verlauf einiger Tage in Omsk wieder begegnen.

– Das könnte wohl sein, bestätigte Michael Strogoff, da ich direct dorthin abgehe.

– Also glückliche Reise, lieber Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, und Gott bewahre Sie vor allen Telegs.«

Die beiden Correspondenten ergriffen die Hände Michael Strogoff’s, um sie ihm zum Abschiede recht warm und herzlich zu drücken, als von draußen das Heranrollen eines Wagens hörbar wurde.

Fast gleichzeitig ward das Thor des Gebäudes stürmisch aufgerissen und erschien in demselben eine männliche Gestalt.

Es war das der Insasse jener Berline, ein Mann von militärischem Aussehen, der gegen vierzig Jahre zählen mochte, von hoher, kräftiger Gestalt, mächtigem Kopfe, breiten Schultern und mit einem martialischen Schnurrbart, der unmittelbar in den röthlichen Backenbart überging. Er trug eine Uniform ohne Gradabzeichen. Ein Cavalleriesäbel hing an seiner Seite und eine Peitsche mit kurzem Stiel hatte er in der Hand.

»Pferde!« rief er mit herrischem Tone, aus dem man seine Gewohnheit zu befehlen leicht heraushörte.

– Ich habe augenblicklich keine Pferde zur Verfügung, antwortete der Postmeister mit einer höflichen Verbeugung.

– Ich brauche solche aber im Augenblick.

– Es ist unmöglich.

– Was sind das für Pferde, welche ich eben vor der Thür des Relais an den Tarantaß gespannt sah?

– Sie sind von diesem Reisenden belegt, erwiderte der Postmeister mit einem Hinweis auf Michael Strogoff.

– So spanne man sie wieder ab! …« sagte der Reisende in einem Tone, der jeden Widerspruch fast abschnitt.

Michael Strogoff trat einen Schritt vor. »Jene Pferde sind von mir bestellt, sagte er.

– Thut nichts! Ich brauche sie! Vorwärts – lebhaft! Ich habe keine Zeit zu verlieren.

– Mir ist jeder Augenblick nicht minder kostbar«, erwiderte Michael Strogoff, der ruhig bleiben wollte und sich doch nur mit Mühe zurückhalten konnte.

Nadia trat an seine Seite. Auch sie erschien äußerlich ruhig und doch fürchtete sie innerlich einen Auftritt, den sie gern vermieden gesehen hätte.

»Genug der Worte!« versetzte der fremde Reisende.

Dann wandte er sich an den Postmeister:

»Sie lassen jenen Tarantaß wieder abschirren, rief er und bekräftigte seinen Befehl durch eine drohende Geberde; die Pferde werden sofort vor meine Berline gespannt.«

In seiner Verlegenheit wußte der Postmeister jetzt nicht, wem er gehorchen sollte, und sah Michael Strogoff an, dessen Sache es doch war, den unberechtigten Anforderungen des Fremden entgegenzutreten.

Michael Strogoff zauderte einen Augenblick. Er wollte sich der Hilfe seines Podaroshna, der die Aufmerksamkeit Aller auf ihn lenken mußte, nicht bedienen, er wollte aber ebenso wenig durch Ueberlassung der Pferde seine Reise verzögern, und außerdem lag es ihm am Herzen, keinen zwecklosen Streit zu provociren, der die Ausführung seiner Mission hätte in Frage stellen können.

Die beiden Journalisten hielten die Blicke auf ihn gerichtet, offenbar bereit ihm beizustehen, wenn er ihre Unterstützung anrufen sollte.

»Meine Pferde werden an meinem Wagen bleiben«, sagte Michael Strogoff, aber ohne den Ton dabei mehr zu erheben, als es für einen einfachen sibirischen Kaufmann passend erschien.

Der Fremdling schritt auf Michael Strogoff zu und sprach, indem er seine Hand derb auf dessen Schulter fallen ließ: »Also so steht es! Du weigerst Dich, mir Deine Pferde abzutreten?

– Gewiß, antwortete Michael Strogoff.

– Nun gut, so werden sie dem gehören, der nachher noch im Stande ist weiter zu reisen! Vertheidige Dich – ich schone Dich nicht!«

Bei diesen Worten riß der Fremde hastig seinen Pallasch aus der Scheide und legte sich zum Fechten aus.

Nadia stürzte sich zwischen ihn und Michael Strogoff.

Harry Blount und Alcide Jolivet traten an seine Seite.

»Ich werde mich nicht schlagen, antwortete Michael Strogoff gelassen, und kreuzte, wie um sich sicherer zu bezwingen, die Arme vor der Brust.

– Du wirst Dich nicht schlagen?

– Nein.

– Auch hiernach nicht?« schrie der Reisende.

Und bevor man ihn zurückhalten konnte, traf der Griff seiner Hetzpeitsche Michael Strogoff’s Schulter.

Bei dieser frechen Beleidigung schwand jeder Tropfen Blut aus den Wangen des jungen Mannes. Seine Hände hoben sich krampfhaft, als wollten sie den rohen Gegner zermalmen. Nur mit äußerster Anstrengung blieb er seiner mächtig. Ein Duell, – das war mehr, als eine Verzögerung, das konnte ihn seine Mission gänzlich verfehlen lassen! … Es schien ihm besser, einige Stunden zu opfern! … Gut, aber diesen Insult sollte er still verwinden!

»Nein! antwortete Michael Strogoff auf jene Herausforderung, ohne den Raufbold eines weiteren Wortes zu würdigen, während er dem Fremden aber fest in’s Auge sah.

– Die Pferde für mich! Und augenblicklich!« herrschte Jener.

Er verließ mit diesen Worten das Zimmer.

Der Postmeister folgte ihm sofort, zuckte aber verwundert mit den Schultern und warf Michael Strogoff einen keineswegs zustimmenden Blick zu.

Die Wirkung, welche dieser Zwischenfall auf die beiden Journalisten hervorbrachte, konnte Michael Strogoff nicht besonders günstig sein. Sie erschienen sichtlich enttäuscht. Dieser kraftstrotzende junge Mann ließ sich schlagen und forderte auch für eine solche rohe Beleidigung keine Genugthuung! Sie grüßten zum Abschied etwas verlegen und zogen sich zurück, wobei Alcide Jolivet zu Harry Blount sagte:

»Das hätte ich nimmermehr geglaubt von einem Manne, der die Bären des Ural so im Handumdrehen aufschlitzt! Sollte es doch wahr sein, daß der Muth seine Stunden und seine gewissen Formen hat? Die Sache ist mir unverständlich. Uns Andern könnte hier vielleicht nur das Eine abgehen, daß wir niemals Leibeigene gewesen sind.«

Kurze Zeit darauf verrieth das Rollen von Rädern und das Knallen einer Peitsche, daß die mit den Pferden des Tarantaß bespannte Berline das Posthaus verließ.

Nadia blieb gelassen, Michael Strogoff noch leise vor Aufregung zitternd in dem Wartesaale des Relais zurück.

Der Courier des Czaar hatte sich mit noch immer untergeschlagenen Armen niedergesetzt. Er unterschied sich kaum von einer Bildsäule. Nur hatte eine tiefe Röthe, welche einer Schamröthe dennoch nicht ähnlich sah, die frühere Blässe seines Gesichtes verdrängt.

Für Nadia lag es außer allem Zweifel, daß nur die gewichtigsten Gründe einen solchen Mann veranlassen konnten, einen derartigen Bubenstreich ungestraft hingehen zu lassen.

Ruhig ging sie auf ihn zu, ganz so, wie er sich ihr auf dem Polizeiamte in Nishnij-Nowgorod genähert hatte.

»Deine Hand, Bruder!« redete sie ihn an.

Dabei fing ihre Hand bei einer fast mütterlich-zärtlichen Bewegung eine Thräne auf, die sich aus dem Auge ihres Begleiters hervordrängte.

Dreizehntes Capitel

Dreizehntes Capitel

Die Pflicht über Alles!

Nadia hatte es durchschaut, daß irgend ein wichtiges Geheimniß die Handlungsweise Michael Strogoff’s bestimmte, daß dieser, aus welchem Grunde wußte sie nicht, sich nicht selbst angehörte, nicht das Recht hatte, über seine Person zu verfügen, und daß er unter diesen Umständen sich heroisch seiner Pflicht zum Opfer brachte, selbst gegenüber einer so frechen, tödtlichen Beleidigung.

Nadia vermied es, von Michael Strogoff irgend eine Erklärung zu beanspruchen. Der Postmeister vermochte frische Pferde vor dem kommenden Morgen nicht zu beschaffen; man mußte demnach die ganze Nacht auf dem Relais zubringen. Für Nadia hatte das den Vortheil, ihr einmal die so nöthige Ruhe nach den Strapazen der letzten Tage zu gewähren. Es wurde für sie also ein Zimmer zurecht gemacht.

Gewiß wäre das junge Mädchen lieber bei ihrem Reisegefährten geblieben, aber sie fühlte doch auch die Nothwendigkeit, allein zu sein, und schickte sich an, das für sie bestimmte Zimmer aufzusuchen.

Unmöglich war es ihr aber, sich zurück zu ziehen, ohne sich von Jenem wenigstens zu verabschieden.

»Lieber Bruder …«, flüsterte sie noch einmal.

Aber Michael Strogoff unterbrach sie durch eine abwehrende Bewegung. Ein Seufzer entrang sich der Brust des jungen Mädchens, und schweigend verließ sie das Zimmer.

Michael Strogoff legte sich nicht nieder. Er hätte unmöglich Schlaf finden können. Die Stelle seiner Schulter, welche die Peitsche des brutalen Reisenden getroffen hatte, brannte ihm wie Feuer.

»Für das Vaterland und für dessen Vater!« murmelte er endlich am Schlusse eines stillen Abendgebetes.

Jedenfalls empfand er aber eine unbesiegbare Begierde, zu wissen, wer der Mann sein möge, der ihn zu schlagen gewagt hatte, woher er käme, wohin er ginge. Die Gesichtszüge desselben hatten sich seinem Gedächtniß so tief eingeprägt, daß er nie zu befürchten brauchte, dieselben zu vergessen.

Michael Strogoff ließ den Postmeister rufen.

Dieser, ein Sibirier von altem Schlage, kam sofort, sah den jungen Mann etwas über die Achsel an und erwartete dessen Begehren.

»Du bist selbst aus diesem Lande?

– Ja.

– Kennst Du den Mann, der meine Pferde nahm?

– Nein.

– Du hast ihn nie vorher gesehen?

– Niemals.

– Wer glaubst Du mochte jener Fremde sein?

– Ein großer Herr, der seinen Willen durchzusetzen weiß!«

Wie ein Dolchstoß traf Michael Strogoff’s Blick den Sibirier bis in’s Herz, aber der Postmeister rührte die Augenlider nicht.

»Du unterstehst Dich, über mich abzuurtheilen? rief Michael Strogoff.

– Ja, antwortete der Sibirier, denn es handelte sich hier um Dinge, die auch ein einfacher Kaufmann nicht ohne Abwehr hinnimmt.

– Den Schlag mit der Peitsche meinst Du?

– Den Peitschenschlag, junger Mann! Ich bin in den Jahren und in der Lage, Dir das sagen zu können.«

Michael Strogoff näherte sich dem Postmeister und legte ihm seine beiden wuchtigen Hände auf die Schultern.

Dann sagte er mit besonders gemäßigter Stimme:

»Geh‘ Deines Weges, guter Freund! – Geh‘, ich könnte Dich umbringen!«

Diesmal hatte der Postmeister ihn nicht mißverstanden. »So sehe ich Dich lieber«, sagte er noch halblaut.

Ohne ein weiteres Wort verließ er den Wartesaal.

Andern Tags, am 24. Juli, stand der Tarantaß Morgens acht Uhr mit drei muthigen Rossen bespannt bereit. Michael Strogoff und Nadia nahmen Platz, und Ischim, für Beide eine Stadt mit so betrübender Erinnerung, verschwand bald hinter einer Biegung der Straße.

Auf den verschiedenen Relais, welche Michael Strogoff im Laufe des Tages berührte, konnte er sich überzeugen, daß die Berline ihm immerfort auf dem Wege nach Irkutsk vorausfuhr und daß der Reisende, der es offenbar ebenso eilig hatte wie er, keinen Augenblick verlor, die Steppe zu durchjagen.

Gegen vier Uhr Abends mußte, fünfundsiebzig Werst weiter, bei der Station Abatskaja, der Ischimfluß, einer der bedeutendsten Nebenarme des Irtysch, überschritten werden.

Die Ueberfahrt war etwas schwieriger, als jene über den Tobol. Die Strömung des Ischim ist nämlich gerade an dieser Stelle eine besonders heftige. Während des sibirischen Winters sind alle diese Steppenflüsse, welche der Frost mit mehrere Fuß dickem Eise belegt, leicht zu passiren; ihr Bett verschwindet dann unter der ungeheuren weißen Decke, welche sich über die ganze Hälfte des größten Erdtheils lagert; im Sommer können sie dagegen dem Verkehr nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten.

Zwei volle Stunden gingen mit der Ueberfahrt über den Ischim hin, – zwei Stunden, welche Michael Strogoff schon an sich fast zur Verzweiflung brachten, noch viel mehr aber, als die Ruderknechte ihm sehr beunruhigende Nachrichten von dem Tartareneinfalle mittheilten.

Diese lauteten etwa folgendermaßen:

Einzelne Plänkler von Feofar-Khan’s Truppen waren schon an beiden Ufern des unteren Ischim, in den südlichen Landstrichen des Gouvernements Tobolsk erschienen. Omsk war sehr bedroht. Man sprach unter der Hand von einem Treffen zwischen den sibirischen und tartarischen Heerhaufen an der Grenze des Gebietes der großen Kirghisenhorde, – ein Treffen, das für die auf diesem Punkte viel zu schwachen Russen nicht zum Vortheile ausgefallen sein konnte, denn deren Truppen wandten sich zum Rückzug, der gleichzeitig eine allgemeine Auswanderung der in jenen Gegenden ansässigen Bauern zur Folge hatte. Man erzählte sich von haarsträubenden Frevelthaten der Eindringlinge, von Plünderungen, Diebstählen, Brandstiftungen und Mordthaten. Das war die gewohnte Kriegführung der Tartaren. Von allen Seiten suchte man also den Vortruppen Feofar-Khan’s zu entfliehen. Bei dieser Entvölkerung der Flecken und Dörfer fürchtete Michael Strogoff vor Allem, daß es ihm an den nöthigen Vorspannpferden zur Weiterreise fehlen könne. Er beeilte also seine Ankunft in Omsk auf jede mögliche Weise. Jenseits dieser Stadt schien es eher möglich, den tartarischen Plänklern, die längs des Irtysch herabkamen, zuvor zu kommen und die noch freie Straße nach Irkutsk zu erreichen.

Der Tarantaß überschritt den Fluß übrigens gerade am Ende der Stelle, welche man in der Militärsprache als »die Ischimsperre« bezeichnet, eine Reihe von hölzernen Thürmen und Fortificationsanlagen, die sich von der südlichen Grenze Sibiriens in einer Länge von 400 Werst (= 427 Kilometer) nach Norden ausdehnt. Sonst waren die Blockhäuser u. s. w. von Kosakenabtheilungen besetzt und sicherten die Umgebung ebenso wohl gegen Uebergriffe der Kirghisen, wie gegen solche der Tartaren. Als die moskowitische Regierung diese Horden aber für vollständig unterworfen hielt, hatte man sie verlassen, und sie konnten nun nichts mehr nützen, obschon sie gerade jetzt hätten recht vortheilhaft vertheidigt werden können. Der größte Theil dieser Blockhäuser lag in Asche, und einige Rauchwolken, auf welche die Ruderer Michael Strogoff aufmerksam machten, bezeugten, am fernen Horizonte aufziehend, die Annäherung der tartarischen Vorhut.

Sobald die Fähre den Tarantaß nebst Bespannung an das rechte Flußufer befördert hatte, ward der Weg durch die Steppe in möglichster Geschwindigkeit weiter fortgesetzt.

Es war sieben Uhr Abends, der Himmel gleichmäßig verschleiert. Wiederholt fiel ein kurzer, aber heftiger Regen, der den Vortheil hatte, den Staub zu löschen und den Weg eher zu bessern.

Von dem Relais in Ischim aus verharrte Michael Strogoff in trübem Schweigen, ohne daß er deshalb die gewohnte Sorgfalt aus den Augen verlor, Nadia die Anstrengungen einer solchen Fahrt ohne Ruhe und Rast möglichst zu erleichtern, wenn auch nie eine Klage über des jungen Mädchens Lippen kam. Wie gern hätte sie den Pferden des Tarantaß Flügel verliehen! Ein unbekanntes Etwas rief ihr zu, daß ihr Begleiter wohl noch mehr Eile habe, in Irkutsk anzukommen, als sie selbst; und wie viele Werst trennten sie jetzt noch von diesem Ziele!

In ihr stieg auch der Gedanke auf, daß bei einer Besetzung von Omsk durch die Tartaren Michael Strogoff’s alte Mutter, welche ja in dieser Stadt wohnte, manchen Gefahren ausgesetzt war, die ihren Sohn auf’s schmerzlichste beunruhigen mußten, und daß hierin wohl ein hinreichender Erklärungsgrund zu finden sei für seine Ungeduld, möglichst schnell bei ihr einzutreffen.

Nadia hielt es also für gerathen, gelegentlich von der alten Marfa zu ihm zu sprechen, von der Vereinsamung, in der sie sich inmitten dieser so ernsthaften Ereignisse befand.

»Du hast seit dem Anfange des Tartareneinfalles von Deiner Mutter keine Nachricht erhalten? fragte sie.

– Nein, Nadia. Der letzte Brief meiner Mutter datirt schon von vor zwei Monaten, dieser enthielt jedoch nur günstige Nachrichten. Marfa ist eine energische Frau, eine Sibirierin mit offenem Auge. Trotz ihres Alters bewahrte sie bis jetzt noch ihre ganze moralische Energie. Sie weiß sich auch in mißliche Umstände zu schicken.

– Ich werde sie besuchen, Bruder, versetzte lebhaft das junge Mädchen. Da Du mir den Namen Schwester gegeben hast, bin ich auch Marfa’s Tochter!«

Michael Strogoff antwortete nicht sofort. »Vielleicht hat Deine Mutter Omsk schon verlassen können? fügte sie hinzu.

– Das ist wohl möglich, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und ich hoffe sogar, daß es ihr schon gelungen ist, in Tobolsk Zuflucht zu suchen. Die alte Marfa ist von Haß gegen die Tartaren erfüllt. Sie kennt die Steppe, sie hat keine Furcht, und ich wünschte, sie hätte ihren Stab ergriffen und wäre längs des Irtysch nach Norden gewandert. In der Provinz giebt es keinen Ort, der ihr unbekannt wäre. Wie oft hat sie das ganze Land an der Seite meines alten Vaters durchzogen, und wie oft bin ich, selbst noch als Kind, bei ihnen gewesen auf diesen Jagdzügen durch die sibirische Wüstenei! Gewiß, Nadia, ich hoffe, meine Mutter wird Omsk glücklich verlassen haben.

– Und wann denkst Du sie wieder zu sehen?

– Jedenfalls … auf der Rückreise.

– Wenn Deine Mutter aber noch in Omsk wäre, wirst Du ein Stündchen opfern, sie zu umarmen?

– Ich werde nicht erst zu ihr gehen.

– Du willst sie nicht einen Augenblick sehen?

– Nein, Nadia. ..! entgegnete Michael Strogoff, dessen Brust sich mühsam hob und der wohl einsah, daß er die Fragen des jungen Mädchens noch weiter zu beantworten nicht im Stande sei.

– Du sagst: Nein! Ach, Bruder, welche Ursachen könnten Dich, wenn Deine Mutter in Omsk ist, hindern sie zu sehen und zu besuchen?

– Welche Ursachen, Nadia? Du fragst mich nach den Gründen meiner Handlungsweise! rief Michael Strogoff mit einer so auffallend veränderten Stimme, daß das junge Mädchen fast dabei erzitterte. Aber wegen der Ursachen, die mich meinen Zorn überwinden ließen gegenüber jenem Elenden, dessen ….«

Er konnte den Satz nicht vollenden, die Zunge versagte ihren Dienst.

»Beruhige Dich, mein Bruder, redete ihn Nadia mit sanftester Stimme zu. Ich weiß nur Eines, oder vielmehr ich weiß es nicht, aber ich fühle es, daß jetzt nur ein Gefühl Dich ganz und gar beherrscht, das Gefühl einer noch heiligeren Pflicht, als die, welche den Sohn gegen die Mutter bindet!«

Nadia schwieg und vermied auch von diesem Augenblicke ab jedes Gespräch, welches zu der gegenwärtigen eigenthümlichen Lage Michael Strogoff’s irgend Bezug haben konnte. Hier lag ein Geheimniß, gewiß ein wichtiges, vor. Sie achtete es aufrichtig.

Am andern Tage, dem 25. Juli, langte der Tarantaß um drei Uhr früh bei dem Postrelais zu Tjukalinsk an, nachdem er von der Ueberfahrtsstelle am Ischim gegen 120 Werst zurückgelegt hatte.

Schnell wurden die Pferde gewechselt. Indeß erhob hier zum ersten Male der Jemschik Einspruch gegen die Weiterfahrt mit dem Bemerken, daß Tartarenabtheilungen durch die Steppe streiften und daß Reisende, Pferde und Wagen für jenes Raubgesindel eine erwünschte Beute sein würden.

Michael Strogoff besiegte den Widerwillen des Jemschiks nur mit klingender Münze, denn in diesem wie in mehreren anderen Fällen wollte er von seinem Podaroshna keinen Gebrauch machen. Der letzte, durch den Telegraphen übermittelte Ukas war in den sibirischen Provinzen bekannt, und auf einen Russen lenkte sich dadurch, daß er von der Befolgung der in jenem enthaltenen Vorschriften speciell dispensirt war, schon die allgemeine Aufmerksamkeit, die der Courier des Czaar doch vor Allem zu vermeiden suchte. Sollten die ausgesprochenen Befürchtungen des Jemschiks vielleicht nur daher rühren, daß der Schlaukopf seine Rechnung auf die Ungeduld des Reisenden gründete? Oder war in der That jetzt ein unliebsames Abenteuer zu befürchten?

Endlich fuhr der Tarantaß ab und bewegte sich mit einer solchen Schnelligkeit weiter, daß er um drei Uhr Nachmittags Kulatsinskoë, in einer Entfernung von 80 Werst, glücklich erreichte. Eine Stunde später befand er sich an dem Ufer des Irtysch. Omsk lag von hier aus nur noch 20 Werst entfernt.

Dieser Irtysch ist ein bedeutender Strom, eine der sibirischen Hauptarterien, die ihre Wasser nach dem Norden Asiens hinabrollen. Entsprungen in den Altaïbergen, wendet er sich schräg von Südosten nach Nordwesten und mündet zuletzt, nach einem Stromlaufe von 700 Werst, in, den Obi ein.

Zu dieser Zeit des Jahres, der Periode des Hochwassers aller Ströme der sibirischen Niederung, war auch der Wasserstand des Irtysch ein ungewöhnlich hoher, so daß die heftige, fast reißende Strömung die Ueberschreitung des Flusses ziemlich schwierig machte. Auch der beste Schwimmer hätte sich wohl nicht hindurch zu arbeiten vermocht; ja, selbst eine Fähre, das einzige Mittel zur Ueberfahrt über den Irtysch, bot jetzt einige Gefahren.

Diese Gefahren aber konnten, ebenso wenig wie alle anderen, Michael Strogoff und Nadia auch nur einen Augenblick aufhalten, da Beide entschlossen waren, all‘ und jedem Hinderniß ohne Besinnen zu trotzen.

Inzwischen machte Michael Strogoff seiner jungen Begleiterin den Vorschlag, erst allein über den Fluß zu gehen, indem er sich auf der mit dem Fuhrwerk und der Bespannung beladenen Fähre einschiffen wollte, denn er fürchtete, daß das Gewicht dieser Ladung die Sicherheit der Fähre einigermaßen in Frage stellen könne. Nachdem er Pferde und Wagen am jenseitigen Ufer gelandet, wollte er zurückkehren, um Nadia abzuholen.

Nadia verweigerte diese Rücksichtnahme, welche eine volle Stunde Zeitverlust veranlaßt hätte, und sie wollte um ihrer persönlichen Sicherheit halber nie die Ursache einer Verzögerung sein.

Die Einschiffung ging nicht gar so leicht von statten, denn das Ufer stand jetzt theilweise unter Wasser und die Fähre konnte in Folge dessen nicht so nahe anlegen.

Nach halbstündiger Anstrengung brachte der Fährmann den Tarantaß und die drei Pferde glücklich auf dem Fahrzeug unter. Michael Strogoff, Nadia und der Jemschik schifften sich ein, und man stieß nun vom Ufer.

Während der ersten Minuten ging Alles ganz gut. Der Strom des Irtysch, der sich weiter stromauf an einer weit vorspringenden Landzunge brach, bildete hier eine Art Wirbel, welchen die Fähre leicht überwand. Die beiden Schiffer stießen das Fahrzeug mit zwei langen Stangen, deren sie sich sehr geschickt bedienten, vorwärts; je mehr sie sich aber der Mitte des Stromes näherten, desto mehr vertiefte sich dessen Bett, so daß von den Stangen kaum noch der obere Theil frei blieb, auf den jene sich mit der Schulter stemmten. Dieser Kopf der Stange ragte zuletzt kaum noch einen Fuß aus dem Wasser, was die Arbeit der Leute natürlich nicht wenig erschwerte.

Michael Strogoff und Nadia hatten im hinteren Theile der Fähre Platz genommen und beobachteten, immer in der Furcht eine Verzögerung zu erleiden, aufmerksam die Anstrengungen der Bootsführer.

»Achtung!« rief da der Eine hastig seinem Kameraden zu.

Diesen Zuruf veranlaßte eine unerwartete Wendung der Fähre, welche mit großer Geschwindigkeit vor sich ging. Sie ward direct von der Strömung des Flusses ergriffen und von dieser stromabwärts mit fortgerissen. Es handelte sich also darum, durch geschickte Handhabung der Stangen die Fähre wieder in schräge Linie gegen die Richtung der Wellenbewegung zu bringen. Die Bootsführer ließen nichts unversucht, und es gelang ihnen, wenn auch mit einiger Mühe, die Direction des Fahrzeugs wieder zu verändern und nach dem rechten Ufer zu etwas an Weg zu gewinnen.

Man konnte schon mit Sicherheit berechnen, daß das Fährboot fünf bis sechs Werst stromab von der Abfahrtsstelle das Ufer erreichen würde, was ja nicht von zu großer Bedeutung war, wenn nur Menschen und Thiere glücklich das Land erreichten.

Die beiden Bootsführer, kräftige Männer, welche noch das Versprechen eines reichlichen Fährgeldes besonders antrieb, setzten nicht den mindesten Zweifel in das glückliche Ueberschreiten des angeschwollenen Irtysch.

Dabei ließen sie freilich einen Zwischenfall außer Acht, den sie unmöglich voraussehen konnten, und weder ihr Eifer noch ihr Geschick hätten eben gegen diesen etwas auszurichten vermocht.

Die Fähre befand sich inmitten der Strömung, etwa in gleicher Entfernung von beiden Ufern, und schwamm mit der Schnelligkeit von zwei Werst in der Stunde mit jener thalabwärts, als Michael Strogoff sich erhob und mit gespannter Aufmerksamkeit die Blicke stromaufwärts richtete.

Er bemerkte in dieser Richtung einige Barken, die der Strom mit ungeheurer Schnelligkeit herabtrug, denn zu der der Wasserbewegung gesellte sich noch der Druck der Ruder, mit denen sie ausgerüstet waren.

Auf Michael Strogoff’s Stirn bildeten sich plötzlich einige Falten und ein leiser Schrei kam unwillkürlich über seine Lippen.

»Was giebt es?« fragte das junge Mädchen.

Aber bevor Michael Strogoff noch Zeit fand zu antworten, rief einer der Bootsführer mit erschrockener Stimme:

»Die Tartaren! Die Tartaren!«

Wirklich glitten einige von Bewaffneten besetzte Barken den Irtysch in größter Schnelligkeit hinab und mußten binnen wenigen Minuten die Fähre erreichen, welche viel zu tief im Wasser ging, um jenen schnell genug entweichen zu können.

Erschreckt durch diesen Anblick schrieen die Fährleute verzweifelt auf und verließen ihre Bootshaken.

»Muth, Muth, Freunde! rief ihnen Michael Strogoff zu! Fünfzig Rubel sind euer, wenn wir das Ufer noch vor der Ankunft jenes Raubgesindels erreichen!«

Dieses Versprechen belebte noch einmal die kleinmüthigen Fährleute so weit, daß sie mit dem Aufgebot aller Kräfte die scharfe Strömung zu durchschneiden suchten, aber dennoch zeigte sich bald die Unmöglichkeit, vor Ankunft der Tartaren zu landen.

Würden diese nun vorüberfahren, ohne die Fähre und ihre Insassen zu belästigen? Wahrscheinlich nicht! Im Gegentheil hatte man von diesen Barbaren Alles zu fürchten.

»Hab‘ keine Furcht, Nadia, sagte Michael Strogoff, aber bereite Dich vor auf Alles!

– Ich bin es, antwortete Nadia.

– Selbst Dich in den Fluß zu stürzen, wenn ich es verlangte?

– Auf Dein erstes Wort.

– Vertraue mir, Nadia.

– Ich vertraue Dir stets.«

Die Tartarenboote schwammen jetzt nur noch in einer Entfernung von hundert Schritten daher. Sie trugen eine Abtheilung bukharischer Soldaten, welche offenbar eine Recognoscirung von Omsk beabsichtigten.

Die Fähre befand sich jetzt noch zwei Schiffslängen weit vom Ufer. Die Schiffer verdoppelten ihre Anstrengungen. Auch Michael Strogoff sprang ihnen noch bei und ergriff einen Bootshaken, den er mit übermenschlicher Kraft handhabte. Vermochte er den Tarantaß noch auszuschiffen und im Galop davon zu fahren, so schimmerte ihm doch noch einige Hoffnung, den nicht berittenen Tartaren zu entgehen.

Aber alle Mühe, alle Anstrengung sollte vergeblich sein!

»Sarin na kitschu!« riefen die Soldaten aus dem ersten Boote.

Michael Strogoff verstand das Kriegsgeschrei der tartarischen Piraten, auf das es keine andere Antwort gab, als sich platt auf den Boden zu werfen.

Und da weder er selbst noch die Bootsführer diesem Befehle gehorchten, knatterte eine kräftige Gewehrsalve, von der zwei der Pferde tödtlich getroffen wurden.

Da – in diesem Augenblick, – folgte auch ein heftiger Stoß: die Barken waren an der Langseite der Fähre angelangt.

»Komm, Nadia!« rief Michael Strogoff, bereit sich mit ihr über Bord zu stürzen.

Eben wollte das junge Mädchen ihm nachfolgen, als Michael Strogoff von einem Lanzenstoße getroffen in den Strom fiel. Das Wasser riß ihn mit weg; einen Augenblick noch kämpften seine Arme über den Fluthen, dann verschwand er unter den wirbelnden Wellen.

Nadia hatte es mit einem Schrei gesehen; doch bevor sie noch Zeit gewann, sich Michael Strogoff nachzustürzen, ward sie ergriffen, weggeschleppt und in eines der Boote gefangen gesetzt.

Einen Augenblick nachher fielen die Bootsführer, von Lanzenstichen durchbohrt, und die Fähre trieb steuerlos weiter, während die Tartaren den Lauf des Irtysch weiter stromab ruderten.

Viertes Capitel

Viertes Capitel

Von Moskau nach Nishny-Nowgorod

Die Entfernung, welche Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (= 5523 Kilom.). Als noch kein Telegraphendraht den Zwischenraum zwischen den Bergen des Ural und der Ostküste Sibiriens überspannte, wurde der Depeschendienst durch Couriere versehen, deren schnellster mindestens achtzehn Tage bedurfte, um sich von Moskau nach Irkutsk zu begeben. Das war aber nur eine Ausnahme und dauerte die Reise durch das asiatische Rußland gewöhnlich vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel den Abgesandten des Czaaren zur Verfügung gestellt wurden.

Als ein Mann, der weder Frost noch Schnee fürchtete, hätte es Michael Strogoff vorgezogen, während der rauhen Winterszeit zu reisen, welche es erlaubt, die ganze Strecke zu Schlitten zurückzulegen. Dann sind alle Schwierigkeiten, mit denen man sonst des Fortkommens wegen zu kämpfen hat, bei der Nivellirung der endlosen Steppen durch den Schnee, merklich vermindert. Kein Wasserlauf tritt hindernd in den Weg. Ueberall die glatte Eisfläche, auf welcher der Schlitten leicht und schnell dahin gleitet. Zwar sind zu dieser Zeit gelegentlich wohl verschiedene Naturerscheinungen zu fürchten, wie andauernde, dicke Nebel, sehr strenge Kälte, lange andauerndes, furchtbares Schneetreiben, dessen Wirbel manchmal ganze Karawanen verwehen und begraben. Es kommt wohl auch vor, daß von Hunger gequälte Wölfe die Ebenen zu Tausenden bedecken. Doch immer wäre es noch besser gewesen, sich diesen Gefahren auszusetzen, denn bei solch‘ hartem Winter mußten die tartarischen Eindringlinge sich vorzugsweise in den Städten aufhalten, ihre Marodeure hätten die Steppen nicht unsicher gemacht, jede Truppenbewegung wäre unausführbar gewesen und Michael Strogoff leichter hindurch gekommen. Indeß er konnte weder Zeit noch Stunde selbst wählen. Wie auch die Umstände lagen, er mußte sie hinnehmen und abreisen.

Derart war also die Lage, welche Michael Strogoff klar überschaute, und er richtete sich darauf ein, sich mit ihr abzufinden.

Dazu kamen ihm nicht die gewöhnlichen Verhältnisse eines Couriers des Czaaren zu Statten. Im Gegentheil durfte Niemand während seiner Fahrt diese Eigenschaft vermuthen. In einem von Feinden überschwemmten Lande wimmelt es auch von Spionen. Ward er erkannt, so war auch seine Mission compromittirt. Auch als General Kissoff ihm eine bedeutende Summe einhändigte, welche zur Reise hinreichen und dieselbe nach Möglichkeit erleichtern mußte, gab er ihm keinerlei schriftliche Ordre mit der Bezeichnung: »Specialdienst des Kaisers«, das Sesam, dessen Kräfte nie versagen. Er begnügte sich, ihm nur einen »Podaroshna« auszustellen.

Dieser Podaroshna lautete auf den Namen eines Kaufmanns, Nicolaus Korpanoff, wohnhaft in Irkutsk. Er berechtigte denselben, sich gegebenen Falles von einer oder mehreren Personen begleiten zu lassen, und daneben enthielt er die ausdrückliche Bemerkung, daß er selbst dann giltig sei, wenn das Gouvernement von Moskau auch jedem Anderen den Austritt aus Rußland verbieten sollte.

Der Podaroshna war nichts Anderes, als ein Erlaubnißschein, Postpferde zu requiriren; Michael Strogoff aber sollte davon nur Gebrauch machen in dem Falle, wenn dieser Schein keinen Verdacht bezüglich seiner Eigenschaft hervorrufen konnte, d. h. so lange er sich auf europäischem Boden befand. Hieraus folgte, daß er in Sibirien, wenn er die aufständischen Provinzen durchreiste, sich nicht als Gebieter den Postrelais gegenüber benehmen, noch sich vor Anderen Pferde verschaffen, noch endlich Transportmittel für seine eigene Person requiriren konnte. Michael Strogoff durfte das nicht vergessen; er war nicht mehr ein Courier, sondern ein einfacher Kaufmann, Nicolaus Korpanoff, der sich von Moskau nach Irkutsk begab, und als solcher allen Zufälligkeiten einer gewöhnlichen Reise unterworfen.

Unbemerkt hindurch zu kommen – ob mehr oder weniger schnell, – aber jedenfalls hindurch zu kommen, darin lag seine Aufgabe.

Vor dreißig Jahren bestand die Escorte eines Reisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baskiren zu Pferde, dreihundert Kameelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Stück Kanonen. Das war das nöthige Material bei einer Reise durch Sibirien.

Michael Strogoff freilich sollte weder Reiter, noch Fußsoldaten oder Saumthiere haben. Er reiste zu Wagen, zu Pferde, wenn das möglich war; zu Fuß, wenn es nicht anders anging.

Die ersten 1400 Werst (= 1493 Kilom.), die Strecke zwischen Moskau und der Grenze Rußlands, konnten keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Eisenbahnen, Postwagen, Pferde zum Wechseln an verschiedenen Stationen, Dampfschiffe – standen hier Jedermann zur Verfügung und waren folglich auch dem Courier des Czaaren zur Hand.

Am Morgen des 16. Juli begab sich Michael Strogoff ohne jede Uniform, aber mit einem Reisesack, den er auf dem Rücken trug, bekleidet mit einem gewöhnlichen russischen Anzug, einem an der Taille geschlossenen Oberrock, dem herkömmlichen Mujik (Gürtel), weiten Beinkleidern und an den Knöcheln anschließenden Stiefeln, nach dem Bahnhofe, um den nächsten Zug zu benutzen. Er führte, wenigstens dem Anscheine nach, keine Waffen bei sich, unter dem Gürtel aber stak ein Revolver und in seiner Tasche einer jener langen Dolche, welche das Mittel zwischen dem Messer und dem Yatagan bilden und mit dem ein sibirischer Jäger einen Bären sauber auszuweiden im Stande ist, ohne dessen kostbares Fell zu beschädigen.

Auf dem Bahnhofe in Moskau war ein ansehnliches Menschengedränge. Die Perrons der russischen Eisenbahnen bilden häufig gewissermaßen Versammlungsörter ebensowohl für Diejenigen, welche abreisen, als für Solche, welche der Abfahrt nur zusehen. Dort ist fast eine kleine Börse für Neuigkeiten.

Der Zug, den Michael Strogoff benutzte, sollte ihn nach Nishny-Nowgorod führen. Dort war jener Zeit das Ende des Schienenweges, der Moskau mit St. Petersburg verbindet und bis zur Grenze Rußlands fortgeführt werden soll. Die Strecke bis dahin maß etwa 400 Werst (= 426 Kilom.), welche der Zug in ungefähr zehn Stunden zurücklegen mußte. In Nishny-Nowgorod angelangt, wollte Michael Strogoff je nach den Umständen entweder zu Lande weiter reisen oder die Wolgadampfboote benutzen, um die Berge des Ural so schnell als möglich zu erreichen.

Michael Strogoff machte es sich in seiner Ecke so bequem, wie ein braver Bürger, den seine Geschäfte nicht übermäßig beunruhigen und der sich die Zeit durch Schlafen zu vertreiben sucht.

Da er in dem Coupé aber nicht allein war, schlief er auch nur mit einem Auge, hörte aber dabei mit beiden Ohren.

Der Aufstand der Kirghisenhorden und der Einfall der Tartaren machte doch schon einigermaßen von sich reden. Die Leute, mit denen der Zufall ihn zusammenwürfelte, plauderten ebenfalls davon, doch immer noch mit einer gewissen Zurückhaltung.

Diese Reisenden waren ebenso, wie die meisten Insassen des Zuges, Kaufleute, die sich zur großen Messe nach Nishny-Nowgorod begaben, eine erklärlicher Weise sehr gemischte Gesellschaft, welche aus Juden, Türken, Kosaken, Russen, Georgiern, Kalmücken und Anderen bestand, die sich indessen Alle der Nationalsprache bedienten.

Man besprach das Für und Wider der ernsthaften Ereignisse, welche sich eben jenseit des Ural abspielten; auch schienen diese Kaufleute zu fürchten, daß die russische Regierung sich veranlaßt sehen könnte, einige beschränkende Maßregeln, mindestens in den Nachbarprovinzen der asiatischen Grenze, zu ergreifen, – Maßregeln, unter denen der Handel ohne Zweifel leiden mußte.

Diese unverbesserlichen Egoisten betrachteten den Krieg, d. h. die Unterdrückung der Rebellion und die Abwehr jenes Einfalls, nur von dem einen Standpunkte ihrer bedrohten Interessen. Die Anwesenheit eines einfachen Soldaten in Uniform – man weiß ja, wie groß der Einfluß der Uniform gerade in Rußland ist, – hätte gewiß hingereicht, die Zungen dieser Handelsleute zu zügeln. In dem von Michael Strogoff benutzten Coupé ließ nichts die Gegenwart einer Militärperson vermuthen, und der Courier des Czaaren, der sein Incognito bewahren mußte, hütete sich wohl, seinen wahren Charakter zu verrathen.

Er horchte gespannt.

»Man spricht von einer Preissteigerung des Karawanenthees, sagte ein Perser, den man an seiner mit Astrachan besetzten Mütze und dem abgetragenen braunen und weitfaltigen Rocke erkannte.

– O, der Thee hat auch keine Baisse zu fürchten, erwiderte ein alter Jude mit verschmitzten Zügen. Was davon in Nishny-Nowgorod am Markte ist, wird nach Westen hin willigen Absatz finden; leider steht es mit den Teppichen aus Bukhara aber anders.

– Wie? Sie erwarten eine Sendung aus Bukhara? fragte ihn der Perser.

– Das zwar nicht, wohl aber aus Samarkand, und Waarensendungen von dorther sind eher noch mehr gefährdet. Verlassen Sie sich einmal auf Zufuhren aus einem Lande, das durch die Khans von Khiva bis zur chinesischen Grenze in helle Empörung gebracht ist.

– Gut! meinte der Perser, wenn die Teppiche nicht ankommen, so ist das von den Verräthern noch weniger zu erwarten, denke ich.

– Und der Profit? heiliger Gott Israels, rief der Jude, rechnen Sie den für nichts?

– Sie haben Recht, mischte sich ein anderer Reisender in das Gespräch, asiatische Artikel werden am Platze empfindlich fehlen; die Teppiche aus Samarkand ebenso, wie die Wollenwaaren, die Seifen, Oele und die Shawls aus dem Morgenlande.

– Ei, nehmen Sie sich in Acht, Väterchen, antwortete ein russischer Reisender mit spöttelnder Miene, Sie werden sich furchtbare Fettflecke in ihre Shawls bringen, wenn Sie sie mit den Seifen und Oelen zusammenpacken!

– Das kommt Ihnen wohl sehr komisch vor! versetzte etwas spitzig der Kaufmann, der solche Scherze nicht besonders liebte.

– Nun, und wenn man sich die Haare ausraufen und Asche auf’s Haupt streuen wollte, fuhr jener Reisende fort, würde das den Lauf der Dinge ändern? Nein! Um keinen Deut mehr als den Transport der Meßgüter.

– Man erkennt es, daß Sie kein Kaufmann sind, bemerkte der kleine Jude.

– Meiner Treu, nein, würdiger Nachkomme Abraham’s! Ich verkaufe weder Hopfen noch Theer, Honig oder Wachs, weder Hanfsamen noch Pökelfleisch, Caviar, Holz, Wolle, Bänder, nicht Hanf oder Leinen, keine Maroquins oder Pelzwaaren! …

– Aber kaufen Sie vielleicht davon? fragte der Perser, den Redestrom des Reisenden unterbrechend.

– So wenig als möglich und nur für meinen Privatbedarf, antwortete jener mit den Augen zwinkernd.

– Das ist ein Spaßvogel, raunte der Jude dem Perser zu.

– Oder ein Spion! erwiderte dieser mit gedämpfter Stimme. Hüten wir uns und sprechen nicht mehr als nöthig. Die Polizei ist bei jetzigen Zeiten nicht sehr zart, und man weiß nie, mit wem man zusammen sitzt.«

In einer andern Ecke der Wagenabtheilung sprach man etwas weniger über Handelsgeschäfte, aber etwas mehr von dem Einfalle der Tartaren und dessen möglichen Folgen.

»Man wird in Sibirien die Pferde requiriren, äußerte sich ein Reisender, und die Communicationen zwischen den verschiedenen Provinzen Centralasiens werden sehr erschwert sein!

– Bestätigt es sich, fragte sein Nachbar, daß die Kirghisen der Mittleren Horde mit den Tartaren gemeinschaftliche Sache gemacht haben?

– Man sagt es, antwortete der Reisende halblaut, wer kann sich aber in diesem Lande rühmen, etwas Bestimmtes zu wissen!

– Ich hörte schon von Truppenzusammenziehungen an der Grenze sprechen. Die Donischen Kosaken sollen bereits längs der Wolga versammelt sein und man will sie den aufrührerischen Kirghisen entgegen werfen.

– Wenn die Kirghisen dem Ufer des Irtysch gefolgt sind, wird auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein, bemerkte der Nachbar. Uebrigens wollte ich gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk senden, das hat aber nicht bis dahin gelangen können. Es steht zu befürchten, daß die Tartarenhaufen binnen Kurzem das ganze östliche Sibirien isolirt haben werden!

– In Summa, Väterchen, sprach sich der erste Frager aus, diese Handelsleute da haben alle Ursache, wegen ihrer Geschäftsabwickelung besorgt zu sein. Nach Requisition der Pferde werden die Schiffe an die Reihe kommen, dann die Wagen und überhaupt alle Transportmittel, bis es endlich nicht mehr erlaubt sein wird, im ganzen Reiche einen Fuß zu bewegen.

– Ich fürchte sehr, in Nishny-Nowgorod werde die Messe nicht so brillant enden, wie sie begonnen hat, antwortete der Zweite kopfschüttelnd. Aber die Sicherheit und Integrität des russischen Gebietes geht über Alles! Geschäfte sind eben doch nur Geschäfte!«

Wenn in diesem Coupé der Gegenstand der Unterhaltung nicht sehr wechselte, so war das auch nicht mehr der Fall in den anderen Wagen des Zuges; ein strenger Beobachter würde aber in allen Reden der Reisenden unschwer eine ungemeine Zurückhaltung entdeckt haben. Wagten diese sich einmal auf das Gebiet der Thatsachen, so gingen sie niemals so weit, weder die Absichten der moskowitischen Regierung vorauszusehen, noch deren Maßnahmen zu kritisiren.

Dieselbe Beobachtung machte auch ein Reisender in einem der vorderen Wagen des Zuges. Dieser – offenbar ein Ausländer, – hatte seine Augen überall und warf zwanzigerlei Fragen auf, welche nur ausweichende Beantwortung fanden. Fortwährend betrachtete er dabei auch durch das Wagenfenster, dessen Scheibe er stets zum großen Unbehagen seiner Reisegefährten niedergelassen hielt, die Gegend bis zum fernen Horizont. Er erkundigte sich nach den Namen der unbedeutendsten Ortschaften, ihrer Lage, ihren Handelsbeziehungen und Gewerbsverhältnissen, nach den Einwohnerzahlen, der mittleren Sterblichkeit beider Geschlechter u. s. w., und Alles, was er erfahren konnte, schrieb er in ein mit Bemerkungen überladenes Notizbuch.

Unsere Leser erkannten in ihm wohl schon den Correspondenten Alcide Jolivet, der so viele Fragen in der Hoffnung stellte, unter den Antworten doch dann und wann etwas Interessantes »für seine Cousine« zu erhaschen. Natürlich sah man ihn deshalb für einen Spion an und sprach vor ihm keine Sylbe bezüglich der Tagesereignisse.

Als er sich überzeugt, daß er über den Tartareneinfall hier nichts zu erfahren vermöge, schrieb er in das Notizbuch: »Die Reisenden absolut discret. Schießen über Politik nur sehr schwer los.«

Während aber Alcide Jolivet seine Reiseeindrücke mit peinlicher Gewissenhaftigkeit schriftlich fixirte, lag sein College, der in demselben Zuge saß und in derselben Absicht reiste, in einem andern Coupé ganz der nämlichen Beschäftigung ob. Beide waren sich am Morgen im Bahnhofe zu Moskau nicht begegnet, und Keiner wußte von des Andern Aufbruche nach dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze, um den Ereignissen näher zu stehen.

Dabei hatte nur der allzeit schweigsame Harry Blount bei seinen Reisegefährten nicht denselben Verdacht erweckt, wie Alcide Jolivet. Ihn hatte man nicht für einen Spion gehalten, und seine Nachbarn plauderten vor ihm ohne jede Zurückhaltung, wobei sie sich sogar weiter gehen ließen, als man es von ihrer anerzogenen Zaghaftigkeit erwartet hätte. Der Correspondent des Daily-Telegraph konnte also beobachten, wie sehr die Ereignisse des Tages alle nach Nishny-Nowgorod ziehenden Kaufleute berührten und wie stark der Handel mit Central-Asien dadurch bedroht sei.

Er zögerte also nicht, seinem Notizbuch die ganz gerechtfertigte Bemerkung einzuverleiben:

»Die Reisenden sehr beunruhigt. Der Krieg steht in Aussicht und man behandelt dieses Thema mit einer Freimüthigkeit, welche zwischen Weichsel und Wolga erstaunlich zu nennen ist.«

Die Leser des Daily-Telegraph mußten demnach ebenso gut unterrichtet werden, wie »die Cousine« Alcide Jolivet’s.

Weiter, da Harry Blount an der linken Seite des Zuges saß, hatte er nur den einen Theil der hier ziemlich hügeligen Landschaft überblicken können, ohne daß er es der Mühe werth erachtete, sein Auge einmal nach der rechten Seite, welche vollkommen eben war, zu wenden, und somit fügte er seiner Notiz kurz und bündig hinzu:

»Zwischen Moskau und Wladimir Bergland.«

Inzwischen lag es auf der Hand, daß die russische Regierung angesichts der ernsten Verwickelungen selbst im Innern des Reiches einige strenge Maßregeln nehmen werde. Die Empörung griff zwar noch nicht über die Grenze Sibiriens hinüber, doch in den dem Lande der Kirghisen so nahe liegenden Wolgaprovinzen durfte man sich leicht eines übeln Einflusses jener Ereignisse versehen.

Noch hatte die Polizei Iwan Ogareff’s Spuren nicht wieder zu finden vermocht. Ob dieser Verräther, der die Fremden aufhetzte, um seine persönliche Rache zu befriedigen, sich wieder mit Feofar-Khan verbunden habe, oder im Gouvernement Nishny-Nowgorod heimlich die Empörung schüre, wo sich zu dieser Jahreszeit eine aus so bunten Elementen zusammen gewürfelte Bevölkerung tummelte, – kein Mensch wußte es.

Hatte er vielleicht unter diesen bei der Messe so zahlreich vertretenen Persern, Armeniern und Kalmücken Vertraute, welche die Bewegung im Innern des Reiches in Fluß bringen sollten? Alle diese Hypothesen waren, vorzüglich in einem Lande wie das Reich des Herrschers aller Reußen, nicht zurück zu weisen.

In der That kann dieses ungeheure Ländergebiet von zwölf Millionen Quadratkilometern die Homogenität der westlichen Staaten Europas überhaupt nicht besitzen. Zwischen den verschiedenen Völkerschaften desselben herrschen mehr tiefere Unterschiede, als oberflächliche Nuancen. In Europa, Asien und Amerika (unsere Erzählung spielt in der Zeit, da das russische Amerika noch nicht an die Vereinigten Staaten abgetreten war) erstreckt sich sein Gebiet vom 35. Grade östl. Länge (von Ferro) bis zum 110. Grade westlicher Länge und vom 38. bis zum 81. Grade nördl. Breite. Es zählt nicht weniger als siebenzig Millionen Einwohner, welche dreißig verschiedene Sprachen sprechen. Die herrschende Race ist zwar die der Slaven, aber außer den eigentlichen Russen zählen zu dieser auch die Polen, Litthauer und die Kurländer. Rechne man zu diesen noch die Finnen, Esthen, Lappen, die Tschermissen, Tschuwaken, Permiaken, die Deutschen, die Griechen, Tartaren, die kaukasischen Stämme, die Mongolenhorden, Kalmücken, Samojeden, Kamtschadalen und Alëuten, so sieht man leicht ein, wie schwierig es sein muß, die Einheit eines so ungeheuren Reiches aufrecht zu erhalten, und daß diese dereinst nur von der Zeit und der Weisheit der Regierung wirklich geschaffen werden kann.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Iwan Ogareff sich bisher allen Nachforschungen zu entziehen gewußt. Auf jeder Station aber, wo der Zug anhielt, erschienen Inspectoren, welche die Reisenden musterten und Alle scharf in’s Auge faßten, denn sie hatten auf Befehl des Großmeisters der Polizei nach Iwan Ogareff zu fahnden. Die Regierung glaubte zu wissen, daß dieser Verräther das europäische Rußland noch nicht habe verlassen können. Erschien ein Reisender verdächtig, so mußte er sich im Polizeibureau ausweisen, während der Zug weiter sauste, ohne sich um solche unfreiwillige Nachzügler zu bekümmern.

Es ist völlig nutzlos, mit der russischen Polizei bei ihrer bekannten Rücksichtslosigkeit verhandeln zu wollen. Ihre Beamten stehen in militärischem Range und handeln als Soldaten. Hierin liegt das Mittel, womit ein Souverän sich unbedingten Gehorsam erzwingt, der das Recht hat, an die Spitze seiner Ukase zu setzen: »Wir, von Gottes Gnaden Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen, von Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Czaar von Kasan, Astrachan, Polen, Sibirien und des Taurischen Chersones, Fürst von Skof, Großherzog von Smolensk, Litthauen, Wolhinien, Podolien und Finnland, Herzog von Esthland, Liefland, Kurland und Samland, von Bialystock, Karelien, Jugrien, Perm, Viatka, Bulgarien und von anderen Ländern, Herrscher und Großfürst der Territorien von Nishny-Nowgorod, Tschernikow, Riatsan, Polotzk, Restow, Jeroslaw, Bielozersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witepsk und Mtislaw, Machthaber über die hyperboräischen Lande, Herr der Lande von Iberien, der Kartalinie, Gruzinien, Kabardinien, Armenien, Erbherr und Souverän der Tscherkessenfürsten der Berge und der Ebenen, Erbe von Norwegen, Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Oldenburg.« In der That ein mächtiger Herrscher, dessen Wappen, ein zweiköpfiger Adler mit Scepter und Erdkugel in den Klauen, umgeben ist von den Wappenschildern von Nowgorod, Wladimir, Kiew, Kasan, Astrachan und Sibirien, und umrahmt von dem großen Bande des St. Andreasordens, über dem eine Kaiserkrone schwebt! –

Michael Strogoff entging auf Grund seiner Papiere allen polizeilichen Scheerereien.

Auf der Station Wladimir verweilte der Zug einige Minuten, die dem Reporter des Daily-Telegraph hinreichend erschienen, eine umfassende Skizze dieser alten Hauptstadt Rußlands zu entwerfen.

Im Bahnhofe zu Wladimir kamen neue Passagiere. Unter Anderen erschien auch ein junges Mädchen an der Thür von Michael Strogoff’s Coupé.

Vor dem Couriere des Czaaren war noch ein Platz leer. Das junge Mädchen nahm diesen ein, nachdem sie eine bescheidene, rothlederne Reisetasche, scheinbar ihr ganzes Gepäck, neben sich gestellt hatte. Dann setzte sie sich mit niedergeschlagenen Augen und ohne ihren zufälligen Reisegefährten auch nur einmal angesehen zu haben, für eine mehrstündige Fahrt zurecht.

Michael Strogoff konnte sich nicht enthalten, seine neue Nachbarin teilnehmend zu betrachten. Da sie einen Rücksitz einnahm, bot er ihr seinen Platz an, wenn sie diesen vorzöge, aber sie lehnte das mit einer leichten Verbeugung dankend ab.

Das junge Mädchen mochte sechzehn bis siebenzehn Jahre zählen. Ihr wirklich hübscher Kopf verrieth den rein slavischen Typus, – einen etwas strengen Typus, nach welchem sie einst mehr schön als hübsch werden mußte, wenn einige Jahre die Züge ihres Gesichtes weiter befestigt haben würden. Aus einer Art Fanchon quoll ihr eine Fülle goldblonden Haares. Ihre braunen Augen erstrahlten von einem ungemein sanften Blicke. Die gerade Nase verband mit beweglichen Flügeln ihre etwas schmalen und blassen Wangen. Ihr sehr fein geschnittener Mund schien seit längerer Zeit alles Lächeln verlernt zu haben.

Die junge Reisende war, so weit man das vor dem faltigen Pelze, den sie trug, erkennen konnte, groß und schlank. Obwohl sie noch im vollen Sinne des Wortes als »ein sehr junges, unschuldiges Kind« erschien, so war doch ihre Stirn gut entwickelt und die bestimmte Form der unteren Partien des Gesichtes ließ auf eine ungewöhnliche Energie schließen, – Einzelheiten, welche Michael Strogoff nicht entgingen. Offenbar hatte das junge Mädchen früher schon manches gelitten und auch die Zukunft schien ihr nicht in rosigem Lichte zu winken; aber ebenso sicher hatte sie gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens sowohl anzukämpfen gewußt, als sie die Entschlossenheit besaß, es auch in Zukunft zu thun. Ihre Willenskraft schien ebenso lebhaft als ausdauernd zu sein, ihre Ruhe unerschütterlich, vielleicht selbst unter Umständen, welche einen Mann in Verlegenheit gebracht hätten.

Diesen Eindruck erweckte das junge Mädchen auf den ersten Blick. Michael Strogoff, selbst ein energischer Charakter, mußte sich von einer solchen Erscheinung getroffen fühlen und beobachtete, bei aller Vorsicht, sie dadurch nicht zu belästigen, seine Nachbarin doch mit einer gewissen Aufmerksamkeit.

Die Kleidung der jungen Reisenden zeichnete sich durch die größte Einfachheit und Sauberkeit aus. Von reichem Herkommen konnte sie offenbar nicht sein; aber man hätte vergeblich nach einer Spur von Nachlässigkeit an ihr gesucht. Ihr ganzes Gepäck barg jene rothe Tasche, die sie aus Mangel an Platz auf den Knieen hielt.

Sie trug einen langen, ärmellosen Pelz von dunkelbrauner Farbe, der sich mit einem blauen Saume anmuthig um ihren Hals schloß. Unter demselben bedeckte eine ebenfalls dunkelfarbige Tunica das bis zum Fußgelenk reichende Kleid, dessen unterer Saum wiederum mit wenig auffälliger Stickerei geziert war. Lederne Halbstiefel mit starken Sohlen, so als wären sie für eine lange Reise bestimmt, schützten die kleinen Füßchen.

Michael Strogoff glaubte an manchen Details dieses Costüms die Tracht der Liefländerinnen zu erkennen und setzte also voraus, daß seine Nachbarin in den baltischen Provinzen zu Hause sei.

Doch wohin ging dieses Kind, allein, in diesem Alter ohne Unterstützung des Vaters oder der Mutter, ohne den Schutz eines Bruders? Kam sie wirklich schon nach Zurücklegung einer längeren Reise aus den westlichen Provinzen des Reiches? Begab sie sich nur nach Nishny-Nowgorod oder lag ihr Ziel noch über den östlichen Grenzen? Erwartete sie ein Anverwandter, ein Freund bei Ankunft des Zuges? War es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß sie sich nach Verlassen des Waggons in der Stadt ebenso vereinsamt befinden werde, wie in diesem Coupé, wo sich, ihrer Ansicht nach, keine Seele um sie kümmerte?

Das Auftreten, welches man sich in der Vereinsamung anzugewöhnen pflegt, zeigte sich zu deutlich in dem Wesen der jungen Reisenden. Die Art und Weise, wie sie in das Coupé einstieg und sich für die Fahrt einrichtete, das Vermeiden jeder Belästigung Anderer, welches an eine gewisse Schüchternheit grenzte, Alles zeigte ihre Gewohnheit, allein zu sein und nur auf sich selbst zu rechnen.

Michael Strogoff beobachtete sie mit zurückhaltendem Interesse und suchte nicht einmal ein Gespräch anzuknüpfen, wiewohl die Fahrt bis Nishny-Nowgorod noch mehrere Stunden dauerte.

Nur einmal, als der Nachbar des jungen Mädchens, – jener Kaufmann, welcher so unvorsichtig Oele und Shawls durch einander warf, – im Einschlafen seine Nachbarin mit dem großen, auf den Schultern hin und her taumelnden Kopfe zu belästigen drohte, weckte er diesen etwas barsch auf und gab ihm zu verstehen, daß er gerade sitzen und sich etwas rücksichtsvoller betragen solle.

Der Kaufmann, von etwas grobem Schrot und Korn, knurrte einige Worte »von Leuten, die sich in Sachen mischen, welche ihnen nichts angehen«; Michael Strogoff warf ihm aber einen so viel versprechenden Blick zu, daß der Schlaftrunkene sich nach der andern Seite neigte und die junge Reisende von seiner unliebsamen Nachbarschaft befreite.

Diese richtete das Auge einen Moment auf den jungen Mann mit einem Blicke, der ihm einen stummen, bescheidenen Dank ausdrückte.

Es sollte aber noch ein Umstand eintreten, der Michael Strogoff den Charakter des jungen Mädchens noch klarer erkennen ließ.

Etwa zwölf Werst vor Nishny-Nowgorod erhielt der Zug bei einer sehr kurzen Curve des Geleises einen sehr heftigen Stoß. Dann lief er noch eine Minute neben der Böschung eines Dammes hin.

Ein tüchtiges Schütteln der Passagiere, Geschrei, Verwirrung, allgemeine Unordnung in den Waggons bezeichneten die ersten Folgen des Unfalls. Man konnte wohl noch ein schweres Unglück befürchten. Noch bevor der Zug zum Stehen kam, sprangen schon die Waggonthüren auf, die entsetzten Reisenden suchten ihr Heil in der Flucht und stürzten aus den Coupés.

Michael Strogoff dachte zunächst an seine Nachbarin; doch während die übrigen Insassen sich schreiend und stoßend hinaus drängten, hielt das junge Mädchen, deren Gesicht kaum etwas blässer geworden war, ruhig auf ihrem Platze aus.

Sie wartete. Michael Strogoff ebenfalls.

Sie hatte gar keinen Versuch gemacht, den Waggon zu verlassen. Kein Laut kam über ihre Lippen.

Beide blieben ganz ruhig.

»Eine energische Natur!« dachte Michael Strogoff.

Inzwischen war jede Gefahr vorüber. Ein Radreifensprung am Gepäckwagen hatte erst den Stoß und dann das Anhalten des Zuges veranlaßt, doch hätte nicht viel gefehlt, daß er in Folge einer Entgleisung von dem hohen Damme in die Tiefe gestürzt wäre. Es entstand eine Stunde Aufenthalt. Endlich, nach Freilegung der Fahrbahn, setzte der Train seinen Weg fort und gelangte um halb neun Uhr Abends nach Nishny-Nowgorod.

Bevor Jemand die Waggons verlassen durfte, erschienen wieder die unvermeidlichen Polizisten und inquirirten die Reisenden.

Michael Strogoff wies seinen auf den Namen Nicolaus Korpanoff lautenden Podaroshna vor, der ihn genügend legitimirte.

Auch die andern Insassen des Coupés, welche alle nur nach Nishny-Nowgorod gingen, schienen zu ihrem Glücke unverdächtig.

Das junge Mädchen für ihre Person brachte keinen eigentlichen Reisepaß hervor, der ja im Innern Rußlands jetzt nicht mehr verlangt wird, sondern einen Schein mit besonderem Siegel, welcher ganz specieller Art zu sein schien.

Der Beamte las ihn aufmerksam durch. Dann sagte er nach sorgfältiger Musterung Derjenigen, deren Signalement der Schein enthielt:

»Du bist aus Riga?

– Ja, erwiderte das junge Mädchen.

– Und willst nach Irkutsk?

– Ja.

– Auf welchem Wege?

– Auf der Straße über Perm.

– Gut, antwortete der Inspector. Vergiß in Nishny-Nowgorod nicht, Deinen Schein durch das Polizei-Amt visiren zu lassen.«

Das junge Mädchen verneigte sich bejahend.

Als er diese Fragen und Antworten hörte, empfand Michael Strogoff gleichzeitig eine gewisse Bewunderung und ein ehrliches Mitleid. Wie! Dieses Kind war auf der Reise nach dem entlegenen Sibirien, und noch dazu jetzt, wo zu den gewöhnlichen Unzuträglichkeiten noch alle Gefahren eines von Feinden überschwemmten, aufrührerischen Landes hinzutraten! Wie würde sie ankommen? – was aus ihr werden? ….

Nach Schluß der Inspection wurden die Waggonthüren geöffnet, doch bevor Michael Strogoff auch nur eine Bewegung gegen sie machen konnte, war die junge Liefländerin bereits ausgestiegen und unter der Menge, welche die Perrons bedeckte, verschwunden.

Erstes Capitel

Erstes Capitel

Ein Fest im Neuen Palais

»Sire, eine neue Depesche.

– Von woher?

– Aus Tomsk.

– Ueber diese Stadt hinaus ist die Leitung unterbrochen?

– Sie ist seit gestern gestört.

– General, Sie werden von Stunde zu Stunde ein Telegramm von Tomsk einfordern und mich auf dem Laufenden erhalten.

– Zu Ew. Majestät Befehl«, antwortete der General Kissoff.

Diese Worte wurden gegen zwei Uhr Morgens gewechselt, als ein im Neuen Palais abgehaltenes Fest eben in höchstem Glanze strahlte.

Die Capellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky spielten zu dieser Soirée die gewähltesten Nummern ihres Repertoires, Polkas, Mazurkas, Schottische und Walzer, ununterbrochen auf. Immer neue Paare von Tänzern und Tänzerinnen rauschten durch die prächtigen Salons dieses Palastes, der sich nur wenige Schritte entfernt von dem »alten Hause aus Stein« erhebt, in welch‘ letzterem sich so viele furchtbare Dramen abgespielt haben und das jetzt nur die flüchtigen Melodien der Quadrillen wiederhallte.

Der Oberhofmarschall fand bei Erfüllung seiner delicaten Pflichten sehr beachtenswerthe Unterstützung. Die Großfürsten selbst, deren Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst und die Hausofficiere des Palastes unterzogen sich des Arrangements der Tänze. Die von Diamanten strahlenden Großfürstinnen und die Hofdamen in gewähltester Galatoilette gingen den Frauen und Töchtern der höchsten Militär- und Civilbeamten mit aufmunterndem Beispiele voran. Als das Signal zur Polonaise ertönte, als die Eingeladenen jedes Ranges herbeieilten zu dieser rhythmischen Promenade, welche bei derartigen Festlichkeiten die volle Bedeutung eines Nationaltanzes erlangt, da bot das Gemisch der langen, spitzenüberwebten Roben und der an Ordensschmuck so reichen Uniformen bei dem Glanze der hundert Kronleuchter, deren Lichtmeer die ungeheuren Spiegel noch zu verdoppeln schienen, dem Auge ein entzückendes, kaum zu beschreibendes Bild.

Dazu lieferte der große Salon, das schönste der Gemächer im Neuen Palais, für diese Versammlung hoher und höchster Personen und verschwenderisch geschmückter Frauen einen entsprechend prachtvollen Rahmen. Die reiche Decke mit ihren von der Zeit schon etwas gemilderten Vergoldungen erschien wie besäet mit blitzenden Sternen. Der Brokat der Gardinen und der in schweren Falten herabfallenden Portièren färbte sich mit warmen Tönen, welche sich nur an den schärferen Kanten des kostbaren Stoffs lebhafter heraushoben.

Durch die Scheiben der großen Rundbogenfenster drang das Licht des Innern nur wenig geschwächt, ähnlich dem Wiederschein einer Feuersbrunst, nach außen, und stach grell ab von dem nächtlichen Dunkel, das seit wenig Stunden diesen glitzernden Palast umhüllte. Dieser Contrast mochte auch die Aufmerksamkeit zweier Ballgäste erregen, welche am Tanze keinen Antheil nahmen. In einer der Fensteröffnungen stehend, konnten sie mehrere jetzt nur undeutlich sichtbare Glockenthürme wahrnehmen, deren riesige Silhouetten sich am Himmel abzeichneten. Unten bewegten sich schweigend, das Gewehr wagrecht über die Schulter gelegt, zahlreiche Wachtposten auf und ab, und auf den Spitzen ihrer Pickelhauben blitzte es dann und wann von dem darauf fallenden Lichte aus dem Palaste. Jene vernahmen wohl auch den Schritt der Patrouillen auf den Steinplatten des Vorplatzes, der gewiß taktgerechter war, als manchmal die Bewegungen der Tanzenden auf dem Parket des Festsaales. Dann und wann hörte man den Zuruf der Schildwachen von Posten zu Posten und manchmal mischte sich ein hellschmetterndes Trompetensignal harmonisch mit den Accorden des Orchesters.

Noch weiter unten erschienen dunkle Massen in den ungeheuren von den Fenstern des Neuen Palais ausgeströmten Lichtkegeln. Das waren Schiffe, die auf dem Strome herabglitten, dessen Wellen, überstrahlt von den grellen Lichtbündeln mehrerer kleiner Leuchtfeuer, den Fuß der Terrassen des Palastes bespülten.

Die Hauptperson des Balles, der Festgeber des heutigen Abends, dem gegenüber General Kissoff jene nur den Souveränen zukommende Anrede benutzte, erschien einfach in der Uniform eines Officiers der Gardejäger. Seinerseits lag hierin keine Affectation, sondern die Gewohnheit eines Mannes, der für äußeren Pomp wenig empfindlich ist. Seine Erscheinung contrastirte demnach mit den prachtvollen Costümen, die sich um ihn drängten, und ebenso zeigte er sich auch gewöhnlich inmitten seiner Escorte von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, jener prächtigen Reiterleibwache in den brillanten Uniformen des Kaukasus.

Jener hochgewachsene Mann mit freundlichem Gesicht, ruhiger Physiognomie, aber bisweilen sorgenvoller Stirn, ging leutselig von einer Gruppe zur andern, sprach aber wenig und schien selbst weder den heitern Gesprächen der jüngern Welt eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, noch den ernsteren Worten seiner höchsten Staatsbeamten oder der Mitglieder des diplomatischen Corps, welche die Hauptstaaten Europas an seinem Hofe vertraten. Zwei oder drei dieser scharfsichtigen Politiker – geborene Physiognomiker, – glaubten auf dem Antlitz ihres hohen Wirths einige Zeichen von Unruhe bemerkt zu haben, deren Ursache ihnen zwar unerklärlich blieb, aber ohne daß Einer derselben sich erlaubt hätte, eingehender danach zu forschen. Auf jeden Fall lag es, daran war gar nicht zu zweifeln, in der Absicht des Officiers der Gardejäger, durch seine Geheimnisse die Festesfreude in keiner Weise zu beeinträchtigen, und da er einer der seltenen Fürsten war, dem fast eine ganze Welt, sogar im Gedanken, zu gehorchen sich gewöhnt hatte, so wurden auch die Vergnügungen des Balles nicht einen Augenblick unterbrochen.

Indessen wartete General Kissoff von dem Officier, dem er das Telegramm ans Tomsk überreicht hatte, auf die Erlaubniß sich zurückziehen zu dürfen; aber jener verharrte in Schweigen. Er hatte das Blatt angenommen, durchlesen und mehr und mehr Wolken lagerten sich auf seine Stirn. Unwillkürlich faßte seine Hand nach dem Degengriff und erhob er diese wieder bis an die Augen, welche er einen Augenblick bedeckte. Es schien, als blende ihn der Schein der tausend Flammen und als suche er etwas Schatten, um besser in sein Inneres blicken zu können.

»Wir sind also, begann er wieder, nachdem er den General Kissoff in eine Fensternische geführt, seit gestern ohne alle Verbindung mit dem Großfürsten?

– Ohne Verbindung, Sire, und es steht zu befürchten, daß die Depeschen bald nicht einmal die Grenze Sibiriens mehr überschreiten können.

– Aber die Truppen des Amurgebietes, sowie die von Transbaikalien haben die Ordre empfangen, sofort nach Irkutsk aufzubrechen?

– Diesen Befehl enthielt das letzte Telegramm, welches über den Baikalsee hinaus zu senden möglich war.

– Doch mit den Gouvernements Jeniseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir seit Beginn des Einfalls stets in directer Communication?

– Gewiß, Sire, dahin gelangen unsere Depeschen und wir sind sicher, daß die Tartaren zur Stunde den Irtysch und Obi noch nicht überschritten haben.

– Und von dem Verräther Iwan Ogareff hat man noch keine weitere Kunde?

– Nein, antwortete General Kissoff; der Polizeichef vermag nicht zu sagen, ob jener die Grenze überschritten hat oder nicht.

– Sein Signalement werde sofort nach Nishny-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Keliwan, Tomsk und überhaupt nach allen Stationen gesandt, mit denen wir noch in telegraphischem Verkehr stehen.

– Ew. Majestät Befehle werden unverzüglich ausgeführt werden, erwiderte der General.

– Kein Wort über alles Dieses!«

Nach einem stummen Zeichen ehrfurchtsvoller Ergebenheit verneigte sich der General, mischte sich erst unbefangen unter die Gäste, verließ aber bald die Salons, ohne daß sein Verschwinden irgend welches Aufsehen erregte.

Der Officier blieb träumerisch noch kurze Zeit stehen, und als er sich den verschiedenen Gruppen von Diplomaten und Militärs wieder näherte, hatte sein Gesicht die einen Augenblick verlorene Ruhe vollständig wiedergefunden.

Die sehr ernste Ursache jener schnell gewechselten Worte war aber keineswegs so unbekannt, als der Gardejägerofficier und der General Kissoff glauben mochten. Man sprach zwar nicht officiell davon, ja nicht einmal officiös, da die Zungen jetzt noch nicht gelöst waren, aber verschiedene hochgestellte Personen hatten doch mehr oder weniger genaue Berichte erhalten über die Vorgänge jenseit der Grenze.

Was man nur so vom Hörensagen wußte, davon unterhielt man sich nicht, nicht einmal die Mitglieder der Diplomatie unter einander; zwei Eingeladene aber, welche weder eine Uniform, noch sonst welche Auszeichnung als berechtigt zu dieser Festlichkeit kennzeichnete, sprachen mit gedämpfter Stimme über diese Angelegenheit und schienen sehr genaue Informationen zu besitzen.

Auf welchem Wege, durch welches Zwischenmittel wußten aber diese beiden einfachen Sterblichen das, was andere und selbst sehr einflußreiche Personen kaum muthmaßten? – Niemand hätte das sagen können. Waren sie mit einem Vorgefühl oder mit einer Voraussicht begabt? Besaßen sie noch einen sechsten Sinn, der es ihnen ermöglichte, über den begrenzten Horizont hinaus zu blicken, der sonst die Tragweite des Menschenauges abschließt? Hatten sie eine besonders scharfe Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten auszuspüren? Sollte sich ihre Natur bei der tief eingewurzelten Gewohnheit, von und durch die Information zu leben, gänzlich verändert haben? Man wurde versucht, das zu glauben.

Diese beiden Männer, der eine Engländer, der andere Franzose, waren lange, hagere Gestalten, – dieser gebräunt wie die Südländer der heißen Provence, – jener roth, wie ein Gentleman ans Lancashire. Der abgemessene, kalte, phlegmatische, mit Bewegungen und Worten haushälterische Anglo-Normanne schien nur bei der Auslösung einer Feder zu reden und zu gesticuliren, die von Zeit zu Zeit in ihm wirkte. Der lebhafte, fast ungestüme Gallo-Romane dagegen sprach gleichzeitig mit Lippen, Augen und Händen, und schien seine Gedanken auf zwanzigerlei Art mitzutheilen, während seinem Partner nur eine zu Gebote stand, welche stereotypisch in seinem Hirn fest saß.

Diese physischen Unterschiede hätten des oberflächlichen Beobachters Urtheil gewiß leicht irre führen können; der Physiognomiker aber, der diese beiden Persönlichkeiten aus der Nähe beobachtete, hätte den physiologischen Contrast, der sie charakterisirte, gewiß in die Worte zusammen gefaßt, daß der Franzose »ganz Auge« und der Engländer »ganz Ohr« sei.

In der That hatte sich der Gesichtssinn des Einen durch den Gebrauch ganz außerordentlich geschärft. Seine Netzhaut besaß dieselbe Augenblicksempfindlichkeit, wie die der geübten Taschenspieler, welche eine Karte schon beim schnellen Mischen oder an einem so unscheinbaren Zeichen erkennen, daß es jedem Anderen zweifellos entgeht. Dieser Franzose besaß also in höchstem Grade das, was man so bezeichnend »das Gedächtniß des Auges« nennt.

Der Engländer im Gegentheil schien ganz speciell organisirt, nur zu hören und in sich aufzunehmen. Traf seinen Gehörapparat der Ton einer Stimme nur ein einzig Mal, so vergaß er diesen niemals mehr und hätte diese Stimme nach zehn, nach zwanzig Jahren unter tausend anderen wieder herausgehört. Seine Ohren besaßen zwar sicherlich nicht das Vermögen, sich so zu bewegen, wie die der Thiere, welche mit sehr entwickelten Ohrmuskeln versehen sind; da die Gelehrten aber außer Zweifel gesetzt haben, daß die äußeren Ohren des Menschen nur »nahezu« unbeweglich sind, so wäre man anzunehmen berechtigt gewesen, daß die des genannten Engländers sich mußten strecken, verschieben und winden können, um die Schallwellen unter den günstigsten Verhältnissen aufzunehmen, so daß einem Sachverständigen ihre Bewegungen wohl nicht entgangen wären.

Es sei gleich hierbei bemerkt, daß diese Vervollkommnung des Gesichts und Gehörs den beiden Männern bei ihrer Beschäftigung sehr zu Statten kam, denn der Engländer war ein Correspondent des Daily-Telegraph, der Franzose Correspondent des … ja, welches oder welcher Journale, das sagte er nicht, und wenn man ihn darum fragte, so antwortete er scherzend, er correspondire mit »seiner Cousine Madelaine«. Im Grunde war dieser Franzose trotz seines legèren Auftretens ein sehr scharfer Beobachter, und wenn er so in den Tag hinein plauderte, vielleicht um seine eigentliche Absicht desto mehr zu verdecken, so gab er sich doch niemals eine Blöße. Gerade seine Redseligkeit diente ihm dazu, zu schweigen, und wahrscheinlich war er eigentlich verschlossener und discreter, als sein College vom Daily-Telegraph.

Wenn Beide diesem in der Nacht vom 15. zum 16. Juli im Neuen Palais gegebenen Feste beiwohnten, so geschah das in ihrer Eigenschaft als Journalisten und zwar zur größten Erbauung ihrer Leserkreise.

Es versteht sich ganz von selbst, daß diese beiden Männer für ihre Mission in der Welt wirklich begeistert waren; daß sie es liebten, sich wie Spürhunde auf die Fährte der unerwartetsten Neuigkeiten zu stürzen, daß Nichts sie zurückschreckte oder abhielt, zu ihrem Ziele zu gelangen, und daß sie das absolut unerregbare, kalte Blut und den wirklichen Muth dieser Helden von der Feder besaßen. Wahrhafte Jockeys dieser Steeple-chase, dieser Jagd nach Neuigkeiten, sprangen sie über die Hecken, flogen über die Flüsse, setzten über die Hürden mit dem unvergleichlichen Feuereifer jener Vollblutrenner, die entweder die Ersten am Ziele sein oder sterben wollen.

Uebrigens geizten ihre Journale nicht mit dem Gelde, jenem bis jetzt sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, sich zu informiren. Zu ihrer Ehre sei aber hier eingeflochten, daß weder der Eine noch der Andere je über die Mauer des Privatlebens sah oder horchte, und daß sie nur dann in Thätigkeit traten, wenn politische oder sociale Interessen in’s Spiel kamen. Mit einem Worte, sie waren, wie man seit den letzten Jahren zu sagen pflegt, »die großen politischen und militärischen Berichterstatter«.

Indeß wird man bei näherer Betrachtung sehen, daß sie die Thatsachen und ihre Consequenzen meist auf besondere Art und Weise ansahen, da sie eben jeder seine besondere Manier hatten, zu sehen und zu urtheilen. Da sie jedoch stets mit Freimuth handelten und bei jeder Gelegenheit ihr Möglichstes thaten, so würde man Unrecht thun, sie deshalb zu tadeln.

Der französische Korrespondent hieß Alcide Jolivet. Harry Blount war der Name des englischen Reporters. Sie begegneten sich eben zum ersten Male bei dem Feste im Neuen Palais, über welches sie ihren Journalen Bericht erstatten wollten. Die Verschiedenheit ihres Charakters in Verbindung mit einer gewissen Geschäftsvorsicht, konnte ihnen nur wenig gegenseitige Sympathie einflößen. Jedoch, sie vermieden sich deshalb nicht, ja, sie suchten sich sogar, um Einer dem Anderen die Neuigkeiten des Tages abzulocken. Sie waren Alles in Allem zwei Nimrods, die auf dem nämlichen Gebiete jagten. Was der Eine fehlte, konnte ja dem Anderen zum Schusse gelegen kommen und ihr Interesse verlangte es, daß sie immer so weit Fühlung behielten, um einander zu sehen und zu hören.

An diesem Abend befanden sich Beide auf dem Anstande. Offenbar lag etwas in der Luft.

»Und wenn’s nur ein Volk Enten wäre, sagte sich Alcide Jolivet, einen Flintenschuß wird’s doch werth sein!«

Die beiden Correspondenten kamen also in ein Gespräch während des Balles, kurze Zeit, nachdem General Kissoff die Salons verlassen hatte, und Beide klopften erst gegenseitig auf den Busch.

»Wahrlich, mein Herr, dieses kleine Fest ist reizend! begann Alcide Jolivet, mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt die Unterhaltung mit dieser ausgesprochen französischen Phrase einleitend.

– Ich habe schon telegraphirt: splendid! antwortete frostig Harry Blount mit besonderer Betonung dieses Wortes, welches jeder Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck seiner Bewunderung zu gebrauchen pflegt.

– Ich jedoch, fügte Alcide Jolivet hinzu, glaubte meiner Cousine …

– Ihrer Cousine? … wiederholte Harry Blount erstaunt, indem er seinen Collegen unterbrach.

– Ja wohl, fuhr Alcide Jolivet fort, ich stehe mit meiner Cousine Madelaine in Briefwechsel, sie hat es gern, schnell Alles zu erfahren, meine Cousine! … Ich glaubte ihr also mittheilen zu müssen, daß die Stirn des Souveräns bei diesem Feste doch von einigen Wölkchen beschattet gewesen sei.

– Mir dagegen schien sie strahlend frei, antwortete Harry Blount, der wahrscheinlich seine Ansicht über diesen Gegenstand zu verbergen suchte.

– Und in Folge dessen haben Sie sie auch in den Spalten des-Daily-Telegraph ›strahlen‹ lassen?

– Gewiß.

– Erinnern Sie sich, Herr Blount, sprach Alcide Jolivet weiter, was im Jahre 1812 in Zakret vorgekommen ist?

– So genau, als ob ich dabei gewesen wäre, erwiderte der englische Reporter.

– Nun, sagte Alcide Jolivet, so ist Ihnen bekannt, daß man bei einem dem Kaiser Alexander zu Ehren gegebenen Feste diesem die Nachricht brachte, daß Napoleon mit der französischen Vorhut soeben den Niemen überschritten habe. Der Kaiser verließ jedoch das Fest nicht, trotz der Wichtigkeit dieser Nachricht, die ihm seine Herrschaft kosten konnte, und bekämpfte äußerlich jede Unruhe …

– So wenig wie unser Wirth eine solche zeigte, als ihm General Kissoff die Meldung machte, daß die telegraphischen Verbindungen zwischen der Grenze und dem Gouvernement von Irkutsk unterbrochen seien.

– Ah, Sie kennen diese Einzelheiten?

– Ich kenne sie.

– Ich muß wohl davon unterrichtet sein, da mein letztes Telegramm bis Udinsk gelangt ist, bemerkte Alcide Jolivet mit einer gewissen Genugthuung.

– Und die meinigen nur bis Krasnojask, erwiderte Harry Blount etwas unwirsch.

– So wissen Sie auch, daß schon Befehle an die Truppen von Nicolajewsk abgegangen sind?

– Ja wohl, mein Herr, gleichzeitig als man den Kosaken des Gouvernements Tobolsk telegraphisch die Ordre zugehen ließ, sich zu sammeln.

– Sehr richtig, Herr Blount, auch diese Maßnahmen sind mir vollkommen bekannt, und glauben Sie, meine liebenswürdige Cousine wird schon morgen Einiges davon zu erzählen wissen.

– Ganz so wie die Leser des Daily-Telegraph davon unterrichtet sein werden, Herr Jolivet.

– Das kommt davon, wenn man Alles sieht, was ringsum vorgeht …

– Und wenn man Alles hört, was gesprochen wird!

– Da wird’s einen interessanten Feldzug zu verfolgen geben.

– Dem ich mich anschließe, Herr Jolivet.

– O, dann kann sich’s treffen, daß wir uns auf einem minder sicheren Terrain, als das Parket dieses Saales, wieder begegnen.

– Wohl einem minder sicheren, aber auch …

– Einem weniger glatten!« antwortete Alcide Jolivet, der seinen Collegen in den Armen auffing, als dieser eben beim Rückwärtsgehen fast umgefallen wäre.

Später trennten sich die beiden Collegen, ganz zufrieden zu wissen, daß Keiner dem Andern um eine Nasenlänge voraus war.

Jetzt sprangen die Thüren der anstoßenden Säle auf. Dort zeigten sich verschiedene große und prächtig servirte Tafeln, schwer beladen mit kostbarem Porzellan und goldenen Gefäßen. Auf der mittelsten, für die Prinzen, Prinzessinnen und die Mitglieder des diplomatischen Corps reservirten Tafel glänzte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Werthe aus Londoner Werkstätten und rund um dieses Meisterwerk der Juwelierarbeit spiegelten sich unter dem Glanze der Lustres die unzähligen Stücken des herrlichsten Geschirrs, das jemals die Manufacturen von Sèvres verlassen hatte.

Die Gäste des Neuen Palais begaben sich nach den Speisesälen.

In diesem Augenblicke näherte sich der General Kissoff, der inzwischen zurückgekehrt war, rasch dem Officier der Gardejäger.

»Nun, wie steht’s? fragte dieser lebhaft.

– Die Telegramme gehen nicht über Tomsk hinaus, Sire.

– Sofort einen Courier!«

Der Officier verließ den großen Saal und zog sich in ein daneben liegendes großes Gemach zurück. Es war das ein mit Eichenmöbeln sehr einfach ausgestattete Arbeitscabinet an einer Ecke des Neuen Palais. Einige Bilder, darunter einzelne Oelgemälde von Horace Vernet, hingen an den Wänden.

Der Officier riß schnell ein Fenster auf, als habe es seinen Lungen an Sauerstoff gemangelt, und sog auf einem mächtigen Balcon die laue Luft der schönen Julinacht ein.

Vor seinen Augen breitete sich, in sanftes Mondlicht gebadet, eine Art Festungswerk aus, in welchem sich zwischen zwei Kathedralen drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Rings um dasselbe die bestimmt unterschiedenen Städte: Kitaï-Gorod, Boloï-Gorod und Zemlianoï-Gorod, das ungeheure europäische, tartarische und chinesische Quartier, überragt von Thürmen und Minarets, von den Kuppeln der dreihundert Kirchen mit ihren grünen Dächern und dem silbernen Kreuz darauf. Ein kleiner Fluß mit vielgewundenem Laufe glänzte manchmal in den Strahlen des Mondes. Das Ensemble bildete eine wunderbare, verschieden gefärbte Mosaik, welche ein zehn Stunden langer Rahmen umschloß.

Dieser Fluß war die Moskowa; diese Stadt war Moskau, jenes Festungswerk war der Kreml und jener Officier der Gardejäger, der mit gekreuzten Armen und träumerischer Stirn nur halb den Lärmen des Festes hörte, der sich aus dem Neuen Palais über die alte Stadt der Moskowiter verbreitete – das war der Czaar.

Zweites Capitel

Zweites Capitel

Russen und Tartaren

Wenn der Czaar so unerwartet und gerade in dem Augenblicke, als das Fest, welches er den Spitzen der Civil- und Militärbehörden gab, in schönstem Glanze strahlte, die Salons des Neuen Palais verließ, so kam das daher, daß sich jenseit des Ural sehr wichtige Ereignisse vorbereiteten. Es war gar nicht zu bezweifeln: eine furchtbare Invasion drohte die sibirischen Provinzen der russischen Autonomie zu entziehen.

Das asiatische Rußland oder Sibirien bedeckt eine Oberfläche von 560 000 Quadratmeilen (französische Lieues) und zählt etwa zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich von dem Gebirgszuge des Ural, der es von dem europäischen Rußland trennt, bis nach dem Gestade des Pacifischen Oceans. Nach Süden zu schließt es Turkestan und das Chinesische Reich mit einer, häufig unbestimmten Grenze ab, im Norden der arktische Ocean von dem Karameere bis zur Behringsstraße. Es wird in Gouvernements oder Provinzen getheilt, nämlich die von Tobolsk, Jeniseisk, Irkutsk, Omsk und Jakutsk; ferner umfaßt es zwei Districte, die von Okfotsk und von Kamschatka, und besitzt endlich zwei Länder, welche jetzt dem moskowitischen Scepter unterthan sind, das Land der Kirghisen und das Land der Tschuktschen.

Diese ungeheure Strecke von Steppen, in der Längenausdehnung über 110 Graden von Westen nach Osten umfassend, bildet den Deportationsort für Verbrecher, das Exil für diejenigen, welche ein Ukas mit Verbannung belegte.

Zwei Generalgouverneure vertreten die Oberherrschaft des Czaaren in diesem weiten Reiche. Der Eine residirt in Irkutsk, der Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Der Tchuma, ein Nebenfluß des Jenisei, trennt die beiden Hälften des Territoriums.

Noch furcht keine Eisenbahn diese unendlichen Ebenen, unter denen einige ausnehmend fruchtbar sind; kein Schienenweg entlastet die reichen Mienen, welche bei ihrer Ausdehnung über große Strecken den Boden Sibiriens unter der Erde kostbarer erscheinen lassen, als auf der Oberfläche. Im Sommer reist man daselbst im Tarantaß; im Winter im Schlitten.

Eine einzige Verbindung, aber eine elektrische, verknüpft die beiden Grenzen im Westen und im Osten Sibiriens durch einen Draht, der nicht weniger als 8000 Werst (gleich 8536 Kilom.) lang ist. Nach Ueberschreitung des Ural passirt er Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamks, Kolyvan, Tomsk, Krasnojarsk, Nishny, Udinsk, Irkutsk, Verkne-Nertschinsk, Strelink, Albazine, Blagowestenks, Radde, Orloneskaga, Alexandrowskoë, Nicolajewsk, und kostet jedes bis an das äußerste Ende zu befördernde Wort 6 Rubel 19 Kopeken (= fast genau 20 Mark oder 10 Gulden östr.). Von Irkutsk aus verläuft eine Zweigleitung nach Kjachta an der mongolischen Grenze, von wo aus die Depeschen, das Wort für 30 Kopeken (= 96,7 Pf. oder 48,3 Kreuzer), in weiteren vierzehn Tagen bis Peking befördert werden.

Jene Drahtleitung war zuerst zwischen Jekaterinburg und Nicolajewsk, nachher vor Tomsk und einige Stunden später zwischen Tomsk und Kolyvan durchschnitten worden.

Eben deshalb hatte der Czaar, nach der zweiten Mittheilung, welche General Kissoff ihm machte, nur geantwortet: »Sofort einen Courier!«

Seit kurzer Zeit nun stand der Czaar bewegungslos am Fenster seines Cabinets, als die Huissiers wiederum dessen Thüren öffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle.

»Tritt ein, sagte der Czaar kurz, und theile mir Alles mit, was Du über Iwan Ogareff weißt.

– Es ist das ein sehr gefährlicher Mann, Sire, erwiderte der hohe Polizeibeamte.

– Er hatte den Rang eines Obersten?

– Ja, Sire.

– Und war ein intelligenter Officier?

– Gewiß, sehr intelligent, aber unmöglich zu zügeln und von sinnlosem Ehrgeiz, der vor nichts zurückschreckte. Er verwickelte sich sehr bald in verschiedene Intriguen und wurde damals von Sr. kaiserlichen Hoheit dem Großfürsten erst degradirt und später nach Sibirien verwiesen.

– Wann ungefähr?

– Vor etwa zwei Jahren. Nach sechsmonatlicher Verbannung durch Ew. Majestät Gnade erlöst, kehrte er nach Rußland zurück.

– Und seit dieser Zeit wandte er sich nicht wieder nach Sibirien?

– Doch, Sire, aber diesmal kehrte er freiwillig dahin zurück«, antwortete der Chef der Polizei.

Dann fügte er mit etwas zurückgehaltener Stimme hinzu:

»Es gab eine Zeit, Sire, da man nicht zurückkehrte, wenn man nach Sibirien ging!

– Mag sein, so lange ich lebe, soll aber Sibirien ein Land sein, aus dem man auch wiederkehrt!«

Der Czaar hatte wohl ein Recht, auf diese Worte einen besonderen Ausdruck zu legen, denn wiederholt hatte er durch seine Milde bewiesen, daß die russische Justiz auch zu verzeihen vermöge.

Der Polizeichef erwiderte nichts, aber offenbar war er kein Freund von halben Maßregeln. Seiner Ansicht nach durfte Keiner, der den Ural unter Bedeckung von Gensdarmen überschritten hatte, jemals daran denken, es noch einmal zu thun. Anders war es aber jetzt unter der neuen Regierung, und der Chef der Polizei bedauerte das aufrichtig. Wie! Es sollte keine andere Verbannung auf Lebenszeit mehr geben, als für Verbrechen gegen das gemeine Recht? Politische Sträflinge kehrten von Tobolsk, von Jakutsk, von Irkutsk in das Vaterland zurück? Wahrlich, der Polizeichef, gewöhnt an die autokratischen Ukase, welche jede Amnestie ausschlossen, konnte sich mit dieser Art und Weise zu regieren niemals aussöhnen. Doch er schwieg und wartete es ab, daß der Czaar ihn weiter fragen werde.

Das ließ nicht lange auf sich warten.

»Ist Iwan Ogareff, begann der Czaar, nach dieser Reise nach den sibirischen Provinzen, einer Reise übrigens, deren eigentlicher Zweck wohl unerkannt blieb, nicht auch ein zweites Mal nach Rußland gekommen?

– Gewiß, Sire.

– Und seit dieser Rückkehr hat die Polizei seine Spur verloren?

– O nein, denn ein Verbannter wird von dem Tage seiner Begnadigung an erst gefährlich!«

Ueber die Stirn des Czaaren flog eine leichte Wolke. Vielleicht fürchtete der Polizeichef etwas zu weit gegangen zu sein, obwohl das Festhalten seiner Ideen gewiß nicht größer und stärker war, als seine unbegrenzte Ergebenheit gegen seinen Herrn. Der Czaar aber, der solche indirecte Vorwürfe bezüglich seiner innern Politik unbeachtet ließ, fuhr einfach in seiner Fragestellung fort:

»Und wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt?

– Im Gouvernement von Perm.

– In welcher Stadt?

– In Perm selbst.

– Was that er daselbst?

– Er schien unbeschäftigt und erregte durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht.

– Er stand nicht unter polizeilicher Aufsicht?

– Nein, Sire.

– Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen?

– Etwa im März.

– Und wandte sich wohin?

– Das ist mir unbekannt.

– Seit dieser Zeit weiß man auch nicht, was aus ihm geworden ist?

– Niemand weiß es.

– Recht schön, aber ich, ich weiß es! antwortete der Czaar. Geheime Nachrichten, welche die Bureaux der Polizei nicht passirten, sind an mich gelangt und in Berücksichtigung der Thatsachen, welche sich jetzt jenseit der Grenze vollziehen, habe ich allen Grund, an die Richtigkeit derselben zu glauben!

– Wollen Sie damit sagen, Sire, rief der Polizeichef, daß Iwan Ogareff bei der Tartaren-Invasion die Hand im Spiele habe?

– Ja, General, und ich will Dir auch sagen, was Du noch nicht weißt. Iwan Ogareff überschritt, nachdem er das Gouvernement Perm verlassen, den Ural. Er begab sich nach Sibirien, in die Steppen der Kirghisen, und hat dort nicht ohne Erfolg die Nomadenvölker aufzuwiegeln gesucht. Darauf hat er sich weiter nach Süden, bis nach dem unabhängigen Turkestan begeben. Dort fand er in den Khanaten von Bukhara, Khokhand und Kunduz Häuptlinge, welche bereit waren, ihre Tartarenhorden in die sibirischen Provinzen zu werfen und einen allgemeinen Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien hervorzurufen. Die ganze Bewegung ist sehr geheim geschürt worden, sie bricht aber jetzt wie ein Donnerschlag aus und schon sind alle Wege und Communicationsmittel zwischen dem östlichen und dem westlichen Sibirien abgeschnitten! Dazu trachtet Iwan Ogareff, von Rache getrieben, meinem Bruder nach dem Leben!«

Als er so sprach, war der Czaar erregter geworden und ging mit raschen Schritten auf und nieder. Der erste Chef der Polizei erwiderte kein Wort, aber er sagte sich, daß Iwan Ogareff’s Pläne zur Zeit, als die Selbstherrscher aller Reußen niemals einen Exilirten begnadigten, nicht hätten zur Reife gedeihen können.

Still vergingen einige Augenblicke, dann näherte er sich dem Czaaren, der sich in einen Fauteuil geworfen hatte.

»Ew. Majestät, sagte er, haben unzweifelhaft Befehl gegeben, daß dieser Einfall so schnell als möglich zurückgewiesen wird?

– Ja, antwortete der Czaar. Das letzte Telegramm, das Nishny-Udinsk hat erreichen können, hat auch die Truppen der Gouvernements Jeniseisk, Irkutsk und Jakutsk, sowie diejenigen der Amurprovinzen und des Baikalsees in Bewegung setzen müssen. Gleichzeitig ziehen die Regimenter von Perm und Nishny-Nowgorod in Eilmärschen nach der Grenze am Ural; leider brauchen sie aber mehrere Wochen, bevor ein Zusammentreffen mit den Tartarenhorden möglich ist!

– Und Ew. Majestät Bruder, Se. kaiserl. Hoheit der Großfürst, der in diesem Augenblicke allein im Gouvernement Irkutsk weilt, steht mit Moskau in keiner directen Verbindung mehr?

– Nein.

– Er muß aus den letzten Depeschen aber die Maßregeln Ew. Majestät erfahren haben und auch wissen, welche Hilfe er aus den Irkutsk zunächst gelegenen Gouvernements zu erwarten hat?

– Das ist ihm bekannt, erwiderte der Czaar, er weiß aber nicht, daß Iwan Ogareff sich unter falschem Namen bei ihm zu dienen anbieten wird. Gelang es ihm dann, sein Vertrauen zu gewinnen, so wird er, wenn die Tartaren Irkutsk angreifen, die Stadt ausliefern, nebst meinem Bruder, dessen Leben unmittelbar bedroht ist. Das sind die Nachrichten, welche ich erhielt, die aber der Großfürst nicht kennt und folglich sofort erfahren muß!

– Nun wohl, Sire, ein tüchtiger, muthiger Courier …

– Den erwarte ich.

– Und beeilen muß er sich, fügte der Chef der Polizei hinzu, denn Sie gestatten mir auszusprechen, Sire, daß dieses ganze Sibirien zur Rebellion sehr geneigt ist!

– Glaubst Du, General, daß die Sträflinge mit den Feinden gemeinschaftliche Sache machen könnten? rief der Czaar, der bei dieser Andeutung des Polizeichefs ganz außer sich gerieth.

– Verzeihung, Majestät! … entgegnete stammelnd der Chef des Polizeiwesens, denn wirklich war das der Gedanke gewesen, der in seinem unruhigen und mißtrauischen Kopfe aufgestiegen war.

– Ich traue den Verbannten mehr Vaterlandsliebe zu! erwiderte der Czaar.

– In Sibirien befinden sich auch andere Sträflinge, als die politischen Verbannten, antwortete der Polizeichef.

– Die Verbrecher! O, General, die überlasse ich Dir! Das ist der Auswurf des menschlichen Geschlechts; diese haben überhaupt kein Vaterland. Die Erhebung, oder vielmehr der Einfall, ist aber nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Rußland, gegen die Heimat, welche die Verbannten doch noch einmal wieder zu sehen hoffen, und die sie wieder sehen werden! … Nein, nein, nie wird ein Russe sich auch nur eine Stunde lang mit einem Tartaren verbinden, um die moskowitische Macht zu untergraben und zu schwächen!«

Der Czaar war berechtigt, an den Patriotismus Derjenigen zu glauben, die seine Politik zeitweilig verbannt hatte. Jene Milde, der Grundzug seiner Justiz, wenn er dieselbe selbst handhabte, die weitgehenden Erleichterungen bei Ausführung der früher so schrecklichen Ukase garantirten ihm, daß er sich hierin nicht täusche. Aber auch ohne diese mächtige Beihilfe zu einem Erfolge der Tartaren-Invasion gestaltete sich die Sachlage überaus ernst, denn es stand mindestens zu befürchten, daß sich ein großer Theil der Kirghisenbevölkerung den Angreifern anschließen werde.

Die Kirghisen zerfallen in drei Horden, die Große, die Kleine und die Mittlere, und zählen etwa 40 000 »Zelte«, d. h. gegen 2 000 000 Seelen. Von diesen verschiedenen Tribus sind die Einen ganz unabhängig, Andere erkennen entweder die russische Oberhoheit an, oder die der Khanate von Khiwa, Khokhand oder Bukhara, d. h. der mächtigsten Häuptlinge von Turkestan. Die Mittlere Horde, die rechte, ist übrigens auch die bedeutendste und ihre Lager bedecken den ganzen Raum zwischen den Wasserläufen des Sara-Su, des Irtysch, des obern Thim und dem Hadisang- und Aksakalsee. Die Große Horde, welche die östlich von der Mittleren gelegenen Gegenden bewohnt, dehnt sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk aus. Empörten sich diese Kirghisenvölker, so überschwemmten sie das asiatische Rußland und rissen Sibirien östlich vom Jenisei los.

Zwar sind diese Kirghisen nur Neulinge in der Kriegskunst und weit mehr nächtliche Räuber oder gewohnt, die Karawanen zu überfallen, als reguläre Soldaten. Levchine sagte von ihnen: »Eine geschlossene Front oder ein Quarré tüchtiger Infanterie widersteht einer zehnfach größeren Anzahl Kirghisen und eine einzige Kanone richtet sie in Massen zu Grunde.«

Das mag wohl wahr sein, aber erst ist es doch nöthig, daß ein Quarré Infanterie in dem empörten Lande bei der Hand sei und daß die Feuerschlünde die Artillerieparks der russischen Provinzen verlassen, welche immerhin zwei- bis dreitausend Werst entfernt sind. Außer auf der directen Straße von Jekaterinburg nach Irkutsk sind aber die häufig sumpfigen Steppen nur schwierig passirbar und mehrere Wochen mußten unzweifelhaft vergehen, bevor die russischen Truppen in die Lage kamen, die Tartarenhorden zu Paaren zu treiben.

Omsk, das Centrum der Militärorganisation von Westsibirien, ist dazu bestimmt, die Kirghisenbevölkerung in Respect zu erhalten. Dort verlaufen die Grenzen, welche die halbunterjochten Nomaden wiederholt verletzt haben, und im Kriegsministerium nahm man nicht ohne Ursache an, daß Omsk schon sehr bedroht sei. Die Linie der Militärcolonien, d. h. der Kosakenposten, welche von Omsk bis Semipalatinsk vertheilt sind, war gewiß an verschiedenen Punkten durchbrochen, und es stand zu befürchten, daß die »Großsultane«, welche die Kirghisendistricte regieren, entweder freiwillig oder gezwungen die Herrschaft der Tartaren, Muselmänner so wie sie selbst, anerkannten und dabei der durch ihre Botmäßigkeit schon genährte Haß sich durch den Antagonismus der muselmännischen und griechischen Religion verstärkte.

Schon seit langer Zeit suchten tatsächlich die Tartaren von Turkestan, und vor Allen die aus den Khanaten von Buchara, Khiwa und Khokhand, durch Gewalt ebenso, wie durch Ueberredung, die Kirghisenhorden dem moskowitischen Scepter zu entreißen.

Ueber diese Tartaren nur einige Worte.

Speciell gehören die Tartaren zu zwei verschiedenen Racen, der kaukasischen und der mongolischen Menschenrace.

Die kaukasische Race, diejenige, von der A. von Rémusat sagt, »daß sie in Europa als der Typus der Schönheit unserer Menschenklassen angesehen wird, weil alle Völker dieses Erdtheiles von ihr abstammen«, umfaßt unter demselben Namen die Türken und die Eingeborenen persischer Abkunft.

Die rein mongolische Race finden wir bei den Mongolen, den Mandschus und den Thibetanern.

Die Tartaren, welche damals das russische Reich bedrohten, gehörten zur kaukasischen Race und waren vorzüglich in Turkestan zu Hause. Dieses weite Gebiet wird in verschiedene Staaten getheilt, welche von Khans, daher auch der Name Khanat, regiert werden. Die wichtigsten Khanate sind die von Bukhara, Khokhand, Kunduz u. s. w.

Das Khanat von Bukhara war jener Zeit das einflußreichste und mächtigste. Schon mehrmals hatte Rußland Krieg geführt mit seinen Häuptlingen, welche aus persönlichem Interesse und um sie unter ihr Joch zu beugen, die Unabhängigkeit der Kirghisen gegen die moskowitische Herrschaft vertheidigten. Der dermalige Häuptling, Feofar-Khan, folgte ganz den Fußstapfen seiner Vorgänger.

Dieses Khanat von Bukhara erstreckt sich von Süden nach Norden vom 37. bis zum 41. Breitengrade, von Osten nach Westen vom 61. bis 66. Längengrade, d. h. über eine Fläche von gegen 10 000 Quadratmeilen.

Die Bevölkerung des Staates schätzt man auf 2 500 000 Einwohner mit einer Armee von 60 000 Mann Fußvolk, welches in Kriegszeiten auf das Dreifache verstärkt wird, und etwa 30 000 Reitern. Es ist ein reiches Land mit großen Schätzen aus dem Thier-, Pflanzen- und Mineralreiche, und noch durch den Hinzutritt der Territorien von Balkh, Aukoï und Meïmaneh nicht unwesentlich vergrößert. Es besitzt neunzehn bemerkenswerthe Städte. Bukhara, umschlossen von einer acht englischen Meilen langen und von Thürmen flankirten Mauer, eine berühmte Stadt, deren schon die Ovirenna’s und andere Gelehrte des 10. Jahrhunderts erwähnen, wird als Mittelpunkt muselmännischer Wissenschaft betrachtet und zu den Hauptplätzen Centralasiens gerechnet; Samarkand, mit dem Grabe Tamerlan’s und jenem berühmten Palaste mit dem blauen Stein darin, auf welchen sich jeder Khan bei Antritt seiner Regierung setzen muß, wird von einer ungemein starken Citadelle vertheidigt; Karschi mit seiner dreifachen Mauer und gelegen in einer Oase mit sumpfiger, von Schildkröten und Eidechsen wimmelnden Umgebung, erscheint fast uneinnehmbar; Tscharoschui wird von einer Volksmenge von fast 20 000 Seelen vertheidigt; endlich Katta-Kurgan, Nurata, Djizah, Païkande, Karakul, Khuzar und andere, – sie alle bilden einen Kranz von schwer zu bändigenden Städten. Dieses durch seine Berge geschützte und durch seine Steppen isolirte Khanat von Bukhara ist demnach ein in Wahrheit zu fürchtender Staat, und Rußland muß ihm stets nicht unbeträchtliche Streitkräfte entgegenwerfen. Damals beherrschte nun der ehrgeizige und wilde Feofar diesen Winkel der Tartarei. Gestützt auf die andern Khans, – vorzüglich die von Khokhand und von Kunduz, zwei grausame und beutegierige Kriegsmänner, welche stets bereit waren, sich zu betheiligen, wo es ihr Interesse galt, – und unter Mitwirkung der Häuptlinge, welche alle die Horden in Centralasien befehligten, stellte er sich an die Spitze dieser Invasion, deren eigentliche Seele Iwan Ogareff war. Dieser Verräther hatte, getrieben durch einen sinnlosen Ehrgeiz und gestachelt von wildem Hasse, die Bewegung so geleitet, daß man zuerst die große sibirische Straße in seine Gewalt bekam. In Wahrheit ein Tollhäusler, glaubte er die russische Macht brechen zu können, und auf seine Anordnung überschritt der Emir, es ist das der Titel, den sich die Khans von Bukhara ausnehmend beilegen, die russische Grenze. Er fiel in das Gouvernement Semipalatinsk ein, woselbst die zu schwachen Kosakenposten sich vor seiner Uebermacht hatten zurückziehen müssen. Sogar über den Balkhachsee drang er vor und riß die Kirghisenbevölkerung mit sich fort. Raubend, sengend und brennend wälzte sich der Schwarm von Stadt zu Stadt. Wer sich unterwarf, ward eingereiht in’s Heer, wer Widerstand leistete, umgebracht. So drang er vor, gefolgt von den unausbleiblichen Anhängseln eines orientalischen Souveräns, seiner aus den Frauen und Sklaven bestehenden Hausdienerschaft, – immer mit der gedankenlosen Tollkühnheit eines modernen Gengis-Khan.

Wo stand er in diesem Augenblicke? Bis wohin waren seine Schaaren zu der Stunde vorgedrungen, als die Nachricht von dem Einfall nach Moskau gelangte?

Bis zu welchem Punkte in Sibirien hatten die russischen Truppen zurückweichen müssen? – Niemand vermochte das zu sagen. Die Verbindungen waren gestört. Hatten den Draht zwischen Kolyvan und Tomsk aber nur einige Reiter aus der Vorhut der Tartarenarmee zerschnitten oder überzog schon der Emir selbst die Provinzen von Jeniseisk? Stand das ganze südliche Westsibirien in Flammen? Reichte die Empörung schon bis nach den Gebieten im Osten? – Keiner wußte es. Der einzige Kundschafter, der weder die Kälte noch die Hitze fürchtet, weder die Rauhigkeit des Winters, noch die verdorrende Gluth des Sommers, und der dahin fliegt mit der rasenden Schnelligkeit des Blitzes, der elektrische Funke, konnte nicht mehr durch die Steppen laufen, war außer Stande, den Großfürsten zu benachrichtigen von der Gefahr, die ihm in Irkutsk durch den Verrath Iwan Ogareff’s bedrohte.

Nur ein Courier konnte den unterbrochenen Strom einigermaßen ersetzen. Dieser Mann bedurfte einer gewissen Zeit, um die 5200 Werst (= 5523 Kilom.) von Moskau bis Irkutsk zurückzulegen. Er mußte, um die Haufen der Rebellen und der Feinde zu durchbrechen, einen so zu sagen übermenschlichen Muth und eben solche Klugheit entwickeln. Doch, mit Kopf und Herz kommt man ja weit!

»Werde ich diesen Kopf und dieses Herz finden?« fragte sich der Czaar.

Drittes Capitel

Drittes Capitel

Michael Strogoff

Bald öffnete sich die Thür des kaiserlichen Cabinets und der Huissier meldete den General Kissoff.

»Nun, der verlangte Courier? fragte rasch der Czaar.

– Ist schon da, Sire, antwortete der General.

– Du hast einen geeigneten Mann gefunden?

– Ich wage, mich Ew. Majestät dafür zu verbürgen.

– Stand er in Palastdiensten?

– Ja, Sire.

– Du kennst ihn?

– Persönlich; und mehrmals hat er schon schwierige Missionen zur Zufriedenheit ausgeführt.

– Im Auslande?

– Gerade in Sibirien.

– Woher ist er?

– Aus Omsk, also selbst ein Sibirier.

– Er besitzt kaltes Blut, Intelligenz und Muth?

– Gewiß, Sire, er besitzt alle Eigenschaften, auch da zu reussiren, wo Andere vielleicht scheitern könnten.

– Wie alt?

– Dreißig Jahre.

– Es ist ein gesunder, kräftiger Mann?

– Sire, er vermag Frost, Hunger, Durst und Anstrengung bis zum Aeußersten zu ertragen.

– Er hat einen Körper von Stahl?

– Ohne Zweifel, Sire.

– Und ein Herz? …

– Ein Herz von Gold.

– Sein Name?

– Michael Strogoff.

– Er ist bereit abzureisen?

– Im Saale der Garden erwartet er Ew. Majestät Befehle.

– Er soll hierher kommen«, sagte der Czaar.

Einige Augenblicke später trat Michael Strogoff in das Cabinet des Kaisers ein.

Michael Strogoff war hochgewachsen, kräftig, hatte breite Schultern und eine volle Brust. Sein mächtiger Kopf zeigte die besten Merkmale kaukasischer Race. Seine wohlgebildeten Gliedmaßen erschienen wie eben so viel mechanische Hebel zur sicheren Ausführung kräftiger Bewegungen. Der äußerlich ansprechende Mann mit gewinnendem Auftreten schien nicht leicht wider Willen aus seiner Stellung gebracht werden zu können, denn wenn er seine Füße auf den Boden gesetzt hatte, schienen sie schon mehr darin zu wurzeln. Auf seinem nicht eben kleinen Kopf mit breiter Stirn kräuselte sich üppiges Haar, das in Locken herabfiel, wenn er es mit der moskowitischen Mütze bedeckte. Veränderte sich sein gewöhnlich etwas blasses Gesicht, so geschah das nur, wenn ihm das Herz schneller schlug, unter dem Einflüsse einer beschleunigten Blutcirculation, welche jenes lebhafter färbte. Seine tiefblauen Augen mit geradem, offenem und sicherem Blicke glänzten unter dem vollen Bogen der durch ihre Muskeln etwas zusammengezogenen Augenbrauen und verriethen seinen Muth, »jenen Muth ohne Zorn, den die Helden besitzen«, wie die Physiologen sagen. Seine nicht zu kleine Nase beherrschte einen symmetrischen Mund mit ein wenig hervorspringenden Lippen, jenem Zeichen eines edelmüthigen und guten Charakters.

Michael Strogoff besaß das Temperament des entschiedenen Mannes, der seinen Entschluß schnell zu fassen gewöhnt ist, der nicht in der Ungewißheit die Nägel zernagt, sich nicht im Zweifel hinter den Ohren kraut und nicht unentschlossen mit den Füßen stampft. Karg in Bewegungen und Worten, stand er vor seinem Vorgesetzten still wie ein Soldat; wenn er jedoch ging, so zeigte seine Haltung eine große Leichtigkeit, eine auffallende Sicherheit der Bewegungen – ein Zeichen des Selbstvertrauens und der Lebhaftigkeit seines Geistes. Er gehörte zu den Leuten, die immer etwas vorzuhaben scheinen und die Ausführung nicht zu verzögern pflegen.

Michael Strogoff trug eine elegante Uniform, ähnlich jener des Officiercorps der berittenen Feldjäger, Stiefeln, Sporen, anliegende Beinkleider und einen pelzverbrämten Dolman mit gelben Schnüren auf braunem Grunde. Auf seiner breiten Brust glänzten ein Kreuz und verschiedene Medaillen.

Michael Strogoff gehörte zu der Specialabtheilung der Couriere des Czaaren und stand bei dieser Elitetruppe in Officiersrang. Ganz zweifellos erkannte man an seinem Gange, seiner Physiognomie, seiner ganzen Person, und leicht genug erkannte es auch der Czaar, daß dieser Mann gewöhnt war, einem erhaltenen Befehl unbedingt nachzukommen. Er besaß also eine der in Rußland schätzenswerthesten Eigenschaften, eine Eigenschaft, welche, nach Aussage des berühmten Schriftstellers Turgénjew, im Moskowitenreiche die Staffel nach den höchsten Ehrenstellen bildet.

Gewiß, wenn Einer diese Reise von Moskau nach Irkutsk glücklich vollenden, in jenem empörten Gebiete alle Hindernisse besiegen, alle Gefahren überwinden konnte, so war es Michael Strogoff.

Ein für das Gelingen jenes Vorhabens sehr günstiger Umstand war es, daß Michael Strogoff das zu durchziehende Land vollkommen kannte und die verschiedenen Sprachen desselben verstand; nicht weil er jenes schon bereist hatte, sondern weil er, wie erwähnt, von Geburt selbst Sibirier war.

Sein Vater, der vor zehn Jahren verstorbene Peter Strogoff, bewohnte die in dem gleichnamigen Gouvernement gelegene Stadt Omsk, woselbst seine Mutter, Marfa Strogoff, noch jetzt lebte. Dort, in jenen wilden Steppen der Provinzen Omsk und Tobolsk, war es, wo der furchtbare sibirische Jäger seinen Sohn Michael »verstählt« hatte, wie der landläufige Ausdruck hieß. Sommer und Winter, im glühenden Sonnenbrande, wie in der grimmigsten Kälte, streifte er über die endlosen Ebenen, durch die Lärchen- und Weidengebüsche, durch die düstern Kiefernwälder, legte seine Fallen aus, verfolgte das kleinere Wild mit dem Gewehre, das große mit dem Spieße und dem Waidmesser. Unter großem Wilde verstand man hierbei aber den sibirischen Bären, eine furchtbare und sehr wilde Art, welche an Größe ihren Verwandten in den Polargegenden vollständig gleichkommt. Peter Strogoff hatte mehr als neununddreißig Bären erlegt, das will sagen, daß auch schon der vierzigste unter seiner Hand gefallen war, – und man weiß ja, wenn den Jagdgeschichten aus Rußland einigermaßen zu trauen ist, wie viele Jäger bis zum neununddreißigsten Bären glücklich davon kamen und beim vierzigsten unterliegen mußten!

Peter Strogoff hatte diese Unglückszahl also überschritten, ohne auch nur eine Schramme davon zu tragen. Von da ab unterließ es der damals elfjährige Michael Strogoff niemals, seinen Vater bei den Jagdausflügen zu begleiten, wobei er die »Ragatina« trug, d. h. eine Art Gabelspieß, um seinem Vater, der meist nichts als ein Messer bei sich führte, im Nothfall zu Hilfe zu kommen. Mit dem vierzehnten Jahre hatte Michael Strogoff seinen ersten Bären erlegt, und zwar ganz allein, was nicht so gar viel heißen will; nachdem er diesen aber abgezogen, hatte er auch das Fell des riesigen Thieres bis nach dem mehrere Werst entfernten väterlichen Hause geschleppt, – was bei dem Kinde eine ungewöhnliche Kraft voraussetzen ließ.

Diese Lebensweise bekam ihm gut, und als er das Mannesalter erreichte, vermochte er Alles zu ertragen, Frost und Hitze, Hunger und Durst, Mühsal und Plage.

Er war mit einem Wort, so wie die Jakuten des unwirthbaren Nordens, ein ganzer Mann von Eisen. Er hielt leicht vierundzwanzig Stunden aus, ohne etwas zu essen, zehn Nächte, ohne zu schlafen, und begnügte sich mit einem Lager in der freien Steppe, wo tausend Andere sich zum Tode erkältet hätten. Begabt mit unendlich feinen Sinnen, durch die weiße Ebene geführt von einem reinen Delawareninstinct, wenn auch der Nebel den ganzen Horizont verhüllte, und das selbst in höhern Breiten, wo die Polarnacht schon mehrere Tage anhält, fand er doch immer seinen richtigen Weg, wo Andere nicht mehr gewußt hätten, wohin sie den Fuß setzen sollten. Alle Geheimnisse seines Vaters waren auch ihm bekannt. Er wußte sich nach kaum bemerkenswerthen Anzeichen zu richten, nach der Lage der Eisnadeln, der Stellung der dünnsten Baumzweige, nach schwachen Gerüchen, welche von außerhalb der Grenze des Horizontes herkamen, nach der Spur der Blätter im Walde, nach den schwächsten Geräuschen in der Luft oder nach entfernten Detonationen, wie nach dem Zuge der Vögel in der dunstigen Atmosphäre, – nach tausend Einzelheiten, welche für den Kenner eben so viel Wahrzeichen sind. Dabei hatte er, der von dem Schneetreiben abgehärtet war, wie der Stahl in den Wassern von Damascus, wirklich eine Gesundheit von Eisen, und doch, wie der General Kissoff ganz richtig gesagt hatte, dabei ein Herz von Gold.

Eine einzige Leidenschaft besaß Michael Strogoff, die Liebe zu seiner alten Mutter Marfa, welche nicht zu bewegen gewesen war, das alte Haus der Strogoff’s in Omsk, an der Grenze von Irtysch, zu verlassen, in dem sie so lange Zeit mit dem alten Jäger vereint gelebt hatte. Als der Sohn sie verließ, geschah es, um seinem Triebe nach einem größeren Wirkungskreise zu genügen; aber er versprach ihr dabei, stets zeitweilig zu ihr zurückzukehren, sobald die Umstände es erlaubten – ein Versprechen, das mit religiöser Strenge eingehalten wurde.

Es war beschlossen worden, daß Michael Strogoff mit seinem zwanzigsten Jahre in den persönlichen Dienst des Kaisers von Rußland eintreten sollte, und zwar in das Corps der Couriere des Czaaren. Der kühne, intelligente, eifrige und sich wacker aufführende junge Sibirier fand die erste Gelegenheit, sich auszuzeichnen, bei einer Sendung nach dem Kaukasus, mitten durch das von einigen unruhigen Nachfolgern Schamyl’s aufgewühlte Land; später bei einer wichtigen Mission, welche ihn bis Petropolawsk in Kamtschatka, nach den äußersten Grenzen des asiatischen Rußland, führte. Während dieser so weiten Reisen legte er wiederholte Proben seiner ausgezeichneten Eigenschaften, seiner Kaltblütigkeit, Klugheit und seines Muthes ab, welche ihm die Anerkennung und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten erwarben und seine Carrière beschleunigten. Den ihm nach so mühseligen Expeditionen mit Recht zukommenden Urlaub versäumte er nie seiner alten Mutter zu widmen – und wenn er auch Tausende von Wersten entfernt war von ihr, und der Winter alle Wege fast ungangbar machte. Jetzt hatte Michael Strogoff, der im Süden des Reichs vielfach beschäftigt wurde, die alte Marfa zum ersten Male seit drei Jahren, für ihn drei Jahrhunderte – nicht gesehen! In wenig Tagen sollte er seinen reglementsmäßigen Urlaub antreten und hatte auch schon alle Vorbereitungen zur Reise nach Omsk getroffen, als die uns schon bekannten Ereignisse eintraten.

Michael Strogoff wurde vor den Czaaren geführt, in vollständiger Unkenntniß dessen, was derselbe von ihm verlangen würde.

Einige Augenblicke betrachtete ihn der Czaar, ohne ein Wort zu reden, mit durchdringendem Blicke, während Michael Strogoff unbeweglich stehen blieb.

Dann wendete sich der Czaar, offenbar befriedigt von dieser Vorprüfung, nach seinem Schreibtische, machte dem Chef der Polizei ein Zeichen, sich dahin zu setzen, und dictirte ihm mit leiser Stimme einen Brief von wenig Zeilen.

Nach Vollendung des Schreibens durchlas es der Kaiser noch einmal mit größter Aufmerksamkeit und unterzeichnete es, nachdem er seinem Namen noch die Worte: »Byt po semu«, welche »So geschehe es« bedeuten und eine gewöhnliche Bestätigungsformel der russischen Kaiser ausmachen, vorgesetzt hatte.

Der Brief ward dann in ein Couvert gesteckt und mit einem Siegel mit dem kaiserlichen Wappen verschlossen.

Der Czaar erhob das Schriftstück und winkte Michael Strogoff, sich zu nähern.

Dieser that dann einige Schritte vorwärts und blieb wieder unbeweglich vor seinem Kaiser stehen.

Noch einmal sah der Czaar ihn durchdringend, Auge in Auge, in’s Gesicht. Dann begann er:

»Dein Name?

– Michael Strogoff, Sire.

– Deine Stellung?

– Kapitän bei den Courieren des Czaaren.

– Du kennst Sibirien?

– Ich stamme daher.

– Du bist geboren?

– In Omsk.

– Hast Du Verwandte in Omsk?

– Meine alte Mutter.«

Der Czaar unterbrach einen Augenblick die Reihe seiner Anfragen. Dann fuhr er fort, indem er dem Courier den Brief zeigte, den er in der Hand hielt:

»Hier ist ein Brief, den ich Dich, Michael Strogoff, beauftrage, dem Großfürsten eigenhändig, keinem, keinem Anderen! – zu überliefern.

– Ich werde ihn besorgen, Sire.

– Der Großfürst befindet sich in Irkutsk.

– Ich werde nach Irkutsk gehen.

– Es handelt sich hier aber darum, ein von Rebellen unsicher gemachtes, von den Tartaren überfallenes Land zu durchreisen, in welchem jene Meuterer ein Interesse haben könnten, diesen Brief aufzufangen.

– Ich werde hindurch kommen.

– Und wirst Dich vor Allem vor einem Verräther, Iwan Ogareff, zu hüten haben, dem Du auf dem Wege vielleicht begegnen könntest.

– Ich werde ihm auszuweichen wissen.

– Kommst Du über Omsk?

– Mein Weg führt mich dahin.

– Wenn Du Deine Mutter sehen wolltest, würdest Du Gefahr laufen, erkannt zu werden. Du darfst Deine Mutter nicht besuchen!«

Michael Strogoff zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort.

»Ich werde sie nicht sehen, sagte er.

– Schwöre mir, daß nichts Dich vermögen wird, Dir zu entlocken, wer Du bist und wohin Du gehst.

– Ich schwöre es.

– Michael Strogoff, fuhr der Czaar fort, indem er dem jungen Courier das Schreiben einhändigte, so nimm diesen Brief, von dem das Heil Sibiriens und vielleicht das Leben meines Bruders, des Großfürsten, abhängt.

– Dieser Brief wird in die Hand Sr. Hoheit des Großfürsten gelangen.

– Du wirst also auf jeden Fall durchzudringen suchen?

– Ich dringe hindurch überall, bis man mich tödtet.

– Ich bedarf aber Deines Lebens.

– Ich werde auch lebend durch Sibirien kommen«, antwortete Michael Strogoff.

Der Czaar schien mit der einfachen und ruhigen Sicherheit der Antworten Michael Strogoff’s wohl zufrieden.

»So geh‘ also, Michael Strogoff, sagte er, geh‘ mit Gott für Rußland, für meinen Bruder und für mich!«

Michael Strogoff grüßte militärisch, verließ sofort das Cabinet des Kaisers und wenige Minuten später das Neue Palais.

»Ich glaube, Du hast eine glückliche Hand gehabt, General, sagte der Czaar.

– Ich glaube es, Sire, antwortete General Kissoff, und Ew. Majestät können versichert sein, daß Michael Strogoff alles thun wird, was ein Mann zu leisten vermag.

– In der That, das schien ein ganzer Mann zu sein!« bemerkte der Czaar.