Vierzehntes Capitel

Vierzehntes Capitel

Mutter und Sohn

Omsk ist die officielle Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Es ist zwar nicht die bedeutendste Stadt des gleichnamigen Gouvernements, da Tomsk mehr Einwohner zählt und einen beträchtlicheren Umfang hat, in Omsk residirt jedoch der Generalgouverneur dieser ersten Hälfte des asiatischen Rußlands.

Omsk besteht genau genommen aus zwei verschiedenen Städten, von denen die eine ausschließlich von den Behörden eingenommen und von den zugehörigen Beamten bewohnt ist, während die andere vorzüglich die sibirischen Kaufleute, deren Handelsbeziehungen freilich von keiner besonderen Bedeutung sind, beherbergt.

Die Einwohnerzahl dieser Stadt mag sich auf 12–13 000 Seelen belaufen. Sie wird durch eine von Bastionen verstärkte Umwallung vertheidigt; freilich bestehen diese Befestigungen nur aus Erdwerken und bieten nur einen sehr unzulänglichen Schutz. Die Tartaren gingen, wohl bekannt mit obiger Sachlage, eben jetzt daran, die Stadt durch einen Sturmangriff in ihre Gewalt zu bringen, was ihnen auch nach einer Einschließung von nur wenigen Tagen gelingen sollte.

Die kaum 2000 Mann zählende Besatzung von Omsk hatte mannhaften Widerstand geleistet. Das obere Quartier von Omsk war hierbei in eine Art Citadelle umgewandelt, die Häuser und Kirchen mit Schießscharten versehen worden, und in diesem improvisirten Kreml hielten sich die Truppen zur Zeit noch, trotz der mangelnden Aussicht auf eine baldige Entsetzung. Die tartarischen Truppen dagegen erhielten unter Benutzung des Wasserweges auf dem Irtysch tagtäglich neuen Zuzug und wurden, – hier ein besonders wichtiger Umstand, – von einem Officier angeführt, der zwar ein Verräther an seinem Vaterlande, aber doch ein Mann von hohem Verdienste und beispielloser Kühnheit war.

Iwan Ogareff befehligte die feindlichen Schaaren.

Iwan Ogareff, ebenso furchtbar, wie der Tartarenchef, den er vorwärts drängte, zeichnete sich durch tiefe militärische Kenntnisse aus. In seinen Adern rollte, ein Erbtheil von seiner Mutter, welche von asiatischer Herkunft war, auch etwas mongolisches Blut; er liebte jede List, legte gern Hinterhalte und schreckte vor keinem Mittel zurück, wenn es ihm darauf ankam, dem Gegner eine Falle zu stellen. Arglistig von Natur, bediente er sich bald der gemeinsten Verkleidungen und trat gelegentlich selbst als Bettler auf, wobei ihn seine außerordentliche Geschicklichkeit der Verstellung des äußern Ansehens und des ganzen Benehmens wesentlich unterstützte. Dabei befähigte ihn seine Grausamkeit, im Nothfall den Henker selbst zu spielen. Feofar-Khan besaß in ihm einen Stellvertreter, der es vollkommen verdiente, ihm bei jenem wilden Kriegszuge beizustehen.

Als Michael Strogoff an den Ufern des Irtysch anlangte, war Iwan Ogareff schon Herr in Omsk und beeilte die Belagerung des höher gelegenen Stadtviertels um so mehr, als er Eile hatte, sich nach Tomsk zu begeben, wo sich die Hauptmacht der Tartarenhorden concentrirte.

Tomsk war nämlich vor einigen Tagen in Feofar-Khan’s Hände gefallen und von hier aus wollten die Eindringlinge, nach der Besitznahme der centralsibirischen Gebiete, nach Irkutsk aufbrechen.

Irkutsk bildete das eigentliche Ziel Iwan Ogareff’s.

Der Plan des erbärmlichen Verräthers ging dahin, sich dem Großfürsten daselbst unter falschem Namen anzuschließen, sein Vertrauen zu erschleichen und ihn zur gegebenen Stunde sammt der Stadt den Tartaren in die Hände zu liefern.

Mit dieser Stadt und einer solchen Geißel im Besitz mußte das ganze asiatische Sibirien in die Gewalt der Eindringlinge kommen.

Wir wissen ja von früher, daß dieser Anschlag zur Kenntniß des Czaaren gelangt war, und um ihn zu vereiteln, hatte man Michael Strogoff mit der hochwichtigen Mission betraut. Deshalb erhielt der junge Mann seiner Zeit auch die gemessensten Befehle, das von den Feinden überschwemmte Land unter falschem Namen zu durchreisen.

Bis hierher hatte er seine Mission getreulich erfüllt – würde er sie aber auch jetzt noch ebenso zu Ende führen können?

Der Lanzenstoß, den Michael Strogoff empfing, war nicht tödtlich gewesen. Unter dem Wasser schwimmend erreichte er ungesehen das rechte Flußufer und brach in dem Gebüsch daselbst kraftlos zusammen.

Als er wieder zum Bewußtsein kam, sah er sich zu seiner Verwunderung in der Hütte eines Mujik, der ihn aufgehoben und verpflegt hatte, und dem er zunächst die Rettung seines Lebens dankte. Seit wie lange mochte er der Gast des braven Sibiriers sein? – er vermochte sich darüber keine Rechenschaft zu geben. Als er die Augen öffnete, bemerkte er über sich ein bärtiges, aber freundliches Gesicht, auf dem ein teilnehmendes Lächeln spielte. Schon wollte er fragen, wo er sich befinde, als der besorgte Mujik ihm zuvorkam:

»Sprich nicht, Väterchen, sprich nicht! Du bist noch zu schwach. Ich werde Dir sagen, wo Du bist, und erzählen, was sich zugetragen hat, seitdem ich Dich in mein Häuschen schaffte.«

Der redliche Landmann erzählte hierauf den Verlauf des kurzen Kampfes, dessen Augenzeuge er zufällig geworden, den Angriff der Tartarenboote, die Plünderung des Tarantaß, die Ermordung der Fährleute ….

Doch darauf hörte Michael Strogoff kaum, er fuhr mit der Hand unter seine Kleidung und fühlte den kaiserlichen Brief noch immer unversehrt auf seiner Brust.

Er athmete auf, noch war er indeß nicht jeder Sorge ledig.

»Mich begleitete ein junges Mädchen, sagte er.

– Sie wurde nicht getödtet! antwortete der Mujik, der die Unruhe zu beschwichtigen suchte, die aus den Augen seines Pflegebefohlenen leuchtete. In einer Barke haben sie jene entführt, als sie den Irtysch weiter stromab ruderten! Sie ist jetzt eine Gefangene mehr, welche man mit ihren Leidensgefährtinnen nach Tomsk schleppt!«

Michael Strogoff konnte keine Sylbe erwidern, er preßte seine Hand auf’s Herz, um dessen stürmisches Klopfen zu bewältigen.

Und doch, trotz aller Prüfungen, beherrschte nur ein Gefühl seine ganze Seele, das Gefühl seiner heiligen Pflicht.

»Wo bin ich? fragte er.

– Auf dem rechten Ufer des Irtysch und nur fünf Werst von Omsk entfernt, antwortete ihm der Mujik.

– Was für eine Wunde empfing ich damals, daß sie mich so lange besinnungslos machen konnte? Vielleicht einen Flintenschuß?

– Nein, einen jetzt vernarbten Lanzenstich am Kopfe, erwiderte der Mujik. Nach einigen Tagen der Ruhe, Väterchen, wirst Du, denk‘ ich, Deinen Weg fortsetzen können. Du warst in’s Wasser gestürzt. Die Tartaren haben Dich weder berührt noch geplündert; auch Deine Börse steckt noch in Deiner Tasche.«

Michael Strogoff reichte dem ehrlichen Bauer die Hand. Dann richtete er sich mit einer plötzlichen Anstrengung auf und fragte:

»Wie lange liege ich schon in Deinem Hause, guter Freund?

– Seit drei Tagen.

– Drei ganze Tage verloren!

– Drei Tage, während der Du bewußtlos dalagst.

– Kannst Du mir ein Pferd verkaufen?

– Du willst weiter reisen?

– Womöglich noch diesen Augenblick.

– Ich habe weder ein Pferd, noch einen Wagen, Väterchen. Wo die Tartaren vorüber zogen, da ist von solchen Dingen nichts übrig geblieben.

– So werde ich nach Omsk zu Fuß gehen müssen, um dort ein Pferd zu kaufen.

– Pflege Dich nur noch einige Stunden, dann wirst Du besser im Stande sein, Deinen Weg fortzusetzen.

– Keine Stunde länger!

– So komm, antwortete der Mujik, da er einsah, daß er vergeblich dem festen Willen seines Gastes entgegen trat. Ich werde Dir selbst das Geleit geben, fügte er hinzu. Uebrigens befinden sich noch viele Russen in Omsk und vielleicht gelangst Du noch unbemerkt hindurch.

– Vergelte Dir der Himmel, wackrer Freund, erwiderte Michael Strogoff, lohne er Dir, was Du Alles für mich gethan hast!

– Eine Belohnung! versetzte der Mujik, nur die Thoren erwarten eine solche auf der Erde.«

Michael Strogoff trat aus der Hütte. Als er gehen wollte, übermannte ihn ein so heftiger Schwindel, daß er ohne die hilfreiche Unterstützung des Bauern wohl umgesunken wäre, aber bald stärkte ihn der Genuß der freien Luft sichtlich. Jetzt fühlte er erst die Nachwehen jenes gegen seinen Kopf geführten Stoßes, dessen Heftigkeit seine Pelzmütze glücklicher Weise gebrochen hatte. Bei der bekannten, ihm innewohnenden Energie war er nicht der Mann, sich viel um diese Kleinigkeit zu kümmern. Vor seinen Augen sah er nur das eine Ziel, das entlegene Irkutsk, welches er erreichen mußte! Omsk mußte er deshalb ohne jeden Aufenthalt passiren.

»Gott schütze meine Mutter und Nadia, murmelte er, jetzt habe ich kein Recht, an Beide zu denken.«

Michael Strogoff und der Bauer kamen bald in dem Kaufmannsviertel der Unterstadt an, in welche sie trotz der militärischen Besetzung derselben unschwer hineingelangten. Der Erdwall um jene zeigte sich an vielen Stellen zerstört, die ebenso viele Breschen darstellten, durch welche sich die Marodeurs der Armee Feofar-Khan’s eindrängten.

Im Innern von Omsk, auf den Straßen und Plätzen, wimmelte es von tartarischen Soldaten, aber man konnte dabei doch leicht wahrnehmen, daß eine eiserne Faust sie hier in den Fesseln einer Disciplin hielt, an welche Jene wohl nur wenig gewöhnt waren. Sie liefen auch nie einzeln umher, sondern marschirten in bewaffneten Abtheilungen, um in der Lage zu sein, jeden Angriff abzuwehren.

Auf dem zu einem Lager umgestalteten und dicht mit Wachposten besetzten Platze bivuakirten gegen 2000 Tartaren in guter Ordnung. An eingerammten Pfählen standen die Pferde angebunden, aber stets in voller Ausrüstung, um beim ersten Befehl zum Aufbruch fertig zu sein. Immerhin bildete Omsk nur einen provisorischen Halteplatz für die Tartarenreiter, welche die reicheren Ebenen Ostsibiriens vorziehen mußten, weil dort die Städte bedeutender, die Landschaften fruchtbarer, die Raubzüge also jedenfalls ergiebiger wurden.

Ueber dem Handelsviertel erhaben thronte die obere Stadt, welche Iwan Ogareff trotz mehrerer stürmischer Angriffe, die immer standhaft abgewiesen worden waren, in seine Gewalt noch nicht hatte bringen können. Von den in Vertheidigungszustand gesetzten Gebäuden flatterten noch immer die Fahnen mit den russischen Farben.

Nicht ohne einen gewiß berechtigten Stolz begrüßten Michael Strogoff’s und seines Führers Wünsche das wehende Banner.

Michael Strogoff kannte die Stadt Omsk natürlich vollständig. Während er scheinbar seinem Führer folgte, wußte er doch geschickt die lebhaftesten Straßen zu vermeiden. Das geschah nicht aus Besorgniß erkannt zu werden. In dieser Stadt hätte nur seine alte Mutter ihn bei seinem wahren Namen rufen können; aber er hatte geschworen, sie nicht zu sehen, er war entschlossen, an diesem Versprechen zu halten. Uebrigens war diese vielleicht – was er von ganzem Herzen wünschte, – nach irgend einem ruhigeren Theil der Steppe entflohen.

Zum Glück kannte der Mujik persönlich einen Postmeister, der es seiner Annahme nach für gute Bezahlung nicht ausschlagen würde, einen Wagen und Pferde entweder zu verleihen oder zu verkaufen. Dann blieb nur noch die Schwierigkeit übrig, die Stadt selbst zu verlassen, wobei die zahlreichen Breschen in der Umwallung freilich Michael Strogoff’s Entkommen einigermaßen erleichtern mußten.

Der Mujik führte seinen Gast also geraden Weges nach dem Relais, als Michael Strogoff plötzlich in einer engen Straße stehen blieb und sich hinter einem Mauervorsprunge verbarg.

»Was ist Dir? fragte der Bauer, erstaunt über dieses unerklärliche Benehmen.

– Still, still!« flüsterte ihm Michael Strogoff hastig zu, indem er noch den Finger auf seine Lippen legte.

Eben schwenkte eine Abtheilung Tartaren von dem Hauptplatze ab und bog in dieselbe Gasse ein, welche Michael Strogoff und sein Begleiter ganz kurz vorher betreten hatten.

An der Spitze der aus etwa zwanzig Berittenen bestehenden Schaar trabte ein Officier in sehr einfacher Uniform. Obwohl seine Augen immer von einer Seite zur andern schweiften, konnte er Michael Strogoff, der seinen Rückzug ebenso schnell als geschickt bewerkstelligte, unmöglich gesehen haben.

Das Detachement zog in scharfem Trabe durch die enge Straße. Weder der Officier noch seine Leute achteten besonders auf die Bewohner. Die Unglücklichen gewannen kaum Zeit, der Reiterabtheilung genügenden Platz zu machen. Da und dort wurde auch ein halb erstickter Schrei mit einem rücksichtslosen Lanzenstoße beantwortet und der Weg auf diese Weise in kürzester Zeit gesäubert.

»Wer war dieser Officier?« fragte Michael Strogoff, als die Abtheilung vorüber getrabt war, den Bauer, dem er sich jetzt wieder anschloß.

Schon als er diese Frage stellte, ward sein Gesicht so bleich, wie das einer Leiche.

»Das war Iwan Ogareff, antwortete der Sibirier mit leiser Stimme, aus der man einen verhaltenen Haß heraushörte.

– Er!« rief Michael Strogoff, dem dieses Wort mit einem Accente des Zornes entfuhr, den er nicht zu bemeistern vermochte.

Er hatte in dem Officier jenen Reisenden wieder erkannt, der ihn auf dem Relais zu Ischim geschlagen hatte.

Und gleichzeitig, so als ob ihm plötzlich ein Licht aufging, erinnerte ihn dieser Reisende, trotzdem er ihn nur ganz kurze Zeit gesehen hatte, an den alten Zigeuner, von dem er jene Worte auf der Messe in Nischnij-Nowgorod vernommen hatte.

Michael Strogoff täuschte sich nicht. Diese beiden Erscheinungen gehörten nur einer Person an. In der Verkleidung als Zigeuner hatte Iwan Ogareff unter der Truppe der alten Sangarre die Provinz Nischnij-Nowgorod zu verlassen gewußt, wo er unter den zahllosen Fremden, welche die Messe nach jener Stadt aus Centralasien heranzieht, Spießgesellen zur Ausführung seines fluchwürdigen Vorhabens gesucht haben mochte. Sangarre nebst der ganzen übrigen Gesellschaft standen nur als Spione in seinem Sold und waren ihm auf Leben und Tod ergeben. Er war es gewesen, der in der Nacht auf dem Meßplatze jene auffallenden Worte gesprochen hatte, deren Sinn Michael Strogoff jetzt erst ordentlich verstand; er reiste damals mit der ganzen Zigeunerbande auf dem Dampfer »Kaukasus«; er überschritt den Ural jedenfalls auf einem andern Wege von Kasan nach Ischim und erreichte endlich Omsk, das jetzt unter seinem Befehle seufzte.

Iwan Ogareff war selbst vor kaum drei Tagen erst in Omsk eingetroffen und ohne jenes unangenehme Zusammentreffen in Ischim und dem beklagenswerthen Vorfalle, der ihn drei Tage lang am Ufer des Irtysch festhielt, hätte Michael Strogoff Jenen auf dem Wege nach Irkutsk gewiß weit überholt.

Und wer weiß, wie viel Unglück in der nächsten Zeit dadurch vermieden worden wäre!

Jedenfalls, ja, mehr als je vorher mußte Michael Strogoff Iwan Ogareff ausweichen, um von Letzterem nicht gesehen zu werden. Kam einst der Zeitpunkt, ihm Auge in Auge gegenüber zu treten, so würde er ihn wieder zu finden wissen, wenn Jener sich auch zum Herrn von ganz Sibirien aufgeworfen hätte.

Der Mujik und er nahmen also ihren Weg durch die Stadt wieder auf und gelangten unbelästigt nach dem Posthause. Nach Einbruch der Nacht konnte es nicht allzu schwierig sein, Omsk durch eine der Breschen zu verlassen. Dagegen stellte sich die Unmöglichkeit heraus, an Stelle des Tarantaß ein anderes Fuhrwerk zu erhalten. Es fand sich weder ein Wagen zu miethen, noch zu kaufen. Aber bedurfte denn Michael Strogoff jetzt wirklich eines Wagens? War er für den übrigen Theil der Reise nicht allein? Ihm mußte auch schon ein Reitpferd genügen, und ein solches war glücklicher Weise zu beschaffen. Er bekam ein tüchtiges, zum Ertragen schwerer Strapazen offenbar geeignetes Thier, von dem sich Michael Strogoff, ein gewandter, ausdauernder Reiter, den größten Nutzen versprach.

Das Pferd kostete eine bedeutende Summe; nach einigen Minuten schon stand es zum Aufbruch bereit.

Es war jetzt etwa um vier Uhr Nachmittags.

Da Michael Strogoff die Nacht abwarten mußte, um die Umwallung zu passiren, sich in den Straßen von Omsk aber doch nicht zeigen wollte, so blieb er gleich im Posthause und ließ sich daselbst einige Stärkungsmittel besorgen.

In dem öffentlichen Wartesaale des Hauses ging es sehr lebhaft zu. So wie wir es von den russischen Bahnhöfen kennen gelernt haben, liefen die ängstlichen Einwohner hier zusammen, um neue Nachrichten zu erhaschen. Man sprach von der bevorstehenden Ankunft eines Corps russischer Truppen, zwar nicht in Omsk, aber in Tomsk, – eines Corps, das diese Stadt den Tartaren Feofar-Khan’s wieder entreißen sollte.

Michael Strogoff lauschte gespannt auf jedes in seiner Umgebung gesprochene Wort, vermied es aber, sich selbst in ein Gespräch einzulassen.

Plötzlich machte ein Aufschrei ihn erzittern, ein Schrei, der hinabdrang bis zum Grunde seiner Seele, und an sein Ohr schlugen die beiden Worte:

»Mein Sohn! Mein Sohn!«

Seine Mutter, die alte Marfa, stand vor ihm. Sie lächelte und sie zitterte doch vor Freude und streckte ihm sehnsüchtig die Arme entgegen.

Michael Strogoff erhob sich. Er wollte ihr entgegenfliegen ….

Da hielt ihn der Gedanke an seine Pflicht, an die ernsthafte Gefahr für seine Mutter und ihn bei dieser bedauerlichen Begegnung plötzlich zurück, und er gewann so viel Herrschaft über sich, daß auch nicht ein Muskel seines Gesichtes zuckte.

Zwanzig Personen füllten jetzt den Wartesaal. Unter ihnen konnten recht wohl einige Spione sein, und wußte man denn nicht auch, daß Marfa Strogoff’s Sohn zu dem Specialcorps der Couriere des Czaaren gehörte?

Michael Strogoff sprach kein Wort.

»Michael! rief seine Mutter.

– Wer sind Sie, geehrte Dame? fragte Michael Strogoff, der die Worte mehr hervorstammelte als aussprach.

– Wer ich bin? Das fragst Du? Mein Kind, erkennst Du Deine Mutter nicht mehr wieder?

– Sie täuschen sich! … antwortete Michael Strogoff kalt, eine Aehnlichkeit führt Sie irre ….«

Die alte Marfa ging gerade auf ihn zu und stellte sich ihm Aug‘ in Auge gegenüber.

»Du bist nicht Peter und Marfa Strogoff’s Sohn?« sagte sie.

Michael Strogoff hätte sein Leben darum gegeben, seine Mutter offen in die Arme schließen zu dürfen, aber wenn er nachgab, war es nicht nur um ihn, sondern auch um sie, um seinen Auftrag, um seinen Eid geschehen! Er bezwang sich nach Kräften, er schloß die Augen, um nicht die angsterregten Züge in dem Antlitz der kindlich verehrten Mutter sehen zu müssen; er zog seine Hände zurück, um nicht unwillkürlich den zitternden Händen, die nach ihm verlangten, zu begegnen.

»Ich weiß in der That nicht, liebe Frau, was ich aus Ihren Worten machen soll, antwortete er, einige Schritte zurückweichend.

– Michael! rief noch einmal die bejahrte Mutter.

– Ich heiße nicht Michael! Ich bin nie Ihr Sohn gewesen. Ich bin Nicolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk! …«

Hastig verließ er den Wartesaal, in dem noch einmal die Worte wiedertönten:

»Mein Sohn! Mein Sohn!«

Michael Strogoff war abgereist, so schwer es ihm wurde. Er sah seine alte Mutter, welche bewußtlos auf einer Bank zusammen gebrochen war, für jetzt nicht mehr. Gerade als der Postmeister ihr zu Hilfe eilen wollte, erhob sich die alte Frau selbst schon wieder. In ihrem Geiste war es plötzlich hell geworden. Sie, – verleugnet von ihrem leiblichen Sohne, – das war unmöglich! Ebenso unmöglich erschien es ihr aber, sich getäuscht und einen Anderen für ihn gehalten zu haben. Ohne Zweifel war es ihr Sohn gewesen, den sie eben gesehen hatte, und wenn Dieser sie nicht wieder erkannte, so wollte er es nicht, so durfte er sie nicht erkennen, so hatte er triftige, zwingende Gründe, so zu handeln. Dann unterdrückte sie allen Mutterschmerz in ihrer Brust und peinigte sich mit dem einzigen Gedanken: »Sollte ich ihn wider Willen in’s Verderben gestürzt haben?«

»Ich bin eine Thörin! antwortete sie Allen, die sie fragten. Meine Augen haben mich betrogen! Dieser junge Mann ist mein Kind nicht! Er hatte ja gar nicht dessen Stimme! Lassen wir es. Zuletzt werde ich meinen Sohn noch in Jedermann zu sehen glauben.«

Kaum zehn Minuten später erschien ein Tartarenofficier im Posthause.

»Marfa Strogoff? fragte er laut.

– Das bin ich, antwortete die betagte Frau so ruhig im Ton und im Antlitz, daß die Zeugen der vorigen Scene sie kaum wieder erkannten.

– Komm mit mir!« sagte der Officier.

Mit sicherem Schritte folgte Marfa Strogoff dem tartarischen Officier und verließ das Posthaus.

Wenige Minuten später befand sich Marfa Strogoff mitten in dem Truppenlager des Hauptplatzes und gegenüber dem gefürchteten Iwan Ogareff, dem alle Einzelheiten der oben erzählten Scene unverweilt berichtet worden waren.

Iwan Ogareff muthmaßte ebenfalls den wahren Sachverhalt und hatte die alte Sibirierin selbst darüber befragen wollen.

»Dein Name?« leitete er das Verhör in strengem Tone ein.

– Marfa Strogoff.

– Du hast einen Sohn?

– Ja.

– Er ist Courier des Czaaren?

– Ja.

– Wo befindet er sich?

– In Moskau.

– Du bist von ihm ohne Nachrichten?

– Ohne jede Nachricht.

– Seit wie lange?

– Seit zwei Monaten.

– Wer ist aber der junge Mann, den Du noch vor wenig Augenblicken im Posthause Deinen Sohn nanntest?

– Ein junger Sibirier, den ich für ihn hielt, antwortete Marfa Strogoff. Das ist der Zehnte, in dem ich meinen Sohn zu finden glaubte, seit die Stadt voller Fremden ist. Ich glaube ihn eben überall zu erkennen.

– Jener junge Mann war demnach Michael Strogoff nicht?

– Er war es leider nicht.

– Weißt Du, alte Frau, daß ich Dich foltern lassen kann, bis Du die Wahrheit eingestehst?

– Ich spreche die Wahrheit, und keine Folter würde meine Aussage abzuändern vermögen.

– Jener Sibirier war Michael Strogoff wirklich nicht? fragte zum zweiten Male und eindringlicher Iwan Ogareff.

– Nein! Er war es nicht! antwortete Marfa Strogoff zum zweiten Male. Glaubt Ihr, ich würde um Alles in der Welt einen solchen Sohn, wie mir ihn Gott gegeben hat, verleugnen?«

Mit boshaftem Auge fixirte Iwan Ogareff die Frau, die ihm in’s, Gesicht zu trotzen wagte. Er zweifelte keinen Augenblick, daß sie in dem jungen Sibirier ihren Sohn wirklich erkannt habe. Und wenn dennoch der Sohn zuerst die Mutter verleugnet hatte, wie es die Mutter jetzt ihrerseits that, so mußten dem unzweifelhaft sehr ernste Ursachen zu Grunde liegen.

Iwan Ogareff galt es als unbestreitbare Thatsache, daß der angebliche Nicolaus Korpanoff kein Anderer sei, als Michael Strogoff, der Courier des Czaaren, der sich unter einem falschen Namen verbarg und der einen Auftrag haben mußte, dessen Kenntniß für ihn von der weitgehendsten Bedeutung sein konnte. Er gab also sofort Befehl, Jenen zu verfolgen.

Dann wendete er sich gegen Marfa Strogoff zurück und sagte:

»Diese Frau soll sofort nach Tomsk übergeführt werden!«

Und während die Soldaten Jene roh und grausam fortdrängten, murmelte er zwischen den Zähnen:

»Zur passenden Zeit werde ich ihr schon die Zunge zu lösen wissen, der alten Hexe!«

Fünfzehntes Capitel

Fünfzehntes Capitel

Der Barabinen-Sumpf

Es war Michael Strogoff’s Glück gewesen, daß er das Posthaus so schnell als möglich verließ. Auf Iwan Ogareff’s Befehl wurden sofort alle Ausgänge der Stadt scharf bewacht und sein Signalement allen Postmeistern mitgetheilt, um sein Entkommen aus Omsk zu verhindern. Als das aber geschah, hatte er schon eine Bresche des Erdwalls hinter sich, sein Pferd jagte durch die Steppe, und da er keine unmittelbaren Verfolger hinter sich sah, durfte er auf das Gelingen seiner Flucht wohl hoffen. Am 29. Juli, Abends gegen acht Uhr, hatte Michael Strogoff Omsk verlassen. Diese Stadt liegt ungefähr in der Mitte des Weges von Moskau nach Irkutsk, woselbst er vor Ablauf von zehn Tagen eintreffen mußte, wenn er die tartarischen Horden hinter sich lassen wollte. Offenbar hatte der beklagenswerte Zufall, welcher ihn seiner Mutter vor Augen führte, sein Incognito verrathen. Iwan Ogareff konnte nicht mehr darüber im Unklaren sein, daß ein Courier des Czaaren auf dem Wege nach Irkutsk durch Omsk gekommen sei. Die Depeschen dieses Eilboten mußten von besonderer Wichtigkeit sein. Michael Strogoff ahnte also auch, daß man Alles daran setzen werde, sich seiner Person zu bemächtigen.

Was er aber nicht wußte, was er nicht wissen konnte, war, daß Marfa Strogoff sich in Iwan Ogareff’s Gewalt befand, daß sie büßen, vielleicht mit ihrem Leben bezahlen sollte für die Erregung ihres Mutterherzens, die sie bei dem unerwarteten Anblick ihres Sohnes nicht zu unterdrücken im Stande gewesen war. Ein Glück für ihn, daß er davon nichts wußte! Hätte er dieser neuen Prüfung widerstehen können?

Michael Strogoff trieb sein Roß an, er flößte ihm gleichsam dieselbe fieberhafte Ungeduld ein, die ihn verzehrte; er verlangte nur das Eine von dem Thiere, ihn so schnell als möglich nach dem nächsten Relais zu tragen, wo er es gegen ein noch schnelleres Beförderungsmittel einzutauschen hoffte.

Um Mitternacht hatte er siebzig Werst zurückgelegt und machte bei der Station Kulikowo Halt. Doch auch hier fand er, eine Bestätigung seiner Besorgniß, weder Pferde noch Wagen. Einzelne Abtheilungen Tartaren waren schon auf der Hauptstraße durch die Steppe dahin gezogen. In den Dörfern und den Postrelais hatte man Alles requirirt oder geradezu gestohlen. Michael Strogoff konnte kaum einige Nahrung für sich und etwas Futter für sein Pferd erhalten.

Er mußte dieses Pferd, für das sich kein Ersatz mehr zu bieten schien, etwas schonender behandeln. Da er aber zwischen sich und den ihm von Iwan Ogareff jedenfalls nachgesendeten Reitern den größtmöglichen Zwischenraum sehen wollte, beschloß er möglichst schnell weiter zu eilen. Nach einer nur einstündigen Ruhe schlug er also den Weg durch die Steppe schon wieder ein.

Bisher hatten die Witterungsverhältnisse die Reise des Czaarencouriers auffallend begünstigt. Die Lufttemperatur hielt sich in erträglichen Grenzen. Die zu dieser Jahreszeit kurze, aber von den durch einen leichten Wolkenschleier dringenden Mondstrahlen mit einem angenehmen Dämmerlichte gemilderte Nacht machte die Straße leidlich gangbar. Michael Strogoff zog übrigens, als ein seines Weges kundiger Mann, sicher, ohne Zweifel, ohne Zögern dahin. Trotz der schmerzlichen Gedanken, die ihn hartnäckig verfolgten, hatte er sich doch eine außerordentliche Klarheit des Geistes bewahrt und steuerte auf sein Ziel zu, als ob dieses Ziel schon am Horizonte sichtbar sei. Hielt er, vielleicht bei einer Biegung des Weges, einen Augenblick an, so geschah es, um sein Pferd etwas Athem schöpfen zu lassen. Dann stieg er, zur Erleichterung des Thieres, einmal ab, drückte das Ohr auf den Erdboden und lauschte, ob sich der Schall von galopirenden Pferden an der Oberfläche der Steppe fortleitete. Hatte er nichts Verdachterweckendes wahrgenommen, so setzte er seinen Weg wieder fort.

O, breitete sich jetzt doch die Polarnacht über diese weite sibirische Ebene, diese mehrere Monate andauernde Nacht! Es wäre viel leichter gewesen, jene sicher zu durchreisen.

Am 30. Juli, gegen neun Uhr Morgens, passirte Michael Strogoff die Station Turumoff und begab sich von hier aus nun in die Sumpfdistricte der Barabinen-Steppe.

Auf einem Gebiete von 300 Werst Länge konnten hier schon die natürlichen Hindernisse allein große Schwierigkeiten verursachen. Der Courier wußte das, aber er wußte auch, daß er alle siegreich überwinden werde.

Die ausgedehnten, von Norden nach Süden zwischen dem 60. und 52. Breitengrade liegenden Barabinen-Sümpfe bilden das große Sammelbassin derjenigen atmosphärischen Niederschläge, welche weder durch den Obi noch durch den Irtysch einen Abfluß finden. Der Boden dieser ungeheuren Tiefebene besteht aus fast ganz undurchlässigem Lehm, so daß das Wasser darüber stehen bleibt und eine während der warmen Jahreszeit schwer zu passirende Gegend darstellt.

Gerade durch diesen Landstrich führt aber die Straße nach Irkutsk, mitten durch die zahlreichen Sümpfe, Teiche, Seen, deren gesundheitsgefährliche Ausdünstungen bei der heißen Sommersonne den Reisenden mindestens mit schweren Mühseligkeiten, wenn nicht gar mit tückischer Gefahr bedrohen.

Im Winter freilich, wenn der Frost Alles, was sonst flüssig war, erstarren ließ, wenn der dichte Schnee den Boden geebnet und geglättet, die schädlichen Miasmen condensirt und unter sich begraben hat, dann stiegen die leichten Schlitten gefahrlos über die erhärtete Kruste der Barabinen-Steppe. Dann durchziehen fleißig die Jäger die wildreichen Gründe und verfolgen die Marder, die Zobel und die kostbaren Füchse, deren Felle so gesucht sind. Während des Sommers dagegen wird diese Sumpfgegend kothig, brütet gefährliche Krankheiten aus und ist bei einigermaßen hohem Wasserstande überhaupt gar nicht zu passiren.

Michael Strogoff lenkte sein Pferd quer durch einen Torfmoor, der nicht mehr mit jenem kurzen, glatten Rasen, bedeckt erschien, von welchem sich die zahllosen sibirischen Heerden sonst fast ausschließlich ernähren. Hier dehnte sich nicht mehr eine Wiese ohne Grenzen vor seinen Blicken aus, sondern eine Art ungeheurer Haide mit baumartigem Gesträuch.

Der Rasen stieg hier bis fünf und sechs Fuß Höhe auf. Das feine Gras hatte den Platz geräumt vor üppigen Sumpfpflanzen, denen die andauernde Feuchtigkeit im Verein mit der brennenden Hitze des Sommers wahrhaft gigantische Formen verlieh. Vorzugsweise waren es Binsen und Schilf, welche ein unentwirrbares Netz, ein undurchdringliches Gitter bildeten, geschmückt mit Tausenden von Blumen von ungemein lebhaften Farben, darunter vor Allem Lilien und Irisarten, deren Wohlgerüche sich mit den warmen, dem Boden entsteigenden Dünsten mischten.

Michael Strogoff galopirte zwischen den hohen Binsen dahin, wobei ihn von den die Straße begleitenden Sümpfen aus Niemand mehr sehen konnte. Die großen Stengel überragten ihn sammt dem Pferde, und nur das Aufflattern unzähliger Wasservögel, die sich neben seinem Pferde erhoben und in schreienden Gruppen in der Luft zertheilten, verrieth, daß sich Etwas in jenem Dickicht bewege.

Die Straße selbst war übrigens in leidlichem Zustande. Hier schnitt sie in gerader Linie durch das dichte Gewirr der Sumpfpflanzen, dort wand sie sich um das gekrümmte Ufer ausgedehnter Teiche, von denen einige bei einer Länge von mehreren Wersten und ebenso großer Breite schon den Namen von Seen verdient hätten. An anderen Stellen endlich hatte man einzelne stehende Gewässer nicht umgehen können; für Ueberschreitung derselben dienten aber keine Brücken in unserem gewohnten Sinne, sondern eine Art Plateform mit übergelegten Bohlen, welche ebenso leicht schwankten, wie ein zu dünner über einen Graben gelegter Steg. Einige dieser primitiven Straßenbrücken dehnten sich bis auf zwei– und dreihundert Schritte Länge aus, und man erzählt sich, daß Reisende, mindestens reisende Damen beim Fahren über einen solchen schwankenden Weg nicht gar so selten eine Art Seekrankheit bekommen hätten.

Michael Strogoff jagte, ob er nun festen oder schwankenden Boden unter sich hatte, immer mit derselben Schnelligkeit dahin und setzte in kühnem Sprunge über die Lücken hinweg, welche die halb verfaulten Planken an manchen Stellen zwischen sich ließen; so schnell aber Roß und Reiter auch dahin flogen, so konnten sie doch den belästigenden Stichen der zweiflügeligen Insecten nicht entfliehen, die in jenen sumpfreichen Gegenden zur wahren Landplage werden.

Sind Reisende gezwungen, im Sommer durch die Barabinen-Steppe zu fahren, so versehen sie sich mit Masken aus Pferdehaar, an welche sich ein Stück feinmaschiges Panzerhemd zum Schutze der Schultern anschließt. Doch trotz dieser Vorsichtsmaßregeln kommen nur Wenige wieder, ohne zahllose rothe Tüpfel im Gesicht, auf dem Hals und den Händen davon getragen zu haben, aus diesem Sumpfdistricte heraus. Die ganze Atmosphäre erscheint dort wie erfüllt mit haarfeinen Nadeln, und man wird zu dem Glauben verführt, daß kaum eine complete Ritterrüstung zum Schutz gegen die Stacheln dieser Zweiflügler hinreichen könne. Hier ist eine traurige Gegend, die der Mensch den Mücken, Schnaken und Stechfliegen nur mit Aufwand vieler Mittel streitig macht, – ganz zu schweigen von den Milliarden mikroskopischer Insecten, welche man mit unbewaffnetem Auge überhaupt nicht wahrzunehmen im Stande ist; doch wenn man sie auch nicht sieht, so fühlt man sie desto mehr wegen ihrer unerträglich quälenden feinen Stiche, gegen welche auch hartgesottene sibirische Jäger niemals gleichgiltig werden.

Michael Strogoff’s Pferd sprang, von den giftigen Dipteren überfallen, häufig auf, als würden ihm tausend Sporen auf einmal in die Flanke gedrückt. Dann jagte es, raste und flog es in toller Wuth Werst für Werst mit der Schnelligkeit eines Eilzuges dahin, peitschte die Seiten mit dem Schweife und suchte in der Flucht eine Linderung seiner Qualen.

Es gehörte ein so sattelfester Reiter wie Michael Strogoff dazu, um durch die unerwarteten Bewegungen des Pferdes, durch dessen Aufbäumen und Sprünge, zu denen die unausgesetzten Fliegenstiche es reizten, nicht abgeworfen zu werden. Fast unempfindlich geworden gegen physischen Schmerz, nur beseelt von dem einen Verlangen, um jeden Preis sein Ziel zu erreichen, sah er in dieser sinnlosen Jagd nichts weiter, als daß er seinen Weg mit glücklicher Eile zurücklegte.

Wer würde nun glauben, daß diese in der heißen Jahreszeit so ungesunde Barabinen-Steppe doch noch einer Anzahl Menschen Asyl böte?

Und doch ist es an dem. In großen Zwischenräumen tauchen da und dort sibirische Weiler auf zwischen den gigantischen Binsen. Männer, Frauen, Kinder und Greise, in Thierfelle gekleidet und das Gesicht mit einer pechüberzogenen Maske bedeckt, führen ihre dürftigen Heerden zur Weide; um die Thiere aber vor den Angriffen der Insecten zu schützen, halten sie dieselben stets unter dem Winde in der Nähe von Feuern aus grünem Holze, die sie Tag und Nacht unterhalten und deren beißende Rauchsäulen sich schwerfällig über die morastige Niederung ausbreiten.

Als Michael Strogoff bemerkte, daß sein Pferd auf dem Punkte stand, vor Erschöpfung zusammen zu brechen, machte er in einem jener elenden Dörfchen halt, und rieb, seine eigene Ermüdung vergessend, die vielen Stiche des armen Thieres nach sibirischer Sitte mit warmem Fett ein; dann gab er ihm eine tüchtige Ration Futter, und erst als er es den Umständen nach bestmöglich untergebracht und mit Allem versorgt hatte, dachte er an seine Person, verzehrte zur Wiederherstellung seiner Kräfte etwas Brod und Fletsch und trank einige Gläser Kwaß dazu. Nach einer, höchstens zwei Stunden der Ruhe begab er sich wieder auf seinen endlosen Weg nach dem fernen Irkutsk.

Von Turumoff aus hatte er auf diese Weise neunzig Werst zurück gelegt und kam am 30. Juli, gegen vier Uhr Nachmittags, unempfindlich für jede Anstrengung, in Elamsk an.

Daselbst mußte er seinem Pferde eine Nacht Ruhe gönnen. Das muthige Thier hatte jetzt die Reise unmöglich fortzusetzen vermocht.

In Elamsk fand sich ebenso wenig als anderswo ein bequemeres Beförderungsmittel. Aus den nämlichen Gründen, wie in den andern kleinen Städten und Flecken, fehlte es auch hier vollkommen an Wagen oder Pferden.

Elamsk, eine kleine Stadt, in welche die Tartaren noch nicht eingedrungen waren, erwies sich fast ganz entvölkert, denn es konnte von Süden her sehr leicht überfallen, aber von Norden her nur sehr schwierig beschützt werden. Auf höheren Befehl waren das Posthaus, das Polizeiamt, das Regierungsgebäude ebenfalls verlassen, und Beamte ebenso wie Einwohner nach dem nördlicher gelegenen Kamsk, in der Mitte der Barabinen-Steppe, ausgewandert.

Michael Strogoff mußte sich also darauf beschränken, in Elamsk die Nacht zuzubringen und seinem Pferde zwölf Stunden Ruhe zu gönnen. Er erinnerte sich der ihm in Moskau an’s Herz gelegten Instructionen, Sibirien unerkannt zu durchreisen, auf jeden Fall und sobald als möglich Irkutsk zu erreichen, aber, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze, den Erfolg seiner Fahrt nicht der Schnelligkeit wegen auf’s Spiel zu setzen, – in Anbetracht dieser Umstände hatte er die Verpflichtung, das einzige ihm noch verbliebene Beförderungsmittel, das Reitpferd, vernünftig zu schonen.

Am folgenden Tage verließ Michael Strogoff Elamsk wieder, eben als man das Erscheinen tartarischer Plänkler, auf der Straße durch die Barabinen-Steppe, etwa zehn Werst jenseit der Stadt, anmeldete, und trabte wieder in die sumpfige Niederung hinaus. Die Straße lief zwar ganz eben hin, wodurch das Fortkommen erleichtert, aber in vielfachen Windungen, wodurch der Weg sehr verlängert wurde. Uebrigens verboten es die Bodenverhältnisse unbedingt, etwa die Einhaltung einer geraden Linie quer durch diese Tümpel und Teiche zu versuchen.

Am darauf folgenden Tage, am 1. August, erreichte Michael Strogoff gegen Mittag den 120 Werst weiter gelegenen Flecken Spaskoë, und um zwei Uhr hielt er bei der darauf folgenden kleinen Ortschaft, Pokrowskoë, zum ersten Male wieder an.

Sein durch den langen Ritt von Elamsk bis hierher über Gebühr angestrengtes Roß hätte auch keinen Schritt mehr vorwärts thun können.

Bei dieser ihm aufgezwungenen Ruhe verlor Michael Strogoff zwar den Rest des Tages und die darauf folgende Nacht, aber er gelangte am nächsten Tage, dem 2. August, nach einem 75 Werst langen Wege durch das halb unter Wasser stehende Gebiet doch bis zu dem Städtchen Kamsk.

Hier bot die Landschaft ein wesentlich anderes Bild. Der kleine Flecken Kamsk liegt wie eine wohnliche, gesunde Insel mitten in diesem unheilvollen Gebiete. Er nimmt gerade den Mittelpunkt der Barabinen-Steppe ein. Dort haben sich, eine heilsame Folge der Kanalisirung des Tom, eines bei Kamst vorbeiziehenden Nebenflusses des Irtysch, die pestaushauchenden Sümpfe in üppige, fette Weiden verwandelt. Dennoch vermochten diese Bodenmeliorationen noch nicht völlig jene Fieber zu besiegen, welche den Aufenthalt in dieser Stadt während des Herbstes noch einigermaßen gefährden. Immerhin flüchten sich hierher die wenigen Bewohner der Barabinen-Steppe, wenn die verderblichen Sumpfmiasmen sie aus den übrigen Theilen der Provinz vertreiben.

Die durch die Tartaren-Invasion verursachte allgemeine Auswanderung hatte Kamst doch noch nicht entvölkert. Die Bewohner glaubten sich in der Mitte ihres für größere Truppenmassen so schwer zugänglichen Landes verhältnißmäßig sicher, mindestens waren sie der Ansicht, zur Flucht noch immer Zeit zu haben, wenn sie unmittelbar bedroht würden.

Michael Strogoff konnte hier, so sehr er es auch wünschte, keinerlei neuere Nachrichten erhalten. Jedenfalls hätte sich der Gouverneur vielmehr an ihn gewendet, wäre ihm der wirkliche Charakter dieses angeblichen Kaufmanns aus Irkutsk bekannt gewesen. Kamsk schien in Folge seiner besonders günstigen Lage der übrigen sibirischen Welt in der That nicht anzugehören und gänzlich außerhalb der ernsten Ereignisse zu stehen, die jene erschütterten.

Uebrigens zeigte sich Michael Strogoff möglichst wenig oder gar nicht. Ihm genügte es nicht, jedes Aufsehen zu vermeiden, er wünschte überhaupt gar nicht gesehen zu werden. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit verdoppelten seine Vorsicht in der Gegenwart wie für die Zukunft. So hielt er sich denn ganz zurückgezogen, trug gar kein Verlangen, die wenigen Straßen des Städtchens zu durchlaufen, und wollte das Gasthaus, in dem er abgestiegen war, überhaupt nicht verlassen.

In Kamsk hätte Michael Strogoff wohl einen Wagen kaufen und das Reitpferd, welches ihn von Omsk bis hierher getragen, durch ein bequemeres Beförderungsmittel ersetzen können. Nach reiflicher Ueberlegung sagte er sich aber, daß das Einhandeln eines Tarantaß doch die Aufmerksamkeit mehr, als ihm lieb war, auf ihn lenken mußte, und da er die von den Tartaren besetzte Linie noch nicht überschritten hatte, eine Linie, welche etwa mit dem Irtyschstrome abschnitt, so wollte er es nicht wagen, irgend welchen Verdacht zu erwecken.

Um übrigens diese Barabinen-Steppe zu durcheilen, durch diese Sumpfniederung zu fliehen, im Fall ihn eine directere Gefahr bedrohen sollte, um den zu seiner Verfolgung entsendeten Reitern einen Vorsprung abzugewinnen, um sich im Nothfall auch durch das dichteste Binsenmeer hindurchzuschlagen, war ein Pferd offenbar mehr werth, als ein Wagen. Später, vielleicht jenseit Tomsk oder gar hinter Krasnojarsk, hoffte Michael Strogoff in irgend einer bedeutenderen Stadt Sibiriens passendere Gelegenheit zu finden, sich mehr Bequemlichkeit zu verschaffen.

Sein jetziges Reitpferd aber gegen ein anderes umzutauschen, dieser Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn. Er hatte sich an dieses ausdauernde Thier schon gewöhnt; er wußte, was er von ihm verlangen konnte. Als er es in Omsk erkaufte, hatte er eine glückliche Hand gehabt, und dankbar pries er noch immer jenen Mujik, der ihn dort zu dem betreffenden Posthalter führte. Doch nicht nur Michael Strogoff fühlte eine gewisse Anhänglichkeit seinem Pferde gegenüber, auch dieses schien sich allgemach an die Strapazen einer solchen Parforce-Reise zu gewöhnen, und wenn ihm nur je einige Stunden Ruhe gegönnt wurden, konnte sein Reiter wohl hoffen, bis über die überfallenen Provinzen hinaus zu gelangen.

Während dieses Abends und der Nacht vom 2. zum 3. August verhielt sich Michael Strogoff also in seinem Gasthause am Eingange des Städtchens, einem wenig besuchten Gasthause ohne zudringliche und neugierige Gäste.

Von Ermüdung übermannt, legte er sich zwar bald, aber doch nicht eher nieder, als bis er wußte, daß es seinem Pferde an nichts fehle; trotzdem vermochte er nur einen häufig unterbrochenen Schlummer zu finden. Zu viele Erinnerungen, zu viele Sorgen für die Zukunft regten sich in ihm. Die Bilder seiner betagten Mutter und seiner schutzlos verlassenen, muthigen, jungen Gefährtin zogen abwechselnd vor seinem Geiste auf oder verschmolzen in ihm wohl auch zu einem einzigen sorgenden Gedanken.

Dann erinnerte er sich wieder seiner Sendung, an deren Ausführung ein Eid ihn band. Was er seit seinem Aufbruche von Moskau selbst gesehen, ließ ihn immer mehr die Wichtigkeit derselben erkennen. Fielen dann seine Blicke einmal auf den mit dem kaiserlichen Siegel verschlossenen Brief, diesen Brief, der ohne Zweifel das Heilmittel gegen so zahllose Uebel des von einem wilden, blutigen Kriege zerrissenen Landes enthielt, – dann bemächtigte sich Michael Strogoff’s fast unbesiegbares Verlangen, sofort wieder durch die Steppe weiter zu jagen, mit der Hast eines Vogels die Strecke zu überfliegen, die ihn noch von Irkutsk trennte, ein Adler zu sein, um alle Hindernisse überwinden zu können, ein Orkan, um mit der Schnelligkeit von hundert Werst die Stunde über der Erde dahin zu rasen und endlich vor den Großfürsten zu treten und ihm zuzurufen: »Kaiserliche Hoheit, von Seiner Majestät dem Czaaren!«

Am andern Morgen um sechs Uhr früh ritt Michael Strogoff wieder mit der Absicht weiter, an diesem Tage die 84 Werst (= 89 Kilometer) von Kamsk bis Ubinsk zurückzulegen. Jenseit eines Kreises von etwa 20 Werst fand er ganz die sumpfige Barabinen-Steppe wieder, welche hier kein Ableitungsgraben mehr trocken legte, so daß der Erdboden manchmal einen Fuß hoch unter Wasser stand. Dann war die Straße nur schwierig zu erkennen, aber er legte diesen Wegtheil, Dank seiner umsichtigen Aufmerksamkeit, doch ohne Unfall zurück.

In Ubinsk angelangt ließ Michael Strogoff sein Pferd die ganze Nacht über rasten, denn er wollte am folgenden Tag die 100 Werst betragende Entfernung zwischen Ubinsk und Ikulskoë durchmessen. Er brach also mit der Morgenröthe auf, aber leider gestaltete sich die Straße durch diesen Theil der Barabinen-Steppe immer unwegsamer.

Zwischen Ubinsk und Kamakowa hatten sich nämlich die reichlichen Regenniederschläge der letztvergangenen Wochen wie in einer undurchlässigen Schüssel in der verhältnißmäßig engen Bodensenkung angesammelt. Das unentwirrbare Netz von Sümpfen, Teichen und Seen hing fast ohne Unterbrechung zusammen. Einen dieser Seen, – übrigens einer von solcher Größe, daß er in der geographischen Nomenklatur wohl einen Platz verdient hätte, – den Tschang (ein von den Chinesen ihm beigelegter Name), mußte Michael Strogoff auf einer Strecke von 20 Werst längs seines Ufers unter den größten Schwierigkeiten umreiten, was nothwendiger Weise einige Verzögerungen veranlaßte, die er trotz seiner Ungeduld doch nicht zu vermeiden vermochte. Er sah recht deutlich ein, wie gut er daran gethan, sich in Kamsk nicht einen Wagen zu nehmen, denn sein Pferd kam hier unter Verhältnissen noch vorwärts, die jeden Wagen unbedingt aufgehalten hätten.

Abends gegen neun Uhr in Ikulskoë angekommen, verweilte Michael Strogoff daselbst die ganze Nacht. In diesem in der Barabinen-Steppe verlorenen Flecken fehlten die Nachrichten vom Kriegsschauplatze natürlich gänzlich. Dieser Theil der Provinz war durch seine natürliche Lage, mitten in der Gabel, welche die tartarischen Heerestheile durch ihr verschiedenseitiges Abschwenken einerseits nach Omsk, andrerseits nach Tomsk zu, bildeten, von den Schrecken des Einfalls noch gänzlich verschont geblieben.

Bald mußten sich nun auch die natürlichen Schwierigkeiten des Weges vermindern, denn im Fall er keine Verzögerung erlitt, hoffte Michael Strogoff am nächsten Tage über die Barabinen-Steppe hinauszukommen. Später bot sich ihm wieder ein weit besserer Weg, wenn er die 125 Werst, die ihn noch von Kolywan trennten, zurückgelegt hatte.

Von diesem etwas bedeutenderen Städtchen aus rechnete man bis Tomsk nur noch die gleiche Entfernung. Dann mußte er eine weitere Entscheidung treffen, die höchst wahrscheinlich in dem Sinne ausfiel, letztere von Feofar-Khan schon besetzte Stadt ganz zu umgehen.

Wenn sich aber diese kleinen Städtchen, wie Ikulskoë, Karguinsk u. a., in Folge ihrer Lage mitten in der sumpfigen Steppe, die der Entwickelung der tartarischen Streitkräfte unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzte, noch einer glücklichen Ruhe erfreuten, lag da nicht die Befürchtung nahe, daß Michael Strogoff von den reichen, fruchtbaren Ufern des Obi an an Stelle der natürlichen Hindernisse allerlei Schwierigkeiten und Gefahren von Seiten der Menschen zu erwarten haben werde? Jedenfalls durfte er keinen Anstand nehmen, in dieser Gegend von der Straße nach Irkutsk abzuweichen. Bei einem Ritte durch die einsame Steppe lief er freilich Gefahr, sich von allen Hilfsmitteln zu entblößen. Dort fand sich nämlich keine weitere Straße, keine Stadt, kein Dorf mehr. Nur ganz einzeln traf man auf isolirte Farmen, oder vielmehr auf Hütten ärmlicher Leute, bei denen trotz ihrer unzweifelhaften Gastfreundlichkeit sich doch kaum das Notwendigste finden mochte. Und dennoch, er durfte nicht zaudern!

Endlich gegen halb vier Uhr Nachmittags verließ Michael Strogoff, nachdem er noch durch die kleine Station Kargatsk gekommen war, die letzte Niederung der Barabinen-Steppe und der Hufschlag seines Pferdes verrieth durch den Schall wieder den harten, trockenen Boden des sibirischen Landes.

Er hatte Moskau am 15. Juli verlassen. Unter Einrechnung der am Ufer des Irtysch verlorenen zweiundsiebzig Stunden ergab das bis heute, den 5. August, eine Reisedauer von einundzwanzig Tagen.

Fünfzehnhundert Werst trennten ihn nun noch von Irkutsk.

Sechzehntes Capitel

Sechzehntes Capitel

Eine letzte Anstrengung

Michael Strogoff hatte ganz Recht, in den Ebenen, welche sich östlich an die Barabinen-Steppe anschließen, ein unliebsames Zusammentreffen zu fürchten. Die von Pferdehufen zertretenen Felder bewiesen, daß die Tartaren hier vorüber gekommen waren, und auf diese Barbaren passen auch die zuerst auf die Türken angewendeten Worte: »Auf dem Boden, den der Türke betrat, wächst kein Grashalm wieder!«

Bei seinem Zuge durch diese Gegend mußte Michael Strogoff also die größte Vorsicht beachten. Einige am fernen Horizonte lagernde Rauchwolken sagten ihm, daß hier die Weiler und Flecken angesteckt worden waren. Rührten diese Feuersbrünste nun von den Vortruppen her oder marschirte die ganze Armee des Emir schon nach den äußersten Grenzen der Provinz? Befand sich Feofar-Khan selbst in dem Gouvernement von Jeniseïsk? Michael Strogoff wußte hierüber nichts und konnte, bevor er nicht weitere Nachrichten erhielt, nach keiner Seite eine Entscheidung treffen. Sollte das Land so menschenleer geworden sein, daß er keinen einzigen Sibirier mehr fände, um von ihm Auskunft zu erlangen?

Michael Strogoff ritt auf der ganz leeren Straße etwa zwei Werst weiter. Nach rechts und links schweiften seine Augen und suchten ein noch nicht verlassenes Haus, aber alle, alle fand er öde und leer.

Eine einzelne Hütte, welche er zwischen einer Gruppe Bäume entdeckte, rauchte noch. Als er sich näherte, fand er wenige Schritte von den Trümmern seines Hauses einen Greis von weinenden Kindern umringt. Eine noch ziemlich junge Frau, offenbar die Tochter jenes Mannes und die Mutter der Kinder, lag knieend auf dem Boden, den verzweifelten Blick starr auf diese Scene der Verwüstung geheftet. Ein zarter Säugling von wenigen Monaten ruhte noch an ihrer Brust. Alles rings um diese Aermsten war Ruine und Zerstörung!

Michael Strogoff ging auf den Greis zu.

»Bist Du im Stande, mir zu antworten? fragte er mit ernster Stimme.

– Rede, erwiderte der alte Mann.

– Sind die Tartaren hier vorüber gekommen?

– Gewiß, sonst stände mein Haus nicht in Flammen.

– Ein ganzes Heer oder nur eine Abtheilung?

– Ein ganzes Heer, denn so weit der Blick reicht, sind unsere Felder verwüstet!

– Commandirt von dem Emir? …

– Von ihm, denn das Wasser des Obi färbte sich roth.

– Und Feofar-Khan ist in Tomsk eingezogen?

– Gewiß.

– Weißt Du, ob die Tartaren sich schon der Stadt Kolywan bemächtigt haben?

– Nein, denn Kolywan steht noch nicht in Flammen.

– Ich danke, Freund. – Kann ich Etwas für Dich und die Deinen thun?

– Nichts.

– Auf Wiedersehen!

– Leb‘ wohl!«

Nachdem Michael Strogoff noch fünfundzwanzig Rubel niedergelegt hatte vor dem unglücklichen Weibe, welches nicht einmal im Stande war, ihm zu danken, gab er seinem Pferde die Sporen und setzte den einen Augenblick unterbrochenen Weg fort.

Er wußte nun Eines: daß er es um jeden Preis zu vermeiden habe, Tomsk zu passiren. Eher schien es möglich, nach Kolywan zu gehen, wo die Tartaren noch nicht herrschten. Auch in dieser Stadt hatte er nichts Anderes zu thun, als sich zu stärken und mit dem Nöthigsten für eine sehr lange Tagereise zu versehen. Dann mußte er die Straße nach Irkutsk verlassen, um nach Ueberschreitung des Obi Tomsk zu umgehen, – einen anderen Ausweg sah er nicht vor sich.

Nach Feststellung dieses neuen Reiseplans durfte Michael Strogoff nicht einen Augenblick zögern. Er zögerte auch nicht, sondern trieb sein Pferd zu einer noch schnelleren Gangart an und folgte dem directen Wege, der an das linke Ufer des Stromes führte und bis zu dem noch eine Strecke von 40 Werst zurückzulegen war. Würde er eine Fähre finden, um dort überzusetzen, oder sollte das Tartarenheer alle Fahrzeuge zerstört, weggeschleppt haben und er gezwungen sein, schwimmend den Strom zu überschreiten? Die Zukunft mußte diese Fragen bald beantworten.

Was sein nun auf’s Aeußerste erschöpftes Pferd betraf, so wollte es Michael Strogoff, nach Vollendung der bevorstehenden langen und höchst anstrengenden Tagereise, in Kolywan womöglich gegen ein anderes vertauschen. Er fühlte wohl, daß das arme Thier binnen Kurzem unter ihm zusammenbrechen mußte. Kolywan bildete also für ihn gleichsam einen neuen Ausgangspunkt, da er von dieser Stadt aus seine Reise unter sehr veränderten Verhältnissen fortzusetzen hatte. So lange sein Weg ihn durch die von den Eindringlingen besetzten Gebiete führte, mußten die Schwierigkeiten offenbar große sein; nach glücklicher Umgehung von Omsk aber konnte er die Straße nach Irkutsk wieder benutzen, und da die Provinz Jeniseïsk den Verwüstungen der Feinde noch entzogen geblieben war, durfte er wohl hoffen, sein Ziel in wenigen Tagen zu erreichen.

Nach einem recht warmen Tage senkte sich die Nacht herab. Um Mitternacht hüllte tiefe Finsterniß die weite Steppe ein. Der Wind, der sich mit Sonnenuntergang gelegt hatte, hinterließ in der Atmosphäre eine vollkommene Stille. Nur den Hufschlag des Pferdes hörte man auf der verlassenen Straße, und dann und wann einige Worte, mit denen der Reiter es aufzumuntern suchte. Mitten in dieser Finsterniß bedurfte es der äußersten Vorsicht, um nicht von dem Wege abzukommen; denn immer begleiteten diesen einzelne Teiche oder kleine Nebenarme des Obi.

Michael Strogoff trabte also möglichst schnell, aber immer mit größter Aufmerksamkeit weiter. Er verließ sich dabei nicht allein auf die große Schärfe seiner Augen, die auch die Finsterniß durchdrangen, sondern daneben auch auf die Klugheit seines Pferdes, dessen scharfen Spürsinn er kannte.

Eben war Michael Strogoff einmal abgestiegen, um sich über die genaue Richtung der Straße zu vergewissern, als er von Westen her ein verworrenes Geräusch zu vernehmen glaubte. Es klang wie entferntes Pferdegetrappel auf der trockenen Erde. Ohne Zweifel; ein bis zwei Werst weiter rückwärts hörte er die regelmäßigen Hufschläge von Pferden.

Michael Strogoff lauschte, das Ohr auf dem Boden, mit gespanntester Aufmerksamkeit.

»Das ist eine Reiterabtheilung, sagte er sich, welche auf der Straße von Omsk daherkommt. Sie scheint sich schnell zu bewegen, denn das Geräusch nimmt merkbar zu. Sind das nun Russen oder Tartaren?«

Michael Strogoff lauschte noch immer.

»Ja, ja, sprach er halblaut für sich, sie nähern sich in scharfem Trabe! Vor Ablauf von zehn Minuten müssen sie hier sein. Mein Pferd wird schwerlich mit ihnen Schritt halten können. Sind es Russen, so würde ich mich ihnen anschließen. Sind es Tartaren, so muß ich ihnen entweichen. Aber wie? Wo könnt‘ ich mich verbergen in dieser Steppe?«

Michael Strogoff sah sich forschend um, und sein scharfes Auge entdeckte eine bei der herrschenden Finsterniß kaum erkennbare dunklere Masse etwa hundert Schritt vor sich zur Linken der Straße.

»Da ist ein kleines Gehölz, sagte er. Wenn ich mich darin verberge, laufe ich zwar Gefahr, den Reitern in die Hände zu fallen, wenn sie es durchsuchen sollten. Indeß, ich habe keine Wahl. Da, in der Ferne kommen sie schon!«

Wenige Minuten später erreichte Michael Strogoff, sein Pferd am Zügel führend, ein kleines Gehölz von Lärchenbäumen, das einen Zugang von der Straße aus hatte. Vor und hinter demselben zog sie sich ganz frei von Bäumen zwischen den Löchern und Tümpeln hin, welche aus Stechginster und Haidekraut bestehende Gruppen von Zwergbäumen trennten. Zu beiden Seiten war das Terrain also völlig ungangbar und die Reiterschaar mußte zweifellos an dem kleinen Gehölz vorüber kommen, da sie offenbar der Hauptstraße nach Irkutsk folgte.

Michael Strogoff wand sich also zwischen diese Lärchenbäume hinein, bis er sich etwa nach vierzig Schritten von einem Wasserlauf aufgehalten sah, der den Hain im Halbkreise begrenzte.

Die Dunkelheit war hier aber eine so tiefe, daß Michael Strogoff nicht im Geringsten Gefahr lief entdeckt zu werden, wenn das Gehölz nicht ganz peinlich durchsucht wurde. Er führte sein Pferd also bis an jenes Wasser, band es daselbst an einen Baum und schlich sich selbst wieder an den Rand des Dickichts, um bestimmen zu können, wie er sich zu verhalten habe.

Kaum hatte er hinter einigen buschartigen Lärchen Platz genommen, als ihm ein Lichtschein in’s Auge fiel, aus dem da und dort einige glänzende Punkte in lebhafter Bewegung aufleuchteten.

»Wie? Fackeln!« murmelte er.

Schnell wich er wieder weiter zurück und schlüpfte wie ein Wilder geräuschlos in das Gebüsch, wo es am dichtesten war.

Bei ihrer Annäherung an das Gehölz nahmen die Pferde einen langsameren Schritt an. Recognoscirten die Reiter etwa die Straße, um sie in allen Einzelheiten genau kennen zu lernen?

Michael Strogoff mußte das befürchten und begab sich wenigstens bis nach dem steilen Uferrand jenes Wasserlaufs zurück, entschlossen, sich im Nothfalle auch hinein zu stürzen.

Als die Reiterschaar bei dem Gehölz ankam, machte sie Halt. Die Männer stiegen ab. Es mochten gegen fünfzig sein. Mehrere derselben trugen Fackeln, welche die Straße in weitem Umkreise beleuchteten.

An gewissen Vorbereitungen bemerkte Michael Strogoff zu seinem Glücke, daß es keineswegs in der Absicht der Berittenen liege, das Gehölz zu durchsuchen, sondern nur an dessen Rande zu bivouakiren, den Pferden einige Ruhe zu gönnen und den Mannschaften etwas Nahrung zu sich nehmen zu lassen.

Die abgezäumten Pferde begannen bald das saftige Gras abzuweiden, das hier den Boden bedeckte. Die Reiter selbst ließen sich längs der Straße nieder und vertheilten die Rationen aus ihren Fouragetaschen.

Michael Strogoff hatte seine vollkommene Kaltblütigkeit bewahrt. Er schlich wieder näher, erst um Etwas zu sehen, dann um womöglich einige Worte zu vernehmen.

Die hier gelagerte Reiterabtheilung kam von Omsk her. Sie bestand aus usbeckischen Soldaten, einer in der Tartarei vorherrschenden Race, deren Typus auf ihre Verwandtschaft mit den Mongolen hinweist. Diese wohlgebauten, alle über mittelgroßen Männer mit rohem, wildem Gesichtsausdrucke trugen auf dem Kopfe einen »Talpak«, eine Art Mütze aus schwarzem Schafpelz, und gelbe, hochschaftige Stiefeln, deren vordere Spitze aufgebogen war, wie man das an den Schuhen aus gewissen Perioden des Mittelalters zu sehen gewöhnt ist. Ihren Rock aus mit grobem Baumwollenstoffe gefüttertem Kattun umschloß ein Ledergürtel mit rother Stickerei. Als Vertheidigungswaffe führten sie einen Schild, als Angriffswaffen einen krummen Säbel, ein langes Dolchmesser und ein am Sattelknopfe hängendes Steinschloßgewehr. Ihre Schultern bedeckte noch ein Filzmantel in grellen Farben.

Die in voller Freiheit am Saume des Gehölzes grasenden Pferde waren von usbeckischer Race, ebenso wie ihre Reiter. Bei dem Scheine der Fackeln, die ein lebhaftes Licht durch die Aeste der Lärchen verbreiteten, konnte man das recht gut erkennen. Etwas kleiner als die Pferde der turkomanischen Race, aber ungemein kräftig und ausdauernd, sind diese doch als echte Vollblutthiere anzusehen, die eine andere Gangart als scharfen Trab oder Galop gar nicht zu kennen scheinen.

Die Abtheilung selbst führte ein »Pendja-Baschi«, d. h. ein Befehlshaber über fünfzig Mann, dem noch ein »Deh-Baschi«, ein Anführer von einer Rotte zu zehn Mann, untergeordnet war. Diese Officiere trugen Panzerhauben und Waffenröcke; außerdem bildeten kleine, am Sattelknopfe hängende Trompeten ihre verschiedene Gradauszeichnung.

Der Pendja-Baschi wollte seine von einem weiten Ritte ermüdeten Mannschaften etwas ausruhen lassen. Plaudernd und den »Beng« (d. i. ein Hanfblatt, der Hauptbestandtheil des »Haschich«, von dem die Asiaten einen so ausgedehnten Gebrauch machen), rauchend, gingen die beiden Officiere am Rande des Gehölzes so auf und ab, daß Michael Strogoff ihre Unterhaltung hören und auch die Worte verstehen konnte, da sie sich der tartarischen Sprache bedienten.

Schon die ersten Worte ihres Gesprächs erregten die Aufmerksamkeit Michael Strogoff’s im höchsten Grade.

Zu seinem Erstaunen war von ihm selbst die Rede.

»Jener Courier kann einen so großen Vorsprung vor uns unmöglich haben, sagte der Pendja-Baschi, und außerdem konnte er bestimmt keinen andern Weg einschlagen, als die Straße durch die Barabinen-Steppe.

– Wer weiß, ob er Omsk überhaupt verlassen hat? erwiderte der Deh-Baschi. Vielleicht hält er sich noch jetzt in irgend einem Hause der Stadt versteckt.

– Wahrlich, das wäre nur zu wünschen! Dann brauchte der Oberst Ogareff nicht zu fürchten, daß die Depeschen, deren Träger der Courier doch ohne Zweifel ist, an ihren Bestimmungsort gelangten!

– Man behauptet, Jener solle ein Landeskind, ein Sibirier sein, fuhr der Deh-Baschi fort. Als solchen muß ihm wohl die Provinz bekannt sein und er konnte recht wohl von der Landstraße nach Irkutsk abweichen in der Rechnung, sie erst später wieder aufzusuchen.

– Dann wären wir ihm aber voraus, antwortete der Pendja-Baschi, denn wir haben Omsk kaum eine Stunde nach seiner Abreise aus der Stadt ebenfalls verlassen und sind bei der größten Schnelligkeit der Pferde dem kürzesten Wege gefolgt. Ob er also in Omsk ganz zurück geblieben oder wir vor ihm in Tomsk ankommen, um ihm den Weg zu verlegen, jedenfalls wird er Irkutsk nicht zu erreichen vermögen.

– Eine derbe Frau übrigens, jene alte Sibirierin, die offenbar seine Mutter ist!« bemerkte der Deh-Baschi.

Bei diesen Worten klopfte Michael Strogoff’s Herz, als wollte es springen.

»Ja wohl, erwiderte der Pendja-Baschi, sie versuchte es zwar abzuleugnen, daß dieser vermeintliche Kaufmann ihr Sohn sei, aber es gelang ihr nicht. Der Oberst Ogareff hat sich dadurch nicht täuschen lassen, denn er sprach es wenigstens aus, er werde die alte Hexe zur passenden Zeit schon zum Geständnis der Wahrheit zu bringen wissen.«

So viele Worte, so viele Dolchstiche waren das für Michael Strogoff. Er war also sicher als Courier des Czaar erkannt. Eine zu seiner Verfolgung ausgesendete Reiterabtheilung mußte ihm unfehlbar den Weg verlegen! Dazu befand sich, zu seinem tiefsten Schmerze, seine Mutter in der Gewalt der Tartaren, und der grausame Ogareff rühmte sich, er werde sie zum Sprechen zu bringen wissen, wenn es ihm beliebte.

Michael Strogoff wußte recht gut, daß die energische Sibirierin Nichts aussagen und daß ihr diese Weigerung jedenfalls das Leben kosten werde! …

Michael Strogoff glaubte zwar, daß er Iwan Ogareff niemals mehr zu hassen im Stande sei, als er ihn bis jetzt gehaßt habe, und doch drang ihm auf’s Neue ein bitteres Gefühl des Hasses in’s Herz. Der Schurke, der sein Vaterland verrieth, drohte nun auch noch seine alte Mutter zu foltern!

Das Gespräch der beiden Officiere dauerte noch länger fort, und Michael Strogoff glaubte zu verstehen, daß in der Umgebung von Kolywan ein Zusammenstoß zwischen den von Norden herabziehenden russischen Truppen und den Tartarenhorden zu erwarten sei. Ein schwaches russisches Corps von 2000 Mann näherte sich, den vom unteren Obi eingegangenen Nachrichten zufolge, in Eilmärschen der Stadt Tomsk. Wenn sich das bestätigte, so mußte jenes Corps, welches von der Hauptmacht des Heeres unter Feofar-Khan aufgefangen wurde, ohne Zweifel vernichtet werden, und dann gehörte die Straße nach Irkutsk unbestritten den frechen Feinden.

Seine eigene Person betreffend entnahm Michael Strogoff aus einigen Aeußerungen des Pendja-Baschi, daß auf seinen Kopf ein Preis gesetzt und Befehl ergangen sei, ihn lebend oder todt einzuliefern.

Daraus ergab sich aber die Notwendigkeit, den usbeckischen Reitern zuvor zu kommen und auf der Straße nach Irkutsk den Obi zwischen den Courier und seine Verfolger zu bringen. Zur Erreichung dieser Absicht mußte er aber vor Aufhebung des Bivouaks zu entkommen suchen.

Michael Strogoff bereitete sich sofort, diesen Entschluß auszuführen.

Die Rast konnte unmöglich lange währen, und dem Pendja-Baschi durfte es kaum beikommen, seinen Leuten mehr als eine Stunde Ruhe zu gönnen, obwohl ihre seit dem Aufbruche aus Omsk sicherlich nicht gegen frische verwechselten Pferde gewiß in demselben Maße und aus denselben Gründen erschöpft sein mußten, wie das Reitpferd Michael Strogoff’s.

Er hatte also keinen Augenblick zu verlieren. Es war jetzt um ein Uhr Morgens. Er mußte sich die Dunkelheit, welche bald der Morgenröthe zu weichen drohte, zu Nutze machen, um das kleine Gehölz wieder zu verlassen und die Straße zu gewinnen; doch trotz der Begünstigung durch die dunkle Nacht erschien der Erfolg einer solchen Flucht doch im höchsten Grade unsicher.

Um Nichts vom blinden Zufall abhängig zu machen, nahm sich Michael Strogoff Zeit zu überlegen und erwog sorgsam die Aussichten für und wider, um einen Entschluß zu fassen, der ihm noch die besten bot.

Aus den örtlichen Verhältnissen ergab sich Folgendes: An der der Straße entgegen gesetzten Seite des Gehölzes vermochte er nicht zu entweichen, denn um die Bogenlinie der Lärchenbäume, deren Sehne eben die Landstraße darstellte, lief jener nicht nur tiefe, sondern auch breite und schlammige Wasserarm. Große Stechginstern machten ein Passiren desselben fast zur Unmöglichkeit. Unter der schäumenden Wasserfläche befand sich offenbar eine steile Vertiefung, in der der Fuß keinen Stützpunkt finden würde. Außerdem erschien das Land jenseit des Wasserlaufs mit seinen zerstreuten Gebüschen für eine eilige Flucht auch mehr als ungeeignet. Erweckte er einmal die Aufmerksamkeit, so wurde Michael Strogoff gewiß mit Aufwendung aller Mittel und Kräfte verfolgt, eingeschlossen und zuletzt von den tartarischen Reitern gefangen.

Es gab für ihn also nur einen einzigen benutzbaren Weg, einen einzigen, die große Landstraße. Diese zu erreichen, indem er am Rande des Hölzchens hinschlich, und ohne die Aufmerksamkeit seiner Feinde zu erwecken, wenigstens eine Viertelwerst Vorsprung zu gewinnen, den letzten Rest der Kraft und Schnelligkeit seines Pferdes zu benutzen, und sollte es am Ufer des Obi auch todt zusammenbrechen, diesen bedeutenden Strom mittels eines Bootes zu überfahren, oder wenn es an jederlei Transportmittel mangeln sollte, zu durchschwimmen, – das war es, was Michael Strogoff versuchen und wagen mußte.

Seine Thatkraft, sein Muth verzehnfachte sich im Angesicht der Gefahr. Es handelte sich um sein Leben, um seinen Auftrag, um die Ehre seines Landes, vielleicht um das Wohl seiner Mutter. Er konnte nicht zögern, er ging an’s Werk.

Er hatte nun keinen Augenblick mehr zu verlieren. Schon entstand wieder einige Bewegung unter den Mannschaften der Abtheilung. Einige Reiter gingen auf der Straße, an dem Saume des Wäldchens hin und her. Die Andern lagen noch am Fuße der Bäume ausgestreckt, aber ihre Pferde fanden sich nach und nach wieder zusammen.

Erst kam Michael Strogoff der Gedanke, sich eines dieser Pferde zu bemächtigen, aber er sagte sich doch, daß diese nicht minder erschöpft sein müßten, als das seinige. Es schien ihm also gerathener, sich dem Thiere anzuvertrauen, dessen er sicher war und das ihm bis hierher so vortreffliche Dienste geleistet hatte. Das muthige Thier entging, verdeckt von hohem Haidekraute, glücklich den Blicken der Tartaren. Diese selbst drangen ja auch gar nicht in die Tiefe des Hölzchens ein.

Auf dem Boden hinkriechend, näherte sich Michael Strogoff seinem Pferde, das sich gelagert hatte. Er streichelte es mit der Hand, sprach ihm leise freundlich zu und brachte es geräuschlos wieder auf die Füße.

Eben jetzt verlöschten zu Michael Strogoffs Glück die völlig niedergebrannten Fackeln, und es herrschte, mindestens unter den Gipfeln der Lärchenbäume, die dichteste Finsterniß.

Nachdem Michael Strogoff das Gebiß wieder eingelegt, den Sattelgurt festgeschnallt und die Riemen der Steigbügel geprüft halte, begann er sein Pferd langsam am Zügel fortzuziehen. Uebrigens folgte das intelligente Thier, so als verstände es, was man von ihm wolle, willig seinem Herrn, ohne nur ein einziges Mal zu wiehern.

Dennoch hoben einige usbeckische Pferde neugierig die Köpfe und wandten sich dem Rande des Gehölzes zu.

In der rechten Hand hielt Michael Strogoff seinen Revolver, bereit, dem ersten tartarischen Reiter, der sich nähern würde, den Kopf zu zerschmettern. Glücklicher Weise hörte er aber keinen Weckruf und konnte den rechts auslaufenden Winkel des Wäldchens, da wo dieser an die Straße herantrat, erreichen.

Um womöglich nicht gesehen zu werden, beabsichtigte Michael Strogoff sich erst so spät als möglich in den Sattel zu schwingen, und jedenfalls erst, nachdem er über eine Wendung des Weges, die sich etwa 200 Schritte jenseit des Gehölzes befand, hinter sich haben würde.

Zum Unglück aber witterte ihn, als Michael Strogoff eben den Waldrand überschritt, das Roß eines Usbeck, wieherte und trabte auf ihn zu.

Sein Reiter lief ihm nach, es zurück zu führen, als er aber beim ersten schwachen Tagesgrauen ein unerwartetes Schattenbild bemerkte, rief er laut:

»Achtung!«

Auf diesen Ruf erhob sich die ganze Mannschaft des Bivouaks und stürzte hervor auf die Straße.

Michael Strogoff hatte sich nur in den Sattel zu schwingen und im Galop davon zu jagen.

Die beiden Officiere des Detachements hatten sich an die Spitze ihrer Leute gestellt und trieben diese an, sich schnell fertig zu machen.

Jetzt saß Michael Strogoff schon auf dem Pferde.

Da krachte ein Schuß und eine Kugel durchlöcherte den Mantel des Couriers.

Ohne den Kopf zu wenden und ohne den Angriff zu erwidern, gab er beide Sporen, erreichte mit einem kühnen Sprunge vom Waldrande aus die Straße und jagte mit verhängtem Zügel in der Richtung nach dem Obi davon.

Die usbeckischen Pferde waren abgezäumt worden, er mußte also vor den Reitern des Detachements einigen Vorsprung gewinnen können; freilich beeilten auch diese sich, ihm nachzusetzen, und wirklich hörte er, kaum zwei Minuten nachdem er das Hölzchen verlassen, die schnellen Tritte mehrerer Pferde, welche ihm nach und nach näher kamen.

Schon begann es im Osten zu tagen und deutlicher traten in einem weiteren Umkreise alle Gegenstände hervor.

Michael Strogoff sah, als er sich einmal umwendete, daß ein Reiter ihn besonders schnell einzuholen drohte.

Es war der Deh-Baschi. Dieser vorzüglich berittene Officier sprengte der ganzen Abtheilung voraus und mußte den Flüchtling bald erreichen.

Ohne anzuhalten schlug Michael Strogoff mit gewohnter sicherer Hand den Revolver auf ihn an, zielte einen Augenblick, und mitten in die Brust getroffen sank der Officier vom Pferde.

Aber die andern Reiter folgten ihm auf dem Fuße nach, und ohne sich wegen ihres gefallenen Führers aufzuhalten, sausten sie unter wildem Rachegeschrei, die Sporen fest in die Flanken der Pferde gedrückt, weiter, und mehr und mehr verminderte sich die Distanz zwischen ihnen und Michael Strogoff.

Etwa eine halbe Stunde lang vermochte sich Letzterer außerhalb der Tragweite ihrer Schießwaffen zu halten, aber er bemerkte leider, daß die Kräfte seines Pferdes nun zu Ende gingen, und fürchtete mit Recht, daß dieses, wenn es gegen irgend ein Hinderniß stieße, stürzen würde, um nicht wieder aufzustehen.

Jetzt war es schon ziemlich tageshell geworden, wenn auch die Sonne noch nicht über dem Horizonte stand.

In einer Entfernung von etwa zwei Werst schlängelte sich eine durch Bäume begrenzte hellere Linie hin.

Das war der Obi, der fast im gleichen Niveau mit dem Erdboden von Südwesten nach Nordosten dahinfloß und als dessen Thalbett man füglich die ganze umgebende Steppe ansehen mußte.

Wiederholt knatterten die Gewehre hinter Michael Strogoff her, ohne daß eine Kugel ihn verletzte, und mehrmals mußte auch er gegen Reiter, die ihm zu gefährlich nahe kamen, von seinem Revolver Gebrauch machen. Jedesmal rollte ein Usbeck, unter dem Wuthgeheul seiner Kameraden, schwerverwundet in den Sand.

Trotz alledem konnte diese Hetzjagd endlich nur zum Nachtheil Michael Strogoff’s ausfallen. Sein Pferd keuchte athemlos und bis zum Tode erschöpft, doch gelang es ihm noch, dasselbe bis an das Flußufer zu treiben.

Die Abtheilung Usbecks befand sich jetzt kaum noch fünfzig Schritte hinter ihm.

Auf dem vollständig verlassenen Obi erblickte er weder eine Fähre, noch ein Fahrzeug, die zum Uebersetzen über den Strom hätten dienen können.

»Jetzt Muth, mein wackres Roß! rief Michael Strogoff. Vorwärts! Jetzt gilt’s die letzte Anstrengung!«

Er stürzte sich in den Fluß, dessen Breite hier wohl eine halbe Werst betragen mochte.

Gegen die rasche Strömung war nur schwer anzukämpfen. Michael Strogoff’s Pferd konnte nirgends Fuß fassen. Ohne jeden Stützpunkt mußte es die brausend schnell dahinziehenden Wellen also nur durchschwimmen. Ein Wunder von Muth gehörte für Michael Strogoff dazu, diesem Wasserschwalle zu trotzen.

Die Reiter hatten am Ufer des Stromes Halt gemacht; sie zauderten, sich ebenfalls in denselben nachzustürzen.

In diesem Augenblick aber ergriff der Pendja-Baschi sein Gewehr und zielte sorgfältig auf den Flüchtling, der sich schon in der Mitte der Strömung befand. Der Schuß krachte, und tödtlich in der Flanke getroffen versank das Pferd Michael Strogoff’s unter seinem Reiter.

Noch zeitig genug befreite sich dieser aus den Steigbügeln, eben als sein treues Thier unter den Wellen des Flusses verschwand. Endlich gelangte er unter fortwährendem Niedertauchen und nur auf Augenblicke an der Oberfläche Athem schöpfend trotz des nachgesendeten Kugelregens glücklich an das rechte Flußufer und verschwand hinter den Gebüschen, die sich längs des Obirandes hinzogen.

Siebenzehntes Capitel

Siebenzehntes Capitel

Bibelsprüche und Liederverse

Michael Strogoff befand sich einigermaßen in Sicherheit; immerhin war seine Lage noch eine schreckliche.

Jetzt, da das treue Thier, das ihm bis hierher so muthig gedient, in den Wellen des Stromes den Tod gefunden hatte, wie sollte er seine Reise fortsetzen können?

Er war zu Fuß, ohne Lebensmittel, in einem durch die Empörung verwüsteten, durch die Plänkler des Emir schon ausgesaugten Lande und dabei noch eine große Strecke von dem Ziele, das er erreichen mußte, entfernt.

»Bei Gott, ich komme doch noch dahin! rief er wie als Antwort auf alle Einwände der Ohnmacht, die in seinem Geiste einen Augenblick aufstiegen. Der Herr schützt das heilige Rußland!«

Michael Strogoff befand sich jetzt außerhalb des Bereichs der usbeckischen Reiter. Diese hatten nicht gewagt, ihn durch den Fluß weiter zu verfolgen, und mußten auch annehmen, daß er ertrunken sei, da sie ihn nach dem letzten Verschwinden unter dem Wasser am rechten Ufer des Obi nicht wieder auftauchen sahen.

Aber Michael Strogoff erreichte, unter dem mannshohen Schilfe des Ufers hinschlüpfend eine höhere Stelle des Abhanges, wenn auch nur mit großer Mühe, da ein tiefer, von dem Austreten des Stromes zurückgebliebener Schlamm seinen Weg sehr schlüpfrig machte.

Als er festen Grund und Boden unter sich fühlte, hielt Michael Strogoff an und überlegte, was nun zu thun sei. Vor Allem war er mit sich darüber einig, Tomsk, das von tartarischen Truppen besetzt war, bestimmt zu vermeiden. Dennoch mußte er einen bewohnten Ort, mindestens ein Postrelais zu treffen suchen, um sich daselbst wieder ein paar Pferde zu verschaffen. Mit diesen wollte er sich außerhalb der besetzten Wege halten und die Straße nach Irkutsk erst in der Gegend von Krasnojarsk wieder einschlagen. Wenn er sich beeilte, durfte er hoffen, den Weg noch frei zu finden, so daß er nach dem Südosten der Provinzen am Baïkalsee herabgelangen konnte.

Zunächst begann Michael Strogoff sich zu orientiren.

Zwei Werst vor ihm längs des Obi erhob sich eine kleine Stadt in pittoresken Stufen auf einem leichten Landrücken. Einige Kirchen mit byzantinischen, grün und goldig verzierten Kuppeln zeichneten sich am grauen Himmelsgrunde ab.

Das war Kolywan, wohin die niederen und höheren Beamten aus Kamsk und anderen Städten sich zu wenden pflegen, um dem ungesunden Klima der Barabinen-Steppe zu entfliehen. Kolywan konnte nach den letzten Berichten, die der Courier des Czaar vernommen hatte, noch nicht in den Händen der Eindringlinge sein. Die in zwei Colonnen einherziehenden Tartarenhaufen hatten sich links nach Omsk, rechts nach Tomsk gewendet, das Land in der Mitte aber frei liegen lassen.

Das einfache und logische Project, das Michael Strogoff entwarf, bestand darin, Kolywan vor den usbeckischen Reitern, die dem linken Ufer des Flusses folgten, zu erreichen. Dort wollte er sich, und wäre es auch um den zehnfachen Preis, Kleider und ein Pferd verschaffen und den Weg nach Irkutsk durch die innere Steppe wieder einschlagen. Es war drei Uhr Morgens. Die zur Zeit noch ganz ruhigen Umgebungen von Kolywan schienen vollkommen verlassen. Offenbar hatte sich die Landbevölkerung auf der Flucht vor dem Einfall, dem sie keinen Widerstand entgegen zu setzen vermochte, mehr nach Norden in das Gouvernement Jeniseïsk zurückgezogen.

Michael Strogoff wandte sich demnach raschen Schrittes nach Kolywan, als entfernte Detonationen an sein Ohr schlugen.

Er stand still und unterschied deutlich ein dumpfes Rollen, welches die Luftschichten erschütterte, und dazu ein trockenes Knattern, über dessen Natur er sich nicht täuschen konnte.

»Das ist Kanonendonner! Das ist Gewehrfeuer!« sprach er für sich. Das kleine russische Corps ist also mit der Tartarenarmee zusammengetroffen! O gebe der Himmel, daß ich vor ihnen in Kolywan ankomme!«

Michael Strogoff täuschte sich nicht. Bald wurden die Detonationen deutlicher, und weiter rückwärts, links von Kolywan, lagerten sich weiße Dämpfe unten am Horizonte, keine Rauchwolken, sondern jene dichten, scharf abgegrenzten Dampfwolken, wie sie das Feuer der Artillerie erzeugt.

Am linken Ufer des Obi hatten die usbeckischen Reiter Halt gemacht, um den Ausgang der Schlacht abzuwarten.

Von dieser Seite hatte Michael Strogoff also nichts zu fürchten und beeilte deshalb seinen Marsch nach der Stadt.

Inzwischen wurde der Kanonendonner stärker und näherte sich merklich. Es war kein verschwimmendes Rollen mehr, sondern eine Folge deutlich unterscheidbarer Donnerschläge. Gleichzeitig erhob sich der vom Winde entführte Dampf in die Luft, und man erkannte, daß die Kämpfer im Süden offenbar an Terrain gewannen. Kolywan war somit einem Angriff von der Westseite ausgesetzt. Vertheidigten es aber die Russen gegen die Tartarenhorden oder suchten sie es den Soldaten des Feofar-Khan wieder zu entreißen? Das ließ sich für jetzt unmöglich erkennen und setzte Michael Strogoff in nicht geringe Verlegenheit.

Nur eine halbe Werst von Kolywan befand er sich, als ein hoher Feuerstrahl mitten aus den Häusern der Stadt aufleuchtete und der Thurm einer Kirche unter einem Wirbel von Staub und Flammen zusammenbrach.

Tobte der Streit schon in Kolywan? Michael Strogoff mußte es wohl glauben; in diesem Falle kämpften die Russen und Tartaren also in den Straßen der Stadt. Bot sie ihm jetzt noch eine Zuflucht? Lief Michael Strogoff nicht Gefahr, daselbst gefangen zu werden, und durfte er hoffen, daß es ihm gelingen werde, aus Kolywan ebenso glücklich zu entfliehen, wie vorher aus Omsk?

Alle diese Gedanken flogen durch seinen Kopf. Er zauderte; er stand einen Augenblick still.

Erschien es nicht besser, sich zu Fuß nach Süden oder Osten, bis zu irgend einem Flecken, vielleicht nach Diahinsk oder einem andern, durchzuschlagen, und sich dort um jeden Preis ein Pferd zu verschaffen?

Jedenfalls war das der einzige Ausweg, und sofort wandte sich Michael Strogoff, indem er das Ufer des Obi verließ, nach der rechten Seite von Kolywan.

Gerade jetzt krachten die Geschütze lauter als je. Bald züngelten Flammen an der rechten Seite der Stadt in die Höhe; die Feuersbrunst ergriff ein ganzes Stadtviertel von Kolywan.

Michael Strogoff lief, was er laufen konnte, quer durch die Steppe und suchte den Schutz einiger Bäume zu erlangen, welche da und dort verstreut standen, als eine Abtheilung tartarischer Cavallerie auf dem rechten Stromufer erschien.

Michael Strogoff konnte seine Flucht in der vorigen Richtung nicht mehr fortsetzen; die Reiter sprengten auf die Stadt zu, und es wäre ihm schwer geworden, ihnen zu entgehen.

Da bemerkte er neben einem kleinen, aber dichten Gebüsch ein isolirtes Häuschen, das er wohl zu erreichen hoffen durfte, bevor jene ihn sahen.

Michael Strogoff hatte nichts Anderes zu thun, als dort hin zu eilen, sich daselbst zu verstecken, um Etwas zu bitten, nöthigenfalls sich anzueignen, womit er seine Kräfte wieder herstellen könnte, denn er war nun wirklich erschöpft von Hunger und Strapazen.

Er stürzte also auf dieses höchstens eine halbe Werst entfernte Häuschen zu. Näher gekommen sah er erst, daß dieses Gebäude ein Telegraphenbureau war. Zwei Drähte liefen davon nach Osten und Westen aus und ein dritter Draht war in der Richtung nach Kolywan gespannt.

Wohl hätte man voraussetzen können, daß dieses Bureau unter den jetzigen Verhältnissen verlassen sei, doch mochte dem sein wie ihm wollte, Michael Strogoff konnte dahin fliehen, im Nothfalle die Nacht abwarten und sich dann wieder in die Steppe hinaus wagen, welche die tartarischen Plänkler durchirrten.

Michael Strogoff eilte geraden Wegs auf die Thür des Hauses zu und stieß sie schnell und heftig auf.

Eine einzige Person befand sich in dem Zimmer, in dem die Telegraphenleitungen zusammenliefen.

Es war ein Beamter, der in seiner Ruhe, in seinem Phlegma sich nicht um das Geringste kümmerte, was in der Außenwelt vorging. Treu auf seinem Posten ausharrend, wartete er, daß das Publicum seine Dienste in Anspruch nehme.

Michael Strogoff rannte auf ihn zu und fragte mit vor Erschöpfung gebrochener Stimme: »Was wissen Sie Neues?

– Ei nichts, erwiderte der Beamte lächelnd.

– Es sind doch Russen und Tartaren handgemein geworden?

– Man sagt es.

– Aber wer ist Sieger?

– Das weiß ich selbst nicht.«

So viel Gemüthlichkeit unter so schrecklichen Verhältnissen, so viel Indifferenz erschien doch kaum glaublich. »Und der Draht ist noch nicht zerschnitten? fragte Michael Strogoff.

– Zwischen Kolywan und Krasnojarsk ist die Leitung zerstört, sie functionirt aber noch zwischen Kolywan und der russischen Grenze.

– Für die Regierung?

– Für die Regierung, wenn sie es für nöthig erachtet, für das Publicum, wenn dasselbe zahlt. Das Wort kostet zehn Kopeken. Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr?«

Michael Strogoff wollte eben diesem Beamten ohne Gleichen antworten, daß er keine Depesche abzusenden habe, sondern nur gekommen sei, um etwas Brod und Wasser zu erbitten, als die Thür des Hauses wieder hastig aufgerissen wurde.

Michael Strogoff bereitete sich schon, in dem Glauben, das Haus sei von Tartaren überfallen, zu einem Sprunge durch das Fenster, als er noch sah, daß nur zwei einzelne Männer in den Raum eintraten, die tartarischen Soldaten nicht im Geringsten ähnelten.

Mit einem leicht erklärlichen Erstaunen erkannte Michael Strogoff in diesen zwei Männern zwei Persönlichkeiten wieder, an die er jetzt nicht im Entferntesten dachte und die er überhaupt niemals wieder zu sehen geglaubt hatte.

Es waren die beiden Berichterstatter Harry Blount und Alcide Jolivet, jetzt keine Reisegefährten mehr, sondern Rivalen, ja Feinde, seitdem sie ihre Thätigkeit auf dem Kriegsschauplatze begannen.

Ischim verließen sie seiner Zeit nur wenige Stunden nach Michael Strogoff’s Weiterreise, und wenn sie auf derselben Straße Kolywan vor ihm erreichten, ja, ihn selbst unterwegs überholten, so kam das daher, daß Michael Strogoff am Ufer des Irtysch drei Tage eingebüßt hatte.

Jetzt, nach Beobachtung des Kampfes zwischen den russischen und tartarischen Truppen dicht vor der Stadt, hatten sie Kolywan in dem Augenblicke verlassen, als der Streit sich in die Straßen der Stadt hinein fortsetzte, waren nach der Telegraphenstation gelaufen, um ihre rivalisirenden Depeschen nach Europa abzulassen und Einer dem Andern die erste Meldung der Tagesereignisse streitig zu machen.

Michael Strogoff trat etwas bei Seite an eine dunklere Stelle und konnte von hier aus, ohne selbst gesehen zu werden, Alles sehen und hören. Jedenfalls durfte er auf wichtige Neuigkeiten hoffen, um ans diesen abnehmen zu können, ob er sich nach Kolywan hinein wagen dürfe oder nicht.

Harry Blount, der sich noch mehr beeilte, als sein College, hatte den Platz am Schalter eingenommen, während Alcide Jolivet ganz gegen seine Gewohnheit ungeduldig mit den Füßen stampfte.

»Jedes Wort kostet zehn Kopeken«, sagte der Beamte, die Depesche entgegen nehmend.

Harry Blount stapelte auf einer Zähltafel eine kleine Säule Rubel auf, die sein College mit einer gewissen Verwunderung betrachtete.

»Schön, schön«, sagte der Beamte.

Und mit der unerschütterlichsten Kaltblütigkeit der Welt begann er folgende Depesche abzutelegraphiren:

»Daily-Telegraph, London.

»Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August.

»Gefecht zwischen russischen Truppen und Tartaren …«

Da die Worte laut vorgelesen wurden, hörte Michael Strogoff auch Alles, was der englische Correspondent seinem Journale mittheilte.

»Die russischen Truppen mit großen Verlusten zurückgedrängt. Tartaren an demselben Tage in Kolywan eingezogen …«

Diese Worte beendigten die Depesche.

»Nun ist die Reihe an mir, rief Alcide Jolivet, der eine an seine Cousine im Faubourg Montmartre adressirte Depesche aufgeben wollte.«

Das wollte aber dem englischen Reporter keineswegs passen; denn dieser dachte gar nicht daran, den Schalter zu verlassen, um alle Ereignisse, die er von hier aus etwa noch beobachten konnte, sofort nach Hause berichten zu können. Er machte also seinem Gefährten nicht Platz.

»Sie sind aber doch fertig! … rief Alcide Jolivet.

– Ich bin noch nicht zu Ende«, antwortete einfach Harry Blount.

Er schrieb sofort eine Reihe Worte auf, die er dem Beamten übergab, welcher sie mit stets gleichmäßig ruhiger Stimme durchlas:

»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde! …«

Es waren die ersten Verse aus der Bibel, welche Harry Blount telegraphirte, um die Zeit auszufüllen und seinem Collegen gegenüber den einmal eingenommenen Platz zu behaupten. Dieser Ausweg kostete seinem Journal vielleicht einige tausend Rubel, aber es erhielt dafür auch die allerersten Berichte. Frankreich konnte warten!

Man begreift wohl den Aerger und die Wuth Alcide Jolivet’s. Unter allen anderen Verhältnissen hätte er zwar begriffen, daß dieses Verfahren ein gesetzlich vollkommen begründetes war, jetzt suchte er aber den Beamten womöglich zu nöthigen, daß er seiner Depesche vor der Fortsetzung der seines Collegen den Vorzug gebe.

»Der Herr ist in seinem Recht«, bedeutete ihn ruhig der Beamte, indem er auf Harry Blount wies und ihm liebenswürdig zulächelte.

Und er fuhr pflichtgetreu fort, an den Daily-Telegraph den ersten Vers der heiligen Schrift zu telegraphiren.

Während der Manipulationen an den Apparaten begab sich Harry Blount ruhig an’s Fenster und beobachtete mit einem Fernglase, was etwa um Kolywan vorging, um seine Berichte zu vervollständigen.

Einige Augenblicke später nahm er seinen Platz am Schalter wieder ein und fügte seinem Telegramm hinzu:

»Zwei Kirchen stehen in Flammen. Die Feuersbrunst scheint sich nach dem rechten Flußufer zu auszubreiten. Und die Erde war wüste und leer und es war finster auf der Tiefe …«

In Alcide Jolivet stieg eine höllische Lust auf, den ehrenwerthen Correspondenten des Daily-Telegraph einfach zu erwürgen.

Wiederholt interpellirte er den Beamten, der ihm stets mit der nämlichen Ruhe die Antwort gab:

»Der Herr ist in seinem Recht, vollkommen in seinem Recht … Das Wort kostet zehn Kopeken.«

Und unverdrossen telegraphirte er die folgende Neuigkeit, die ihm Harry Blount brachte.

»Russische Flüchtlinge drängen sich aus der Stadt. Und Gott sprach, es werde Licht und es ward Licht! …«

Alcide Jolivet wollte buchstäblich vor Wuth bersten.

Inzwischen war Harry Blount wieder zum Fenster zurückgekehrt, zog aber seine Beobachtung, wahrscheinlich gefesselt von Interesse an dem Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte, etwas zu sehr in die Länge. Sobald der Telegraphist also den dritten Vers der Bibel abgesendet hatte, nahm Alcide Jolivet geräuschlos am Schalter Platz und übergab, nach Deponirung einiger recht anständiger Rubelrollen, seine Depesche dem Beamten, der sie wiederum mit lauter Stimme verlas:

»Madeleine Jolivet,

»10, Faubourg Montmartre (Paris).

»Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August.

»Flüchtlinge entweichen aus der Stadt. Die Russen geschlagen. Heftige Verfolgung durch die tartarische Cavallerie …«

Und als Harry Blount nach dem Schalter zurückkehrte, vernahm er nur, wie Alcide Jolivet sein Telegramm in halb singendem, lustigem Tone vervollständigte:

»Es ist ein kleines Männchen,
Gekleidet ganz in Grau,
In Paris! ….«

Da er es für unpassend hielt, Profanes und Heiliges unter einander zu mengen, so benutzte er den Refrain eines lustigen Liedes Béranger’s an Stelle der Bibelverse.

»Oha! platzte Harry Blount heraus.

– Ja ja, so geht’s«, erwiderte lachend Alcide Jolivet.

Inzwischen gestalteten sich die Verhältnisse in den Umgebungen Kolywans immer bedrohlicher. Die Schlacht wälzte sich näher heran, der Geschützdonner krachte immer entsetzlicher.

Da erzitterte plötzlich das ganze Telegraphenamt in allen Fugen.

Eine Granate hatte die Mauer durchschlagen und eine dichte Staubwolke erfüllte den ganzen Raum.

Alcide Jolivet schrieb erst noch folgende Zeilen vollends nieder:

»Bausbäckig, wie ein Apfel,
Doch ohn‘ ein’n Heller Geld …«

Dann hielt er inne, stürzte auf die Granate zu, erfaßte sie noch vor der Explosion derselben mit beiden Händen, warf sie zum Fenster hinaus und trat wieder an den Schalter – Alles das Werk eines Augenblicks.

Fünf Sekunden später zersprang die Granate vor dem Hause in tausend Stücke.

Alcide Jolivet ließ sich im weiteren Aussetzen seines Telegramms gar nicht stören und fügte dem völlig ruhig und kaltblütig hinzu:

»Eine sechspfündige Granate schlug soeben durch die Mauer des Telegraphenamtes. In Erwartung noch weiterer von gleichem Kaliber …«

Michael Strogoff schwand jeder Zweifel, daß die Russen aus Kolywan vertrieben seien. Sein einziger Ausweg blieb es also, sich durch die südliche Steppe zu wagen.

Da knatterte eine furchtbare Gewehrsalve nahe dem Telegraphenamte und ein Hagelschauer von Kugeln zersplitterte die Fensterscheiben.

An der Schulter getroffen fiel Harry Blount zur Erde.

Alcide Jolivet eilte, seiner Depesche noch einen Anhang hinzuzufügen.

»Harry Blount, Correspondent des Daily-Telegraph, an meiner Seite von einer Kugel getroffen …«

Da unterbrach ihn der kaltblütige Beamte und sagte mit seiner unerschütterlichen Ruhe:

»Mein Herr, die Leitung ist unterbrochen.«

Den Schalter schließend griff er ganz ruhig nach seinem Hute, bürstete ihn sorgfältig mit dem Ellbogen und verließ, immer lächelnd, das Haus durch eine kleine Nebenthür, welche Michael Strogoff bis dahin entgangen war.

Das Gebäude ward unmittelbar darauf von tartarischen Truppen besetzt, so daß weder Michael Strogoff noch die beiden Journalisten ihren Rückzug zu bewerkstelligen vermochten.

Mit seiner nun zwecklosen Depesche in der Hand eilte Alcide Jolivet zu dem auf dem Boden liegenden Harry Blount und gab sich Mühe, letzteren auf die Schultern zu nehmen in der Absicht, mit ihm zu entkommen. … Zu spät!

Beide wurden gefangen und gleichzeitig mit ihnen fiel Michael Strogoff, als er sich eben anschickte, zu einem Fenster hinaus zu springen, in die Hände der Tartaren!

*

Ende des ersten Bandes.

Viertes Capitel

Viertes Capitel

Von Moskau nach Nishny-Nowgorod

Die Entfernung, welche Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (= 5523 Kilom.). Als noch kein Telegraphendraht den Zwischenraum zwischen den Bergen des Ural und der Ostküste Sibiriens überspannte, wurde der Depeschendienst durch Couriere versehen, deren schnellster mindestens achtzehn Tage bedurfte, um sich von Moskau nach Irkutsk zu begeben. Das war aber nur eine Ausnahme und dauerte die Reise durch das asiatische Rußland gewöhnlich vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel den Abgesandten des Czaaren zur Verfügung gestellt wurden.

Als ein Mann, der weder Frost noch Schnee fürchtete, hätte es Michael Strogoff vorgezogen, während der rauhen Winterszeit zu reisen, welche es erlaubt, die ganze Strecke zu Schlitten zurückzulegen. Dann sind alle Schwierigkeiten, mit denen man sonst des Fortkommens wegen zu kämpfen hat, bei der Nivellirung der endlosen Steppen durch den Schnee, merklich vermindert. Kein Wasserlauf tritt hindernd in den Weg. Ueberall die glatte Eisfläche, auf welcher der Schlitten leicht und schnell dahin gleitet. Zwar sind zu dieser Zeit gelegentlich wohl verschiedene Naturerscheinungen zu fürchten, wie andauernde, dicke Nebel, sehr strenge Kälte, lange andauerndes, furchtbares Schneetreiben, dessen Wirbel manchmal ganze Karawanen verwehen und begraben. Es kommt wohl auch vor, daß von Hunger gequälte Wölfe die Ebenen zu Tausenden bedecken. Doch immer wäre es noch besser gewesen, sich diesen Gefahren auszusetzen, denn bei solch‘ hartem Winter mußten die tartarischen Eindringlinge sich vorzugsweise in den Städten aufhalten, ihre Marodeure hätten die Steppen nicht unsicher gemacht, jede Truppenbewegung wäre unausführbar gewesen und Michael Strogoff leichter hindurch gekommen. Indeß er konnte weder Zeit noch Stunde selbst wählen. Wie auch die Umstände lagen, er mußte sie hinnehmen und abreisen.

Derart war also die Lage, welche Michael Strogoff klar überschaute, und er richtete sich darauf ein, sich mit ihr abzufinden.

Dazu kamen ihm nicht die gewöhnlichen Verhältnisse eines Couriers des Czaaren zu Statten. Im Gegentheil durfte Niemand während seiner Fahrt diese Eigenschaft vermuthen. In einem von Feinden überschwemmten Lande wimmelt es auch von Spionen. Ward er erkannt, so war auch seine Mission compromittirt. Auch als General Kissoff ihm eine bedeutende Summe einhändigte, welche zur Reise hinreichen und dieselbe nach Möglichkeit erleichtern mußte, gab er ihm keinerlei schriftliche Ordre mit der Bezeichnung: »Specialdienst des Kaisers«, das Sesam, dessen Kräfte nie versagen. Er begnügte sich, ihm nur einen »Podaroshna« auszustellen.

Dieser Podaroshna lautete auf den Namen eines Kaufmanns, Nicolaus Korpanoff, wohnhaft in Irkutsk. Er berechtigte denselben, sich gegebenen Falles von einer oder mehreren Personen begleiten zu lassen, und daneben enthielt er die ausdrückliche Bemerkung, daß er selbst dann giltig sei, wenn das Gouvernement von Moskau auch jedem Anderen den Austritt aus Rußland verbieten sollte.

Der Podaroshna war nichts Anderes, als ein Erlaubnißschein, Postpferde zu requiriren; Michael Strogoff aber sollte davon nur Gebrauch machen in dem Falle, wenn dieser Schein keinen Verdacht bezüglich seiner Eigenschaft hervorrufen konnte, d. h. so lange er sich auf europäischem Boden befand. Hieraus folgte, daß er in Sibirien, wenn er die aufständischen Provinzen durchreiste, sich nicht als Gebieter den Postrelais gegenüber benehmen, noch sich vor Anderen Pferde verschaffen, noch endlich Transportmittel für seine eigene Person requiriren konnte. Michael Strogoff durfte das nicht vergessen; er war nicht mehr ein Courier, sondern ein einfacher Kaufmann, Nicolaus Korpanoff, der sich von Moskau nach Irkutsk begab, und als solcher allen Zufälligkeiten einer gewöhnlichen Reise unterworfen.

Unbemerkt hindurch zu kommen – ob mehr oder weniger schnell, – aber jedenfalls hindurch zu kommen, darin lag seine Aufgabe.

Vor dreißig Jahren bestand die Escorte eines Reisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baskiren zu Pferde, dreihundert Kameelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Stück Kanonen. Das war das nöthige Material bei einer Reise durch Sibirien.

Michael Strogoff freilich sollte weder Reiter, noch Fußsoldaten oder Saumthiere haben. Er reiste zu Wagen, zu Pferde, wenn das möglich war; zu Fuß, wenn es nicht anders anging.

Die ersten 1400 Werst (= 1493 Kilom.), die Strecke zwischen Moskau und der Grenze Rußlands, konnten keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Eisenbahnen, Postwagen, Pferde zum Wechseln an verschiedenen Stationen, Dampfschiffe – standen hier Jedermann zur Verfügung und waren folglich auch dem Courier des Czaaren zur Hand.

Am Morgen des 16. Juli begab sich Michael Strogoff ohne jede Uniform, aber mit einem Reisesack, den er auf dem Rücken trug, bekleidet mit einem gewöhnlichen russischen Anzug, einem an der Taille geschlossenen Oberrock, dem herkömmlichen Mujik (Gürtel), weiten Beinkleidern und an den Knöcheln anschließenden Stiefeln, nach dem Bahnhofe, um den nächsten Zug zu benutzen. Er führte, wenigstens dem Anscheine nach, keine Waffen bei sich, unter dem Gürtel aber stak ein Revolver und in seiner Tasche einer jener langen Dolche, welche das Mittel zwischen dem Messer und dem Yatagan bilden und mit dem ein sibirischer Jäger einen Bären sauber auszuweiden im Stande ist, ohne dessen kostbares Fell zu beschädigen.

Auf dem Bahnhofe in Moskau war ein ansehnliches Menschengedränge. Die Perrons der russischen Eisenbahnen bilden häufig gewissermaßen Versammlungsörter ebensowohl für Diejenigen, welche abreisen, als für Solche, welche der Abfahrt nur zusehen. Dort ist fast eine kleine Börse für Neuigkeiten.

Der Zug, den Michael Strogoff benutzte, sollte ihn nach Nishny-Nowgorod führen. Dort war jener Zeit das Ende des Schienenweges, der Moskau mit St. Petersburg verbindet und bis zur Grenze Rußlands fortgeführt werden soll. Die Strecke bis dahin maß etwa 400 Werst (= 426 Kilom.), welche der Zug in ungefähr zehn Stunden zurücklegen mußte. In Nishny-Nowgorod angelangt, wollte Michael Strogoff je nach den Umständen entweder zu Lande weiter reisen oder die Wolgadampfboote benutzen, um die Berge des Ural so schnell als möglich zu erreichen.

Michael Strogoff machte es sich in seiner Ecke so bequem, wie ein braver Bürger, den seine Geschäfte nicht übermäßig beunruhigen und der sich die Zeit durch Schlafen zu vertreiben sucht.

Da er in dem Coupé aber nicht allein war, schlief er auch nur mit einem Auge, hörte aber dabei mit beiden Ohren.

Der Aufstand der Kirghisenhorden und der Einfall der Tartaren machte doch schon einigermaßen von sich reden. Die Leute, mit denen der Zufall ihn zusammenwürfelte, plauderten ebenfalls davon, doch immer noch mit einer gewissen Zurückhaltung.

Diese Reisenden waren ebenso, wie die meisten Insassen des Zuges, Kaufleute, die sich zur großen Messe nach Nishny-Nowgorod begaben, eine erklärlicher Weise sehr gemischte Gesellschaft, welche aus Juden, Türken, Kosaken, Russen, Georgiern, Kalmücken und Anderen bestand, die sich indessen Alle der Nationalsprache bedienten.

Man besprach das Für und Wider der ernsthaften Ereignisse, welche sich eben jenseit des Ural abspielten; auch schienen diese Kaufleute zu fürchten, daß die russische Regierung sich veranlaßt sehen könnte, einige beschränkende Maßregeln, mindestens in den Nachbarprovinzen der asiatischen Grenze, zu ergreifen, – Maßregeln, unter denen der Handel ohne Zweifel leiden mußte.

Diese unverbesserlichen Egoisten betrachteten den Krieg, d. h. die Unterdrückung der Rebellion und die Abwehr jenes Einfalls, nur von dem einen Standpunkte ihrer bedrohten Interessen. Die Anwesenheit eines einfachen Soldaten in Uniform – man weiß ja, wie groß der Einfluß der Uniform gerade in Rußland ist, – hätte gewiß hingereicht, die Zungen dieser Handelsleute zu zügeln. In dem von Michael Strogoff benutzten Coupé ließ nichts die Gegenwart einer Militärperson vermuthen, und der Courier des Czaaren, der sein Incognito bewahren mußte, hütete sich wohl, seinen wahren Charakter zu verrathen.

Er horchte gespannt.

»Man spricht von einer Preissteigerung des Karawanenthees, sagte ein Perser, den man an seiner mit Astrachan besetzten Mütze und dem abgetragenen braunen und weitfaltigen Rocke erkannte.

– O, der Thee hat auch keine Baisse zu fürchten, erwiderte ein alter Jude mit verschmitzten Zügen. Was davon in Nishny-Nowgorod am Markte ist, wird nach Westen hin willigen Absatz finden; leider steht es mit den Teppichen aus Bukhara aber anders.

– Wie? Sie erwarten eine Sendung aus Bukhara? fragte ihn der Perser.

– Das zwar nicht, wohl aber aus Samarkand, und Waarensendungen von dorther sind eher noch mehr gefährdet. Verlassen Sie sich einmal auf Zufuhren aus einem Lande, das durch die Khans von Khiva bis zur chinesischen Grenze in helle Empörung gebracht ist.

– Gut! meinte der Perser, wenn die Teppiche nicht ankommen, so ist das von den Verräthern noch weniger zu erwarten, denke ich.

– Und der Profit? heiliger Gott Israels, rief der Jude, rechnen Sie den für nichts?

– Sie haben Recht, mischte sich ein anderer Reisender in das Gespräch, asiatische Artikel werden am Platze empfindlich fehlen; die Teppiche aus Samarkand ebenso, wie die Wollenwaaren, die Seifen, Oele und die Shawls aus dem Morgenlande.

– Ei, nehmen Sie sich in Acht, Väterchen, antwortete ein russischer Reisender mit spöttelnder Miene, Sie werden sich furchtbare Fettflecke in ihre Shawls bringen, wenn Sie sie mit den Seifen und Oelen zusammenpacken!

– Das kommt Ihnen wohl sehr komisch vor! versetzte etwas spitzig der Kaufmann, der solche Scherze nicht besonders liebte.

– Nun, und wenn man sich die Haare ausraufen und Asche auf’s Haupt streuen wollte, fuhr jener Reisende fort, würde das den Lauf der Dinge ändern? Nein! Um keinen Deut mehr als den Transport der Meßgüter.

– Man erkennt es, daß Sie kein Kaufmann sind, bemerkte der kleine Jude.

– Meiner Treu, nein, würdiger Nachkomme Abraham’s! Ich verkaufe weder Hopfen noch Theer, Honig oder Wachs, weder Hanfsamen noch Pökelfleisch, Caviar, Holz, Wolle, Bänder, nicht Hanf oder Leinen, keine Maroquins oder Pelzwaaren! …

– Aber kaufen Sie vielleicht davon? fragte der Perser, den Redestrom des Reisenden unterbrechend.

– So wenig als möglich und nur für meinen Privatbedarf, antwortete jener mit den Augen zwinkernd.

– Das ist ein Spaßvogel, raunte der Jude dem Perser zu.

– Oder ein Spion! erwiderte dieser mit gedämpfter Stimme. Hüten wir uns und sprechen nicht mehr als nöthig. Die Polizei ist bei jetzigen Zeiten nicht sehr zart, und man weiß nie, mit wem man zusammen sitzt.«

In einer andern Ecke der Wagenabtheilung sprach man etwas weniger über Handelsgeschäfte, aber etwas mehr von dem Einfalle der Tartaren und dessen möglichen Folgen.

»Man wird in Sibirien die Pferde requiriren, äußerte sich ein Reisender, und die Communicationen zwischen den verschiedenen Provinzen Centralasiens werden sehr erschwert sein!

– Bestätigt es sich, fragte sein Nachbar, daß die Kirghisen der Mittleren Horde mit den Tartaren gemeinschaftliche Sache gemacht haben?

– Man sagt es, antwortete der Reisende halblaut, wer kann sich aber in diesem Lande rühmen, etwas Bestimmtes zu wissen!

– Ich hörte schon von Truppenzusammenziehungen an der Grenze sprechen. Die Donischen Kosaken sollen bereits längs der Wolga versammelt sein und man will sie den aufrührerischen Kirghisen entgegen werfen.

– Wenn die Kirghisen dem Ufer des Irtysch gefolgt sind, wird auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein, bemerkte der Nachbar. Uebrigens wollte ich gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk senden, das hat aber nicht bis dahin gelangen können. Es steht zu befürchten, daß die Tartarenhaufen binnen Kurzem das ganze östliche Sibirien isolirt haben werden!

– In Summa, Väterchen, sprach sich der erste Frager aus, diese Handelsleute da haben alle Ursache, wegen ihrer Geschäftsabwickelung besorgt zu sein. Nach Requisition der Pferde werden die Schiffe an die Reihe kommen, dann die Wagen und überhaupt alle Transportmittel, bis es endlich nicht mehr erlaubt sein wird, im ganzen Reiche einen Fuß zu bewegen.

– Ich fürchte sehr, in Nishny-Nowgorod werde die Messe nicht so brillant enden, wie sie begonnen hat, antwortete der Zweite kopfschüttelnd. Aber die Sicherheit und Integrität des russischen Gebietes geht über Alles! Geschäfte sind eben doch nur Geschäfte!«

Wenn in diesem Coupé der Gegenstand der Unterhaltung nicht sehr wechselte, so war das auch nicht mehr der Fall in den anderen Wagen des Zuges; ein strenger Beobachter würde aber in allen Reden der Reisenden unschwer eine ungemeine Zurückhaltung entdeckt haben. Wagten diese sich einmal auf das Gebiet der Thatsachen, so gingen sie niemals so weit, weder die Absichten der moskowitischen Regierung vorauszusehen, noch deren Maßnahmen zu kritisiren.

Dieselbe Beobachtung machte auch ein Reisender in einem der vorderen Wagen des Zuges. Dieser – offenbar ein Ausländer, – hatte seine Augen überall und warf zwanzigerlei Fragen auf, welche nur ausweichende Beantwortung fanden. Fortwährend betrachtete er dabei auch durch das Wagenfenster, dessen Scheibe er stets zum großen Unbehagen seiner Reisegefährten niedergelassen hielt, die Gegend bis zum fernen Horizont. Er erkundigte sich nach den Namen der unbedeutendsten Ortschaften, ihrer Lage, ihren Handelsbeziehungen und Gewerbsverhältnissen, nach den Einwohnerzahlen, der mittleren Sterblichkeit beider Geschlechter u. s. w., und Alles, was er erfahren konnte, schrieb er in ein mit Bemerkungen überladenes Notizbuch.

Unsere Leser erkannten in ihm wohl schon den Correspondenten Alcide Jolivet, der so viele Fragen in der Hoffnung stellte, unter den Antworten doch dann und wann etwas Interessantes »für seine Cousine« zu erhaschen. Natürlich sah man ihn deshalb für einen Spion an und sprach vor ihm keine Sylbe bezüglich der Tagesereignisse.

Als er sich überzeugt, daß er über den Tartareneinfall hier nichts zu erfahren vermöge, schrieb er in das Notizbuch: »Die Reisenden absolut discret. Schießen über Politik nur sehr schwer los.«

Während aber Alcide Jolivet seine Reiseeindrücke mit peinlicher Gewissenhaftigkeit schriftlich fixirte, lag sein College, der in demselben Zuge saß und in derselben Absicht reiste, in einem andern Coupé ganz der nämlichen Beschäftigung ob. Beide waren sich am Morgen im Bahnhofe zu Moskau nicht begegnet, und Keiner wußte von des Andern Aufbruche nach dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze, um den Ereignissen näher zu stehen.

Dabei hatte nur der allzeit schweigsame Harry Blount bei seinen Reisegefährten nicht denselben Verdacht erweckt, wie Alcide Jolivet. Ihn hatte man nicht für einen Spion gehalten, und seine Nachbarn plauderten vor ihm ohne jede Zurückhaltung, wobei sie sich sogar weiter gehen ließen, als man es von ihrer anerzogenen Zaghaftigkeit erwartet hätte. Der Correspondent des Daily-Telegraph konnte also beobachten, wie sehr die Ereignisse des Tages alle nach Nishny-Nowgorod ziehenden Kaufleute berührten und wie stark der Handel mit Central-Asien dadurch bedroht sei.

Er zögerte also nicht, seinem Notizbuch die ganz gerechtfertigte Bemerkung einzuverleiben:

»Die Reisenden sehr beunruhigt. Der Krieg steht in Aussicht und man behandelt dieses Thema mit einer Freimüthigkeit, welche zwischen Weichsel und Wolga erstaunlich zu nennen ist.«

Die Leser des Daily-Telegraph mußten demnach ebenso gut unterrichtet werden, wie »die Cousine« Alcide Jolivet’s.

Weiter, da Harry Blount an der linken Seite des Zuges saß, hatte er nur den einen Theil der hier ziemlich hügeligen Landschaft überblicken können, ohne daß er es der Mühe werth erachtete, sein Auge einmal nach der rechten Seite, welche vollkommen eben war, zu wenden, und somit fügte er seiner Notiz kurz und bündig hinzu:

»Zwischen Moskau und Wladimir Bergland.«

Inzwischen lag es auf der Hand, daß die russische Regierung angesichts der ernsten Verwickelungen selbst im Innern des Reiches einige strenge Maßregeln nehmen werde. Die Empörung griff zwar noch nicht über die Grenze Sibiriens hinüber, doch in den dem Lande der Kirghisen so nahe liegenden Wolgaprovinzen durfte man sich leicht eines übeln Einflusses jener Ereignisse versehen.

Noch hatte die Polizei Iwan Ogareff’s Spuren nicht wieder zu finden vermocht. Ob dieser Verräther, der die Fremden aufhetzte, um seine persönliche Rache zu befriedigen, sich wieder mit Feofar-Khan verbunden habe, oder im Gouvernement Nishny-Nowgorod heimlich die Empörung schüre, wo sich zu dieser Jahreszeit eine aus so bunten Elementen zusammen gewürfelte Bevölkerung tummelte, – kein Mensch wußte es.

Hatte er vielleicht unter diesen bei der Messe so zahlreich vertretenen Persern, Armeniern und Kalmücken Vertraute, welche die Bewegung im Innern des Reiches in Fluß bringen sollten? Alle diese Hypothesen waren, vorzüglich in einem Lande wie das Reich des Herrschers aller Reußen, nicht zurück zu weisen.

In der That kann dieses ungeheure Ländergebiet von zwölf Millionen Quadratkilometern die Homogenität der westlichen Staaten Europas überhaupt nicht besitzen. Zwischen den verschiedenen Völkerschaften desselben herrschen mehr tiefere Unterschiede, als oberflächliche Nuancen. In Europa, Asien und Amerika (unsere Erzählung spielt in der Zeit, da das russische Amerika noch nicht an die Vereinigten Staaten abgetreten war) erstreckt sich sein Gebiet vom 35. Grade östl. Länge (von Ferro) bis zum 110. Grade westlicher Länge und vom 38. bis zum 81. Grade nördl. Breite. Es zählt nicht weniger als siebenzig Millionen Einwohner, welche dreißig verschiedene Sprachen sprechen. Die herrschende Race ist zwar die der Slaven, aber außer den eigentlichen Russen zählen zu dieser auch die Polen, Litthauer und die Kurländer. Rechne man zu diesen noch die Finnen, Esthen, Lappen, die Tschermissen, Tschuwaken, Permiaken, die Deutschen, die Griechen, Tartaren, die kaukasischen Stämme, die Mongolenhorden, Kalmücken, Samojeden, Kamtschadalen und Alëuten, so sieht man leicht ein, wie schwierig es sein muß, die Einheit eines so ungeheuren Reiches aufrecht zu erhalten, und daß diese dereinst nur von der Zeit und der Weisheit der Regierung wirklich geschaffen werden kann.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Iwan Ogareff sich bisher allen Nachforschungen zu entziehen gewußt. Auf jeder Station aber, wo der Zug anhielt, erschienen Inspectoren, welche die Reisenden musterten und Alle scharf in’s Auge faßten, denn sie hatten auf Befehl des Großmeisters der Polizei nach Iwan Ogareff zu fahnden. Die Regierung glaubte zu wissen, daß dieser Verräther das europäische Rußland noch nicht habe verlassen können. Erschien ein Reisender verdächtig, so mußte er sich im Polizeibureau ausweisen, während der Zug weiter sauste, ohne sich um solche unfreiwillige Nachzügler zu bekümmern.

Es ist völlig nutzlos, mit der russischen Polizei bei ihrer bekannten Rücksichtslosigkeit verhandeln zu wollen. Ihre Beamten stehen in militärischem Range und handeln als Soldaten. Hierin liegt das Mittel, womit ein Souverän sich unbedingten Gehorsam erzwingt, der das Recht hat, an die Spitze seiner Ukase zu setzen: »Wir, von Gottes Gnaden Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen, von Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Czaar von Kasan, Astrachan, Polen, Sibirien und des Taurischen Chersones, Fürst von Skof, Großherzog von Smolensk, Litthauen, Wolhinien, Podolien und Finnland, Herzog von Esthland, Liefland, Kurland und Samland, von Bialystock, Karelien, Jugrien, Perm, Viatka, Bulgarien und von anderen Ländern, Herrscher und Großfürst der Territorien von Nishny-Nowgorod, Tschernikow, Riatsan, Polotzk, Restow, Jeroslaw, Bielozersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witepsk und Mtislaw, Machthaber über die hyperboräischen Lande, Herr der Lande von Iberien, der Kartalinie, Gruzinien, Kabardinien, Armenien, Erbherr und Souverän der Tscherkessenfürsten der Berge und der Ebenen, Erbe von Norwegen, Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Oldenburg.« In der That ein mächtiger Herrscher, dessen Wappen, ein zweiköpfiger Adler mit Scepter und Erdkugel in den Klauen, umgeben ist von den Wappenschildern von Nowgorod, Wladimir, Kiew, Kasan, Astrachan und Sibirien, und umrahmt von dem großen Bande des St. Andreasordens, über dem eine Kaiserkrone schwebt! –

Michael Strogoff entging auf Grund seiner Papiere allen polizeilichen Scheerereien.

Auf der Station Wladimir verweilte der Zug einige Minuten, die dem Reporter des Daily-Telegraph hinreichend erschienen, eine umfassende Skizze dieser alten Hauptstadt Rußlands zu entwerfen.

Im Bahnhofe zu Wladimir kamen neue Passagiere. Unter Anderen erschien auch ein junges Mädchen an der Thür von Michael Strogoff’s Coupé.

Vor dem Couriere des Czaaren war noch ein Platz leer. Das junge Mädchen nahm diesen ein, nachdem sie eine bescheidene, rothlederne Reisetasche, scheinbar ihr ganzes Gepäck, neben sich gestellt hatte. Dann setzte sie sich mit niedergeschlagenen Augen und ohne ihren zufälligen Reisegefährten auch nur einmal angesehen zu haben, für eine mehrstündige Fahrt zurecht.

Michael Strogoff konnte sich nicht enthalten, seine neue Nachbarin teilnehmend zu betrachten. Da sie einen Rücksitz einnahm, bot er ihr seinen Platz an, wenn sie diesen vorzöge, aber sie lehnte das mit einer leichten Verbeugung dankend ab.

Das junge Mädchen mochte sechzehn bis siebenzehn Jahre zählen. Ihr wirklich hübscher Kopf verrieth den rein slavischen Typus, – einen etwas strengen Typus, nach welchem sie einst mehr schön als hübsch werden mußte, wenn einige Jahre die Züge ihres Gesichtes weiter befestigt haben würden. Aus einer Art Fanchon quoll ihr eine Fülle goldblonden Haares. Ihre braunen Augen erstrahlten von einem ungemein sanften Blicke. Die gerade Nase verband mit beweglichen Flügeln ihre etwas schmalen und blassen Wangen. Ihr sehr fein geschnittener Mund schien seit längerer Zeit alles Lächeln verlernt zu haben.

Die junge Reisende war, so weit man das vor dem faltigen Pelze, den sie trug, erkennen konnte, groß und schlank. Obwohl sie noch im vollen Sinne des Wortes als »ein sehr junges, unschuldiges Kind« erschien, so war doch ihre Stirn gut entwickelt und die bestimmte Form der unteren Partien des Gesichtes ließ auf eine ungewöhnliche Energie schließen, – Einzelheiten, welche Michael Strogoff nicht entgingen. Offenbar hatte das junge Mädchen früher schon manches gelitten und auch die Zukunft schien ihr nicht in rosigem Lichte zu winken; aber ebenso sicher hatte sie gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens sowohl anzukämpfen gewußt, als sie die Entschlossenheit besaß, es auch in Zukunft zu thun. Ihre Willenskraft schien ebenso lebhaft als ausdauernd zu sein, ihre Ruhe unerschütterlich, vielleicht selbst unter Umständen, welche einen Mann in Verlegenheit gebracht hätten.

Diesen Eindruck erweckte das junge Mädchen auf den ersten Blick. Michael Strogoff, selbst ein energischer Charakter, mußte sich von einer solchen Erscheinung getroffen fühlen und beobachtete, bei aller Vorsicht, sie dadurch nicht zu belästigen, seine Nachbarin doch mit einer gewissen Aufmerksamkeit.

Die Kleidung der jungen Reisenden zeichnete sich durch die größte Einfachheit und Sauberkeit aus. Von reichem Herkommen konnte sie offenbar nicht sein; aber man hätte vergeblich nach einer Spur von Nachlässigkeit an ihr gesucht. Ihr ganzes Gepäck barg jene rothe Tasche, die sie aus Mangel an Platz auf den Knieen hielt.

Sie trug einen langen, ärmellosen Pelz von dunkelbrauner Farbe, der sich mit einem blauen Saume anmuthig um ihren Hals schloß. Unter demselben bedeckte eine ebenfalls dunkelfarbige Tunica das bis zum Fußgelenk reichende Kleid, dessen unterer Saum wiederum mit wenig auffälliger Stickerei geziert war. Lederne Halbstiefel mit starken Sohlen, so als wären sie für eine lange Reise bestimmt, schützten die kleinen Füßchen.

Michael Strogoff glaubte an manchen Details dieses Costüms die Tracht der Liefländerinnen zu erkennen und setzte also voraus, daß seine Nachbarin in den baltischen Provinzen zu Hause sei.

Doch wohin ging dieses Kind, allein, in diesem Alter ohne Unterstützung des Vaters oder der Mutter, ohne den Schutz eines Bruders? Kam sie wirklich schon nach Zurücklegung einer längeren Reise aus den westlichen Provinzen des Reiches? Begab sie sich nur nach Nishny-Nowgorod oder lag ihr Ziel noch über den östlichen Grenzen? Erwartete sie ein Anverwandter, ein Freund bei Ankunft des Zuges? War es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß sie sich nach Verlassen des Waggons in der Stadt ebenso vereinsamt befinden werde, wie in diesem Coupé, wo sich, ihrer Ansicht nach, keine Seele um sie kümmerte?

Das Auftreten, welches man sich in der Vereinsamung anzugewöhnen pflegt, zeigte sich zu deutlich in dem Wesen der jungen Reisenden. Die Art und Weise, wie sie in das Coupé einstieg und sich für die Fahrt einrichtete, das Vermeiden jeder Belästigung Anderer, welches an eine gewisse Schüchternheit grenzte, Alles zeigte ihre Gewohnheit, allein zu sein und nur auf sich selbst zu rechnen.

Michael Strogoff beobachtete sie mit zurückhaltendem Interesse und suchte nicht einmal ein Gespräch anzuknüpfen, wiewohl die Fahrt bis Nishny-Nowgorod noch mehrere Stunden dauerte.

Nur einmal, als der Nachbar des jungen Mädchens, – jener Kaufmann, welcher so unvorsichtig Oele und Shawls durch einander warf, – im Einschlafen seine Nachbarin mit dem großen, auf den Schultern hin und her taumelnden Kopfe zu belästigen drohte, weckte er diesen etwas barsch auf und gab ihm zu verstehen, daß er gerade sitzen und sich etwas rücksichtsvoller betragen solle.

Der Kaufmann, von etwas grobem Schrot und Korn, knurrte einige Worte »von Leuten, die sich in Sachen mischen, welche ihnen nichts angehen«; Michael Strogoff warf ihm aber einen so viel versprechenden Blick zu, daß der Schlaftrunkene sich nach der andern Seite neigte und die junge Reisende von seiner unliebsamen Nachbarschaft befreite.

Diese richtete das Auge einen Moment auf den jungen Mann mit einem Blicke, der ihm einen stummen, bescheidenen Dank ausdrückte.

Es sollte aber noch ein Umstand eintreten, der Michael Strogoff den Charakter des jungen Mädchens noch klarer erkennen ließ.

Etwa zwölf Werst vor Nishny-Nowgorod erhielt der Zug bei einer sehr kurzen Curve des Geleises einen sehr heftigen Stoß. Dann lief er noch eine Minute neben der Böschung eines Dammes hin.

Ein tüchtiges Schütteln der Passagiere, Geschrei, Verwirrung, allgemeine Unordnung in den Waggons bezeichneten die ersten Folgen des Unfalls. Man konnte wohl noch ein schweres Unglück befürchten. Noch bevor der Zug zum Stehen kam, sprangen schon die Waggonthüren auf, die entsetzten Reisenden suchten ihr Heil in der Flucht und stürzten aus den Coupés.

Michael Strogoff dachte zunächst an seine Nachbarin; doch während die übrigen Insassen sich schreiend und stoßend hinaus drängten, hielt das junge Mädchen, deren Gesicht kaum etwas blässer geworden war, ruhig auf ihrem Platze aus.

Sie wartete. Michael Strogoff ebenfalls.

Sie hatte gar keinen Versuch gemacht, den Waggon zu verlassen. Kein Laut kam über ihre Lippen.

Beide blieben ganz ruhig.

»Eine energische Natur!« dachte Michael Strogoff.

Inzwischen war jede Gefahr vorüber. Ein Radreifensprung am Gepäckwagen hatte erst den Stoß und dann das Anhalten des Zuges veranlaßt, doch hätte nicht viel gefehlt, daß er in Folge einer Entgleisung von dem hohen Damme in die Tiefe gestürzt wäre. Es entstand eine Stunde Aufenthalt. Endlich, nach Freilegung der Fahrbahn, setzte der Train seinen Weg fort und gelangte um halb neun Uhr Abends nach Nishny-Nowgorod.

Bevor Jemand die Waggons verlassen durfte, erschienen wieder die unvermeidlichen Polizisten und inquirirten die Reisenden.

Michael Strogoff wies seinen auf den Namen Nicolaus Korpanoff lautenden Podaroshna vor, der ihn genügend legitimirte.

Auch die andern Insassen des Coupés, welche alle nur nach Nishny-Nowgorod gingen, schienen zu ihrem Glücke unverdächtig.

Das junge Mädchen für ihre Person brachte keinen eigentlichen Reisepaß hervor, der ja im Innern Rußlands jetzt nicht mehr verlangt wird, sondern einen Schein mit besonderem Siegel, welcher ganz specieller Art zu sein schien.

Der Beamte las ihn aufmerksam durch. Dann sagte er nach sorgfältiger Musterung Derjenigen, deren Signalement der Schein enthielt:

»Du bist aus Riga?

– Ja, erwiderte das junge Mädchen.

– Und willst nach Irkutsk?

– Ja.

– Auf welchem Wege?

– Auf der Straße über Perm.

– Gut, antwortete der Inspector. Vergiß in Nishny-Nowgorod nicht, Deinen Schein durch das Polizei-Amt visiren zu lassen.«

Das junge Mädchen verneigte sich bejahend.

Als er diese Fragen und Antworten hörte, empfand Michael Strogoff gleichzeitig eine gewisse Bewunderung und ein ehrliches Mitleid. Wie! Dieses Kind war auf der Reise nach dem entlegenen Sibirien, und noch dazu jetzt, wo zu den gewöhnlichen Unzuträglichkeiten noch alle Gefahren eines von Feinden überschwemmten, aufrührerischen Landes hinzutraten! Wie würde sie ankommen? – was aus ihr werden? ….

Nach Schluß der Inspection wurden die Waggonthüren geöffnet, doch bevor Michael Strogoff auch nur eine Bewegung gegen sie machen konnte, war die junge Liefländerin bereits ausgestiegen und unter der Menge, welche die Perrons bedeckte, verschwunden.

Fünftes Capitel

Fünftes Capitel

Eine Verordnung mit zwei Artikeln

Nishny-Nowgorod, Unter-Nowgorod, am Zusammenflusse der Wolga und Oka, ist die Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements. Hier mußte Michael Strogoff den Schienenweg verlassen, der jener Zeit über die Stadt noch nicht hinausreichte. Je weiter er vorwärts kam, desto langsamer und gleichzeitig desto unsicherer wurden die Communicationsmittel.

Nishny-Nowgorod, das gewöhnlich nur 30–35 000 Einwohner zählt, beherbergte jetzt über 300 000 Seelen, d. h. die Kopfzahl hatte sich verzehnfacht. Dieser Zuwachs rührte von der weltberühmten Messe her, welche in seinen Mauern, eigentlich nur drei Wochen lang, abgehalten wurde. Früher erfreute sich die Stadt Makariew dieses Zusammenflusses so vieler Fremden, seit dem Jahre 1817 aber ward die große Messe hierher verlegt.

Die sonst ziemlich düstere, einsame Stadt war jetzt der Schauplatz der lebhaftesten Bewegung. Zehn verschiedene Racen europäischer und asiatischer Kaufleute fraternisirten hier, so lange gegenseitige Handelsgeschäfte im Spiel waren.

Trotz der vorgeschrittenen Stunde, zu welcher Michael Strogoff den Bahnhof verließ, regte sich doch in den beiden durch das Bett der Wolga getrennten Stadttheilen Nishny-Nowgorods noch ein ungeheures Leben. Von jenen Theilen ist die obere, auf einem abschüssigen Felsen erbaute Stadt von einer jener Festungsanlagen vertheidigt, die man in Rußland ganz allgemein »Kreml« zu nennen pflegt.

Wäre Michael Strogoff genöthigt gewesen, sich in Nishny-Nowgorod längere Zeit aufzuhalten, so hätte er wohl Mühe haben sollen, ein Hotel oder doch eine halbwegs passende Herberge zu finden, – Alles war überfüllt. Da er indeß auch nicht unmittelbar weiter reisen, sondern nur den nächstabgehenden Wolgadampfer benutzen konnte, so mußte er sich doch wohl oder übel wenigstens ein Nachtlager suchen. Vorher trieb es ihn indeß, sich über die Abfahrtszeit des Dampfbootes zu unterrichten; deshalb begab er sich sofort nach den Bureaux der Gesellschaft, deren Schiffe den Dienst zwischen Nishny-Nowgorod und Perm versehen.

Dort erfuhr er zu seinem großen Mißvergnügen, daß der »Kaukasus« – so hieß das reisefertige Schiff – erst zu Mittag am nächsten Tage abgehen werde. Siebenzehn Stunden Aufenthalt! Das war unangenehm für einen Mann, der es eilig hatte, und doch mußte er sich darein finden. Er that es auch ruhig, da er nicht unnöthig zu außergewöhnlichen Mitteln greifen wollte.

Uebrigens hätte ihn unter den gegebenen Umständen auch kein Teleg oder Tarantaß, keine Berline oder Postchaise und kein Reitpferd schneller nach Perm oder Kasan befördert. Immer blieb es das Beste, die Abfahrt des Steamers zu erwarten – jenes Beförderungsmittels, das ihn schneller als jedes andere vorwärts schaffen und die hier verlorene Zeit reichlich wieder einbringen mußte.

Michael Strogoff schlenderte also durch die Stadt und suchte dabei ohne Uebereilung ein Unterkommen, in dem er die Nacht zubringen könnte. Der letztere Zweck lag ihm zwar gar nicht sonderlich am Herzen, und ohne das Gefühl des Hungers, das sich ihm etwas aufdringlich fühlbar machte, hätte er die Straßen Nishny-Nowgorods wohl auch die ganze Nacht über durchirrt. Es gelüstete ihn also weit mehr nach einem tüchtigen Abendimbiß, als nach einem Bette. Beides fand er noch unter dem Schilde der »Stadt Konstantinopel«.

Hier konnte ihm der Wirth noch ein mittelmäßiges Zimmerchen ablassen, das zwar nur ein dürftiges Mobiliar enthielt, dem aber der gebräuchliche Wandschmuck, ein Bild der Jungfrau Maria und mehrere Heiligenbilder in Goldrahmen, nicht abging. Entenbraten mit einer Farce von säuerlichem Fleisch und rahmartig dicker Sauce, Gerstenbrod, saure Milch, klarer Zucker mit Zimmet, ein Krug »Kwaß«, d. i. eine in Rußland sehr verbreitete Art Bier, wurde ihm bald aufgetragen, und er brauchte gar nicht so viel, seinen Hunger zu stillen. Jedenfalls aß er sich aber satt, und das auch besser, als sein Tischnachbar, ein orthodoxer »Altgläubiger« von der Secte der Raskolniks, der bei seinem Gelübde der Enthaltung gewisser Speisen die Kartoffeln von sich wies und sich weislich hütete, seinen Thee zu versüßen.

Nach beendigter Mahlzeit nahm Michael Strogoff, statt sich nach seinem Zimmer zu begeben, ganz maschinenmäßig die unterbrochene Promenade durch die Stadt wieder auf. Trotz der noch andauernden langen Dämmerung lichteten sich doch schon die Mengen, die Straßen wurden allmälig öder und Jedermann suchte sein Lager.

Warum Michael Strogoff sich nicht gemächlich in’s Bett begab, wie man es nach einem auf der Eisenbahn hingebrachten Tage Wohl erwarten sollte? Dachte er vielleicht noch an die junge Liefländerin, seine Reisegenossin während einiger flüchtiger Stunden? Ja! Da er nichts Besseres zu thun wußte, dachte er wohl an diese. Kam ihm die Befürchtung an, daß sie in dieser geräuschvollen Stadt leicht einem Insulte ausgesetzt sein könnte? – Er fürchtete es, und gewiß mit Recht. Hoffte er etwa, ihr zu begegnen und im Nothfall sich zu ihrem Beschützer auszuwerfen? Nein. Eine Begegnung war nur schwierig zu erwarten. Und was seinen Schutz betraf …. mit welchem Rechte durfte er ihn anbieten?

»Allein, sprach er so für sich hin, allein inmitten dieser Nomaden! Und doch verschwinden die jetzigen Gefahren noch gegen die, welche die Zukunft birgt. Sibirien! Irkutsk! Das, was ich für Rußland, für den Czaaren wagen will, das unternimmt sie für …. Ja, für wen? Für was …. Sie hat einen Paß zur Ueberschreitung der Grenze! Und das Land über derselben ist in Empörung; Tartarenhorden jagen durch die Steppen! ….«

Michael Strogoff blieb einen Augenblick, wie überlegend, stehen.

»Unzweifelhaft, dachte er bei sich, faßte sie den Plan zu dieser Reise vor dem Einfalle. Vielleicht weiß sie nicht einmal, was jetzt vorgeht. Doch nein, die Kaufleute haben ja vor ihr von den Unruhen in Sibirien gesprochen, und sie schien darüber nicht im Mindesten betroffen …. Sie verlangte keine näheren Erklärungen …. Aber dann wußte sie davon auch schon vorher …. und trotzdem brach sie auf? Das arme Kind! Der Grund dieser gefahrvollen Reise muß ein sehr zwingender sein! Doch so entschlossen sie auch sein mag – und sie ist es ganz gewiß, – die Kräfte werden ihr unterwegs ausgehen, und sie wird, von etwaigen Gefahren und Hindernissen ganz zu schweigen, die Anstrengungen einer solchen Reise gar nicht zu ertragen im Stande sein! …. O, sie wird niemals bis Irkutsk gelangen!«

Michael Strogoff ging hierbei immer auf’s Gerathewohl weiter. Bei seiner ausreichenden Localkenntniß konnte ihm die Wiederauffindung seiner Herberge ja nicht schwer fallen.

Nach einstündigem Umherwandeln setzte er sich von ungefähr auf eine Bank an einer Art Holzhütte, die sich inmitten vieler anderer auf einem großen Platze erhob.

Etwa fünf Minuten mochten verstrichen sein, als sich eine Hand schwer auf seine Schulter legte.

»Was treibst Du hier? rief ihn die rauhe Stimme eines hochgewachsenen Mannes an, dessen Annäherung ihm entgangen war.

– Ich ruhe aus, erwiderte Michael Strogoff.

– Hast wohl die Absicht, die ganze Nacht hier auf der Bank zu bleiben? fragte der Mann.

– Wenn mir das paßt, gewiß! versetzte Michael Strogoff in einem etwas bestimmteren Tone, als er seinem Aeußern, d. h. einem einfachen Kaufmanne, entsprach.

– Tritt heran, daß ich Dich erkenne!« Michael Strogoff, der sich noch rechtzeitig erinnerte, daß er auf keinen Fall eine Unklugheit begehen dürfe, wich unwillkürlich aus.

– »Mich hat Keiner nöthig zu erkennen«, erwiderte er.

Ganz ruhig trat er etwa zehn Schritte von dem Anfragenden zurück.

Bei genauerer Betrachtung überzeugte er sich, daß er es mit einer Art Zigeuner zu thun hatte, wie man sie häufig bei allen Messen und Märkten trifft, und deren Berührung nach keiner Seite hin angenehm ist. Weiter erkannte er auch noch trotz der zunehmenden Dunkelheit einen geräumigen Wagen, die gewöhnliche Wohnung dieser Zigeuner oder Tsiganen, die sich in Rußland überall in Massen umhertreiben, wo einige Kopeken zu erhaschen sind.

Der Zigeuner war inzwischen einige Schritte vorgetreten und schickte sich eben an, Michael Strogoff weiter auszufragen, als sich die Thür der Bude öffnete. Ein Weib, welches kaum zu sehen war, trat rasch heraus und eiferte in einem rohen Dialect, den Michael Strogoff als ein Gemisch von mongolischer und sibirischer Sprache erkannte:

»Wieder ein Spion! Laß ihn und komm zum Essen. Die ›Papluka‹ Eine Art Blättergebackenes. wartet.«

Michael Strogoff mußte unwillkürlich lachen, als er diesen Titel hörte, er, der vielmehr allen Spionen möglichst auswich.

In derselben Sprache, aber mit wesentlich abweichendem Accente, antwortete der Zigeuner einige Worte, etwa des Inhalts:

»Du hast recht, Sangarre; übrigens werden wir morgen weg sein!

– Schon morgen? entgegnete das Weib halblaut und offenbar einigermaßen überrascht.

– Ja wohl, Sangarre, bedeutete sie der Zigeuner, morgen, unser Vater selbst sendet uns weg …. wohin wir wollen!«

Hiernach zogen sich Beide in die Bude zurück, deren Thür von Innen sorgfältig geschlossen wurde.

»Recht nett, sagte sich Michael Strogoff; wenn diese Zigeuner aber hoffen, nicht verstanden zu werden, so rathe ich ihnen, sich in meiner Gegenwart einer andern Sprache zu bedienen.«

Als geborener Sibirier, der seine ganze frühe Jugend in der Steppe verlebt hatte, kannte Michael Strogoff, wie erwähnt, fast alle gebräuchlichen Mundarten von der Tartarei bis zum Eismeere. Um die zwischen dem Zigeuner und dem Weibe gewechselten Worte selbst bekümmerte er sich blutwenig. Welches Interesse konnte er daran haben?

Bei der schon vorgeschrittenen Nachtstunde gedachte er nun auch nach, der Herberge zurückzukehren, um sich einige Ruhe zu gönnen. Er folgte auf seinem Rückwege dem Laufe der Wolga, deren Wasser unter der dunklen Masse unzähliger Fahrzeuge fast verschwand. An der Richtung des Flusses erkannte er genauer den eben verlassenen Ort. Diese Haufen von Fuhrwerken und Buden standen auf eben dem geräumigen Platze, auf dem alljährlich die große Messe von Nishny-Nowgorod abgehalten wurde – ein Erklärungsgrund für die Anwesenheit einer ganzen Menge von Gauklern und Zigeunern, welche der Wind von allen Ecken der Welt her hier zusammengeweht hatte.

Eine Stunde später ruhte Michael Strogoff in etwas unruhigem Schlummer auf einem jener russischen Betten, welche dem Ausländer so hart vorkommen, und erwachte am andern Morgen, am 17. Juli, bei hellem Tage.

Noch hatte er fünf Stunden in Nishny-Nowgorod auszuhalten, die ihm ein Jahrhundert dünkten. Womit konnte er diesen Vormittag anders hinbringen, als mit einer Wanderung durch die Straßen wie am Tage vorher? Hatte er sein Frühstück verzehrt, seinen Reisesack geschnallt, den Podaroshna von der Polizei visirt erhalten, so konnte er sofort abreisen. Er war aber nicht der Mann dazu, bei Sonnenschein sich im Bette zu wälzen; deshalb stand er auf, kleidete sich an, verbarg den Brief mit dem kaiserlichen Siegel sorgsam tief in der inneren Tasche seines Ueberkleides, um welches er den Gürtel schnallte. Dann schloß er seinen Reisesack und warf ihn über den Rücken. Da er nicht noch einmal nach »Stadt Konstantinopel« zurückkehren wollte und an dem Ufer der Wolga zu frühstücken gedachte, um nahe dem Dampfschifflandungsplatze zu sein, bezahlte er seine Rechnung und verließ das Gasthaus.

Aus übergroßer Sorge begab sich Michael Strogoff nochmals nach den Bureaux der Steamer und versicherte sich, daß der »Kaukasus« zur angegebenen Stunde abfahren werde. Da stieg ihm zum ersten Male der Gedanke auf, daß die junge Liefländerin, da sie ja ebenfalls über Perm reisen mußte, sich höchst wahrscheinlich auch auf dem »Kaukasus« einschiffen würde, in welchem Fall Michael Strogoff sicher mit ihr zusammentreffen mußte.

Die obere Stadt mit ihrem Kreml von zwei Werst Umfang, der dem in Moskau übrigens sehr ähnlich ist, erschien damals merkwürdig verödet. Selbst der Gouverneur hatte seinen Sitz daselbst nicht mehr. So todt aber die obere Stadt war, so belebt war dafür die untere.

Michael Strogoff gelangte, nach Ueberschreitung einer von Kosakenpiquets bewachten Schiffbrücke über die Wolga, nach dem nämlichen Platze, wo er am Abend vorher den kleinen Auftritt neben der Zigeunerbude erlebt hatte. Die Messe von Nishny-Nowgorod, mit der sich nicht einmal die Leipziger Messe vergleichen kann, wird ein wenig außerhalb der Stadt abgehalten. Auf weiter Ebene jenseits der Wolga erhebt sich der provisorische Palast des Generalgouverneurs, in welchem derselbe auf hohen Befehl während der ganzen Dauer der Messe seinen Sitz hat, jener Messe, welche Dank den Elementen, die auf ihr vertreten sind, eine unaufhörliche Bewachung erfordert.

Diese Ebene war jetzt bedeckt mit symmetrisch vertheilten Holzbauten und langen, breiten Gängen dazwischen, auf denen die Menschenmenge bequem auf- und abfluthen konnte. Eine gewisse Anzahl Buden der verschiedensten Größe und Form bildete allemal ein besonderes Quartier für je einen bestimmten Handelszweig. Da gab es Quartiere für den Handel mit Eisenwaaren, Quartiere für die Rauchwaaren, für Wolle, Holzwaaren, Gewebe, getrocknete Fische u. s. w. Manche dieser Bauwerke zeigten sich auch aus dem sonderbarsten Materiale errichtet, so die einen aus kleinen Theekistchen in Form von Ziegelsteinen, andere aus bruchsteinartig angeordnetem Salzfleische; – es galt das als Musterkarte für die Waaren, welche die Inhaber der Meßmagazine ihrer Kundschaft anboten. Eine etwas sonderbare, fast amerikanische Reclame!

Der Menschenzudrang in diesen Budenreihen, über denen die früh um vier Uhr aufgegangene Sonne schon hoch am Himmel stand, war ein ungeheurer. Russen, Sibirier, Deutsche, Kosaken, Turkomanen, Perser, Georgier, Griechen, Ottomanen, Hindus, Chinesen, eine unentwirrbare Mischung von Europäern und Asiaten, – Alles plauderte, erörterte, stritt und feilschte daselbst. Träger, Pferde, Kameele, Esel, Boote und Fuhrwerke, was nur je zum Waarentransport dienen konnte, war auf und an diesem Meßplatze angehäuft. Pelzwerke, Edelsteine, Seidenstoffe, indische Kaschemirs, türkische Teppiche, kaukasische Waffen, Gewebe aus Ispahan, Rüstungen aus Tiflis, Karawanenthee, europäische Bronzen, Schweizer Uhren, Sammet und Seide aus Lyon, englische Baumwollwaaren, Sattler- und Wagenbauerarbeiten, Früchte, Gemüse, Mineralien vom Ural, Malachite, Lasursteine, Parfüms, Arzneipflanzen, Holz, Pech, Tauwerk, Horn, Kürbisse, Wassermelonen u. s. w., alle Erzeugnisse Indiens, Chinas, Persiens, die vom Kaspischen und die vom Schwarzen Meer, aus Amerika und Europa, waren auf diesem einen Punkte der Erde zusammengehäuft.

Das Leben und Treiben, das Toben und Schreien hier spottet jeder Beschreibung, denn die Eingeborenen der niederen Klassen sind von Natur sehr zum Lärmen geneigt, und die Fremden glaubten ihnen in dieser Hinsicht nichts nachgeben zu dürfen. Da waren Kaufleute aus Innerasien, die ein ganzes Jahr daran gesetzt hatten, ihre Waaren über die endlosen Ebenen zu bringen und welche vor Verlauf eines weiteren Jahres ihre Läden und Comptoirs gar nicht wieder sehen konnten. Ja die Bedeutung dieser Messe in Nishny-Nowgorod ist so groß, daß der Werth der Handelstransactionen daselbst sich auf mindestens hundert Millionen Rubel (= 314 Mill. Mark, also 157 Mill. Gulden) beziffert.

Auf den Plätzen zwischen den Quartieren dieser improvisirten Stadt tummelten sich eine ganze Menge wandernder Künstler. Seiltänzer und Akrobaten betäubten mit dem Spektakel ihrer Orchester und dem Ausrufen ihrer Vorstellungen; Zigeuner aus den Gebirgen, welche den gedankenlosen Müßiggängern aus dem stets wechselnden Publicum wahrsagten, oder ihre ergreifendsten Weisen sangen und ihre originellsten Tänze producirten; Schauspieler von auswärtigen Gesellschaften, welche die Dramen Shakespeare’s aufführten, aber zugestutzt nach dem Geschmacke der Menge, die in hellen Haufen herzuströmte. In den langen Zwischengängen trieben sich Bärenführer mit ihren vierbeinigen Künstlern ganz sorglos umher, und aus den Menagerien tönten die Schreie der Bestien, wenn sie die scharfe Geißel oder das rothglühende Eisen des Thierbändigers in Wuth brachte; endlich in der Mitte des großen Centralplatzes, umrahmt von einem vierfachen Kreise enthusiastischer Kunstliebhaber, ein Chor »Seeleute der Wolga«, die auf dem Boden saßen, wie auf dem Verdeck ihrer Barken, und unter dem Taktstocke eines Orchesterdirigenten, eines wirklichen Untersteuermanns dieses imaginären Schiffes, gleichzeitig Ruderbewegungen nachahmten.

Da, welch‘ eigenthümliche und reizende Sitte! Ueber den Köpfen dieses Menschenknäuels flogen ganze Wolken von Vögeln aus den Käfigen, in denen man sie zu Markte gebracht hatte, davon. Nach einem in Nishny-Nowgorod sehr beliebten Gebrauche öffneten die Kerkermeister der Vögel gegen einige von gutmüthigen Seelen gespendete Kopeken ihren befiederten Gefangenen die Pforten und diese flatterten zu Hunderten mit freudigem Gezwitscher hinaus.

Das etwa war das Bild dieses Platzes; so blieb es auch während der sechs Wochen, so lange die berühmte Messe zu Nishny-Nowgorod gewöhnlich dauert. Nach dieser geräuschvollen Periode erstirbt der ungeheure Lärm wie durch einen Zauber; die obere Stadt gewinnt ihren officiellen Charakter wieder, die untere versinkt zu ihrer gewöhnlichen Eintönigkeit, und von all diesem ungeheuren Zusammenfluß von Kaufleuten, welcher aus aller Herren Ländern in Europa und Asien quillt, bleibt kein einziger Verkäufer zurück, der irgend etwas ausböte, noch auch nur ein einziger Einkäufer, der irgend etwas zu erhandeln suchte.

Es verdient wohl bemerkt zu werden, daß England und Frankreich bei der dermaligen Nishny-Nowgoroder Messe durch zwei hervorragende Mustererzeugnisse der modernen Civilisation vertreten waren, – durch die Herren Harry Blount und Alcide Jolivet.

Die beiden Correspondenten hatten sich nämlich zunächst hier eingefunden, um zum Besten ihrer Leserkreise Eindrücke zu sammeln, und nutzten auch die wenigen freien Stunden nach besten Kräften aus, denn sie wollten ebenfalls mit dem Dampfer »Kaukasus« weiter reisen.

Sie begegneten sich gerade auf dem Meßplatze, ohne sonderlich darüber zu erstaunen, denn der nämliche Instinct mußte sie ja auf ein und dieselbe Spur leiten. Diesmal wechselten sie aber keine Silbe mit einander, sondern beschränkten sich auf eine gegenseitige, etwas kühle Begrüßung.

Alcide Jolivet, ein Optimist von Haus aus, glaubte zu finden, daß hier Alles nach Wunsch und Ordnung gehe, und da der Zufall ihm ein gutes Unterkommen und schmackhafte Tafel bescheert hatte, bereicherte er sein Notizbuch um einige für die Stadt Nishny-Nowgorod sehr empfehlende Anmerkungen.

Harry Blount dagegen, der erst lange Zeit nach einem Abendbrode umhergetrollt war, hatte endlich gar unter freiem Himmel übernachten müssen. Er sah demnach Alles von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus und überlegte sich schon einen geharnischten Artikel über die Stadt, in der die Hôteliers die Reisenden von der Thür wiesen, welche doch bereit waren, sich »moralisch und physisch mißhandeln zu lassen.«

Michael Strogoff schien, als er so die eine Hand in der Tasche und mit der andern eine lange Pfeife mit Vogelkirschbaumrohr hielt, der gleichgiltigste und am mindesten ungeduldige von Allen. Indeß hätte es ein feinerer Beobachter an dem leichten Runzeln seiner Brauen wohl erkannt, daß er an seinem Zaume nagte.

Schon seit etwa zwei Stunden ging er zwecklos durch die Straßen der Stadt, um immer wieder nach dem Meßplatze zurückzukehren. Als er sich da so durch die Menge wand, bemerkte er an allen Kaufleuten aus den benachbarten asiatischen Ländern eine offenkundige Unruhe. Die Geschäfte lahmten sichtlich. Zwar setzten die verschiedenen Taschenspieler, Seiltänzer und Equilibristen ihr Geschrei keineswegs aus; das begreift sich wohl, da sie ja mit keinem Risico bei irgend einer Speculation betheiligt waren; die Händler aber zauderten, sich mit den Kaufleuten aus Central-Asien einzulassen, deren Heimat durch den Tartarenangriff bedroht erschien.

Hier noch ein anderes Symptom, welches nicht mindere Beachtung verdiente. In Rußland erblickt man den Soldaten überall. Die Mitglieder des Heeres mischen sich mit Vorliebe unter die Menge, und vor Allem finden die Polizeibeamten gerade zur Zeit der Messe zu Nishny-Nowgorod eine allzeit bereite Hilfe an den zahlreichen Kosaken, welche mit der Lanze ans der Schulter für Aufrechterhaltung der Ordnung unter dieser Masse von 300 000 Fremdlingen sorgen.

Heute fehlte es auf dem Meßplatze sichtlich an Soldaten, au Kosaken wie an anderen. Ohne Zweifel blieben sie im Hinblick auf ein plötzliches Ausrücken in ihren Kasernen consignirt.

Wenn aber keine Soldaten zu sehen waren, so lag das doch anders bezüglich der Officiere. Schon seit dem Tage vorher flogen die Feldjäger und Adjutanten aus dem Palaste des Gouverneurs nach allen Richtungen der Windrose. Ueberall verrieth sich eine ungewöhnliche Bewegung, welche man sich allein durch den Ernst der Ereignisse erklären konnte. Die Stafetten jagten einander auf den Straßen der Provinz, sowohl in der Richtung von Wladimir, als nach dem Ural zu. Zwischen Moskau und St. Petersburg wechselten die Telegramme unaufhörlich. Die Lage Nishny-Nowgorods, unfern der sibirischen Grenze, erheischte offenbar durchgreifende Vorsichtsmaßregeln. Man durfte nicht vergessen, daß die Stadt im 14. Jahrhundert zweimal von den Vorfahren jener Tartaren eingenommen worden war, welche Feofar-Khan’s Ehrgeiz jetzt durch die Kirghisensteppen jagte.

Eine andere hohe Person, den Polizeipräfecten, drückte die Last der Geschäfte nicht weniger, als den Generalgouverneur. Seine Beamten und er selbst, denen es oblag, Ordnung zu erhalten, Beschwerden entgegen zu nehmen, die Ausführung aller Reglements zu überwachen, kamen nicht dazu, die Hände in den Schooß zu legen. Die Tag und Nacht geöffneten Räume des Polizeiamtes waren unaufhörlich belagert, ebenso von Einwohnern der Stadt, wie von Fremden aus Europa und Asien.

Michael Strogoff befand sich gerade auf dem großen Mittelplatze, als sich das Gerücht verbreitete, der Polizeipräfect sei soeben durch Estafette zum Generalgouverneur berufen worden. Eine wichtige, von Moskau eingegangene Depesche solle die Veranlassung hierzu sein.

Der Chef der Polizei begab sich also nach dem Paläste des Generalgouverneurs, und bald circulirte auch die Neuigkeit, wie in Folge einer allgemeinen Ahnung, daß eine eingreifende, ganz unerwartete und außergewöhnliche Maßnahme in Aussicht stehe.

Michael Strogoff lauschte auf das Gerücht, um im Nothfall davon Nutzen zu ziehen.

»Man will die Messe schließen!« rief der Eine.

– Das Regiment Nishny-Nowgorod hat den Befehl zum Ausrücken erhalten! meinte ein Anderer.

– Man sagt, die Tartaren bedrohen schon Tomsk!

– Da kommt der Polizeipräfect!« scholl es von allen Seiten.

Ein wüstes Geschrei hatte sich plötzlich erhoben, legte sich dann allmälig und machte einer lautlosen Stille Platz. Jeder fühlte, daß jetzt eine wichtige Mittheilung seitens des Generalgouvernements erfolgen werde.

Der Chef der Polizei hatte eben, gefolgt von einem Troß Beamter, den Palast des Regierungsstellvertreters verlassen. Eine Abtheilung Kosaken begleitete ihn und brach ihm durch rücksichtslos ausgetheilte und geduldig hingenommene Rippenstöße Bahn durch die Menge.

Der Polizeipräfect gelangte so nach der Mitte des centralen Platzes, wo Jedermann sehen konnte, daß er ein Papier in der Hand hielt.

Dort angekommen, verlas er mit lauter Stimme:

»Verordnung des Gouverneurs von
Nishny-Nowgorod.

»1) Kein russischer Unterthan darf, es sei aus welchem Grunde es wolle, das Land verlassen.
»2) Alle Fremden asiatischer Herkunft haben binnen vierundzwanzig Stunden das Land zu verlassen.«

Sechstes Capitel

Sechstes Capitel

Bruder und Schwester

In viele Privatinteressen mochten diese Verordnungen sehr unangenehm eingreifen; die Umstände rechtfertigten sie gewiß vollkommen.

»Kein russischer Unterthan darf das Land verlassen« – wenn sich Iwan Ogareff jetzt noch hier aufhielt, mußte er verhindert oder es ihm mindestens ungemein erschwert werden, sich Feofar-Khan wieder anzuschließen, womit Letzterem der beachtenswertheste Unterbefehlshaber entzogen wurde.

»Alle Fremden asiatischer Herkunft haben binnen vierundzwanzig Stunden das Land zu verlassen«; damit schaffte man sich gründlich alle jenen Händler aus Innerasien vom Halse, alle Zigeuner und anderes Gesindel, welches mit den Tartaren und Mongolen mehr oder weniger verwandt ist und das die Messe hier zusammengehäuft hatte. So viele Köpfe, so viele Spione; ohne Zweifel erschien ihre Vertreibung bei der jetzigen Sachlage dringend angezeigt.

Man begreift aber leicht den Eindruck dieser beiden Donnerschläge, welche auf die Stadt Nishny-Nowgorod niederfielen, die von denselben offenbar empfindlicher als jede andere getroffen wurde.

Einheimische, deren Geschäftsangelegenheiten sie vielleicht über die sibirische Grenze gerufen hätten, konnten das Land also nicht verlassen, mindestens für den Augenblick nicht. An dem Tenor des ersten Artikels der Verordnung war nichts zu deuteln. Er gestattete keine Ausnahme. Jedes Privatinteresse mußte dem öffentlichen Wohle weichen.

Auch der zweite Artikel der Verordnung ließ keinen Zweifel übrig. Er bezog sich nur auf diejenigen Fremden, welche asiatischen Ursprungs waren; diese hatten auch nichts anderes zu thun, als sofort ihre Waaren zu packen und des Wegs zu ziehen, auf dem sie gekommen. Für die Seiltänzer und derlei Volk, welche mehr als tausend Werst bis zur Grenze zurückzulegen hatten, erschien der Befehl als ein wahres Unglück.

Zwar erhob sich zuerst gegen diese unerhörten Maßregeln ein Murmeln der Entrüstung, die Kosaken und Polizisten wußten dasselbe aber bald zum Schweigen zu bringen.

Fast augenblicklich begann nun, was man etwa die Abrüstung dieses ungeheuren Lagers nennen könnte. Die vor und über den Buden ausgespannten Planen falteten sich zusammen; die fremden Theater gingen in Stücke; Tänze und Gesänge hörten auf; die Ausrufer verstummten; die Feuer verloschen; die Seile der Equilibristen glitten herab; die abgetriebenen alten Pferde der wandelnden Wohnungen kamen aus den Ställen wieder an die Deichseln. Beamte und Soldaten mit der Knute oder einem Stocke in der Hand trieben die Säumigen an und zögerten sogar nicht, die Zelte gleich selbst abzureißen, wenn sich auch die halbzerlumpten Insassen noch darin befanden. Offenbar mußte unter dem Einflüsse dieser Maßregeln der Meßplatz von Nishny-Nowgorod bald vollständig geräumt sein, und dem geräuschvollen Leben das Schweigen der Wüste folgen.

Und – um es noch einmal zu wiederholen, denn darin lag eine weitere Erschwerung bei dieser Verordnung – allen jenen Nomaden, welche der Ausweisungsbefehl direct anging, waren selbst die Steppen Sibiriens verboten, und diese mußten sich nach dem Süden des Kaspischen Meeres, nach Persien, der Türkei oder nach Turkestan wenden. Die Posten des Ural und der Berge, welche gewissermaßen eine Verlängerung dieses Flusses längs der russischen Grenze darstellten, hätten ihnen den Uebertritt verwehrt. Sie hatten also eine Strecke von tausend Werst zu durchziehen, bevor sie den Fuß auf freien Boden setzen konnten.

Eben als der Polizeipräfect jene Verordnung verlesen hatte, wurde Michael Strogoff durch eine Erinnerung, welche sich seiner bemächtigte, sonderbar erregt.

»Ein ungewöhnlicher Zufall! dachte er. Welche Uebereinstimmung zwischen dieser Verordnung bezüglich der Vertreibung der Fremden von asiatischer Herkunft und den in vergangener Nacht von den beiden Tsiganen gewechselten Worten! ›Der Vater selbst ist es, der uns wegschickt … wohin wir wollen‹, hatte der Alte gesagt. Aber ›der Vater‹, das ist der Kaiser! Man bezeichnet ihn bei diesem Volke niemals anders. Wie konnten diese Leute die gegen sie ergriffenen Maßregeln voraussehen, so als hätten sie dieselben gekannt, und wohin wollten sie nun ziehen? Das scheinen mir verdächtige Leute, denen gegenüber die Verordnung des Generalgouverneurs weit mehr nützlich als schädlich sein wird.«

Diese ganz zeitgemäße Reflexion wurde aber in Michael Strogoff’s Geist durch eine andere Gedankenreihe, welche sich plötzlich ihm aufdrängte, bald unterbrochen. Er vergaß die Tsiganen, ihre verdächtigen Aeußerungen, die sonderbare Uebereinstimmung mit dem Inhalte der Verordnung … dafür trat das Bild und das Schicksal der jungen Liefländerin lebhaft vor sein Auge.

»Das arme Kind! rief er ganz wider Willen, nun wird sie die Grenze nicht überschreiten können!«

In der That, das junge Mädchen aus Riga war ja Liefländerin, also Russin und durfte demnach das russische Gebiet nicht verlassen. Ihr vor diesen neuesten Maßregeln ausgestellter Schein konnte jetzt unmöglich noch Giltigkeit haben. Alle Wege nach Sibirien wurden ihr nun unerbittlich verschlossen, und welche Ursache sie auch haben mochte, sich nach Irkutsk zu begeben, jetzt mußte es ihr unmöglich werden, dasselbe zu erreichen.

Dieser Gedankengang beschäftigte Michael Strogoff nicht wenig. Er sagte sich zuerst so ganz oben hin, daß er, ohne bezüglich der wichtigen ihm anvertrauten Mission etwas zu verletzen, vielleicht im Stande sein könnte, dem guten Kinde einigermaßen behilflich zu sein, und er freute sich fast über diese Idee. Bekannt mit den Gefahren, denen er persönlich entgegen ging, konnte er, der energische und kraftvolle Mann, gar nicht verkennen, daß dieselben in einem Lande, dessen Wege und Stege er zwar aus dem Grunde kannte, für jenes junge Mädchen doch ungleich furchtbarer werden mußten. Da er sich nach Irkutsk begab, hatte er ja denselben Weg vor sich, wie Jene; auch sie würde durch die Horden der Feinde zu dringen suchen müssen, wie er es selbst versuchen wollte. Wenn ihr, wie höchst wahrscheinlich, nur die für eine Reise unter gewöhnlichen Umständen berechneten Hilfsmittel zu Gebote standen, wie sollte sie damit unter Verhältnissen auskommen, welche eine solche Reise nicht nur weit gefährlicher, sondern auch weit kostspieliger machten?

»Nun gut, schloß er seine Selbstbetrachtung, da sie den Weg nach Perm einschlägt, ist es ja fast unmöglich, daß ich ihr nicht begegnen sollte. Dann werde ich über sie wachen können, ohne daß sie es weiß, und da sie es nicht minder eilig als ich zu haben scheint, nach Irkutsk zu gelangen, wird sie mir keine Ursache zur Verzögerung werden.«

Doch ein Gedanke erzeugt ja immer einen andern. Michael Strogoff hatte bis jetzt nichts anderes im Sinne gehabt, als ein gutes Werk zu thun, einen Liebesdienst zu erweisen. Da kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke, der die ganze Frage in einem wesentlich anderen Lichte erscheinen ließ.

»Ja, sagte er sich, ich könnte ihrer vielleicht doch noch mehr nöthig haben, als sie meiner Hilfe. Ihre Gegenwart kann mir nicht unnützlich sein und wird dazu beitragen, jeden Verdacht wegen meiner Person zu zerstreuen. Unter einem Manne, der ganz allein durch die Steppen zieht, könnte man weit eher einen Courier des Czaaren vermuthen. Begleitete mich dagegen jenes junge Mädchen, so müßte ich ja in aller Augen weit mehr als der Kaufmann Nicolaus Korpanoff meines Podaroshna erscheinen. Nun wohl, sie muß mich also begleiten, ich muß sie wiederfinden! Unmöglich kann sie sich seit gestern Abend einen Wagen verschafft haben, um Nishny-Nowgorod zu verlassen. Ich will sie suchen, und Gott leite meine Schritte!«

Michael Strogoff verließ den großen Platz, wo der durch die Ausführung jener Verordnung erzeugte Tumult eben den höchsten Grad erreicht hatte. Die Einsprüche der vertriebenen Fremden, das Rufen der Agenten und der Kosaken, welche sich einmengten, mischte sich zu einem unbeschreiblichen Getöse. Hier konnte sich die Gesuchte unmöglich aufhalten.

Es war jetzt neun Uhr Morgens. Der Dampfer sollte erst zu Mittag abgehen. Michael Strogoff konnte also wohl zwei Stunden verwenden, diejenige zu suchen, welche er so dringend als Begleiterin auf seiner Reise wünschte.

Von Neuem überschritt er die Wolga und lief durch die Quartiere am anderen Ufer, wo die Menschenmenge minder beträchtlich war. Er durchforschte, man konnte sagen, Straße für Straße, die obere und die untere Stadt. Er trat in die Kirchen, jener natürliche Zufluchtsort aller Weinenden und Leidenden. Nirgends traf er auf eine Spur der jungen Liefländerin.

»Und dennoch, redete er sich ein, kann sie Nishny-Nowgorod nicht verlassen haben. Ich muß weiter suchen!«

So irrte Michael Strogoff zwei Stunden lang umher. Er eilte weiter ohne auszuruhen, er empfand keine Ermüdung, er gehorchte einem ihn ganz beherrschenden Gefühle, das ihm keine Zeit ließ, lange nachzudenken. Alles vergeblich!

Da fiel ihm ein, daß das junge Mädchen vielleicht noch ohne alle Kenntniß war von der ergangenen Verordnung, – zwar ein unwahrscheinlicher Umstand, denn ein solcher Blitzschlag konnte sich gar nicht entladen, ohne von Allen gehört zu werden. Da sie ein offenbares Interesse haben mußte an Allem, was Sibirien betraf, wie hätten ihr die Maßnahmen des Gouverneurs entgehen können, Maßnahmen, welche ihr so direct angingen?

Kannte sie dieselben indessen nicht, so mußte sie ja in wenig Stunden nach dem Landungsplätze kommen, wo ein unbarmherziger Beamter schon ihre Weiterreise hindern werde. Unbedingt mußte Michael Strogoff sie noch vorher sehen und sprechen, um mit seiner Hilfe diesem Schachzuge zu entgehen.

Doch alle Nachforschungen schienen vergeblich, und schon gab er alle Hoffnung auf, sie je wieder zu finden.

Die elfte Stunde kam heran. Michael Strogoff dachte daran, – was unter anderen Verhältnissen ganz unnöthig gewesen wäre, seinen Podaroshna im Bureau der Polizei zu präsentiren. Die Verordnung konnte ihn offenbar nicht treffen, da dieser Fall für ihn vorhergesehen war; aber er wollte sich überzeugen, daß seinem Austritt aus der Stadt nichts im Wege stehe.

Der Courier mußte deshalb nach der andern Seite des Flusses zurückkehren, nach dem Quartiere, in dem sich die Bureaux des Polizeipräfecten zur Zeit befanden.

Dort war ein großer Zusammenfluß von Menschen, denn wenn die Ausländer auch den Befehl erhalten hatten, die Provinzen zu verlassen, so ersparte ihnen das doch keineswegs gewisse Formalitäten vor der Abreise. Ohne dem hätte auch jeder bei dem Tartareneinfalle mehr oder weniger betheiligte Russe unter dem Schutze einer beliebigen Verkleidung das Land verlassen können, was die Verordnung ja gerade verhindern wollte. Man wies mit einem Worte die Leute fort, zwang sie aber auf der anderen Seite, sich die Erlaubniß zur Abreise erst zu beschaffen.

Der Hof und die Bureaux des Polizeiamtes waren also von Gauklern, Bänkelsängern, Zigeunern und Tsiganen, außer diesen aber von Kaufleuten aus Persien, der Türkei, Turkestan und China buchstäblich vollgepfropft.

Jeder beeilte sich, da die Transportmittel bei dieser Masse Ausgetriebener bald mangeln mußten, so daß Säumige leicht in die Lage kommen konnten, die festgesetzte Frist zu überschreiten und in Folge dessen sich einer brutalen Intervention der Beamten des Gouverneurs auszusetzen.

Michael Strogoff vermochte, Dank seiner kräftigen Ellenbogen, durch, den Hof zu dringen. Aber in die Expeditionen und bis zu den Schaltern der Beamten zu gelangen, das war ein weit schwereres Stück Arbeit. Indessen ein Wort, das er einem Inspector in’s Ohr flüsterte, und einige rechtzeitig in dessen Hand gedrückte Rubel besaßen die Macht, ihm den Durchgang zu erzwingen.

Nachdem er den Courier in einen Wartesaal geleitet, meldete ihn der Agent bei einem Oberbeamten an.

Michael Strogoff mußte also mit der Polizei bald in Ordnung und frei in seinen Bewegungen sein.

Inzwischen sah er sich von ungefähr etwas um. Und was erblickte er?

Da, mehr hingesunken als sitzend auf einer Bank ein junges Mädchen, ein Opfer der stummen Verzweiflung, deren Gesicht er nicht einmal ganz sehen konnte, da sich nur das Profil desselben von der weißgetünchten Mauer abhob.

Michael Strogoff täuschte sich nicht; er hatte die junge Liefländerin wieder erkannt.

Unbekannt mit der Verordnung des Gouverneurs war sie nach der Polizei gekommen, ihren Schein visiren zu lassen! …. Man hatte ihr das Visum versagt. Ohne Zweifel war sie legitimirt, nach Irkutsk zu reisen, jene Verordnung war aber einmal bekannt gegeben, sie machte alle früher ausgestellten Legitimationen ungiltig und verschloß alle Wege nach Sibirien.

Michael Strogoff, in seiner Freude sie endlich wieder gefunden zu haben, näherte sich dem jungen Mädchen.

Diese sah ihn einen Moment an, und über ihr Gesicht flog ein leichter Schimmer als sie den Reisegefährten wieder erkannte. Sie erhob sich fast instinctmäßig und wollte, so wie ein Schiffbrüchiger sich an jedes Trümmerstück klammert, ihn um seine Hilfe ansprechen ….

In diesem Augenblick berührte der Agent Michael Strogoff’s Schulter.

»Der Polizeipräfect erwartet Sie, sagte er.

– Gut«, erwiderte Michael Strogoff.

Und ohne ein Wort zu Der zu sprechen, welche er so lange in der ganzen Stadt gesucht hatte, ohne sie durch irgend eine Bewegung, welche ihn selbst oder auch sie hätte compromittiren können, zu beruhigen, folgte er dem Agenten durch die gedrängten Massen.

Als die junge Liefländerin Den verschwinden sah, von dem sie allein einige Unterstützung erwartet hätte, sank sie auf die Bank zurück.

Kaum drei Minuten verstrichen, als Michael Strogoff in Begleitung eines Agenten wieder im Saale erschien.

In der Hand hielt er seinen Podaroshna, der ihm den Weg nach Sibirien öffnete.

Er ging auf die junge Liefländerin zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte:

»Schwester ….!«

Sie verstand ihn; sie erhob sich, als ob eine plötzliche Eingebung ihr nicht erlaubte, zu zaudern.

»Sei ruhig, Schwester, wiederholte Michael Strogoff, wir sind autorisirt, unsere Reise nach Irkutsk fortzusetzen. Kommst Du?

– Ich folge Dir, Bruder«, antwortete das junge Mädchen und legte ihre Hand in die Michael Strogoff’s.

Sofort verließen Beide das Gebäude des Polizeiamtes.

Siebentes Capitel

Siebentes Capitel

Auf der Wolga stromabwärts

Kurz vor zwölf Uhr rief die Glocke des Dampfbootes zu dem Landungsplätze an der Wolga eine große Menschenmenge zusammen, weil sich daselbst nicht nur Die einfanden, welche wirklich abreisten, sondern auch Die, welche hatten abreisen wollen. Die Kessel des »Kaukasus« besaßen schon hinreichende Dampfspannung. Ueber dem Schlote kräuselten sich nur leichte Rauchwirbel, während aus dem Dampfrohre und um die Sicherheitsventile der Weiße Dampf brodelte.

Selbstverständlich überwachte die Polizei die Abfahrt des Steamers und schritt unerbittlich gegen die Reisenden ein, welche sich nicht als ausreichend legitimirt zum Verlassen der Stadt erwiesen.

Zahlreiche Kosaken ritten den Kai auf und ab, bereit die Polizeiagenten zu unterstützen; nirgends machte sich indessen ihre Intervention nöthig und Alles verlief ohne offenen Widerstand.

Rechtzeitig ertönte das letzte Glockensignal; die Taue wurden gelöst, die mächtigen Räder des Dampfers peitschten das Wasser mit ihren beweglichen Schaufeln, und schnell glitt der Kaukasus zwischen den beiden Stadtteilen, welche Nishny-Nowgorod bilden, dahin.

Michael Strogoff und die junge Liefländerin hatten sich mit eingeschifft und waren ohne Schwierigkeiten an Bord gekommen. Man erinnert sich, daß der auf den Namen Nicolaus Korpanoff ausgestellte Podaroshna den Kaufmann berechtigte, sich auf der Reise durch Sibirien begleiten zu lassen. Unter dem Schutze der kaiserlichen Polizei reisten hier also Bruder und Schwester.

Still saßen Beide auf dem Hinterdeck und sahen die durch den Erlaß des Gouverneurs so aufgeregte Stadt ihren Augen entfliehen.

Michael Strogoff hatte kein Wort zu dem jungen Mädchen gesprochen, keine Frage an sie gestellt. Er wartete es ab, daß sie reden würde, wenn es ihr passend erschien. Ihr war es ja von Wichtigkeit, diese Stadt zu verlassen, in der sie ohne das wunderbare Dazwischentreten ihres unerwarteten Beschützers gefangen zurückgeblieben wäre. Sie sprach zwar nicht, aber ihre Augen dankten ihm.

Die Wolga, die Rha der Alten, wird für den bedeutendsten Strom ganz Europas gehalten, und es erstreckt sich ihr Lauf auf nicht weniger als 4000 Werst (= 4300 Kilom.). Das etwas ungesunde Wasser derselben wird bei Nishny-Nowgorod durch die Einmündung der Oka, eines schnell fließenden Nebenstromes aus den mittelrussischen Provinzen, wesentlich verbessert.

Man hat die Gesammtheit der Kanäle und Wasserläuse Rußlands mit einem riesigen Baume verglichen, dessen Zweige sich in allen Theilen des Czaarenreiches verästeln. Die Wolga ist es, welche den Stamm dieses Baumes darstellt, den Stamm, der seinerseits wiederum mit siebenzig Mündungen in dem Küstengebiete des Kaspischen Meeres wurzelt. Sie ist von Rjef, einer Stadt im Gouvernement Tver, aus, d. h. im größten Theile ihres Laufes schiffbar.

Die Schiffe der Speditions-Gesellschaft zwischen Perm und Nishny-Nowgorod legen die 350 Werst (373 Kilom.) lange Strecke zwischen letzterer Stadt und Kasan sehr schnell zurück. Freilich laufen die Dampfer dabei mit der Strömung, die ihrer eigenen Schnelligkeit noch mit zwei Meilen per Stunde zu Hilfe kommt. Erreichen sie aber die Einmündung der Kama, so vertauschen sie den Strom mit diesem Flusse, den sie dann bis Perm stromaufwärts fahren müssen. Alles in Allem gerechnet und trotz seiner mächtigen Maschine konnte der »Kaukasus« nicht mehr als sechzehn Werst in der Stunde zurücklegen. Bei nur einstündigem Aufenthalt in Kasan nahm die Fahrt von Nishny-Nowgorod bis Perm doch sechzig bis zweiundsechzig Stunden in Anspruch.

Der Steamer besaß übrigens sehr bequeme Einrichtungen für die Passagiere, welche je nach Gefallen oder nach ihren Mitteln in drei verschiedenen Klassen befördert wurden. – Michael Strogoff hatte zwei Cabinen erster Klasse belegt, um seiner Begleiterin zu gestatten, sich in die ihrige zurück zu ziehen und allein zu sein, soviel es ihr beliebte.

Heut war der »Kaukasus« von Passagieren aller Art überfüllt. Eine große Anzahl asiatischer Handelsleute mochten es für gerathen erachtet haben, Nishny-Nowgorod mit erster Gelegenheit zu verlassen. In der für die erste Klasse reservirten Abtheilung des Dampfers begegnete man Armeniern in langen Gewändern und einer Mitra ähnlichen Kopfbedeckungen, – Juden, mit ihren hohen, konischen Mützen, – reichen Chinesen in Landestracht, mit sehr weitem, blauem, violettem oder auch schwarzem, an der Vorder- und Rückseite offenem Oberkleide und bedeckt von einem zweiten, weitärmeligen Ueberwurf, der in seinem Schnitte an den Talar der Popen erinnerte, – Türken mit dem nationalen Turban, – Indier mit viereckiger Mütze, einem einfachen Stricke als Gürtel, von denen einige Stämme, vorzüglich aber die Shikapuris, den ganzen Handel Centralasiens in der Hand haben, – endlich Tartaren mit buntgestickten Stiefeln und über der Brust reichverzierten Kleidern. Diese Kaufleute alle mußten im Schiffsräume oder auf dem Verdeck ihr umfängliches Gepäck unterbringen, dessen Transport ihnen gewiß theuer zu stehen kam, da sie vorschriftsmäßig nur zwanzig Pfund Freigepäck mitführen durften.

Im Vordertheile des »Kaukasus« befanden sich noch weit zahlreichere Passagiere, nicht allein Ausländer, sondern auch Russen, denen die Verordnung nach den Heimatsstädten der Provinz zurückzukehren nicht verbot.

Dort saßen oder standen Mujiks umher mit Kappen oder Mützen auf dem Kopfe, bekleidet mit einer Art Hemd aus kleinquarrirtem Stoffe unter dem Pelze; Bauern aus den Wolgadistricten, die blauen Beinkleider in den Stiefeln, das Hemd von röthlichem Baumwollengewebe mit einem Strick gegürtet, und mit flacher Kappe oder Filzmütze. Einige Frauen in geblümten Baumwollkleidern trugen Schürzen mit möglichst lebhaften Farben und grellroth gemusterte Tücher um den Kopf. Hieraus setzten sich meist die Passagiere der dritten Klasse zusammen, welche die Aussicht auf eine langdauernde Rückfahrt nicht sonderlich zu belästigen schien. Jedenfalls war dieser Theil des Decks dicht mit Menschen besetzt. Die Insassen des Hinterdecks vermieden es auch, sich unter Jene zu mischen, deren Bereich übrigens durch Bezeichnung auf den Klappen der Luken begrenzt war.

Mit der vollen Kraft seiner Schaufeln eilte der »Kaukasus« indessen zwischen den Ufern der Wolga dahin. Er kreuzte sich mit vielen durch Remorqueure stromaufwärts geschleppten Booten, welche noch allerlei Waaren nach Nishny-Nowgorod beförderten. Dann schwammen Holzflöße daher, so lang wie die unmeßbaren Sargassobündel im Atlantischen Ocean, und bis zum Versinken beladene Flachschiffe, die bis zum Dahlbord im Wasser gingen. Uebrigens sehr unnütze Waarentransporte, insofern ja die Messe bald nach ihrem Anfang plötzlich geschlossen worden war.

Die von dem Wellenschlage des Dampfers überspülten Ufer der Wolga zeigten sich mit großen Entenschwärmen besetzt, welche mit betäubendem Geschnatter aufflogen. Darüber hinaus weideten auf den dürren, von Birken, Weiden und Espen umrahmten Ebenen einzelne rothbraune Kühe, Heerden von Schafen mit bräunlichem Fell und ganze Haufen von weißen und schwarzen Schweinen und Ferkeln. Einige mit magerem Buchweizen oder dürftigem Korn bestandene Felder dehnten sich bis über kleine Landerhebungen aus, welche indeß nirgends eine bemerkenswerthe Aussicht bildeten. In diesen einförmigen Landstrichen hätte der Stift des Zeichners, wenn er pittoreske Bilder suchte, gewiß nichts zu thun gefunden.

Zwei Stunden nach der Abfahrt des Kaukasus wandte sich die junge Liefländerin an Michael Strogoff und fragte:

»Du gehst nach Irkutsk, Bruder?

– Ja, Schwester, erwiderte der junge Mann. Wir haben Beide den nämlichen Weg. Wo ich hindurchkomme, wirst auch Du hindurchkommen.

– Morgen, Bruder, sollst Du erfahren, warum ich die Küste der Ostsee verließ, um nach jenseits der Berge des Ural zu ziehen.

– Ich frage nach Nichts, Schwester.

– Du sollst Alles wissen, antwortete das junge Mädchen, auf deren Lippen ein schmerzliches Lächeln spielte. Eine Schwester darf ihrem Bruder nichts verheimlichen. Heute könnte ich aber nicht! …. Die Anstrengung, die Verzweiflung haben meine Kräfte verzehrt.

– Willst Du in Deiner Cabine ausruhen? fragte Michael Strogoff.

– Ja …. ja …. und morgen ….

– So komm …!«

Er brach den Satz ab, so als hätte er ihn mit dem ihm noch unbekannten Namen seiner Begleiterin schließen wollen.

»Nadia, sagte sie und reichte ihm die Hand.

– Komm, Nadia, und verfüge über Deinen Bruder Nicolaus Korpanoff ohne alle Umstände.«

Er geleitete das junge Mädchen nach ihrer Cabine nahe dem Salon des Hintertheils.

Michael Strogoff kehrte nach dem Deck zurück und mischte sich, begierig zu hören, doch ohne sich an den Gesprächen zu betheiligen, unter die Gruppen der Passagiere, aus deren Worten er Das oder Jenes zu vernehmen hoffte, was seine Reiseprojecte vielleicht zu beeinflussen im Stande wäre. Sollte er zufällig selbst gefragt und zu einer Antwort genöthigt werden, so wollte er sich für den Kaufmann Nicolaus Korpanoff ausgeben, den der »Kaukasus« nur nach der Grenze zurücktrug, denn Niemand sollte vermuthen, daß ihn eine spezielle Mission berechtigte, nach Sibirien zu reisen.

Die Ausländer auf dem Dampfer konnten offenbar nur von den Tagesereignissen, jener Verordnung und ihren Folgen, sprechen. Die armen Leute, welche kaum die Strapazen einer Reise durch das innere Asien hinter sich hatten, sahen sich gezwungen, wieder umzukehren, und wenn sie ihrem Zorn nicht in lautem Ausbruche Luft machten, so lag die Ursache nur darin, daß sie das nicht wagten. Eine respectvolle Furcht hielt sie zurück. Möglicher Weise befanden sich zur Ueberwachung der Reisenden auch auf dem »Kaukasus« geheime Polizisten; da galt es, die Zunge im Zaum zu halten, denn diese Austreibung war der Einsperrung in einer Festung doch immer noch vorzuziehen. Deshalb schwiegen auch die meisten Gruppen oder flüsterten sich die Worte gegenseitig nur so vorsichtig zu, daß daraus im Zusammenhange nichts zu entnehmen war.

Konnte Michael Strogoff aber von dieser Seite nichts vernehmen, oder schwiegen die Leute wohl auch ganz und gar – denn man kannte ihn ja nicht, – so traf sein Ohr dafür der Laut einer Stimme, welche ziemlich unbesorgt zu sein schien, ob sie gehört wurde oder nicht.

Der Mann mit der hellen Stimme sprach russisch, aber mit fremdem Accente, und sein mehr zugeknöpfter Nachbar antwortete ihm in derselben Mundart, welche offenbar auch seine Muttersprache nicht war.

»Wie! rief der Erste, wie, auf diesem Schiffe, Herr College, Sie, den ich bei dem Feste des Kaisers in Moskau und dann erst in Nishny-Nowgorod wieder sah?

– Gewiß, ich selbst! entgegnete trocken der Andere.

– Nun, frei heraus gesagt, ich erwartete nicht, daß Sie mir so unmittelbar, so auf den Fersen folgen würden.

– Ich folge Ihnen, nicht, mein Herr, ich gehe Ihnen voraus.

– Vorausgehen! Vorausgehen! Wir wollen wenigstens sagen, wir marschiren gleichen Schrittes in der Front, wie zwei Soldaten bei der Parade, und vorläufig könnten wir übereinkommen, Keiner dem Andern zuvor zu kommen.

– Ich werde es doch thun!

– Das wird sich erst auf dein Kriegsschauplätze zeigen; doch bis dahin können wir, zum Teufel, doch Reisegenossen sein. Später werden wir noch Zeit genug finden, gelegentlich Rivalen zu werden.

– Feinde!

– Meinetwegen auch Feinde! Ihre Worte, Herr College, besitzen eine Klarheit des Ausdrucks, welche mich höchst angenehm berührt. Bei Ihnen weiß Einer doch, woran er ist.

– Nun, was ist daran so schlimm?

– O nichts, gar nichts! Erlauben Sie, daß auch ich mir die Freiheit nehme, unseren gegenseitigen Standpunkt fest zu stellen.

– Nach Belieben.

– Sie gehen nach Perm …. wie ich?

– Wie Sie.

– Und begeben sich von Perm aus wahrscheinlich nach Jekaterinburg, auf dem besten und sichersten Wege zur Ueberschreitung des Uralkammes.

– Wahrscheinlich.

– Nach Ueberschreitung der Grenze werden wir in Sibirien, d. h. inmitten des überfallenen Gebietes sein.

– So ist es.

– Nun dann, aber auch erst dann wird es Zeit sein, zu sagen: ›Jeder für sich und Gott mit ….‹

– Gott mit mir!

– Gott mit Ihnen! Ganz allein! Sehr schön! Da wir indeß noch acht neutrale Tage vor uns haben und es unterwegs voraussichtlich keine Neuigkeiten regnen dürfte, so lassen Sie uns Freunde sein, bis wir zu Rivalen werden.

– Zu Feinden!

– Ja wohl, das ist richtiger: Zu Feinden! Bis dahin können wir aber in Uebereinstimmung handeln und brauchen uns gegenseitig nicht zu verzehren! Ich verspreche Ihnen überdies, Alles für mich zu behalten, was ich etwa sehe ….

– Und ich Alles, was ich etwa höre.

– Abgemacht?

– Abgemacht!

– Ihre Hand darauf?

– Hier ist sie!«

Und die Hand des ersten Sprechers, d. h. fünf weit offene Finger, schüttelte kräftig die beiden Finger, welche der Zweite phlegmatisch hinhielt.

»Was ich noch sagen wollte, begann der Erste, es gelang mir noch, den Inhalt der Verordnung diesen Morgen um 10 Uhr 17 Minuten an meine Cousine zu telegraphiren.

– Und ich habe dem Daily-Telegraph dieselbe Nachricht um 10 Uhr 13 gesendet.

– Bravo, Herr Blount!

– Zu gütig, Herr Jolivet!

– Bis ich mich revanchire!

– Dürfte Ihnen schwer fallen!

– Man versucht eben Alles!«

Bei diesen Worten grüßte der französische Correspondent vertraulich den englischen Reporter, der ihm mit vollem britannischen Stolze dankte.

Diese beiden Neuigkeitsjager, welche ja weder Russen, noch Fremde von asiatischer Herkunft waren, traf die Verordnung des Generalgouverneurs nicht. Sie reisten also ab, und wenn sie Nishny-Nowgorod zu derselben Stunde verließen, so geschah das, weil der nämliche Instinct sie vorwärts trieb. Ganz natürlich bedienten sie sich also derselben Fahrgelegenheit und folgten bis zu den sibirischen Steppen demselben Wege. Ob als einfache Reisegefährten, als Freunde oder Feinde, noch hatten sie acht Tage »bis zum Aufgang der Jagd« vor sich. Dann hieß es: Dran und drauf! Jetzt hatte Jolivet die ersten Zwischenvorschläge gemacht und der Brite sie, wenn auch so kühl als möglich, angenommen.

Jedenfalls saßen Beide, der Franzose immer offenherzig bis zur Schwatzhaftigkeit, der Engländer immer verschlossen, an derselben Tafel und probirten, zu sechs Rubel die Flasche, einen sogenannten echten Cliquot, offenbar den Abkömmling des frischen Birkensaftes der Umgegend.

Als Michael Strogoff Alcide Jolivet und Harry Blount so reden hörte, sprach er für sich:

»Das sind ein Paar neugierige und indiscrete Leute, denen ich auf der Reise jedenfalls noch ferner begegne. Mir scheint es geboten, sich diese drei Schritt vom Leibe zu halten.«

Die junge Liefländerin erschien nicht bei Tische. Sie schlummerte in ihrer Cabine und Michael Strogoff wollte sie nicht wecken lassen. Der Abend kam heran, ohne daß sie wieder auf Deck erschienen wäre.

Mit der langen Dämmerung gewann die Atmosphäre eine wohlthuende Frische, an welcher sich nach der Hitze des Tages Alle gern erquickten. Selbst in vorgeschrittener Nachtstunde dachten die Meisten gar nicht daran, die Salons oder Kabinen aufzusuchen. Auf die Bänke gestreckt, athmeten sie behaglich in dem Luftzuge, den die schnelle Bewegung des Schiffes erregte. Der Himmel verfinsterte sich in dieser Jahreszeit und in diesen Breiten zwischen Abend und Morgen nicht allzu sehr und erleichterte es dem Steuermann, zwischen den vielen Schiffen hindurch zu gleiten, welche die Wolga stromauf und stromab befuhren.

Inzwischen ward es, da gerade Neumond war, in der Zeit von elf und ein Uhr doch nahezu Nacht. Die meisten Deckpassagiere schliefen schon und das Schweigen wurde nur durch das regelmäßige Klatschen der Schaufelräder unterbrochen.

Eine eigenthümliche Unruhe hielt Michael Strogoff wach. Er ging, doch meist nur auf dem Hinterdeck, auf und ab. Einmal jedoch streifte er auch über den Maschinenraum hinaus. Er befand sich damit in der für die Passagiere zweiter und dritter Klasse bestimmten Abtheilung.

Dort schlief Alles nicht nur auf den Bänken, sondern auch auf Ballen und Gepäckstücken, selbst auf dem Brettboden des Verdecks. Nur die Matrosen der Wache standen auf dem Vordercastell. Zwei Laternen, eine grüne und eine rothe, vom Backbord und vom Steuerbord, warfen einige schiefe Strahlen auf die Wand des Dampfers.

Es erforderte eine gewisse Aufmerksamkeit, die ganz beliebig umher liegenden Schläfer nicht zu treten. Es waren das meist Mujiks, denen bei ihrer Gewöhnung an ein hartes Lager auch das Verdeck des Schiffes schon genügte, die aber doch Jeden schlecht empfangen hätten, der sie vorzeitig durch einen Fußtritt erweckte.

Michael Strogoff hütete sich also wohl, an Jemand zu stoßen. Bei seiner Wanderung bis an das Ende des Schiffes hatte er keine andere Absicht, als sich durch eine längere Promenade des Schlafes zu erwehren.

Auf dem Vorderdeck angelangt, wollte er schon die Stufen nach dem Vordercastell hinaufsteigen, als er neben sich sprechen hörte. Er hielt an. Die Stimmen schienen aus einer Gruppe Passagiere zu kommen, welche mit allerhand Shawls und Decken verhüllt dasaß, die er aber bei der Dunkelheit nicht weiter zu erkennen vermochte. Nur manchmal gelang es ihm ein wenig, wenn dem Rauchfange des Dampfers zwischen den schwarzen Wolken einige röthliche Flammen entstiegen; dann schien es, als wirbelten Funken mitten durch die Gruppe oder als erglänzten Tausende von Metallflitterchen in dem ungewissen Lichte.

Michael Strogoff wollte schon weiter gehen, als er einige Worte deutlicher vernahm und noch dazu in dem auffallenden Idiome, das schon auf dem Meßplatze in vergangener Nacht an sein Ohr gedrungen war.

Unwillkürlich drängte es ihn, zu lauschen. In dem Schatten des Vordercastells konnte er nicht gesehen werden, so wenig, wie er die mit einander redenden Fahrgäste eigentlich sehen konnte. Er mußte sich demnach begnügen, zu horchen.

Die anfänglich gewechselten Worte besaßen, – wenigstens für ihn, – keine besondere Bedeutung, doch genügten sie ihm, unzweifelhaft die Stimmen der Frau und des Mannes wieder zu erkennen, die er schon in Nishny-Nowgorod gehört hatte. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Es schien nicht unmöglich, daß jene Tsiganen, von deren Gespräch er einige Brocken aufgefangen, jetzt nach der Austreibung sammt ihren Landsleuten, an Bord des »Kaukasus« Passage genommen hätten.

Wie gut es war, daß er horchte, ergab sich aus folgenden in tartarischer Mundart gewechselten Worten:

»Man sagt, es sei ein Courier auf dem Wege von Moskau nach Irkutsk.

– Das sagt man wohl, Sangarre, aber dieser Bote wird entweder zu spät oder auch gar nicht ankommen!«

Michael Strogoff fühlte, wie diese ihn persönlich so nahe angehende Antwort ihn durchzuckte. Er versuchte sich zu vergewissern, ob der Mann und die Frau, welche eben sprachen, dieselben seien, die er unter ihnen vermuthete; aber die tiefe Dunkelheit vereitelte seine Bemühungen.

Bald nachher war Michael Strogoff unbemerkt wieder nach dem Hinterdeck gelangt und setzte sich, den Kopf in die Hände gestützt, nieder. Man hätte meinen sollen, er schliefe.

Er schlief aber weder, noch dachte er überhaupt daran. Er überlegte sich vielmehr, nicht ohne eine gewisse Besorgniß, was er gehört hatte.

»Wer in aller Welt weiß von meiner Abreise und wer hat ein Interesse daran, sie zu kennen?«

Achtes Capitel

Achtes Capitel

Die Kama stromaufwärts

Am Morgen des 18. Juli kam der »Kaukasus« um sechs Uhr vierzig Minuten an dem Landeplatze für Kasan, sieben Werst von dieser Stadt, wohlbehalten an.

Kasan liegt am Zusammenflusse der Wolga und der Kazanka. Ein Hauptort des Gouvernements, ist es gleichzeitig Sitz einer Universität und eines griechischen Erzbischofs. Die gemischte Bevölkerung dieser Provinzialhauptstadt besteht aus Tscheremissen, Mordwinen, Tschuwaken, Wolsaken, Wipulitschen und Tartaren, von denen der letzte Stamm sich den asiatischen Charakter am reinsten bewahrt hat.

Trotz der großen Entfernung der Stadt vom Landungsplatze drängte sich eine ungeheure Menge auf dem Kai. Man war gespannt auf Neuigkeiten. Der Gouverneur der Provinz hatte eine gleichlautende Verordnung erlassen, wie sein College in Nishny-Nowgorod. Da sah man Tartaren in kurzärmeligem Kaftan und mit spitzen Mützen, deren breite Krempen an den gewöhnlichen Hut des Pierrot erinnerten. Andere in langem Ueberrock und auf dem Kopfe ein kleines Scheitelkäppchen, wie es die polnischen Juden tragen. Frauengestalten mit glitzerndem Schmucke auf der Brust und einem sich halbmondförmig erhebenden Diadem auf dem Kopfe, standen plaudernd in Gruppen bei einander.

Polizei-Officianten inmitten der Volksmenge und Kosaken, die Lanze in der Faust, hielten auf Ordnung und schafften Raum, sowohl für die Passagiere, die den »Kaukasus« hier verließen, als auch für andere, welche hier das Schiff bestiegen, Alles aber erst nach sorgfältiger Musterung jedes Einzelnen. Zum Theil waren das von dem Ausweisungsdecret betroffene Asiaten, zum andern Theil verschiedene Mujiks, die in Kasan verblieben.

Gleichgiltig betrachtete Michael Strogoff dieses Ab- und Zuströmen, das man an jedem Dampfschifflandungsplatze ebenso sieht. Der »Kaukasus« sollte behufs Einnahme neuen Brennmaterials in Kasan eine Stunde rasten.

An’s Land zu gehen, kam Michael Strogoff gar nicht in den Sinn. Er hätte die bis jetzt noch nicht wieder erschienene junge Liefländerin nicht auf dem Schiffe allein lassen können.

Die beiden Journalisten hatten sich schon mit Tagesanbruch erhoben, wie sich’s eben für eifrige Jäger schickt. Sie begaben sich auf das Ufer und mischten sich, jeder auf eigene Hand, unter die Menge. Michael Strogoff beobachtete sowohl Harry Blount mit dem Notizbuche in der Hand, wie er entweder einige Erscheinungen flüchtig skizzirte oder Bemerkungen eintrug, als auch Alcide Jolivet, der im Vertrauen auf die Treue seines Gedächtnisses nur plaudernd umher lief.

Längs der ganzen Ostgrenze Rußlands schwirrte das Gerücht durch die Luft, daß die Empörung und der Einfall sehr gefährliche Dimensionen annähmen. Schon wurden die Verbindungen zwischen Sibirien und dem Reiche ungemein schwierig. Michael Strogoff erfuhr das, ohne den »Kaukasus« verlassen zu haben, von verschiedenen neuen Ankömmlingen.

Erfüllten ihn diese Nachrichten auch mit einer gewissen Unruhe, so erweckten sie doch gleichzeitig desto gebieterischer das Verlangen, die Uralkette zu überschreiten, um selbst über die Bedeutung der Ereignisse urtheilen und Vorbereitungen zur Beseitigung etwaiger Hindernisse treffen zu können. Fast hätte er einen Eingeborenen aus Kasan um weitere Einzelheiten gefragt, als seine Aufmerksamkeit plötzlich abgelenkt wurde.

Unter den Reisenden, welche den »Kaukasus« verließen, erkannte Michael Strogoff jene Tsiganen, die gestern noch auf der Messe in Nishny-Nowgorod figurirten. Auf dem Verdecke standen der alte Zigeuner und das Weib, die ihn einen Spion genannt hatte. Mit ihnen, und jedenfalls unter ihrer Führung, schifften sich etwa zwanzig Tänzerinnen und Sängerinnen im Alter von fünfzehn bis zwanzig Jahren aus, deren elende Lumpen nur nothdürftig den Flitterstaat darunter verhüllten.

Diese glitzernden Stoffe, auf welche eben die Strahlen der Sonne fielen, erinnerten Michael Strogoff lebhaft an den Eindruck der vergangenen Nacht. Es war der nämliche Zigeunerputz, der im Dunklen aufblitzte, wenn aus dem Rauchfang des Steamers einige Flammen emporlohten.

»Offenbar, so sagte er sich, hielt sich dieser Tsiganentrupp tagsüber unter dem Verdeck auf und wollte sich während der Nacht unter dem Vordercastell verkriechen. Hielten die Leute es für gut, möglichst wenig gesehen zu werden? Das ist aber doch sonst ihre Art nicht!«

Michael Strogoff schwand nun jeder Zweifel, daß der ihn besonders angehende Redesatz von dieser dunklen Gruppe hergerührt habe, die nur dann und wann ein Glitzern und Funkeln verrieth, und daß jene Worte zwischen dem alten Tsiganen und dem Weibe, das er Sangarre nannte, gewechselt worden seien.

Wider Willen näherte sich Michael Strogoff der Austrittsstelle des Steamers, gerade als die Zigeunertruppe diesen verließ, um nicht wieder zu kehren.

Dort stand der Alte in sehr demüthiger, mit der natürlichen Unverschämtheit seiner Stammesgenossen wenig übereinstimmender Haltung. Er sah aus, als meide er es möglichst gesehen zu werden, statt die Blicke Anderer auf sich zu lenken. Sein schäbiger, von der Sonne des ganzen Erdballs verbrannter Hut saß tief in dem runzeligen Gesicht. Ueber seinem breiten Rücken bauschte sich trotz der Wärme der Sonne ein weiter Kittel. Es wäre schwierig gewesen, unter dieser erbärmlichen Hülle seine Figur deutlich zu erkennen.

Neben ihm stand die Tsiganerin Sangarre, eine große Frau von dreißig Jahren, mit braunem Teint, guter Constitution, prächtigen Augen und üppigem Haar in stolzer Haltung.

Einige der jungen Tänzerinnen waren von auffallender Schönheit, und Alle zeigten die ausgesprochenen Merkmale ihrer Race. Die Tsiganenfrauen sind im Allgemeinen anziehend und mehr als einer der russischen Großen, welche mit den Engländern gern an Excentricität wetteifern, hat sich nicht entblödet, ein Weib aus diesem Stamme zu wählen.

Eine von Jenen sang ein Liedchen von eigenthümlichem Rhythmus vor sich hin, dessen erste Verse man etwa so übersetzen könnte:

Am braunen Hals die Koralle blinkt,
Die goldene Nadel im Haar;
Ich ziehe, wo immer das Glück mir winkt,
Zum Lande der ….

Die lustige Dirne sang gewiß weiter, doch Michael Strogoff hörte sie nicht mehr.

Es schien, als ob der durchdringende Blick Sangarre’s mit besonderer Aufmerksamkeit auf ihm hafte, und als wollte die Zigeunerin seine Züge ihrem Gedächtniß unauslöschlich einprägen.

Einige Minuten später verließ dann auch Sangarre den »Kaukasus«, als der Alte mit seiner Truppe schon am Lande, war.

»Die reine Zigeunerfrechheit! murmelte Michael Strogoff. Sollte sie mich als Denselben wieder erkannt haben, den sie in Nishny-Nowgorod mit ›Spion‹ titulirte? Diese verdammten Tsiganen haben Katzenaugen! Sie sehen auch deutlich in der Nacht, und Diese könnte wohl wissen ….«

Michael Strogoff war auf dem Punkte, Sangarre und der Gesellschaft zu folgen, aber er bezwang sich noch.

»Nein, nein, dachte er, keinen unüberlegten Schritt! Lasse ich den alten Wahrsager und seine Bande festnehmen, so laufe ich Gefahr, mein Incognito aufgeben zu müssen. Sie sind ja fort, und bevor sie über die Grenze gelangen können, werde ich schon weit über den Ural hinaus sein. Ich weiß wohl, daß sie den Weg von Kasan nach Tschim einschlagen können, aber dieser bietet keinerlei Beförderungsmittel, und ein Tarantaß mit tüchtigen sibirischen Rossen kommt einem Zigeunerwagen allemal zuvor. Also ruhig, bleib‘ ruhig, Freund Korpanoff!«

Jetzt waren der alte Tsigane und Sangarre auch schon unter der Menge verschwunden.

Wenn Kasan mit Recht »das Thor Asiens« genannt wird, wenn man diese Stadt als den Mittelpunkt des Handels von Sibirien und Bukhara ansieht, so kommt das von den zwei hier zusammenlaufenden Straßenzügen her, welche über die Pässe des Uralwalles führen. Michael Strogoff hatte mit guter Absicht den über Perm, Jekaterinenburg und Tiumen vorgezogen. Er bildet die große Poststraße, besitzt reichliche, vom Staate unterhaltene Stationen mit Relais und setzt sich über Tschim bis Irkutsk fort.

Daneben verbindet freilich eine zweite Straße, – eben jene von Michael Strogoff erwähnte, – Kasan und Tschim mit Vermeidung des kleinen Umweges über Perm, welche über Jelabuga, Menzelinsk, Birsk, Zlatoutse, wo sie Europa verläßt, und über Tschelabinsk, Kadrinsk und Kurganne führt. Mag sie auch etwas kürzer sein, als jene, so hält der Mangel an Posthäusern, der schlechte Zustand der Wege und die Seltenheit von Dörfern diesem Vortheil gewiß die Wage. Michael Strogoff mußte mit seiner Wahl um so zufriedener sein, da ihm, wenn die Zigeuner den zweiten Weg von Kasan nach Tschim einschlugen, alle Chancen blieben, vor ihnen anzukommen.

Eine Stunde später läutete die Glocke auf dem Vorderdeck des »Kaukasus«, rief die neuen Passagiere herzu und die alten zurück. Es mochte bald acht Uhr sein. Die Einnahme von Brennmaterial war beendet. Die Wandungen der Kessel zitterten unter der Pressung der Dämpfe. Das Schiff konnte jeden Augenblick abfahren.

Die Reisenden von Kasan nach Perm hatten ihre Plätze an Bord schon eingenommen.

Da fiel es Michael Strogoff auf, daß von den beiden Journalisten nur der eine, Harry Blount, nach dem Dampfer zurück gekehrt war.

Sollte Alcide Jolivet die Abfahrt versäumen?

Aber gerade in dem Augenblick, als man die Taue löste, erschien Alcide Jolivet in vollem Laufe. Schon war der Steamer etwas abgestoßen und die Landungsbrücke auf den Kai zurück gerollt, der leichtfüßige Held der Feder bekümmerte sich darum nicht viel, mit der Gewandtheit eines Clown setzte er über die Lücke und fiel auf dem Deck des »Kaukasus«, fast in die Hände seines Collegen, nieder.

»Ich glaubte schon, der »Kaukasus« sollte ohne Sie weiter gehen, sagte Dieser mit einem Gesicht, das halb einer Feige und halb einer Weintraube ähnelte.

– Was da! antwortete Alcide Jolivet, ich hätte Sie schon einzuholen gewußt und sollte ich deshalb auch auf Kosten meiner Cousine ein Extraschiff chartern oder mit Extrapost, per Pferd und Werst für zwanzig Kopeken, nachreisen. Was meinen Sie? Vom Landungsplatze bis zum Telegraphenbureau ist’s eine tüchtige Strecke.

– Sie waren nach dem Telegraphen, fragte Harry Blount, dessen Lippen sich dabei zusammenzogen.

– Ja, ich bin dahin gegangen! erwiderte Alcide Jolivet mit dem liebenswürdigsten Lächeln.

– Nun, er ist bis Kolyvan noch in Ordnung?

– Das weiß ich nicht, kann Ihnen dafür aber versichern, daß er z. B. von Kasan nach Paris noch bestens in Gang ist.

– Sie gaben eine Depesche auf …. an Ihre Cousine? ….

– Mit reinem Feuereifer!

– Sie haben also gehört ….

– Erlauben Sie, Väterchen, um wie die Russen zu sprechen, antwortete Alcide Jolivet; ich bin wirklich ein gutes Kind und mag kein Geheimniß vor Ihnen haben. Die Tartaren, Feofar-Khan an der Spitze, sind über Semipalatinsk hinaus gedrungen und schwärmen in hellen Haufen längs der Ufer des Irtysch. Benutzen Sie das nach Gefallen!«

Wie! Eine so wichtige Neuigkeit, und Harry Blount kannte sie noch nicht, während sein Rival, der sie von irgend einem Einwohner aus Kasan haben mochte, sie schon telegraphisch nach Paris gemeldet hatte! Die englische Zeitung war um zwei Pferdelängen geschlagen!

Der arme Harry Blount wandelte, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, nach dem Hinterdeck und setzte sich dort nieder, ohne eine Sylbe zu sprechen.

Gegen zehn Uhr Morgens verließ die junge Liefländerin ihre Cabine und erschien auf dem Verdeck.

Michael Strogoff ging ihr entgegen und bot ihr die Hand.

»Sieh Dich hier um, Schwester«, mahnte er, als Beide nach dem Vordertheile des Schiffes gelangt waren.

Die Umgegend lohnte wirklich eine aufmerksamere Betrachtung.

Der »Kaukasus« erreichte jetzt den Zusammenfluß der Wolga und Kama. Hier verließ er nach einer Thalfahrt von über 400 Werst jenen Strom, um den immerhin bedeutenden Fluß 460 Werst (= 490 Kilom.) weit stromauf zu durchpflügen.

An dieser Vereinigungsstelle der beiden Wasserläufe mischten sich deren verschieden gefärbte Fluthen, wobei die klarere Kama hier dem linken Ufer denselben Dienst leistete, wie bei Nishny-Nowgorod die Oka dem rechten, und zur Verbesserung des Wassers sichtbar beitrug.

Die Kama endigte in weitgeöffneter Mündung, umrahmt von lieblich bewaldeten Ufern. Einige weiße Segel belebten das reinliche Wasser, auf dem die Sonne in vollem Glanze lag. Mit Espen, Erlen und dann und wann mit mächtigen Eichen geschmückte Hügel schlossen den Horizont in harmonischer Linie ab, die bei dem blendenden Mittagslichte da und dort mit den Tiefen des Himmels zu verschmelzen schien.

Und doch schien es, als blieben diese Naturschönheiten ohne allen Eindruck auf den Gedankengang des jungen Mädchens. Sie hatte nur Eins im Auge: ihr Reiseziel zu erreichen! – Die Kama bildete für sie nur einen leichteren Weg, dahin zu gelangen. Wie glänzten ihre Augen in schönem Feuer auf, wenn sie diese nach Westen richtete, so als wollte sie den fernen Horizont durchbohren.

Nadia hatte die Hand in der ihres Gefährten gelassen und fragte, indem sie sich zu ihm hinwendete:

»Wie weit sind wir jetzt von Moskau weg?

– Neunhundert Werst, antwortete Michael Strogoff.

– Neunhundert auf sieben Tausend!« seufzte das junge Mädchen.

Die Zeit zum Frühstücken war gekommen; das Läuten einer Glocke meldete es den Reisenden. Nadia folgte Michael Strogoff nach den Restaurationsräumen des Steamers. Sie berührte die auf einer seitlichen Tafel servirten Vorspeisen nicht, unter denen sich Caviar, Häring in Stücken, anishaltiger Kornbranntwein u. dergl. zur Anregung des Appetites befand, eine Sitte, der man in allen nördlichen Ländern, in Rußland ebenso wie in Schweden und Norwegen begegnet. Nadia aß nur wenig, etwa wie ein armes Mädchen, deren beschränkte Mittel sie nicht weiter gehen ließen. Michael Strogoff glaubte sich also auch mit den Gerichten zufrieden geben zu sollen, welche seiner Gefährtin genügten, nämlich ein wenig »Kulbat«, eine Art Pastete aus Reis, Eidotter und geklopftem Fleisch; Rothkohl mit Caviar und als Getränk etwas Thee.

Diese Mahlzeit war weder lang noch kostspielig, und kaum zwanzig Minuten, nachdem sie sich zu Tisch gesetzt hatten, betraten Michael Strogoff und Nadia wieder das Deck des »Kaukasus«.

Sie setzten sich auf dem Hinterdeck nieder, und Nadia begann ohne alle Umschweife, aber mit leiser Stimme, um nur von ihrem Nachbar gehört zu werden:

»Bruder, ich bin die Tochter eines Verbannten. Ich heiße Nadia Fedor. Vor kaum einem Monat starb in Riga meine Mutter, und ich begebe mich jetzt nach Irkutsk, um meinen Vater aufzusuchen und sein Exil zu theilen.

– Auch ich gehe nach Irkutsk, antwortete Michael Strogoff, und werde es als eine Gnade des Himmels betrachten, Nadia Fedor frisch und gesund in die Arme ihres Vaters zu führen.

– Ich danke, Bruder!« erwiderte Nadia.

Michael Strogoff fügte noch hinzu, daß er für Sibirien einen speciellen Podaroshna erhalten habe und ihrer Reise seitens der russischen Behörden kein Hinderniß im Wege stehen werde.

Nadia fragte nicht weiter. Sie sah in der zufälligen Begegnung dieses einfachen, gutherzigen jungen Mannes nur Eins: das Hilfsmittel zu ihrem Vater zu gelangen!

»Ich besaß, fuhr sie fort, einen Paß, der mir erlaubte, nach Irkutsk zu gehen; ihn hat der Erlaß des Generalgouverneurs zu Nishny-Nowgorod ungiltig gemacht, und ohne Dich, Bruder, hätte ich die Stadt, in der Du mich wieder fandest und in welcher ich umgekommen wäre, nicht verlassen können.

– Und allein, Nadia, bemerkte Michael Strogoff, ganz allein wolltest Du Dich durch die Steppen Sibiriens wagen?

– Es war meine Pflicht, Bruder.

– Wußtest Du aber nicht, daß das empörte und von Feinden überschwemmte Land kaum zu passiren ist?

– Der Tartareneinfall war, als ich Riga verließ, noch nicht bekannt, erwiderte die junge Liefländerin. In Moskau erst erfuhr ich diese Neuigkeiten.

– Und setztest trotzdem Deine Reise fort?

– Es war meine Pflicht.«

Aus diesem Worte sprach der ganze Charakter des muthigen, jungen Mädchens. Was sie für ihre Pflicht erkannte, zögerte Nadia niemals auszuführen.

Sie sprach dann von ihrem Vater, Wassili Fedor. Er war in Riga ein geschätzter Arzt, betrieb seine Kunst mit Erfolg und lebte glücklich im Kreise der Seinen. Nach seinem Beitritt zu einer ausländischen geheimen Gesellschaft aber erhielt er den Befehl zugestellt, nach Irkutsk zu gehen und die Gensdarmen, welche jene Ordre überbrachten, geleiteten ihn ohne Verzug über die Grenze.

Wassili Fedor ließ man kaum Zeit, sein damals schon leidendes Weib und seine hilflos zurückbleibende Tochter zu umarmen, und er vergoß heiße Thränen beim Abschiede von den beiden, ihm so theuren Wesen.

Seit zwei Jahren bewohnte er nun die Hauptstadt Ostsibiriens und hatte dort, aber fast ohne pecuniären Vortheil, seine Praxis weiter betreiben können. Und doch wäre er wohl so glücklich gewesen, wie das einem Verbannten überhaupt möglich ist, hätte er Weib und Kind um sich haben können. Frau Fedor vermochte es ihrer Schwächlichkeit wegen aber auch schon damals nicht, Riga zu verlassen. Zwanzig Monate nach der Abreise des Gatten hauchte sie in den Armen der Tochter, welche nun ganz verwaist dastand, ihre Seele aus. Nadia Fedor ging die Behörden nun um die bald zugestandene Erlaubniß an, ihren Vater in Irkutsk aufzusuchen. Sie schrieb Diesem, daß sie abreisen werde. Kaum vermochte sie die Mittel zu dieser weiten Reise aufzubringen, zauderte aber doch nicht, sie zu unternehmen. Sie that, was sie konnte! …. Gott würde das Uebrige thun!

Indeß arbeitete sich der »Kaukasus« gegen den Strom vorwärts. Die Nacht brach an und die Luft kühlte sich erquickend ab. Zu Tausenden sprangen
die Funken aus dem Rauchfange der Fichtenholzfeuerung des Dampfers, und zu dem Murmeln der an seinem Vordersteven gebrochenen Wellen gesellte sich das Geheul der Wölfe, die sich am rechten Kama-Ufer umhertrieben.

Neuntes Capitel

Neuntes Capitel

Tag und Nacht im Tarantaß

Am folgenden Tage, dem 19. Juli, legte der »Kaukasus« am Landungsplatze in Perm an, der letzten Station, die er an der Kama berührte.

Das Gouvernement, dessen Hauptstadt Perm bildet, ist eines der umfänglichsten in ganz Rußland und greift über das Uralgebirge hinweg bis nach Sibirien hinüber. Marmorbrüche, Salinen, Platin- und Goldlager, sowie Steinkohlengruben werden dort in großem Maßstäbe ausgebeutet. Perm mag allen Umständen nach dereinst eine Stadt ersten Ranges werden; vorläufig aber ist es wenig anziehend, schmutzig und bietet keinerlei Hilfsquellen. Für Diejenigen, welche von Rußland nach Sibirien gehen, fällt jener Mangel an Comfort nicht allzu sehr in’s Gewicht, denn Diese sind gewöhnlich mit allem Nöthigen hinlänglich versehen; den Ankömmlingen aus Centralasien dagegen würde es nach ihrer langen und beschwerlichen Reise gewiß recht angenehm sein, die erste europäische Stadt des Reiches an der asiatischen Grenze reichlicher mit den verschiedensten Gegenständen des Bedarfs versorgt zu sehen.

In Perm pflegen die Reisenden ihre bei der langen Fahrt durch die Steppen meist mehr oder weniger beschädigten Wagen zu veräußern; andererseits kauft hier, wer von Europa nach Asien gehen will, im Sommer Wagen, im Winter Schlitten, bevor er sich für mehrere Monate in die verlassenen Steppenwüsten wagt.

Michael Strogoff hatte schon sein umfassendes Reiseprogramm entworfen und durfte dasselbe nur erfüllen.

Gewöhnlich besteht zwar ein Postverkehr, der die Uralkette ziemlich schnell überschreitet; unter dem Druck der augenblicklichen Verhältnisse hatte man diesen aber einstellen müssen. Auch ohnedem hätte Michael Strogoff, dem es auf die größte Eile ankam, auf dieses Beförderungsmittel verzichtet, und würde er es, um von Niemand abhängig zu sein, vorgezogen haben, selbst einen Wagen zu kaufen und auf jeder Station die Pferde zu wechseln, wobei er durch splendide »na vodku« (Trinkgelder) den Eifer der Postillone anzuspornen hoffen durfte.

Zum Unglück hatten in Folge der gegen die Fremden asiatischer Herkunft beliebten Maßnahmen schon sehr viele Reisende Perm verlassen, in Folge dessen Transportmittel sehr selten geworden waren. Michael Strogoff kam also in die Lage, sich mit dem von Anderen Verschmähten zu begnügen. Bezüglich der Spannkraft konnte der Courier des Czaaren außerhalb Sibiriens wohl seinen Podaroshna in’s Treffen führen, auf welchen hin ihn die Postmeister ohne Widerspruch und vor allen Uebrigen befriedigen würden. Einmal außer dem europäischen Reiche aber sah er sich gleich jedem Andern auf die Hilfe der blinkenden Silberrubel beschränkt.

An welche Art Wagen sollten aber die Pferde gespannt werden, an einen Tarantaß oder einen Teleg?

Der Teleg ist ein vollkommen offenes, vierräderiges Wägelchen und durchweg aus Holz construirt. Räder, Axen, Schlußnägel, Sitze und Deichsel, alles stammt von den Bäumen der Nachbarschaft her, wobei die Verbindung der einzelnen Theile eines solchen Teleg nur durch haltbare Stricke hergestellt ist. Es giebt nichts Primitiveres, Nichts, was so sehr alles Comforts entbehrt, aber auch Nichts, was unterwegs im Fall einer Beschädigung leichter wieder in Stand zu setzen wäre. An Tannen fehlt es längs der russischen Grenze nicht, und die Schlußnägel wachsen in den Wäldern. Mittels solcher Telegs, denen alle Wege gut genug sind, werden die unter dem Namen »Perekladnoï« bekannten Extraposten befördert. Manchmal reißen zwar die Seile, welche das Ganze zusammenhalten, und während der Hintertheil irgend wo ruhig stecken bleibt, kommt nur der Vordertheil des Fuhrwerks bei dem nächsten Relais auf zwei Rädern an; aber man ist auch mit dieser Errungenschaft schon zufrieden.

Michael Strogoff hätte sich ebenfalls zu einem solchen Teleg bequemen müssen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch einen Tarantaß aufzutreiben.

Es glaube aber Niemand, daß ein derartiges Gefährt auf der obersten Staffel der Wagenbaukunst stehe. Federn z. B. gehen ihm ebenso ab, wie dem Teleg; wegen Mangels an Eisen ist auch bei ihm das Holz nicht gespart; aber seine am Ende jeder Axe acht bis neun Fuß von einander entfernten Räder sichern ihm wenigstens auf den holperigen und oft sehr unebenen Straßen ein gewisses Gleichgewicht. Ein Schirm schützt die Insassen vor dem aufspritzenden Kothe des Weges, eine starke Lederdecke, welche herabgezogen das Gefährt fast hermetisch verschließt, vor dem Sonnenbrande und den nicht seltenen Windstößen im Sommer. Im Uebrigen ist der Tarantaß ebenso solid gebaut und leicht reparirbar, wie der Teleg, und andererseits weniger dem Unfall ausgesetzt, einen Theil im Schlamme stecken zu lassen.

Michael Strogoff gelang es nur mit großer Mühe, einen solchen Tarantaß aufzufinden; vielleicht gab’s in der ganzen Stadt Perm jetzt keinen zweiten mehr. Trotzdem feilschte er der Form wegen bei dessen Einkaufe nicht wenig, um seiner Rolle als einfacher Kaufmann Nicolaus Korpanoff auch hier treu zu bleiben.

Nadia folgte ihrem Reisegefährten bei seinen Nachsuchungen nach einem Fuhrwerke. Trotz ihres verschiedenen Zweckes hatten doch Beide dieselbe Eile, an das Ziel zu gelangen und demnach baldigst abzureisen. Man könnte sagen, daß sie ein und derselbe Wille drängte.

»Schwester, begann Michael Strogoff, ich hätte für Dich gerne eine bequemere Fahrgelegenheit gesucht.

– Du sagst das zu mir, Bruder, zu mir, die ich im Nothfalle auch zu Fuß aufgebrochen wäre, um meinen Vater zu finden.

– An Deinem Muthe, Nadia, zweifele ich nicht, aber es giebt physische Anstrengungen, denen ein Weib nicht gewachsen ist.

– Ich würde sie aber ertragen, welcher Art sie auch seien! entgegnete das junge Mädchen. Wenn Du eine Klage über meine Lippen kommen hörst, so verlaß mich und setze Deinen Weg allein fort!«

Eine halbe Stunde später standen, nach Vorzeigung des Podaroshna, drei Postpferde vor dem Tarantaß angeschirrt. Diese langhaarigen Thiere ähnelten fast den Bären. Sie waren, wie die sibirische Race überhaupt, klein, aber feurig. Der Postillon, der Jemschik, hatte sie folgendermaßen angespannt: das eine, etwas größere, stand zwischen einer Gabeldeichsel mit einem Bogen am vorderen Ende, der mit Schellen und Glöckchen behangen war, d. i. der russische »duga«; die beiden andern waren einfach mittels Seilen an das Fußgestell des Tarantaß gekoppelt. Von Zaun und Gebiß keine weitere Spur; als Zügel diente einfache Hanfschnur.

Weder Michael Strogoff noch die junge Liefländerin führten vieles Gepäck mit sich. Die Hauptbedingung der Schnelligkeit, mit der der Eine reisen mußte, und die mehr als bescheidenen Mittel der Anderen hatten jede Ueberlastung mit Collis von vornherein verhindert. Jetzt kam ihnen das sehr zu Statten, denn der Tarantaß hätte entweder das Gepäck oder die Reisenden nicht aufnehmen können. Er war, den Postillon ungerechnet, nur für zwei Personen eingerichtet, und Jener hielt sich auf seinem Sitze auch nur wie durch ein Wunder von Gleichgewicht aufrecht.

Dieser Jemschik wechselt übrigens bei jedem Relais. Der Führer des Tarantaß auf der ersten Strecke war ein geborener Sibirier, gleich seinen Russen, auch nicht minder behaart wie diese und trug die im Uebrigen langen Haare über der Stirn viereckig beschnitten, einen breitkrempigen Hut, rothen Gürtel und einen Capot mit kreuzweisen Schnüren an Knöpfen mit dem kaiserlichen Abzeichen.

Als der Jemschik mit seiner Bespannung ankam, musterte er die Reisenden des Tarantaß erst mit prüfendem Blicke. Kein Gepäck! – Aber wo zum Teufel hätte er solches unterbringen wollen? – Magere Aussichten! Er machte eine nicht mißzudeutende Bewegung.

»Ein Paar Raben, sagte er halb für sich und unbekümmert darum, ob er verstanden wurde oder nicht, Raben für sechs Kopeken die Werst.

– Nein, Adler, antwortete Michael Strogoff, der seinen Postillonsjargon recht wohl verstand, Adler, hörst Du, zu neun Kopeken die Werst, ohne das Trinkgeld!«

Ein lustiger Peitschenknall antwortete ihm. Der »Rabe« bedeutet in der Sprache der russischen Postillone den geizigen oder unbemittelten Reisenden, der bei den Bauernrelais die Pferde nur mit zwei oder drei Kopeken per Werst bezahlt. Ein »Adler« dagegen ist der Reisende, der auch vor hohen Preisen nicht zurückschreckt und reichlich Trinkgelder wegwirft. Deshalb kann auch der Rabe nicht Anspruch machen, ebenso schnell dahin zu fliegen, wie der König der Vögel.

Nadia und Michael Strogoff nahmen sofort ihre Plätze in dem Tarantaß ein. Einiger wenig umfänglicher Proviant, der in den Sitzkästen untergebracht wurde, gewährte ihnen die Sicherheit, auch eine Verzögerung erleiden zu können, wenn sie einmal die durch Fürsorge des Staates wohlversehenen Posthäuser nicht sogleich erreichen sollten. Die Wagendecke wurde übergezogen zum Schutz gegen die unausstehliche Hitze, und gegen Mittag verließ der Tarantaß, von drei schnaubenden Rossen gezogen, Perm, und flog in eine dichte Staubwolke gehüllt dahin.

Die Manier, wie der Jemschik seine Pferde im Gang hielt, hätte jedem Reisenden, der nicht geborener Russe oder Sibirier ist, höchlichst verwundern müssen. Das etwas größere Pferd in der Gabel hielt ungestört, wie abschüssig der Weg auch war, einen gestreckten Trab von untadelhafter Regelmäßigkeit ein. Die beiden Seitenpferde schienen eine andere Gangart als Galop gar nicht zu kennen und sprangen ganz nach Laune nebenher. Der Jemschik schlug sie niemals, sondern trieb sie nur durch den scharfen Knall seiner Peitsche an. Wie viele Schmeichelnamen verschwendete er aber, wenn sie sich als gelehrige und einsichtige Thiere erwiesen, die Namen der Heiligen gar nicht zu rechnen, welche er für sie borgte! Die Schnur, die ihm als Zügel diente, wäre gegenüber den ausgelassenen Thieren wohl ganz nutzlos gewesen, aber »na pravo«, rechts, oder »na levo«, links, diese, von einer rauhen Kehlstimme gesprochenen Worte thaten hier mehr Wirkung, als Zügel und Zaum.

Und welche Liebesnamen gebrauchte gelegentlich der würdige Rosselenker!

»Vorwärts, meine Tauben! rief der Jemschik, vorwärts meine artigen Schwalben! Fliegt zu, meine Turteltäubchen! Immer dran, mein Vetter zur Linken! Greif‘ aus, Väterchen zur Rechten!«

Wenn sie aber nachließen im Laufe, traten an diese Stelle ebenso vielseitige Verwünschungen, deren Werth die Thiere recht wohl zu kennen schienen.

»Lauf zu, Du Höllenschnecke, Du! Weh Dir, Du Blindschleiche! ich erwürge Dich bei lebendigem Leibe, Du Schildkröte! Du sollst noch in jener Welt verdammt sein!«

Was man aber auch denken möge über diese Art der Pferdeführung, welche mehr die Solidität der Kehle als die Kraft der Arme des Kutschers in Anspruch nahm, jedenfalls flog der Tarantaß nur so dahin und bewältigte zwölf bis vierzehn Werst in der Stunde.

Michael Strogoff war ebenso an diese Art Wagen, wie an dessen Beförderung gewöhnt. Weder das Schütteln noch das Hüpfen des Gefährtes belästigte ihn. Er wußte, daß ein russisches Gespann weder Feldsteine, noch Gleise oder tiefe Löcher vermeidet, so wenig wie umgestürzte Baumstämme oder Gräben, die den Weg sperren. Ihm war das nicht neu. Seine Gefährtin freilich lief Gefahr, durch dieses Stoßen des Tarantaß verletzt zu werden, doch sie beklagte sich nicht.

Die erste Zeit der Fahrt verhielt sich Nadia, als sie so schnell dahin gerissen wurde, ganz stumm. Endlich, immer von dem Gedanken: Ankommen, nur ankommen! verfolgt, begann sie:

»Von Perm nach Jekaterinenburg rechnete ich 300 Werst, Bruder. Habe ich mich geirrt?

– Gewiß nicht, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und in Jekaterinenburg werden wir den Fuß des jenseitigen Uralabhanges erreicht haben.

– Wie lange wird die Fahrt durch die Berge dauern?

– Achtundvierzig Stunden, da wir Tag und Nacht reisen, – ich sage Tag und Nacht, denn ich darf keinen Augenblick verlieren und muß ohne Säumen nach Irkutsk eilen.

– Ich werde Dich nicht aufhalten, Bruder, nicht eine Stunde; wir wollen Tag und Nacht fahren.

– Nun, Nadia, wenn uns der Einfall der Tartaren nicht die Wege verlegt, so können wir vor Verlauf einer Woche angekommen sein.

– Du hast diese Reise schon einmal gemacht?

– Schon mehrere Male.

– Im Winter würden wir schneller und sicherer vorwärts kommen, nicht wahr?

– Schneller gewiß, doch würdest Du von der Kälte und dem Schnee schwer gelitten haben.

– Warum? Der Winter ist ja des Russen Freund.

– Ja wohl, Nadia, aber es gehört doch ein gewisses Temperament dazu, diese Freundschaft auszuhalten. Wiederholt habe ich die Kälte in den Steppen Sibiriens bis unter vierzig Grad herabgehen sehen. Ich habe trotz meiner Kleidung aus Rennthierfell Dieses Kleidungsstück heißt »dakha«; es ist sehr leicht und doch für Kälte fast undurchdringlich. mein Herz sich mit Eis überziehen, meine Glieder sich zusammenkrümmen, meine Füße unter dreifacher wollener Umhüllung erfrieren sehen! Ich sah die Pferde meines Schlittens bedeckt mit einem Eispanzer und ihren Athem vor den Nüstern erstarren. Ich sah es, wie der Branntwein in meiner Kürbisflasche zu Stein wurde, so daß kein Messer ihn schneiden konnte! …. Mein Schlitten aber flog dahin wie ein Orkan! Da gab es keine Hindernisse auf der geglätteten und unübersehbar weißen Ebene! Keine Wasserläufe, durch die man sonst eine passirbare Furth suchen mußte! Keine Seen, welche Schiffe nöthig machten! Allüberall das harte Eis, die freie, sichere Straße. Aber um den Preis welcher Leiden, Nadia! Die allein könnten sie melden, welche nicht wiederkamen und deren Leichname der wehende Schnee begrub!

– Und doch bist Du zurück gekehrt, Bruder! sagte Nadia.

– Ja, aber ich bin Sibirier, und schon als Kind, wenn ich meinem Vater bei seinen Jagdzügen folgte, gewöhnte ich mich an all‘ diese harten Proben. Als Du, Nadia, mir aber sagtest, daß der Winter Dich nicht zurück gehalten hätte, daß Du abgereist wärst mit dem Vorsätze, gegen das fürchterliche, unwirthbare Klima Sibiriens anzukämpfen, da sah ich Dich schon im Geiste verloren im Schnee niedersinken, um niemals wieder aufzustehen!

– Wie oft bist Du im Winter durch die Steppe gekommen? fragte die junge Liefländerin.

– Dreimal, Nadia, wenn ich nach Omsk ging.

– Und was thatest Du in Omsk?

– Ich besuchte meine Mutter, welche mich erwartete.

– Und ich, ich gehe nach Irkutsk, wo mein Vater meiner harrt. Ich will ihm die letzten Worte meiner Mutter bringen! Glaubst Du nun, Bruder, daß mich Nichts hätte zurückhalten können?

– Du bist ein braves Kind, Nadia, antwortete Michael Strogoff, und Gott würde Dir geholfen haben!«

Diesen Tag über wurde der Tarantaß durch die bei jedem Relais wechselnden Jemschiks sehr schnell weiter befördert. Die Adler der Berge hatten ihren Namen durch jene »Adler« der Landstraße nicht als entehrt ansehen können. Der hohe Preis für jedes Pferd, die reichlich gespendeten Trinkgelder dienten den Reisenden als ganz besonders wirksame Empfehlung. Den Postmeistern mochte es nach Veröffentlichung jener Verordnung wohl auffallen, daß ein junger Mann nebst seiner Schwester, beide offenbar Russen, dennoch frei durch Sibirien reisen konnten; indeß waren ihre Papiere in Ordnung und gaben ihnen das Recht, zu passiren. So standen denn auch die Kilometer-(Werst-)Pfähle bald im Rücken des Tarantaß.

Uebrigens waren Michael Strogoff und Nadia nicht die einzigen Reisenden auf der Straße von Perm nach Jekaterinenburg. Schon von den ersten Relais ab hatte der Courier des Czaar bemerkt, daß ein Wagen ihm vorausging, ohne sich, da an Pferden kein Mangel eintrat, darüber besondere Sorge zu machen.

Im Verlaufe dieses Tages ward nur einige Male angehalten, um die nöthigen Mahlzeiten einzunehmen. Die Posthäuser boten Unterkunft und Stärkungsmittel; auch wenn man kein Relais erreicht hätte, wäre das Haus jedes russischen Bauern nicht minder gastlich geöffnet gewesen. In diesen einander überaus ähnlichen Dörfern mit ihren weißen steinernen Capellen und grünlichen Dächern kann der Reisende wohl an jede Thür klopfen; sie wird sich gewiß öffnen. Dann erscheint der Mujik lächelnden Gesichts und giebt seinem Gaste die Hand. Man bietet ihm Brod und Salz an, rückt den »Samowar« über’s Feuer und er wird sich bald ganz heimisch fühlen. Die Familie würde im Nothfalle das Haus räumen, um ihm Platz zu machen. Der ankommende Fremdling ist der Verwandte Aller; er ist der »den Gott selbst sendet«.

Bei der Ankunft gegen Abend fragte Michael Strogoff, von einem unbestimmbaren Instincte getrieben, den betreffenden Postmeister, vor wie viel Stunden der ihm vorausgehende Wagen das Relais passirt habe.

»Vor zwei Stunden, Väterchen, berichtete der Postmeister.

– Es ist eine Berline?

– Nein, ein Teleg.

– Wie viel Reisende?

– Zwei.

– Sie haben es eilig?

– Es sind Adler!

– Laßt schleunigst anspannen.«

Michael Strogoff und Nadia, entschlossen, sich keine Stunde lang aufzuhalten, fuhren die ganze Nacht hindurch.

Noch hielt sich die Witterung zwar gut, doch fühlte man, daß die drückender gewordene Luft sich allmälig mit Elektrizität sättigte. Kein Wölkchen unterbrach die Strahlen der Sonne, und es schien, als stiege ein warmer Dunst aus dem Erdboden auf. Es stand zu befürchten, daß in den Bergen ein dort meist sehr heftiges Unwetter ausbrechen werde. Michael Strogoff, der gewöhnt war, alle atmosphärischen Vorzeichen zu deuten, fühlte einen nahen Kampf der Elemente voraus, der ihn mit einiger Besorgniß erfüllte. Die Nacht verging ohne Zwischenfall. Trotz der Stöße des Tarantaß vermochte Nadia einige Stunden zu schlummern. Die halb zurückgeschlagene Wagendecke gestattete etwas Luft zu schöpfen, nach der die Lungen in dieser erstickenden Atmosphäre begierig verlangten.

Michael Strogoff durchwachte die ganze Nacht; er mißtraute den Jemschiks, weil sie so leicht auf ihrem Sitze einschlafen. Keine Stunde wurde auf den Relais verloren, keine Stunde unterwegs.

Am folgenden Tage, dem 20. Juli, zeigten sich gegen acht Uhr Morgens die ersten Wellenlinien der Uralberge im Osten. Diese mächtige Kette, die Grenzmauer zwischen dem europäischen Rußland und Sibirien, lag jedoch noch in weiter Ferne und vor Ende des Tages durfte man sie kaum zu erreichen hoffen. Die Ueberschreitung der Berge konnte also voraussichtlich erst während der folgenden Nacht stattfinden.

Im Laufe dieses Tages blieb der Himmel durchgängig bedeckt und in Folge dessen auch die Luftwärme erträglicher, doch wurde die Witterung immer gewitterschwüler.

Mit solchen Aussichten erschien es eigentlich rathsamer, sich nicht mitten in der Nacht in die Berge zu wagen, und Michael Strogoff würde es gewiß unterlassen haben, wenn er Zeit zum Verweilen gehabt hätte; als ihn der Jemschik des letzten Relais aber auf einen fern im Gebirge verrollenden Donner aufmerksam machte, fragte er nur:

»Ein Teleg fährt uns noch immer voraus?

– Ja.

– Welchen Vorsprung mag es jetzt etwa haben?

– Ungefähr eine Stunde.

– Vorwärts! – Das dreifache Trinkgeld, wenn wir morgen früh in Jekaterinenburg sind.«