Vierzehntes Capitel

Vierzehntes Capitel

Mutter und Sohn

Omsk ist die officielle Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Es ist zwar nicht die bedeutendste Stadt des gleichnamigen Gouvernements, da Tomsk mehr Einwohner zählt und einen beträchtlicheren Umfang hat, in Omsk residirt jedoch der Generalgouverneur dieser ersten Hälfte des asiatischen Rußlands.

Omsk besteht genau genommen aus zwei verschiedenen Städten, von denen die eine ausschließlich von den Behörden eingenommen und von den zugehörigen Beamten bewohnt ist, während die andere vorzüglich die sibirischen Kaufleute, deren Handelsbeziehungen freilich von keiner besonderen Bedeutung sind, beherbergt.

Die Einwohnerzahl dieser Stadt mag sich auf 12–13 000 Seelen belaufen. Sie wird durch eine von Bastionen verstärkte Umwallung vertheidigt; freilich bestehen diese Befestigungen nur aus Erdwerken und bieten nur einen sehr unzulänglichen Schutz. Die Tartaren gingen, wohl bekannt mit obiger Sachlage, eben jetzt daran, die Stadt durch einen Sturmangriff in ihre Gewalt zu bringen, was ihnen auch nach einer Einschließung von nur wenigen Tagen gelingen sollte.

Die kaum 2000 Mann zählende Besatzung von Omsk hatte mannhaften Widerstand geleistet. Das obere Quartier von Omsk war hierbei in eine Art Citadelle umgewandelt, die Häuser und Kirchen mit Schießscharten versehen worden, und in diesem improvisirten Kreml hielten sich die Truppen zur Zeit noch, trotz der mangelnden Aussicht auf eine baldige Entsetzung. Die tartarischen Truppen dagegen erhielten unter Benutzung des Wasserweges auf dem Irtysch tagtäglich neuen Zuzug und wurden, – hier ein besonders wichtiger Umstand, – von einem Officier angeführt, der zwar ein Verräther an seinem Vaterlande, aber doch ein Mann von hohem Verdienste und beispielloser Kühnheit war.

Iwan Ogareff befehligte die feindlichen Schaaren.

Iwan Ogareff, ebenso furchtbar, wie der Tartarenchef, den er vorwärts drängte, zeichnete sich durch tiefe militärische Kenntnisse aus. In seinen Adern rollte, ein Erbtheil von seiner Mutter, welche von asiatischer Herkunft war, auch etwas mongolisches Blut; er liebte jede List, legte gern Hinterhalte und schreckte vor keinem Mittel zurück, wenn es ihm darauf ankam, dem Gegner eine Falle zu stellen. Arglistig von Natur, bediente er sich bald der gemeinsten Verkleidungen und trat gelegentlich selbst als Bettler auf, wobei ihn seine außerordentliche Geschicklichkeit der Verstellung des äußern Ansehens und des ganzen Benehmens wesentlich unterstützte. Dabei befähigte ihn seine Grausamkeit, im Nothfall den Henker selbst zu spielen. Feofar-Khan besaß in ihm einen Stellvertreter, der es vollkommen verdiente, ihm bei jenem wilden Kriegszuge beizustehen.

Als Michael Strogoff an den Ufern des Irtysch anlangte, war Iwan Ogareff schon Herr in Omsk und beeilte die Belagerung des höher gelegenen Stadtviertels um so mehr, als er Eile hatte, sich nach Tomsk zu begeben, wo sich die Hauptmacht der Tartarenhorden concentrirte.

Tomsk war nämlich vor einigen Tagen in Feofar-Khan’s Hände gefallen und von hier aus wollten die Eindringlinge, nach der Besitznahme der centralsibirischen Gebiete, nach Irkutsk aufbrechen.

Irkutsk bildete das eigentliche Ziel Iwan Ogareff’s.

Der Plan des erbärmlichen Verräthers ging dahin, sich dem Großfürsten daselbst unter falschem Namen anzuschließen, sein Vertrauen zu erschleichen und ihn zur gegebenen Stunde sammt der Stadt den Tartaren in die Hände zu liefern.

Mit dieser Stadt und einer solchen Geißel im Besitz mußte das ganze asiatische Sibirien in die Gewalt der Eindringlinge kommen.

Wir wissen ja von früher, daß dieser Anschlag zur Kenntniß des Czaaren gelangt war, und um ihn zu vereiteln, hatte man Michael Strogoff mit der hochwichtigen Mission betraut. Deshalb erhielt der junge Mann seiner Zeit auch die gemessensten Befehle, das von den Feinden überschwemmte Land unter falschem Namen zu durchreisen.

Bis hierher hatte er seine Mission getreulich erfüllt – würde er sie aber auch jetzt noch ebenso zu Ende führen können?

Der Lanzenstoß, den Michael Strogoff empfing, war nicht tödtlich gewesen. Unter dem Wasser schwimmend erreichte er ungesehen das rechte Flußufer und brach in dem Gebüsch daselbst kraftlos zusammen.

Als er wieder zum Bewußtsein kam, sah er sich zu seiner Verwunderung in der Hütte eines Mujik, der ihn aufgehoben und verpflegt hatte, und dem er zunächst die Rettung seines Lebens dankte. Seit wie lange mochte er der Gast des braven Sibiriers sein? – er vermochte sich darüber keine Rechenschaft zu geben. Als er die Augen öffnete, bemerkte er über sich ein bärtiges, aber freundliches Gesicht, auf dem ein teilnehmendes Lächeln spielte. Schon wollte er fragen, wo er sich befinde, als der besorgte Mujik ihm zuvorkam:

»Sprich nicht, Väterchen, sprich nicht! Du bist noch zu schwach. Ich werde Dir sagen, wo Du bist, und erzählen, was sich zugetragen hat, seitdem ich Dich in mein Häuschen schaffte.«

Der redliche Landmann erzählte hierauf den Verlauf des kurzen Kampfes, dessen Augenzeuge er zufällig geworden, den Angriff der Tartarenboote, die Plünderung des Tarantaß, die Ermordung der Fährleute ….

Doch darauf hörte Michael Strogoff kaum, er fuhr mit der Hand unter seine Kleidung und fühlte den kaiserlichen Brief noch immer unversehrt auf seiner Brust.

Er athmete auf, noch war er indeß nicht jeder Sorge ledig.

»Mich begleitete ein junges Mädchen, sagte er.

– Sie wurde nicht getödtet! antwortete der Mujik, der die Unruhe zu beschwichtigen suchte, die aus den Augen seines Pflegebefohlenen leuchtete. In einer Barke haben sie jene entführt, als sie den Irtysch weiter stromab ruderten! Sie ist jetzt eine Gefangene mehr, welche man mit ihren Leidensgefährtinnen nach Tomsk schleppt!«

Michael Strogoff konnte keine Sylbe erwidern, er preßte seine Hand auf’s Herz, um dessen stürmisches Klopfen zu bewältigen.

Und doch, trotz aller Prüfungen, beherrschte nur ein Gefühl seine ganze Seele, das Gefühl seiner heiligen Pflicht.

»Wo bin ich? fragte er.

– Auf dem rechten Ufer des Irtysch und nur fünf Werst von Omsk entfernt, antwortete ihm der Mujik.

– Was für eine Wunde empfing ich damals, daß sie mich so lange besinnungslos machen konnte? Vielleicht einen Flintenschuß?

– Nein, einen jetzt vernarbten Lanzenstich am Kopfe, erwiderte der Mujik. Nach einigen Tagen der Ruhe, Väterchen, wirst Du, denk‘ ich, Deinen Weg fortsetzen können. Du warst in’s Wasser gestürzt. Die Tartaren haben Dich weder berührt noch geplündert; auch Deine Börse steckt noch in Deiner Tasche.«

Michael Strogoff reichte dem ehrlichen Bauer die Hand. Dann richtete er sich mit einer plötzlichen Anstrengung auf und fragte:

»Wie lange liege ich schon in Deinem Hause, guter Freund?

– Seit drei Tagen.

– Drei ganze Tage verloren!

– Drei Tage, während der Du bewußtlos dalagst.

– Kannst Du mir ein Pferd verkaufen?

– Du willst weiter reisen?

– Womöglich noch diesen Augenblick.

– Ich habe weder ein Pferd, noch einen Wagen, Väterchen. Wo die Tartaren vorüber zogen, da ist von solchen Dingen nichts übrig geblieben.

– So werde ich nach Omsk zu Fuß gehen müssen, um dort ein Pferd zu kaufen.

– Pflege Dich nur noch einige Stunden, dann wirst Du besser im Stande sein, Deinen Weg fortzusetzen.

– Keine Stunde länger!

– So komm, antwortete der Mujik, da er einsah, daß er vergeblich dem festen Willen seines Gastes entgegen trat. Ich werde Dir selbst das Geleit geben, fügte er hinzu. Uebrigens befinden sich noch viele Russen in Omsk und vielleicht gelangst Du noch unbemerkt hindurch.

– Vergelte Dir der Himmel, wackrer Freund, erwiderte Michael Strogoff, lohne er Dir, was Du Alles für mich gethan hast!

– Eine Belohnung! versetzte der Mujik, nur die Thoren erwarten eine solche auf der Erde.«

Michael Strogoff trat aus der Hütte. Als er gehen wollte, übermannte ihn ein so heftiger Schwindel, daß er ohne die hilfreiche Unterstützung des Bauern wohl umgesunken wäre, aber bald stärkte ihn der Genuß der freien Luft sichtlich. Jetzt fühlte er erst die Nachwehen jenes gegen seinen Kopf geführten Stoßes, dessen Heftigkeit seine Pelzmütze glücklicher Weise gebrochen hatte. Bei der bekannten, ihm innewohnenden Energie war er nicht der Mann, sich viel um diese Kleinigkeit zu kümmern. Vor seinen Augen sah er nur das eine Ziel, das entlegene Irkutsk, welches er erreichen mußte! Omsk mußte er deshalb ohne jeden Aufenthalt passiren.

»Gott schütze meine Mutter und Nadia, murmelte er, jetzt habe ich kein Recht, an Beide zu denken.«

Michael Strogoff und der Bauer kamen bald in dem Kaufmannsviertel der Unterstadt an, in welche sie trotz der militärischen Besetzung derselben unschwer hineingelangten. Der Erdwall um jene zeigte sich an vielen Stellen zerstört, die ebenso viele Breschen darstellten, durch welche sich die Marodeurs der Armee Feofar-Khan’s eindrängten.

Im Innern von Omsk, auf den Straßen und Plätzen, wimmelte es von tartarischen Soldaten, aber man konnte dabei doch leicht wahrnehmen, daß eine eiserne Faust sie hier in den Fesseln einer Disciplin hielt, an welche Jene wohl nur wenig gewöhnt waren. Sie liefen auch nie einzeln umher, sondern marschirten in bewaffneten Abtheilungen, um in der Lage zu sein, jeden Angriff abzuwehren.

Auf dem zu einem Lager umgestalteten und dicht mit Wachposten besetzten Platze bivuakirten gegen 2000 Tartaren in guter Ordnung. An eingerammten Pfählen standen die Pferde angebunden, aber stets in voller Ausrüstung, um beim ersten Befehl zum Aufbruch fertig zu sein. Immerhin bildete Omsk nur einen provisorischen Halteplatz für die Tartarenreiter, welche die reicheren Ebenen Ostsibiriens vorziehen mußten, weil dort die Städte bedeutender, die Landschaften fruchtbarer, die Raubzüge also jedenfalls ergiebiger wurden.

Ueber dem Handelsviertel erhaben thronte die obere Stadt, welche Iwan Ogareff trotz mehrerer stürmischer Angriffe, die immer standhaft abgewiesen worden waren, in seine Gewalt noch nicht hatte bringen können. Von den in Vertheidigungszustand gesetzten Gebäuden flatterten noch immer die Fahnen mit den russischen Farben.

Nicht ohne einen gewiß berechtigten Stolz begrüßten Michael Strogoff’s und seines Führers Wünsche das wehende Banner.

Michael Strogoff kannte die Stadt Omsk natürlich vollständig. Während er scheinbar seinem Führer folgte, wußte er doch geschickt die lebhaftesten Straßen zu vermeiden. Das geschah nicht aus Besorgniß erkannt zu werden. In dieser Stadt hätte nur seine alte Mutter ihn bei seinem wahren Namen rufen können; aber er hatte geschworen, sie nicht zu sehen, er war entschlossen, an diesem Versprechen zu halten. Uebrigens war diese vielleicht – was er von ganzem Herzen wünschte, – nach irgend einem ruhigeren Theil der Steppe entflohen.

Zum Glück kannte der Mujik persönlich einen Postmeister, der es seiner Annahme nach für gute Bezahlung nicht ausschlagen würde, einen Wagen und Pferde entweder zu verleihen oder zu verkaufen. Dann blieb nur noch die Schwierigkeit übrig, die Stadt selbst zu verlassen, wobei die zahlreichen Breschen in der Umwallung freilich Michael Strogoff’s Entkommen einigermaßen erleichtern mußten.

Der Mujik führte seinen Gast also geraden Weges nach dem Relais, als Michael Strogoff plötzlich in einer engen Straße stehen blieb und sich hinter einem Mauervorsprunge verbarg.

»Was ist Dir? fragte der Bauer, erstaunt über dieses unerklärliche Benehmen.

– Still, still!« flüsterte ihm Michael Strogoff hastig zu, indem er noch den Finger auf seine Lippen legte.

Eben schwenkte eine Abtheilung Tartaren von dem Hauptplatze ab und bog in dieselbe Gasse ein, welche Michael Strogoff und sein Begleiter ganz kurz vorher betreten hatten.

An der Spitze der aus etwa zwanzig Berittenen bestehenden Schaar trabte ein Officier in sehr einfacher Uniform. Obwohl seine Augen immer von einer Seite zur andern schweiften, konnte er Michael Strogoff, der seinen Rückzug ebenso schnell als geschickt bewerkstelligte, unmöglich gesehen haben.

Das Detachement zog in scharfem Trabe durch die enge Straße. Weder der Officier noch seine Leute achteten besonders auf die Bewohner. Die Unglücklichen gewannen kaum Zeit, der Reiterabtheilung genügenden Platz zu machen. Da und dort wurde auch ein halb erstickter Schrei mit einem rücksichtslosen Lanzenstoße beantwortet und der Weg auf diese Weise in kürzester Zeit gesäubert.

»Wer war dieser Officier?« fragte Michael Strogoff, als die Abtheilung vorüber getrabt war, den Bauer, dem er sich jetzt wieder anschloß.

Schon als er diese Frage stellte, ward sein Gesicht so bleich, wie das einer Leiche.

»Das war Iwan Ogareff, antwortete der Sibirier mit leiser Stimme, aus der man einen verhaltenen Haß heraushörte.

– Er!« rief Michael Strogoff, dem dieses Wort mit einem Accente des Zornes entfuhr, den er nicht zu bemeistern vermochte.

Er hatte in dem Officier jenen Reisenden wieder erkannt, der ihn auf dem Relais zu Ischim geschlagen hatte.

Und gleichzeitig, so als ob ihm plötzlich ein Licht aufging, erinnerte ihn dieser Reisende, trotzdem er ihn nur ganz kurze Zeit gesehen hatte, an den alten Zigeuner, von dem er jene Worte auf der Messe in Nischnij-Nowgorod vernommen hatte.

Michael Strogoff täuschte sich nicht. Diese beiden Erscheinungen gehörten nur einer Person an. In der Verkleidung als Zigeuner hatte Iwan Ogareff unter der Truppe der alten Sangarre die Provinz Nischnij-Nowgorod zu verlassen gewußt, wo er unter den zahllosen Fremden, welche die Messe nach jener Stadt aus Centralasien heranzieht, Spießgesellen zur Ausführung seines fluchwürdigen Vorhabens gesucht haben mochte. Sangarre nebst der ganzen übrigen Gesellschaft standen nur als Spione in seinem Sold und waren ihm auf Leben und Tod ergeben. Er war es gewesen, der in der Nacht auf dem Meßplatze jene auffallenden Worte gesprochen hatte, deren Sinn Michael Strogoff jetzt erst ordentlich verstand; er reiste damals mit der ganzen Zigeunerbande auf dem Dampfer »Kaukasus«; er überschritt den Ural jedenfalls auf einem andern Wege von Kasan nach Ischim und erreichte endlich Omsk, das jetzt unter seinem Befehle seufzte.

Iwan Ogareff war selbst vor kaum drei Tagen erst in Omsk eingetroffen und ohne jenes unangenehme Zusammentreffen in Ischim und dem beklagenswerthen Vorfalle, der ihn drei Tage lang am Ufer des Irtysch festhielt, hätte Michael Strogoff Jenen auf dem Wege nach Irkutsk gewiß weit überholt.

Und wer weiß, wie viel Unglück in der nächsten Zeit dadurch vermieden worden wäre!

Jedenfalls, ja, mehr als je vorher mußte Michael Strogoff Iwan Ogareff ausweichen, um von Letzterem nicht gesehen zu werden. Kam einst der Zeitpunkt, ihm Auge in Auge gegenüber zu treten, so würde er ihn wieder zu finden wissen, wenn Jener sich auch zum Herrn von ganz Sibirien aufgeworfen hätte.

Der Mujik und er nahmen also ihren Weg durch die Stadt wieder auf und gelangten unbelästigt nach dem Posthause. Nach Einbruch der Nacht konnte es nicht allzu schwierig sein, Omsk durch eine der Breschen zu verlassen. Dagegen stellte sich die Unmöglichkeit heraus, an Stelle des Tarantaß ein anderes Fuhrwerk zu erhalten. Es fand sich weder ein Wagen zu miethen, noch zu kaufen. Aber bedurfte denn Michael Strogoff jetzt wirklich eines Wagens? War er für den übrigen Theil der Reise nicht allein? Ihm mußte auch schon ein Reitpferd genügen, und ein solches war glücklicher Weise zu beschaffen. Er bekam ein tüchtiges, zum Ertragen schwerer Strapazen offenbar geeignetes Thier, von dem sich Michael Strogoff, ein gewandter, ausdauernder Reiter, den größten Nutzen versprach.

Das Pferd kostete eine bedeutende Summe; nach einigen Minuten schon stand es zum Aufbruch bereit.

Es war jetzt etwa um vier Uhr Nachmittags.

Da Michael Strogoff die Nacht abwarten mußte, um die Umwallung zu passiren, sich in den Straßen von Omsk aber doch nicht zeigen wollte, so blieb er gleich im Posthause und ließ sich daselbst einige Stärkungsmittel besorgen.

In dem öffentlichen Wartesaale des Hauses ging es sehr lebhaft zu. So wie wir es von den russischen Bahnhöfen kennen gelernt haben, liefen die ängstlichen Einwohner hier zusammen, um neue Nachrichten zu erhaschen. Man sprach von der bevorstehenden Ankunft eines Corps russischer Truppen, zwar nicht in Omsk, aber in Tomsk, – eines Corps, das diese Stadt den Tartaren Feofar-Khan’s wieder entreißen sollte.

Michael Strogoff lauschte gespannt auf jedes in seiner Umgebung gesprochene Wort, vermied es aber, sich selbst in ein Gespräch einzulassen.

Plötzlich machte ein Aufschrei ihn erzittern, ein Schrei, der hinabdrang bis zum Grunde seiner Seele, und an sein Ohr schlugen die beiden Worte:

»Mein Sohn! Mein Sohn!«

Seine Mutter, die alte Marfa, stand vor ihm. Sie lächelte und sie zitterte doch vor Freude und streckte ihm sehnsüchtig die Arme entgegen.

Michael Strogoff erhob sich. Er wollte ihr entgegenfliegen ….

Da hielt ihn der Gedanke an seine Pflicht, an die ernsthafte Gefahr für seine Mutter und ihn bei dieser bedauerlichen Begegnung plötzlich zurück, und er gewann so viel Herrschaft über sich, daß auch nicht ein Muskel seines Gesichtes zuckte.

Zwanzig Personen füllten jetzt den Wartesaal. Unter ihnen konnten recht wohl einige Spione sein, und wußte man denn nicht auch, daß Marfa Strogoff’s Sohn zu dem Specialcorps der Couriere des Czaaren gehörte?

Michael Strogoff sprach kein Wort.

»Michael! rief seine Mutter.

– Wer sind Sie, geehrte Dame? fragte Michael Strogoff, der die Worte mehr hervorstammelte als aussprach.

– Wer ich bin? Das fragst Du? Mein Kind, erkennst Du Deine Mutter nicht mehr wieder?

– Sie täuschen sich! … antwortete Michael Strogoff kalt, eine Aehnlichkeit führt Sie irre ….«

Die alte Marfa ging gerade auf ihn zu und stellte sich ihm Aug‘ in Auge gegenüber.

»Du bist nicht Peter und Marfa Strogoff’s Sohn?« sagte sie.

Michael Strogoff hätte sein Leben darum gegeben, seine Mutter offen in die Arme schließen zu dürfen, aber wenn er nachgab, war es nicht nur um ihn, sondern auch um sie, um seinen Auftrag, um seinen Eid geschehen! Er bezwang sich nach Kräften, er schloß die Augen, um nicht die angsterregten Züge in dem Antlitz der kindlich verehrten Mutter sehen zu müssen; er zog seine Hände zurück, um nicht unwillkürlich den zitternden Händen, die nach ihm verlangten, zu begegnen.

»Ich weiß in der That nicht, liebe Frau, was ich aus Ihren Worten machen soll, antwortete er, einige Schritte zurückweichend.

– Michael! rief noch einmal die bejahrte Mutter.

– Ich heiße nicht Michael! Ich bin nie Ihr Sohn gewesen. Ich bin Nicolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk! …«

Hastig verließ er den Wartesaal, in dem noch einmal die Worte wiedertönten:

»Mein Sohn! Mein Sohn!«

Michael Strogoff war abgereist, so schwer es ihm wurde. Er sah seine alte Mutter, welche bewußtlos auf einer Bank zusammen gebrochen war, für jetzt nicht mehr. Gerade als der Postmeister ihr zu Hilfe eilen wollte, erhob sich die alte Frau selbst schon wieder. In ihrem Geiste war es plötzlich hell geworden. Sie, – verleugnet von ihrem leiblichen Sohne, – das war unmöglich! Ebenso unmöglich erschien es ihr aber, sich getäuscht und einen Anderen für ihn gehalten zu haben. Ohne Zweifel war es ihr Sohn gewesen, den sie eben gesehen hatte, und wenn Dieser sie nicht wieder erkannte, so wollte er es nicht, so durfte er sie nicht erkennen, so hatte er triftige, zwingende Gründe, so zu handeln. Dann unterdrückte sie allen Mutterschmerz in ihrer Brust und peinigte sich mit dem einzigen Gedanken: »Sollte ich ihn wider Willen in’s Verderben gestürzt haben?«

»Ich bin eine Thörin! antwortete sie Allen, die sie fragten. Meine Augen haben mich betrogen! Dieser junge Mann ist mein Kind nicht! Er hatte ja gar nicht dessen Stimme! Lassen wir es. Zuletzt werde ich meinen Sohn noch in Jedermann zu sehen glauben.«

Kaum zehn Minuten später erschien ein Tartarenofficier im Posthause.

»Marfa Strogoff? fragte er laut.

– Das bin ich, antwortete die betagte Frau so ruhig im Ton und im Antlitz, daß die Zeugen der vorigen Scene sie kaum wieder erkannten.

– Komm mit mir!« sagte der Officier.

Mit sicherem Schritte folgte Marfa Strogoff dem tartarischen Officier und verließ das Posthaus.

Wenige Minuten später befand sich Marfa Strogoff mitten in dem Truppenlager des Hauptplatzes und gegenüber dem gefürchteten Iwan Ogareff, dem alle Einzelheiten der oben erzählten Scene unverweilt berichtet worden waren.

Iwan Ogareff muthmaßte ebenfalls den wahren Sachverhalt und hatte die alte Sibirierin selbst darüber befragen wollen.

»Dein Name?« leitete er das Verhör in strengem Tone ein.

– Marfa Strogoff.

– Du hast einen Sohn?

– Ja.

– Er ist Courier des Czaaren?

– Ja.

– Wo befindet er sich?

– In Moskau.

– Du bist von ihm ohne Nachrichten?

– Ohne jede Nachricht.

– Seit wie lange?

– Seit zwei Monaten.

– Wer ist aber der junge Mann, den Du noch vor wenig Augenblicken im Posthause Deinen Sohn nanntest?

– Ein junger Sibirier, den ich für ihn hielt, antwortete Marfa Strogoff. Das ist der Zehnte, in dem ich meinen Sohn zu finden glaubte, seit die Stadt voller Fremden ist. Ich glaube ihn eben überall zu erkennen.

– Jener junge Mann war demnach Michael Strogoff nicht?

– Er war es leider nicht.

– Weißt Du, alte Frau, daß ich Dich foltern lassen kann, bis Du die Wahrheit eingestehst?

– Ich spreche die Wahrheit, und keine Folter würde meine Aussage abzuändern vermögen.

– Jener Sibirier war Michael Strogoff wirklich nicht? fragte zum zweiten Male und eindringlicher Iwan Ogareff.

– Nein! Er war es nicht! antwortete Marfa Strogoff zum zweiten Male. Glaubt Ihr, ich würde um Alles in der Welt einen solchen Sohn, wie mir ihn Gott gegeben hat, verleugnen?«

Mit boshaftem Auge fixirte Iwan Ogareff die Frau, die ihm in’s, Gesicht zu trotzen wagte. Er zweifelte keinen Augenblick, daß sie in dem jungen Sibirier ihren Sohn wirklich erkannt habe. Und wenn dennoch der Sohn zuerst die Mutter verleugnet hatte, wie es die Mutter jetzt ihrerseits that, so mußten dem unzweifelhaft sehr ernste Ursachen zu Grunde liegen.

Iwan Ogareff galt es als unbestreitbare Thatsache, daß der angebliche Nicolaus Korpanoff kein Anderer sei, als Michael Strogoff, der Courier des Czaaren, der sich unter einem falschen Namen verbarg und der einen Auftrag haben mußte, dessen Kenntniß für ihn von der weitgehendsten Bedeutung sein konnte. Er gab also sofort Befehl, Jenen zu verfolgen.

Dann wendete er sich gegen Marfa Strogoff zurück und sagte:

»Diese Frau soll sofort nach Tomsk übergeführt werden!«

Und während die Soldaten Jene roh und grausam fortdrängten, murmelte er zwischen den Zähnen:

»Zur passenden Zeit werde ich ihr schon die Zunge zu lösen wissen, der alten Hexe!«

Fünfzehntes Capitel

Fünfzehntes Capitel

Der Barabinen-Sumpf

Es war Michael Strogoff’s Glück gewesen, daß er das Posthaus so schnell als möglich verließ. Auf Iwan Ogareff’s Befehl wurden sofort alle Ausgänge der Stadt scharf bewacht und sein Signalement allen Postmeistern mitgetheilt, um sein Entkommen aus Omsk zu verhindern. Als das aber geschah, hatte er schon eine Bresche des Erdwalls hinter sich, sein Pferd jagte durch die Steppe, und da er keine unmittelbaren Verfolger hinter sich sah, durfte er auf das Gelingen seiner Flucht wohl hoffen. Am 29. Juli, Abends gegen acht Uhr, hatte Michael Strogoff Omsk verlassen. Diese Stadt liegt ungefähr in der Mitte des Weges von Moskau nach Irkutsk, woselbst er vor Ablauf von zehn Tagen eintreffen mußte, wenn er die tartarischen Horden hinter sich lassen wollte. Offenbar hatte der beklagenswerte Zufall, welcher ihn seiner Mutter vor Augen führte, sein Incognito verrathen. Iwan Ogareff konnte nicht mehr darüber im Unklaren sein, daß ein Courier des Czaaren auf dem Wege nach Irkutsk durch Omsk gekommen sei. Die Depeschen dieses Eilboten mußten von besonderer Wichtigkeit sein. Michael Strogoff ahnte also auch, daß man Alles daran setzen werde, sich seiner Person zu bemächtigen.

Was er aber nicht wußte, was er nicht wissen konnte, war, daß Marfa Strogoff sich in Iwan Ogareff’s Gewalt befand, daß sie büßen, vielleicht mit ihrem Leben bezahlen sollte für die Erregung ihres Mutterherzens, die sie bei dem unerwarteten Anblick ihres Sohnes nicht zu unterdrücken im Stande gewesen war. Ein Glück für ihn, daß er davon nichts wußte! Hätte er dieser neuen Prüfung widerstehen können?

Michael Strogoff trieb sein Roß an, er flößte ihm gleichsam dieselbe fieberhafte Ungeduld ein, die ihn verzehrte; er verlangte nur das Eine von dem Thiere, ihn so schnell als möglich nach dem nächsten Relais zu tragen, wo er es gegen ein noch schnelleres Beförderungsmittel einzutauschen hoffte.

Um Mitternacht hatte er siebzig Werst zurückgelegt und machte bei der Station Kulikowo Halt. Doch auch hier fand er, eine Bestätigung seiner Besorgniß, weder Pferde noch Wagen. Einzelne Abtheilungen Tartaren waren schon auf der Hauptstraße durch die Steppe dahin gezogen. In den Dörfern und den Postrelais hatte man Alles requirirt oder geradezu gestohlen. Michael Strogoff konnte kaum einige Nahrung für sich und etwas Futter für sein Pferd erhalten.

Er mußte dieses Pferd, für das sich kein Ersatz mehr zu bieten schien, etwas schonender behandeln. Da er aber zwischen sich und den ihm von Iwan Ogareff jedenfalls nachgesendeten Reitern den größtmöglichen Zwischenraum sehen wollte, beschloß er möglichst schnell weiter zu eilen. Nach einer nur einstündigen Ruhe schlug er also den Weg durch die Steppe schon wieder ein.

Bisher hatten die Witterungsverhältnisse die Reise des Czaarencouriers auffallend begünstigt. Die Lufttemperatur hielt sich in erträglichen Grenzen. Die zu dieser Jahreszeit kurze, aber von den durch einen leichten Wolkenschleier dringenden Mondstrahlen mit einem angenehmen Dämmerlichte gemilderte Nacht machte die Straße leidlich gangbar. Michael Strogoff zog übrigens, als ein seines Weges kundiger Mann, sicher, ohne Zweifel, ohne Zögern dahin. Trotz der schmerzlichen Gedanken, die ihn hartnäckig verfolgten, hatte er sich doch eine außerordentliche Klarheit des Geistes bewahrt und steuerte auf sein Ziel zu, als ob dieses Ziel schon am Horizonte sichtbar sei. Hielt er, vielleicht bei einer Biegung des Weges, einen Augenblick an, so geschah es, um sein Pferd etwas Athem schöpfen zu lassen. Dann stieg er, zur Erleichterung des Thieres, einmal ab, drückte das Ohr auf den Erdboden und lauschte, ob sich der Schall von galopirenden Pferden an der Oberfläche der Steppe fortleitete. Hatte er nichts Verdachterweckendes wahrgenommen, so setzte er seinen Weg wieder fort.

O, breitete sich jetzt doch die Polarnacht über diese weite sibirische Ebene, diese mehrere Monate andauernde Nacht! Es wäre viel leichter gewesen, jene sicher zu durchreisen.

Am 30. Juli, gegen neun Uhr Morgens, passirte Michael Strogoff die Station Turumoff und begab sich von hier aus nun in die Sumpfdistricte der Barabinen-Steppe.

Auf einem Gebiete von 300 Werst Länge konnten hier schon die natürlichen Hindernisse allein große Schwierigkeiten verursachen. Der Courier wußte das, aber er wußte auch, daß er alle siegreich überwinden werde.

Die ausgedehnten, von Norden nach Süden zwischen dem 60. und 52. Breitengrade liegenden Barabinen-Sümpfe bilden das große Sammelbassin derjenigen atmosphärischen Niederschläge, welche weder durch den Obi noch durch den Irtysch einen Abfluß finden. Der Boden dieser ungeheuren Tiefebene besteht aus fast ganz undurchlässigem Lehm, so daß das Wasser darüber stehen bleibt und eine während der warmen Jahreszeit schwer zu passirende Gegend darstellt.

Gerade durch diesen Landstrich führt aber die Straße nach Irkutsk, mitten durch die zahlreichen Sümpfe, Teiche, Seen, deren gesundheitsgefährliche Ausdünstungen bei der heißen Sommersonne den Reisenden mindestens mit schweren Mühseligkeiten, wenn nicht gar mit tückischer Gefahr bedrohen.

Im Winter freilich, wenn der Frost Alles, was sonst flüssig war, erstarren ließ, wenn der dichte Schnee den Boden geebnet und geglättet, die schädlichen Miasmen condensirt und unter sich begraben hat, dann stiegen die leichten Schlitten gefahrlos über die erhärtete Kruste der Barabinen-Steppe. Dann durchziehen fleißig die Jäger die wildreichen Gründe und verfolgen die Marder, die Zobel und die kostbaren Füchse, deren Felle so gesucht sind. Während des Sommers dagegen wird diese Sumpfgegend kothig, brütet gefährliche Krankheiten aus und ist bei einigermaßen hohem Wasserstande überhaupt gar nicht zu passiren.

Michael Strogoff lenkte sein Pferd quer durch einen Torfmoor, der nicht mehr mit jenem kurzen, glatten Rasen, bedeckt erschien, von welchem sich die zahllosen sibirischen Heerden sonst fast ausschließlich ernähren. Hier dehnte sich nicht mehr eine Wiese ohne Grenzen vor seinen Blicken aus, sondern eine Art ungeheurer Haide mit baumartigem Gesträuch.

Der Rasen stieg hier bis fünf und sechs Fuß Höhe auf. Das feine Gras hatte den Platz geräumt vor üppigen Sumpfpflanzen, denen die andauernde Feuchtigkeit im Verein mit der brennenden Hitze des Sommers wahrhaft gigantische Formen verlieh. Vorzugsweise waren es Binsen und Schilf, welche ein unentwirrbares Netz, ein undurchdringliches Gitter bildeten, geschmückt mit Tausenden von Blumen von ungemein lebhaften Farben, darunter vor Allem Lilien und Irisarten, deren Wohlgerüche sich mit den warmen, dem Boden entsteigenden Dünsten mischten.

Michael Strogoff galopirte zwischen den hohen Binsen dahin, wobei ihn von den die Straße begleitenden Sümpfen aus Niemand mehr sehen konnte. Die großen Stengel überragten ihn sammt dem Pferde, und nur das Aufflattern unzähliger Wasservögel, die sich neben seinem Pferde erhoben und in schreienden Gruppen in der Luft zertheilten, verrieth, daß sich Etwas in jenem Dickicht bewege.

Die Straße selbst war übrigens in leidlichem Zustande. Hier schnitt sie in gerader Linie durch das dichte Gewirr der Sumpfpflanzen, dort wand sie sich um das gekrümmte Ufer ausgedehnter Teiche, von denen einige bei einer Länge von mehreren Wersten und ebenso großer Breite schon den Namen von Seen verdient hätten. An anderen Stellen endlich hatte man einzelne stehende Gewässer nicht umgehen können; für Ueberschreitung derselben dienten aber keine Brücken in unserem gewohnten Sinne, sondern eine Art Plateform mit übergelegten Bohlen, welche ebenso leicht schwankten, wie ein zu dünner über einen Graben gelegter Steg. Einige dieser primitiven Straßenbrücken dehnten sich bis auf zwei– und dreihundert Schritte Länge aus, und man erzählt sich, daß Reisende, mindestens reisende Damen beim Fahren über einen solchen schwankenden Weg nicht gar so selten eine Art Seekrankheit bekommen hätten.

Michael Strogoff jagte, ob er nun festen oder schwankenden Boden unter sich hatte, immer mit derselben Schnelligkeit dahin und setzte in kühnem Sprunge über die Lücken hinweg, welche die halb verfaulten Planken an manchen Stellen zwischen sich ließen; so schnell aber Roß und Reiter auch dahin flogen, so konnten sie doch den belästigenden Stichen der zweiflügeligen Insecten nicht entfliehen, die in jenen sumpfreichen Gegenden zur wahren Landplage werden.

Sind Reisende gezwungen, im Sommer durch die Barabinen-Steppe zu fahren, so versehen sie sich mit Masken aus Pferdehaar, an welche sich ein Stück feinmaschiges Panzerhemd zum Schutze der Schultern anschließt. Doch trotz dieser Vorsichtsmaßregeln kommen nur Wenige wieder, ohne zahllose rothe Tüpfel im Gesicht, auf dem Hals und den Händen davon getragen zu haben, aus diesem Sumpfdistricte heraus. Die ganze Atmosphäre erscheint dort wie erfüllt mit haarfeinen Nadeln, und man wird zu dem Glauben verführt, daß kaum eine complete Ritterrüstung zum Schutz gegen die Stacheln dieser Zweiflügler hinreichen könne. Hier ist eine traurige Gegend, die der Mensch den Mücken, Schnaken und Stechfliegen nur mit Aufwand vieler Mittel streitig macht, – ganz zu schweigen von den Milliarden mikroskopischer Insecten, welche man mit unbewaffnetem Auge überhaupt nicht wahrzunehmen im Stande ist; doch wenn man sie auch nicht sieht, so fühlt man sie desto mehr wegen ihrer unerträglich quälenden feinen Stiche, gegen welche auch hartgesottene sibirische Jäger niemals gleichgiltig werden.

Michael Strogoff’s Pferd sprang, von den giftigen Dipteren überfallen, häufig auf, als würden ihm tausend Sporen auf einmal in die Flanke gedrückt. Dann jagte es, raste und flog es in toller Wuth Werst für Werst mit der Schnelligkeit eines Eilzuges dahin, peitschte die Seiten mit dem Schweife und suchte in der Flucht eine Linderung seiner Qualen.

Es gehörte ein so sattelfester Reiter wie Michael Strogoff dazu, um durch die unerwarteten Bewegungen des Pferdes, durch dessen Aufbäumen und Sprünge, zu denen die unausgesetzten Fliegenstiche es reizten, nicht abgeworfen zu werden. Fast unempfindlich geworden gegen physischen Schmerz, nur beseelt von dem einen Verlangen, um jeden Preis sein Ziel zu erreichen, sah er in dieser sinnlosen Jagd nichts weiter, als daß er seinen Weg mit glücklicher Eile zurücklegte.

Wer würde nun glauben, daß diese in der heißen Jahreszeit so ungesunde Barabinen-Steppe doch noch einer Anzahl Menschen Asyl böte?

Und doch ist es an dem. In großen Zwischenräumen tauchen da und dort sibirische Weiler auf zwischen den gigantischen Binsen. Männer, Frauen, Kinder und Greise, in Thierfelle gekleidet und das Gesicht mit einer pechüberzogenen Maske bedeckt, führen ihre dürftigen Heerden zur Weide; um die Thiere aber vor den Angriffen der Insecten zu schützen, halten sie dieselben stets unter dem Winde in der Nähe von Feuern aus grünem Holze, die sie Tag und Nacht unterhalten und deren beißende Rauchsäulen sich schwerfällig über die morastige Niederung ausbreiten.

Als Michael Strogoff bemerkte, daß sein Pferd auf dem Punkte stand, vor Erschöpfung zusammen zu brechen, machte er in einem jener elenden Dörfchen halt, und rieb, seine eigene Ermüdung vergessend, die vielen Stiche des armen Thieres nach sibirischer Sitte mit warmem Fett ein; dann gab er ihm eine tüchtige Ration Futter, und erst als er es den Umständen nach bestmöglich untergebracht und mit Allem versorgt hatte, dachte er an seine Person, verzehrte zur Wiederherstellung seiner Kräfte etwas Brod und Fletsch und trank einige Gläser Kwaß dazu. Nach einer, höchstens zwei Stunden der Ruhe begab er sich wieder auf seinen endlosen Weg nach dem fernen Irkutsk.

Von Turumoff aus hatte er auf diese Weise neunzig Werst zurück gelegt und kam am 30. Juli, gegen vier Uhr Nachmittags, unempfindlich für jede Anstrengung, in Elamsk an.

Daselbst mußte er seinem Pferde eine Nacht Ruhe gönnen. Das muthige Thier hatte jetzt die Reise unmöglich fortzusetzen vermocht.

In Elamsk fand sich ebenso wenig als anderswo ein bequemeres Beförderungsmittel. Aus den nämlichen Gründen, wie in den andern kleinen Städten und Flecken, fehlte es auch hier vollkommen an Wagen oder Pferden.

Elamsk, eine kleine Stadt, in welche die Tartaren noch nicht eingedrungen waren, erwies sich fast ganz entvölkert, denn es konnte von Süden her sehr leicht überfallen, aber von Norden her nur sehr schwierig beschützt werden. Auf höheren Befehl waren das Posthaus, das Polizeiamt, das Regierungsgebäude ebenfalls verlassen, und Beamte ebenso wie Einwohner nach dem nördlicher gelegenen Kamsk, in der Mitte der Barabinen-Steppe, ausgewandert.

Michael Strogoff mußte sich also darauf beschränken, in Elamsk die Nacht zuzubringen und seinem Pferde zwölf Stunden Ruhe zu gönnen. Er erinnerte sich der ihm in Moskau an’s Herz gelegten Instructionen, Sibirien unerkannt zu durchreisen, auf jeden Fall und sobald als möglich Irkutsk zu erreichen, aber, wenigstens bis zu einer gewissen Grenze, den Erfolg seiner Fahrt nicht der Schnelligkeit wegen auf’s Spiel zu setzen, – in Anbetracht dieser Umstände hatte er die Verpflichtung, das einzige ihm noch verbliebene Beförderungsmittel, das Reitpferd, vernünftig zu schonen.

Am folgenden Tage verließ Michael Strogoff Elamsk wieder, eben als man das Erscheinen tartarischer Plänkler, auf der Straße durch die Barabinen-Steppe, etwa zehn Werst jenseit der Stadt, anmeldete, und trabte wieder in die sumpfige Niederung hinaus. Die Straße lief zwar ganz eben hin, wodurch das Fortkommen erleichtert, aber in vielfachen Windungen, wodurch der Weg sehr verlängert wurde. Uebrigens verboten es die Bodenverhältnisse unbedingt, etwa die Einhaltung einer geraden Linie quer durch diese Tümpel und Teiche zu versuchen.

Am darauf folgenden Tage, am 1. August, erreichte Michael Strogoff gegen Mittag den 120 Werst weiter gelegenen Flecken Spaskoë, und um zwei Uhr hielt er bei der darauf folgenden kleinen Ortschaft, Pokrowskoë, zum ersten Male wieder an.

Sein durch den langen Ritt von Elamsk bis hierher über Gebühr angestrengtes Roß hätte auch keinen Schritt mehr vorwärts thun können.

Bei dieser ihm aufgezwungenen Ruhe verlor Michael Strogoff zwar den Rest des Tages und die darauf folgende Nacht, aber er gelangte am nächsten Tage, dem 2. August, nach einem 75 Werst langen Wege durch das halb unter Wasser stehende Gebiet doch bis zu dem Städtchen Kamsk.

Hier bot die Landschaft ein wesentlich anderes Bild. Der kleine Flecken Kamsk liegt wie eine wohnliche, gesunde Insel mitten in diesem unheilvollen Gebiete. Er nimmt gerade den Mittelpunkt der Barabinen-Steppe ein. Dort haben sich, eine heilsame Folge der Kanalisirung des Tom, eines bei Kamst vorbeiziehenden Nebenflusses des Irtysch, die pestaushauchenden Sümpfe in üppige, fette Weiden verwandelt. Dennoch vermochten diese Bodenmeliorationen noch nicht völlig jene Fieber zu besiegen, welche den Aufenthalt in dieser Stadt während des Herbstes noch einigermaßen gefährden. Immerhin flüchten sich hierher die wenigen Bewohner der Barabinen-Steppe, wenn die verderblichen Sumpfmiasmen sie aus den übrigen Theilen der Provinz vertreiben.

Die durch die Tartaren-Invasion verursachte allgemeine Auswanderung hatte Kamst doch noch nicht entvölkert. Die Bewohner glaubten sich in der Mitte ihres für größere Truppenmassen so schwer zugänglichen Landes verhältnißmäßig sicher, mindestens waren sie der Ansicht, zur Flucht noch immer Zeit zu haben, wenn sie unmittelbar bedroht würden.

Michael Strogoff konnte hier, so sehr er es auch wünschte, keinerlei neuere Nachrichten erhalten. Jedenfalls hätte sich der Gouverneur vielmehr an ihn gewendet, wäre ihm der wirkliche Charakter dieses angeblichen Kaufmanns aus Irkutsk bekannt gewesen. Kamsk schien in Folge seiner besonders günstigen Lage der übrigen sibirischen Welt in der That nicht anzugehören und gänzlich außerhalb der ernsten Ereignisse zu stehen, die jene erschütterten.

Uebrigens zeigte sich Michael Strogoff möglichst wenig oder gar nicht. Ihm genügte es nicht, jedes Aufsehen zu vermeiden, er wünschte überhaupt gar nicht gesehen zu werden. Die Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit verdoppelten seine Vorsicht in der Gegenwart wie für die Zukunft. So hielt er sich denn ganz zurückgezogen, trug gar kein Verlangen, die wenigen Straßen des Städtchens zu durchlaufen, und wollte das Gasthaus, in dem er abgestiegen war, überhaupt nicht verlassen.

In Kamsk hätte Michael Strogoff wohl einen Wagen kaufen und das Reitpferd, welches ihn von Omsk bis hierher getragen, durch ein bequemeres Beförderungsmittel ersetzen können. Nach reiflicher Ueberlegung sagte er sich aber, daß das Einhandeln eines Tarantaß doch die Aufmerksamkeit mehr, als ihm lieb war, auf ihn lenken mußte, und da er die von den Tartaren besetzte Linie noch nicht überschritten hatte, eine Linie, welche etwa mit dem Irtyschstrome abschnitt, so wollte er es nicht wagen, irgend welchen Verdacht zu erwecken.

Um übrigens diese Barabinen-Steppe zu durcheilen, durch diese Sumpfniederung zu fliehen, im Fall ihn eine directere Gefahr bedrohen sollte, um den zu seiner Verfolgung entsendeten Reitern einen Vorsprung abzugewinnen, um sich im Nothfall auch durch das dichteste Binsenmeer hindurchzuschlagen, war ein Pferd offenbar mehr werth, als ein Wagen. Später, vielleicht jenseit Tomsk oder gar hinter Krasnojarsk, hoffte Michael Strogoff in irgend einer bedeutenderen Stadt Sibiriens passendere Gelegenheit zu finden, sich mehr Bequemlichkeit zu verschaffen.

Sein jetziges Reitpferd aber gegen ein anderes umzutauschen, dieser Gedanke kam ihm gar nicht in den Sinn. Er hatte sich an dieses ausdauernde Thier schon gewöhnt; er wußte, was er von ihm verlangen konnte. Als er es in Omsk erkaufte, hatte er eine glückliche Hand gehabt, und dankbar pries er noch immer jenen Mujik, der ihn dort zu dem betreffenden Posthalter führte. Doch nicht nur Michael Strogoff fühlte eine gewisse Anhänglichkeit seinem Pferde gegenüber, auch dieses schien sich allgemach an die Strapazen einer solchen Parforce-Reise zu gewöhnen, und wenn ihm nur je einige Stunden Ruhe gegönnt wurden, konnte sein Reiter wohl hoffen, bis über die überfallenen Provinzen hinaus zu gelangen.

Während dieses Abends und der Nacht vom 2. zum 3. August verhielt sich Michael Strogoff also in seinem Gasthause am Eingange des Städtchens, einem wenig besuchten Gasthause ohne zudringliche und neugierige Gäste.

Von Ermüdung übermannt, legte er sich zwar bald, aber doch nicht eher nieder, als bis er wußte, daß es seinem Pferde an nichts fehle; trotzdem vermochte er nur einen häufig unterbrochenen Schlummer zu finden. Zu viele Erinnerungen, zu viele Sorgen für die Zukunft regten sich in ihm. Die Bilder seiner betagten Mutter und seiner schutzlos verlassenen, muthigen, jungen Gefährtin zogen abwechselnd vor seinem Geiste auf oder verschmolzen in ihm wohl auch zu einem einzigen sorgenden Gedanken.

Dann erinnerte er sich wieder seiner Sendung, an deren Ausführung ein Eid ihn band. Was er seit seinem Aufbruche von Moskau selbst gesehen, ließ ihn immer mehr die Wichtigkeit derselben erkennen. Fielen dann seine Blicke einmal auf den mit dem kaiserlichen Siegel verschlossenen Brief, diesen Brief, der ohne Zweifel das Heilmittel gegen so zahllose Uebel des von einem wilden, blutigen Kriege zerrissenen Landes enthielt, – dann bemächtigte sich Michael Strogoff’s fast unbesiegbares Verlangen, sofort wieder durch die Steppe weiter zu jagen, mit der Hast eines Vogels die Strecke zu überfliegen, die ihn noch von Irkutsk trennte, ein Adler zu sein, um alle Hindernisse überwinden zu können, ein Orkan, um mit der Schnelligkeit von hundert Werst die Stunde über der Erde dahin zu rasen und endlich vor den Großfürsten zu treten und ihm zuzurufen: »Kaiserliche Hoheit, von Seiner Majestät dem Czaaren!«

Am andern Morgen um sechs Uhr früh ritt Michael Strogoff wieder mit der Absicht weiter, an diesem Tage die 84 Werst (= 89 Kilometer) von Kamsk bis Ubinsk zurückzulegen. Jenseit eines Kreises von etwa 20 Werst fand er ganz die sumpfige Barabinen-Steppe wieder, welche hier kein Ableitungsgraben mehr trocken legte, so daß der Erdboden manchmal einen Fuß hoch unter Wasser stand. Dann war die Straße nur schwierig zu erkennen, aber er legte diesen Wegtheil, Dank seiner umsichtigen Aufmerksamkeit, doch ohne Unfall zurück.

In Ubinsk angelangt ließ Michael Strogoff sein Pferd die ganze Nacht über rasten, denn er wollte am folgenden Tag die 100 Werst betragende Entfernung zwischen Ubinsk und Ikulskoë durchmessen. Er brach also mit der Morgenröthe auf, aber leider gestaltete sich die Straße durch diesen Theil der Barabinen-Steppe immer unwegsamer.

Zwischen Ubinsk und Kamakowa hatten sich nämlich die reichlichen Regenniederschläge der letztvergangenen Wochen wie in einer undurchlässigen Schüssel in der verhältnißmäßig engen Bodensenkung angesammelt. Das unentwirrbare Netz von Sümpfen, Teichen und Seen hing fast ohne Unterbrechung zusammen. Einen dieser Seen, – übrigens einer von solcher Größe, daß er in der geographischen Nomenklatur wohl einen Platz verdient hätte, – den Tschang (ein von den Chinesen ihm beigelegter Name), mußte Michael Strogoff auf einer Strecke von 20 Werst längs seines Ufers unter den größten Schwierigkeiten umreiten, was nothwendiger Weise einige Verzögerungen veranlaßte, die er trotz seiner Ungeduld doch nicht zu vermeiden vermochte. Er sah recht deutlich ein, wie gut er daran gethan, sich in Kamsk nicht einen Wagen zu nehmen, denn sein Pferd kam hier unter Verhältnissen noch vorwärts, die jeden Wagen unbedingt aufgehalten hätten.

Abends gegen neun Uhr in Ikulskoë angekommen, verweilte Michael Strogoff daselbst die ganze Nacht. In diesem in der Barabinen-Steppe verlorenen Flecken fehlten die Nachrichten vom Kriegsschauplatze natürlich gänzlich. Dieser Theil der Provinz war durch seine natürliche Lage, mitten in der Gabel, welche die tartarischen Heerestheile durch ihr verschiedenseitiges Abschwenken einerseits nach Omsk, andrerseits nach Tomsk zu, bildeten, von den Schrecken des Einfalls noch gänzlich verschont geblieben.

Bald mußten sich nun auch die natürlichen Schwierigkeiten des Weges vermindern, denn im Fall er keine Verzögerung erlitt, hoffte Michael Strogoff am nächsten Tage über die Barabinen-Steppe hinauszukommen. Später bot sich ihm wieder ein weit besserer Weg, wenn er die 125 Werst, die ihn noch von Kolywan trennten, zurückgelegt hatte.

Von diesem etwas bedeutenderen Städtchen aus rechnete man bis Tomsk nur noch die gleiche Entfernung. Dann mußte er eine weitere Entscheidung treffen, die höchst wahrscheinlich in dem Sinne ausfiel, letztere von Feofar-Khan schon besetzte Stadt ganz zu umgehen.

Wenn sich aber diese kleinen Städtchen, wie Ikulskoë, Karguinsk u. a., in Folge ihrer Lage mitten in der sumpfigen Steppe, die der Entwickelung der tartarischen Streitkräfte unüberwindliche Schwierigkeiten entgegensetzte, noch einer glücklichen Ruhe erfreuten, lag da nicht die Befürchtung nahe, daß Michael Strogoff von den reichen, fruchtbaren Ufern des Obi an an Stelle der natürlichen Hindernisse allerlei Schwierigkeiten und Gefahren von Seiten der Menschen zu erwarten haben werde? Jedenfalls durfte er keinen Anstand nehmen, in dieser Gegend von der Straße nach Irkutsk abzuweichen. Bei einem Ritte durch die einsame Steppe lief er freilich Gefahr, sich von allen Hilfsmitteln zu entblößen. Dort fand sich nämlich keine weitere Straße, keine Stadt, kein Dorf mehr. Nur ganz einzeln traf man auf isolirte Farmen, oder vielmehr auf Hütten ärmlicher Leute, bei denen trotz ihrer unzweifelhaften Gastfreundlichkeit sich doch kaum das Notwendigste finden mochte. Und dennoch, er durfte nicht zaudern!

Endlich gegen halb vier Uhr Nachmittags verließ Michael Strogoff, nachdem er noch durch die kleine Station Kargatsk gekommen war, die letzte Niederung der Barabinen-Steppe und der Hufschlag seines Pferdes verrieth durch den Schall wieder den harten, trockenen Boden des sibirischen Landes.

Er hatte Moskau am 15. Juli verlassen. Unter Einrechnung der am Ufer des Irtysch verlorenen zweiundsiebzig Stunden ergab das bis heute, den 5. August, eine Reisedauer von einundzwanzig Tagen.

Fünfzehnhundert Werst trennten ihn nun noch von Irkutsk.

Sechzehntes Capitel

Sechzehntes Capitel

Eine letzte Anstrengung

Michael Strogoff hatte ganz Recht, in den Ebenen, welche sich östlich an die Barabinen-Steppe anschließen, ein unliebsames Zusammentreffen zu fürchten. Die von Pferdehufen zertretenen Felder bewiesen, daß die Tartaren hier vorüber gekommen waren, und auf diese Barbaren passen auch die zuerst auf die Türken angewendeten Worte: »Auf dem Boden, den der Türke betrat, wächst kein Grashalm wieder!«

Bei seinem Zuge durch diese Gegend mußte Michael Strogoff also die größte Vorsicht beachten. Einige am fernen Horizonte lagernde Rauchwolken sagten ihm, daß hier die Weiler und Flecken angesteckt worden waren. Rührten diese Feuersbrünste nun von den Vortruppen her oder marschirte die ganze Armee des Emir schon nach den äußersten Grenzen der Provinz? Befand sich Feofar-Khan selbst in dem Gouvernement von Jeniseïsk? Michael Strogoff wußte hierüber nichts und konnte, bevor er nicht weitere Nachrichten erhielt, nach keiner Seite eine Entscheidung treffen. Sollte das Land so menschenleer geworden sein, daß er keinen einzigen Sibirier mehr fände, um von ihm Auskunft zu erlangen?

Michael Strogoff ritt auf der ganz leeren Straße etwa zwei Werst weiter. Nach rechts und links schweiften seine Augen und suchten ein noch nicht verlassenes Haus, aber alle, alle fand er öde und leer.

Eine einzelne Hütte, welche er zwischen einer Gruppe Bäume entdeckte, rauchte noch. Als er sich näherte, fand er wenige Schritte von den Trümmern seines Hauses einen Greis von weinenden Kindern umringt. Eine noch ziemlich junge Frau, offenbar die Tochter jenes Mannes und die Mutter der Kinder, lag knieend auf dem Boden, den verzweifelten Blick starr auf diese Scene der Verwüstung geheftet. Ein zarter Säugling von wenigen Monaten ruhte noch an ihrer Brust. Alles rings um diese Aermsten war Ruine und Zerstörung!

Michael Strogoff ging auf den Greis zu.

»Bist Du im Stande, mir zu antworten? fragte er mit ernster Stimme.

– Rede, erwiderte der alte Mann.

– Sind die Tartaren hier vorüber gekommen?

– Gewiß, sonst stände mein Haus nicht in Flammen.

– Ein ganzes Heer oder nur eine Abtheilung?

– Ein ganzes Heer, denn so weit der Blick reicht, sind unsere Felder verwüstet!

– Commandirt von dem Emir? …

– Von ihm, denn das Wasser des Obi färbte sich roth.

– Und Feofar-Khan ist in Tomsk eingezogen?

– Gewiß.

– Weißt Du, ob die Tartaren sich schon der Stadt Kolywan bemächtigt haben?

– Nein, denn Kolywan steht noch nicht in Flammen.

– Ich danke, Freund. – Kann ich Etwas für Dich und die Deinen thun?

– Nichts.

– Auf Wiedersehen!

– Leb‘ wohl!«

Nachdem Michael Strogoff noch fünfundzwanzig Rubel niedergelegt hatte vor dem unglücklichen Weibe, welches nicht einmal im Stande war, ihm zu danken, gab er seinem Pferde die Sporen und setzte den einen Augenblick unterbrochenen Weg fort.

Er wußte nun Eines: daß er es um jeden Preis zu vermeiden habe, Tomsk zu passiren. Eher schien es möglich, nach Kolywan zu gehen, wo die Tartaren noch nicht herrschten. Auch in dieser Stadt hatte er nichts Anderes zu thun, als sich zu stärken und mit dem Nöthigsten für eine sehr lange Tagereise zu versehen. Dann mußte er die Straße nach Irkutsk verlassen, um nach Ueberschreitung des Obi Tomsk zu umgehen, – einen anderen Ausweg sah er nicht vor sich.

Nach Feststellung dieses neuen Reiseplans durfte Michael Strogoff nicht einen Augenblick zögern. Er zögerte auch nicht, sondern trieb sein Pferd zu einer noch schnelleren Gangart an und folgte dem directen Wege, der an das linke Ufer des Stromes führte und bis zu dem noch eine Strecke von 40 Werst zurückzulegen war. Würde er eine Fähre finden, um dort überzusetzen, oder sollte das Tartarenheer alle Fahrzeuge zerstört, weggeschleppt haben und er gezwungen sein, schwimmend den Strom zu überschreiten? Die Zukunft mußte diese Fragen bald beantworten.

Was sein nun auf’s Aeußerste erschöpftes Pferd betraf, so wollte es Michael Strogoff, nach Vollendung der bevorstehenden langen und höchst anstrengenden Tagereise, in Kolywan womöglich gegen ein anderes vertauschen. Er fühlte wohl, daß das arme Thier binnen Kurzem unter ihm zusammenbrechen mußte. Kolywan bildete also für ihn gleichsam einen neuen Ausgangspunkt, da er von dieser Stadt aus seine Reise unter sehr veränderten Verhältnissen fortzusetzen hatte. So lange sein Weg ihn durch die von den Eindringlingen besetzten Gebiete führte, mußten die Schwierigkeiten offenbar große sein; nach glücklicher Umgehung von Omsk aber konnte er die Straße nach Irkutsk wieder benutzen, und da die Provinz Jeniseïsk den Verwüstungen der Feinde noch entzogen geblieben war, durfte er wohl hoffen, sein Ziel in wenigen Tagen zu erreichen.

Nach einem recht warmen Tage senkte sich die Nacht herab. Um Mitternacht hüllte tiefe Finsterniß die weite Steppe ein. Der Wind, der sich mit Sonnenuntergang gelegt hatte, hinterließ in der Atmosphäre eine vollkommene Stille. Nur den Hufschlag des Pferdes hörte man auf der verlassenen Straße, und dann und wann einige Worte, mit denen der Reiter es aufzumuntern suchte. Mitten in dieser Finsterniß bedurfte es der äußersten Vorsicht, um nicht von dem Wege abzukommen; denn immer begleiteten diesen einzelne Teiche oder kleine Nebenarme des Obi.

Michael Strogoff trabte also möglichst schnell, aber immer mit größter Aufmerksamkeit weiter. Er verließ sich dabei nicht allein auf die große Schärfe seiner Augen, die auch die Finsterniß durchdrangen, sondern daneben auch auf die Klugheit seines Pferdes, dessen scharfen Spürsinn er kannte.

Eben war Michael Strogoff einmal abgestiegen, um sich über die genaue Richtung der Straße zu vergewissern, als er von Westen her ein verworrenes Geräusch zu vernehmen glaubte. Es klang wie entferntes Pferdegetrappel auf der trockenen Erde. Ohne Zweifel; ein bis zwei Werst weiter rückwärts hörte er die regelmäßigen Hufschläge von Pferden.

Michael Strogoff lauschte, das Ohr auf dem Boden, mit gespanntester Aufmerksamkeit.

»Das ist eine Reiterabtheilung, sagte er sich, welche auf der Straße von Omsk daherkommt. Sie scheint sich schnell zu bewegen, denn das Geräusch nimmt merkbar zu. Sind das nun Russen oder Tartaren?«

Michael Strogoff lauschte noch immer.

»Ja, ja, sprach er halblaut für sich, sie nähern sich in scharfem Trabe! Vor Ablauf von zehn Minuten müssen sie hier sein. Mein Pferd wird schwerlich mit ihnen Schritt halten können. Sind es Russen, so würde ich mich ihnen anschließen. Sind es Tartaren, so muß ich ihnen entweichen. Aber wie? Wo könnt‘ ich mich verbergen in dieser Steppe?«

Michael Strogoff sah sich forschend um, und sein scharfes Auge entdeckte eine bei der herrschenden Finsterniß kaum erkennbare dunklere Masse etwa hundert Schritt vor sich zur Linken der Straße.

»Da ist ein kleines Gehölz, sagte er. Wenn ich mich darin verberge, laufe ich zwar Gefahr, den Reitern in die Hände zu fallen, wenn sie es durchsuchen sollten. Indeß, ich habe keine Wahl. Da, in der Ferne kommen sie schon!«

Wenige Minuten später erreichte Michael Strogoff, sein Pferd am Zügel führend, ein kleines Gehölz von Lärchenbäumen, das einen Zugang von der Straße aus hatte. Vor und hinter demselben zog sie sich ganz frei von Bäumen zwischen den Löchern und Tümpeln hin, welche aus Stechginster und Haidekraut bestehende Gruppen von Zwergbäumen trennten. Zu beiden Seiten war das Terrain also völlig ungangbar und die Reiterschaar mußte zweifellos an dem kleinen Gehölz vorüber kommen, da sie offenbar der Hauptstraße nach Irkutsk folgte.

Michael Strogoff wand sich also zwischen diese Lärchenbäume hinein, bis er sich etwa nach vierzig Schritten von einem Wasserlauf aufgehalten sah, der den Hain im Halbkreise begrenzte.

Die Dunkelheit war hier aber eine so tiefe, daß Michael Strogoff nicht im Geringsten Gefahr lief entdeckt zu werden, wenn das Gehölz nicht ganz peinlich durchsucht wurde. Er führte sein Pferd also bis an jenes Wasser, band es daselbst an einen Baum und schlich sich selbst wieder an den Rand des Dickichts, um bestimmen zu können, wie er sich zu verhalten habe.

Kaum hatte er hinter einigen buschartigen Lärchen Platz genommen, als ihm ein Lichtschein in’s Auge fiel, aus dem da und dort einige glänzende Punkte in lebhafter Bewegung aufleuchteten.

»Wie? Fackeln!« murmelte er.

Schnell wich er wieder weiter zurück und schlüpfte wie ein Wilder geräuschlos in das Gebüsch, wo es am dichtesten war.

Bei ihrer Annäherung an das Gehölz nahmen die Pferde einen langsameren Schritt an. Recognoscirten die Reiter etwa die Straße, um sie in allen Einzelheiten genau kennen zu lernen?

Michael Strogoff mußte das befürchten und begab sich wenigstens bis nach dem steilen Uferrand jenes Wasserlaufs zurück, entschlossen, sich im Nothfalle auch hinein zu stürzen.

Als die Reiterschaar bei dem Gehölz ankam, machte sie Halt. Die Männer stiegen ab. Es mochten gegen fünfzig sein. Mehrere derselben trugen Fackeln, welche die Straße in weitem Umkreise beleuchteten.

An gewissen Vorbereitungen bemerkte Michael Strogoff zu seinem Glücke, daß es keineswegs in der Absicht der Berittenen liege, das Gehölz zu durchsuchen, sondern nur an dessen Rande zu bivouakiren, den Pferden einige Ruhe zu gönnen und den Mannschaften etwas Nahrung zu sich nehmen zu lassen.

Die abgezäumten Pferde begannen bald das saftige Gras abzuweiden, das hier den Boden bedeckte. Die Reiter selbst ließen sich längs der Straße nieder und vertheilten die Rationen aus ihren Fouragetaschen.

Michael Strogoff hatte seine vollkommene Kaltblütigkeit bewahrt. Er schlich wieder näher, erst um Etwas zu sehen, dann um womöglich einige Worte zu vernehmen.

Die hier gelagerte Reiterabtheilung kam von Omsk her. Sie bestand aus usbeckischen Soldaten, einer in der Tartarei vorherrschenden Race, deren Typus auf ihre Verwandtschaft mit den Mongolen hinweist. Diese wohlgebauten, alle über mittelgroßen Männer mit rohem, wildem Gesichtsausdrucke trugen auf dem Kopfe einen »Talpak«, eine Art Mütze aus schwarzem Schafpelz, und gelbe, hochschaftige Stiefeln, deren vordere Spitze aufgebogen war, wie man das an den Schuhen aus gewissen Perioden des Mittelalters zu sehen gewöhnt ist. Ihren Rock aus mit grobem Baumwollenstoffe gefüttertem Kattun umschloß ein Ledergürtel mit rother Stickerei. Als Vertheidigungswaffe führten sie einen Schild, als Angriffswaffen einen krummen Säbel, ein langes Dolchmesser und ein am Sattelknopfe hängendes Steinschloßgewehr. Ihre Schultern bedeckte noch ein Filzmantel in grellen Farben.

Die in voller Freiheit am Saume des Gehölzes grasenden Pferde waren von usbeckischer Race, ebenso wie ihre Reiter. Bei dem Scheine der Fackeln, die ein lebhaftes Licht durch die Aeste der Lärchen verbreiteten, konnte man das recht gut erkennen. Etwas kleiner als die Pferde der turkomanischen Race, aber ungemein kräftig und ausdauernd, sind diese doch als echte Vollblutthiere anzusehen, die eine andere Gangart als scharfen Trab oder Galop gar nicht zu kennen scheinen.

Die Abtheilung selbst führte ein »Pendja-Baschi«, d. h. ein Befehlshaber über fünfzig Mann, dem noch ein »Deh-Baschi«, ein Anführer von einer Rotte zu zehn Mann, untergeordnet war. Diese Officiere trugen Panzerhauben und Waffenröcke; außerdem bildeten kleine, am Sattelknopfe hängende Trompeten ihre verschiedene Gradauszeichnung.

Der Pendja-Baschi wollte seine von einem weiten Ritte ermüdeten Mannschaften etwas ausruhen lassen. Plaudernd und den »Beng« (d. i. ein Hanfblatt, der Hauptbestandtheil des »Haschich«, von dem die Asiaten einen so ausgedehnten Gebrauch machen), rauchend, gingen die beiden Officiere am Rande des Gehölzes so auf und ab, daß Michael Strogoff ihre Unterhaltung hören und auch die Worte verstehen konnte, da sie sich der tartarischen Sprache bedienten.

Schon die ersten Worte ihres Gesprächs erregten die Aufmerksamkeit Michael Strogoff’s im höchsten Grade.

Zu seinem Erstaunen war von ihm selbst die Rede.

»Jener Courier kann einen so großen Vorsprung vor uns unmöglich haben, sagte der Pendja-Baschi, und außerdem konnte er bestimmt keinen andern Weg einschlagen, als die Straße durch die Barabinen-Steppe.

– Wer weiß, ob er Omsk überhaupt verlassen hat? erwiderte der Deh-Baschi. Vielleicht hält er sich noch jetzt in irgend einem Hause der Stadt versteckt.

– Wahrlich, das wäre nur zu wünschen! Dann brauchte der Oberst Ogareff nicht zu fürchten, daß die Depeschen, deren Träger der Courier doch ohne Zweifel ist, an ihren Bestimmungsort gelangten!

– Man behauptet, Jener solle ein Landeskind, ein Sibirier sein, fuhr der Deh-Baschi fort. Als solchen muß ihm wohl die Provinz bekannt sein und er konnte recht wohl von der Landstraße nach Irkutsk abweichen in der Rechnung, sie erst später wieder aufzusuchen.

– Dann wären wir ihm aber voraus, antwortete der Pendja-Baschi, denn wir haben Omsk kaum eine Stunde nach seiner Abreise aus der Stadt ebenfalls verlassen und sind bei der größten Schnelligkeit der Pferde dem kürzesten Wege gefolgt. Ob er also in Omsk ganz zurück geblieben oder wir vor ihm in Tomsk ankommen, um ihm den Weg zu verlegen, jedenfalls wird er Irkutsk nicht zu erreichen vermögen.

– Eine derbe Frau übrigens, jene alte Sibirierin, die offenbar seine Mutter ist!« bemerkte der Deh-Baschi.

Bei diesen Worten klopfte Michael Strogoff’s Herz, als wollte es springen.

»Ja wohl, erwiderte der Pendja-Baschi, sie versuchte es zwar abzuleugnen, daß dieser vermeintliche Kaufmann ihr Sohn sei, aber es gelang ihr nicht. Der Oberst Ogareff hat sich dadurch nicht täuschen lassen, denn er sprach es wenigstens aus, er werde die alte Hexe zur passenden Zeit schon zum Geständnis der Wahrheit zu bringen wissen.«

So viele Worte, so viele Dolchstiche waren das für Michael Strogoff. Er war also sicher als Courier des Czaar erkannt. Eine zu seiner Verfolgung ausgesendete Reiterabtheilung mußte ihm unfehlbar den Weg verlegen! Dazu befand sich, zu seinem tiefsten Schmerze, seine Mutter in der Gewalt der Tartaren, und der grausame Ogareff rühmte sich, er werde sie zum Sprechen zu bringen wissen, wenn es ihm beliebte.

Michael Strogoff wußte recht gut, daß die energische Sibirierin Nichts aussagen und daß ihr diese Weigerung jedenfalls das Leben kosten werde! …

Michael Strogoff glaubte zwar, daß er Iwan Ogareff niemals mehr zu hassen im Stande sei, als er ihn bis jetzt gehaßt habe, und doch drang ihm auf’s Neue ein bitteres Gefühl des Hasses in’s Herz. Der Schurke, der sein Vaterland verrieth, drohte nun auch noch seine alte Mutter zu foltern!

Das Gespräch der beiden Officiere dauerte noch länger fort, und Michael Strogoff glaubte zu verstehen, daß in der Umgebung von Kolywan ein Zusammenstoß zwischen den von Norden herabziehenden russischen Truppen und den Tartarenhorden zu erwarten sei. Ein schwaches russisches Corps von 2000 Mann näherte sich, den vom unteren Obi eingegangenen Nachrichten zufolge, in Eilmärschen der Stadt Tomsk. Wenn sich das bestätigte, so mußte jenes Corps, welches von der Hauptmacht des Heeres unter Feofar-Khan aufgefangen wurde, ohne Zweifel vernichtet werden, und dann gehörte die Straße nach Irkutsk unbestritten den frechen Feinden.

Seine eigene Person betreffend entnahm Michael Strogoff aus einigen Aeußerungen des Pendja-Baschi, daß auf seinen Kopf ein Preis gesetzt und Befehl ergangen sei, ihn lebend oder todt einzuliefern.

Daraus ergab sich aber die Notwendigkeit, den usbeckischen Reitern zuvor zu kommen und auf der Straße nach Irkutsk den Obi zwischen den Courier und seine Verfolger zu bringen. Zur Erreichung dieser Absicht mußte er aber vor Aufhebung des Bivouaks zu entkommen suchen.

Michael Strogoff bereitete sich sofort, diesen Entschluß auszuführen.

Die Rast konnte unmöglich lange währen, und dem Pendja-Baschi durfte es kaum beikommen, seinen Leuten mehr als eine Stunde Ruhe zu gönnen, obwohl ihre seit dem Aufbruche aus Omsk sicherlich nicht gegen frische verwechselten Pferde gewiß in demselben Maße und aus denselben Gründen erschöpft sein mußten, wie das Reitpferd Michael Strogoff’s.

Er hatte also keinen Augenblick zu verlieren. Es war jetzt um ein Uhr Morgens. Er mußte sich die Dunkelheit, welche bald der Morgenröthe zu weichen drohte, zu Nutze machen, um das kleine Gehölz wieder zu verlassen und die Straße zu gewinnen; doch trotz der Begünstigung durch die dunkle Nacht erschien der Erfolg einer solchen Flucht doch im höchsten Grade unsicher.

Um Nichts vom blinden Zufall abhängig zu machen, nahm sich Michael Strogoff Zeit zu überlegen und erwog sorgsam die Aussichten für und wider, um einen Entschluß zu fassen, der ihm noch die besten bot.

Aus den örtlichen Verhältnissen ergab sich Folgendes: An der der Straße entgegen gesetzten Seite des Gehölzes vermochte er nicht zu entweichen, denn um die Bogenlinie der Lärchenbäume, deren Sehne eben die Landstraße darstellte, lief jener nicht nur tiefe, sondern auch breite und schlammige Wasserarm. Große Stechginstern machten ein Passiren desselben fast zur Unmöglichkeit. Unter der schäumenden Wasserfläche befand sich offenbar eine steile Vertiefung, in der der Fuß keinen Stützpunkt finden würde. Außerdem erschien das Land jenseit des Wasserlaufs mit seinen zerstreuten Gebüschen für eine eilige Flucht auch mehr als ungeeignet. Erweckte er einmal die Aufmerksamkeit, so wurde Michael Strogoff gewiß mit Aufwendung aller Mittel und Kräfte verfolgt, eingeschlossen und zuletzt von den tartarischen Reitern gefangen.

Es gab für ihn also nur einen einzigen benutzbaren Weg, einen einzigen, die große Landstraße. Diese zu erreichen, indem er am Rande des Hölzchens hinschlich, und ohne die Aufmerksamkeit seiner Feinde zu erwecken, wenigstens eine Viertelwerst Vorsprung zu gewinnen, den letzten Rest der Kraft und Schnelligkeit seines Pferdes zu benutzen, und sollte es am Ufer des Obi auch todt zusammenbrechen, diesen bedeutenden Strom mittels eines Bootes zu überfahren, oder wenn es an jederlei Transportmittel mangeln sollte, zu durchschwimmen, – das war es, was Michael Strogoff versuchen und wagen mußte.

Seine Thatkraft, sein Muth verzehnfachte sich im Angesicht der Gefahr. Es handelte sich um sein Leben, um seinen Auftrag, um die Ehre seines Landes, vielleicht um das Wohl seiner Mutter. Er konnte nicht zögern, er ging an’s Werk.

Er hatte nun keinen Augenblick mehr zu verlieren. Schon entstand wieder einige Bewegung unter den Mannschaften der Abtheilung. Einige Reiter gingen auf der Straße, an dem Saume des Wäldchens hin und her. Die Andern lagen noch am Fuße der Bäume ausgestreckt, aber ihre Pferde fanden sich nach und nach wieder zusammen.

Erst kam Michael Strogoff der Gedanke, sich eines dieser Pferde zu bemächtigen, aber er sagte sich doch, daß diese nicht minder erschöpft sein müßten, als das seinige. Es schien ihm also gerathener, sich dem Thiere anzuvertrauen, dessen er sicher war und das ihm bis hierher so vortreffliche Dienste geleistet hatte. Das muthige Thier entging, verdeckt von hohem Haidekraute, glücklich den Blicken der Tartaren. Diese selbst drangen ja auch gar nicht in die Tiefe des Hölzchens ein.

Auf dem Boden hinkriechend, näherte sich Michael Strogoff seinem Pferde, das sich gelagert hatte. Er streichelte es mit der Hand, sprach ihm leise freundlich zu und brachte es geräuschlos wieder auf die Füße.

Eben jetzt verlöschten zu Michael Strogoffs Glück die völlig niedergebrannten Fackeln, und es herrschte, mindestens unter den Gipfeln der Lärchenbäume, die dichteste Finsterniß.

Nachdem Michael Strogoff das Gebiß wieder eingelegt, den Sattelgurt festgeschnallt und die Riemen der Steigbügel geprüft halte, begann er sein Pferd langsam am Zügel fortzuziehen. Uebrigens folgte das intelligente Thier, so als verstände es, was man von ihm wolle, willig seinem Herrn, ohne nur ein einziges Mal zu wiehern.

Dennoch hoben einige usbeckische Pferde neugierig die Köpfe und wandten sich dem Rande des Gehölzes zu.

In der rechten Hand hielt Michael Strogoff seinen Revolver, bereit, dem ersten tartarischen Reiter, der sich nähern würde, den Kopf zu zerschmettern. Glücklicher Weise hörte er aber keinen Weckruf und konnte den rechts auslaufenden Winkel des Wäldchens, da wo dieser an die Straße herantrat, erreichen.

Um womöglich nicht gesehen zu werden, beabsichtigte Michael Strogoff sich erst so spät als möglich in den Sattel zu schwingen, und jedenfalls erst, nachdem er über eine Wendung des Weges, die sich etwa 200 Schritte jenseit des Gehölzes befand, hinter sich haben würde.

Zum Unglück aber witterte ihn, als Michael Strogoff eben den Waldrand überschritt, das Roß eines Usbeck, wieherte und trabte auf ihn zu.

Sein Reiter lief ihm nach, es zurück zu führen, als er aber beim ersten schwachen Tagesgrauen ein unerwartetes Schattenbild bemerkte, rief er laut:

»Achtung!«

Auf diesen Ruf erhob sich die ganze Mannschaft des Bivouaks und stürzte hervor auf die Straße.

Michael Strogoff hatte sich nur in den Sattel zu schwingen und im Galop davon zu jagen.

Die beiden Officiere des Detachements hatten sich an die Spitze ihrer Leute gestellt und trieben diese an, sich schnell fertig zu machen.

Jetzt saß Michael Strogoff schon auf dem Pferde.

Da krachte ein Schuß und eine Kugel durchlöcherte den Mantel des Couriers.

Ohne den Kopf zu wenden und ohne den Angriff zu erwidern, gab er beide Sporen, erreichte mit einem kühnen Sprunge vom Waldrande aus die Straße und jagte mit verhängtem Zügel in der Richtung nach dem Obi davon.

Die usbeckischen Pferde waren abgezäumt worden, er mußte also vor den Reitern des Detachements einigen Vorsprung gewinnen können; freilich beeilten auch diese sich, ihm nachzusetzen, und wirklich hörte er, kaum zwei Minuten nachdem er das Hölzchen verlassen, die schnellen Tritte mehrerer Pferde, welche ihm nach und nach näher kamen.

Schon begann es im Osten zu tagen und deutlicher traten in einem weiteren Umkreise alle Gegenstände hervor.

Michael Strogoff sah, als er sich einmal umwendete, daß ein Reiter ihn besonders schnell einzuholen drohte.

Es war der Deh-Baschi. Dieser vorzüglich berittene Officier sprengte der ganzen Abtheilung voraus und mußte den Flüchtling bald erreichen.

Ohne anzuhalten schlug Michael Strogoff mit gewohnter sicherer Hand den Revolver auf ihn an, zielte einen Augenblick, und mitten in die Brust getroffen sank der Officier vom Pferde.

Aber die andern Reiter folgten ihm auf dem Fuße nach, und ohne sich wegen ihres gefallenen Führers aufzuhalten, sausten sie unter wildem Rachegeschrei, die Sporen fest in die Flanken der Pferde gedrückt, weiter, und mehr und mehr verminderte sich die Distanz zwischen ihnen und Michael Strogoff.

Etwa eine halbe Stunde lang vermochte sich Letzterer außerhalb der Tragweite ihrer Schießwaffen zu halten, aber er bemerkte leider, daß die Kräfte seines Pferdes nun zu Ende gingen, und fürchtete mit Recht, daß dieses, wenn es gegen irgend ein Hinderniß stieße, stürzen würde, um nicht wieder aufzustehen.

Jetzt war es schon ziemlich tageshell geworden, wenn auch die Sonne noch nicht über dem Horizonte stand.

In einer Entfernung von etwa zwei Werst schlängelte sich eine durch Bäume begrenzte hellere Linie hin.

Das war der Obi, der fast im gleichen Niveau mit dem Erdboden von Südwesten nach Nordosten dahinfloß und als dessen Thalbett man füglich die ganze umgebende Steppe ansehen mußte.

Wiederholt knatterten die Gewehre hinter Michael Strogoff her, ohne daß eine Kugel ihn verletzte, und mehrmals mußte auch er gegen Reiter, die ihm zu gefährlich nahe kamen, von seinem Revolver Gebrauch machen. Jedesmal rollte ein Usbeck, unter dem Wuthgeheul seiner Kameraden, schwerverwundet in den Sand.

Trotz alledem konnte diese Hetzjagd endlich nur zum Nachtheil Michael Strogoff’s ausfallen. Sein Pferd keuchte athemlos und bis zum Tode erschöpft, doch gelang es ihm noch, dasselbe bis an das Flußufer zu treiben.

Die Abtheilung Usbecks befand sich jetzt kaum noch fünfzig Schritte hinter ihm.

Auf dem vollständig verlassenen Obi erblickte er weder eine Fähre, noch ein Fahrzeug, die zum Uebersetzen über den Strom hätten dienen können.

»Jetzt Muth, mein wackres Roß! rief Michael Strogoff. Vorwärts! Jetzt gilt’s die letzte Anstrengung!«

Er stürzte sich in den Fluß, dessen Breite hier wohl eine halbe Werst betragen mochte.

Gegen die rasche Strömung war nur schwer anzukämpfen. Michael Strogoff’s Pferd konnte nirgends Fuß fassen. Ohne jeden Stützpunkt mußte es die brausend schnell dahinziehenden Wellen also nur durchschwimmen. Ein Wunder von Muth gehörte für Michael Strogoff dazu, diesem Wasserschwalle zu trotzen.

Die Reiter hatten am Ufer des Stromes Halt gemacht; sie zauderten, sich ebenfalls in denselben nachzustürzen.

In diesem Augenblick aber ergriff der Pendja-Baschi sein Gewehr und zielte sorgfältig auf den Flüchtling, der sich schon in der Mitte der Strömung befand. Der Schuß krachte, und tödtlich in der Flanke getroffen versank das Pferd Michael Strogoff’s unter seinem Reiter.

Noch zeitig genug befreite sich dieser aus den Steigbügeln, eben als sein treues Thier unter den Wellen des Flusses verschwand. Endlich gelangte er unter fortwährendem Niedertauchen und nur auf Augenblicke an der Oberfläche Athem schöpfend trotz des nachgesendeten Kugelregens glücklich an das rechte Flußufer und verschwand hinter den Gebüschen, die sich längs des Obirandes hinzogen.

Siebenzehntes Capitel

Siebenzehntes Capitel

Bibelsprüche und Liederverse

Michael Strogoff befand sich einigermaßen in Sicherheit; immerhin war seine Lage noch eine schreckliche.

Jetzt, da das treue Thier, das ihm bis hierher so muthig gedient, in den Wellen des Stromes den Tod gefunden hatte, wie sollte er seine Reise fortsetzen können?

Er war zu Fuß, ohne Lebensmittel, in einem durch die Empörung verwüsteten, durch die Plänkler des Emir schon ausgesaugten Lande und dabei noch eine große Strecke von dem Ziele, das er erreichen mußte, entfernt.

»Bei Gott, ich komme doch noch dahin! rief er wie als Antwort auf alle Einwände der Ohnmacht, die in seinem Geiste einen Augenblick aufstiegen. Der Herr schützt das heilige Rußland!«

Michael Strogoff befand sich jetzt außerhalb des Bereichs der usbeckischen Reiter. Diese hatten nicht gewagt, ihn durch den Fluß weiter zu verfolgen, und mußten auch annehmen, daß er ertrunken sei, da sie ihn nach dem letzten Verschwinden unter dem Wasser am rechten Ufer des Obi nicht wieder auftauchen sahen.

Aber Michael Strogoff erreichte, unter dem mannshohen Schilfe des Ufers hinschlüpfend eine höhere Stelle des Abhanges, wenn auch nur mit großer Mühe, da ein tiefer, von dem Austreten des Stromes zurückgebliebener Schlamm seinen Weg sehr schlüpfrig machte.

Als er festen Grund und Boden unter sich fühlte, hielt Michael Strogoff an und überlegte, was nun zu thun sei. Vor Allem war er mit sich darüber einig, Tomsk, das von tartarischen Truppen besetzt war, bestimmt zu vermeiden. Dennoch mußte er einen bewohnten Ort, mindestens ein Postrelais zu treffen suchen, um sich daselbst wieder ein paar Pferde zu verschaffen. Mit diesen wollte er sich außerhalb der besetzten Wege halten und die Straße nach Irkutsk erst in der Gegend von Krasnojarsk wieder einschlagen. Wenn er sich beeilte, durfte er hoffen, den Weg noch frei zu finden, so daß er nach dem Südosten der Provinzen am Baïkalsee herabgelangen konnte.

Zunächst begann Michael Strogoff sich zu orientiren.

Zwei Werst vor ihm längs des Obi erhob sich eine kleine Stadt in pittoresken Stufen auf einem leichten Landrücken. Einige Kirchen mit byzantinischen, grün und goldig verzierten Kuppeln zeichneten sich am grauen Himmelsgrunde ab.

Das war Kolywan, wohin die niederen und höheren Beamten aus Kamsk und anderen Städten sich zu wenden pflegen, um dem ungesunden Klima der Barabinen-Steppe zu entfliehen. Kolywan konnte nach den letzten Berichten, die der Courier des Czaar vernommen hatte, noch nicht in den Händen der Eindringlinge sein. Die in zwei Colonnen einherziehenden Tartarenhaufen hatten sich links nach Omsk, rechts nach Tomsk gewendet, das Land in der Mitte aber frei liegen lassen.

Das einfache und logische Project, das Michael Strogoff entwarf, bestand darin, Kolywan vor den usbeckischen Reitern, die dem linken Ufer des Flusses folgten, zu erreichen. Dort wollte er sich, und wäre es auch um den zehnfachen Preis, Kleider und ein Pferd verschaffen und den Weg nach Irkutsk durch die innere Steppe wieder einschlagen. Es war drei Uhr Morgens. Die zur Zeit noch ganz ruhigen Umgebungen von Kolywan schienen vollkommen verlassen. Offenbar hatte sich die Landbevölkerung auf der Flucht vor dem Einfall, dem sie keinen Widerstand entgegen zu setzen vermochte, mehr nach Norden in das Gouvernement Jeniseïsk zurückgezogen.

Michael Strogoff wandte sich demnach raschen Schrittes nach Kolywan, als entfernte Detonationen an sein Ohr schlugen.

Er stand still und unterschied deutlich ein dumpfes Rollen, welches die Luftschichten erschütterte, und dazu ein trockenes Knattern, über dessen Natur er sich nicht täuschen konnte.

»Das ist Kanonendonner! Das ist Gewehrfeuer!« sprach er für sich. Das kleine russische Corps ist also mit der Tartarenarmee zusammengetroffen! O gebe der Himmel, daß ich vor ihnen in Kolywan ankomme!«

Michael Strogoff täuschte sich nicht. Bald wurden die Detonationen deutlicher, und weiter rückwärts, links von Kolywan, lagerten sich weiße Dämpfe unten am Horizonte, keine Rauchwolken, sondern jene dichten, scharf abgegrenzten Dampfwolken, wie sie das Feuer der Artillerie erzeugt.

Am linken Ufer des Obi hatten die usbeckischen Reiter Halt gemacht, um den Ausgang der Schlacht abzuwarten.

Von dieser Seite hatte Michael Strogoff also nichts zu fürchten und beeilte deshalb seinen Marsch nach der Stadt.

Inzwischen wurde der Kanonendonner stärker und näherte sich merklich. Es war kein verschwimmendes Rollen mehr, sondern eine Folge deutlich unterscheidbarer Donnerschläge. Gleichzeitig erhob sich der vom Winde entführte Dampf in die Luft, und man erkannte, daß die Kämpfer im Süden offenbar an Terrain gewannen. Kolywan war somit einem Angriff von der Westseite ausgesetzt. Vertheidigten es aber die Russen gegen die Tartarenhorden oder suchten sie es den Soldaten des Feofar-Khan wieder zu entreißen? Das ließ sich für jetzt unmöglich erkennen und setzte Michael Strogoff in nicht geringe Verlegenheit.

Nur eine halbe Werst von Kolywan befand er sich, als ein hoher Feuerstrahl mitten aus den Häusern der Stadt aufleuchtete und der Thurm einer Kirche unter einem Wirbel von Staub und Flammen zusammenbrach.

Tobte der Streit schon in Kolywan? Michael Strogoff mußte es wohl glauben; in diesem Falle kämpften die Russen und Tartaren also in den Straßen der Stadt. Bot sie ihm jetzt noch eine Zuflucht? Lief Michael Strogoff nicht Gefahr, daselbst gefangen zu werden, und durfte er hoffen, daß es ihm gelingen werde, aus Kolywan ebenso glücklich zu entfliehen, wie vorher aus Omsk?

Alle diese Gedanken flogen durch seinen Kopf. Er zauderte; er stand einen Augenblick still.

Erschien es nicht besser, sich zu Fuß nach Süden oder Osten, bis zu irgend einem Flecken, vielleicht nach Diahinsk oder einem andern, durchzuschlagen, und sich dort um jeden Preis ein Pferd zu verschaffen?

Jedenfalls war das der einzige Ausweg, und sofort wandte sich Michael Strogoff, indem er das Ufer des Obi verließ, nach der rechten Seite von Kolywan.

Gerade jetzt krachten die Geschütze lauter als je. Bald züngelten Flammen an der rechten Seite der Stadt in die Höhe; die Feuersbrunst ergriff ein ganzes Stadtviertel von Kolywan.

Michael Strogoff lief, was er laufen konnte, quer durch die Steppe und suchte den Schutz einiger Bäume zu erlangen, welche da und dort verstreut standen, als eine Abtheilung tartarischer Cavallerie auf dem rechten Stromufer erschien.

Michael Strogoff konnte seine Flucht in der vorigen Richtung nicht mehr fortsetzen; die Reiter sprengten auf die Stadt zu, und es wäre ihm schwer geworden, ihnen zu entgehen.

Da bemerkte er neben einem kleinen, aber dichten Gebüsch ein isolirtes Häuschen, das er wohl zu erreichen hoffen durfte, bevor jene ihn sahen.

Michael Strogoff hatte nichts Anderes zu thun, als dort hin zu eilen, sich daselbst zu verstecken, um Etwas zu bitten, nöthigenfalls sich anzueignen, womit er seine Kräfte wieder herstellen könnte, denn er war nun wirklich erschöpft von Hunger und Strapazen.

Er stürzte also auf dieses höchstens eine halbe Werst entfernte Häuschen zu. Näher gekommen sah er erst, daß dieses Gebäude ein Telegraphenbureau war. Zwei Drähte liefen davon nach Osten und Westen aus und ein dritter Draht war in der Richtung nach Kolywan gespannt.

Wohl hätte man voraussetzen können, daß dieses Bureau unter den jetzigen Verhältnissen verlassen sei, doch mochte dem sein wie ihm wollte, Michael Strogoff konnte dahin fliehen, im Nothfalle die Nacht abwarten und sich dann wieder in die Steppe hinaus wagen, welche die tartarischen Plänkler durchirrten.

Michael Strogoff eilte geraden Wegs auf die Thür des Hauses zu und stieß sie schnell und heftig auf.

Eine einzige Person befand sich in dem Zimmer, in dem die Telegraphenleitungen zusammenliefen.

Es war ein Beamter, der in seiner Ruhe, in seinem Phlegma sich nicht um das Geringste kümmerte, was in der Außenwelt vorging. Treu auf seinem Posten ausharrend, wartete er, daß das Publicum seine Dienste in Anspruch nehme.

Michael Strogoff rannte auf ihn zu und fragte mit vor Erschöpfung gebrochener Stimme: »Was wissen Sie Neues?

– Ei nichts, erwiderte der Beamte lächelnd.

– Es sind doch Russen und Tartaren handgemein geworden?

– Man sagt es.

– Aber wer ist Sieger?

– Das weiß ich selbst nicht.«

So viel Gemüthlichkeit unter so schrecklichen Verhältnissen, so viel Indifferenz erschien doch kaum glaublich. »Und der Draht ist noch nicht zerschnitten? fragte Michael Strogoff.

– Zwischen Kolywan und Krasnojarsk ist die Leitung zerstört, sie functionirt aber noch zwischen Kolywan und der russischen Grenze.

– Für die Regierung?

– Für die Regierung, wenn sie es für nöthig erachtet, für das Publicum, wenn dasselbe zahlt. Das Wort kostet zehn Kopeken. Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr?«

Michael Strogoff wollte eben diesem Beamten ohne Gleichen antworten, daß er keine Depesche abzusenden habe, sondern nur gekommen sei, um etwas Brod und Wasser zu erbitten, als die Thür des Hauses wieder hastig aufgerissen wurde.

Michael Strogoff bereitete sich schon, in dem Glauben, das Haus sei von Tartaren überfallen, zu einem Sprunge durch das Fenster, als er noch sah, daß nur zwei einzelne Männer in den Raum eintraten, die tartarischen Soldaten nicht im Geringsten ähnelten.

Mit einem leicht erklärlichen Erstaunen erkannte Michael Strogoff in diesen zwei Männern zwei Persönlichkeiten wieder, an die er jetzt nicht im Entferntesten dachte und die er überhaupt niemals wieder zu sehen geglaubt hatte.

Es waren die beiden Berichterstatter Harry Blount und Alcide Jolivet, jetzt keine Reisegefährten mehr, sondern Rivalen, ja Feinde, seitdem sie ihre Thätigkeit auf dem Kriegsschauplatze begannen.

Ischim verließen sie seiner Zeit nur wenige Stunden nach Michael Strogoff’s Weiterreise, und wenn sie auf derselben Straße Kolywan vor ihm erreichten, ja, ihn selbst unterwegs überholten, so kam das daher, daß Michael Strogoff am Ufer des Irtysch drei Tage eingebüßt hatte.

Jetzt, nach Beobachtung des Kampfes zwischen den russischen und tartarischen Truppen dicht vor der Stadt, hatten sie Kolywan in dem Augenblicke verlassen, als der Streit sich in die Straßen der Stadt hinein fortsetzte, waren nach der Telegraphenstation gelaufen, um ihre rivalisirenden Depeschen nach Europa abzulassen und Einer dem Andern die erste Meldung der Tagesereignisse streitig zu machen.

Michael Strogoff trat etwas bei Seite an eine dunklere Stelle und konnte von hier aus, ohne selbst gesehen zu werden, Alles sehen und hören. Jedenfalls durfte er auf wichtige Neuigkeiten hoffen, um ans diesen abnehmen zu können, ob er sich nach Kolywan hinein wagen dürfe oder nicht.

Harry Blount, der sich noch mehr beeilte, als sein College, hatte den Platz am Schalter eingenommen, während Alcide Jolivet ganz gegen seine Gewohnheit ungeduldig mit den Füßen stampfte.

»Jedes Wort kostet zehn Kopeken«, sagte der Beamte, die Depesche entgegen nehmend.

Harry Blount stapelte auf einer Zähltafel eine kleine Säule Rubel auf, die sein College mit einer gewissen Verwunderung betrachtete.

»Schön, schön«, sagte der Beamte.

Und mit der unerschütterlichsten Kaltblütigkeit der Welt begann er folgende Depesche abzutelegraphiren:

»Daily-Telegraph, London.

»Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August.

»Gefecht zwischen russischen Truppen und Tartaren …«

Da die Worte laut vorgelesen wurden, hörte Michael Strogoff auch Alles, was der englische Correspondent seinem Journale mittheilte.

»Die russischen Truppen mit großen Verlusten zurückgedrängt. Tartaren an demselben Tage in Kolywan eingezogen …«

Diese Worte beendigten die Depesche.

»Nun ist die Reihe an mir, rief Alcide Jolivet, der eine an seine Cousine im Faubourg Montmartre adressirte Depesche aufgeben wollte.«

Das wollte aber dem englischen Reporter keineswegs passen; denn dieser dachte gar nicht daran, den Schalter zu verlassen, um alle Ereignisse, die er von hier aus etwa noch beobachten konnte, sofort nach Hause berichten zu können. Er machte also seinem Gefährten nicht Platz.

»Sie sind aber doch fertig! … rief Alcide Jolivet.

– Ich bin noch nicht zu Ende«, antwortete einfach Harry Blount.

Er schrieb sofort eine Reihe Worte auf, die er dem Beamten übergab, welcher sie mit stets gleichmäßig ruhiger Stimme durchlas:

»Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde! …«

Es waren die ersten Verse aus der Bibel, welche Harry Blount telegraphirte, um die Zeit auszufüllen und seinem Collegen gegenüber den einmal eingenommenen Platz zu behaupten. Dieser Ausweg kostete seinem Journal vielleicht einige tausend Rubel, aber es erhielt dafür auch die allerersten Berichte. Frankreich konnte warten!

Man begreift wohl den Aerger und die Wuth Alcide Jolivet’s. Unter allen anderen Verhältnissen hätte er zwar begriffen, daß dieses Verfahren ein gesetzlich vollkommen begründetes war, jetzt suchte er aber den Beamten womöglich zu nöthigen, daß er seiner Depesche vor der Fortsetzung der seines Collegen den Vorzug gebe.

»Der Herr ist in seinem Recht«, bedeutete ihn ruhig der Beamte, indem er auf Harry Blount wies und ihm liebenswürdig zulächelte.

Und er fuhr pflichtgetreu fort, an den Daily-Telegraph den ersten Vers der heiligen Schrift zu telegraphiren.

Während der Manipulationen an den Apparaten begab sich Harry Blount ruhig an’s Fenster und beobachtete mit einem Fernglase, was etwa um Kolywan vorging, um seine Berichte zu vervollständigen.

Einige Augenblicke später nahm er seinen Platz am Schalter wieder ein und fügte seinem Telegramm hinzu:

»Zwei Kirchen stehen in Flammen. Die Feuersbrunst scheint sich nach dem rechten Flußufer zu auszubreiten. Und die Erde war wüste und leer und es war finster auf der Tiefe …«

In Alcide Jolivet stieg eine höllische Lust auf, den ehrenwerthen Correspondenten des Daily-Telegraph einfach zu erwürgen.

Wiederholt interpellirte er den Beamten, der ihm stets mit der nämlichen Ruhe die Antwort gab:

»Der Herr ist in seinem Recht, vollkommen in seinem Recht … Das Wort kostet zehn Kopeken.«

Und unverdrossen telegraphirte er die folgende Neuigkeit, die ihm Harry Blount brachte.

»Russische Flüchtlinge drängen sich aus der Stadt. Und Gott sprach, es werde Licht und es ward Licht! …«

Alcide Jolivet wollte buchstäblich vor Wuth bersten.

Inzwischen war Harry Blount wieder zum Fenster zurückgekehrt, zog aber seine Beobachtung, wahrscheinlich gefesselt von Interesse an dem Schauspiel, das sich vor seinen Augen abspielte, etwas zu sehr in die Länge. Sobald der Telegraphist also den dritten Vers der Bibel abgesendet hatte, nahm Alcide Jolivet geräuschlos am Schalter Platz und übergab, nach Deponirung einiger recht anständiger Rubelrollen, seine Depesche dem Beamten, der sie wiederum mit lauter Stimme verlas:

»Madeleine Jolivet,

»10, Faubourg Montmartre (Paris).

»Aus Kolywan, Gouvernement Omsk in Sibirien, am 6. August.

»Flüchtlinge entweichen aus der Stadt. Die Russen geschlagen. Heftige Verfolgung durch die tartarische Cavallerie …«

Und als Harry Blount nach dem Schalter zurückkehrte, vernahm er nur, wie Alcide Jolivet sein Telegramm in halb singendem, lustigem Tone vervollständigte:

»Es ist ein kleines Männchen,
Gekleidet ganz in Grau,
In Paris! ….«

Da er es für unpassend hielt, Profanes und Heiliges unter einander zu mengen, so benutzte er den Refrain eines lustigen Liedes Béranger’s an Stelle der Bibelverse.

»Oha! platzte Harry Blount heraus.

– Ja ja, so geht’s«, erwiderte lachend Alcide Jolivet.

Inzwischen gestalteten sich die Verhältnisse in den Umgebungen Kolywans immer bedrohlicher. Die Schlacht wälzte sich näher heran, der Geschützdonner krachte immer entsetzlicher.

Da erzitterte plötzlich das ganze Telegraphenamt in allen Fugen.

Eine Granate hatte die Mauer durchschlagen und eine dichte Staubwolke erfüllte den ganzen Raum.

Alcide Jolivet schrieb erst noch folgende Zeilen vollends nieder:

»Bausbäckig, wie ein Apfel,
Doch ohn‘ ein’n Heller Geld …«

Dann hielt er inne, stürzte auf die Granate zu, erfaßte sie noch vor der Explosion derselben mit beiden Händen, warf sie zum Fenster hinaus und trat wieder an den Schalter – Alles das Werk eines Augenblicks.

Fünf Sekunden später zersprang die Granate vor dem Hause in tausend Stücke.

Alcide Jolivet ließ sich im weiteren Aussetzen seines Telegramms gar nicht stören und fügte dem völlig ruhig und kaltblütig hinzu:

»Eine sechspfündige Granate schlug soeben durch die Mauer des Telegraphenamtes. In Erwartung noch weiterer von gleichem Kaliber …«

Michael Strogoff schwand jeder Zweifel, daß die Russen aus Kolywan vertrieben seien. Sein einziger Ausweg blieb es also, sich durch die südliche Steppe zu wagen.

Da knatterte eine furchtbare Gewehrsalve nahe dem Telegraphenamte und ein Hagelschauer von Kugeln zersplitterte die Fensterscheiben.

An der Schulter getroffen fiel Harry Blount zur Erde.

Alcide Jolivet eilte, seiner Depesche noch einen Anhang hinzuzufügen.

»Harry Blount, Correspondent des Daily-Telegraph, an meiner Seite von einer Kugel getroffen …«

Da unterbrach ihn der kaltblütige Beamte und sagte mit seiner unerschütterlichen Ruhe:

»Mein Herr, die Leitung ist unterbrochen.«

Den Schalter schließend griff er ganz ruhig nach seinem Hute, bürstete ihn sorgfältig mit dem Ellbogen und verließ, immer lächelnd, das Haus durch eine kleine Nebenthür, welche Michael Strogoff bis dahin entgangen war.

Das Gebäude ward unmittelbar darauf von tartarischen Truppen besetzt, so daß weder Michael Strogoff noch die beiden Journalisten ihren Rückzug zu bewerkstelligen vermochten.

Mit seiner nun zwecklosen Depesche in der Hand eilte Alcide Jolivet zu dem auf dem Boden liegenden Harry Blount und gab sich Mühe, letzteren auf die Schultern zu nehmen in der Absicht, mit ihm zu entkommen. … Zu spät!

Beide wurden gefangen und gleichzeitig mit ihnen fiel Michael Strogoff, als er sich eben anschickte, zu einem Fenster hinaus zu springen, in die Hände der Tartaren!

*

Ende des ersten Bandes.

Neuntes Capitel

Neuntes Capitel

Tag und Nacht im Tarantaß

Am folgenden Tage, dem 19. Juli, legte der »Kaukasus« am Landungsplatze in Perm an, der letzten Station, die er an der Kama berührte.

Das Gouvernement, dessen Hauptstadt Perm bildet, ist eines der umfänglichsten in ganz Rußland und greift über das Uralgebirge hinweg bis nach Sibirien hinüber. Marmorbrüche, Salinen, Platin- und Goldlager, sowie Steinkohlengruben werden dort in großem Maßstäbe ausgebeutet. Perm mag allen Umständen nach dereinst eine Stadt ersten Ranges werden; vorläufig aber ist es wenig anziehend, schmutzig und bietet keinerlei Hilfsquellen. Für Diejenigen, welche von Rußland nach Sibirien gehen, fällt jener Mangel an Comfort nicht allzu sehr in’s Gewicht, denn Diese sind gewöhnlich mit allem Nöthigen hinlänglich versehen; den Ankömmlingen aus Centralasien dagegen würde es nach ihrer langen und beschwerlichen Reise gewiß recht angenehm sein, die erste europäische Stadt des Reiches an der asiatischen Grenze reichlicher mit den verschiedensten Gegenständen des Bedarfs versorgt zu sehen.

In Perm pflegen die Reisenden ihre bei der langen Fahrt durch die Steppen meist mehr oder weniger beschädigten Wagen zu veräußern; andererseits kauft hier, wer von Europa nach Asien gehen will, im Sommer Wagen, im Winter Schlitten, bevor er sich für mehrere Monate in die verlassenen Steppenwüsten wagt.

Michael Strogoff hatte schon sein umfassendes Reiseprogramm entworfen und durfte dasselbe nur erfüllen.

Gewöhnlich besteht zwar ein Postverkehr, der die Uralkette ziemlich schnell überschreitet; unter dem Druck der augenblicklichen Verhältnisse hatte man diesen aber einstellen müssen. Auch ohnedem hätte Michael Strogoff, dem es auf die größte Eile ankam, auf dieses Beförderungsmittel verzichtet, und würde er es, um von Niemand abhängig zu sein, vorgezogen haben, selbst einen Wagen zu kaufen und auf jeder Station die Pferde zu wechseln, wobei er durch splendide »na vodku« (Trinkgelder) den Eifer der Postillone anzuspornen hoffen durfte.

Zum Unglück hatten in Folge der gegen die Fremden asiatischer Herkunft beliebten Maßnahmen schon sehr viele Reisende Perm verlassen, in Folge dessen Transportmittel sehr selten geworden waren. Michael Strogoff kam also in die Lage, sich mit dem von Anderen Verschmähten zu begnügen. Bezüglich der Spannkraft konnte der Courier des Czaaren außerhalb Sibiriens wohl seinen Podaroshna in’s Treffen führen, auf welchen hin ihn die Postmeister ohne Widerspruch und vor allen Uebrigen befriedigen würden. Einmal außer dem europäischen Reiche aber sah er sich gleich jedem Andern auf die Hilfe der blinkenden Silberrubel beschränkt.

An welche Art Wagen sollten aber die Pferde gespannt werden, an einen Tarantaß oder einen Teleg?

Der Teleg ist ein vollkommen offenes, vierräderiges Wägelchen und durchweg aus Holz construirt. Räder, Axen, Schlußnägel, Sitze und Deichsel, alles stammt von den Bäumen der Nachbarschaft her, wobei die Verbindung der einzelnen Theile eines solchen Teleg nur durch haltbare Stricke hergestellt ist. Es giebt nichts Primitiveres, Nichts, was so sehr alles Comforts entbehrt, aber auch Nichts, was unterwegs im Fall einer Beschädigung leichter wieder in Stand zu setzen wäre. An Tannen fehlt es längs der russischen Grenze nicht, und die Schlußnägel wachsen in den Wäldern. Mittels solcher Telegs, denen alle Wege gut genug sind, werden die unter dem Namen »Perekladnoï« bekannten Extraposten befördert. Manchmal reißen zwar die Seile, welche das Ganze zusammenhalten, und während der Hintertheil irgend wo ruhig stecken bleibt, kommt nur der Vordertheil des Fuhrwerks bei dem nächsten Relais auf zwei Rädern an; aber man ist auch mit dieser Errungenschaft schon zufrieden.

Michael Strogoff hätte sich ebenfalls zu einem solchen Teleg bequemen müssen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, noch einen Tarantaß aufzutreiben.

Es glaube aber Niemand, daß ein derartiges Gefährt auf der obersten Staffel der Wagenbaukunst stehe. Federn z. B. gehen ihm ebenso ab, wie dem Teleg; wegen Mangels an Eisen ist auch bei ihm das Holz nicht gespart; aber seine am Ende jeder Axe acht bis neun Fuß von einander entfernten Räder sichern ihm wenigstens auf den holperigen und oft sehr unebenen Straßen ein gewisses Gleichgewicht. Ein Schirm schützt die Insassen vor dem aufspritzenden Kothe des Weges, eine starke Lederdecke, welche herabgezogen das Gefährt fast hermetisch verschließt, vor dem Sonnenbrande und den nicht seltenen Windstößen im Sommer. Im Uebrigen ist der Tarantaß ebenso solid gebaut und leicht reparirbar, wie der Teleg, und andererseits weniger dem Unfall ausgesetzt, einen Theil im Schlamme stecken zu lassen.

Michael Strogoff gelang es nur mit großer Mühe, einen solchen Tarantaß aufzufinden; vielleicht gab’s in der ganzen Stadt Perm jetzt keinen zweiten mehr. Trotzdem feilschte er der Form wegen bei dessen Einkaufe nicht wenig, um seiner Rolle als einfacher Kaufmann Nicolaus Korpanoff auch hier treu zu bleiben.

Nadia folgte ihrem Reisegefährten bei seinen Nachsuchungen nach einem Fuhrwerke. Trotz ihres verschiedenen Zweckes hatten doch Beide dieselbe Eile, an das Ziel zu gelangen und demnach baldigst abzureisen. Man könnte sagen, daß sie ein und derselbe Wille drängte.

»Schwester, begann Michael Strogoff, ich hätte für Dich gerne eine bequemere Fahrgelegenheit gesucht.

– Du sagst das zu mir, Bruder, zu mir, die ich im Nothfalle auch zu Fuß aufgebrochen wäre, um meinen Vater zu finden.

– An Deinem Muthe, Nadia, zweifele ich nicht, aber es giebt physische Anstrengungen, denen ein Weib nicht gewachsen ist.

– Ich würde sie aber ertragen, welcher Art sie auch seien! entgegnete das junge Mädchen. Wenn Du eine Klage über meine Lippen kommen hörst, so verlaß mich und setze Deinen Weg allein fort!«

Eine halbe Stunde später standen, nach Vorzeigung des Podaroshna, drei Postpferde vor dem Tarantaß angeschirrt. Diese langhaarigen Thiere ähnelten fast den Bären. Sie waren, wie die sibirische Race überhaupt, klein, aber feurig. Der Postillon, der Jemschik, hatte sie folgendermaßen angespannt: das eine, etwas größere, stand zwischen einer Gabeldeichsel mit einem Bogen am vorderen Ende, der mit Schellen und Glöckchen behangen war, d. i. der russische »duga«; die beiden andern waren einfach mittels Seilen an das Fußgestell des Tarantaß gekoppelt. Von Zaun und Gebiß keine weitere Spur; als Zügel diente einfache Hanfschnur.

Weder Michael Strogoff noch die junge Liefländerin führten vieles Gepäck mit sich. Die Hauptbedingung der Schnelligkeit, mit der der Eine reisen mußte, und die mehr als bescheidenen Mittel der Anderen hatten jede Ueberlastung mit Collis von vornherein verhindert. Jetzt kam ihnen das sehr zu Statten, denn der Tarantaß hätte entweder das Gepäck oder die Reisenden nicht aufnehmen können. Er war, den Postillon ungerechnet, nur für zwei Personen eingerichtet, und Jener hielt sich auf seinem Sitze auch nur wie durch ein Wunder von Gleichgewicht aufrecht.

Dieser Jemschik wechselt übrigens bei jedem Relais. Der Führer des Tarantaß auf der ersten Strecke war ein geborener Sibirier, gleich seinen Russen, auch nicht minder behaart wie diese und trug die im Uebrigen langen Haare über der Stirn viereckig beschnitten, einen breitkrempigen Hut, rothen Gürtel und einen Capot mit kreuzweisen Schnüren an Knöpfen mit dem kaiserlichen Abzeichen.

Als der Jemschik mit seiner Bespannung ankam, musterte er die Reisenden des Tarantaß erst mit prüfendem Blicke. Kein Gepäck! – Aber wo zum Teufel hätte er solches unterbringen wollen? – Magere Aussichten! Er machte eine nicht mißzudeutende Bewegung.

»Ein Paar Raben, sagte er halb für sich und unbekümmert darum, ob er verstanden wurde oder nicht, Raben für sechs Kopeken die Werst.

– Nein, Adler, antwortete Michael Strogoff, der seinen Postillonsjargon recht wohl verstand, Adler, hörst Du, zu neun Kopeken die Werst, ohne das Trinkgeld!«

Ein lustiger Peitschenknall antwortete ihm. Der »Rabe« bedeutet in der Sprache der russischen Postillone den geizigen oder unbemittelten Reisenden, der bei den Bauernrelais die Pferde nur mit zwei oder drei Kopeken per Werst bezahlt. Ein »Adler« dagegen ist der Reisende, der auch vor hohen Preisen nicht zurückschreckt und reichlich Trinkgelder wegwirft. Deshalb kann auch der Rabe nicht Anspruch machen, ebenso schnell dahin zu fliegen, wie der König der Vögel.

Nadia und Michael Strogoff nahmen sofort ihre Plätze in dem Tarantaß ein. Einiger wenig umfänglicher Proviant, der in den Sitzkästen untergebracht wurde, gewährte ihnen die Sicherheit, auch eine Verzögerung erleiden zu können, wenn sie einmal die durch Fürsorge des Staates wohlversehenen Posthäuser nicht sogleich erreichen sollten. Die Wagendecke wurde übergezogen zum Schutz gegen die unausstehliche Hitze, und gegen Mittag verließ der Tarantaß, von drei schnaubenden Rossen gezogen, Perm, und flog in eine dichte Staubwolke gehüllt dahin.

Die Manier, wie der Jemschik seine Pferde im Gang hielt, hätte jedem Reisenden, der nicht geborener Russe oder Sibirier ist, höchlichst verwundern müssen. Das etwas größere Pferd in der Gabel hielt ungestört, wie abschüssig der Weg auch war, einen gestreckten Trab von untadelhafter Regelmäßigkeit ein. Die beiden Seitenpferde schienen eine andere Gangart als Galop gar nicht zu kennen und sprangen ganz nach Laune nebenher. Der Jemschik schlug sie niemals, sondern trieb sie nur durch den scharfen Knall seiner Peitsche an. Wie viele Schmeichelnamen verschwendete er aber, wenn sie sich als gelehrige und einsichtige Thiere erwiesen, die Namen der Heiligen gar nicht zu rechnen, welche er für sie borgte! Die Schnur, die ihm als Zügel diente, wäre gegenüber den ausgelassenen Thieren wohl ganz nutzlos gewesen, aber »na pravo«, rechts, oder »na levo«, links, diese, von einer rauhen Kehlstimme gesprochenen Worte thaten hier mehr Wirkung, als Zügel und Zaum.

Und welche Liebesnamen gebrauchte gelegentlich der würdige Rosselenker!

»Vorwärts, meine Tauben! rief der Jemschik, vorwärts meine artigen Schwalben! Fliegt zu, meine Turteltäubchen! Immer dran, mein Vetter zur Linken! Greif‘ aus, Väterchen zur Rechten!«

Wenn sie aber nachließen im Laufe, traten an diese Stelle ebenso vielseitige Verwünschungen, deren Werth die Thiere recht wohl zu kennen schienen.

»Lauf zu, Du Höllenschnecke, Du! Weh Dir, Du Blindschleiche! ich erwürge Dich bei lebendigem Leibe, Du Schildkröte! Du sollst noch in jener Welt verdammt sein!«

Was man aber auch denken möge über diese Art der Pferdeführung, welche mehr die Solidität der Kehle als die Kraft der Arme des Kutschers in Anspruch nahm, jedenfalls flog der Tarantaß nur so dahin und bewältigte zwölf bis vierzehn Werst in der Stunde.

Michael Strogoff war ebenso an diese Art Wagen, wie an dessen Beförderung gewöhnt. Weder das Schütteln noch das Hüpfen des Gefährtes belästigte ihn. Er wußte, daß ein russisches Gespann weder Feldsteine, noch Gleise oder tiefe Löcher vermeidet, so wenig wie umgestürzte Baumstämme oder Gräben, die den Weg sperren. Ihm war das nicht neu. Seine Gefährtin freilich lief Gefahr, durch dieses Stoßen des Tarantaß verletzt zu werden, doch sie beklagte sich nicht.

Die erste Zeit der Fahrt verhielt sich Nadia, als sie so schnell dahin gerissen wurde, ganz stumm. Endlich, immer von dem Gedanken: Ankommen, nur ankommen! verfolgt, begann sie:

»Von Perm nach Jekaterinenburg rechnete ich 300 Werst, Bruder. Habe ich mich geirrt?

– Gewiß nicht, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und in Jekaterinenburg werden wir den Fuß des jenseitigen Uralabhanges erreicht haben.

– Wie lange wird die Fahrt durch die Berge dauern?

– Achtundvierzig Stunden, da wir Tag und Nacht reisen, – ich sage Tag und Nacht, denn ich darf keinen Augenblick verlieren und muß ohne Säumen nach Irkutsk eilen.

– Ich werde Dich nicht aufhalten, Bruder, nicht eine Stunde; wir wollen Tag und Nacht fahren.

– Nun, Nadia, wenn uns der Einfall der Tartaren nicht die Wege verlegt, so können wir vor Verlauf einer Woche angekommen sein.

– Du hast diese Reise schon einmal gemacht?

– Schon mehrere Male.

– Im Winter würden wir schneller und sicherer vorwärts kommen, nicht wahr?

– Schneller gewiß, doch würdest Du von der Kälte und dem Schnee schwer gelitten haben.

– Warum? Der Winter ist ja des Russen Freund.

– Ja wohl, Nadia, aber es gehört doch ein gewisses Temperament dazu, diese Freundschaft auszuhalten. Wiederholt habe ich die Kälte in den Steppen Sibiriens bis unter vierzig Grad herabgehen sehen. Ich habe trotz meiner Kleidung aus Rennthierfell Dieses Kleidungsstück heißt »dakha«; es ist sehr leicht und doch für Kälte fast undurchdringlich. mein Herz sich mit Eis überziehen, meine Glieder sich zusammenkrümmen, meine Füße unter dreifacher wollener Umhüllung erfrieren sehen! Ich sah die Pferde meines Schlittens bedeckt mit einem Eispanzer und ihren Athem vor den Nüstern erstarren. Ich sah es, wie der Branntwein in meiner Kürbisflasche zu Stein wurde, so daß kein Messer ihn schneiden konnte! …. Mein Schlitten aber flog dahin wie ein Orkan! Da gab es keine Hindernisse auf der geglätteten und unübersehbar weißen Ebene! Keine Wasserläufe, durch die man sonst eine passirbare Furth suchen mußte! Keine Seen, welche Schiffe nöthig machten! Allüberall das harte Eis, die freie, sichere Straße. Aber um den Preis welcher Leiden, Nadia! Die allein könnten sie melden, welche nicht wiederkamen und deren Leichname der wehende Schnee begrub!

– Und doch bist Du zurück gekehrt, Bruder! sagte Nadia.

– Ja, aber ich bin Sibirier, und schon als Kind, wenn ich meinem Vater bei seinen Jagdzügen folgte, gewöhnte ich mich an all‘ diese harten Proben. Als Du, Nadia, mir aber sagtest, daß der Winter Dich nicht zurück gehalten hätte, daß Du abgereist wärst mit dem Vorsätze, gegen das fürchterliche, unwirthbare Klima Sibiriens anzukämpfen, da sah ich Dich schon im Geiste verloren im Schnee niedersinken, um niemals wieder aufzustehen!

– Wie oft bist Du im Winter durch die Steppe gekommen? fragte die junge Liefländerin.

– Dreimal, Nadia, wenn ich nach Omsk ging.

– Und was thatest Du in Omsk?

– Ich besuchte meine Mutter, welche mich erwartete.

– Und ich, ich gehe nach Irkutsk, wo mein Vater meiner harrt. Ich will ihm die letzten Worte meiner Mutter bringen! Glaubst Du nun, Bruder, daß mich Nichts hätte zurückhalten können?

– Du bist ein braves Kind, Nadia, antwortete Michael Strogoff, und Gott würde Dir geholfen haben!«

Diesen Tag über wurde der Tarantaß durch die bei jedem Relais wechselnden Jemschiks sehr schnell weiter befördert. Die Adler der Berge hatten ihren Namen durch jene »Adler« der Landstraße nicht als entehrt ansehen können. Der hohe Preis für jedes Pferd, die reichlich gespendeten Trinkgelder dienten den Reisenden als ganz besonders wirksame Empfehlung. Den Postmeistern mochte es nach Veröffentlichung jener Verordnung wohl auffallen, daß ein junger Mann nebst seiner Schwester, beide offenbar Russen, dennoch frei durch Sibirien reisen konnten; indeß waren ihre Papiere in Ordnung und gaben ihnen das Recht, zu passiren. So standen denn auch die Kilometer-(Werst-)Pfähle bald im Rücken des Tarantaß.

Uebrigens waren Michael Strogoff und Nadia nicht die einzigen Reisenden auf der Straße von Perm nach Jekaterinenburg. Schon von den ersten Relais ab hatte der Courier des Czaar bemerkt, daß ein Wagen ihm vorausging, ohne sich, da an Pferden kein Mangel eintrat, darüber besondere Sorge zu machen.

Im Verlaufe dieses Tages ward nur einige Male angehalten, um die nöthigen Mahlzeiten einzunehmen. Die Posthäuser boten Unterkunft und Stärkungsmittel; auch wenn man kein Relais erreicht hätte, wäre das Haus jedes russischen Bauern nicht minder gastlich geöffnet gewesen. In diesen einander überaus ähnlichen Dörfern mit ihren weißen steinernen Capellen und grünlichen Dächern kann der Reisende wohl an jede Thür klopfen; sie wird sich gewiß öffnen. Dann erscheint der Mujik lächelnden Gesichts und giebt seinem Gaste die Hand. Man bietet ihm Brod und Salz an, rückt den »Samowar« über’s Feuer und er wird sich bald ganz heimisch fühlen. Die Familie würde im Nothfalle das Haus räumen, um ihm Platz zu machen. Der ankommende Fremdling ist der Verwandte Aller; er ist der »den Gott selbst sendet«.

Bei der Ankunft gegen Abend fragte Michael Strogoff, von einem unbestimmbaren Instincte getrieben, den betreffenden Postmeister, vor wie viel Stunden der ihm vorausgehende Wagen das Relais passirt habe.

»Vor zwei Stunden, Väterchen, berichtete der Postmeister.

– Es ist eine Berline?

– Nein, ein Teleg.

– Wie viel Reisende?

– Zwei.

– Sie haben es eilig?

– Es sind Adler!

– Laßt schleunigst anspannen.«

Michael Strogoff und Nadia, entschlossen, sich keine Stunde lang aufzuhalten, fuhren die ganze Nacht hindurch.

Noch hielt sich die Witterung zwar gut, doch fühlte man, daß die drückender gewordene Luft sich allmälig mit Elektrizität sättigte. Kein Wölkchen unterbrach die Strahlen der Sonne, und es schien, als stiege ein warmer Dunst aus dem Erdboden auf. Es stand zu befürchten, daß in den Bergen ein dort meist sehr heftiges Unwetter ausbrechen werde. Michael Strogoff, der gewöhnt war, alle atmosphärischen Vorzeichen zu deuten, fühlte einen nahen Kampf der Elemente voraus, der ihn mit einiger Besorgniß erfüllte. Die Nacht verging ohne Zwischenfall. Trotz der Stöße des Tarantaß vermochte Nadia einige Stunden zu schlummern. Die halb zurückgeschlagene Wagendecke gestattete etwas Luft zu schöpfen, nach der die Lungen in dieser erstickenden Atmosphäre begierig verlangten.

Michael Strogoff durchwachte die ganze Nacht; er mißtraute den Jemschiks, weil sie so leicht auf ihrem Sitze einschlafen. Keine Stunde wurde auf den Relais verloren, keine Stunde unterwegs.

Am folgenden Tage, dem 20. Juli, zeigten sich gegen acht Uhr Morgens die ersten Wellenlinien der Uralberge im Osten. Diese mächtige Kette, die Grenzmauer zwischen dem europäischen Rußland und Sibirien, lag jedoch noch in weiter Ferne und vor Ende des Tages durfte man sie kaum zu erreichen hoffen. Die Ueberschreitung der Berge konnte also voraussichtlich erst während der folgenden Nacht stattfinden.

Im Laufe dieses Tages blieb der Himmel durchgängig bedeckt und in Folge dessen auch die Luftwärme erträglicher, doch wurde die Witterung immer gewitterschwüler.

Mit solchen Aussichten erschien es eigentlich rathsamer, sich nicht mitten in der Nacht in die Berge zu wagen, und Michael Strogoff würde es gewiß unterlassen haben, wenn er Zeit zum Verweilen gehabt hätte; als ihn der Jemschik des letzten Relais aber auf einen fern im Gebirge verrollenden Donner aufmerksam machte, fragte er nur:

»Ein Teleg fährt uns noch immer voraus?

– Ja.

– Welchen Vorsprung mag es jetzt etwa haben?

– Ungefähr eine Stunde.

– Vorwärts! – Das dreifache Trinkgeld, wenn wir morgen früh in Jekaterinenburg sind.«

Zehntes Capitel

Zehntes Capitel

Ein Unwetter in den Uralbergen

Die Uralkette erstreckt sich auf einer Länge von nahe 3000 Werst (3200 Kilometer) zwischen Europa und Asien hin. Ob man den Namen Ural gebraucht, der tartarischen Ursprungs ist, oder die Bezeichnung »Poyas« aus russischem Sprachstamme, immer sind beide Namen treffend, denn in den betreffenden Sprachen bedeuten diese Worte gleichmäßig den »Gürtel«. Mit dem einen Fuße an der unwirthlichen Küste des Arktischen Oceans netzen sie den andern am lieblichen Gestade der Kaspisee.

Das war die Grenze, welche Michael Strogoff überschreiten mußte, um von Rußland nach Sibirien zu gelangen, und indem er, wie erwähnt, die Straße einschlug, die auf der östlichen Abdachung des Ural von Perm nach Jekaterinenburg führt, that er deshalb sehr wohl daran, weil das der leichtere und sicherere Weg ist, der auch dem Verkehr des gesammten centralasiatischen Handels dient.

Eine Nacht konnte, im Fall kein Hinderniß eintrat, wohl zum Passiren der Berge ausreichen. Leider kündigte das erste Grollen des Donners ein Unwetter an, das bei dem dermaligen Zustand der Atmosphäre furchtbar zu werden drohte. Die elektrische Spannung war so groß, daß sie sich nur durch heftige Entladungen ausgleichen konnte.

Michael Strogoff achtete darauf, daß seine junge Begleiterin bestmöglich versorgt war. Die Wagendecke, die ein schärferer Windstoß leicht hätte wegreißen können, wurde durch über und hinter ihr gekreuzte Stricke besser gesichert. Man verdoppelte die Zugstränge der Pferde und polsterte aus übergroßer Vorsicht das Stoßeisen der Naben mit Stroh aus, sowohl um die Haltbarkeit der Räder zu vergrößern, als auch um die Stöße zu mildern, die in einer so dunklen Nacht doch einmal nicht zu vermeiden sein würden. Endlich verband man noch den Vorder- und den Hintertheil des Gefährtes, deren Achsen einfach an den Kasten des Tarantaß angepflöckt waren, mit einander durch eine mittels Bolzen und Schraubenmuttern befestigte Stange. Dieser Langbaum vertrat die Stelle des gebogenen Holzstückes, das an den Berlinen die beiden Achsen des Gestells verbindet.

Nadia nahm ihren Platz im Wagen wieder ein, und Michael Strogoff setzte sich neben sie. Vor der vollkommen niedergelassenen Wagendecke hingen zwei Ledervorhänge herab, welche die Insassen bis zu gewisser Grenze vor dem Regen und Sturme schützen mußten.

An der linken Seite des Kutschersitzes wurden zwei große Laternen angebracht, deren fahler Schein mit seinen schiefen Strahlen den Weg nicht gerade sonderlich erhellte; sie bezeichneten aber Stellung und Richtung des Fuhrwerks, und wenn sie auch die Dunkelheit nur wenig zerstreuten, so dienten sie doch zum Schutze gegen das Zusammenstoßen mit einem etwa entgegenkommenden Wagen.

Man erkennt hieraus, daß keine Vorsichtsmaßregel versäumt wurde, und gegenüber einer so drohenden Nacht waren sie gewiß am Platze.

»Wir sind bereit, Nadia, begann Michael Strogoff.

– So wollen wir fahren«, antwortete das junge Mädchen.

Der Jemschik erhielt Befehl, und der Tarantaß schwankte die ersten Vorberge des Urals hinan.

Es war acht Uhr und die Sonne nahe ihrem Untergange. Dennoch wurde es, trotz der in jenen Breiten länger andauernden Dämmerung, schon recht dunkel. Enorme Dunstmassen schienen die Wölbung des Himmels herab zu drücken, doch bewegte sie bis jetzt noch kein Lufthauch. Doch wenn sie auch in der Richtung von Horizont zu Horizont unbewegt blieben, so war das doch nicht in der vom Zenith zum Nadir der Fall, indem ihre Entfernung vom Erdboden fast sichtbar abnahm. Einzelne Streifen schimmerten in einer Art phosphorescirenden Lichtes und erschienen dem Auge in Bogenform von sechzig bis achtzig Grad Spannweite. Schichtenweise näherten sie sich der Erde und verengten die Maschen ihres Netzes, so als sollten sie den Gebirgsstock umstricken und als jagte sie ein Orkan in den höheren Luftschichten von oben nach unten. Die Straße führte diesen gewaltigen, dichten und ihrer Condensirung offenbar nahen Wolken gerade entgegen. Binnen Kurzem mußten Straße und Dunstmassen einander begegnen, und lösten die Wolken sich dann nicht in Regen auf, so drohten sie mit einem Nebel, durch welchen der Tarantaß nicht vorzudringen wagen durfte, ohne Gefahr zu laufen in einen Abgrund zu stürzen.

Die Kette der Uralberge erreicht übrigens nur eine mittlere Höhe; ihr bedeutendster Gipfel übersteigt noch nicht 5000 Fuß. Der ewige Schnee ist daselbst unbekannt, und die Schneemassen, welche der sibirische Winter über das Gebirge schüttet, schmelzen vollständig bei der Sonnenwärme des Sommers. Pflanzen und Bäume gedeihen noch in beträchtlicher Höhenlage. Die Ausbeutung der Eisen- und Kupferminen, der Lagerstätten kostbarer Edelsteine versammelt hier eine ansehnliche Menge fleißiger Hände. So begegnet man denn auch den »Zarody« genannten Dorfschaften ziemlich häufig und der durch die gewaltigen Engpässe geführte Weg ist für die Postwagen in gut fahrbarem Zustande.

Was aber bei guter Witterung und vollem Tageslichte leicht ist, bietet Schwierigkeiten und Gefahren, sobald die Elemente mit einander kämpfen und man sich in diesem Gewühle befindet.

Aus Erfahrung wußte Michael Strogoff schon, was ein Gewitter in den Bergen bedeuten will, und vielleicht hielt er, ganz mit Recht, dieses Meteor für ebenso gefahrbringend, als die fürchterlichen Schneestürme, die hier während des Winters mit unvergleichlicher Heftigkeit wüthen.

Zur Zeit der Abfahrt fiel noch kein Regen. Michael Strogoff hatte die das Wageninnere schützenden Ledervorhänge aufgehoben, sah hinaus und achtete scharf auf beide Seiten des Weges, die der zitternde Laternenschein mit phantastischen Schattenbildern belebte.

Unbeweglich, mit gekreuzten Armen schaute Nadia ebenfalls hinaus, während ihr Begleiter mit halbem Körper aus dem Wagen herausgelehnt, den Himmel und die Erde musterte.

Die Atmosphäre war ganz still, aber drohend ruhig. Kein Lufttheilchen rührte sich vom Platze. Man hätte sagen mögen, daß die halberstickte Natur nicht mehr athmete, und ihre Lungen, d. h. jene düsteren, dichten Wolken, aus irgend welchem Grunde gelähmt, nicht mehr functioniren konnten. Das Schweigen wäre ein absolutes gewesen ohne das Knirschen der Räder des Tarantaß, die die Kiesel der Straße zerrieben, ohne das Seufzen der Naben und überhaupt des Holzwerkes am Gefährte, ohne den keuchenden Athem des Gespanns und das Aufschlagen ihrer Hufe auf die Steine, die dabei lebhafte Funken sprühten.

Uebrigens war die Straße vollkommen öde. Der Tarantaß begegnete weder einem Fußgänger, noch einem Reiter oder einem Wagen bei dieser drohenden Nacht in den engen Schluchten des Urals. Kein Feuer eines Köhlers rauchte im Walde, keine Lagerstätte von Arbeitern eines Steinbruchs ward sichtbar, keine einzige im Gehölz verlorene Hütte. Es bedurfte solcher Gründe, welche kein Zweifeln und kein Zaudern erlauben, um eine Fahrt durch die Gebirgskette unter den gegebenen Verhältnissen zu unternehmen. Michael Strogoff hatte nicht gezaudert. Ihm war das wohl unmöglich; aber – und das fing doch an ihm eine sonderbare Besorgniß einzuflößen, – wer in aller Welt konnten die beiden Reisenden in dem seinem Tarantaß vorausgehenden Teleg sein; welch‘ gewichtige Gründe hatten sie, eben so tollkühn zu handeln?

Eine Zeit lang versank Michael Strogoff in tiefes Sinnen. Gegen elf Uhr begannen die Blitze den Himmel zu erleuchten und setzten dann nicht mehr aus. Bei ihrem schnellen Scheine sah man die Silhouetten mächtiger Kiefern auftauchen und verschwinden, die an verschiedenen Stellen die Straße gruppenweise flankirten. Näherte sich der Tarantaß dem Rande der Straße, dann beleuchteten die brennenden Wolken tiefe Abgründe neben jener. Von Zeit zu Zeit verrieth ein heftigeres Rollen und Stoßen, daß der Wagen eine Brücke aus Baumstämmen passirte, welche kaum zugehauen eine Höhlung des Weges überdeckten. Je höher sie hinauf kamen, desto mehr ertönte ein monotones Brausen in der Luft. Dazu mischten sich die aufmunternden Rufe des Jemschik, der bald Schmeichelworte, bald Schmähreden an seine Thiere verschwendete, welche mehr durch die Schwere der Atmosphäre als durch den Weg selbst ermattet schienen. Auch die Schellen des Deichselbogens vermochten sie nicht mehr aufzumuntern, und manchmal knickten sie fast zusammen.

»Wann werden wir auf dem Gipfel des Kammes anlangen? fragte Michael Strogoff den Jemschik.

– Um ein Uhr früh … wenn wir überhaupt hinkommen! antwortete dieser mit ungläubigem Kopfschütteln.

– Sag‘ doch, Freund, das ist doch nicht Dein erstes Gewitter hier in den Bergen, nicht wahr?

– Nein, und gebe Gott, daß es auch nicht mein letztes ist.

– Hast Du Furcht?

– Ich habe keine Furcht, aber ich wiederhole, daß Du unrecht handeltest, abzufahren.

– Ich hätte noch mehr unrecht gehandelt, wenn ich blieb.

– Na, dann vorwärts, meine Täubchen!« erwiderte der Jemschik, als ein Mann, der nicht da war zu discutiren, sondern zu gehorchen.

In diesem Augenblicke ließ sich ein entferntes Geräusch vernehmen; es glich einem tausendfachen gellenden und betäubenden Pfeifen in der bisher noch halb ruhigen Atmosphäre. Bei dem blendenden Scheine eines Blitzes, dem ein entsetzlicher Donnerschlag folgte, bemerkte Michael Strogoff einige große Kiefern, die auf einem kahlen Gipfel schwankten. Der Sturm brach los, jagte aber bis jetzt nur die höhern Luftschichten durcheinander. Ein trockenes Geknatter ließ erkennen, daß einige alte oder schlecht bewurzelte Bäume schon dem ersten Anprall der Windsbraut nicht hatten Widerstand leisten können. Eine Lawine gebrochener Stämme rollte bald über die Straße, schlug hüpfend auf die Felsenvorsprünge und verlor sich, zweihundert Schritte vor dem Tarantaß, in den Tiefen zur Linken.

Stutzend hielten die Pferde still.

»Immer vorwärts, meine Turteltäubchen!« rief der Jemschik, und munter knallte seine Peitsche zwischen dem Rollen des Donners.

Michael Strogoff ergriff Nadia’s Hand.

»Schläfst Du, Schwester? fragte er.

– Nein, Bruder.

– Sei bereit für Alles. Jetzt kommt das Unwetter!

– Ich bin bereit.«

Michael Strogoff hatte kaum Zeit, die Ledervorhänge zu schließen.

Wild tobte der Sturmwind heran.

Der Jemschik war mit einem Sprunge von seinem Sitze herab und eilte, die Pferde am Kopfe zu halten, denn dem ganzen Gespann drohte eine schreckliche Gefahr.

Unbeweglich stand der Tarantaß an einer Biegung des Weges, durch welche der Sturm hereintobte. Der Wagen mußte also dem Winde gerade entgegen gehalten werden, denn ergriff jener ihn von der Seite, so wäre er unfehlbar umgeworfen und in den benachbarten Abgrund geschleudert worden. Von den Windstößen zurückgedrängt bäumten sich die Pferde, ohne daß es ihrem Führer gelang, sie wieder zur Ruhe zu bringen. Auf die Schmeichelworte folgten die kräftigsten Flüche. Nichts half. Die armen, von den elektrischen Entladungen geblendeten, von dem schrecklichen, Artilleriesalven ähnlichen Donner betäubten Thiere drohten die Stränge zu zerreißen und durchzugehen. Der Jemschik war nicht mehr Herr seines Gespannes.

Da sprang Michael Strogoff aus dem Tarantaß und kam dem Kutscher zu Hilfe. Seiner außergewöhnlichen Körperkraft gelang es, wenn auch nicht ohne Mühe, die Thiere zu bändigen.

Aber die Wuth des Orkanes verdoppelte sich. Die Straße erweiterte sich an der eben erreichten Stelle tonnenartig, so daß sich der Wind hineinpreßte, etwa wie in die Zugrohre, welche man auf dem Verdeck der Dampfer sieht. Gleichzeitig begann eine Lawine von Steinen und Baumstämmen den Abhang herab zu poltern.

»Hier können wir nicht bleiben, sagte Michael Strogoff.

– Wir werden auch gar nicht länger hier sein! rief der Jemschik, während er ganz bestürzt sich mit aller Macht gegen die mit entsetzlicher Wucht einherstürmenden Luftmassen stemmte. Der Sturm war schon sehr nahe daran, uns bergab zu befördern und das auf dem kürzesten Wege.

– Nimm das Handpferd beim Zügel, Memme! antwortete Michael Strogoff; für das linke werde ich stehen!«

Ein neuer heftiger Windstoß unterbrach Michael Strogoff. Der Kutscher und er mußten sich fast bis zur Erde niederbeugen, um nicht umgeweht zu werden; aber trotz ihrer eigenen und der Anstrengung der Pferde, die sie jetzt direct gegen den Wind hielten, rollte der Wagen doch eine kleine Strecke zurück, und hätte ihn dann nicht ein querliegender Baumstamm aufgehalten, so wäre er wohl vom Wege abgedrängt worden.

»Fürchte Dich nicht, Nadia! rief Michael Strogoff.

– Ich habe keine Furcht«, erwiderte die junge Liefländerin, ohne daß ihre Stimme irgend eine besondere Erregtheit verrathen hätte.

Einen Augenblick verstummte das Rollen des Donners und der brausende Sturm verlor sich weiter unten in den Tiefen des Hohlweges.

»Willst Du wieder hinunterfahren? fragte der Jemschik.

– Nein, wir müssen hinauf; es gilt nur, diese Wendung des Weges zu überwinden, höher oben kommen wir unter den Schutz der Bergwand.

– Aber die Pferde wollen nicht vorwärts.

– Mach‘ es wie ich, ziehe sie!

– Diese Windstöße werden sich wiederholen.

– Wirst Du gehorchen?

– Du willst es.

– Der ›Vater‹ selbst befiehlt es! setzte Michael Strogoff hinzu, der zum ersten Male den jetzt in drei Welttheilen allmächtigen Namen des Kaisers gebrauchte.

– Dann also vorwärts, meine Schwalben!« rief der Jemschik und ergriff das Pferd zur Rechten, während Michael Strogoff die Zügel des linken packte.

So geleitet kamen die Thiere langsam wieder in Gang. Sie konnten nicht mehr seitwärts ausbiegen, und das Mittelpferd in der Gabeldeichsel, das nun nicht weiter gezerrt wurde, konnte die Mitte der Straße einhalten. Menschen und Thiere aber vermochten dem Sturme gerade entgegen nicht drei Schritte vorwärts zu thun, ohne davon einen oder zwei wieder zu verlieren. Sie glitten aus, fielen und erhoben sich wieder. Auch das ganze Gefährt schwebte jeden Augenblick in Gefahr, außer Ordnung zu kommen. Wäre die Wagendecke nicht so besonders sorgsam befestigt gewesen, so hätte sie der erste Anprall des Sturmes gewiß schon entführt.

Michael Strogoff und der Jemschik brauchten mehr als zwei Stunden, diese kaum eine halbe Werst lange Wegstrecke zurückzulegen, welche der Geißel des Orkanes so sehr preisgegeben war. Und dazu lag die Gefahr nicht allein in diesem fessellosen Sturmwinde, sondern vorzüglich auch in jenem Hagel von Geröll und geknickten Stämmen, welchen der Berg um sie herum niederschüttete.

Plötzlich zeigte sich in dem Bette eines Wildbachs ein größerer Steinblock, der mit wachsender Schnelligkeit in der Richtung auf den Tarantaß herabstürzte.

Der Jemschik schrie entsetzt laut auf.

Michael Strogoff wollte die Pferde mit einem wuchtigen Peitschenhiebe antreiben.

Nur wenige Schritte, und das Felsstück wäre hinter ihnen niedergeschlagen.

In einer Zwanzigstelsecunde sah es Michael Strogoff ein, daß der Tarantaß getroffen, seine Gefährtin zerschmettert werden müßte! Er fühlte, daß er sie lebend nicht mehr herauszuholen vermöchte ….

Da sprang er schnell hinter den Wagen, aus der Gefahr schöpfte er eine fast übermenschliche Kraft, stemmte den Rücken gegen die Achse, die Füße fest auf den Boden und drängte das schwerfällige Fuhrwerk einige Schritte vorwärts.

Der gewaltige Block flog vorüber, streifte dem jungen Manne fast die Brust und benahm ihm den Athem, wie eine vorbeisausende Kanonenkugel. Knisternd und Funken sprühend zersprangen die Steine auf der Straße.

»Bruder!« hatte zum Tode erschrocken Nadia gerufen, welche die ganze Scene beim Leuchten eines Blitzes mit angesehen hatte.

– Nadia! antwortete Michael Strogoff, keine Furcht, Nadia!

– Um meinetwillen könnte ich mich niemals fürchten.

– Gott ist mit uns, Schwester!

– Mit mir gewiß, Bruder, da er mich auf Deinen Weg geleitet hat!« sagte halblaut das junge Mädchen.

Der Anstoß, den der Tarantaß durch Michael Strogoff’s Anstrengung erhielt, sollte nicht verloren sein. Er ward zur Anregung für die stutzenden Pferde, die frühere Richtung wieder einzuschlagen. Von Michael Strogoff und dem Jemschik so zu sagen gezerrt, klommen sie bergauf bis zu einem schmalen von Norden nach Süden verlaufenden Kamme, wo sie gegen den directen Anprall des Unwetters einigermaßen gesichert waren. Die Berglehne zur Rechten bildete hier eine Art Sägewerk durch einen vorspringenden Felsen, der sich mitten in einem schäumenden Wildwasser erhob. Hier wüthete wenigstens kein gefahrdrohender Wirbelwind und der Platz schien einigermaßen haltbar, während in der Peripherie dieser scheinbaren Cyclone sich gewiß kein Mensch oder Thier hätte aufrecht erhalten können.

Wirklich wurden einige Tannen, die mit ihren Wipfeln den Felsenscheitel überragten, in einem Augenblick geköpft, so als sauste eine Riesensense über die Hochfläche dahin.

Das Unwetter tobte jetzt in vollster Wuth. Grell flammten die Blitze in den Engpaß hinein und in einem Athem rollte der furchtbare Donner. Der Boden schien unter den furchtbaren Schlägen zu erzittern, so als würde die ganze Uralkette erschüttert.

Zum Glück hatte man den Tarantaß in einer tiefen Felsenaushöhlung ziemlich gut unterbringen können, wo ihn der Sturm nur etwas von der Seite traf; doch war er nicht so vollkommen geschützt, daß er nicht manchmal durch einige von den Bergvorsprüngen abgeleitete Seitenströmungen tüchtig geschüttelt worden wäre. Dabei stieß er wohl gegen die Felsmauer, daß man befürchten mußte, ihn in tausend Trümmer zersplittert zu sehen.

Nadia mußte den von ihr eingenommenen Platz verlassen. Michael Strogoff fand bei einer Nachsuchung mit Hilfe einer Laterne eine kleine Aushöhlung, die wahrscheinlich nur von der Spitzhaue eines Bergmanns herrührte und in welche sich das junge Mädchen verkriechen mußte, bis es möglich würde, die Fahrt wieder fortzusetzen.

Jetzt begann – es war gegen ein Uhr Morgens – der Regen in Strömen herabzustürzen, und nun wuchsen die aus Luft und Wasser gemengten Sturmwehen zu einer ungeheuren Gewalt an, ohne das Feuer des Himmels zu verlöschen. Unter diesen Verhältnissen war an den Wiederaufbruch natürlich gar nicht zu denken.

Trotz aller Ungeduld Michael Strogoff’s – und man begreift wohl, wie groß diese war – mußte er doch das schlimmste Unwetter erst vorübergehen lassen. Da übrigens der Bergrücken, über den die Straße von Perm nach Jekaterinenburg führt, schon erreicht war, so handelte es sich nur noch darum, die Bergabhänge des Ural hinabzufahren, und eine solche Thalfahrt, jetzt, über einen von unzähligen Bergbächen durchwühlten Boden, mitten in dem Sturm und den Regenschauern, hieß wirklich das Leben auf’s Spiel setzen, dem Verderben selbst entgegen eilen.

»Abwarten – es ist schwer, sagte da Michael Strogoff, aber es sichert doch gegen vielleicht noch längere Verzögerungen. Die Heftigkeit des Gewitters läßt mich annehmen, daß es nur von kurzer Dauer sein werde. Gegen drei Uhr muß der Tag grauen, und wenn wir es gar nicht wagen dürfen, in der Finsterniß bergab zu fahren, so wird das nach Sonnenaufgang wenn auch nicht leicht, so doch mindestens ausführbar sein.

– So wollen wir warten, Bruder, erwiderte Nadia, doch wenn Du die Abfahrt aufschiebst, so geschehe es nicht, um mir eine Anstrengung oder Gefahr zu ersparen.

– Ich weiß es, Nadia, daß Du entschlossen bist, Alles zu wagen; wenn ich uns Beide aber bloßstelle, dann setze ich einen noch höheren Preis ein, als mein Leben oder das Deinige, dann entziehe ich mich der Pflicht und dem Auftrage, die ich vor Allem zu erfüllen habe.

– Einer Pflicht! …« murmelte Nadia.

Eben zerriß ein grellleuchtender Blitz den Himmel und schien den Regen gleichsam zu zerstäuben. Gleichzeitig vernahm man einen kurzen, trockenen Krach. Die Luft erfüllte sich mit schwefeligem, fast erstickendem Gerüche und eine zwanzig Schritte von dem Tarantaß entfernte Gruppe aller Kiefern flammte, von dem elektrischen Fluidum entzündet, gleich einer Gigantenfackel lodernd in die Höhe.

Der Jemschik stürzte, wie von einem Rückschlag getroffen, zu Boden, erhob sich aber glücklicher Weise unverletzt wieder.

Hierauf, als das letzte Rollen des Donners sich in den Tiefen des Gebirges verloren hatte, fühlte Michael Strogoff seine Hand fest von der Nadia’s ergriffen und hörte sie die Worte in sein Ohr sprechen: »Hilferufe, Bruder! Hörst Du sie?«

Elftes Capitel

Elftes Capitel

Reisende in Noth

Wirklich vernahm man in der kurzen Ruhepause weiter oben von der Straße her und unfern der Aushöhlung, welche den Tarantaß deckte, wiederholtes Hilferufen.

Es klang wie ein verzweifelter letzter Rettungsversuch, der offenbar von irgend einem gefährdeten Reisenden ausging.

Michael Strogoff lauschte aufmerksam.

Der Jemschik horchte gleichfalls auf, aber mit einem Kopfschütteln, so als scheine es ihm unmöglich, hier Beistand zu leisten.

»Das sind Reisende, welche um Hilfe bitten, rief Nadia.

– Auf uns werden sie nicht zählen dürfen! … fiel rasch der Jemschik ein.

– Und warum das nicht? fragte Michael Strogoff etwas streng. Was Jene unter gleichen Verhältnissen gewiß für uns thun würden, sollen wir das unversucht lassen?

– Ihr setzt aber Pferde und Wagen auf’s Spiel! …

– Ich werde zu Fuß gehen, unterbrach Michael Strogoff den besorgten Geschirrführer.

– Und ich begleite Dich, Bruder, erbot sich die junge Liefländerin.

– Nein, bleibe, Nadia. Der Jemschik wird bei Dir sein. Ich möchte diesen nicht allein lassen. …

– So werd‘ ich dableiben, erwiderte Nadia.

– Was auch geschehe, verlasse diese geschützte Stelle nicht!

– Du wirst mich da wieder finden, wo ich jetzt bin.«

Michael Strogoff drückte dankend die Hand seiner Gefährtin, eilte nach der Ecke des Abhangs und verschwand bald im Dunklen.

»Dein Bruder handelt unrecht, sagte der Jemschik zu dem jungen Mädchen.

– Er handelt recht«, antwortete einfach Nadia.

Inzwischen klomm Michael Strogoff rasch bergan. Wenn er große Eile hatte den Bedrängten, welche jene Rufe erschallen ließen, helfend beizuspringen, so war doch auch sein Wunsch nicht minder groß, zu erfahren, wer jene Reisenden sein möchten, die auch dieses Unwetter nicht abgehalten hatte, sich in die Berge zu wagen, denn er zweifelte gar nicht daran, daß es dieselben Leute seien, deren Teleg immer seinem Tarantaß vorausrollte.

Der Regen hatte jetzt nachgelassen, aber der Sturm tobte eher mit verdoppelter Wuth. Die Ausrufe, welche der Wind mit dahertrug, wurden immer deutlicher. Von der Stelle, an der Michael Strogoff Nadia zurück gelassen hatte, war nichts zu sehen. Die Straße verlief mehrfach gekrümmt und der bläuliche Schein der Blitze erleuchtete nur den Bergvorsprung, der sich in einen solchen Straßenbogen hineinschob. Der Wind bildete, indem er sich an allen jenen Ecken und Kanten brach, sehr schwer zu passirende Wirbel, denen Michael Strogoff nur mit dem Aufgebot aller Kräfte zu widerstehen vermochte.

Jedoch, es zeigte sich sehr bald, daß die Reisenden, von denen jene Hilferufe ausgingen, nicht mehr sehr fern sein konnten. Waren sie für Michael Strogoff auch noch nicht sichtbar – ob das nun daher kam, daß Jene sich nicht auf der Straße selbst befanden, oder daß nur die herrschende Dunkelheit sie seinen Blicken noch verbarg, – jedenfalls verstand er ihre Worte schon ganz deutlich.

Da hörte er denn, – natürlich zu seiner nicht geringen Verwunderung, – Folgendes:

»Wirst Du wohl zurückkommen, Schlingel?

– Dich erwartet die Knute auf dem nächsten Relais.

– Hörst Du, Du Postillon der Hölle! He! Du, da unten!

– So wird man in diesem verwünschten Lande befördert.

– Und das nennen sie einen Teleg!

– He, Du dreifacher Erztölpel! – Da reißt er aus und scheint’s gar nicht zu bemerken, daß er uns hier sitzen gelassen hat!

– Nein, mich so zu behandeln! Mich, einen wohlbeglaubigten Engländer! Ich werde mich beim Kanzleramte beklagen und den Burschen dingfest machen lassen!«

Der, welcher diese Worte herauspolterte, schäumte vor Wuth. Aber plötzlich schien es Michael Strogoff, als ob ein Zweiter die Situation von ganz anderer Seite betrachtete, denn er hörte nach einem hellen, bei solcher Scene gewiß unerwarteten Gelächter die Worte:

»Bei Gott, diese Geschichte ist gar zu drollig!

– Was? Sie wagen auch noch zu lachen? entgegnete in ärgerlichem Tone der Bürger des Vereinigten Königreichs.

– Natürlich, lieber College, und ganz aus vollem Herzen; was soll ich denn Besseres dabei thun! Ich rathe Ihnen, es ebenso zu machen! Auf Ehrenwort! Das ist gar zu drollig, das ist noch gar nicht dagewesen! …«

Da erfüllte ein heftiger Donnerschlag den Engpaß mit schrecklichem Krachen, das der Widerhall der Berge noch mächtig verstärkte. Dann, als das letzte schwache Rollen verlöscht war, ließ sich wiederum die lustige Stimme vernehmen:

»Ja, ja, ganz ausnehmend drollig! Das könnte in Frankreich wahrlich nicht passiren!

– In England auch nicht!« antwortete der Brite.

Beim Scheine der Blitze sah jetzt Michael Strogoff auf der Straße und gegen zwanzig Schritt vor sich zwei Männer auf dem hohen Rücksitz eines sonderbaren Fuhrwerks, das in dem tiefen Schlamme eines ausgefahrenen Geleises fest zu sitzen schien.

Michael Strogoff näherte sich den beiden Reisenden, deren Einer immer weiter lachte, der Andre unverdrossen weiter schimpfte, und erkannte bald die beiden Zeitungscorrespondenten, welche auf dem Kaukasus den Weg von Nishny-Nowgorod nach Perm mit ihm zurückgelegt hatten.

»Ei guten Tag, mein Herr! rief der Franzose. Sehr erfreut, Sie unter diesen Umständen wieder zu sehen! Erlauben Sie, Ihnen meinen intimsten Feind, Herrn Blount, hier vorzustellen.«

Der englische Reporter grüßte und vielleicht wollte er nach allen Regeln des Anstandes eben seinerseits seinen Collegen Alcide Jolivet vorstellen, als ihn Michael Strogoff unterbrach:

»Nicht nöthig, meine Herren, wir kennen uns ja wohl, da wir die Wolga gemeinschaftlich befahren haben.

– Ah, sehr gut! Ganz richtig! Herr …?

– Nikolaus Korpanoff, Kaufmann aus Irkutsk, antwortete Michael Strogoff. Aber wollen Sie mich wissen lassen, welcher für den Einen so erheiternde, für den Andern so beklagenswerthe Unfall sich hier zugetragen hat?

– Gut, ich rufe Sie als Richter an, Herr Korpanoff, entgegnete Alcide Jolivet. Stellen Sie sich vor, daß unser Postillon mit dem Vordertheile seines vermaledeiten Fuhrwerks davon gefahren ist und hat uns hier ruhig sitzen lassen mit sammt dem Hintertheile seines nichtswürdigen Fahrzeugs. Da haben wir nun die schlechtere Hälfte eines Telegs für uns Zwei, aber keinen wegekundigen Kutscher, keine Pferde mehr! Ist das nicht unbedingt und über alle Maßen drollig?

– Ich finde gar nichts Lächerliches dabei! knurrte der Engländer.

– Und doch, College! Sie verstehen die Sache nur nicht von ihrer besten Seite anzusehen.

– Aber wie denken Sie denn, daß es möglich werden soll, unsern Weg fortzusetzen? fragte Harry Blount.

– Nichts einfacher als das, spottete Alcide Jolivet. Sie spannen sich beispielsweise vor das uns verbliebene Restchen des Wagens; ich ergreife die Zügel, ich nenne Sie »mein Täubchen«, wie ein leibhaftiger Jemschik, und Sie trotten dann drauf los, ganz wie ein ….

– Herr Jolivet, fiel der Engländer ein, ein solcher Scherz geht zu weit und ….

– O, beruhigen Sie sich, Herr College. Sobald Sie sich verfangen haben, trete ich an Ihre Stelle und Sie mögen mich dann als engbrüstige Schnecke oder ohnmächtige Schildkröte behandeln, wenn ich Sie nicht in einem Höllengalop dahinfahre!«

Alcide Jolivet schüttelte das Alles mit einem so liebenswürdigen Humor hervor, daß Michael Strogoff sich eines Lächelns nicht enthalten konnte.

»Meine Herren, nahm er darauf das Wort, da weiß ich doch besseren Rath. Wir befinden uns jetzt hier sehr nahe dem höchsten Kamme des Ural und folglich haben wir den Gebirgsabhang nur noch hinabzufahren. Mein Wagen befindet sich fünfhundert Schritt weiter rückwärts. Ich will Ihnen eines meiner Pferde abtreten, das spannen wir vor den Rest Ihres Telegs und kommen, wenn uns kein Zwischenfall abhält, morgen zusammen in Jekaterinenburg an.

– Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet verbindlich, das ist ein Vorschlag, der aus sehr edelmüthigem Herzen kommt.

– Ich bemerke noch, mein Herr, daß ich Ihnen deshalb nicht anbiete meinen Tarantaß mit zu benutzen, weil er nur zwei Plätze enthält, die ich mit meiner Schwester nothwendiger Weise selbst brauche.

– O, keine Entschuldigungen, mein Herr, antwortete Alcide Jolivet, mein College und ich würden mit Ihrem Pferde und dem Hintertheil unsers Halbtelegs nöthigenfalls bis an’s Ende der Welt kommen.

– Mein Herr, fiel nun auch Harry Blount ein, wir nehmen Ihren großmüthigen Vorschlag an. Aber jener Jemschik ….

– O glauben Sie, es wird nicht das erste Mal gewesen sein, daß ihm solch‘ kleiner Unfall zustieß, bemerkte Michael Strogoff.

– Nun, warum kehrt er dann aber nicht zurück? Er wird recht gut wissen, daß er uns hier im Stiche gelassen hat, der Elende!

– Er!? Er weiß sicher kein Sterbenswörtchen davon.

– Was? Dieser brave Kerl sollte die Zerreißung des Telegs in zwei Hälften gar nicht bemerkt haben?

– Nein, sicherlich nicht; der bringt seinen Vordertheil im besten Glauben von der Welt nach Jekaterinenburg hinein.

– Sagt‘ ich es Ihnen nicht vorher, Herr College, rief lachend Alcide Jolivet, daß uns nur die allerlustigste Geschichte passirt sei?

– Nun denn, meine Herren, mahnte Michael Strogoff, wenn es Ihnen gefällig ist mir zu folgen und meinen Wagen aufzusuchen ….

– Aber der Teleg? bemerkte der Engländer.

– Fürchten Sie nicht, daß er uns davon fliege, mein lieber Blount, tröstete Alcide Jolivet, der steht hier so gut im Erdboden fest gewurzelt, daß er kommendes Frühjahr Knospen treiben müßte, wenn man ihn stehen ließe.

– Kommen Sie also, meine Herren, sagte Michael Strogoff, wir wollen den Tarantaß nun hierher schaffen.«

Der Franzose und der Engländer verließen ihre Bank, die aus einem Rücksitz zum Vordersitz geworden war, und folgten Michael Strogoff.

Auch unterwegs plauderte Alcide Jolivet immer weiter in seiner rosenfarbenen Laune, welche eben Nichts zu zerstören im Stande war.

»Meiner Treu, Herr Korpanoff, wandte er sich an Michael Strogoff, Sie ziehen uns hier allerdings aus einer argen Verlegenheit.

– Ich that noch weiter nichts, mein Herr, erwiderte Michael Strogoff, als was jeder Andere an meiner Stelle ebenfalls gethan hätte. Wenn sich Reisende erst nicht mehr gegenseitig unterstützen wollen, möge man lieber gleich die Landstraßen sperren.

– Wir bleiben Ihnen zu Gegendiensten verbunden, mein Herr. Im Fall Sie weit durch die Steppe reisen, könnten wir uns wohl auch noch einmal begegnen, und ….«

Alcide Jolivet fragte zwar nicht direct, wohin Michael Strogoff ginge, dieser aber erwiderte, um sich nicht den Schein der Heimlichthuerei zu geben:

»Ich reise nach Omsk, meine Herren.

– Und Herr Blount und ich, erklärte Alcide Jolivet, wir reisen eigentlich nur der Nase nach, dahin, wo es vielleicht eine Kugel, jedenfalls aber Neuigkeiten zu erwischen giebt.

– Nach den empörten Provinzen? fragte Michael Strogoff mit einem gewissen Eifer.

– Ganz recht, Herr Korpanoff, und wahrscheinlich begegnen wir uns dort wohl nicht wieder!

– Wahrlich, mein Herr, antwortete Michael Strogoff, ich bin gar nicht lüstern nach einer Büchsenkugel oder einem Lanzenstiche und zu friedliebender Natur, um mich unnöthig dahin zu begeben, wo man sich herumschlägt.

– Bedaure, mein Herr, bedaure, es sollte uns gewiß leid thun, so schnell von Ihnen wieder Abschied zu nehmen. Vielleicht will es unser guter Stern aber doch, daß wir wenigstens von Jekaterinenburg aus noch ein Stück Weges zusammen zurücklegen, und wäre es nur während weniger Tage?

– Sie gehen vielleicht auch nach Omsk? fragte Michael Strogoff nach kurzer Ueberlegung.

– Das wissen wir freilich selbst noch nicht, erwiderte Alcide Jolivet. Jedenfalls wenden wir uns direct nach Ichim und dort werden die Verhältnisse unseren weiteren Weg bestimmen.

– Nun wohl, meine Herren, sagte Michael Strogoff, bis nach Ichim werden wir also zusammen sein.«

Michael Strogoff hätte es gewiß vorgezogen, allein zu reisen, er konnte sich aber, ohne damit aufzufallen, nicht wohl von den beiden Reisenden absondern, welche des nämlichen Weges zogen wie er. Bei der von Alcide Jolivet ausgesprochenen Absicht, sammt seinem Begleiter in Ichim Halt zu machen und nicht unmittelbar nach Omsk weiter zu gehen, lag für ihn übrigens kein besonderer Grund vor, diesen Theil der Reise in ihrer Gesellschaft zurück zu legen.

»Also, meine Herren, es ist abgemacht. Wir reisen zusammen.«

Dann setzte er mit möglichst gleichgiltigem Tone hinzu:

»Haben Sie vielleicht einige sicherere Nachrichten über den Tartareneinfall?

– Leider nein, erwiderte Alcide Jolivet, wir wissen davon ebenso viel, als in Perm allgemein bekannt war. Die Tartarenhaufen Feofar-Khan’s haben die ganze Provinz Semipalatinsk überschwemmt und dringen jetzt in Eilmärschen längs des Bettes des Irtysch vor. Sie werden sich also ein wenig beeilen müssen, ihnen bis Omsk noch zuvorzukommen.

– Ja, Sie haben Recht, bemerkte Michael Strogoff.

– Dazu geht das Gerücht, es sei dem Oberst Ogareff gelungen, verkleidet die Grenze zu passiren, und er werde sich, in der Mitte der insurgirten Provinz, dem Tartarenchef unverzüglich anschließen.

– Wie will man das aber wissen? warf Michael Strogoff ein, den diese mehr oder weniger begründeten Neuigkeiten selbstverständlich sehr interessirten.

– Ei, so wie man eben Alles weiß, antwortete Alcide Jolivet; das liegt so in der Luft.

– Und Sie haben begründete Ursache zu glauben, daß Colonel Ogareff in Sibirien sei?

– Ich habe mindestens davon sprechen hören, daß er den Weg von Kasan nach Jekaterinenburg eingeschlagen habe.

– O, Sie wüßten das, Herr Jolivet? ließ sich da Harry Blount vernehmen, den jene Bemerkung des französischen Correspondenten aus seiner Schweigsamkeit aufrüttelte.

– Ich wußte es, erwiderte Alcide Jolivet.

– Und es war Ihnen auch bekannt, daß er als Zigeuner verkleidet ging? fragte Harry Blount.

– Als Zigeuner! rief Michael Strogoff fast unwillkürlich, da er sich der Anwesenheit des alten Tsiganen in Nishny-Nowgorod, seiner Fahrt auf dem Kaukasus und seiner Ausschiffung in Kasan erinnerte.

– Ich hatte davon eben genug erfahren, um darüber einen Brief an meine Cousine zu richten, antwortete lächelnd Alcide Jolivet.

– Sie haben in Kasan Ihre Zeit nicht verloren! bemerkte der Engländer in trockenem Tone.

– Gewiß nicht, liebster College, und während der Kaukasus sich verproviantirte, that ich ganz dasselbe!«

Michael Strogoff achtete ferner nicht auf das Wortgeplänkel, das sich zwischen Harry Blount und Alcide Jolivet entsponnen hatte. Er gedachte jener Zigeunergruppe, jenes alten Tsiganen, dessen Gesicht er nicht ordentlich sehen konnte, des fremden Weibes in seiner Begleitung, die jenen sonderbaren Blick auf ihn geworfen hatte, und er bemühte sich, alle Details jenes Zusammentreffens wieder im Gedächtniß aufzufrischen, als in geringer Entfernung ein Knall hörbar wurde.

– Ah, vorwärts, meine Herren! rief Michael Strogoff.

– Sieh da, ein braver Kaufmann, der die Flintenschüsse flieht, meinte Alcide Jolivet, der läuft über Hals und Kopf dahin, wo er solche hört!«

Schnell eilte er aber sowohl selbst, als hinter ihm Harry Blount, der auch nicht der Mann dazu war, feig zurück zu bleiben, Michael Strogoff furchtlos nach.

Nach wenig Augenblicken befanden sich Alle bei dem Felsenvorsprunge, der den Tarantaß deckte.

Noch loderten die Flammen aus der durch den Blitzschlag entzündeten Fichtengruppe empor. Die Straße war leer. Und doch, Michael Strogoff konnte sich unmöglich getäuscht haben; das mußte ein Gewehrschuß sein, der vorher an sein Ohr schlug.

Da hörte man plötzlich ein schreckliches Brummen und am Abhänge krachte ein zweiter Schuß.

»Ein Bär! rief Michael Strogoff, dem jenes Brummen ja bekannt genug war. Nadia! Nadia!«

Sein Dolchmesser aus dem Gürtel reißend stürzte Michael Strogoff hastig vorwärts und lief um den Felsen, hinter dem das junge Mädchen zu warten versprochen hatte.

Grell beleuchteten die von der Wurzel bis zum Gipfel brennenden Fichten den Schauplatz.

In dem Augenblicke, als Michael Strogoff den Tarantaß erreichte, wälzte sich ihm eine enorme Masse entgegen.

Es war ein ungeheurer Bär. Der Sturm mochte ihn aus dem Gehölz, das diese Abhänge der Uralberge bedeckt, vertrieben und er eine Zuflucht in seiner gewohnten Höhle gesucht haben, in derselben, welche eben Nadia deckte.

Zwei von den Pferden zerrissen da, erschreckt über den Anblick des furchtbaren Raubgesellen, ihre Stränge und entflohen; der Jemschik, dem nur seine Thiere am Herzen lagen und der dabei ganz vergaß, daß das junge Mädchen nun allein dem Angriffe des Bären ausgesetzt blieb, jagte ihnen nach.

Die muthige Nadia verlor den Kopf aber nicht. Das Thier mochte sie zuerst nicht bemerkt haben, denn es stürzte sich auf das dritte Pferd. Nadia schlüpfte aus der Höhlung, welche sie verbarg, lief nach dem Wagen, ergriff einen von Michael Strogoff’s Revolvern, ging kaltblütig auf den Bären los und feuerte auf ihn aus unmittelbarer Nähe.

Leicht an der Schulter verwundet hatte sich das Thier gegen das junge Mädchen gewendet, die ihm auszuweichen suchte und um den Tarantaß lief, dessen einzig übrig gebliebenes Pferd sich ebenfalls loszureißen suchte. Verirrten sich diese Pferde aber alle in dem Gebirge, so war die ganze Weiterfahrt zunächst in Frage gestellt. Nadia war also dem Bären wieder entgegen getreten und gab mit bewunderungswürdig ruhigem Blute, gerade als jener die gewaltigen Tatzen erhob, um auf sie niederzuschlagen, zum zweiten Male Feuer.

Das war jener zweite Schuß, welcher ganz in der Nähe Michael Strogoff’s aufblitzte. Mit einem Satze warf sich dieser zwischen den Bären und das junge Mädchen. Sein Arm machte nur eine Bewegung von unten nach oben, und das gewaltige Thier fiel, aufgeschlitzt vom Bauch bis zur Gurgel, eine leblose Masse, vor ihm zusammen.

Es war ein hübsches Pröbchen jener Methode der sibirischen Jäger, die stets darauf achten, das kostbare und von ihnen hoch im Preise gehaltene Fell eines Bären nicht zu beschädigen.

»Du bist nicht verletzt, Schwester? war Michael Strogoff’s erste Frage, als er sich zu dem jungen Mädchen wandte.

– Nein, Bruder«, antwortete Nadia.

Gerade jetzt kamen auch die beiden Journalisten zur Stelle.

Alcide Jolivet sprang nach dem Kopfe des Pferdes, und er mußte wohl eine kräftige Faust haben, denn es gelang ihm, jenes zu bändigen. Sein Begleiter und er hatten den kurzen Kampf Michael Strogoff’s mit angesehen.

»Zum Teufel! platzte Alcide Jolivet heraus, für einen einfachen Kaufmann, Herr Korpanoff, wissen Sie mit dem Jagdmesser doch recht leidlich umzugehen.

– Sogar sehr geschickt, fügte Harry Blount hinzu.

– In Sibirien, meine Herren, antwortete Michael Strogoff, sind wir genöthigt, uns um Alles ein wenig zu bekümmern.«

Alcide Jolivet betrachtete den jungen Mann.

Wie er so in voller Beleuchtung dastand, das blutige Waidmesser fest in der Hand, den einen Fuß auf dem Körper des erlegten Bären, sah Michael Strogoff bei seinem hohen Wuchse und dem entschlossenen Blicke wirklich schön aus.

»Ein famoser Kerl!« sagte Alcide Jolivet für sich.

Dann trat er respectvoll, den Hut in der Hand, vor und begrüßte das junge Mädchen.

Nadia verneigte sich leicht.

Alcide Jolivet kehrte sich darauf nach seinem Begleiter um und sagte:

»Die Schwester ist des Bruders werth! Wenn ich ein Bär wäre, ich riebe mich nicht an diesem ebenso achtunggebietenden als liebenswürdigen Pärchen!«

Harry Blount stand, gerade wie eine Hopfenstange, mit abgezogenem Hute in einiger Entfernung. Die zwanglose Höflichkeit seines Collegen vermehrte nur seine natürliche Steifheit.

Jetzt erschien auch der Jemschik wieder, dem es gelungen war, seine beiden Pferde wieder einzufangen. Er warf zuerst einen bedauernden Blick auf das prächtige, am Boden liegende Thier, das hier als Beute für die Raubvögel liegen bleiben sollte, und machte sich dann erst daran, das Geschirr wieder in Ordnung zu bringen.

Michael Strogoff setzte ihn von der Lage der beiden andern Reisenden in Kenntniß und sagte, daß er diesen ein Pferd vom Tarantaß zur Verfügung stellen wolle.

»Ganz wie es Dir beliebt, entgegnete der Jemschik. Indeß, zwei Wagen statt des einen ….

– Schon gut, Freundchen, fiel Alcide Jolivet, der dieses Zögern schnell genug verstand, ihm in’s Wort, Du wirst natürlich auch doppelte Bezahlung erhalten.

– Nun denn vorwärts, meine Turteltäubchen!« rief der Jemschik.

Nadia hatte den Tarantaß wieder bestiegen, während Michael Strogoff und seine Begleiter diesem zu Fuße nachfolgten.

Es mochte gegen drei Uhr sein. Der Sturm war nun im Abnehmen und jagte nicht mehr mit unwiderstehlicher Gewalt durch den Hohlweg, so daß man leidlich schnell vorwärts kam.

Mit dem ersten Schimmer des Morgenrothes hatte der Tarantaß das Telegrestchen erreicht, das gewissenhaft bis zur Mitte der Räder in den Schlamm eingesunken war. Man erkannte jetzt recht wohl, daß ein heftiger Ruck der Bespannung die Trennung der beiden Wagentheile veranlaßt hatte.

Das eine der Seitenpferde des Tarantaß ward nun so gut es eben anging mit Stricken an den Sitzkasten des Teleg gespannt. Die beiden Journalisten nahmen auf der Bank ihres etwas sonderbaren Fahrzeugs Platz, und gleichzeitig setzten sich beide Wagen in Bewegung. Uebrigens hatte man ja nur die Bergabhänge des Ural hinunter zu fahren, was keine besondere Schwierigkeit bot.

Sechs Stunden später langten die beiden Fuhrwerke eines dicht nach dem anderen in Jekaterinenburg an, ohne daß ein weiterer Unfall diesen zweiten Theil der Fahrt noch einmal unterbrochen hätte.

Das erste Individuum, das den Journalisten schon am Thore des Posthauses in die Augen fiel, war ihr eigener Jemschik, der sie mit der größten Gemüthsruhe zu erwarten schien.

Ohne alle Verlegenheit ging der gutmüthige Russe seinen Passagieren lächelnd entgegen und streckte die Hand hin, um sein Trinkgeld einzuheimsen.

Die Wahrheit verlangt es nicht zu verschweigen, daß Harry Blount’s Zorn dabei mit voller britannischer Heftigkeit zum Ausbruch kam, und wäre der Jemschik nicht klüglich zurückgewichen, so hätte ihm ein nach allen Regeln der edlen Boxkunst geführter Faustschlag wohl sein ›na vodku‹ mitten in’s Gesicht gezeichnet.

Als Alcide Jolivet diesen Zornesausbruch sah, wand er sich fast vor Lachen und jubelte auf, wie er vielleicht früher noch nie gelacht hatte.

»Er hat ja ganz Recht, der arme Teufel da! rief er. Er ist in seinem vollen Rechte, lieber College! Das ist doch seine Schuld nicht, wenn wir keine Mittel fanden, ihm zu folgen!«

Er zog einige Kopeken aus der Tasche.

»Da, Freundchen, sagte er, indem er sie dem Jemschik hinreichte, da, steck‘ sie ein. Wenn Du sie nicht verdient hast, war’s ja Deine Schuld nicht!«

Das verdoppelte aber nur noch die Aufregung Harry Blount’s, der sich an dem Postmeister schadlos halten und ihm einen Prozeß an den Hals werfen wollte.

»Einen Prozeß! Und in Rußland! rief Alcide Jolivet; aber unter den obwaltenden Verhältnissen, bester College, wären Sie nicht im Stande, dessen Ende abzusehen. Da ist Ihnen die herrliche Geschichte von jener russischen Amme wohl nicht bekannt, welche der Familie ihres Säuglings gegenüber klagbar wurde, daß sie jenen weiter nähren wollte?

– Ich kenne sie nicht, entgegnete Harry Blount.

– Dann wissen Sie auch nicht, was aus jenem Säugling geworden war, als das Gericht das Endurtheil zu seinen Gunsten fällte?

– Und was, wenn ich bitten darf?

– Ja, mein Gott, ein Oberst der Gardehusaren war aus ihm geworden!«

Alle brachen in helles Gelächter aus.

Alcide Jolivet holte in dieser lustigen Stimmung sein Notizbuch hervor und bereicherte es, um einst in einem moskowitischen Wörterbuche zu figuriren, durch folgende Bemerkung:

»Teleg, ein in Rußland gebräuchlicher Wagen, wenn er abfährt mit vier, – wenn er ankommt mit zwei Rädern!«

Zwölftes Capitel

Zwölftes Capitel

Eine Herausforderung

Jekaterinenburg ist seiner geographischen Lage nach eine Stadt Asiens, denn es erhebt sich jenseit des Ural, auf den letzten Ausläufern der östlichen Berglehne. Trotzdem gehört es zu dem Gouvernement von Perm und bildet also einen Theil des ausgedehnten Gebietes des europäischen Rußlands. Dieser administrative Uebergriff muß wohl seinen Grund haben. Er betrifft ein Stück Sibirien, das zwischen den Kinnbacken Rußlands verblieb.

Weder Michael Strogoff noch die beiden Berichterstatter konnten in einer so großen, schon im Jahre 1723 gegründeten Stadt um die Beschaffung der nöthigen weiteren Reisegelegenheit in Verlegenheit kommen.

In Jekaterinenburg befindet sich die erste und bedeutendste Münzstätte des ganzen Reiches; dort domicilirt auch die kaiserliche Generaldirection der Erzbergwerke. Die Stadt bildet also einen wichtigen industriellen Mittelpunkt in einem Lande, wo Erzhütten, Gold- und Platinwäschereien fast im Ueberfluß vorhanden sind.

Zu jener Zeit hatte die Bevölkerung Jekaterinenburgs sich ganz ausnahmsweise stark vermehrt. Von dem feindlichen Einfall bedrohte Russen und Sibirier strömten dort zusammen nach ihrer Flucht aus den von Feofar-Khan’s Horden schon überflutheten Provinzen und vorzüglich aus dem Lande der Kirghisen, das sich im Südwesten des Irtysch bis zu den Grenzen von Turkestan ausdehnt.

Fehlten also die Beförderungsmittel sehr, um nach Jekaterinenburg zu gelangen, so waren sie dagegen im Ueberfluß vorhanden, um diese Stadt verlassen zu können. Bei der jetzigen Lage der Dinge fühlten die meisten Fremden kein besonderes Verlangen, sich nach Sibirien hinein zu begeben.

Unter eben diesen Umständen gelang es Alcide Jolivet und Harry Blount natürlich leicht, ihren Halbteleg durch einen completen Teleg zu ersetzen. Was Michael Strogoff betrifft, so gehörte der Tarantaß ja ihm an; letzterer hatte durch die Ueberschreitung der Uralkette auch nicht sonderlich gelitten, und es bedurfte nur des Vorspanns dreier flotter Pferde, um ihn schnell auf der Straße nach Irkutsk weiter zu befördern.

Bis Tiumen und selbst bis Novo-Zaimskoë verlief diese Straße noch sehr hügelig, denn sie wand sich bis dahin über die launenhaften Bodenerhebungen, welche die ersten Stufenwellen der Uralkette bilden. Jenseit der Etappe Novo-Zaimskoë aber begann die grenzenlose Steppe, die sich bis in die Nähe von Krasnojarsk erstreckt, d. h. über einen Raum von 1700 Werst (= 1815 Kilom.) Durchmesser.

Nach Ischim wollten sich die beiden Berichterstatter, wie wir es im Vorigen erfahren haben, zunächst begeben; diese Stadt liegt 630 Werst von Jekaterinenburg entfernt. Dort gedachten sie sich näher über den Verlauf der Ereignisse zu unterrichten, und beabsichtigten von hier aus nach den im Aufstand begriffenen Gegenden weiter zu ziehen, getrennt oder vereint, je nachdem ihr Jägerinstinct sie auf die eine oder die andere Fährte leiten würde.

Dieselbe Straße von Jekaterinenburg nach Ischim, – die sich auch nach Irkutsk fortsetzt, war aber auch diejenige, welche Michael Strogoff unbedingt benutzen mußte. Da er jedoch nicht dem Einsammeln von Tagesneuigkeiten nachging und das von den Rebellen besetzte Land eher zu vermeiden als aufzusuchen alle Ursache hatte, so war er für seinen Theil fest entschlossen, nirgends unnöthig eine Stunde zu verweilen.

»Meine Herrn, begann er also zu seinen neuen Begleitern, es wird mir sehr angenehm sein, einen Theil der bevorstehenden Reise in Ihrer Gesellschaft zurückzulegen, doch muß ich Sie im Voraus darauf aufmerksam machen, daß ich die größte Eile habe, in Omsk anzukommen, denn meine Schwester und ich wollen dort unsere Mutter treffen. Wer weiß, ob es uns überhaupt möglich werden wird, diese Stadt zu erreichen, bevor sie den Tartaren in die Hände fällt! Ich werde mich also auf den Relais nie längere Zeit aufhalten, als das Umspannen der Pferde erfordert, und werde Tag und Nacht reisen.

– Wir denken vorläufig nicht anders zu verfahren, bemerkte Harry Blount.

– Nun gut, erwiderte Michael Strogoff, so verlieren Sie auch keinen Augenblick. Miethen oder kaufen Sie einen Wagen, der ….

– Der so freundlich ist, fügte Alcide Jolivet hinzu, mit wohl verbundenem Vorder- und Hintertheil bei der nächsten Station anzukommen.«

Eine halbe Stunde später hatte der rührige Franzose denn auch ohne besondere Mühe einen Tarantaß aufgetrieben, der dem Michael Strogoff’s ziemlich ähnlich war und in welchem er mit seinem Begleiter sich sofort bequem einrichtete.

Michael Strogoff und Nadia nahmen ihre Plätze im Tarantaß ebenfalls wieder ein, und zu Mittag verließen beide Fuhrwerke zusammen Jekaterinenburg.

Nadia war endlich in Sibirien, auf jenem langen, weiten Wege, der nach Irkutsk führt! Welcher Art mochten die Gedanken der jungen Liefländerin da wohl sein? Drei hurtige Rosse zogen sie durch dieses Land der Verbannten, in dem ihr Vater, vielleicht lange und so unendlich weit von der geliebten Heimat zu leben verurtheilt war! Aber sie sah die unendlichen Steppen sich kaum vor ihrem Auge entrollen, jene Steppen, die sie beinahe selbst nicht einmal hätte betreten dürfen; ihr Blick schweifte hinaus über den entfernten Horizont, hinter dem sie das Gesicht des Verbannten suchte. Sie beobachtete nichts von der Landschaft, die sie mit einer Schnelligkeit von sechzehn Werst die Stunde durchflog, nichts von den Gegenden des westlichen Sibiriens, die sich von dem des östlichen so merklich unterscheiden. Hier begegnet man nur sehr selten angebauten Feldern, einem, mindest auf der Oberfläche, sehr mageren Boden, denn in seinem Innern birgt er neben einem Ueberfluß von Eisen auch viel Kupfer, Gold und Platin. Deshalb sieht man wiederholt wohl hüttengewerbliche Anlagen, aber fast nirgends landwirthschaftliche Ansiedelungen. Woher sollte man auch die nöthigen Arme nehmen, die Erde zu pflügen, die Felder zu besäen, die Erndten einzuholen, wenn es einträglicher ist, die Eingeweide der Erde mit Spitzhaue und Schlägel zu durchwühlen? Hier hat der Landbauer dem Bergmann den Platz geräumt. Die Hacke trifft man überall, den Spaten nirgends.

Manchmal lösten sich Nadia’s Gedanken indeß doch von den entlegenen Provinzen am Baikalsee los und richteten sich mit Interesse auf ihre gegenwärtige Lage. Das Bild ihres Vaters verwischte sich ein wenig und sie sah wieder ihren edelmüthigen Reisegefährten zuerst auf der Eisenbahn von Wladimir, wo sie die Vorsehung zum ersten Male mit ihm zusammen geführt hatte. Sie erinnerte sich seiner Aufmerksamkeit während der Fahrt, seines Erscheinens auf dem Polizei-Amte von Nishnij-Nowgorod, der wohlthuenden Einfachheit, mit der er sie mit der Bezeichnung Schwester anredete, seiner Sorgfalt für sie während der Fahrt auf der Wolga, endlich alles dessen, was er in der schrecklichen Gewitternacht im Ural gethan hatte, um mit Gefahr seines Lebens das ihrige zu retten!

Nadia dachte also an Michael Strogoff. Sie dankte Gott dafür, daß er ihr gerade diesen wachsamen Beschützer, diesen edelmüthigen und verschwiegenen Freund zugeführt hatte. Sie fühlte sich neben ihm, unter seinem Schutze vollkommen in Sicherheit. Ein wirklicher Bruder hätte nicht besser an ihr handeln können. Sie fürchtete jetzt kein Hinderniß mehr; sie war überzeugt, ihr Endziel zu erreichen.

Michael Strogoff selbst sprach nur wenig und gab sich vielmehr seinen Gedanken hin. Er dankte seinerseits Gott, daß er ihm durch diese Begegnung mit Nadia erstens ein Mittel gegeben habe, seine Individualität gegen Entdeckung besser zu sichern, und dann auch eine Gelegenheit, ein gutes Werk zu thun. Die ruhige Unerschrockenheit des jungen Mädchens erweckte die Sympathie seines muthigen Herzens. War sie nicht in der That seine Schwester? Er empfand für seine schöne heroische Begleiterin ebenso viel Hochachtung als Zuneigung. Er fühlte es, daß in ihr eines jener reinen und seltenen Herzen pulsire, auf welche man in jedem Fall zählen kann.

Seitdem er indeß den Boden Sibiriens durchzog, begannen für Michael Strogoff erst die eigentlichen Schwierigkeiten. Wenn die beiden Journalisten sich nicht etwa täuschten, wenn Iwan Ogareff wirklich die Grenze überschritten hatte, so mußte er überall mit der größten Vorsicht auftreten. Die Verhältnisse lagen hier umgekehrt, denn in den sibirischen Provinzen wimmelte es gewiß von tartarischen Spionen. Wurde sein Incognito gelüftet, seine Eigenschaft als Courier des Czaar erkannt, so war es um seine Mission, ja vielleicht um sein Leben geschehen. Michael Strogoff empfand die Verantwortlichkeit immer schwerer, die jetzt auf ihm lastete.

So gestalteten sich die Umstände in dem ersten Wagen, und wie sah es denn in dem zweiten aus? Ganz und gar wie gewöhnlich. Alcide Jolivet sprach in lustigen Sätzen, Harry Blount antwortete mit einsylbigen Brocken. Jeder sah die Sachen von dem ihm eigenen Standpunkte aus an und notirte sich Anmerkungen über Vorkommnisse während der Reise, Ereignisse, welche übrigens während dieses Zuges durch die ersten Gebietsteile Westsibiriens nicht von besonderem Gewichte waren.

Auf jedem Relais stiegen die beiden Berichterstatter aus und suchten Michael Strogoff auf. Sollte im Posthause nicht eine Mahlzeit eingenommen werden, so verließ Nadia den Tarantaß gar nicht. Beabsichtigte man zu frühstücken oder zu Mittag zu speisen, so nahm sie zwar mit an der Tafel Platz, hielt sich aber sehr zurückgezogen und betheiligte sich möglichst wenig bei der Unterhaltung.

Ohne jemals die Grenzen gebildeter Höflichkeit zu überschreiten, zeigte Alcide Jolivet doch für die junge Liefländerin, die er übrigens reizend fand, stets die größte Sorgsamkeit. Er bewunderte die schweigsame Energie, die sie den Strapazen einer unter so beschwerlichen Umständen ausgeführten Reise gegenüber zeigte.

Diese Zeiten gezwungenen Aufenthaltes gefielen Michael Strogoff nur sehr mittelmäßig. Auf jedem Relais trieb er zuerst zur Weiterfahrt, feuerte die Postmeister au, ließ die Jemschiks nicht zu Athem kommen und beeilte das Anspannen. War dann die Mahlzeit im Fluge verzehrt – gewöhnlich zu schnell und zum großen Leidwesen Harry Blount’s, der nun einmal ein methodischer Esser war, – so fuhr man ab, die Journalisten gleichfalls als Adler, denn sie bezahlten fürstlich und, wie Alcide Jolivet sagte, »als und mit russischen Adlern«. Eine russische Geldmünze im Werthe von 5 Rubeln.

Es versteht sich von selbst, daß Harry Blount sich des jungen Mädchens wegen in keinerlei Unkosten steckte. Es war das einer der wenigen Unterhaltungsgegenstände, über welche er mit seinem Gefährten nicht gern plauderte. Der ehrenwerthe Gentleman hatte nicht die Gewohnheit, zwei Sachen auf einmal zu thun.

Als Alcide Jolivet ihn einmal so nebenbei fragte, wie alt die junge Liefländerin wohl sein möge, antwortete er ganz ernsthaft und mit halbgeschlossenen Augen:

»Welche junge Liefländerin?«

– Nun, zum Kukuk, die Schwester Nicolaus Korpanoff’s.

– Das ist seine Schwester?

– Nein, seine Großmutter! versetzte Alcide Jolivet, den dieses Phlegma außer Fassung brachte. – Nun, welches Alter trauen Sie ihr zu?

– Wäre ich bei ihrer Geburt anwesend gewesen, so würde ich es wissen!« antwortete einfach Harry Blount, der sich offenbar nicht weiter einlassen wollte.

Der Landstrich, durch den die beiden Tarantaß dahinrollten, war fast vollkommen verlassen. Das Wetter blieb ziemlich gut, der Himmel leicht bewölkt, die Temperatur erträglich. Mit besser auf Federn befestigten Wagen hätten sich die Reisenden nach keiner Seite zu beklagen gehabt. Sie kamen wie mit den Berlinen der russischen Post, d. h. ungemein schnell vorwärts.

Wenn das Land aber verlassen schien, so lag das nur in den gegenwärtigen Verhältnissen. Auf den seltenen Feldern fanden sich nur wenig oder gar keine sibirischen Bauern mit ihrem bleichen und ernsten Gesicht, welche Bauern eine berühmte Reisende mit den Castiliern verglichen hat, nur fehlt ihnen deren trotziger Stolz. Da und dort verriethen auch schon einige verlassene Dörfer die Annäherung der tartarischen Heerhaufen. Die Einwohner waren unter Mitführung ihrer Heerden von Schafen, Kameelen und Pferden nach den nördlicheren Ebenen entflohen. Einige treu gebliebene Stämme der großen Kirghisenhorde hatten ihre Zelte gleichfalls über den Irtysch und Obi hinaus geschafft, um den Plünderungen der Eindringlinge zu entgehen.

Glücklicher Weise erlitt der Postbetrieb hier noch keine Störung, so wenig wie das Telegraphenwesen, so weit der ununterbrochene Draht eben noch reichte. Auf jedem Relais lieferten die Postmeister Pferde zu den vorschriftsmäßigen Bedingungen. Auf jeder Station befanden sich die Beamten an ihren Schaltern zur Beförderung der aufgegebenen Telegramme, welche höchstens durch die vielen Staatsdepeschen einige Verzögerung erfuhren. Auch Harry Blount und Alcide Jolivet machten von dem Telegraphen ausgiebigen Gebrauch.

Bis hierher ging Michael Strogoff’s Reise also unter befriedigenden Umständen von Statten. Der Courier des Czaar hatte sich nirgends verspätet, und wenn es ihm gelang, die Spitze der von Feofar-Khan über Krasnojarsk hinaus geschobenen Heereshaufen noch zu umgehen, war er auch sicher, vor ihnen und in der kürzesten bis jetzt gebrauchten Zeit in Irkutsk anzulangen.

Am folgenden Tage, nachdem die beiden Tarantaß Jekaterinenburg verließen, erreichten sie um sieben Uhr Morgens die kleine Stadt Tuluguisk nach Zurücklegung einer Strecke von 220 Werst, ohne daß sich dabei ein irgend nennenswerther Zufall ereignet hätte.

Dort wurde dem Frühstück ein halbes Stündchen gegönnt. Gleich darauf eilten die Reisenden mit einer Geschwindigkeit weiter, welche nur das Versprechen einer gewissen Summe Kopeken erklärlich machte.

Denselben Tag, den 22. Juli, langten die beiden Fuhrwerke sechzig Werst weiter in Tiumen an.

Tiumen, dessen normale Bevölkerung gegen 10 000 Seelen zählt, beherbergte jetzt wohl die doppelte Zahl. Diese Stadt, übrigens das erste von den Russen in Sibirien gegründete Industriestädtchen, dessen schöne metallurgische Werkstätten und Glockengießereien weithin bekannt sind, bot noch nie vorher einen so belebten Anblick.

Die beiden Correspondenten begaben sich sofort auf die Jagd nach Neuigkeiten. Was die sibirischen Flüchtlinge vom Kriegsschauplatze mittheilten, klang nicht eben sehr tröstlich.

Man sagte unter Anderem, die Armee Feofar-Khan’s nähere sich in Eilmärschen dem Thale des Ischim, und man bestätigte mehrfach, daß der Tartarenchef sich sehr bald mit dem Oberst Iwan Ogareff die Hand bieten werde, wenn das nicht gar schon geschehen sei. Man folgerte daraus ganz richtig, daß die Operationen bald mit mehr Nachdruck im Osten Sibiriens geführt werden würden.

Die russischen Truppen mußten ihrer Mehrzahl nach erst aus den europäischen Provinzen herangezogen werden, und standen noch viel zu entfernt, um sich dem Einfall entgegen werfen zu können. Dagegen bewegten sich die Kosaken des Gouvernements Tobolsk in forcirten Märschen auf Tomsk zu und hofften die Tartarenschwärme dort abzuschneiden.

Um acht Uhr Abends hatten die Tarantaß weitere fünfundsiebzig Werst zurückgelegt und kamen in Jalutorowsk an.

Man wechselte rasch die Pferde und passirte gleich außerhalb der Stadt auf einer Fähre den Tobolfluß. Sein sehr friedliches Gewässer erleichterte diese Ueberfahrt, welche sich im weiteren Verlauf der Fahrt noch mehrmals, und dann wohl unter minder günstigen Umständen wiederholen mußte.

Gegen Mitternacht wurde, fünfundfünfzig Werst weiter, der Flecken Novo-Saimsk erreicht und nun ließen die Reisenden endlich den leicht wellenförmigen Boden mit seinen waldbedeckten Hügeln, den letzten Wurzeln der Uralberge, hinter sich.

Hier begann nun wirklich die eigentliche sibirische Steppe, die sich bis in die Nachbarschaft von Krasnojarsk ausdehnt. Das war die Ebene ohne Grenzen, eine Art mit Gräsern bestandener Wüste, an deren Umfang sich Himmel und Erde, wie in einem mit dem Zirkel geschlagenen Bogen berührten. Diese Steppe bot dem Auge keine anderen Haltepunkte, als die Telegraphenpfähle zu beiden Seiten der Straße, längs der die Drähte leise, wie die Saiten einer riesigen Aeolsharfe, bei dem sanften Winde erklangen. Der Weg unterschied sich im Uebrigen von der weiten Ebene nur durch den seinen Staub, der unter den Rädern der Tarantaß aufwirbelte. Ohne dieses weißliche Band, das sich hinzog, so weit man sehen konnte, hätte man geglaubt, in der Wüste zu sein.

Durch die Steppe jagten Michael Strogoff und seine Gefährten mit noch größerer Schnelligkeit. Die von den Jemschiks angetriebenen Pferde hatten kein besonderes Hinderniß zu überwinden, und der Weg verschwand sichtbar hinter ihnen. Die Tarantaß flogen direct auf Ischim zu, woselbst die beiden Correspondenten zunächst bleiben wollten, wenn kein besonderer Zwischenfall ihre Absichten kreuzte.

Zweihundert Werst etwa trennen Novo-Saimsk von der Stadt Ischim, und am Morgen des andern Tages sollten und konnten diese zurückgelegt sein, vorausgesetzt, daß man eben keinen Augenblick verlor. In den Augen der Jemschiks verdienten die Reisenden, wenn sie nicht wirklich große Herren oder hohe Beamte waren, doch, es zu sein, mochte diese Ansicht auch nur in der Freigebigkeit bezüglich der vertheilten Trinkgelder begründet sein.

Am andern Tage, dem 23. Juli, befanden sich die beiden Tarantaß in der That nur noch dreißig Werst von Ischim.

Da bemerkte Michael Strogoff auf der Straße und vor einer wallenden Staubwolke kaum sichtbar, daß noch ein Wagen dem seinigen vorausfuhr. Da seine weniger ermüdeten Pferde sehr schnell liefen, mußte er diesen offenbar bald einholen.

Jenes war weder ein Tarantaß, noch ein Teleg, sondern eine Postkutsche; über und über mit Staub bedeckt, schien sie einen weiten Weg hinter sich zu haben. Der Postillon schlug unausgesetzt auf seine Gäule los und suchte sie mit Zurufen und mit der Peitsche im Galop zu erhalten. Diese Berline hatte Novo-Saimsk offenbar nicht passirt. Sie mußte auf die Straße nach Irkutsk über irgend einen verlorenen Weg durch die Steppe gelangt sein.

Als Michael Strogoff und seine Begleiter die Berline sahen, hatten sie Alle nur den nämlichen Gedanken, sie zu überholen, vor ihr beim Relais anzukommen und sich der disponiblen Pferde zu versichern. Nur eines Wortes an ihre Jemschiks bedurfte es, und sie befanden sich bald zur Seite der von ihren ermatteten Rossen dahin geschleppten Berline.

Michael Strogoff langte zuerst neben ihr an.

Eben wurde ein Kopf hinter dem Vorhang der Berline sichtbar.

Michael Strogoff hatte kaum Zeit diesen wahrzunehmen. So schnell er indessen vorübereilte, so hörte er den Fremden doch mit befehlendem Tone ihm zurufen:

»Anhalten!«

Die Wagen hielten aber nicht an, im Gegentheil ward die Berline schnell überholt.

Nun kam es zu einem wahren Wettrennen, denn die durch den schnellen Lauf der vorübersausenden Pferde jedenfalls angeregte Bespannung der Berline gewann die Kraft, einige Minuten mit Curs zu halten. Die drei Fuhrwerke verschwanden in einer Wolke von Staub. Aus dieser weißlich-grauen Masse erschallte wie ein Raketenfeuer das Knallen der Peitschen, vermischt mit den aufmunternden oder scheltenden Zurufen der Kutscher.

Alles in Allem blieb aber Michael Strogoff mit seinen Begleitern im Vorsprung, – ein Vorsprung, der von Bedeutung werden konnte, wenn das Relais mit nur wenigen Pferden versehen war. Zwei Wagen zu bespannen, das verlangte vielleicht mehr, als der Postmeister, wenigstens kurze Zeit nach einander, wohl zu leisten vermochte.

Eine halbe Stunde später sah man die weit überholte Berline kaum noch als ein Pünktchen am Horizonte der Steppe.

Es war acht Uhr Abends, als die beiden Tarantaß am Posthause, gleich am Eingange der Stadt Ischim anlangten.

Die Nachrichten über den Einfall lauteten immer und immer schlimmer. Die Stadt selbst war schon unmittelbar von der Vorhut der Tartarenhaufen bedroht und schon vor zwei Tagen hatten sich die Staatsbehörden auf Tobolsk zurückgezogen. Ischim besaß jetzt weder einen Beamten noch einen Soldaten.

Michael Strogoff verlangte sofort nach der Ankunft bei dem Relais für sich frische Pferde.

Er hatte sehr wohl daran gethan, die Berline noch auszustechen. Gerade drei Pferde nur waren in dem Zustande, sogleich angeschirrt zu werden. Die andern lagen erschöpft von irgend einem kurz zuvor zurückgelegten langen Wege in den Stallungen.

Der Postmeister gab Befehl, den Tarantaß zu bespannen.

Die beiden Correspondenten brauchten sich um sofortige Weiterbeförderungsmittel nicht zu sorgen, da sie es für gerathen hielten, vorläufig in Ischim zu verweilen; sie ließen also nur ihren Wagen in einer Remise des Posthofes unterbringen.

Zehn Minuten nach der Einfahrt in das Relais erhielt Michael Strogoff die Meldung, daß sein Tarantaß zum Abfahren bereit sei.

»Gut«, erwiderte er.

Dann wendete er sich zu den beiden Journalisten.

»Meine Herren, begann er, da Sie in Ischim zu bleiben gedenken, ist wohl die Zeit des Abschieds für uns gekommen.

– Wie, Herr Korpanoff, antwortete Alcide Jolivet, werden Sie sich nicht ein Stündchen lang auch in Ischim aufhalten?

– Nein, Herr Jolivet, es liegt mir etwas daran, das Posthaus verlassen zu haben, bevor die von uns überholte Berline hier eintrifft.

– Fürchten Sie, daß der nachkommende Reisende Ihnen die Postpferde streitig machen könnte?

– Ich suche gern jede Schwierigkeit zu vermeiden.

– Dann, Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, hätten wir nur nochmals für den uns geleisteten Dienst zu danken, sowie für das Vergnügen, welches es uns bereitete, mit Ihnen zu reisen.

– Es ist übrigens möglich, setzte Harry Blount hinzu, daß wir uns nach Verlauf einiger Tage in Omsk wieder begegnen.

– Das könnte wohl sein, bestätigte Michael Strogoff, da ich direct dorthin abgehe.

– Also glückliche Reise, lieber Herr Korpanoff, sagte Alcide Jolivet, und Gott bewahre Sie vor allen Telegs.«

Die beiden Correspondenten ergriffen die Hände Michael Strogoff’s, um sie ihm zum Abschiede recht warm und herzlich zu drücken, als von draußen das Heranrollen eines Wagens hörbar wurde.

Fast gleichzeitig ward das Thor des Gebäudes stürmisch aufgerissen und erschien in demselben eine männliche Gestalt.

Es war das der Insasse jener Berline, ein Mann von militärischem Aussehen, der gegen vierzig Jahre zählen mochte, von hoher, kräftiger Gestalt, mächtigem Kopfe, breiten Schultern und mit einem martialischen Schnurrbart, der unmittelbar in den röthlichen Backenbart überging. Er trug eine Uniform ohne Gradabzeichen. Ein Cavalleriesäbel hing an seiner Seite und eine Peitsche mit kurzem Stiel hatte er in der Hand.

»Pferde!« rief er mit herrischem Tone, aus dem man seine Gewohnheit zu befehlen leicht heraushörte.

– Ich habe augenblicklich keine Pferde zur Verfügung, antwortete der Postmeister mit einer höflichen Verbeugung.

– Ich brauche solche aber im Augenblick.

– Es ist unmöglich.

– Was sind das für Pferde, welche ich eben vor der Thür des Relais an den Tarantaß gespannt sah?

– Sie sind von diesem Reisenden belegt, erwiderte der Postmeister mit einem Hinweis auf Michael Strogoff.

– So spanne man sie wieder ab! …« sagte der Reisende in einem Tone, der jeden Widerspruch fast abschnitt.

Michael Strogoff trat einen Schritt vor. »Jene Pferde sind von mir bestellt, sagte er.

– Thut nichts! Ich brauche sie! Vorwärts – lebhaft! Ich habe keine Zeit zu verlieren.

– Mir ist jeder Augenblick nicht minder kostbar«, erwiderte Michael Strogoff, der ruhig bleiben wollte und sich doch nur mit Mühe zurückhalten konnte.

Nadia trat an seine Seite. Auch sie erschien äußerlich ruhig und doch fürchtete sie innerlich einen Auftritt, den sie gern vermieden gesehen hätte.

»Genug der Worte!« versetzte der fremde Reisende.

Dann wandte er sich an den Postmeister:

»Sie lassen jenen Tarantaß wieder abschirren, rief er und bekräftigte seinen Befehl durch eine drohende Geberde; die Pferde werden sofort vor meine Berline gespannt.«

In seiner Verlegenheit wußte der Postmeister jetzt nicht, wem er gehorchen sollte, und sah Michael Strogoff an, dessen Sache es doch war, den unberechtigten Anforderungen des Fremden entgegenzutreten.

Michael Strogoff zauderte einen Augenblick. Er wollte sich der Hilfe seines Podaroshna, der die Aufmerksamkeit Aller auf ihn lenken mußte, nicht bedienen, er wollte aber ebenso wenig durch Ueberlassung der Pferde seine Reise verzögern, und außerdem lag es ihm am Herzen, keinen zwecklosen Streit zu provociren, der die Ausführung seiner Mission hätte in Frage stellen können.

Die beiden Journalisten hielten die Blicke auf ihn gerichtet, offenbar bereit ihm beizustehen, wenn er ihre Unterstützung anrufen sollte.

»Meine Pferde werden an meinem Wagen bleiben«, sagte Michael Strogoff, aber ohne den Ton dabei mehr zu erheben, als es für einen einfachen sibirischen Kaufmann passend erschien.

Der Fremdling schritt auf Michael Strogoff zu und sprach, indem er seine Hand derb auf dessen Schulter fallen ließ: »Also so steht es! Du weigerst Dich, mir Deine Pferde abzutreten?

– Gewiß, antwortete Michael Strogoff.

– Nun gut, so werden sie dem gehören, der nachher noch im Stande ist weiter zu reisen! Vertheidige Dich – ich schone Dich nicht!«

Bei diesen Worten riß der Fremde hastig seinen Pallasch aus der Scheide und legte sich zum Fechten aus.

Nadia stürzte sich zwischen ihn und Michael Strogoff.

Harry Blount und Alcide Jolivet traten an seine Seite.

»Ich werde mich nicht schlagen, antwortete Michael Strogoff gelassen, und kreuzte, wie um sich sicherer zu bezwingen, die Arme vor der Brust.

– Du wirst Dich nicht schlagen?

– Nein.

– Auch hiernach nicht?« schrie der Reisende.

Und bevor man ihn zurückhalten konnte, traf der Griff seiner Hetzpeitsche Michael Strogoff’s Schulter.

Bei dieser frechen Beleidigung schwand jeder Tropfen Blut aus den Wangen des jungen Mannes. Seine Hände hoben sich krampfhaft, als wollten sie den rohen Gegner zermalmen. Nur mit äußerster Anstrengung blieb er seiner mächtig. Ein Duell, – das war mehr, als eine Verzögerung, das konnte ihn seine Mission gänzlich verfehlen lassen! … Es schien ihm besser, einige Stunden zu opfern! … Gut, aber diesen Insult sollte er still verwinden!

»Nein! antwortete Michael Strogoff auf jene Herausforderung, ohne den Raufbold eines weiteren Wortes zu würdigen, während er dem Fremden aber fest in’s Auge sah.

– Die Pferde für mich! Und augenblicklich!« herrschte Jener.

Er verließ mit diesen Worten das Zimmer.

Der Postmeister folgte ihm sofort, zuckte aber verwundert mit den Schultern und warf Michael Strogoff einen keineswegs zustimmenden Blick zu.

Die Wirkung, welche dieser Zwischenfall auf die beiden Journalisten hervorbrachte, konnte Michael Strogoff nicht besonders günstig sein. Sie erschienen sichtlich enttäuscht. Dieser kraftstrotzende junge Mann ließ sich schlagen und forderte auch für eine solche rohe Beleidigung keine Genugthuung! Sie grüßten zum Abschied etwas verlegen und zogen sich zurück, wobei Alcide Jolivet zu Harry Blount sagte:

»Das hätte ich nimmermehr geglaubt von einem Manne, der die Bären des Ural so im Handumdrehen aufschlitzt! Sollte es doch wahr sein, daß der Muth seine Stunden und seine gewissen Formen hat? Die Sache ist mir unverständlich. Uns Andern könnte hier vielleicht nur das Eine abgehen, daß wir niemals Leibeigene gewesen sind.«

Kurze Zeit darauf verrieth das Rollen von Rädern und das Knallen einer Peitsche, daß die mit den Pferden des Tarantaß bespannte Berline das Posthaus verließ.

Nadia blieb gelassen, Michael Strogoff noch leise vor Aufregung zitternd in dem Wartesaale des Relais zurück.

Der Courier des Czaar hatte sich mit noch immer untergeschlagenen Armen niedergesetzt. Er unterschied sich kaum von einer Bildsäule. Nur hatte eine tiefe Röthe, welche einer Schamröthe dennoch nicht ähnlich sah, die frühere Blässe seines Gesichtes verdrängt.

Für Nadia lag es außer allem Zweifel, daß nur die gewichtigsten Gründe einen solchen Mann veranlassen konnten, einen derartigen Bubenstreich ungestraft hingehen zu lassen.

Ruhig ging sie auf ihn zu, ganz so, wie er sich ihr auf dem Polizeiamte in Nishnij-Nowgorod genähert hatte.

»Deine Hand, Bruder!« redete sie ihn an.

Dabei fing ihre Hand bei einer fast mütterlich-zärtlichen Bewegung eine Thräne auf, die sich aus dem Auge ihres Begleiters hervordrängte.

Dreizehntes Capitel

Dreizehntes Capitel

Die Pflicht über Alles!

Nadia hatte es durchschaut, daß irgend ein wichtiges Geheimniß die Handlungsweise Michael Strogoff’s bestimmte, daß dieser, aus welchem Grunde wußte sie nicht, sich nicht selbst angehörte, nicht das Recht hatte, über seine Person zu verfügen, und daß er unter diesen Umständen sich heroisch seiner Pflicht zum Opfer brachte, selbst gegenüber einer so frechen, tödtlichen Beleidigung.

Nadia vermied es, von Michael Strogoff irgend eine Erklärung zu beanspruchen. Der Postmeister vermochte frische Pferde vor dem kommenden Morgen nicht zu beschaffen; man mußte demnach die ganze Nacht auf dem Relais zubringen. Für Nadia hatte das den Vortheil, ihr einmal die so nöthige Ruhe nach den Strapazen der letzten Tage zu gewähren. Es wurde für sie also ein Zimmer zurecht gemacht.

Gewiß wäre das junge Mädchen lieber bei ihrem Reisegefährten geblieben, aber sie fühlte doch auch die Nothwendigkeit, allein zu sein, und schickte sich an, das für sie bestimmte Zimmer aufzusuchen.

Unmöglich war es ihr aber, sich zurück zu ziehen, ohne sich von Jenem wenigstens zu verabschieden.

»Lieber Bruder …«, flüsterte sie noch einmal.

Aber Michael Strogoff unterbrach sie durch eine abwehrende Bewegung. Ein Seufzer entrang sich der Brust des jungen Mädchens, und schweigend verließ sie das Zimmer.

Michael Strogoff legte sich nicht nieder. Er hätte unmöglich Schlaf finden können. Die Stelle seiner Schulter, welche die Peitsche des brutalen Reisenden getroffen hatte, brannte ihm wie Feuer.

»Für das Vaterland und für dessen Vater!« murmelte er endlich am Schlusse eines stillen Abendgebetes.

Jedenfalls empfand er aber eine unbesiegbare Begierde, zu wissen, wer der Mann sein möge, der ihn zu schlagen gewagt hatte, woher er käme, wohin er ginge. Die Gesichtszüge desselben hatten sich seinem Gedächtniß so tief eingeprägt, daß er nie zu befürchten brauchte, dieselben zu vergessen.

Michael Strogoff ließ den Postmeister rufen.

Dieser, ein Sibirier von altem Schlage, kam sofort, sah den jungen Mann etwas über die Achsel an und erwartete dessen Begehren.

»Du bist selbst aus diesem Lande?

– Ja.

– Kennst Du den Mann, der meine Pferde nahm?

– Nein.

– Du hast ihn nie vorher gesehen?

– Niemals.

– Wer glaubst Du mochte jener Fremde sein?

– Ein großer Herr, der seinen Willen durchzusetzen weiß!«

Wie ein Dolchstoß traf Michael Strogoff’s Blick den Sibirier bis in’s Herz, aber der Postmeister rührte die Augenlider nicht.

»Du unterstehst Dich, über mich abzuurtheilen? rief Michael Strogoff.

– Ja, antwortete der Sibirier, denn es handelte sich hier um Dinge, die auch ein einfacher Kaufmann nicht ohne Abwehr hinnimmt.

– Den Schlag mit der Peitsche meinst Du?

– Den Peitschenschlag, junger Mann! Ich bin in den Jahren und in der Lage, Dir das sagen zu können.«

Michael Strogoff näherte sich dem Postmeister und legte ihm seine beiden wuchtigen Hände auf die Schultern.

Dann sagte er mit besonders gemäßigter Stimme:

»Geh‘ Deines Weges, guter Freund! – Geh‘, ich könnte Dich umbringen!«

Diesmal hatte der Postmeister ihn nicht mißverstanden. »So sehe ich Dich lieber«, sagte er noch halblaut.

Ohne ein weiteres Wort verließ er den Wartesaal.

Andern Tags, am 24. Juli, stand der Tarantaß Morgens acht Uhr mit drei muthigen Rossen bespannt bereit. Michael Strogoff und Nadia nahmen Platz, und Ischim, für Beide eine Stadt mit so betrübender Erinnerung, verschwand bald hinter einer Biegung der Straße.

Auf den verschiedenen Relais, welche Michael Strogoff im Laufe des Tages berührte, konnte er sich überzeugen, daß die Berline ihm immerfort auf dem Wege nach Irkutsk vorausfuhr und daß der Reisende, der es offenbar ebenso eilig hatte wie er, keinen Augenblick verlor, die Steppe zu durchjagen.

Gegen vier Uhr Abends mußte, fünfundsiebzig Werst weiter, bei der Station Abatskaja, der Ischimfluß, einer der bedeutendsten Nebenarme des Irtysch, überschritten werden.

Die Ueberfahrt war etwas schwieriger, als jene über den Tobol. Die Strömung des Ischim ist nämlich gerade an dieser Stelle eine besonders heftige. Während des sibirischen Winters sind alle diese Steppenflüsse, welche der Frost mit mehrere Fuß dickem Eise belegt, leicht zu passiren; ihr Bett verschwindet dann unter der ungeheuren weißen Decke, welche sich über die ganze Hälfte des größten Erdtheils lagert; im Sommer können sie dagegen dem Verkehr nicht unerhebliche Schwierigkeiten bereiten.

Zwei volle Stunden gingen mit der Ueberfahrt über den Ischim hin, – zwei Stunden, welche Michael Strogoff schon an sich fast zur Verzweiflung brachten, noch viel mehr aber, als die Ruderknechte ihm sehr beunruhigende Nachrichten von dem Tartareneinfalle mittheilten.

Diese lauteten etwa folgendermaßen:

Einzelne Plänkler von Feofar-Khan’s Truppen waren schon an beiden Ufern des unteren Ischim, in den südlichen Landstrichen des Gouvernements Tobolsk erschienen. Omsk war sehr bedroht. Man sprach unter der Hand von einem Treffen zwischen den sibirischen und tartarischen Heerhaufen an der Grenze des Gebietes der großen Kirghisenhorde, – ein Treffen, das für die auf diesem Punkte viel zu schwachen Russen nicht zum Vortheile ausgefallen sein konnte, denn deren Truppen wandten sich zum Rückzug, der gleichzeitig eine allgemeine Auswanderung der in jenen Gegenden ansässigen Bauern zur Folge hatte. Man erzählte sich von haarsträubenden Frevelthaten der Eindringlinge, von Plünderungen, Diebstählen, Brandstiftungen und Mordthaten. Das war die gewohnte Kriegführung der Tartaren. Von allen Seiten suchte man also den Vortruppen Feofar-Khan’s zu entfliehen. Bei dieser Entvölkerung der Flecken und Dörfer fürchtete Michael Strogoff vor Allem, daß es ihm an den nöthigen Vorspannpferden zur Weiterreise fehlen könne. Er beeilte also seine Ankunft in Omsk auf jede mögliche Weise. Jenseits dieser Stadt schien es eher möglich, den tartarischen Plänklern, die längs des Irtysch herabkamen, zuvor zu kommen und die noch freie Straße nach Irkutsk zu erreichen.

Der Tarantaß überschritt den Fluß übrigens gerade am Ende der Stelle, welche man in der Militärsprache als »die Ischimsperre« bezeichnet, eine Reihe von hölzernen Thürmen und Fortificationsanlagen, die sich von der südlichen Grenze Sibiriens in einer Länge von 400 Werst (= 427 Kilometer) nach Norden ausdehnt. Sonst waren die Blockhäuser u. s. w. von Kosakenabtheilungen besetzt und sicherten die Umgebung ebenso wohl gegen Uebergriffe der Kirghisen, wie gegen solche der Tartaren. Als die moskowitische Regierung diese Horden aber für vollständig unterworfen hielt, hatte man sie verlassen, und sie konnten nun nichts mehr nützen, obschon sie gerade jetzt hätten recht vortheilhaft vertheidigt werden können. Der größte Theil dieser Blockhäuser lag in Asche, und einige Rauchwolken, auf welche die Ruderer Michael Strogoff aufmerksam machten, bezeugten, am fernen Horizonte aufziehend, die Annäherung der tartarischen Vorhut.

Sobald die Fähre den Tarantaß nebst Bespannung an das rechte Flußufer befördert hatte, ward der Weg durch die Steppe in möglichster Geschwindigkeit weiter fortgesetzt.

Es war sieben Uhr Abends, der Himmel gleichmäßig verschleiert. Wiederholt fiel ein kurzer, aber heftiger Regen, der den Vortheil hatte, den Staub zu löschen und den Weg eher zu bessern.

Von dem Relais in Ischim aus verharrte Michael Strogoff in trübem Schweigen, ohne daß er deshalb die gewohnte Sorgfalt aus den Augen verlor, Nadia die Anstrengungen einer solchen Fahrt ohne Ruhe und Rast möglichst zu erleichtern, wenn auch nie eine Klage über des jungen Mädchens Lippen kam. Wie gern hätte sie den Pferden des Tarantaß Flügel verliehen! Ein unbekanntes Etwas rief ihr zu, daß ihr Begleiter wohl noch mehr Eile habe, in Irkutsk anzukommen, als sie selbst; und wie viele Werst trennten sie jetzt noch von diesem Ziele!

In ihr stieg auch der Gedanke auf, daß bei einer Besetzung von Omsk durch die Tartaren Michael Strogoff’s alte Mutter, welche ja in dieser Stadt wohnte, manchen Gefahren ausgesetzt war, die ihren Sohn auf’s schmerzlichste beunruhigen mußten, und daß hierin wohl ein hinreichender Erklärungsgrund zu finden sei für seine Ungeduld, möglichst schnell bei ihr einzutreffen.

Nadia hielt es also für gerathen, gelegentlich von der alten Marfa zu ihm zu sprechen, von der Vereinsamung, in der sie sich inmitten dieser so ernsthaften Ereignisse befand.

»Du hast seit dem Anfange des Tartareneinfalles von Deiner Mutter keine Nachricht erhalten? fragte sie.

– Nein, Nadia. Der letzte Brief meiner Mutter datirt schon von vor zwei Monaten, dieser enthielt jedoch nur günstige Nachrichten. Marfa ist eine energische Frau, eine Sibirierin mit offenem Auge. Trotz ihres Alters bewahrte sie bis jetzt noch ihre ganze moralische Energie. Sie weiß sich auch in mißliche Umstände zu schicken.

– Ich werde sie besuchen, Bruder, versetzte lebhaft das junge Mädchen. Da Du mir den Namen Schwester gegeben hast, bin ich auch Marfa’s Tochter!«

Michael Strogoff antwortete nicht sofort. »Vielleicht hat Deine Mutter Omsk schon verlassen können? fügte sie hinzu.

– Das ist wohl möglich, Nadia, erwiderte Michael Strogoff, und ich hoffe sogar, daß es ihr schon gelungen ist, in Tobolsk Zuflucht zu suchen. Die alte Marfa ist von Haß gegen die Tartaren erfüllt. Sie kennt die Steppe, sie hat keine Furcht, und ich wünschte, sie hätte ihren Stab ergriffen und wäre längs des Irtysch nach Norden gewandert. In der Provinz giebt es keinen Ort, der ihr unbekannt wäre. Wie oft hat sie das ganze Land an der Seite meines alten Vaters durchzogen, und wie oft bin ich, selbst noch als Kind, bei ihnen gewesen auf diesen Jagdzügen durch die sibirische Wüstenei! Gewiß, Nadia, ich hoffe, meine Mutter wird Omsk glücklich verlassen haben.

– Und wann denkst Du sie wieder zu sehen?

– Jedenfalls … auf der Rückreise.

– Wenn Deine Mutter aber noch in Omsk wäre, wirst Du ein Stündchen opfern, sie zu umarmen?

– Ich werde nicht erst zu ihr gehen.

– Du willst sie nicht einen Augenblick sehen?

– Nein, Nadia. ..! entgegnete Michael Strogoff, dessen Brust sich mühsam hob und der wohl einsah, daß er die Fragen des jungen Mädchens noch weiter zu beantworten nicht im Stande sei.

– Du sagst: Nein! Ach, Bruder, welche Ursachen könnten Dich, wenn Deine Mutter in Omsk ist, hindern sie zu sehen und zu besuchen?

– Welche Ursachen, Nadia? Du fragst mich nach den Gründen meiner Handlungsweise! rief Michael Strogoff mit einer so auffallend veränderten Stimme, daß das junge Mädchen fast dabei erzitterte. Aber wegen der Ursachen, die mich meinen Zorn überwinden ließen gegenüber jenem Elenden, dessen ….«

Er konnte den Satz nicht vollenden, die Zunge versagte ihren Dienst.

»Beruhige Dich, mein Bruder, redete ihn Nadia mit sanftester Stimme zu. Ich weiß nur Eines, oder vielmehr ich weiß es nicht, aber ich fühle es, daß jetzt nur ein Gefühl Dich ganz und gar beherrscht, das Gefühl einer noch heiligeren Pflicht, als die, welche den Sohn gegen die Mutter bindet!«

Nadia schwieg und vermied auch von diesem Augenblicke ab jedes Gespräch, welches zu der gegenwärtigen eigenthümlichen Lage Michael Strogoff’s irgend Bezug haben konnte. Hier lag ein Geheimniß, gewiß ein wichtiges, vor. Sie achtete es aufrichtig.

Am andern Tage, dem 25. Juli, langte der Tarantaß um drei Uhr früh bei dem Postrelais zu Tjukalinsk an, nachdem er von der Ueberfahrtsstelle am Ischim gegen 120 Werst zurückgelegt hatte.

Schnell wurden die Pferde gewechselt. Indeß erhob hier zum ersten Male der Jemschik Einspruch gegen die Weiterfahrt mit dem Bemerken, daß Tartarenabtheilungen durch die Steppe streiften und daß Reisende, Pferde und Wagen für jenes Raubgesindel eine erwünschte Beute sein würden.

Michael Strogoff besiegte den Widerwillen des Jemschiks nur mit klingender Münze, denn in diesem wie in mehreren anderen Fällen wollte er von seinem Podaroshna keinen Gebrauch machen. Der letzte, durch den Telegraphen übermittelte Ukas war in den sibirischen Provinzen bekannt, und auf einen Russen lenkte sich dadurch, daß er von der Befolgung der in jenem enthaltenen Vorschriften speciell dispensirt war, schon die allgemeine Aufmerksamkeit, die der Courier des Czaar doch vor Allem zu vermeiden suchte. Sollten die ausgesprochenen Befürchtungen des Jemschiks vielleicht nur daher rühren, daß der Schlaukopf seine Rechnung auf die Ungeduld des Reisenden gründete? Oder war in der That jetzt ein unliebsames Abenteuer zu befürchten?

Endlich fuhr der Tarantaß ab und bewegte sich mit einer solchen Schnelligkeit weiter, daß er um drei Uhr Nachmittags Kulatsinskoë, in einer Entfernung von 80 Werst, glücklich erreichte. Eine Stunde später befand er sich an dem Ufer des Irtysch. Omsk lag von hier aus nur noch 20 Werst entfernt.

Dieser Irtysch ist ein bedeutender Strom, eine der sibirischen Hauptarterien, die ihre Wasser nach dem Norden Asiens hinabrollen. Entsprungen in den Altaïbergen, wendet er sich schräg von Südosten nach Nordwesten und mündet zuletzt, nach einem Stromlaufe von 700 Werst, in, den Obi ein.

Zu dieser Zeit des Jahres, der Periode des Hochwassers aller Ströme der sibirischen Niederung, war auch der Wasserstand des Irtysch ein ungewöhnlich hoher, so daß die heftige, fast reißende Strömung die Ueberschreitung des Flusses ziemlich schwierig machte. Auch der beste Schwimmer hätte sich wohl nicht hindurch zu arbeiten vermocht; ja, selbst eine Fähre, das einzige Mittel zur Ueberfahrt über den Irtysch, bot jetzt einige Gefahren.

Diese Gefahren aber konnten, ebenso wenig wie alle anderen, Michael Strogoff und Nadia auch nur einen Augenblick aufhalten, da Beide entschlossen waren, all‘ und jedem Hinderniß ohne Besinnen zu trotzen.

Inzwischen machte Michael Strogoff seiner jungen Begleiterin den Vorschlag, erst allein über den Fluß zu gehen, indem er sich auf der mit dem Fuhrwerk und der Bespannung beladenen Fähre einschiffen wollte, denn er fürchtete, daß das Gewicht dieser Ladung die Sicherheit der Fähre einigermaßen in Frage stellen könne. Nachdem er Pferde und Wagen am jenseitigen Ufer gelandet, wollte er zurückkehren, um Nadia abzuholen.

Nadia verweigerte diese Rücksichtnahme, welche eine volle Stunde Zeitverlust veranlaßt hätte, und sie wollte um ihrer persönlichen Sicherheit halber nie die Ursache einer Verzögerung sein.

Die Einschiffung ging nicht gar so leicht von statten, denn das Ufer stand jetzt theilweise unter Wasser und die Fähre konnte in Folge dessen nicht so nahe anlegen.

Nach halbstündiger Anstrengung brachte der Fährmann den Tarantaß und die drei Pferde glücklich auf dem Fahrzeug unter. Michael Strogoff, Nadia und der Jemschik schifften sich ein, und man stieß nun vom Ufer.

Während der ersten Minuten ging Alles ganz gut. Der Strom des Irtysch, der sich weiter stromauf an einer weit vorspringenden Landzunge brach, bildete hier eine Art Wirbel, welchen die Fähre leicht überwand. Die beiden Schiffer stießen das Fahrzeug mit zwei langen Stangen, deren sie sich sehr geschickt bedienten, vorwärts; je mehr sie sich aber der Mitte des Stromes näherten, desto mehr vertiefte sich dessen Bett, so daß von den Stangen kaum noch der obere Theil frei blieb, auf den jene sich mit der Schulter stemmten. Dieser Kopf der Stange ragte zuletzt kaum noch einen Fuß aus dem Wasser, was die Arbeit der Leute natürlich nicht wenig erschwerte.

Michael Strogoff und Nadia hatten im hinteren Theile der Fähre Platz genommen und beobachteten, immer in der Furcht eine Verzögerung zu erleiden, aufmerksam die Anstrengungen der Bootsführer.

»Achtung!« rief da der Eine hastig seinem Kameraden zu.

Diesen Zuruf veranlaßte eine unerwartete Wendung der Fähre, welche mit großer Geschwindigkeit vor sich ging. Sie ward direct von der Strömung des Flusses ergriffen und von dieser stromabwärts mit fortgerissen. Es handelte sich also darum, durch geschickte Handhabung der Stangen die Fähre wieder in schräge Linie gegen die Richtung der Wellenbewegung zu bringen. Die Bootsführer ließen nichts unversucht, und es gelang ihnen, wenn auch mit einiger Mühe, die Direction des Fahrzeugs wieder zu verändern und nach dem rechten Ufer zu etwas an Weg zu gewinnen.

Man konnte schon mit Sicherheit berechnen, daß das Fährboot fünf bis sechs Werst stromab von der Abfahrtsstelle das Ufer erreichen würde, was ja nicht von zu großer Bedeutung war, wenn nur Menschen und Thiere glücklich das Land erreichten.

Die beiden Bootsführer, kräftige Männer, welche noch das Versprechen eines reichlichen Fährgeldes besonders antrieb, setzten nicht den mindesten Zweifel in das glückliche Ueberschreiten des angeschwollenen Irtysch.

Dabei ließen sie freilich einen Zwischenfall außer Acht, den sie unmöglich voraussehen konnten, und weder ihr Eifer noch ihr Geschick hätten eben gegen diesen etwas auszurichten vermocht.

Die Fähre befand sich inmitten der Strömung, etwa in gleicher Entfernung von beiden Ufern, und schwamm mit der Schnelligkeit von zwei Werst in der Stunde mit jener thalabwärts, als Michael Strogoff sich erhob und mit gespannter Aufmerksamkeit die Blicke stromaufwärts richtete.

Er bemerkte in dieser Richtung einige Barken, die der Strom mit ungeheurer Schnelligkeit herabtrug, denn zu der der Wasserbewegung gesellte sich noch der Druck der Ruder, mit denen sie ausgerüstet waren.

Auf Michael Strogoff’s Stirn bildeten sich plötzlich einige Falten und ein leiser Schrei kam unwillkürlich über seine Lippen.

»Was giebt es?« fragte das junge Mädchen.

Aber bevor Michael Strogoff noch Zeit fand zu antworten, rief einer der Bootsführer mit erschrockener Stimme:

»Die Tartaren! Die Tartaren!«

Wirklich glitten einige von Bewaffneten besetzte Barken den Irtysch in größter Schnelligkeit hinab und mußten binnen wenigen Minuten die Fähre erreichen, welche viel zu tief im Wasser ging, um jenen schnell genug entweichen zu können.

Erschreckt durch diesen Anblick schrieen die Fährleute verzweifelt auf und verließen ihre Bootshaken.

»Muth, Muth, Freunde! rief ihnen Michael Strogoff zu! Fünfzig Rubel sind euer, wenn wir das Ufer noch vor der Ankunft jenes Raubgesindels erreichen!«

Dieses Versprechen belebte noch einmal die kleinmüthigen Fährleute so weit, daß sie mit dem Aufgebot aller Kräfte die scharfe Strömung zu durchschneiden suchten, aber dennoch zeigte sich bald die Unmöglichkeit, vor Ankunft der Tartaren zu landen.

Würden diese nun vorüberfahren, ohne die Fähre und ihre Insassen zu belästigen? Wahrscheinlich nicht! Im Gegentheil hatte man von diesen Barbaren Alles zu fürchten.

»Hab‘ keine Furcht, Nadia, sagte Michael Strogoff, aber bereite Dich vor auf Alles!

– Ich bin es, antwortete Nadia.

– Selbst Dich in den Fluß zu stürzen, wenn ich es verlangte?

– Auf Dein erstes Wort.

– Vertraue mir, Nadia.

– Ich vertraue Dir stets.«

Die Tartarenboote schwammen jetzt nur noch in einer Entfernung von hundert Schritten daher. Sie trugen eine Abtheilung bukharischer Soldaten, welche offenbar eine Recognoscirung von Omsk beabsichtigten.

Die Fähre befand sich jetzt noch zwei Schiffslängen weit vom Ufer. Die Schiffer verdoppelten ihre Anstrengungen. Auch Michael Strogoff sprang ihnen noch bei und ergriff einen Bootshaken, den er mit übermenschlicher Kraft handhabte. Vermochte er den Tarantaß noch auszuschiffen und im Galop davon zu fahren, so schimmerte ihm doch noch einige Hoffnung, den nicht berittenen Tartaren zu entgehen.

Aber alle Mühe, alle Anstrengung sollte vergeblich sein!

»Sarin na kitschu!« riefen die Soldaten aus dem ersten Boote.

Michael Strogoff verstand das Kriegsgeschrei der tartarischen Piraten, auf das es keine andere Antwort gab, als sich platt auf den Boden zu werfen.

Und da weder er selbst noch die Bootsführer diesem Befehle gehorchten, knatterte eine kräftige Gewehrsalve, von der zwei der Pferde tödtlich getroffen wurden.

Da – in diesem Augenblick, – folgte auch ein heftiger Stoß: die Barken waren an der Langseite der Fähre angelangt.

»Komm, Nadia!« rief Michael Strogoff, bereit sich mit ihr über Bord zu stürzen.

Eben wollte das junge Mädchen ihm nachfolgen, als Michael Strogoff von einem Lanzenstoße getroffen in den Strom fiel. Das Wasser riß ihn mit weg; einen Augenblick noch kämpften seine Arme über den Fluthen, dann verschwand er unter den wirbelnden Wellen.

Nadia hatte es mit einem Schrei gesehen; doch bevor sie noch Zeit gewann, sich Michael Strogoff nachzustürzen, ward sie ergriffen, weggeschleppt und in eines der Boote gefangen gesetzt.

Einen Augenblick nachher fielen die Bootsführer, von Lanzenstichen durchbohrt, und die Fähre trieb steuerlos weiter, während die Tartaren den Lauf des Irtysch weiter stromab ruderten.

Viertes Capitel

Viertes Capitel

Von Moskau nach Nishny-Nowgorod

Die Entfernung, welche Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (= 5523 Kilom.). Als noch kein Telegraphendraht den Zwischenraum zwischen den Bergen des Ural und der Ostküste Sibiriens überspannte, wurde der Depeschendienst durch Couriere versehen, deren schnellster mindestens achtzehn Tage bedurfte, um sich von Moskau nach Irkutsk zu begeben. Das war aber nur eine Ausnahme und dauerte die Reise durch das asiatische Rußland gewöhnlich vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel den Abgesandten des Czaaren zur Verfügung gestellt wurden.

Als ein Mann, der weder Frost noch Schnee fürchtete, hätte es Michael Strogoff vorgezogen, während der rauhen Winterszeit zu reisen, welche es erlaubt, die ganze Strecke zu Schlitten zurückzulegen. Dann sind alle Schwierigkeiten, mit denen man sonst des Fortkommens wegen zu kämpfen hat, bei der Nivellirung der endlosen Steppen durch den Schnee, merklich vermindert. Kein Wasserlauf tritt hindernd in den Weg. Ueberall die glatte Eisfläche, auf welcher der Schlitten leicht und schnell dahin gleitet. Zwar sind zu dieser Zeit gelegentlich wohl verschiedene Naturerscheinungen zu fürchten, wie andauernde, dicke Nebel, sehr strenge Kälte, lange andauerndes, furchtbares Schneetreiben, dessen Wirbel manchmal ganze Karawanen verwehen und begraben. Es kommt wohl auch vor, daß von Hunger gequälte Wölfe die Ebenen zu Tausenden bedecken. Doch immer wäre es noch besser gewesen, sich diesen Gefahren auszusetzen, denn bei solch‘ hartem Winter mußten die tartarischen Eindringlinge sich vorzugsweise in den Städten aufhalten, ihre Marodeure hätten die Steppen nicht unsicher gemacht, jede Truppenbewegung wäre unausführbar gewesen und Michael Strogoff leichter hindurch gekommen. Indeß er konnte weder Zeit noch Stunde selbst wählen. Wie auch die Umstände lagen, er mußte sie hinnehmen und abreisen.

Derart war also die Lage, welche Michael Strogoff klar überschaute, und er richtete sich darauf ein, sich mit ihr abzufinden.

Dazu kamen ihm nicht die gewöhnlichen Verhältnisse eines Couriers des Czaaren zu Statten. Im Gegentheil durfte Niemand während seiner Fahrt diese Eigenschaft vermuthen. In einem von Feinden überschwemmten Lande wimmelt es auch von Spionen. Ward er erkannt, so war auch seine Mission compromittirt. Auch als General Kissoff ihm eine bedeutende Summe einhändigte, welche zur Reise hinreichen und dieselbe nach Möglichkeit erleichtern mußte, gab er ihm keinerlei schriftliche Ordre mit der Bezeichnung: »Specialdienst des Kaisers«, das Sesam, dessen Kräfte nie versagen. Er begnügte sich, ihm nur einen »Podaroshna« auszustellen.

Dieser Podaroshna lautete auf den Namen eines Kaufmanns, Nicolaus Korpanoff, wohnhaft in Irkutsk. Er berechtigte denselben, sich gegebenen Falles von einer oder mehreren Personen begleiten zu lassen, und daneben enthielt er die ausdrückliche Bemerkung, daß er selbst dann giltig sei, wenn das Gouvernement von Moskau auch jedem Anderen den Austritt aus Rußland verbieten sollte.

Der Podaroshna war nichts Anderes, als ein Erlaubnißschein, Postpferde zu requiriren; Michael Strogoff aber sollte davon nur Gebrauch machen in dem Falle, wenn dieser Schein keinen Verdacht bezüglich seiner Eigenschaft hervorrufen konnte, d. h. so lange er sich auf europäischem Boden befand. Hieraus folgte, daß er in Sibirien, wenn er die aufständischen Provinzen durchreiste, sich nicht als Gebieter den Postrelais gegenüber benehmen, noch sich vor Anderen Pferde verschaffen, noch endlich Transportmittel für seine eigene Person requiriren konnte. Michael Strogoff durfte das nicht vergessen; er war nicht mehr ein Courier, sondern ein einfacher Kaufmann, Nicolaus Korpanoff, der sich von Moskau nach Irkutsk begab, und als solcher allen Zufälligkeiten einer gewöhnlichen Reise unterworfen.

Unbemerkt hindurch zu kommen – ob mehr oder weniger schnell, – aber jedenfalls hindurch zu kommen, darin lag seine Aufgabe.

Vor dreißig Jahren bestand die Escorte eines Reisenden von Stand aus nicht weniger als zweihundert berittenen Kosaken, zweihundert Mann Fußvolk, fünfundzwanzig Baskiren zu Pferde, dreihundert Kameelen, vierhundert Pferden, fünfundzwanzig Wagen, zwei tragbaren Booten und zwei Stück Kanonen. Das war das nöthige Material bei einer Reise durch Sibirien.

Michael Strogoff freilich sollte weder Reiter, noch Fußsoldaten oder Saumthiere haben. Er reiste zu Wagen, zu Pferde, wenn das möglich war; zu Fuß, wenn es nicht anders anging.

Die ersten 1400 Werst (= 1493 Kilom.), die Strecke zwischen Moskau und der Grenze Rußlands, konnten keine besonderen Schwierigkeiten bieten. Eisenbahnen, Postwagen, Pferde zum Wechseln an verschiedenen Stationen, Dampfschiffe – standen hier Jedermann zur Verfügung und waren folglich auch dem Courier des Czaaren zur Hand.

Am Morgen des 16. Juli begab sich Michael Strogoff ohne jede Uniform, aber mit einem Reisesack, den er auf dem Rücken trug, bekleidet mit einem gewöhnlichen russischen Anzug, einem an der Taille geschlossenen Oberrock, dem herkömmlichen Mujik (Gürtel), weiten Beinkleidern und an den Knöcheln anschließenden Stiefeln, nach dem Bahnhofe, um den nächsten Zug zu benutzen. Er führte, wenigstens dem Anscheine nach, keine Waffen bei sich, unter dem Gürtel aber stak ein Revolver und in seiner Tasche einer jener langen Dolche, welche das Mittel zwischen dem Messer und dem Yatagan bilden und mit dem ein sibirischer Jäger einen Bären sauber auszuweiden im Stande ist, ohne dessen kostbares Fell zu beschädigen.

Auf dem Bahnhofe in Moskau war ein ansehnliches Menschengedränge. Die Perrons der russischen Eisenbahnen bilden häufig gewissermaßen Versammlungsörter ebensowohl für Diejenigen, welche abreisen, als für Solche, welche der Abfahrt nur zusehen. Dort ist fast eine kleine Börse für Neuigkeiten.

Der Zug, den Michael Strogoff benutzte, sollte ihn nach Nishny-Nowgorod führen. Dort war jener Zeit das Ende des Schienenweges, der Moskau mit St. Petersburg verbindet und bis zur Grenze Rußlands fortgeführt werden soll. Die Strecke bis dahin maß etwa 400 Werst (= 426 Kilom.), welche der Zug in ungefähr zehn Stunden zurücklegen mußte. In Nishny-Nowgorod angelangt, wollte Michael Strogoff je nach den Umständen entweder zu Lande weiter reisen oder die Wolgadampfboote benutzen, um die Berge des Ural so schnell als möglich zu erreichen.

Michael Strogoff machte es sich in seiner Ecke so bequem, wie ein braver Bürger, den seine Geschäfte nicht übermäßig beunruhigen und der sich die Zeit durch Schlafen zu vertreiben sucht.

Da er in dem Coupé aber nicht allein war, schlief er auch nur mit einem Auge, hörte aber dabei mit beiden Ohren.

Der Aufstand der Kirghisenhorden und der Einfall der Tartaren machte doch schon einigermaßen von sich reden. Die Leute, mit denen der Zufall ihn zusammenwürfelte, plauderten ebenfalls davon, doch immer noch mit einer gewissen Zurückhaltung.

Diese Reisenden waren ebenso, wie die meisten Insassen des Zuges, Kaufleute, die sich zur großen Messe nach Nishny-Nowgorod begaben, eine erklärlicher Weise sehr gemischte Gesellschaft, welche aus Juden, Türken, Kosaken, Russen, Georgiern, Kalmücken und Anderen bestand, die sich indessen Alle der Nationalsprache bedienten.

Man besprach das Für und Wider der ernsthaften Ereignisse, welche sich eben jenseit des Ural abspielten; auch schienen diese Kaufleute zu fürchten, daß die russische Regierung sich veranlaßt sehen könnte, einige beschränkende Maßregeln, mindestens in den Nachbarprovinzen der asiatischen Grenze, zu ergreifen, – Maßregeln, unter denen der Handel ohne Zweifel leiden mußte.

Diese unverbesserlichen Egoisten betrachteten den Krieg, d. h. die Unterdrückung der Rebellion und die Abwehr jenes Einfalls, nur von dem einen Standpunkte ihrer bedrohten Interessen. Die Anwesenheit eines einfachen Soldaten in Uniform – man weiß ja, wie groß der Einfluß der Uniform gerade in Rußland ist, – hätte gewiß hingereicht, die Zungen dieser Handelsleute zu zügeln. In dem von Michael Strogoff benutzten Coupé ließ nichts die Gegenwart einer Militärperson vermuthen, und der Courier des Czaaren, der sein Incognito bewahren mußte, hütete sich wohl, seinen wahren Charakter zu verrathen.

Er horchte gespannt.

»Man spricht von einer Preissteigerung des Karawanenthees, sagte ein Perser, den man an seiner mit Astrachan besetzten Mütze und dem abgetragenen braunen und weitfaltigen Rocke erkannte.

– O, der Thee hat auch keine Baisse zu fürchten, erwiderte ein alter Jude mit verschmitzten Zügen. Was davon in Nishny-Nowgorod am Markte ist, wird nach Westen hin willigen Absatz finden; leider steht es mit den Teppichen aus Bukhara aber anders.

– Wie? Sie erwarten eine Sendung aus Bukhara? fragte ihn der Perser.

– Das zwar nicht, wohl aber aus Samarkand, und Waarensendungen von dorther sind eher noch mehr gefährdet. Verlassen Sie sich einmal auf Zufuhren aus einem Lande, das durch die Khans von Khiva bis zur chinesischen Grenze in helle Empörung gebracht ist.

– Gut! meinte der Perser, wenn die Teppiche nicht ankommen, so ist das von den Verräthern noch weniger zu erwarten, denke ich.

– Und der Profit? heiliger Gott Israels, rief der Jude, rechnen Sie den für nichts?

– Sie haben Recht, mischte sich ein anderer Reisender in das Gespräch, asiatische Artikel werden am Platze empfindlich fehlen; die Teppiche aus Samarkand ebenso, wie die Wollenwaaren, die Seifen, Oele und die Shawls aus dem Morgenlande.

– Ei, nehmen Sie sich in Acht, Väterchen, antwortete ein russischer Reisender mit spöttelnder Miene, Sie werden sich furchtbare Fettflecke in ihre Shawls bringen, wenn Sie sie mit den Seifen und Oelen zusammenpacken!

– Das kommt Ihnen wohl sehr komisch vor! versetzte etwas spitzig der Kaufmann, der solche Scherze nicht besonders liebte.

– Nun, und wenn man sich die Haare ausraufen und Asche auf’s Haupt streuen wollte, fuhr jener Reisende fort, würde das den Lauf der Dinge ändern? Nein! Um keinen Deut mehr als den Transport der Meßgüter.

– Man erkennt es, daß Sie kein Kaufmann sind, bemerkte der kleine Jude.

– Meiner Treu, nein, würdiger Nachkomme Abraham’s! Ich verkaufe weder Hopfen noch Theer, Honig oder Wachs, weder Hanfsamen noch Pökelfleisch, Caviar, Holz, Wolle, Bänder, nicht Hanf oder Leinen, keine Maroquins oder Pelzwaaren! …

– Aber kaufen Sie vielleicht davon? fragte der Perser, den Redestrom des Reisenden unterbrechend.

– So wenig als möglich und nur für meinen Privatbedarf, antwortete jener mit den Augen zwinkernd.

– Das ist ein Spaßvogel, raunte der Jude dem Perser zu.

– Oder ein Spion! erwiderte dieser mit gedämpfter Stimme. Hüten wir uns und sprechen nicht mehr als nöthig. Die Polizei ist bei jetzigen Zeiten nicht sehr zart, und man weiß nie, mit wem man zusammen sitzt.«

In einer andern Ecke der Wagenabtheilung sprach man etwas weniger über Handelsgeschäfte, aber etwas mehr von dem Einfalle der Tartaren und dessen möglichen Folgen.

»Man wird in Sibirien die Pferde requiriren, äußerte sich ein Reisender, und die Communicationen zwischen den verschiedenen Provinzen Centralasiens werden sehr erschwert sein!

– Bestätigt es sich, fragte sein Nachbar, daß die Kirghisen der Mittleren Horde mit den Tartaren gemeinschaftliche Sache gemacht haben?

– Man sagt es, antwortete der Reisende halblaut, wer kann sich aber in diesem Lande rühmen, etwas Bestimmtes zu wissen!

– Ich hörte schon von Truppenzusammenziehungen an der Grenze sprechen. Die Donischen Kosaken sollen bereits längs der Wolga versammelt sein und man will sie den aufrührerischen Kirghisen entgegen werfen.

– Wenn die Kirghisen dem Ufer des Irtysch gefolgt sind, wird auch die Straße nach Irkutsk unsicher sein, bemerkte der Nachbar. Uebrigens wollte ich gestern ein Telegramm nach Krasnojarsk senden, das hat aber nicht bis dahin gelangen können. Es steht zu befürchten, daß die Tartarenhaufen binnen Kurzem das ganze östliche Sibirien isolirt haben werden!

– In Summa, Väterchen, sprach sich der erste Frager aus, diese Handelsleute da haben alle Ursache, wegen ihrer Geschäftsabwickelung besorgt zu sein. Nach Requisition der Pferde werden die Schiffe an die Reihe kommen, dann die Wagen und überhaupt alle Transportmittel, bis es endlich nicht mehr erlaubt sein wird, im ganzen Reiche einen Fuß zu bewegen.

– Ich fürchte sehr, in Nishny-Nowgorod werde die Messe nicht so brillant enden, wie sie begonnen hat, antwortete der Zweite kopfschüttelnd. Aber die Sicherheit und Integrität des russischen Gebietes geht über Alles! Geschäfte sind eben doch nur Geschäfte!«

Wenn in diesem Coupé der Gegenstand der Unterhaltung nicht sehr wechselte, so war das auch nicht mehr der Fall in den anderen Wagen des Zuges; ein strenger Beobachter würde aber in allen Reden der Reisenden unschwer eine ungemeine Zurückhaltung entdeckt haben. Wagten diese sich einmal auf das Gebiet der Thatsachen, so gingen sie niemals so weit, weder die Absichten der moskowitischen Regierung vorauszusehen, noch deren Maßnahmen zu kritisiren.

Dieselbe Beobachtung machte auch ein Reisender in einem der vorderen Wagen des Zuges. Dieser – offenbar ein Ausländer, – hatte seine Augen überall und warf zwanzigerlei Fragen auf, welche nur ausweichende Beantwortung fanden. Fortwährend betrachtete er dabei auch durch das Wagenfenster, dessen Scheibe er stets zum großen Unbehagen seiner Reisegefährten niedergelassen hielt, die Gegend bis zum fernen Horizont. Er erkundigte sich nach den Namen der unbedeutendsten Ortschaften, ihrer Lage, ihren Handelsbeziehungen und Gewerbsverhältnissen, nach den Einwohnerzahlen, der mittleren Sterblichkeit beider Geschlechter u. s. w., und Alles, was er erfahren konnte, schrieb er in ein mit Bemerkungen überladenes Notizbuch.

Unsere Leser erkannten in ihm wohl schon den Correspondenten Alcide Jolivet, der so viele Fragen in der Hoffnung stellte, unter den Antworten doch dann und wann etwas Interessantes »für seine Cousine« zu erhaschen. Natürlich sah man ihn deshalb für einen Spion an und sprach vor ihm keine Sylbe bezüglich der Tagesereignisse.

Als er sich überzeugt, daß er über den Tartareneinfall hier nichts zu erfahren vermöge, schrieb er in das Notizbuch: »Die Reisenden absolut discret. Schießen über Politik nur sehr schwer los.«

Während aber Alcide Jolivet seine Reiseeindrücke mit peinlicher Gewissenhaftigkeit schriftlich fixirte, lag sein College, der in demselben Zuge saß und in derselben Absicht reiste, in einem andern Coupé ganz der nämlichen Beschäftigung ob. Beide waren sich am Morgen im Bahnhofe zu Moskau nicht begegnet, und Keiner wußte von des Andern Aufbruche nach dem voraussichtlichen Kriegsschauplatze, um den Ereignissen näher zu stehen.

Dabei hatte nur der allzeit schweigsame Harry Blount bei seinen Reisegefährten nicht denselben Verdacht erweckt, wie Alcide Jolivet. Ihn hatte man nicht für einen Spion gehalten, und seine Nachbarn plauderten vor ihm ohne jede Zurückhaltung, wobei sie sich sogar weiter gehen ließen, als man es von ihrer anerzogenen Zaghaftigkeit erwartet hätte. Der Correspondent des Daily-Telegraph konnte also beobachten, wie sehr die Ereignisse des Tages alle nach Nishny-Nowgorod ziehenden Kaufleute berührten und wie stark der Handel mit Central-Asien dadurch bedroht sei.

Er zögerte also nicht, seinem Notizbuch die ganz gerechtfertigte Bemerkung einzuverleiben:

»Die Reisenden sehr beunruhigt. Der Krieg steht in Aussicht und man behandelt dieses Thema mit einer Freimüthigkeit, welche zwischen Weichsel und Wolga erstaunlich zu nennen ist.«

Die Leser des Daily-Telegraph mußten demnach ebenso gut unterrichtet werden, wie »die Cousine« Alcide Jolivet’s.

Weiter, da Harry Blount an der linken Seite des Zuges saß, hatte er nur den einen Theil der hier ziemlich hügeligen Landschaft überblicken können, ohne daß er es der Mühe werth erachtete, sein Auge einmal nach der rechten Seite, welche vollkommen eben war, zu wenden, und somit fügte er seiner Notiz kurz und bündig hinzu:

»Zwischen Moskau und Wladimir Bergland.«

Inzwischen lag es auf der Hand, daß die russische Regierung angesichts der ernsten Verwickelungen selbst im Innern des Reiches einige strenge Maßregeln nehmen werde. Die Empörung griff zwar noch nicht über die Grenze Sibiriens hinüber, doch in den dem Lande der Kirghisen so nahe liegenden Wolgaprovinzen durfte man sich leicht eines übeln Einflusses jener Ereignisse versehen.

Noch hatte die Polizei Iwan Ogareff’s Spuren nicht wieder zu finden vermocht. Ob dieser Verräther, der die Fremden aufhetzte, um seine persönliche Rache zu befriedigen, sich wieder mit Feofar-Khan verbunden habe, oder im Gouvernement Nishny-Nowgorod heimlich die Empörung schüre, wo sich zu dieser Jahreszeit eine aus so bunten Elementen zusammen gewürfelte Bevölkerung tummelte, – kein Mensch wußte es.

Hatte er vielleicht unter diesen bei der Messe so zahlreich vertretenen Persern, Armeniern und Kalmücken Vertraute, welche die Bewegung im Innern des Reiches in Fluß bringen sollten? Alle diese Hypothesen waren, vorzüglich in einem Lande wie das Reich des Herrschers aller Reußen, nicht zurück zu weisen.

In der That kann dieses ungeheure Ländergebiet von zwölf Millionen Quadratkilometern die Homogenität der westlichen Staaten Europas überhaupt nicht besitzen. Zwischen den verschiedenen Völkerschaften desselben herrschen mehr tiefere Unterschiede, als oberflächliche Nuancen. In Europa, Asien und Amerika (unsere Erzählung spielt in der Zeit, da das russische Amerika noch nicht an die Vereinigten Staaten abgetreten war) erstreckt sich sein Gebiet vom 35. Grade östl. Länge (von Ferro) bis zum 110. Grade westlicher Länge und vom 38. bis zum 81. Grade nördl. Breite. Es zählt nicht weniger als siebenzig Millionen Einwohner, welche dreißig verschiedene Sprachen sprechen. Die herrschende Race ist zwar die der Slaven, aber außer den eigentlichen Russen zählen zu dieser auch die Polen, Litthauer und die Kurländer. Rechne man zu diesen noch die Finnen, Esthen, Lappen, die Tschermissen, Tschuwaken, Permiaken, die Deutschen, die Griechen, Tartaren, die kaukasischen Stämme, die Mongolenhorden, Kalmücken, Samojeden, Kamtschadalen und Alëuten, so sieht man leicht ein, wie schwierig es sein muß, die Einheit eines so ungeheuren Reiches aufrecht zu erhalten, und daß diese dereinst nur von der Zeit und der Weisheit der Regierung wirklich geschaffen werden kann.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Iwan Ogareff sich bisher allen Nachforschungen zu entziehen gewußt. Auf jeder Station aber, wo der Zug anhielt, erschienen Inspectoren, welche die Reisenden musterten und Alle scharf in’s Auge faßten, denn sie hatten auf Befehl des Großmeisters der Polizei nach Iwan Ogareff zu fahnden. Die Regierung glaubte zu wissen, daß dieser Verräther das europäische Rußland noch nicht habe verlassen können. Erschien ein Reisender verdächtig, so mußte er sich im Polizeibureau ausweisen, während der Zug weiter sauste, ohne sich um solche unfreiwillige Nachzügler zu bekümmern.

Es ist völlig nutzlos, mit der russischen Polizei bei ihrer bekannten Rücksichtslosigkeit verhandeln zu wollen. Ihre Beamten stehen in militärischem Range und handeln als Soldaten. Hierin liegt das Mittel, womit ein Souverän sich unbedingten Gehorsam erzwingt, der das Recht hat, an die Spitze seiner Ukase zu setzen: »Wir, von Gottes Gnaden Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen, von Moskau, Kiew, Wladimir und Nowgorod, Czaar von Kasan, Astrachan, Polen, Sibirien und des Taurischen Chersones, Fürst von Skof, Großherzog von Smolensk, Litthauen, Wolhinien, Podolien und Finnland, Herzog von Esthland, Liefland, Kurland und Samland, von Bialystock, Karelien, Jugrien, Perm, Viatka, Bulgarien und von anderen Ländern, Herrscher und Großfürst der Territorien von Nishny-Nowgorod, Tschernikow, Riatsan, Polotzk, Restow, Jeroslaw, Bielozersk, Udorien, Obdorien, Kondinien, Witepsk und Mtislaw, Machthaber über die hyperboräischen Lande, Herr der Lande von Iberien, der Kartalinie, Gruzinien, Kabardinien, Armenien, Erbherr und Souverän der Tscherkessenfürsten der Berge und der Ebenen, Erbe von Norwegen, Schleswig-Holstein, Stormarn, Dithmarschen und Oldenburg.« In der That ein mächtiger Herrscher, dessen Wappen, ein zweiköpfiger Adler mit Scepter und Erdkugel in den Klauen, umgeben ist von den Wappenschildern von Nowgorod, Wladimir, Kiew, Kasan, Astrachan und Sibirien, und umrahmt von dem großen Bande des St. Andreasordens, über dem eine Kaiserkrone schwebt! –

Michael Strogoff entging auf Grund seiner Papiere allen polizeilichen Scheerereien.

Auf der Station Wladimir verweilte der Zug einige Minuten, die dem Reporter des Daily-Telegraph hinreichend erschienen, eine umfassende Skizze dieser alten Hauptstadt Rußlands zu entwerfen.

Im Bahnhofe zu Wladimir kamen neue Passagiere. Unter Anderen erschien auch ein junges Mädchen an der Thür von Michael Strogoff’s Coupé.

Vor dem Couriere des Czaaren war noch ein Platz leer. Das junge Mädchen nahm diesen ein, nachdem sie eine bescheidene, rothlederne Reisetasche, scheinbar ihr ganzes Gepäck, neben sich gestellt hatte. Dann setzte sie sich mit niedergeschlagenen Augen und ohne ihren zufälligen Reisegefährten auch nur einmal angesehen zu haben, für eine mehrstündige Fahrt zurecht.

Michael Strogoff konnte sich nicht enthalten, seine neue Nachbarin teilnehmend zu betrachten. Da sie einen Rücksitz einnahm, bot er ihr seinen Platz an, wenn sie diesen vorzöge, aber sie lehnte das mit einer leichten Verbeugung dankend ab.

Das junge Mädchen mochte sechzehn bis siebenzehn Jahre zählen. Ihr wirklich hübscher Kopf verrieth den rein slavischen Typus, – einen etwas strengen Typus, nach welchem sie einst mehr schön als hübsch werden mußte, wenn einige Jahre die Züge ihres Gesichtes weiter befestigt haben würden. Aus einer Art Fanchon quoll ihr eine Fülle goldblonden Haares. Ihre braunen Augen erstrahlten von einem ungemein sanften Blicke. Die gerade Nase verband mit beweglichen Flügeln ihre etwas schmalen und blassen Wangen. Ihr sehr fein geschnittener Mund schien seit längerer Zeit alles Lächeln verlernt zu haben.

Die junge Reisende war, so weit man das vor dem faltigen Pelze, den sie trug, erkennen konnte, groß und schlank. Obwohl sie noch im vollen Sinne des Wortes als »ein sehr junges, unschuldiges Kind« erschien, so war doch ihre Stirn gut entwickelt und die bestimmte Form der unteren Partien des Gesichtes ließ auf eine ungewöhnliche Energie schließen, – Einzelheiten, welche Michael Strogoff nicht entgingen. Offenbar hatte das junge Mädchen früher schon manches gelitten und auch die Zukunft schien ihr nicht in rosigem Lichte zu winken; aber ebenso sicher hatte sie gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens sowohl anzukämpfen gewußt, als sie die Entschlossenheit besaß, es auch in Zukunft zu thun. Ihre Willenskraft schien ebenso lebhaft als ausdauernd zu sein, ihre Ruhe unerschütterlich, vielleicht selbst unter Umständen, welche einen Mann in Verlegenheit gebracht hätten.

Diesen Eindruck erweckte das junge Mädchen auf den ersten Blick. Michael Strogoff, selbst ein energischer Charakter, mußte sich von einer solchen Erscheinung getroffen fühlen und beobachtete, bei aller Vorsicht, sie dadurch nicht zu belästigen, seine Nachbarin doch mit einer gewissen Aufmerksamkeit.

Die Kleidung der jungen Reisenden zeichnete sich durch die größte Einfachheit und Sauberkeit aus. Von reichem Herkommen konnte sie offenbar nicht sein; aber man hätte vergeblich nach einer Spur von Nachlässigkeit an ihr gesucht. Ihr ganzes Gepäck barg jene rothe Tasche, die sie aus Mangel an Platz auf den Knieen hielt.

Sie trug einen langen, ärmellosen Pelz von dunkelbrauner Farbe, der sich mit einem blauen Saume anmuthig um ihren Hals schloß. Unter demselben bedeckte eine ebenfalls dunkelfarbige Tunica das bis zum Fußgelenk reichende Kleid, dessen unterer Saum wiederum mit wenig auffälliger Stickerei geziert war. Lederne Halbstiefel mit starken Sohlen, so als wären sie für eine lange Reise bestimmt, schützten die kleinen Füßchen.

Michael Strogoff glaubte an manchen Details dieses Costüms die Tracht der Liefländerinnen zu erkennen und setzte also voraus, daß seine Nachbarin in den baltischen Provinzen zu Hause sei.

Doch wohin ging dieses Kind, allein, in diesem Alter ohne Unterstützung des Vaters oder der Mutter, ohne den Schutz eines Bruders? Kam sie wirklich schon nach Zurücklegung einer längeren Reise aus den westlichen Provinzen des Reiches? Begab sie sich nur nach Nishny-Nowgorod oder lag ihr Ziel noch über den östlichen Grenzen? Erwartete sie ein Anverwandter, ein Freund bei Ankunft des Zuges? War es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß sie sich nach Verlassen des Waggons in der Stadt ebenso vereinsamt befinden werde, wie in diesem Coupé, wo sich, ihrer Ansicht nach, keine Seele um sie kümmerte?

Das Auftreten, welches man sich in der Vereinsamung anzugewöhnen pflegt, zeigte sich zu deutlich in dem Wesen der jungen Reisenden. Die Art und Weise, wie sie in das Coupé einstieg und sich für die Fahrt einrichtete, das Vermeiden jeder Belästigung Anderer, welches an eine gewisse Schüchternheit grenzte, Alles zeigte ihre Gewohnheit, allein zu sein und nur auf sich selbst zu rechnen.

Michael Strogoff beobachtete sie mit zurückhaltendem Interesse und suchte nicht einmal ein Gespräch anzuknüpfen, wiewohl die Fahrt bis Nishny-Nowgorod noch mehrere Stunden dauerte.

Nur einmal, als der Nachbar des jungen Mädchens, – jener Kaufmann, welcher so unvorsichtig Oele und Shawls durch einander warf, – im Einschlafen seine Nachbarin mit dem großen, auf den Schultern hin und her taumelnden Kopfe zu belästigen drohte, weckte er diesen etwas barsch auf und gab ihm zu verstehen, daß er gerade sitzen und sich etwas rücksichtsvoller betragen solle.

Der Kaufmann, von etwas grobem Schrot und Korn, knurrte einige Worte »von Leuten, die sich in Sachen mischen, welche ihnen nichts angehen«; Michael Strogoff warf ihm aber einen so viel versprechenden Blick zu, daß der Schlaftrunkene sich nach der andern Seite neigte und die junge Reisende von seiner unliebsamen Nachbarschaft befreite.

Diese richtete das Auge einen Moment auf den jungen Mann mit einem Blicke, der ihm einen stummen, bescheidenen Dank ausdrückte.

Es sollte aber noch ein Umstand eintreten, der Michael Strogoff den Charakter des jungen Mädchens noch klarer erkennen ließ.

Etwa zwölf Werst vor Nishny-Nowgorod erhielt der Zug bei einer sehr kurzen Curve des Geleises einen sehr heftigen Stoß. Dann lief er noch eine Minute neben der Böschung eines Dammes hin.

Ein tüchtiges Schütteln der Passagiere, Geschrei, Verwirrung, allgemeine Unordnung in den Waggons bezeichneten die ersten Folgen des Unfalls. Man konnte wohl noch ein schweres Unglück befürchten. Noch bevor der Zug zum Stehen kam, sprangen schon die Waggonthüren auf, die entsetzten Reisenden suchten ihr Heil in der Flucht und stürzten aus den Coupés.

Michael Strogoff dachte zunächst an seine Nachbarin; doch während die übrigen Insassen sich schreiend und stoßend hinaus drängten, hielt das junge Mädchen, deren Gesicht kaum etwas blässer geworden war, ruhig auf ihrem Platze aus.

Sie wartete. Michael Strogoff ebenfalls.

Sie hatte gar keinen Versuch gemacht, den Waggon zu verlassen. Kein Laut kam über ihre Lippen.

Beide blieben ganz ruhig.

»Eine energische Natur!« dachte Michael Strogoff.

Inzwischen war jede Gefahr vorüber. Ein Radreifensprung am Gepäckwagen hatte erst den Stoß und dann das Anhalten des Zuges veranlaßt, doch hätte nicht viel gefehlt, daß er in Folge einer Entgleisung von dem hohen Damme in die Tiefe gestürzt wäre. Es entstand eine Stunde Aufenthalt. Endlich, nach Freilegung der Fahrbahn, setzte der Train seinen Weg fort und gelangte um halb neun Uhr Abends nach Nishny-Nowgorod.

Bevor Jemand die Waggons verlassen durfte, erschienen wieder die unvermeidlichen Polizisten und inquirirten die Reisenden.

Michael Strogoff wies seinen auf den Namen Nicolaus Korpanoff lautenden Podaroshna vor, der ihn genügend legitimirte.

Auch die andern Insassen des Coupés, welche alle nur nach Nishny-Nowgorod gingen, schienen zu ihrem Glücke unverdächtig.

Das junge Mädchen für ihre Person brachte keinen eigentlichen Reisepaß hervor, der ja im Innern Rußlands jetzt nicht mehr verlangt wird, sondern einen Schein mit besonderem Siegel, welcher ganz specieller Art zu sein schien.

Der Beamte las ihn aufmerksam durch. Dann sagte er nach sorgfältiger Musterung Derjenigen, deren Signalement der Schein enthielt:

»Du bist aus Riga?

– Ja, erwiderte das junge Mädchen.

– Und willst nach Irkutsk?

– Ja.

– Auf welchem Wege?

– Auf der Straße über Perm.

– Gut, antwortete der Inspector. Vergiß in Nishny-Nowgorod nicht, Deinen Schein durch das Polizei-Amt visiren zu lassen.«

Das junge Mädchen verneigte sich bejahend.

Als er diese Fragen und Antworten hörte, empfand Michael Strogoff gleichzeitig eine gewisse Bewunderung und ein ehrliches Mitleid. Wie! Dieses Kind war auf der Reise nach dem entlegenen Sibirien, und noch dazu jetzt, wo zu den gewöhnlichen Unzuträglichkeiten noch alle Gefahren eines von Feinden überschwemmten, aufrührerischen Landes hinzutraten! Wie würde sie ankommen? – was aus ihr werden? ….

Nach Schluß der Inspection wurden die Waggonthüren geöffnet, doch bevor Michael Strogoff auch nur eine Bewegung gegen sie machen konnte, war die junge Liefländerin bereits ausgestiegen und unter der Menge, welche die Perrons bedeckte, verschwunden.