Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Eine Königin von Tarryani.

Die letztere Bemerkung beschloß unseren Besuch im Kraal; es war jetzt Zeit, nach dem Steam-House zurückzukehren.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt schieden eigentlich nicht als die besten Freunde von einander. Wenn der eine die wilden Thiere von Tarryani vernichten wollte, wollte der Andere sie nur fangen, und doch waren ja genug vorhanden, um Beide zu befriedigen.

Man verabredete inzwischen, daß der Kraal und das Sanatorium in engerer Verbindung bleiben sollten. Man wollte sich gegenseitig benachrichtigen, sobald sich eine günstige Gelegenheit zur Jagd oder zum Fange böte. Die mit allen Wegen und Stegen vertrauten Chikaris Mathias Van Guitt’s konnten Kapitän Hod recht wesentliche Dienste leisten, wenn sie ihn auf die Fährten von Thieren aufmerksam machten. Der Händler stellte ihm jene zuvorkommend zur Verfügung, und vorzüglich Kâlagani. Obschon dieser Hindu nur erst kurze Zeit dem Personal des Kraals angehörte, erwies er sich doch besonders geschickt und nach allen Seiten verläßlich.

Als Gegendienst versprach Kapitän Hod, soweit ihm das möglich sei, beim Einfangen der wilden Thiere zu helfen, welche an Mathias Van Guitt’s Sammlung noch fehlten.

Bevor er den Kraal verließ, wo er wahrscheinlich nicht sobald wieder vorsprechen würde, sprach Sir Edward Munro nochmals seinen Dank gegen Kâlagani aus, dessen entschlossenes Eingreifen ihn gerettet hatte, und erklärte, daß er im Steam-House stets willkommen sein werde.

Der Hindu verneigte sich sehr kühl. Ein Zeichen von Befriedigung, den Mann, der ihm sein Leben verdankte, so reden zu hören, ließ er in seinen Zügen nicht durchblicken.

Wir kamen zur Zeit des Essens zurück. Wie man sich denken kann, drehte sich unser Gespräch vorwiegend um Mathias Van Guitt.

»Alle Wetter, polterte der Kapitän heraus, was für Gesten er fertig bringt, jener Händler! Welche Auswahl von Worten, welchen Wechsel von Ausdrücken er hat! Nur daß er in wilden Thieren blos Objecte zur Schaustellung sieht, darin schießt er fehl.«

An den folgenden Tagen, am 27., 28. und 29. Juni, fiel ein so gewaltiger Regen, daß unsere Jäger, so begierig sie auch waren, gar nicht daran denken konnten, das Steam-House zu verlassen. Bei solch‘ schrecklichem Wetter sind Spuren auch gar nicht zu erkennen, und die Raubthiere, welche, wie die Katzen alle, keine besonderen Freunde des Wassers sind, verlassen dann ihre Höhlen nicht gern.

Am 30. stellte sich besseres Wetter mit heiterem Himmel ein. Am nämlichen Tage rüsteten wir, d. h. Kapitän Hod, Fox, Goümi und ich, uns rechtzeitig, nach dem Kraal hinunter zu gehen.

Schon am Morgen stellten sich einige Bergbewohner bei uns ein. Sie hatten davon reden gehört, daß eine wunderbare Pagode im Himalayagebiete erschienen sei, und nun trieb die Neugier sie nach dem Steam-House.

Es ist ein schöner Menschenschlag, diese Bewohner der thibetanischen Grenze, ausgezeichnet durch kriegerische Tugenden, unerschütterliche Loyalität und Gastfreiheit, und den Hindus der Ebenen moralisch und physisch unzweifelhaft überlegen.

Wenn die angebliche Pagode ihre Verwunderung erregte, so machte der Stahlriese auf sie einen noch weit tieferen Eindruck. Und doch verhielt sich dieser jetzt ruhig. Was würden die braven Leute erst gesagt haben, wenn sie gesehen hätten, wie er rauch- und flammenspeiend mit sicherem Schritte die Bergabhänge emporklomm!

Oberst Munro empfing die Eingebornen, von denen einige das ganze Gebiet von Nepal bis zur indo-chinesischen Grenze öfter zu durchstreifen pflegten, mit aller Freundlichkeit. Das Gespräch kam auch einmal auf jenen Theil der Grenze, wo Nana Sahib nach der Niederlage der Sipahis Zuflucht gesucht hatte, als er sich überall in Indien verfolgt sah.

Die Bewohner der Berge wußten übrigens nicht mehr als wir. Das Gerücht von seinem Tode war auch zu ihnen gedrungen und schien nicht angezweifelt zu werden. Um seine, ihn überlebenden Waffengefährten kümmerte sich Niemand. Wahrscheinlich hatten diese tief im Innern von Thibet ein sicheres Versteck gefunden, wo sie jedenfalls nur sehr schwierig zu finden gewesen wären.

Wenn Oberst Munro, als er sich nach dem Norden der Halbinsel begab, den Gedanken gehabt hatte, Alles an’s Licht zu ziehen, was Nana Sahib näher oder ferner berührte, so mußte ihn diese Auskunft wohl davon abbringen. Als die Bergbewohner aber so sprachen, blieb er halb träumend in Gedanken versenkt und nahm am Gespräch keinen weiteren Antheil.

Nur Kapitän Hod richtete an diese einige Fragen, freilich ganz anderen Inhalts. Er vernahm dadurch, daß die wilden Thiere, vorzüglich die Tiger, in der unteren Zone des Himalaya wahrhaft entsetzliche Verwüstungen anrichteten. Einzelne Landgüter und ganze Dörfer waren deshalb schon von den Einwohnern aufgegeben worden. Heerden von Ziegen und Schafen wurden vernichtet und auch nicht wenige Einwohner waren den Bestien zum Opfer gefallen. Trotz des von der Regierung ausgesetzten nicht unbeträchtlichen Preises – dreihundert Rupien für jeden Tigerkopf – schien die Zahl dieser Katzen nicht abzunehmen und es entstand schon die Frage, ob der Mensch nicht weichen und jenen das Feld überlassen solle. Die Leute fügten auch hinzu, daß die Tiger sich jetzt gar nicht mehr auf Tarryani beschränkten, sondern daß man ihnen, wo hohes Gras, Dschungeln oder Gebüsche nur geeignete Verstecke böten, überall in der Ebene begegne.

»Es sind entsetzlich schädliche Thiere!« meinten sie.

Die braven Leute huldigten, und das mit gutem Grunde, bezüglich der Tiger also keineswegs derselben Anschauung wie der Händler Mathias Van Guitt und unser Freund, der Kapitän Hod.

Die Landleute zogen sich, hoch erfreut über den gefundenen Empfang, zurück und versprachen gelegentlich wieder nach dem Steam-House zu kommen.

Als sie fort waren, machten wir, Kapitän Hod, unsere zwei Begleiter und ich, uns wohl bewaffnet und auf jeden Zwischenfall vorbereitet auf den Weg nach Tarryani hinunter.

An der Waldblöße mit jener Falle angelangt, aus der wir Mathias Van Guitt glücklicher Weise befreit hatten, trat dieser uns, nicht ohne gewisse Feierlichkeit entgegen.

Fünf bis sechs seiner Leute, darunter auch Kalagani, waren eben beschäftigt, einen Tiger, der sich während der Nacht gefangen hatte, aus der Falle in einen fahrbaren Käfig zu schaffen.

Es war wirklich ein prächtiges Thier, dessen Anblick in Kapitän Hod ein gewisses Gefühl von Neid erwachen ließ.

»Wieder einer weniger in Tarryani, murmelte er mit einem leisen Seufzer, der in Fox‘ Herzen ein Echo fand.

– Und einer mehr in der Menagerie, meinte dagegen der Händler. Noch zwei Tiger, einen Löwen und zwei Leoparden, und ich werde im Stande sein meinen eingegangenen Verpflichtungen noch vor der bedungenen Zeit nachzukommen. Kommen Sie mit nach dem Kraal, meine Herren?

– Wir danken bestens, antwortete Kapitän Hod, heute denken wir auf eigene Rechnung zu jagen.

– Kâlagani steht Ihnen zur Verfügung, Herr Kapitän, erwiderte der Händler, er kennt den Wald sehr gut und kann Ihnen von Nutzen sein.

– Er wird uns ein willkommener Führer sein.

– Nun denn, meine Herren, fuhr Mathias Van Guitt fort, viel Glück auf den Weg! Aber versprechen Sie mir, nicht Alles niederzumetzeln!

– Wir lassen Ihnen noch etwas übrig!« versicherte Kapitän Hod.

Sich mit einer gewählten Geste empfehlend, verschwand Mathias Van Guitt schnell unter den Bäumen und folgte seinem Käfige.

»Nun vorwärts, rief Kapitän Hod, vorwärts, meine Freunde! es gilt meinen zweiundvierzigsten!

– Meinen achtunddreißigsten! ließ Fox sich vernehmen.

– Und meinen ersten!« fügte ich hinzu.

Der Ton, mit welchem ich diese Worte hervorbrachte, nöthigte dem Kapitän ein Lächeln ab. Offenbar fehlte mir die richtige heilige Gluth.

Hod hatte sich zu Kâlagani gewendet.

»Du kennst Tarryani gut?

– Ich bin wohl zwanzigmal, am Tage und in der Nacht nach allen Richtungen durch dasselbe gekommen, antwortete der Hindu.

– Hast Du davon reden gehört, daß sich in der Nachbarschaft des Kraal ein Tiger gezeigt habe?

– Gewiß, dieser Tiger ist aber eine Tigerin. Man hat sie etwa zwei Meilen von hier im Hochwalde gesehen und sucht sie schon seit mehreren Tagen zu fangen. Wollen Sie etwa….

– Ob wir wollen!« rief Kapitän Hod, ohne dem Hindu zur Vollendung seines Satzes Zeit zu lassen.

Wir konnten in der That nichts Besseres thun, als Kâlagani zu folgen, und das geschah denn auch.

Wilde Thiere sind in Tarryani ohne Zweifel sehr häufig, und sie brauchen wöchentlich nicht weniger als zwei Ochsen zur Nahrung. Es ist leicht zu berechnen, wie viel deren »Unterhalt« also der ganzen Halbinsel kosten mag!

Aber wenn Tiger auch in großer Anzahl vorkommen, so darf man doch nicht glauben, daß sie ohne Noth umherschweifen. Wenn sie der Hunger nicht drängt, bleiben sie ruhig in ihrem Verstecke, und es wäre ein großer Irrthum, zu glauben, daß man ihnen auf Tritt und Schritt begegnete. Wie viele Reisende sind durch Wälder und Dschungeln gekommen, ohne nur einen zu Gesicht bekommen zu haben! Auch wenn eine Jagd veranstaltet wird, muß man zunächst die gewöhnliche Fährte des Thieres und vorzüglich den Bach oder die Quelle aufzufinden suchen, wo es seinen Durst zu löschen pflegt.

Doch auch das genügt noch nicht, man muß sie auch noch anlocken. Das erreicht man sehr bequem durch Befestigung eines Rinderviertels an einem Pfahle und an einer von Bäumen oder Felsblöcken umgebenen Stelle, wo die Jäger leicht Schutz finden können. So verfährt man wenigstens im Walde.

In der Ebene liegt die Sache anders; da wird der Elephant der nützlichste Bundesgenosse des Menschen bei diesen gefährlichen Parforcejagden. Diese Thiere müssen dazu jedoch besonders abgerichtet sein. Trotzdem packt sie zuweilen Schrecken und Furcht, was die auf ihren Rücken sitzenden Jäger leicht in Gefahr bringt. Der Tiger springt nämlich ohne Zögern auf den Rücken eines Elephanten. Da wird der Streit zwischen ihm und dem Menschen auf dem Nacken der riesigen, selbst wüthend werdenden Pachyderme ausgekämpft, und dieser endet nur selten zum Nachtheile des Raubthieres.

So gestalten sich die Jagden der Rajahs und reichen Sportsmen von Indien, welche einen Platz in den cygentischen Annalen mit Recht verdienen.

Kapitän Hod freilich verfuhr auf andere Weise. Er spürte dem Tiger zu Fuße nach, er pflegte zu Fuß mit ihm anzubinden.

Wir folgten also Kâlagani, der raschen Schrittes voranging. Zurückhaltend, wie die Hindus im Allgemeinen, sprach er nur wenig und begnügte sich, an ihn gerichtete Fragen kurz zu beantworten.

Eine Stunde später machten wir in der Nähe eines reißenden Baches Halt, an dessen Uferwand sich noch die frischen Spuren von Thieren zeigten. In der Mitte einer kleineren Lichtung erhob sich ein Pfahl, an dem ein großes Rinderviertel hing.

Die Lockspeise war nicht ganz unberührt. Die Zähne von Schakals, diesen Spitzbuben der Fauna Indiens, hatten sie benagt; jene schweifen ja Tag und Nacht nach Beute umher – hier sollte sie ihnen nicht zu Theil werden. Ein Dutzend jener feigen Räuber flohen bei unserer Annäherung und überließen uns den Platz.

»Herr Kapitän, begann Kâlagani, hier wollen wir die Tigerin erwarten. Sie sehen daß der Ort zu einem Hinterhalte ganz passend ist.«

Es bot in der That keine Schwierigkeit, sich in den Bäumen oder hinter den Felsblöcken so zu verbergen, daß der Pfahl in der Mitte der Waldblöße unter Kreuzfeuer zu nehmen war.

Das geschah denn auch sofort. Goûmi nahm mit mir auf demselben Aste Platz. Kapitän Hod und Fox richteten sich Beide auf den Zweigen der ersten Gabelung zweier großer, üppig grüner Eichen ein.

Kâlagani selbst hatte sich hinter einem hohen Felsblocke versteckt, den er, wenn es noth that, erklimmen konnte.

Das Thier konnte somit in einen Kreis von Feuer genommen werden, aus dem an kein Entrinnen zu denken war. Alles lag für jenes so ungünstig als möglich, obwohl wir immer auf unvorhergesehene Zwischenfälle gefaßt sein mußten.

Nun hieß es geduldig warten.

Die nach allen Seiten auseinander gestäubten Schakals ließen im benachbarten Gebüsch noch immer ihr heiseres Bellen hören, wagten sich aber an das Rinderviertel nicht wieder heran.

Eine Stunde mochte verstossen sein, als das Bellen plötzlich schwieg. Fast in dem nämlichen Augenblicke sprangen zwei oder drei Schakals aus dem Dickicht, jagten über die Lichtung und verschwanden im dunkleren Walde.

Ein Zeichen Kälagani’s, der sich anschickte, den Felsen zu ersteigen, ermahnte uns, jetzt auf der Hut zu sein.

Die urplötzliche Flucht der Schakals konnte wirklich nur durch die Annäherung eines größeren Raubthieres – ohne Zweifel der Tigerin – veranlaßt sein, und wir durften jeden Moment erwarten, sie irgendwo in die Lichtung heraustreten zu sehen.

Unsere Waffen waren bereit. Schon richteten sich die Gewehre Kapitäns Hod’s und Fox‘ nach der Stelle des Gebüsches, aus dem die Schakals hervorgebrochen waren; ein Fingerdruck und die Schüsse krachten!

Bald bemerkte ich in den höheren Zweigen des Dickichts eine leise Bewegung; gleichzeitig hörte man das dürre Holz brechen. Irgend ein Thier bewegte sich vorsichtig, offenbar ohne Uebereilung, darunter hin. Von den Jägern, die ihm im dichten Laub auflauerten, konnte es sicherlich nichts bemerken. Dennoch schien ihm der Instinkt zu sagen, daß der Ort nicht ganz geheuer sei. Wenn es nicht der Hunger trieb, wenn nicht die Ausdünstung des Fleisches jenes angelockt hätte, würde es schwerlich weiter gegangen sein.

Doch – da erschien es zwischen den Zweigen eines Gebüsches und blieb, wie mißtrauisch, einen Augenblick stehen.

Es war eine Tigerin von mächtigem Wuchs, prächtigem Kopfe und geschmeidigem Körper. Sie bewegte sich schleichend vorwärts wie ein Reptil, das sich auf der Erde hinwindet.

Wir ließen sie nach Verabredung bis an den Pfahl herankommen. Sie schnüffelte auf dem Boden hin, erhob sich wieder und krümmte den Rücken hoch auf, wie eine gewaltige Katze, welche eben nicht springen will.

Plötzlich krachten zwei Gewehrschüsse.

»Nummer zweiundvierzig! rief Kapitän Hod.

– Nummer achtunddreißig!« ließ Fox sich vernehmen.

Der Kapitän und sein Diener hatten zu ganz gleicher Zeit und so sicher geschossen, daß die Tigerin, von einer, wenn nicht gar von zwei Kugeln im Herzen getroffen, todt zusammenbrach.

Kâlagani sprang zuerst auf das Thier zu. Wir selbst kletterten sofort zur Erde.

Die Tigerin zuckte nicht mehr.

Wem kam jedoch die Ehre zu, sie tödtlich getroffen zu haben? Dem Kapitän oder Fox? Man begreift, daß diese Frage hier von Bedeutung war. Das Thier wurde geöffnet. Zwei Kugeln hatten das Herz getroffen.

»Ei nun, begann der Kapitän, doch nicht ohne einiges Bedauern, so zählt sie für jeden von uns zur Hälfte!

– Zur Hälfte, Herr Kapitän!« wiederholte Fox im nämlichen Tone.

Ich glaube bestimmt, daß Keiner den ihm gebührenden Antheil abgegeben hätte.

Das war also die Wunderthat, deren erfreulichstes Resultat darin lag, daß das Thier ohne Kampf unterlegen war und die Jäger nicht im Geringsten in Gefahr kamen, was übrigens bei derartigen Jagden nur selten der Fall ist.

Fox und Kâlagani blieben auf dem Schlachtfelde, um das prächtige Fell abzuziehen während Kapitän Hod und ich nach dem Steam-House zurückkehrten.

Es liegt nicht in meiner Absicht, alle die kleinen Erlebnisse bei unseren Zügen in Tarryani einzeln aufzuzählen, wenn sie nichts besonders Charakteristisches bieten. Es genüge also die Bemerkung, daß Hod und Fox sich in keiner Weise zu beklagen hatten.

Am 18. Juli begünstigte sie das Glück bei einer sogenannten »Houddi«, d. i. Hüttenjagd, ganz ausnehmend, so daß sie einer ernstlichen Gefahr ohne Unfall entgingen. Solch‘ ein Houddi ist übrigens zur Jagd auf wilde Thiere recht vortheilhaft eingerichtet. Er bildet ein kleines, crenelirtes Fort, dessen Mauern nach einem Bache zu, wo die Thiere zur Tränke zu gehen pflegen, mit Schießscharten versehen sind. Da jene an diese kleinen Bauwerke gewöhnt sind, kommen sie ohne Mißtrauen heran und laufen so geradenwegs in’s Feuer. Doch hier wie allenthalben kommt es darauf an, sie mit dem ersten Schuß tödtlich zu treffen, sonst geht die Sache ohne gefährlichen Kampf nicht ab, da der Houddi den Jägern nicht immer gegen die, in Folge einer Verwundung nur noch wüthenderen Thiere hinlänglich Schutz gewährt. So kam es denn auch, wie wir gleich sehen werden, bei der Gelegenheit, von der hier die Rede ist,

Mathias Van Guitt leistete uns Gesellschaft. Vielleicht hegte er die Hoffnung, einen nur leicht verletzten Tiger nach dem Kraal schaffen und dort pflegen und wieder heilen zu können.

An genanntem Tage kamen unseren Jägern nun drei Tiger auf einmal in den Weg, welche die erste Gewehrsalve nicht hinderte, auf die Mauern des Houddi loszustürzen. Die beiden ersten wurden zum großen Leidwesen des Händlers durch eine zweite Kugel hingestreckt, als sie schon die Mauer erklommen. Der dritte gelangte bis in’s Innere desselben, blutete zwar an der Schulter, war aber nicht tödtlich getroffen.

»Hei, den fangen wir! rief Mathias Van Guitt, der bei diesen Worten einige Schritte vortrat, den kriegen wir lebendig! ….«

Er hatte seinen voreiligen Satz noch nicht vollendet, als das Thier schon auf ihn zusprang und ihn niederwarf, so daß es um den Händler ohne Zweifel geschehen wäre, hätte Kapitän Hod dem Tiger nicht noch eine Kugel durch den Kopf gejagt, die ihn niederstreckte.

Schwerfällig erhob sich Mathias Van Guitt wieder.

»Aber, lieber Kapitän, sagte er, statt sich bei unserem Freunde zu bedanken, Sie hätten auch noch ein bischen warten können!….

– Warten? …. Auf was denn? …. antwortete Kapitän Hod, etwa bis der Tiger Ihnen mit einem Tatzenschlage die Brust zerfleischt hätte?

– Von einem Tatzenschlage stirbt man auch noch nicht!….

– Nun, meinetwegen, erwiderte Kapitän Hod sehr trocken, ein andermal werde ich warten!«

Das Thier konnte nun einmal nicht die Menagerie des Kraals vermehren und diente also nur dazu, eine Decke vor das Bett zu liefern; diese glückliche Jagd brachte aber auf zweiundvierzig die Zahl der vom Kapitän, auf achtunddreißig der vom Diener erlegten Tiger, ohne die halbe Tigerin zu rechnen, welche Jeder in seine Activa eingetragen hatte.

Man darf nun aber nicht glauben, daß diese großen Jagden uns die kleineren hätten vergessen lassen. Monsieur Parazard würde das nimmer zugegeben haben. Antilopen, Gemsen, große Trappen, welche sich in der Nachbarschaft der Steam-Houses zahlreich vorfanden, boten unserer Tafel eine fortwährende Abwechslung an Wild.

Wenn wir durch Tarryani streiften, schloß sich Banks nur selten an uns an. Während mich diese Züge zu interessiren begannen, langweilten sie ihn offenbar. Ihn reizten mehr die oberen Zonen des Himalaya, wohin er sich gern begab, vorzüglich wenn Oberst Munro ihn begleitete.

Das kam indeß nur ein- bis zweimal vor. Banks hatte die Bemerkung gemacht, daß Sir Edward Munro seit Erreichung unseres Sanatoriums wieder mehr und mehr nachdenklich geworden war. Er sprach nur wenig, hielt sich abseits und verhandelte mehrfach mit dem Sergeant Mac Neil. Brüteten die Beiden über ein neues Project, das sie selbst vor Banks zu verheimlichen suchten?

Am 13. Juli erhielten wir den Besuch Mathias Van Guitt’s. Vom Glücke weniger begünstigt als Kapitän Hod, hatte er seiner Menagerie noch keine weitere Erwerbung zuführen können. Weder Tiger, noch Leoparden oder Löwen schienen Lust zu haben, in die Fallen zu gehen. Ohne Zweifel reizte sie der Gedanke, sich im äußersten Westen zum Angaffen ausstellen zu lassen, nicht im mindesten. Das wurmte den Händler natürlich mit Recht und er machte auch gar kein Hehl daraus.

Kâlagani und zwei Chikaris aus seinem Personal begleiteten Mathias Van Guitt bei diesem Besuche.

Die Einrichtung des Sanatoriums in der herrlichen Umgebung gefiel ihm außerordentlich. Oberst Munro lud ihn ein, zu Tische dazubleiben. Er nahm das ohne Zögern an und versprach, der Tafel alle Ehre anzuthun.

In der Zeit vor dem Mittagsessen wollte Mathias Van Guitt das Steam-House genauer in Augenschein nehmen, dessen luxuriöse Ausstattung mit der Einfachheit seines Kraals allerdings nicht wenig contrastirte. Die beiden fahrbaren Häuser fanden seine volle Anerkennung, ich muß aber gestehen, daß der Stahlriese seine Bewunderung nicht erregte. Ein Naturforscher seines Schlages mußte ja wohl diesem Meisterwerke der Mechanik gegenüber unempfindlich bleiben. Wie hätte er auch die Erzeugung dieses künstlichen Thieres, so merkwürdig das auch war, jemals billigen können?

»Denken Sie nicht so gering von unserem Elephanten, Herr Mathias Van Guitt! sagte Banks zu ihm. Das ist ein mächtiges Thier, und im Nothfalle würde es ihm gar nicht schwer fallen, neben unseren beiden Wagen Ihre ganze fliegende Menagerie mit fortzuziehen.

– Ich habe meine Büffel, antwortete der Händler, und lobe mir deren ruhigen und sicheren Schritt.

– Der Stahlriese fürchtet aber weder die Tatzen noch die Zähne des Tigers! rief Kapitän Hod dazwischen.

– Das glaube ich, meine Herren, erwiderte Mathias Van Guitt, aber warum sollten ihn diese auch anfallen? Sie machen sich aus stählernem Fleische verteufelt wenig!«

Wenn der Naturforscher seine Gleichgiltigkeit gegenüber unserem Elephanten nicht verhehlte, so konnten seine Hindus, und vorzüglich Kâlagani, gar nicht müde werden, ihn mit den Augen fast zu verschlingen. Man merkte leicht genug heraus, daß ihrer Bewunderung für das riesige Thier auch eine gewisse Portion abergläubischen Respects beigemischt war.

Kâlagani schien höchst erstaunt über die wiederholte Versicherung des Ingenieurs, daß der Stahlriese mehr Kraft habe als alle Zugthiere des Kraals zusammen. Das war auch Wasser auf Kapitän Hod’s Mühle, der die Gelegenheit nicht vorbeiließ, nicht ohne einen gewissen Stolz unser Abenteuer mit den drei »Proboscidien« des Prinzen Gourou Singh zu erzählen. Auf den Lippen des Händlers spielte dabei zwar ein etwas ungläubiges Lächeln, er ging aber nicht weiter auf die Sache ein.

Das Diner verlief in wünschenswerther Weise. Mathias Van Guitt that ihm wirklich alle Ehre an. Freilich strotzte unsere Küche eben von der Jagdbeute der letzten Tage und Monsieur Parazard hatte offenbar gestrebt, sich selbst zu übertreffen.

Der Keller des Steam-Houses lieferte auch verschiedene Getränke, die unserem Gaste recht gut zu munden schienen, vorzüglich zwei bis drei Gläser französischen Weines, die er mit einem unvergleichlichen Schnalzen der Zunge schlürfte.

Nach dem Essen, als wir uns trennen sollten, merkte man sogar an der Unsicherheit der Pendelschwingungen seiner Beine, daß der Wein, wenn er ihm zu Kopfe gestiegen war, auch die Beine schwer gemacht hatte.

Mit einbrechender Nacht schieden wir als die besten Freunde der Welt, und Mathias Van Guitt konnte auch, dank seinen Begleitern, ohne Unfall wieder nach dem Kraal gelangen.

Am 16. Juli entstand zwischen dem Händler und Kapitän Hod aber doch eine kleine Mißhelligkeit.

Der Kapitän hatte einen Tiger gerade in dem Augenblicke geschossen, wo dieser in eine der Klappfallen gehen wollte, und zwar zum dreiundvierzigsten für Jenen, aber nicht zum achten für den Händler wurde.

Nach ziemlich lebhaften Auseinandersetzungen traten indeß die alten guten Beziehungen wieder ein, was vorzüglich der begütigenden Einmischung des Oberst Munro zu verdanken war, indem Kapitän Hod sich verpflichtete, diejenigen Raubthiere zu schonen, welche »die Absicht zu erkennen gäben«, sich in eine der Fallen Mathias Van Guitt’s fangen zu lassen.

Während der nächsten Tage herrschte geradezu abscheuliches Wetter. Wir mußten wohl oder übel im Steam-House bleiben. Unsere Zeit war kurz, denn schon währte die Regenperiode über drei Monate, und wenn unser Reiseprogramm in der von Banks entworfenen Weise durchgeführt werden sollte, hatten wir für den Aufenthalt im Sanatorium nur etwa noch sechs Wochen übrig.

Am 23. Juli wiederholten einige Bergbewohner von der Grenze ihren Besuch bei Oberst Munro. Ihr Dorf, Souari mit Namen, befand sich nur fünf Meilen von unserem Halteplatze, nahe der obersten Grenze von Tarryani.

Einer derselben theilte uns mit, daß eine Tigerin seit sechs Wochen in ihrer Nachbarschaft furchtbar wüthe. Die Heerden wurden fast decimirt und man sprach schon davon, das unbewohnbar gewordene Souari gänzlich zu verlassen, da es weder für Thiere noch für Menschen hinlängliche Sicherheit mehr bot. Fallen, Schlingen, Hinterhalte, nichts hatte Erfolg gehabt, und die Tigerin galt schon für eines der furchtbarsten Raubthiere, von denen auch alte Bergbewohner je reden gehört.

Diese Mittheilung war, wie man sich leicht denken kann, Wasser auf Kapitän Hod’s Mühle. Er erbot sich gegenüber den Landleuten sofort, sie nach dem Dorfe Souari zu begleiten, mit seiner Erfahrung als Jäger und seinem sicheren Auge den wackeren Leuten beizuspringen, die, wie mir dünkte, auf dieses Anerbieten rechneten.

»Gehen Sie mit, Maucler? fragte mich Kapitän Hod, aber in einem Tone, der es mir völlig freistellte, ja oder nein zu sagen.

– Natürlich, gab ich zur Antwort, bei einer so interessanten Expedition möchte ich nicht fehlen.

– Auch ich werde Sie diesesmal begleiten, sagte der Ingenieur.

– Das ist ja ein herrlicher Gedanke, Banks.

– Ja, lieber Hod, es verlangt mich danach, Sie in Thätigkeit zu sehen.

– Und ich, soll ich nicht mit dabei sein, Herr Kapitän? fragte Fox.

– Ah, der Schlaukopf! rief der Kapitän, er wäre nicht böse darüber, seine halbe Tigerin voll zu machen!

– Ja wohl, Fox, Du wirst dabei sein!«

Da wir das Steam-House voraussichtlich auf drei bis vier Tage verließen, fragte Banks auch den Oberst, ob es ihm Recht sei, uns bis nach Souari zu begleiten.

Sir Edward Munro lehnte das dankend ab. Er hatte sich vorgenommen, während unserer Abwesenheit die mittlere über Tarryani gelegene Zone des Himalaya zu besuchen und Goûmi nebst dem Sergeanten Mac Neil mitzunehmen.

Banks beruhigte sich damit.

Es wurde nun bestimmt, daß wir noch an demselben Tage nach dem Kraal aufbrechen und uns von Mathias Van Guitt einige Chikaris erbitten wollten, welche gewiß sehr ersprießliche Dienste leisten konnten.

Binnen einer Stunde, gegen Mittag, erreichten wir unser Ziel. Der Händler wurde von dem Vorhaben unterrichtet. Er verhehlte keineswegs seine geheime Befriedigung, als er von den kühnen Raubzügen der Tigerin hörte, »welche, sagte er, dazu geschaffen scheine, bei den Kennern die Achtung vor den Katzen der Halbinsel zu erhöhen«.

Er stellte uns drei seiner Hindus zur Verfügung, ohne Kalagani, der stets bereit war, wo es galt, einer Gefahr entgegen zu gehen.

Mit Kapitän Hod traf Jener nur das Abkommen, daß die Tigerin, wenn sie unerwarteter Weise sollte lebendig gefangen werden können, der Menagerie Mathias Van Guitt’s angehöre. Welches Zugmittel, wenn eine an den Balken des Käfigs hängende Notiz in beredten Worten gesprochen hätte, »von den Großthaten einer der Königinnen Tarryanis, die nicht weniger als hundertachtunddreißig Personen beiderlei Geschlechts aufgefressen hatte«.

Unsere kleine Gesellschaft verließ den Kraal gegen zwei Uhr Nachmittags. Vor vier Uhr noch gelangten wir, eine östliche Richtung bergaufwärts einhaltend, ohne Zwischenfall nach Souari.

Hier war der Schrecken auf seinem Höhepunkt. Am nämlichen Morgen hatte die Tigerin ein unglückliches Hinduweib, das sich unbedachtsam nach einem Bache begeben, gepackt und in den Wald geschleppt.

Das Haus eines Bergbewohners, eines reichen englischen Bodenpächters, nahm uns gastfrei auf. Unser Wirth hatte mehr als alle Anderen Ursache, sich über das unergreifbare Raubthier zu beklagen, dessen Fell er gern mit einigen Tausend Rupien bezahlt hätte.

»Herr Kapitän Hod, begann er, vor mehreren Jahren zwang eine Tigerin in den Centralprovinzen die Bewohner von dreizehn Dörfern zur Flucht, wodurch zweihundertfünfzig Quadratmeilen des besten Bodens ungenutzt liegen blieben. Wenn das hier so fort geht, wie in der letzten Zeit, muß die ganze Provinz aufgegeben werden.

– Und Sie haben schon alle Mittel versucht, der Tigerin habhaft zu werden? fragte Banks.

– Alle, Herr Ingenieur, Fallen, Gruben, selbst mit Strychnin vergiftete Köder! Nichts hat Erfolg gehabt!

– Lieber Freund, sagte Kapitän Hod, ich verspreche zwar nicht bestimmt, daß wir Ihnen Vergeltung schaffen, aber daß wir Alles thun werden, was in unseren Kräften steht!«

Sobald wir in Souari vollständig untergebracht waren, wurde noch für denselben Tag ein Treibjagen verabredet. Uns, unseren Leuten und den Chikaris aus dem Kraal schlossen sich etwa zwanzig Landleute an, welche das Terrain, auf dem wir operiren wollten, gründlich kannten.

Obwohl Banks nichts weniger als Jäger war, schien dieser Ausflug doch sein Interesse zu erregen.

Während der drei Tage des 24., 25. und 26. Juli durchstreiften wir weite Strecken des Gebirges ganz erfolglos, außer daß zwei Tiger, an die man gar nicht gedacht, der Kugel des Kapitäns erlagen.

»Den fünfundvierzigsten!« begnügte sich Hod anzumelden, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen.

Am 27. endlich verrieth die Tigerin ihre Gegenwart durch eine neue Uebelthat. Ein unserem Wirthe gehöriger Büffel verschwand von einer Weide dicht neben Souari, und eine Viertelmeile vom Dorfe fand man nur wenig Ueberreste von demselben wieder. Die Frevelthat – ein Mord mit Vorbedacht, würde ein Jurist sagen – war offenbar vor Tagesanbruch geschehen. Der Mörder konnte nicht fern sein.

War der eigentliche Urheber jenes Verbrechens aber wirklich jene schon so lange vergeblich gesuchte Tigerin?

Die Hindus aus Souari hegten darüber keinen Zweifel.

»Das ist mein Onkel gewesen, es kann kein anderer gewesen sein, der den Streich verübt hat!« erklärte einer der Bergbewohner.

Mein Onkel! So bezeichnen die Hindu nämlich im größten Theile der Halbinsel den Tiger ganz allgemein. Es kommt das daher, daß sie die Seele eines ihrer Vorfahren in dem Körper eines Mitglieds der Katzenfamilie vermuthen.

Hier hätten sie freilich richtiger sagen sollen: Das ist meine Tante!

Sofort wurde der Entschluß gefaßt, dem Thiere vor Einbruch der Nacht nachzuspüren, weil jenes sich im Dunklen jeder Nachstellung leichter zu entziehen vermochte. Jetzt mußte es stark gesättigt sein und verließ seinen Schlupfwinkel unter zwei bis drei Tagen voraussichtlich nicht wieder.

Wir brachen also auf. Von der Stelle, wo der Büffel geraubt worden war, bezeichneten Blutspuren den von der Tigerin eingeschlagenen Weg. Diese Spuren führten nach einem kleinen Gehege, das freilich schon mehrmals abgesucht worden war, ohne etwas darin zu finden. Jetzt sollte das Dickicht dadurch umzingelt werden, daß man einen Kreis bildete, aus dem das Thier wenigstens nicht ohne gesehen zu werden, entwischen konnte.

Die Einwohner stellten sich in der Weise auf, daß sie nach und nach durch Verengerung des Kreises dem Mittelpunkte näher kamen. Kapitän Hod, Kâlagani und ich, wir befanden uns auf der einen Seite, Banks und Fox auf der anderen, immer aber in einer Stellung, um mit den Leuten aus dem Kraal und jenen aus dem Dorfe Fühlung zu behalten. Offenbar war jeder Punkt des Ringes mit gleicher Gefahr bedroht, da Niemand wissen konnte, wohin die Tigerin ausbrechen würde. Daß das Thier sich in dem Wäldchen befand, stand außer Zweifel. Die Spuren, welche an einer Seite des Gehölzes ausliefen, waren nirgends anders wieder aufzufinden. Man konnte eben nicht behaupten, ob hier sein gewöhnliches Lager war, da man den Ort schon wiederholt vergeblich durchsucht hatte; für den Augenblick sprachen jedoch alle Voraussetzungen dafür, daß es sich in dem Wäldchen verborgen hielt.

Es war jetzt gegen acht Uhr Morgens. Nachdem alle Maßregeln getroffen, gingen wir langsam, geräuschlos vorwärts, indem wir den einschließenden Ring enger zusammenzogen. Eine halbe Stunde später stießen wir auf die Linie der ersten Bäume.

Bis jetzt regte sich nichts; nichts verrieth die Anwesenheit des Raubthieres, und ich fragte mich schon, ob wir uns nicht ganz zwecklos abmühten.

Augenblicklich konnte man nur Diejenigen sehen, welche ein sehr beschränktes Stück des Bogens einnahmen, und doch lag sehr viel daran, ganz gleichmäßig vorzudringen.

Aus diesem Grunde waren wir übereingekommen, daß der zuerst in den Wald Eindringende einen Gewehrschuß als Signal abgeben sollte.

Dieses Signal erfolgte durch Kapitän Hod, der immer voraus war, und wir drangen durch den Waldrand ein. Ich sah nach meiner Uhr; sie zeigte acht Uhr fünfunddreißig Minuten.

Nach einer weiteren Viertelstunde war der Kreis so eng geworden, daß wir uns fast mit den Ellenbogen berührten, und nun hielt Alles vor der dichtesten Mitte des Gehölzes an – aber noch hatte sich nichts gezeigt.

Das rings herrschende Schweigen unterbrach nur das Knacken dürrer Aeste, die trotz aller Vorsicht doch zuweilen zertreten wurden.

Da ließ sich ein dumpfes Geheul vernehmen.

»Dort steckt die Bestie!« rief Kapitän Hod und zeigte nach dem Eingange einer Felsenhöhle, über der sich eine Gruppe hoher Bäume erhob.

Kapitän Hod täuschte sich nicht. Mochte das auch nicht der gewöhnliche Schlupfwinkel der Tigerin sein, so hatte sie doch, als sie sich von einer großen Gesellschaft von Jägern verfolgt sah, darin Schutz gesucht.

Hod, Banks, Fox, Kâlagani und einige Leute aus dem Kraal hatten sich dem engen Eingang genähert, zu dem auch einzelne Blutspuren hinführten.

»Wir werden da hineindringen müssen, sagte Kapitän Hod.

– Das dürfte gefährlich werden, meinte Banks, der Erste, welcher hinein kommt, könnte ohne schwere Verwundung kaum davonkommen.

– Ich wag’s, rief Hod, nachdem er sich überzeugt, daß seine Büchse gut in Stand war.

– Nach mir, Herr Kapitän, erklärte Fox, der sich schon zu der engen Oeffnung der Höhle niederbog.

– Nein, Fox, nimmermehr! rief Kapitän Hod, der kommt mir zu!

– Aber, Herr Kapitän, entgegnete Fox in sanftem Tone, ich bin ja um sechs im Rückstand!« ….

Beide hatten in dem Augenblicke nur die Liste der erlegten Tiger im Kopfe.

»Ihr werdet weder der Eine noch der Andere da hinein gehen, fiel jetzt Banks ein; das lasse ich nimmer zu!

– Vielleicht giebt es noch ein anderes Mittel, unterbrach Kâlagani den Ingenieur.

– Und welches?

– Nun, wir räuchern die Höhle aus, antwortete der Hindu. Das Thier muß dann zum Vorschein kommen. Wir laufen dabei weniger Gefahr und können es draußen leichter erlegen.

– Kâlagani hat Recht, sagte Banks …. Wohlan, Leute, schafft trockenes Holz und dürres Laub herbei! Stopft mir die Oeffnung gut zu. Der Wind wird Rauch und Flammen nach innen treiben, dann muß sich die Bestie entweder rösten lassen oder zu entfliehen suchen.

– Die Tigerin wird das Letztere wählen, meinte der Hindu.

– Nach Belieben, versetzte Hod, wir werden zur Hand sein, sie im Vorübergehen zu begrüßen!«

Sofort wurde nun Laubwerk, vertrocknetes Gras, dürres Holz – daran fehlte es in dem Wäldchen nicht – kurz, ein großer Haufen von brennbarem Material vor der Oeffnung der Höhle aufgestapelt.

Im Innern derselben blieb noch Alles still. Nichts zeigte sich in dem dunklen Schlunde, der ziemlich tief zu sein schien. Doch hatten mich meine Ohren nicht betrogen. Das Geheul kam bestimmt von hier heraus.

Jetzt zündete man Feuer an. Bald stand Alles in lichten Flammen. Ein scharfer, dichter Qualm stieg von dem Brandherd empor, den der Wind zurücktrieb und der die Luft im Innern völlig unathembar machen mußte.

Da hörte man ein zweites, aber weit wüthenderes Geheul. Das Thier merkte, daß auch sein letzter Schlupfwinkel angegriffen wurde, und um nicht zu ersticken, mußte es wohl oder übel nach außen durchbrechen.

Wir warteten, längs der Seitenwand des Felsens aufgestellt und halb gedeckt durch Baumstämme, um dem ersten Ansturm auszuweichen.

Der Kapitän hatte sich einen anderen Platz erwählt, und ich muß gestehen, gerade den gefährlichsten. Dieser befand sich am Eingang zu einem Stege in dem Gehölz, dem einzigen, den die Tigerin einschlagen mußte, wenn sie durch das Dickicht entfliehen wollte. Hod kniete auf der Erde, um einen sicheren Standpunkt zu haben, und hatte die Büchse schon im Anschlag liegen; der ganze Mensch war unbeweglich wie Marmor.

Kaum drei Minuten verflossen seit der Anzündung des Holzhaufens, als ein drittes Geheul, oder diesmal vielmehr ein halb ersticktes Röcheln aus der Mündung der Höhlung heraustönte. Plötzlich wurde der brennende Haufen auseinandergerissen und ein riesiger Körper erschien in dem dicken Rauche.

Es war die gesuchte Tigerin.

»Feuer!« rief Banks.

Zehn Flintenschüsse krachten, wir überzeugten uns aber später, daß keine Kugel ordentlich getroffen hatte. Das Thier trat uns gar zu schnell vor die Augen. Wie hätte man auch bei den schwarzen Rauchwirbeln, die es verhüllten, richtig zielen können!

Die Tigerin berührte nach ihrem ersten Satze nur die Erde, um zu einem zweiten auszuholen und nach dem Dickicht zu stürzen.

Kapitän Hod erwartete das Raubthier mit größter Kaltblütigkeit, und indem er es gleichsam im Fluge auf’s Korn nahm, jagte er demselben eine Kugel entgegen, welche es freilich nur an einer Schulter verwundete.

Mit der Schnelligkeit eines Blitzes hatte die Tigerin sich auf unseren Freund geworfen, ihn zu Boden gestreckt und wollte ihm eben den Kopf mit einem furchtbaren Tatzenschlage zerschmettern ….

Da sprang Kâlagani hinzu, ein langes Messer in der Faust.

Der Aufschrei, der uns entfuhr, war noch nicht verhallt, als der muthige Hindu auf die Bestie losstürzte, diese gerade an der Kehle packte, als die rechte Tatze schon auf den Schädel des Kapitäns niederfallen sollte.

Gestört durch diesen unerwarteten Angriff, warf das Thier den Hindu durch eine Bewegung der Hüfte zu Boden und kehrte sich grimmig gegen diesen.

Kapitän Hod aber hatte sich mit einem Satze erhoben, ergriff das von Kâlagani verlorene Messer und bohrte es mit sicherer Hand der Katze tief in’s Herz.

Die Tigerin wälzte sich am Boden.

Höchstens fünf Minuten lang hatte die ganze aufregende Scene gewährt.

Kapitän Hod lag noch auf den Knieen, als wir zu ihm eilten. Kâlagani, an der Schulter blutend, erhob sich eben wieder.

»Bag mahryaga! Bag mahryaga!« rief der Hindu, was so viel bedeutete als: Die Tigerin ist todt!

Ja wohl, sie war todt! Welch‘ herrliches Thier! Zehn Fuß lang von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, der Körper in passendem Verhältniß, mit ungeheueren, mit langen Krallen bewehrten Tatzen, die auf der Mühle des Schleifers zugeschärft schienen.

Während wir das Raubthier bewunderten, überhäuften es die Hindus, ihrem berechtigten Grolle Luft machend, mit Schmähungen aller Art. Kâlagani hatte sich dem Kapitän genähert.

»Ich danke, Herr Kapitän! sagte er.

– Was hast Du zu danken? erwiderte der Kapitän, ich, lieber Freund, stehe in Deiner Schuld.

Ohne Deine Hilfe wäre es um einen der Kapitäne der ersten Schwadron von den Carabiniers der königlichen Armee geschehen gewesen!

– Ohne Sie wäre ich jetzt todt! antwortete kühl der Hindu.

– Aber, alle Wetter, sprangst Du nicht mit dem Messer in der Hand auf die Tigerin zu, als sie mir eben die Hirnschale einhämmern wollte?

– Sie haben ihr aber den Todesstoß gegeben, Herr Kapitän; sie bildet ihren siebenundvierzigsten!

– Hurrah! Hurrah! schrieen die Hindus. Hurrah dem Kapitän Hod!«

Der Kapitän war allerdings berechtigt, diese Tigerin auf sein Conto zu schreiben, aber er dankte auch Kâlagani durch einen warmen Händedruck.

»Kommt mit nach dem Steam-House, wandte sich Banks an Kâlagani. Euere Schulter ist durch einen Tatzenschlag zerrissen; in unserer Reise-Apotheke werden wir hoffentlich Mittel finden, diese Wunde zu heilen!«

Kâlagani verneigte sich zustimmend, und nachdem wir von den Bergbewohnern, welche uns mit Dankesbezeigungen überschütteten, Abschied genommen, begaben wir uns wieder nach dem Sanatorium zurück.

Die Chikaris verließen uns, um nach dem Kraal zu gehen. Auch diesesmal kehrten sie mit leeren Händen zurück, und wenn Mathias Van Guitt auf jene »Königin von Tarryani« gerechnet hatte, so blieb ihm nichts weiter übrig, als diese zu bedauern. Unter den gegebenen Verhältnissen war es wirklich unmöglich, dieselbe lebendig zu fangen.

Gegen Mittag trafen wir wieder bei dem Steam-House ein. Hier wartete unser eine unangenehme Überraschung. Zu unserem größten Bedauern waren Sir Edward Munro, Sergeant Mac Neil und Goûmi weggereist.

Ein an Banks gerichtetes Billet theilte diesem zur Beruhigung mit, Sir Edward Munro wolle, geleitet auch von dem Verlangen, einen Ausflug bis zur Grenze von Nepal vorzunehmen, dabei gewisse Zweifel, welche noch über die Genossen Nana Sahib’s herrschten, aufklären und er werde sicherlich zurück sein, bevor die Zeit für die Abfahrt aus dem Himalaya herankäme.

Bei der Vorlesung dieser Zeilen schien es mir, als ob Kâlagani eine halb ärgerliche Bewegung machte.

Weshalb diese Bewegung? Ich täuschte mich wahrscheinlich.

Erstes Capitel.


Erstes Capitel.

Unser Sanatorium.

»Die Unmeßbaren der Schöpfung!« – Sollte dieser stolze Name, den der Mineralog Hauy zur Kennzeichnung der amerikanischen Anden gebrauchte, nicht mit noch mehr Berechtigung Anwendung finden können auf die ausgedehnte Himalayakette, welche der Mensch heute noch nicht mit mathematischer Sicherheit zu messen im Stande ist?

Dieser Gedanke erfüllte mich beim Anblick jener großartigen Hochgebirgsnatur, in der Oberst Munro, Kapitän Hod, Banks und ich mehrere Wochen zubringen sollten.

»Diese Bergriesen sind nicht allein unmeßbar, erklärte uns der Ingenieur, sondern ihre Gipfel dürfen auch als unersteigbar gelten, da der menschliche Organismus in solchen Höhen nicht mehr zu functioniren vermag, wo die Dichtigkeit der Luft zu gering ist, um dem Athembedürfnisse zu entsprechen!«

Ein zweitausend fünfhundert Kilometer langer Wall von Urgebirgsformationen, wie Granit, Gneiß und Glimmerschiefer, der vom zweiundsiebenzigsten bis zum fünfundneunzigsten Meridian reicht und zwei Präsidentschaften, Agra und Calcutta, nebst zwei Königreichen, Bouthan und Nepal, theilweise bedeckt; – eine Kette, an der sich bei ihrer, den Gipfel des Montblanc um ein Drittel übersteigenden Höhe drei verschiedene Zonen erkennen lassen, die erste von 5000 Fuß und einem gemäßigteren Klima als dem der vorgelagerten Ebenen, welche im Winter eine Roggen-, im Sommer eine Maisernte liefert; die zweite von 5- bis 9000 Fuß, wo der Schnee schon schmilzt, wenn der Frühling einzieht; die dritte von 9- bis 25.000 Fuß Höhe und mit dickem Eise bedeckt, das selbst in der heißen Jahreszeit der Sonnenstrahlen spottet; – in dieser großartigen Anschwellung der Erdkugel elf Pässe, von denen einige das Gebirge in einer Höhe von 20.000 Fuß durchbrechen und durch die man, wegen der immerfort drohenden Lawinen, der Zerstörung durch Bergströme und wegen des Vordringens gewaltiger Gletschermassen nur unter großen Beschwerden nach Tibet gelangen kann; über diesem Kamme, einmal oben abgerundet zu mächtigen Kuppeln, ein andermal glatt wie der Tafelberg am Cap der Guten Hoffnung, sieben bis acht theilweise vulkanische Einzelberge, welche die Quellen der Cogra, Djumma und des Ganges beherrschen, wie der Doukia und der Kintchindjinga, die über 7000 Meter emporsteigen, der Dhiodounga mit 8000 Meter, der Dhawalagiri mit 8500, der Tchamoulari mit 8700 Meter Höhe; der Mount Everest, der seinen Gipfel sogar bis 9000 Meter emporsendet, und von welchem aus das Auge des Beobachters ein Ländergebiet so groß wie ganz Frankreich müßte überblicken können; eine Aufhäufung von Bergmassen, welche die Alpen, wenn man sie auf die Alpen, die Pyrenäen, wenn man sie auf die Anden thürmte, in der Höhenscala der Erdkugel nicht übertreffen würden – das ist die kolossale Bodenerhebung, deren äußerste Gipfel auch der Fuß des verwegensten Bergsteigers niemals betreten wird, und die man die Himalayakette nennt!

Die ersten Stufen dieser gigantischen Propyläen sind in großen Strecken dicht bewaldet. Hier findet man verschiedene Vertreter aus der reichen Familie der Palmen, die in höheren Zonen endlosen Wäldern von Eichen, Cypressen und Pinien oder üppigen Bambusdickichten und hohen Gräsern Platz machen.

Banks, der uns hierüber belehrte, erwähnte auch, daß die Grenze des ewigen Schnees am indischen Abhange des Gebirges bis auf viertausend Meter herabreiche, sich am tibetanischen aber bis sechstausend Meter über dem Meere zurückziehe. Es kommt das daher, daß die vom Südwinde herzugeführten Dunstmassen von dem ungeheueren Walle aufgehalten werden. Deshalb sind auf der anderen Seite von Gerstenfeldern und herrlichen Wiesen umgebene Dörfer noch in 15.000 Fuß Höhe anzutreffen. Wenn man den Eingebornen glauben darf, reicht dort schon eine einzige Nacht hin, die Weideplätze mit einem grünen Teppiche zu überziehen.

In der mittleren Zone repräsentiren Pfauen, Rebhühner, Fasanen, Trappen und Wachteln die befiederte Welt. Ziegen giebt es in Ueberfluß, von Schafen wimmelt es überall. In der oberen Zone findet man nur noch den Eber, die Gemse nebst der wilden Katze, und einsam zieht der Adler seine weiten Kreise hoch über der dürftigen Pflanzenwelt, der schwach besetzten Musterkarte einer arktischen Flora.

Bis dahin zog Kapitän Hod seine Sehnsucht freilich gar nicht. Weshalb hätte dieser Nimrod den Himalaya aufsuchen sollen, wenn er auch hier nur das gewöhnliche Tafelwild hätte jagen können? Zum Glück sollte es aber an großen Raubthieren, die seiner Enfieldbüchse und seiner Explosionsgeschosse würdig waren, gewiß nicht fehlen.

Am Fuße der ersten Abhänge der Bergkette hin erstreckt sich nämlich eine tiefere Zone, von den Hindus der Gürtel von Tarryani genannt. Es ist das eine lange, geneigte, sechs bis acht Kilometer breite, feuchtwarme Ebene mit düsterer Vegetation und dichten Wäldern, in welchen reißende Thiere mit Vorliebe hausen. Ueber diesem Paradiese eines Jägers, der die nervenerschütternde Aufregung des Kampfes liebt, befand sich nur fünfzehnhundert Meter höher der von uns gewählte Halteplatz. Es war also leicht genug, nach diesem Jagdreviere, das unter Niemandes Aufsicht stand, hinunter zu gehen.

Aller Aussicht nach durfte man annehmen, daß Kapitän Hod lieber die unteren Stufen des Himalaya als dessen obere Zonen aufsuchen werde. Hier harrten übrigens nach Aussage aller Reisenden, darunter auch des humorvollen Victor Jacquemont, noch viele geographische Räthsel ihrer endlichen Lösung.

»Man kennt also diese riesenhafte Bergkette noch immer nur unvollkommen? fragte ich Banks.

– Sehr unvollkommen, antwortete der Ingenieur. Der Himalaya gleicht einem kleinen Planeten, der sich unserer Erdkugel zwar angeschlossen hat, aber seine Geheimnisse bewahrt.

– Doch ist er bereist, erwiderte ich, und durchforscht, soweit das möglich war!

– Gewiß! An Himalaya-Reisenden hat es nie gefehlt, bestätigte Banks. Die Brüder Gérard, Webb, die Officiere Kirpatrik und Fraser, Hogdson, Herbert, Lloyd, Hooker, Cunningham, Strabing, Skinner, Johnson, Moorcroft, Thomson, Griffith, Bigne, Hügel, die Missionäre Huc und Gabet, neuerdings die Gebrüder Schlagintweit, Oberst Wangh und die Lieutenants Reuillier und Montgommery haben durch ausgezeichnete Arbeiten die orographische Anordnung dieses Rückens der Erde in weitem Umfange kennen gelehrt. Trotz alledem bleibt noch gar Vieles zu wünschen übrig. Die genaue Höhe der hervorragendsten Bergspitzen hat unzählige Berichtigungen erfahren. So galt z. B. früher der Dhawalagiri für den König der ganzen Kette; nach späteren Messungen mußte er diesen Ehrenplatz dem Kintchindjinga abtreten, der seinerseits wieder durch den Mount Everest entthront werden zu sollen scheint. Bisher übertrifft der letztere alle seine Rivalen. Indessen würde nach Aussage der Chinesen der Kouin-Lun – der freilich mit den präcisen Instrumenten der europäischen Geometer noch nicht gemessen wurde – den Mount Everest noch um eine Kleinigkeit überragen, und der höchste Punkt unserer Erde wäre demnach überhaupt nicht im Himalaya zu suchen. Jene Messungen können übrigens erst dann als mathematisch sicher gelten, wenn ihnen Barometerbeobachtungen zugrunde liegen und dabei alle, für solche directe Messungen unerläßliche Vorsichtsmaßregeln beachtet wurden. Wie kann man aber dazu gelangen, ein Barometer nach jenen fast unersteigbaren Gipfeln zu schaffen? Das ist bisher eben noch nicht geschehen.

– Es wird aber dazu kommen, ließ Kapitän Hod sich vernehmen, ebenso wie man noch Reisen bis zum Nord- und zum Südpol ausführen wird.

– Ganz ohne Zweifel!

– Wie eine Reise bis in die unergründeten Tiefen des Oceans!

– Gewiß, gewiß!

– Eine solche nach dem Mittelpunkte der Erde!

– Bravo, Hod!

– Wie überhaupt Alles noch einmal gelingen wird, fügte ich hinzu.

– Selbst die Fahrt nach einem beliebigen Planeten unseres Sonnensystems! fuhr Hod fort, der in solchen Phantasien nicht so leicht ein Ende fand.

– Nein, Kapitän, erwiderte ich. Der Mensch als einfacher Bewohner der Erde wird niemals im Stande sein, deren Grenzen zu überschreiten. Doch wenn er auch an ihrer Rinde festgenietet ist, so vermag er doch alle Geheimnisse derselben zu ergründen.

– Er kann das nicht nur, es ist sogar seine Pflicht! fiel Banks ein. Alles was innerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegt, wird und muß erreicht werden. Nachher, wenn der Mensch auf der von ihm bewohnten Kugel nichts mehr zu lernen hat, dann…

– Dann verschwindet er sammt dem Sphäroid, das für ihn keine Geheimnisse mehr hat, vollendete Hod den Satz.

– Mit nichten! entgegnete Banks, … dann herrscht er über dasselbe und nutzt es ganz zu seinem Vortheile aus. Da wir uns aber gerade im Himalayagebiete befinden, will ich Ihnen, lieber Hod, Gelegenheit zu einer merkwürdigen Entdeckung bieten, die Sie vielleicht interessirt.

– Was meinen Sie, Banks?

– In seinem Reiseberichte erwähnt der Missionär Huc eines sonderbaren Baumes, der in Tibet ganz allgemein »der Baum der zehntausend Bilder« genannt wird. Der Hindu-Legende nach soll nämlich Tong Kabac, der Reformator der buddhistischen Religion, schon einige Tausend Jahre früher in einen Baum verwandelt worden sein, ehe Philemon, Baucis und Daphne, jene merkwürdigen Pflanzenwesen der mythologischen Flora, dasselbe Schicksal ereilte. Der Haarschmuck Tong Kabac’s soll damals zur Laubkrone jenes heiligen Baumes geworden sein und auf seinen Blättern sollen sich, der Missionar behauptet das gesehen – mit eigenen Augen gesehen – zu haben, von den Blattnerven gebildete tibetanische Schriftzüge vorfinden.

– Ein Baum also, dem gleich gedruckte Blätter entsprießen! rief ich.

– Ja, und von denen man Sprüche der reinsten, höchsten Moral ablesen kann, fügte der Ingenieur hinzu.

– Das lohnt der Mühe einer Untersuchung, sagte ich lachend.

– Suchen Sie darüber Gewißheit zu erlangen, meine Freunde, meinte Banks. Wenn solche Bäume im südlichen Theile Tibets vorkommen, so müssen sie auch in der oberen Zone, auf dem Abhange des Himalaya zu finden sein. Also haben Sie bei unseren Ausflügen ein Auge darauf, diesen … ja, wie soll ich sagen… diesen »Sittenlehrer« zu entdecken.

– Nein, daran denke ich nicht! erwiderte Hod. Ich bin hier, um zu jagen, und habe keinen Nutzen vom Bergklettern.

– Aber, Freund Hod, entgegnete Banks, ein so kühner Bergsteiger wie Sie wird doch wenigstens einmal den Gebirgskamm erklimmen?

– Niemals! erklärte der Kapitän bestimmt. – Und warum?

– Ich habe auf alle Bergfahrten verzichtet!

– Und seit wann?

– Seit dem Tage, antwortete Kapitän Hod, da ich, immer in Lebensgefahr schwebend, unter größter Anstrengung den Gipfel des Vrigel im Königreiche Buthan erklomm. Man hatte mir versichert, daß noch keines Menschen Fuß diese Spitze betreten habe. Das stachelte meine Eigenliebe an! Unter tausend Gefahren gelange ich nach dem First, was finde ich aber da in einem Felsblock eingemeißelt? … »Durand, Zahnarzt, Rue Caumartin 14, Paris!« – Seitdem klettere ich nicht mehr!«

Armer Kapitän, ich muß indeß gestehen, daß Hod die Erzählung dieser fatalen Enttäuschung mit so lustiger Geberde zum Besten gab, daß wir nicht umhin konnten, aus vollem Herzen zu lachen.

Ich erwähnte wiederholt der »Sanatorien« der Halbinsel. Diese in den Bergen gelegenen Gesundheitsstationen werden während des Sommers, wo die brennende Hundstagssonne der Ebenen Indien zu verzehren droht, von Rentiers, Beamten und Kaufleuten vielfach aufgesucht.

In erster Linie ist hier Simla zu nennen, das unter dem einunddreißigsten Breitengrade westlich vom fünfundsechzigsten Meridian liegt. Es ist das wirklich ein Stückchen Schweiz mit Wasserfällen und Gebirgsbächen und den im Schatten von Cedern und Pinien verstreuten Sennhütten, 2000 Meter über dem Meere. Nach Simla nenne ich Dordjiling mit seinen weißen Häusern, überragt vom Kintchindjinga, etwa fünfhundert Kilometer von Calcutta und in einer Höhe von 2300 Metern, nahe dem sechsundachtzigsten Längen- und dem siebenundzwanzigsten Breitengrade – ein herrliches Plätzchen im schönsten Lande der Welt. An verschiedenen Punkten der Himalayakette finden sich noch andere Sanatorien.

Jetzt tritt nun zu diesen frischen, gesunden Stationen, welche das brennende Klima Indiens unentbehrlich macht, noch unser Steam-House hinzu. Doch das gehört uns ganz allein. Es bietet allen Comfort der luxuriösesten Wohnungen der Halbinsel; hier finden wir in einer glücklichen Zone neben allen Erfordernissen des modernen Lebens eine Ruhe, die man in Simla oder Dordjiling, wo sich Anglo-Indier in großer Zahl aufhalten, vergeblich suchen würde.

Unsere Niederlassung ist mit gutem Vorbedacht ausgewählt. Die nach dem unteren Theile des Gebirges führende Straße theilt sich hier in zwei Aeste, um einige in Osten und Westen verstreute Dörfer zu verbinden. Das nächste derselben liegt gegen fünf Meilen vom Steam-House entfernt. Bevölkert, ist dasselbe von biederen Bergbewohnern, welche Ziegen und Schafe züchten und ergiebige Korn- und Gerstenfelder besitzen.

Bei unserem zahlreichen Personal bedurfte es unter Banks‘ Leitung nur weniger Stunden, um ein Lager zu organisiren, in dem wir sechs bis sieben Wochen verweilen wollten.

Einer der Vorberge jener vielgliedrigen Nebenketten, welche den ungeheueren Kamm des Himalaya stützen, bot uns ein leicht wellenförmiges, etwa eine Meile langes und eine halbe Meile breites Plateau dazu dar. Der grüne Teppich, der dasselbe bedeckt, gleicht einem weichen Sammetgewebe aus kurzem, dichtem, sozusagen plüschartigem Grase mit duftenden Veilchen durchstickt. Baumähnliche Rhododendrons in der Größe kleiner Eichen, natürliche Blumenkörbe voller Camelien erhöhen den Liebreiz des anmuthigen Bildes. Hier bedarf die Natur nicht der fleißigen Arbeiter von Ispahan oder Smyrna, um diesen Teppich aus feiner vegetabilischer Wolle herzustellen. Einige tausend Samenkörner, die der Südwind diesem fruchtbaren Boden zuführt, ein wenig Wasser und ein wenig Sonne reichen hin, jenes weiche und unverwüstliche Gewebe zu bilden.

Auf dem Plateau erhebt sich ein Dutzend prächtiger Bäume. Es sieht aus, als hätten diese sich als Irreguläre von dem endlosen Walde abgesondert, der die Seiten des Vorberges bedeckt und auf den Nachbargebirgen noch sechshundert Meter emporsteigt. Cedern, Eichen, langblättrige Pandanen, Buchen, Ahorn- und Johannisbrotbäume grünen hier mitten unter Bananen, Bambus, Magnolien und japanischen Feigenbäumen. Einzelne dieser Riesen streben mit ihren äußersten Zweigen über hundert Fuß von der Erde empor. Sie scheinen wirklich dazu geschaffen, eine Waldwohnung zu beschatten. Das Steam-House diente gewissermaßen zur Vervollständigung der Landschaft. Die runden Dächer seiner zwei Pagoden vermählen sich glücklich mit all‘ diesem grünen Gezweig, den starren oder biegsamen Aesten und den Blättern, welche einmal klein und zart sind wie Schmetterlingsflügel und dann wieder breit und lang wie polynesische Pagaien. Unsere fahrbaren Häuser verschwanden fast ganz unter einem Dickicht von Laubwerk und Blumen. Nichts giebt Kunde von ihrer besonderen Eigenschaft; sie erscheinen vielmehr wie eine festbegründete Wohnstätte, die ihre Stelle nicht mehr wechseln soll.

Hinter uns rauscht zur rechten Seite des Bildes über den Abhang des Vorberges ein Wildbach, dessen gewundenes Silberband wir über tausend Fuß hinauf verfolgen können, und stürzt sich in ein natürliches Becken, das eine Gruppe schöner Bäume beschattet.

Aus dem Becken fließt dann quer durch das Wiesenland ein Bach ab, der in einem rauschenden Wasserfalle endigt und als solcher in eine, mit dem Auge nicht zu ermessende Tiefe hinabstürzt.

So liegt das Steam-House ebenso bequem für das häusliche Leben, wie es eine wahrhaft entzückende Augenweide bietet.

Geht man nach dem vorderen Rande des Plateaus, so gewahrt man, daß jenes viele andere, minder bedeutende Bergrücken überragt, welche in gigantischen Stufen bis zur Ebene hinabreichen. Der Hintergrund ist gerade entfernt genug, um ihn mit dem Blicke umfassen zu können.

Rechts steht unser erster Wagen so in schiefer Richtung, daß man den südlichen Horizont ebenso von dem Balkon der Veranda, wie von den Seitenfenster des Salons, von denen des Speisezimmers und von den Cabinen der linken Seite übersehen kann. Große Cedern ragen darüber empor und heben sich deutlich von dem entfernten Hintergrunde der großen Bergkette ab, welche unter ewigem Schnee begraben liegt. Zur linken Hand lehnt sich der zweite Wagen an die Wand eines gewaltigen, von der Sonne vergoldeten Granitfelsens. Sowohl durch seine bizarre Form wie durch seinen warmen Farbenton erinnert dieser Felsen lebhaft an jene riesigen »Plum-Puddings«, welche Russel Kilough in seiner Reise durch das südliche Indien erwähnt. Von dieser, Mac Neil und dem übrigen Personal überlassenen Wohnung sieht man nur eine Seite. Sie steht etwa zwanzig Schritte von der Hauptwohnung entfernt, wie das Nebengebäude einer bedeutenden Pagode. Am Ende eines der Dächer, welche dieselbe überwölben, erhebt sich ein feiner Streifen bläulichen Rauches aus dem Küchenlaboratorium des Monsieur Parazard. Weiter nach links hin bedeckt eine, von dem Walde kaum getrennte Baumgruppe den westlichen Rand und bildet gleichsam die Seitencoulissen der Landschaft. Im Rücken und zwischen den beiden Wohnungen erhebt sich ein riesenhafter Mastodon. Es ist unser Stahlriese, der unter die Laubwölbung großer Pandanen gestellt ist. Mit seinem erhobenen Rüssel scheint er die oberen Zweige derselben »abzunagen«. Aber er steht jetzt still. Er ruht aus, obwohl er der Ruhe nicht bedarf. Jetzt dient er als furchtloser Wächter des Steam-Houses, wie ein ungeheures antediluvianisches Geschöpf, und vertheidigt an der Straße, welche er selbst emporklomm, den Zugang zu unserem beweglichen Weiler.

So kolossal unser Elephant auch erscheint – wenigstens so lange man nicht an die himmelhohe Bergkette denkt, welche sich 6000 Meter über das Plateau erhebt – so gleicht er doch fast gar nicht mehr jenem künstlichen Riesen, mit dem Banks‘ geschickte Hand die indische Fauna beschenkte.

»Eine Mücke auf der Façade einer Kathedrale!« sagte Kapitän Hod mit einem gewissen Aerger.

Der Vergleich war nur zu passend. Dahinter ragte nämlich ein Granitblock empor, aus dem man bequem tausend Elephanten von der Größe des unserigen hätte meißeln können, und dieser Block bildete nur einen Absatz, eine der hundert Stufen jener Treppe, die nach dem Kamm des Gebirges hinaufführt und die der Dhawalagiri mit seinem spitzen Gipfel bekrönt.

Manchmal senkt sich der Himmel über diesem Bilde nach dem Beobachter herab. Nicht allein die höchsten Bergspitzen, sondern auch der mittlere Kamm verschwindet zeitweilig. Es rührt das von dichten Dunstmassen her, welche sich in der Mittleren Zone des Himalaya verbreiten und den ganzen unteren Theil desselben verhüllen. Die Landschaft schrumpft gewissermaßen zusammen, und dann erst scheinen, wie durch optische Täuschung, die Wohnstätten, Bäume, die benachbarten Berge und auch der Stahlriese selbst ihre natürliche Größe wieder zu gewinnen.

Es kommt zuweilen auch vor, daß niedriger stehende Wolken von gewissen feuchten Winden gejagt, noch unterhalb unseres Plateaus hinziehen. Dann erblickt das Auge nichts als ein schäumendes Meer, auf dessen bewegter Fläche die Sonne wunderbare Farbenspiele hervorzaubert. Nach oben und nach unten verschwindet der Horizont, und es scheint, als wären wir in irgend eine, außerhalb der Grenze des Erdballes liegende Luftregion versetzt.

Da schlägt der Wind um; eine durch die Lücken der Bergkette dringende nördliche Brise fegt die Nebel weg, das Dunstmeer condensirt sich fast augenblicklich, die Ebene weicht bis zum südlichen Horizont zurück, das prächtige Profil des Himalaya zeichnet sich wieder an dem gereinigten Grunde des Himmels ab, der Rahmen des Bildes nimmt seine normale Größe an, und der entzückte Blick, den kein Hinderniß einengt, umfaßt alle Einzelheiten eines Panoramas von sechzig Meilen Durchmesser.

Zweites Capitel.


Zweites Capitel.

Mathias Van Guitt.

Am nächsten Morgen, dem 26. Juni, weckte mich das Geräusch wohlbekannter Stimmen. Ich sprang auf. Kapitän Hod und sein Diener Fox waren im Speisezimmer in lebhafter Unterhaltung begriffen. Ich gesellte mich zu ihnen.

Gleichzeitig hatte Banks sein Zimmerchen verlassen und der Kapitän redete ihn mit volltönender Stimme an.

»Nun, Freund Banks, da wären wir ja endlich in dem ersehnten Hafen! Hier wird nun Rast gemacht! Es handelt sich nicht mehr um einen Aufenthalt von mehreren Stunden, sondern von einigen Monaten.

– Gewiß, lieber Hod, antwortete der Ingenieur, und nun können Sie auch nach Belieben jagen. Die Pfeife des Stahlriesen wird Sie nicht mehr nach dem Lagerplatz zurückrufen.

– Hörst Du, Fox?

– Gewiß, Herr Kapitän, bestätigte der Diener.

– Nun sei mir der Himmel günstig, rief Hod, das Sanatorium des Steam-Houses verlasse ich aber nicht eher, als bis der Fünfzigste von meiner Büchse gefallen ist! Der Fünfzigste, Fox! Es scheint mir nur, als werde es mit dem Fünfzigsten so seine Schwierigkeiten haben!

– Wir werden sie zu besiegen wissen, bemerkte Fox.

– Weshalb glauben Sie das, Kapitän Hod, fragte ich.

– O, Maucler, das ist so eine Ahnung …. Eine Jägerahnung, weiter nichts!

– So werden Sie also, sagte Banks, schon von heute an von hier ausziehen und den Feldzug eröffnen?

– Von heute an, erwiderte Hod. Wir werden damit beginnen, das Terrain zu recognosciren und die untere Zone bis zu den Wäldern von Tarryani absuchen – vorausgesetzt, daß die Tiger ihre alte Heimat nicht aufgegeben haben…..

– Wie können Sie das glauben?…..

– Ah, mein bekanntes Pech!

– Bekanntes Pech!…. Am Himalaya!…. versetzte der Ingenieur, wäre das möglich!

– Nun, wir werden ja sehen! Sie begleiten uns doch, Maucler? fragte Kapitän Hod, sich an mich wendend.

– Ei, gewiß!

– Und Sie, Banks?

– Ich ebenfalls, antwortete der Ingenieur, und ich hoffe sogar, daß auch Munro sich so wie ich, d. h. mehr als Dilettant, Ihnen anschließen wird.

– Oho, entgegnete Kapitän Hod, als Dilettant! Nun, meinetwegen, aber als wohlbewaffneter Dilettant. Hier ist nicht die Rede davon, mit dem Stocke in der Hand spazieren zu gehen. Das wäre eine Beleidigung für die Raubthiere von Tarryani!

– Einverstanden! antwortete der Ingenieur.

– Also Fox, fuhr der Kapitän sich an seinen Diener wendend, fort, diesmal keine Mißgriffe! Wir sind im Lande der Tiger! Vier Enfieldbüchsen für den Oberst, für Banks, Maucler und mich, und zwei Gewehre mit explodirenden Geschossen für Dich und Goûmi.

– Seien Sie ohne Sorgen, Herr Kapitän, versicherte Fox. Das Wild soll sich nicht zu beklagen haben!«

Dieser Tag sollte also der Erforschung jenes Waldes von Tarryani gewidmet werden, der, noch unterhalb unseres Sanatoriums, den Fuß des Himalaya bedeckt. Nach eingenommenem Frühstück, gegen elf Uhr, stiegen wir, Sir Edward Munro, Banks, Hod, Fox, Goûmi und ich, die schräg nach der Ebene hinabfallende Straße hinunter, ließen aber die beiden Hunde zurück, die uns heute nichts nützen konnten.

Der Sergeant Mac Neil, Storr, Kalouth und der Koch blieben gleichfalls im Steam-House, um unsere Einrichtung zu vollenden. Nach zweimonatlicher Frist mußte auch der Stahlriese innerlich und äußerlich untersucht, gereinigt und in Stand gesetzt werden. Das erforderte eine lange, sorgsame und ausdauernde Arbeit, bei der seine gewöhnlichen Cornacs, der Heizer und der Maschinist, nicht viel feiern konnten.

Um elf Uhr hatten wir das Sanatorium verlassen, und wenige Minuten später, bei der ersten Wendung des Weges, verschwand das Steam-House unseren Blicken hinter einem dichten Baumvorhang,

Es regnete nicht mehr.

Unter dem Antrieb eines frischen Nordostwindes jagten die in den oberen Schichten der Atmosphäre treibenden, zerrissenen Wolken mit großer Schnelligkeit dahin. Der Himalaya war grau – die Temperatur für Fußgänger wie geschaffen; freilich fehlten jetzt auch jene reizenden Spiele des wechselnden Lichtes und Schattens, welche große Wälder sonst zu bieten pflegen.

Zweitausend Meter auf directem Wege hinabzusteigen, das wäre eine Sache von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten gewesen, wenn die vielen Windungen, welche die Steilheit der Abhänge nöthig machte, nicht den Weg bedeutend verlängert hätten. So brauchten wir nicht weniger als anderthalb Stunden, um die obere Grenze der Wälder von Tarryani, fünf- bis sechstausend Fuß über der Ebene zu erreichen. Doch legten wir den Weg in fröhlichster Laune zurück.

»Achtung, rief der Kapitän Hod. Jetzt betreten wir das Gebiet der Tiger, Löwen, Panther, Guepards und anderer wohlthätiger Bewohner der Himalaya-Region. Es ist zwar ganz schön, die wilden Thiere zu besiegen, aber noch besser, nicht von ihnen besiegt zu werden! Halten wir uns demnach hübsch beieinander und lassen wir der klugen Vorsicht ihr Recht!«

Eine derartige Empfehlung aus dem Munde eines so unerschrockenen Jägers verdiente gewiß alle Beachtung. Jeder von uns schrieb sich dieselbe hinter das Ohr. Die Büchsen und Flinten wurden geladen, die Schlösser nachgesehen, die Hähne in Sicherheit gesetzt. Wir waren auf Alles vorbereitet.

Ich bemerke hierzu noch, daß man sich nicht nur vor reißenden Thieren, sondern auch vor Schlangen hüten mußte, von denen in den Wäldern Indiens die gefährlichsten Arten vorkommen. Die »Belongas«, die grünen, die Peitschenschlangen nebst manchen anderen sind außerordentlich giftig. Die Zahl der Opfer, welche jährlich dem Bisse jener Reptilien unterliegen, übersteigt fünf- bis sechsmal die der Hausthiere und Menschen, welche durch die Zähne der Raubthiere umkommen.

Im Gebiete von Tarryani erforderte es also die einfache Klugheit, das Auge überall zu haben, aufzumerken, wohin man den Fuß setzte, worauf man die Hand stützte, auf das leiseste Geräusch zu achten, das aus dem Grase kam oder sich durch das Gebüsch verbreitete.

Um halb ein Uhr gelangten wir unter das Laubdach mehrerer, am Waldessaume dicht zusammenstehender Bäume. Ihr hohes Geäst verstrickte sich über einigen breiteren Wegen, welche der Stahlriese bequem hätte passiren können. Durch diesen Theil des Waldes beförderten die Bergbewohner schon seit langer Zeit das geschlagene Holz; auch jetzt zeigte der weiche Thonboden ziemlich frische Wagenspuren. Diese Hauptstraßen verliefen in der Richtung der Bergkette, reichten der Länge nach durch ganz Tarryani und verknüpften die Lichtungen, welche die Axt der Holzschläger hier und da geschaffen hatte; auf beiden Seiten mündeten ferner schmale Fußsteige aus, die sich in dem undurchdringlichen Dickicht verloren.

Wir folgten also diesen Alleestraßen, mehr als Feldmesser denn als Jäger, da es uns zunächst darum zu thun war, deren Lage und Verlauf kennen zu lernen. Kein Geheul unterbrach das Schweigen des tiefen Waldes. Breite, offenbar noch ganz frische Fährten bewiesen jedoch, daß die Raubthiere Tarryani keineswegs verlassen hatten.

Plötzlich, eben als wir um eine Ecke der Allee bogen, welche vor einem scharf vorspringenden Berge etwas nach rechts ausbog, hemmte unsere Schritte ein Ausruf des Kapitän Hod, der immer vorausging.

Zwanzig Schritt vor uns erhob sich, an der Ecke einer von mächtigen Pandanen begrenzten Waldblöße, ein, wenigstens seines Aussehens wegen merkwürdiges Bauwerk. Ein Haus war es nicht, dazu fehlten ihm Rauchfang und Fenster; eine Jägerhütte auch nicht, denn dazu fehlten ihm die Schießscharten. Man hatte das Ganze wohl für ein, in der Tiefe des Waldes verlorenes Hindu-Grab ansehen können.

Stelle man sich einen verlängerten Würfel vor, errichtet aus nebeneinander gestellten, in den Boden fest gerammten Stämmen, deren obere Enden durch biegsame Zweige fest verbunden waren. Das Dach bildeten andere, wagrecht liegende und am Kopfe der ersteren haltbar eingezapfte Stämme. Offenbar hatte der Erbauer dieses kleinen Bollwerkes demselben nach allen fünf Seiten die größtmögliche Festigkeit zu verleihen gesucht. Es maß etwa sechs Fuß in der Höhe, zwölf in der Länge und fünf in der Breite. Von einem Zugange war nichts zu erblicken, wenn diesen nicht an der Vorderseite eine starke, oben abgerundete Bohle verdeckte, welche das ganze Bauwerk ein wenig überragte.

Ueber dem Dache erhoben sich mehrere biegsame, eigenartig angeordnete und untereinander verknüpfte Zweige. Am Ende eines horizontalen Hebels, der diese Armatur trug, hing ein Laufknoten, oder eigentlich eine aus starken Lianenflechten gebildete Schnalle herab.

»Ah, was ist das? rief ich verwundert.

– Das ist, erwiderte Banks nach kurzer Betrachtung, weiter nichts als eine – Mäusefalle! Welche Mäuse zu fangen sie bestimmt ist, das werden sich die Herren selbst sagen.

– Also eine Tigerfalle? platzte Hod heraus.

– Ja wohl, bestätigte Banks, eine Tigerfalle, deren von der Bohle, welche der Lianenknoten gewöhnlich oben hält, jetzt verschlossene Thür zugefallen ist, weil das Stellbrett im Innern gewiß durch ein Thier berührt wurde.

– Es ist das erste Mal, sagte Hod, daß ich in den Wäldern Indiens eine derartige Falle sehe. Eine Mäusefalle, wahrhaftig! Das erscheint aber eines Jägers unwürdig!

– Und eines Tigers ebenfalls! fügte Fox hinzu.

– Gewiß! meinte Banks, wenn es sich aber darum handelt, wilde Bestien auszurotten, und nicht darum, sie zum Vergnügen zu jagen, so bleibt das beste Mittel immer dasjenige, durch welches die meisten unschädlich gemacht werden. Diese Falle hier scheint mir recht sinnreich erdacht, um wilde Thiere anzulocken und gefangen zu halten, so mißtrauisch und stark sie auch sein mögen.

– Da das Gleichgewicht des Fallbrettes, welches die Thüre hielt, gestört worden ist, bemerkte Oberst Munro, so glaube ich, daß sich wahrscheinlich irgend ein Raubthier gefangen hat.

– Das werden wir bald erfahren! rief Kapitän Hod, und wenn die Maus nicht schon todt ist…«

Der Kapitän begleitete seine Worte mit einer entsprechenden Geste und knackte mit dem Hahne der Büchse. Die Uebrigen folgten seinem Beispiel, indem sie sich zum Schießen fertig machten.

Wir konnten gar nicht darüber in Zweifel sein, daß dieses hölzerne Blockhaus eine Falle darstelle, wie man sie in den Wäldern der Malayenländer häufiger antrifft.

Das Werk eines Hindus schien sie nicht zu sein, wohl aber ließ ihre höchst empfindliche und doch überaus solide Construction die Zweckmäßigkeit der ganzen Anlage auf den ersten Blick erkennen.

Nach kurzer Ueberlegung näherten sich Kapitän Hod, Fox und Goûni der Falle, um sie zuerst von allen Seiten zu besichtigen. Nirgends gewährte jedoch etwa eine Lücke zwischen den lothrechten Stämmen einen Einblick in das Innere derselben.

Sie lauschten gespannt. Nicht das leiseste Geräusch verrieth die Anwesenheit eines lebenden Wesens in dem Holzwürfel, der stumm wie ein Grab vor uns lag.

Kapitän Hod und die Anderen kamen wieder nach der Vorderseite zurück. Sie überzeugten sich davon, daß die bewegliche Bohle in den verticalen Fugen herabgeglitten sein mußte. Wenn man diese emporhob, wurde offenbar der Zugang zur Falle frei gelegt.

»Es ist nicht das mindeste zu hören! sagte Kapitän Hod, der das Ohr an die Thür gelegt hatte, nicht einmal ein Athemzug! Die Mäusefalle ist leer.

– Jedenfalls keine Unvorsichtigkeit!« ermahnte Oberst Munro.

Er nahm auf dem Stamme eines Baumes zur Linken der Lichtung Platz, und ich setzte mich neben ihn.

»Nun vorwärts, Goûmi!« trieb Kapitän Hod.

Der gewandte, wie ein Affe bewegliche uud wie ein Leopard geschmeidige Goûmi – ein wahrer Hindu-Clown – verstand, was der Kapitän meinte. Seine Geschicklichkeit bestimmte ihn naturgemäß zu dem verlangten Dienste. Er schwang sich mit einem Satze auf das Dach der Falle und ergriff einen der Zweige, welche die obere Armatur bildeten. Dann glitt er auf dem Hebel nach dem Lianenringe vor, den er durch sein Körpergewicht bis zu dem Kopftheile der den Eingang verschließenden Bohle herabzog.

Dieser Ring wurde darauf in einem dazu ausgesparten flachen Einschnitte der Bohle befestigt. Nun bedurfte es nur noch der nöthigen Belastung am anderen Hebelende, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen.

Das erforderte jedoch die vereinten Kräfte unserer kleinen Gesellschaft. Oberst Munro, Banks, Fox und ich, wir begaben uns deshalb nach der Rückseite der Falle, um diese Bewegung auszuführend

Goûmi verblieb in der Armatur, um den Hebel frei zu machen, wenn irgend ein Hinderniß dessen Function beeinträchtigen sollte.

»Wenn Sie mich noch brauchen, rief Kapitän Hod uns zu, so komme ich; geht es aber ohne mich, so bleibe ich lieber vor der Falle. Wenn ja ein Tiger herauskäme, soll ihn wenigstens eine Kugel begrüßen.

– Und den würden Sie sich als zweiundvierzigsten anrechnen? fragte ich den Kapitän.

– Warum nicht? antwortete Hod, wenn er durch meine Büchse fällt, findet er den Tod ja in der Freiheit!

– Verkaufen wir das Fell des Bären, fiel der Ingenieur da ein, nicht eher, als bis er erlegt ist.

– Vorzüglich, da dieser Bär ein Tiger sein dürfte! fügte Oberst Munro hinzu.

– Nun faßt kräftig an, Alle zusammen!« rief Banks.

Die Bohle war sehr schwer und glitt nur schwierig in ihren Falzen, doch gelang es uns, sie zu bewegen. Bald schwebte sie etwa einen Fuß hoch über dem Boden.

Halbgebückt und die Büchse in Anschlag, bemühte sich Kapitän Hod, zu sehen, ob sich eine kräftige Tatze oder ein drohender Rachen an der Oeffnung der Falle zeigte, doch vergebens.

»Noch einen Ruck! rief Banks.

Mit Hilfe Goûmi’s, der am hinteren Hebelende anfaßte, gelang es, die Bohle nach und nach höher zu ziehen. Bald wurde die Oeffnung weit genug, um auch einem größeren Raubthiere den Durchgang zu gestatten.

Aber kein Thier ließ sich sehen.

Noch erschien es möglich, daß der Gefangene sich bei dem, rings um die Falle entstandenen Geräusche vielleicht in die dunkelste Ecke derselben verkrochen hatte. Vielleicht lauerte das Thier nur auf den günstigen Augenblick, mit einem Satze heraus zu springen. Jeden, der ihm im Wege war, zu überrennen und in der Tiefe des Waldes zu verschwinden.

Es waren das Augenblicke der höchsten Spannung.

Da sah ich den Kapitän einige Schritte vortreten, den Finger an der Krappe der Büchse, wobei er sich bemühte, den ganzen Innenraum der Falle zu überblicken.

Die Bohle war schon ganz emporgezogen und das Licht drang in breitem Strahle durch die Oeffnung ein.

Jetzt vernahm man durch die Wände hindurch ein leises Geräusch, dann einen dumpfen Laut, wie ein furchtbares Gähnen, das mir sehr verdächtig erschien.

Ohne Zweifel war ein Thier hier, welches vorher schlief und das wir plötzlich geweckt hatten.

Kapitän Hod trat noch näher heran und richtete das Gewehr nach einer unbestimmten Gestalt, die sich im Halbschatten regte.

Plötzlich ward es in der Falle lebendig. Ein Schreckensruf erschallte und ihm folgten die in gutem Englisch gesprochenen Worte:

»Nicht schießen, um des Himmels willen! Nicht schießen!«

Gleich darauf trat ein Mann aus der Falle.

Unser Erstaunen war so groß, daß wir dir Armatur losließen, wodurch die Bohle zurückfiel und den Eingang auf’s Neue verschloß.

Indessen ging die so unerwartet erschienene Persönlichkeit auf Kapitän Hod zu, dessen Büchse noch immer nach der Brust des Fremdlings zielte, und sagte in ziemlich bestimmtem, von einer emphatischen Handbewegüng begleitetem Tone:

»Wollen Sie gefälligst Ihr Gewehr aufrichten, mein Herr! Sie haben es hier nicht mit einem tarryanischen Tiger zu thun!«

– Mit wem haben wir denn die Ehre…? fragte da Banks, auf den Mann zutretend.

– Mit dem Naturforscher Mathias Van Guitt, Hauptlieferanten von Pachydermen, Tardigraden, Proboscidien, Raub- und anderen Säugethieren für die Handlungen der Herren Charles Rice in London und Hagenbeck in Hamburg.«

Darauf wies er mit der Hand auf unseren Kreis. »Und die Herren? . . .

– Oberst Munro nebst dessen Reisegefährte«, antwortete Banks, uns summarisch vorstellend.

– Auf einer Vergnügungsfahrt durch die Forsten des Himalaya! ergänzte der Händler gleich, selbst. Ein herrlicher Ausflug, wahrhaftig! Ich, mache Ihnen mein Compliment, meine Herren!«

Welch‘ ein Original hatten wir da vor uns? Hätte, man nicht glauben können, sein Gehirn habe durch die Einsperrung in der Falle etwas gelitten? War es ein Narr oder war der Mann bei Verstande? Welcher Kategorie von Zweihändern gehörte das Individuum an?

– Wir sollten das nicht nur erfahren, sondern diese Persönlichkeit, die sich für einen Naturforscher ausgab und in der That war, in der Folge auch noch weiter kennen lernen.

Herr Mathias Van Guitt, der Menagerien-Lieferant, trug eine Brille und mochte fünfzig Jahre zählen. Ein glattes Gesicht, blinzelnde Augen, eine gewaltige Nase, die ewige Bewegung des ganzen Körpers, seine jedem Satze, den er sprach, angepaßten, mehr als ausdrucksvollen Gesten drückten ihm unverkennbar den Stempel des bekannten alten Komödianten aus der Provinz auf. Wer ist nicht einmal solchen ergrauten Theaterhelden begegnet, deren ganzes, von dem Horizonte einer Rampe und eines Prospectes begrenztes Leben sich zwischen der »Hof-« und der »Gartenseite« eines wandernden Thespiskarrens abspielte? Unermüdliche Sprecher, gefährliche Gesticulatoren und höchst eingenommen für das werthe Ich, pflegen sie den nach rückwärts geworfenen Kopf möglichst hoch zu tragen, nur erscheint dieser im Alter oft so leer, daß man zur Ueberzeugung kommt, er werde auch im kräftigen Lebensalter nicht besonders gefüllt gewesen sein. In Mathias Van Guitt stak so ein Stückchen eines verwitterten Bretterhelden.

Ich habe einige Male die lustige Anekdote von einem armen Teufel von Sänger gehört, der jedes Wort seiner Rolle mit der entsprechenden grobsinnlichen Geste begleiten zu müssen glaubte.

So z. B. in der Oper »Masaniello« (d. i. die Stumme von Portici), bewegte er bei der in vollem Brustton herausposaunten Stelle:

Wenn aus einem Fischer von Neapel…

den gegen die Zuschauer ausgestreckten Arm so, als ob er an einem Angelhaken einen zappelnden Hecht hängen hätte. Dann weiter bei den Worten:

Der Himmel einen Fürsten machen wollte…

erhob er die Hand nach dem Zenith, um auf den Himmel hinzuweisen, während die andere, zur Verbildlichung der Königskrone einen Kreis um das edle Haupt beschrieb –

Würde er, ein Rebell gegen des Schicksals Rathschluß ,..

dabei schien er mit Gewalt einem auf ihn wirkenden Drucke Widerstand zu leisten –

Seine Barke weiter treibend rufen …

hierzu endlich bewegte er beide Arme lebhaft von rechts nach links und umgekehrt, als handhabte er einen Bootsriemen, um seine Geschicklichkeit in der Führung eines Fahrzeuges zu beweisen.

Ganz ähnliche Gewohnheiten, wie jener Sänger, hatte nun auch der Händler Mathias Van Guitt. Er schmückte seine Rede gern mit den gewähltesten Phrasen und konnte für den Zuhörer, der sich nicht außer dem Bereiche seiner Handbewegungen zu halten wußte, leicht gefährlich werden.

Wie wir später aus seinem eigenen Munde hörten, war Mathias Van Guitt ursprünglich Professor der Naturwissenschaften am Museum von Rotterdam, dem sein Lehrstuhl nicht zugesagt hatte. Offenbar regte das Auftreten des würdigen Mannes schon jener Zeit die Lachmuskeln besonders an, und wenn jemals Schaaren von Zuhörern zu seinem Katheder strömten, so wollten diese offenbar weniger lernen, als sich nur belustigen. Unter so bewandten Umständen hatte er sich, überdrüssig, theoretische Zoologie erfolglos vorzutragen, nach Indien begeben, um sich der praktischen Zoologie zu widmen. Diese Thätigkeit behagte ihm weit mehr und er schwang sich dabei zum wohlbestallten Lieferanten der großen Hamburger und Londoner Handelsfirmen empor, von denen die öffentlichen und privaten Menagerien der Alten und Neuen Welt ihren Bedarf zu decken pflegen.

Mathias Van Guitt befand sich augenblicklich in Tarryani, um eine umfassende Bestellung auf Raubthiere für Europa auszuführen. Sein Lagerplatz befand sich kaum zwei Meilen von der Stelle, wo wir ihn aus der Falle befreit hatten.

Wie war der Händler aber da hineingerathen? Diese Frage richtete Banks an ihn, und er gab darauf folgende, mit abwechslungsreichen Gesten illustrirte Antwort:

»Ja, das war gestern, die Sonne hatte schon den Halbkreis ihres täglichen Umlaufes vollendet. Da fiel es mir ein, eine der von mir eigenhändig errichteten Tigerfallen zu besichtigen. Ich verließ also meinen Kraal, den die Herren hoffentlich bald mit ihrem Besuche beehren werden, und gelangte nach dieser Waldblöße. Ich war allein; meine Leute hatten dringende Arbeiten vor und ich wollte sie nicht davon abhalten. Das war eine Unklugheit. Als ich zur Falle kam, überzeugte ich mich sogleich, daß die, die Thür bildende bewegliche Bohle noch aufgezogen war, und zog daraus die logische Schlußfolgerung, daß sich bis jetzt kein Raubthier gefangen haben könne. Indessen wollte ich mich überzeugen, ob der Köder sich noch vorfinde und ob der Hebel richtig und leicht functionire. Ich glitt also mit geschickter kriechender Bewegung durch den engen Eingang.«

Mathias Van Guitt’s Hand erläuterte dabei durch eine elegante Wellenbewegung etwa das Schleichen einer Schlange durch das hohe Gras.

»Im Innern der Falle angelangt, fuhr der Händler fort, prüfte ich das Ziegenviertel, dessen Ausdünstung die Bewohner dieses Theiles des Waldes anlocken sollte. Der Köder erwies sich unberührt. Eben wollte ich umkehren, als ein Stoß meines Armes das Spiel des Hebels auslöste: die Klappe fiel nieder, und ich saß, ohne jede Möglichkeit, daraus entkommen zu zu können, in meiner eigenen Falle gefangen.«

Mathias Van Guitt schwieg einen Augenblick, um den ganzen Ernst seiner fatalen Lage zu kennzeichnen.

»Immerhin, meine Herren, nahm er seine Rede wieder auf, muß ich gestehen, daß ich die Sache anfänglich von ihrer komischen Seite auffaßte. Ich war eingesperrt, richtig! Hier gab es keinen Stockmeister, um die Thüre des Kerkers zu öffnen, auch wahr! Aber ich sagte mir, daß meine Leute, wenn ich ihnen allzu lange ausbliebe, Nachforschungen anstellen würden, die ja nicht ohne Erfolg bleiben konnten. Das Ganze erschien mir nur als eine Frage der Zeit.

»Was soll man in einer Herberge wohl anderes thun als schlafen? sagt ein französischer Erzähler. Ich schlief also ein, und so verflossen zwei Stunden ohne Veränderung meiner Situation. Der Abend sank hernieder, der Hunger meldete sich. Das Beste, was ich thun zu können glaubte, war, ihn durch Schlaf hinweg zu täuschen. Ich handelte als Philosoph und verfiel in tiefen Schlaf. Die Nacht war still; im Walde regte sich nichts. Mein Schlummer blieb ungestört, und vielleicht schliefe ich noch, wenn mich nicht ein ungewohntes Geräusch geweckt hätte. Die Klappe der Falle stieg langsam empor, das Licht des Tages brach sich Bahn in meinem dunklen Schlupfwinkel, und ich brauchte nur herauszutreten … Den Schreck können Sie sich vorstellen, als ich da das Mordinstrument auf meine Brust gerichtet sah. Noch einen Augenblick und ich war von einer Kugel durchbohrt! Die Stunde meiner Befreiung wäre die letzte meines Lebens gewesen! … Der Herr Kapitän beliebte aber in mir noch rechtzeitig ein Wesen seiner eigenen Gattung zu erkennen, und so habe ich Ihnen, meine Herren, nur noch den verbindlichsten Dank für meine Erlösung auszusprechen!«

So lautete die Erzählung des Händlers. Ich gestehe, daß wir uns nur mit Mühe bemeistern konnten, das Lachen zu unterdrücken, welches seine Worte und Gesten unwillkürlich erregten.

»Ihr Lagerplatz, fragte Banks, ist also in diesem Theile Tarryanis aufgeschlagen?

– Ja, mein Herr, bestätigte Mathias Van Guitt. Wie ich schon die Ehre hatte, Ihnen mitzutheilen, liegt mein Kraal kaum zwei Meilen von hier entfernt, und wenn Sie diesen mit Ihrer Gegenwart beehren wollen, wird es für mich ein Vergnügen sein, Sie daselbst zu empfangen.

– Gewiß, Herr Van Guitt, versicherte Oberst Munro, wir werden nicht verfehlen, unseren Besuch abzustatten.

– Wir sind Jäger, fügte Kapitän Hod hinzu, und die Einrichtung eines Kraals hat für uns ein natürliches Interesse.

– Jäger! rief Mathias Van Guitt, Jäger!« Sein Gesicht nahm unverkennbar einen Ausdruck an, der uns sagte, daß er die Söhne Nimrod’s nicht allzu hoch schätzte.

»Sie jagen Raubthiere … natürlich, um sie zu tödten? fuhr er, gegen den Kapitän gewendet, fort.

– Einzig und allein, um sie zu tödten, erklärte Hod.

– Und ich einzig und allein, um sie zu fangen! versetzte der Händler, der sich bei diesen Worten stolz in die Brust warf.

– Nun, Herr Van Guitt, erwiderte Kapitän Hod, da werden wir uns ja keine Concurrenz machen!«

Der Händler schüttelte den Kopf. Jedenfalls veranlaßte ihn unsere Eigenschaft als Jäger nicht, direct auf seine Einladung zurückzukommen.

»Wenn die Herren mir folgen wollten!« sagte er nur mit graziöser Verneigung.

In diesem Augenblicke ließen sich im Walde verschiedene Stimmen vernehmen und ein halbes Dutzend Hindus kamen um eine Ecke der Straße, welche von der Lichtung ausging.

»Ah, da sind meine Leute!« sagte Mathias Van Guitt.

Dann trat er näher an uns heran, legte den Finger auf den Mund und flüsterte uns halblaut zu:

»Bitte, kein Wort von meinem Abenteuer! Die Leute aus dem Kraal brauchen nicht zu wissen, daß ich mich wie ein Raubthier in eigener Falle fangen ließ. Das könnte das Ansehen vermindern, welches ich mir in deren Augen immer bewahren muß!«

Ein zusagendes Zeichen unsererseits beruhigte den Händler.

»Herr, begann da einer der Hindus, dessen ruhiges und doch intelligentes Gesicht meine Aufmerksamkeit erregte, Herr, schon über eine Stunde lang suchen wir Sie, ohne …

– Ich war bei diesen Herren, welche mich nach dem Kraal begleiten wollen, fiel ihm Mathias Van Guitt in’s Wort; bevor wir aber aufbrechen, bringt mir die Falle wieder in Ordnung!«

Die Hindus gehorchten willig dem Befehle des Händlers.

Inzwischen lud uns Mathias Van Guitt ein, das Innere der Falle in Augenschein zu nehmen. Kapitän Hod schlüpfte nach ihm hinein und ich folgte Beiden nach.

Der Raum war etwas beschränkt für die Entwickelung der Gesten unseres Wirthes, der damit so freigebig war, als ob er sich in einem Salon befände.

»Ich zolle Ihnen alle Achtung, sagte Kapitän Hod, nachdem er sich den Apparat angesehen, das ist wirklich recht sinnreich!

– Das dürfen Sie glauben, Herr Kapitän, antwortete Mathias Van Guitt. Diese Art von Fallen ist den früheren, mit Pfählen aus hartem Holze versehenen Gruben und den bogenförmig herabgezogenen elastischen Zweigen mit Laufknoten beiweitem vorzuziehen. Im ersteren Falle spießt das Thier sich auf, im zweiten Falle erwürgt es sich. Wenn es nur darauf ankommt, die reißenden Thiere auszurotten, so ist das ja ziemlich gleichgiltig. Ich aber, wie ich hier mit Ihnen rede, ich brauche jene lebendig und unverletzt, ohne jegliche Werthverminderung!

– Alles in Allem, bemerkte Kapitän Hod dagegen, verfahren wir Beide nicht auf gleiche Weise.

– Aber ich wahrscheinlich besser als Sie! versetzte der Händler. Wenn man die Raubthiere fragen könnte…

– Ja, ich befrage sie aber nicht!« erwiderte der Kapitän.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt hatten entschieden einige Mühe, sich zu verständigen.

»Aber, fragte ich den Händler, wenn sich nun ein Thier in solch‘ einer Falle fing, wie bringen Sie es in Gewahrsam?

– Dazu wird ein fahrbarer Käfig vor die Oeffnung gebracht, erklärte Mathias Van Guitt, in den sich die Gefangenen selbst hineinstürzen, und ich brauche sie dann nur, ruhig und sicher von meinen zahmen Büffeln gezogen, nach dem Kraal zu schaffen!«

Kaum hatte er diese Worte vollendet, als wir von außen her ein lautes Geschrei vernahmen.

Was mochte da geschehen sein?

Eben hatte ein Hindu eine Peitschenschlange von der gefährlichsten Art mit einem dünnen Stocke in zwei Theile getrennt, als sich das giftige Reptil gerade auf den Oberst Munro zuschlängelte.

Es war derselbe Hindu, der mir schon vorher auffiel. Sein rasches, entschlossenes Handeln hatte Sir Edward Munro von einem unerwarteten schnellen Tode gerettet, wie wir selbst zu sehen Gelegenheit hatten.

Der zu unseren Ohren dringende Schrei rührte nämlich von einem Diener aus dem Kraal her, der sich im letzten Todeskampfe auf dem Boden wälzte.

Durch ein bedauernswertes Mißgeschick war der glatt abgehauene Kopf der Schlange dem Armen an die Brust geflogen, die Zähne bohrten sich hier noch ein, und der Unglückliche hauchte, das entsetzliche Gift in den Adern, in kaum einer Minute sein Leben aus, ohne daß wir im Stande gewesen wären, ihn zu retten.

Zuerst erstarrt vor Schreck über dieses gräßliche Schauspiel, eilten wir dann sofort auf den Oberst Munro zu.

»Du bist doch nicht verletzt? fragte Banks, der seine Hand besorgt ergriff.

– Nein, Banks, beruhige Dich!« antwortete Sir Edward Munro.

Dann erhob er sich und ging auf den Hindu, seinen Lebensretter zu.

»Ich danke Dir, mein Freund!« sagte er.

Der Hindu gab durch eine Bewegung zu verstehen, daß er für seine That keinen besonderen Dank verdient habe.

»Wie ist Dein Name? fragte ihn Oberst Munro.

– Kâlagani!« antwortete der Hindu.

Elftes Capitel.


Elftes Capitel.

Auge in Auge.

Die Thugs, blutigen Andenkens, von denen Hindostan befreit zu sein scheint, haben doch ihrer ganz würdige Nachfolger hinterlassen. Es sind das die Dacoits, eine Art verwandelte Thugs. Das gewöhnliche Verfahren dieser Uebelthäter hat gewechselt, der Zweck der Mordthaten ist ein anderer geworden, aber das endliche Resultat ist dasselbe geblieben: die überlegte Tödtung, der Mord.

Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, der wilden Kâli, der Todesgöttin, ein Opfer zu bringen. Wenn diese neueren Fanatiker nicht mehr stranguliren, so vergiften sie, um zu rauben. Den Würgern sind weitaus praktischere, aber gleichmäßig zu fürchtende Verbrecher gefolgt.

Die Dacoits, welche in gewissen Gebieten der Halbinsel besondere Banden bilden, nehmen Alles auf, was die anglo-indische Justiz an Mördern durch die Maschen ihres Netzes schlüpfen läßt. Sie streifen Tag und Nacht auf den Landstraßen umher, vorzüglich in den wilden Gegenden, und bekanntlich bietet gerade Bundelkund die geeignetsten, schwer zugänglichen Plätze. Zuweilen vereinen sich diese Banden zu starken Haufen, um ein vereinzelt liegendes Dorf zu überfallen. Da bleibt dessen Bewohnern nichts übrig als die schleunigste Flucht; wer von ihnen in die Hände der Dacoits fällt, dem stehen die entsetzlichsten, ausgesuchtesten Qualen bevor. Hier erwachten die Sagen von den Mordbrennern des äußersten Westens wieder zum Leben. Wenn man Louis Rousselet glauben darf, so »überbot die List dieser Scheusale, das erbarmungslose Verfahren derselben, Alles, was die phantasiereichsten Erzähler jemals erdacht haben«.

In die Gewalt einer solchen, von Kâlagani angeleiteten Bande Dacoits war der unglückliche Oberst Munro gefallen. Ehe er zu Besinnung kommen konnte, was mit ihm vorging, sah er sich gewaltsam von seinen Gefährten getrennt und auf der Straße nach Jubbulpore fortgeschleppt.

Kâlagani hatte seit dem Tage, wo er zu den Insassen des Steam-Houses in Beziehung trat, nur Verrath gebrütet. Nana Sahib war es, der ihn abgeschickt, der gerade ihn erwählt hatte, seinen Racheplan vorzubereiten.

Man erinnert sich, daß der Nabab am verwichenen 24. Mai in Bhopal, während der letzten Moharum-Feste, zu denen er sich mit Verachtung jeder Gefahr begeben hatte, von der Abreise Sir Edward Munro’s nach den nördlichen Provinzen Indiens Nachricht erhielt. Auf seinen Befehl verließ damals Kâlagani, einer der seiner Sache und Person am meisten ergebenen Hindus, die Stadt Bhopal. Dessen Auftrag lautete dahin, der Spur des Obersten nachzugehen, ihn aufzuspüren, niemals aus den Augen zu lassen, wenn es nöthig werden sollte, selbst das Leben zu wagen und sich in die nähere Umgebung des gehaßten Feindes Nana Sahib’s einzuschleichen.

Kâlagani war in derselben Stunde aufgebrochen, um nach Norden zu gehen. Schon in Khanpur gelang es ihm, den Zug des Steam-Houses einzuholen. Seit dieser Zeit hatte er, ohne sich je sehen zu lassen, auf eine günstige Gelegenheit gewartet, die sich jedoch nicht einstellte. Deshalb entschloß er sich, als Oberst Munro nebst seinen Begleitern im Sanatorium des Himalaya rastete, einstweilen bei Mathias Van Guitt Dienste zu nehmen.

Kâlagani sagte sich, daß zwischen dem Kraal und dem Sanatorium bald ein täglicher Verkehr entstehen müßte. Das geschah denn auch, und es glückte ihm nebenbei, vom ersten Tage ab nicht nur die besondere Aufmerksamkeit Oberst Munro’s zu erregen, sondern sich auch einen gewissen Anspruch auf dessen Erkenntlichkeit zu erwerben.

Damit war für ihm der schwierigste Punkt überwunden. Das Uebrige ist bekannt. Der Hindu kam sehr häufig nach dem Steam-House, er wurde von den weiteren Plänen der Bewohner desselben unterrichtet und erfuhr, welchen Weg Banks später einzuschlagen gedachte. Nun beherrschte ihn blos noch der eine Gedanke, womöglich als Führer der Expedition angenommen zu werden, wenn diese wieder nach dem Süden hinabzog.

Kâlagani versäumte nichts, um dieses Ziel zu erreichen. Er schrak selbst nicht davor zurück, nicht allein das Leben der Anderen, sondern auch das eigene auf’s Spiel zu setzen. Wie das zuging, ist schon aus dem Vorhergehenden bekannt.

So kam ihm der Gedanke, daß jeder Verdacht schwinden müsse, wenn er die Expedition vom Anfang der Rückreise an, aber immer im Dienste Mathias Van Guitt’s, begleitete, und daß ihm Oberst Munro vielleicht das selbst anbieten würde, wonach er vor Allem verlangte.

Um das aber zu erreichen, mußte der Händler erst seiner Zugthiere, der Büffelgespanne, beraubt und dadurch genöthigt werden, die Hilfe des Stahlriesen in Anspruch zu nehmen. So machte er sich den – allerdings unerwarteten – Ueberfall der Raubthiere zunutze. Auf die Gefahr hin, ein entsetzliches Unglück anzurichten, schob er unbemerkt die Holzriegel zurück, welche das Thor des Kraals verschlossen. Die Tiger und Panther stürzten in die Umzäunung. Die Büffel wurden zerfleischt oder vertrieben, einige Hindus kamen bei der Affaire um’s Leben, aber – Kâlagani’s Absicht war erreicht: Mathias Van Guitt sah sich gezwungen, Oberst Munro’s Unterstützung zu erbitten, um mit seiner fahrenden Menagerie nach Bombay zu gelangen.

Es wäre in der That schwierig gewesen, in der fast wüsten Gegend des Himalaya neue Gespanne zu beschaffen, der Sicherheit halber unternahm es Kâlagani aber selbst, sich scheinbar um die Besorgung neuer Zugthiere zu bemühen. Natürlich waren seine Bemühungen fruchtlos, und so mußte Mathias Van Guitt mit seinem Personal und der Menagerie im Schlepptau des Stahlriesen bis zur Station Etawah ziehen.

Von da aus sollte der Weitertransport der ganzen Waare des Händlers auf der Eisenbahn erfolgen. Die jetzt überflüssig gewordenen Chikaris wurden entlassen und Kâlagani sollte ebenfalls verabschiedet werden. Da gab er sich den Anschein, als sei er sehr in Verlegenheit, was er nun beginnen sollte. Banks ließ sich dadurch tauschen. Er sagte sich, daß der intelligente diensteifrige Hindu ihnen mit seiner genauen Kenntniß gerade dieses Theiles von Indien werde von großem Nutzen sein können, bot ihm daher an, bis Bombay den Dienst als Führer zu versehen, und von demselben Tage ab lag das Schicksal der Expedition in Kâlagani’s Hand.

Noch ließ nichts in dem Hindu, der sich stets zu jedem Opfer bereit zeigte, einen niedrigen Verrath vermuthen.

Nur einmal war Kâlagani daran, sich eine Blöße zu geben, damals nämlich, als Banks gegen ihn von Nana Sahib’s Tode sprach. Er machte unwillkürlich eine Geste und schüttelte den Kopf wie Einer, der an das Gehörte nicht glauben kann. Dasselbe hätte aber jeder Hindu gethan, dem der sagenhafte Nabab als eines jener übernatürlichen Wesen gilt, die der Tod nicht erreichen kann.

Ob Kâlagani diese Nachricht bei der – übrigens nicht zufälligen – Begegnung mit einem alten Kameraden unter der Karawane von Banjaris bestätigt wurde, weiß man zwar nicht, gewiß erhielt er aber verläßliche Auskunft.

Jedenfalls gab der Verrather seine abscheulichen Absichten niemals auf, als wolle er die Projecte des Nabab nun selbst zur Ausführung bringen.

So setzte das Steam-House seinen Weg quer durch die Schluchten der Vindhyas fort und gelangte unter vielfachen, dem Leser bekannten Zwischenfällen nach dem Ufer des Puturia-Sees, auf dem es vorläufig Zuflucht suchen mußte

Als Kâlagani hier unter dem Vorwande, nach Jubbulpore zu gehen, den schwimmenden Train verlassen wollte, ließ er sich zum ersten Male durchschauen. So sehr er sich sonst zu bemeistern wußte, hatte doch eine einfache physiologische Erscheinung, die der Aufmerksamkeit des Oberst nicht entgehen konnte, gegen ihn Verdacht erweckt, und wir wissen jetzt, daß dieser nur zu sehr begründet war.

Man ließ ihn aufbrechen, gab ihm aber Goûmi zur Begleitung. Beide sprangen in’s Wasser und erreichten nach einer Stunde das südöstliche Ufer des Puturia.

Darauf gingen sie neben einander durch die dunkle Nacht dahin, der Eine den Anderen scharf beobachtend, während der Zweite das nicht vermuthete. Bisher war der Vortheil auf Seiten Goûmi’s, dieses zweiten Mac Neil des Oberst Munro.

Drei volle Stunden marschirten die beiden Hindus auf der Landstraße hin, welche die südlichen Abhänge der Vindhyas durchschneidet und bei der Station Jubbulpore mündet. Auf dem Lande war der Nebel beiweitem dünner als auf dem Wasser. Goûmi behielt seinen Begleiter scharf im Auge. Im Gürtel trug er ein tüchtiges Messer. Bei der ersten verdächtigen Bewegung war er entschlossen, sich auf Kâlagani zu stürzen und diesen mindestens unschädlich zu machen.

Leider behielt der treue Hindu nicht Zeit genug, seinen Vorsatz auszuführen.

Die mondlose Nacht war tiefdunkel. Auf die Entfernung von zwanzig Schritten hätte man einen dahingehenden Menschen nicht erkennen können.

Da erscholl plötzlich an einer Windung der Straße eine Stimme, welche Kâlagani anrief.

»Hier, Nassim!« antwortete der Hindu.

Gleichzeitig ertönte zur Linken der Straße ein scharfer, sonderbarer Schrei.

Das war der »Kisri« (das Kriegsgeschrei) der wilden Stämme von Goudwana, den Goûmi nur zu gut kannte.

Die Ueberraschung hatte Goûmi’s Arm gelähmt. Was hätte er auch, wenn er Kâlagani erdolchte, gegen einen ganzen Haufen Hindus ausrichten können, den jener Kriegsruf herbeilocken mußte? Eine düstere Ahnung mahnte ihn zu fliehen, um wenigstens die drohende Gefahr zu melden.

Goûmi zauderte keinen Augenblick. Als Kâlagani mit jenem Nassim zusammentraf, der ihn angerufen hatte, sprang er zur Seite und verschwand in den Dschungeln neben der Straße.

Und als Kâlagani mit seinen Kameraden zurückkam, in der Absicht, sich des Begleiters, den Oberst Munro ihm aufgedrungen, zu entledigen, da war Goûmi nicht mehr zur Stelle.

Nassim, der Anführer einer der Sache Nana Sahib’s ergebenen Bande Dacoits, schickte sofort seine Leute aus, um den Entschwundenen zu suchen. Er wollte um jeden Preis den muthigen Diener wieder erlangen, der ihm entflohen war.

Alle Nachforschungen aber erwiesen sich fruchtlos. Ob Goûmi nur durch die Finsterniß geschützt wurde, oder in irgend welchem Schlupfwinkel Schutz gefunden hatte, jedenfalls mußten die Straßenräuber darauf verzichten, ihn wiederzufinden.

Was hatten die Dacoits von Goûmi übrigens zu befürchten, der in dieser wilden Gegend auf sich angewiesen und jetzt drei volle Stunden vom Puturia entfernt war, den er doch vor ihnen auf keinen Fall erreichen konnte?

Kâlagani traf danach seine Maßnahmen. Er verhandelte einen Augenblick mit dem Führer der Dacoits, der seine Befehle zu erwarten schien. Dann machten Alle Kehrt und wandten sich schnellen Schrittes dem Puturia zu.

Wenn diese Horde jetzt die Schlupfwinkel in den Vindhyas, wo sie seit einiger Zeit hauste, verlassen hatte, so lag der Grund darin, daß ihnen Kâlagani die demnächstige Ankunft des Oberst Munro in der Umgebung des Puturia-Sees gemeldet hatte. Durch wen aber? Eben durch jenen Hindu, der kein Anderer als Nassim war und seinerzeit der Karawane der Banjaris folgte. Und wem hatte er das gemeldet? Dem, dessen Hand im Verborgenen alle diese Vorgänge leitete.

Was schon geschehen und was noch geschah, war in der That das Resultat eines wohldurchdachten Planes, dem Oberst Munro und seine Begleiter zum Opfer fallen mußten. In Folge dessen konnten die Dacoits auch, als der Train an das Südufer des Sees stieß, denselben unter Anführung Nassim’s und Kâligani’s überfallen.

Der ganze Anschlag galt indeß nur dem Oberst Munro allein. Seine Begleiter waren ja in diesem trostlosen Landstriche nach Zerstörung ihres letzten Wagens nicht weiter zu fürchten. Jener wurde also fortgeschleppt und befand sich um sieben Uhr Morgens schon sechs Meilen vom Puturia-See.

Man durfte wohl kaum annehmen, daß Oberst Munro von Kâlagani nach der Station Jubbulpore gebracht werden würde. Jener sagte sich auch selbst, daß er aus dem Gebiete der Vindhyas schwerlich herauskommen und, einmal in der Macht seiner Todfeinde, diesen kaum jemals wieder entrinnen werde.

Sein kaltes Blut hatte der nie verzagende Mann aber nicht verloren. Er schritt, bereit auf Alles, was nur geschehen konnte, inmitten der wilden Hindus dahin und stellte sich, als ob er Kâlagani überhaupt nicht sehe. Der Verräther marschirte an der Spitze der Truppe, deren Anführer er in der That zu sein schien. An Flucht war nicht zu denken. Gefesselt wurde Oberst Munro zwar nicht, er sah aber auch weder vorn, noch hinten, ebensowenig an den Seiten eine Lücke in der Escorte, durch die er hätte entschlüpfen können. Uebrigens mußte er ja auch im ersten Augenblicke wieder eingefangen werden. Er vergegenwärtigte ich nun seine Lage mit allen möglichen Folgen derselben. Daß Nana Sahib bei dem ganzen Vorgänge eine Hand im Spiele habe, konnte gerade er nicht glauben, da für ihn der Nabab als todt galt. Irgend ein Waffengefährte des alten Rebellenführers aber, z. B. Balao Rao, konnte ja wohl vom Hasse getrieben werden, den Racheplan auszuführen, dem sein Bruder das ganze Leben geweiht hatte. Sir Edward Munro fühlte, daß es sich hierbei um etwas dergleichen handle.

Dabei dachte er auch an den armen Goûmi, den er nicht als Gefangenen der Dacoits sah. Vielleicht war es ihm ja gelungen, zu entfliehen, wahrscheinlich aber hatte er den Tod gefunden. Doch selbst wenn er heil und gesund geblieben, war auf Hilfe von seiner Seite schwerlich zu rechnen.

Wenn Goûmi nämlich, um Unterstützung zu holen, bis zur Station Jubbulpore gelaufen war, so kam er damit zu spät.

Hatte er dagegen Banks und die Anderen am Südende des Sees wieder zu finden gesucht, so konnten doch auch diese wegen Mangels an Munition nichts ausrichten. Sie beeilten sich vielleicht selbst, schnell nach Jubbulpore zu kommen … bevor sie das aber erreichten, war der Gefangene längst nach irgend einem unzugänglichen Schlupfwinkel in den Vindhyas gebracht worden.

Nach dieser Seite hin mußte er also jede Hoffnung aufgeben.

Oberst Munro betrachtete die Sachlage mit ruhigem Blicke. Er verzweifelte nicht, er war nicht der Mann dazu, sich gänzlich niederbeugen zu lassen, aber er liebte es, die Sachen nüchtern zu betrachten, statt sich einer unbegründeten Illusion hinzugeben, was seiner nicht würdig schien.

Die Horde Hindus marschirte mit größter Geschwindigkeit. Nassim und Kâlagani strebten offenbar danach, vor Sonnenuntergang an einer vorherbestimmten Stelle anzulangen, wo sich das Los des Oberst entscheiden sollte. Wenn der Verräther Eile hatte, so wünschte auch Sir Edward Munro ein Ende zu sehen, ganz gleichgiltig, welches das Schicksal ihm bestimmt hätte.

Nur einmal gegen Mittag ließ Kalagani eine halbe Stunde Halt machen. Die Dacoits führten Lebensmittel mit sich und begannen am Ufer eines kleinen Baches zu essen.

Auch dem Oberst wurde etwas Brot und ein wenig getrocknetes Fleisch vorgelegt, was dieser nicht abwies. Er hatte seit dem vorigen Tage nichts genossen und wollte seinen Feinden nicht die Freude gönnen, ihn vielleicht in der letzten Stunde körperlich schwach zu sehen.

Bis hierher waren schon sechzehn Meilen unter forcirtem Marsche zurückgelegt worden. Auf Kalagani’s Befehl setzte sich Alles wieder in Bewegung und zog gegen Jubbulpore weiter.

Erst gegen fünf Uhr Nachmittags verließen die Dacoits die Landstraße und bogen von derselben nach links ab. Wenn Oberst Munro auf jenem Hauptwege noch einen Schimmer von Hoffnung hegen konnte, so sah er nun wohl ein, daß sein Geschick nur in den Händen Gottes lag.

Eine Viertelstunde später durchschritten Kalagani und seine Begleiter einen Engpaß, der, nach dem wildesten Theile von Bundelkund zu, den Ausgang des Nerbudda-Thales bildete.

Diese Stelle lag etwa hundertfünfzig Kilometer von dem Pal von Tandit, im Osten jener Sautpourra-Berge, die man als die westliche Fortsetzung der Vindhyas ansehen kann.

Da erhob sich auf einem der letzten Bergausläufer die alte Veste Ripore, seit langer Zeit schon aufgegeben, weil sie, wenn die westlichen Engpässe von einem Feinde gesperrt wurden, auf keine Weise mehr mit Proviant und Schießbedarf versorgt werden konnte.

Das Fort thronte auf einem der letzten Vorsprünge der Bergkette, einer Art natürlichem Sägewerk (ein zickzackförmig verlaufender Wall), von etwa fünfhundert Fuß Höhe, und hing über eine größere Erweiterung des Passes, in der Mitte der benachbarten Bergzüge heraus. Man konnte nach demselben nur auf einem schmalen, in vielen Krümmungen am Felsen emporsteigenden Wege gelangen, der kaum für Fußgänger zugänglich war.

Auf der Kuppe des Berges lagen noch einige halb abgetragene Courtinen und einige Bastionen in Trümmern. Mitten auf einem freien Platz, den ein Steingeländer gegen den Abgrund zu umschloß, erhob sich noch ein verfallenes Gebäude, früher die Kaserne der kleinen Garnison von Ripore, das man jetzt kaum noch als Stall verwandt hätte.

Von allen Geschützen, welche sonst mit ihren drohenden Mündungen durch die Schießscharten der Außenmauer lugten, war nur noch ein einziges, jetzt nach innen gerichtet, übrig, eine Kanone, die zu schwer war, um ohne große Mühe weggeschafft zu werden, und in zu schlechtem Zustande, um ihr einen besonderen Werth beizumessen. So stand sie verlassen noch auf der riesigen Lafette und der Rost nagte langsam an dem eisernen Rohre.

Sie bildete übrigens ihrer Größe und Dicke nach ein würdiges Seitenstück der berühmten Bronzekanone von Bhilsa, jenes ungeheueren Geschützes von sechs Metern Rohrlänge und einem Kaliber von vierundvierzig Centimetern, das zur Zeit Jehanghir’s gegossen worden war. Auch hätte man sie mit der nicht minder bekannten Kanone von Bidjapour vergleichen können, deren Donner, nach Aussage der Eingebornen, alle Bauwerke der Stadt in ihren Grundvesten erschütterte.

Diesen Anblick also bot die Veste von Ripore, wohin der Gefangene durch Kâlagani’s Spießgesellen geführt wurde. Es war um sechs Uhr Abends, als er daselbst, nach einem Marsche von fünfundzwanzig Meilen, anlangte.

Oberst Munro sollte nicht lange darüber im Zweifel bleiben, welchem seiner Feinde er hier entgegentreten sollte.

Das verfallene Gebäude auf dem Platze diente noch einer Abtheilung Hindus als Wohnstätte. Als die neu angekommenen Dacoits längs der äußeren Mauer sich kreisförmig aufgestellt, traten jene aus dem Hause hervor.

Oberst Munro stand in der Mitte und wartete ruhig mit gekreuzten Armen.

Kâlagani trat aus der Menge hervor und ging den Anderen einige Schritte entgegen.

Ein einfach gekleideter Hindu erschien an der Spitze der Abtheilung.

Kâlagani blieb vor diesem stehen und verneigte sich. Der Hindu reichte ihm die Hand, welche er voll Ehrfurcht küßte. Ein Zeichen mit dem Kopfe bedeutete ihm, daß man mit seinen Diensten zufrieden war.

Dann schritt der Hindu auf den Gefangenen zu, langsam zwar, aber mit flammenden Augen und allen Zeichen einer kaum verhaltenen Wuth. Man hätte geglaubt, ein Raubthier schleiche sich nach seiner Beute.

Oberst Munro ließ jenen nahe kommen, ohne einen Schritt zurückzuweichen, und fixirte denselben ebenso scharf, wie dieser den Gefangenen.

Jetzt war der Hindu nur noch fünf Schritte von ihm entfernt.

»Es ist blos Balao Rao, der Bruder des Nabab! sagte der Oberst mit verächtlichem Tone.

– Sieh mich besser an! entgegnete der Hindu.

– Nana Sahib! rief Oberst Munro, unwillkürlich zurückschreckend. Nana Sahib am Leben! …«

Ja wohl, der Nabab selbst, der alte Rebellenführer im Aufstande der Sipahis, der unversöhnliche Feind Munro’s.

Bei dem Gefechte in der Nahe des Pals von Tandit war nur sein Bruder Balao Rao gefallen.

Die außergewöhnliche Aehnlichkeit der zwei Männer, die beide ein pockennarbiges Gesicht und denselben Finger der nämlichen Hand amputirt hatten, täuschte damals die Soldaten von Luknow und Khanpur. Sie erkannten den Nabab in der Leiche seines Bruders, eine Verwechslung, die wohl Jedem passirt wäre. Als den Behörden damals also der Tod des Nabab gemeldet wurde, lebte Nana Sahib noch, nur Balao Rao war nicht mehr.

Diesen Umstand wußte sich Nana Sahib zunutze zu machen; er gewährte ihm ja eine fast absolute Sicherheit. Seinem Bruder wurde von der englischen Polizei gar nicht mit größerem Eifer nachgespürt. Die Gräuelthaten von Khanpur legte man diesem ja nicht zur Last, und er besaß auf die Hindus Central-Indiens auch nicht den verderblichen Einfluß, wie der Nabab.

Als Nana Sahib aber sich so hitzig verfolgt sah, beschloß, er so lange die Rolle eines Todten zu spielen, bis sich die passende Gelegenheit böte, wieder handelnd aufzutreten; er verzichtete also vorläufig auf alle revolutionären Pläne und brütete allein darüber, wie er selbst sich rächen könne. Noch niemals lagen die Verhältnisse dafür günstiger. Oberst Munro, den seine Sendboten fortwährend überwachten, hatte sich von Calcutta auf eine Reise begeben, die ihn nach Bombay führen sollte. War es da nicht möglich, ihn in das Gebiet der Vindhyas durch die Provinzen von Bundelkund zu locken? Nana Sahib setzte das voraus und schickte daher den getreuen Kâlagani zur Ausführung dieses Planes ab.

Der Nabab verließ bald den Pal von Tandit, der ihm nicht mehr sicher genug schien, und drang weiter in das Nerbudda-Thal bis zu den letzten Schluchten der Vindhyas ein. Da lag die Festung Ripore, die ihm auf den ersten Blick als geeigneter Zufluchtsort erschien, in dem die Behörden Den, welchen sie für todt hielten, schwerlich auftreiben würden.

Nana Sahib zog sich also mit einigen, seiner Person ergebenen Hindus hierher zurück, erhielt bald Verstärkung durch eine Gesellschaft Dacoits, Gesellen, welche würdig waren, unter einem solchen Führer zu dienen, und wartete nun den Lauf der Dinge ab.

Auf was wartete er seit vier Monaten? Einzig darauf, daß Kâlagani seinen Auftrag durchführen und ihm die baldige Ankunft des Oberst Munro in den Vindhyas anmelden sollte, wo jener unter seine Gewalt kam.

Nur einer Befürchtung konnte Nana Sahib sich nicht ganz entschlagen. Wenn die über die ganze Halbinsel verbreitete Kunde von seinem Tode auch zu Kâlagani’s Ohren drang und dieser der Nachricht Glauben schenkte, konnte es ihn ja leicht veranlassen, auf sein Verrätherwerk gegenüber Oberst Munro zu verzichten.

Aus diesem Grunde sendete er noch einen anderen Hindu auf der Hauptstraße nach Bundelkund hin, eben jenen Nassim, der dem Steam-House auf dem Wege durch Scindia unter der Banjari-Karawane begegnete, sich in Verbindung mit Kâlagani zu setzen wußte und diesen über den wahren Sachverhalt aufklärte.

Nassim kehrte unmittelbar darauf nach der Veste Ripore zurück und theilte Nana Sahib Alles mit, was sich seit Kâlagani’s Abreise aus Bhopal zugetragen hatte. Oberst Munro und seine Begleiter fuhren unter Kâlagani’s Führung in kleineren Tagereisen durch die Vindhyas, und am Puturia-See sollte man sie erwarten.

Alles war dem Nabab nach Wunsch gegangen. Der Tag der Rache kam heran.

Heut‘ Abend stand nun Oberst Munro allein, ohne Waffen, vor ihm.

Nach den ersten rasch gewechselten Worten sahen sich die beiden Männer scharf in’s Gesicht, ohne nur eine Silbe zu sprechen.

Da, als dem Oberst plötzlich das Bild der Lady Munro recht lebhaft vor Augen trat, stürmte ihm das Blut heftig aus dem Herzen zum Kopfe – er wollte sich auf dem Mörder der Opfer von Khanpur stürzen …

Nana Sahib trat nur einige Schritte zurück.

Drei Hindus fielen über den Oberst her und bändigten ihn, wenn auch mit großer Mühe.

Inzwischen hatte Sir Edward Munro die Herrschaft wieder über sich selbst gewonnen. Der Nabab erkannte das offenbar, denn er winkte den Hindus, von ihm abzulassen.

Die beiden Feinde standen sich nun Auge in Auge gegenüber.

»Deine Landsleute, Munro, begann Nana Sahib, haben die hundertzwanzig Gefangenen von Peschawar vor die Mündungen ihrer Kanonen gebunden und seit jenem Tage sind über zwölfhundert Sipahis desselben entsetzlichen Todes gestorben! Deine Landsleute metzelten ohne Schonung die Flüchtlinge von Lahore nieder, erdrosselten nach der Einnahme von Delhi drei Fürsten und neunundzwanzig andere Mitglieder der königlichen Familie; sie haben in Laknau sechstausend der Unsrigen und dreitausend nach dem Feldzuge im Pendschab gemordet! Alles in Allem sind durch die Kanone, die Flinte, den Galgen und das Schwert hundertzwanzigtausend Officiere und Soldaten der Natifs-Armee und zweihunderttausend Eingeborne von Euch wegen jener Erhebung für unsere nationale Unabhängigkeit grausam hingeopfert worden!

– Zum Tode mit ihm! Zum Tode!« riefen die Dacoits und die Hindus, welche Nana Sahib umringten.

Der Nabab gebot ihnen Stillschweigen und wartete, daß Oberst Munro ihm antworten sollte.

Der Oberst erwiderte nichts.

»Du selbst, Munro, fuhr der Nabab fort, hast mit eigener Hand die Rani von Jansi, meine treue Gefährtin, getödtet … und sie ist noch nicht gerächt!«

Oberst Munro schwieg auch hierauf still.

»Endlich ist vor vier Monaten, sagte Nana Sahib, mein Bruder Balao Rao unter den mir bestimmten Kugeln gefallen … und mein Bruder ist noch nicht gerächt!

– Zum Tode! Zum Tode mit ihm!«

Die Rufe erklangen lauter als vorher und die ganze Horde schien nicht übel Lust zu haben, über den Gefangenen herzufallen.

»Ruhe! rief Nana Sahib, erwartet die Stunde des Gerichts!«

Alle schwiegen.

»Es war, nahm der Nabab wieder das Wort, einer Deiner Vorfahren, Munro, jener Hektor Munro, der zuerst jene gräßliche Strafe ersann und vollstrecken ließ, von der Deine Landsleute im Kriege von 1857 einen so schamlos schrecklichen Gebrauch gemacht haben. Er ließ schon früher viele Hindus, unsere Väter, unsere Brüder, lebend vor die Mündungen der Kanonen binden…«

Wieder brach ein Sturm des Unwillens in der blutgierigen Menge los, den Nana Sahib kaum zu besänftigen vermochte.

»Auge um Auge! Zahn um Zahn! sagte er. Du wirst denselben Tod erleiden, Munro, wie so viele der Unsrigen!«

Darauf drehte er sich um.

»Sieh hier diese Kanone!«

Der Nabab wies dabei nach dem gewaltigen, fünf Meter langen Geschütz, das mitten auf dem Platze stand.

»Man wird Dich, fuhr er fort, vor die Mündung dieser Kanone binden! Sie ist geladen, und morgen mit Sonnenaufgang wird ihr Donner, wenn er in den tiefsten Gründen der Vindhyas widerhallt, Allen verkünden, daß Nana Sahib’s Rachedurst endlich gelöscht ist!«

Oberst Munro sah den Nabab fest, aber mit einer Ruhe an, welche auch die Ankündigung seines nahen Todes nicht zu erschüttern vermochte.

»Gut, erwiderte er, Du thust nur, was ich gethan hätte, wenn Du in meine Hände gefallen wärst!«

Darauf stellte sich Oberst Munro freiwillig vor die Mündung des Geschützes wo er mit auf dem Rücken gebundenen Händen mittels starker Stricke angebunden wurde.

Noch lange Zeit nachher schmähten und schimpften ihn die erbärmlichen Dacoits und Hindus – als ob Sioux-Indianer in Nordamerika einen zum Tode Verurtheilten noch am Richtpfahl zu peinigen suchten.

Mit einbrechender Nacht verschwanden Nana Sahib, Kâlagani und Nassim in der alten Kaserne. Ermüdet verließ auch die übrige Bande allmälich den Platz und folgte ihren Führern nach.

Den Tod und den allmächtigen Gott vor Augen, blieb Sir Edward Munro allein zurück.