Fünfzehntes Capitel

Fünfzehntes Capitel

Eine briefliche Einladung

Am folgenden Tage, den 9. November, erwachte ich spät, erst nach zwölfstündigem Schlaf. Conseil kam, wie gewöhnlich, und erkundigte sich, wie »sein Herr« geschlafen, und um seine Dienste anzubieten. Der Canadier schlief noch immer fort, als wie ein Mensch, der sein Lebtag nichts anders thut.

Ich ließ den wackern Jungen nach Belieben schwatzen, ohne ihm viel zu antworten. Die Abwesenheit des Kapitän Nemo während unserer gestrigen Unterhaltung machte mir Gedanken, und ich hoffte ihn heute wieder zu sehen.

Ich zog alsbald meine Byssuskleider an. Ueber die Beschaffenheit dieses Stoffes machte Conseil öfters seine Bemerkungen. Ich belehrte ihn nun, daß er aus den glänzenden seltenartigen Fasern gemacht sei, womit eine Art an den Ufern des Mittelländischen Meeres sehr häufiger Muscheln an die Felsen geheftet ist. Früher bereitete man daraus schöne Zeuge, Strümpfe, Handschuhe, denn sie waren zugleich kernhaft und sehr warm. Die Mannschaft des Nautilus ließ sich darin billig kleiden, und man konnte die Baumwolle, Schafe und Seidenwürmer der Oberwelt entbehren.

Als ich angekleidet war, begab ich mich in den großen Saal. Er war leer.

Ich vertiefte mich in die Betrachtung der Conchylienschätze, welche unter Glasscheiben geordnet waren, musterte auch die umfassenden Herbarien voll der seltensten Meerespflanzen, die, obwohl getrocknet, doch ihre wunderschönen Farben bewahrt hatten.

Diesen ganzen Tag über wurde ich nicht mit einem Besuch des Kapitäns Nemo beehrt. Die Fensterläden blieben geschlossen. Man wollte wohl uns nicht mit dem Anblick so schöner Dinge übersättigen.

Die Richtung des Nautilus blieb unverändert Ost-Nord-Ost, seine Geschwindigkeit zwölf Meilen, seine Tiefe fünfzig bis sechzig Meter.

Am 10. November gleiche Verlassenheit, gleiche Einsamkeit. Kein Mensch von der Bemannung kam mir zu Gesicht. Den größten Theil des Tages verbrachte ich in Gesellschaft von Ned und Conseil. Sie waren erstaunt über die unerklärliche Abwesenheit des Kapitäns. War der seltsame Mann krank? Wollte er in Beziehung auf uns seine Absicht ändern?

Trotzdem genossen wir, wie Conseil meinte, vollständige Freiheit, köstliche und reichliche Nahrung. Unser Wirth hielt sich innerhalb unsers Vertrags. Wir hatten nicht zu klagen, und zudem gewährten uns noch die besonderen Umstände, womit unser Schicksal verknüpft war, so schöne Entschädigung, daß wir ihm keinen Vorwurf zu machen hatten.

An diesem Tag begann ich mein Tagebuch, so daß ich darnach alles mit größter Genauigkeit berichten kann; und ich schrieb es auf Papier, das aus Seegras gefertigt war.

Am 11. November, früh Morgens, gab mir die im Innern des Nautilus verbreitete frische Luft zu erkennen, daß wir uns auf die Oberfläche des Meeres begeben hatten, um unsern Vorrath von Sauerstoff zu ergänzen. Ich stieg auf der im Mittelpunkt befindlichen Leiter zur Plateform hinauf.

Es war sechs Uhr. Der Himmel zeigte sich bedeckt, das Meer grau, doch ruhig; kaum eine Bewegung der Wellen. Sollte wohl der Kapitän Nemo, wie ich hoffte, sich einfinden? Ich bemerkte nur den Steuerer in seinem Glas-Gehäuse. Ich setzte mich auf einen Vorsprung, welchen der Rumpf des Bootes gewährte, und athmete mit Behagen die köstliche Seeluft ein.

Allmälig ward der Nebel durch die Strahlen der Sonne zerstreut, die im Osten am Horizont emporstieg. Das Meer gerieth wie durch ein Laufpulver in Flammen. Das in der Höhe zerstreute Gewölk färbte sich in wunderbarer Schattirung der Töne.

Ich bewunderte diesen freundlichen Sonnenaufgang, der so belebend wirkte, als ich Jemand die Treppe herauf kommen hörte.

Ich war schon im Begriff den Kapitän zu begrüßen, aber es war der Schiffslieutenant, welchen ich bereits beim ersten Besuch des Kapitäns kennen gelernt hatte. Er trat vor auf die Plattform und schien meine Anwesenheit nicht zu bemerken. Mit seinem starken Fernrohr forschte er am Horizont mit äußerster Achtsamkeit nach allen Richtungen. Darauf trat er zu der Lücke und sprach eine Phrase, die ich mir buchstäblich gemerkt habe, wie sie jeden Morgen in gleicher Lage gesprochen wurde. Sie lautete:

»Nautron respoc lorni virch.«

Was sie bedeutet, kann ich nicht sagen.

Nachdem der Schiffslieutenant diese Worte gesprochen, stieg er wieder hinab. Ich meinte, der Nautilus werde seine unterseeische Fahrt fortsetzen, begab mich daher wieder zu der Lucke, stieg hinab und ging in mein Zimmer.

So verflossen fünf Tage, ohne daß die Lage sich änderte. Jeden Morgen stieg ich zur Plateform hinauf. Die nämliche Person sprach die nämliche Phrase. Der Kapitän Nemo erschien nicht.

Ich hatte mich schon darein ergeben, ihn gar nicht mehr zu sehen, als ich am 16. November, beim Eintritt in mein Zimmer, auf dem Tisch ein an mich adressirtes Billet fand.

Ich öffnete es ungeduldig. Die Schriftzüge waren frei und klar, aber etwas gothisch, was an deutsche Schrift erinnerte.

Sein Inhalt war:

»Herrn Professor Arronax, an Bord des Nautilus.

»16. November 1867.

»Der Kapitän Nemo ladet den Herrn Professor Arronax zu einer Jagdpartie ein, welche Morgen früh in den Wäldern der Insel Crespo stattfinden soll. Er hofft, daß der Herr Professor nicht verhindert sein wird, daran Theil zu nehmen, und er wird mit Vergnügen sehen, daß seine Gefährten sich ihm anschließen.

»Der Kommandant des Nautilus,

»Kapitän Nemo.«

»Eine Jagd! rief Ned aus, der nebst Conseil mit mir eingetreten war.

– Und in den Wäldern der Insel Crespo! fügte Conseil bei.

– Da wird ja der Sonderling doch an’s Land gehen? fuhr Ned-Land fort.

– Das scheint mir klar angedeutet, sagte ich bei wiederholtem Lesen des Briefes.

– Jedenfalls muß man das annehmen, versetzte der Canadier. Sind wir einmal auf dem Festland, so werden wir schon wissen, was wir zu thun haben. Uebrigens würde mir’s schon ganz recht sein, einige Stücke frisches Wildpret zu genießen.«

Ich bemühte mich nicht den Widerspruch zwischen dem offenbaren Groll des Kapitäns gegen das Festland und die Inseln, und seiner Einladung zu einer Jagdpartie im Wald – zu vereinigen, und antwortete nur:

»Sehen wir erst, was es mit der Insel Crespo für eine Bewandtniß hat.«

Ich sah mich zuerst auf der Landkarte um, und fand unter’m 32° 40′ nördlicher Breite und 167° 50′ westlicher Länge ein im Jahre 1801 vom Kapitän Crespo entdecktes Inselchen, welches auf den alten spanischen Karten Rocca de la Plata, d. h. »Silberfelsen« benannt war. Wir befanden uns also ungefähr achtzehnhundert Meilen von unserem Abfahrtspunkt entfernt, und die etwas geänderte Richtung des Nautilus führte ihn südöstlich.

Ich zeigte meinen Gefährten den kleinen, mitten im nördlichen Stillen Meer verlorenen Felsen.

»Wenn der Kapitän Nemo irgendwo sich an’s Land begiebt, sagte ich zu ihnen, so wählt er wenigstens gänzlich verlassene Inseln.«

Ned-Land zuckte mit den Achseln, ohne zu antworten, dann ging er nebst Conseil weg. Nach einem Abendessen, das mir der Steward stumm und mit gleichgiltiger Miene auftrug, schlief ich ein, nicht ohne einige Befangenheit.

Um folgenden Tag, den 17. November, merkte ich beim Erwachen, daß der Nautilus vollständig unbeweglich war. Ich kleidete mich rasch an und begab mich in den großen Saal.

Der Kapitän Nemo befand sich da. Er hatte mich schon erwartet, stand auf, grüßte und fragte mich, ob es mir genehm wäre, ihn zu begleiten.

Da er mit keinem Wort seine achttägige Abwesenheit berührt hatte, so sprach ich auch kein Wort davon und erwiderte blos, ich sei nebst meinen Gefährten bereit, ihn zu begleiten.

»Nur, mein Herr, fügte ich bei, möchte ich mir eine Frage an Sie erlauben.

– Fragen Sie nur, Herr Arronax, und wo möglich werde ich darauf antworten.

– Nun, Kapitän, wie kommt’s, daß Sie, die doch jede Verbindung mit der Erde abgebrochen haben, Wälder auf der Insel Crespo besitzen?

– Herr Professor, erwiderte mir der Kapitän, die Wälder, welche ich besitze, bedürfen weder Licht noch Wärme von der Sonne. Es hausen da weder Löwen, noch Tiger, noch Panther, oder sonst ein vierfüßiges Thier. Ich allein kenne sie. Es sind nicht Landforsten, sondern unterseeische.

– Unterseeische Wälder! rief ich aus.

– Ja, Herr Professor.

– Und Sie wollen mich dahin führen?

– Ja wohl.

– Zu Fuß?

– Und sogar trockenen Fußes.

– Auf der Jagd?

– Auf der Jagd.

– Die Büchse in der Hand?

– Die Büchse in der Hand.«

Ich sah den Commandanten des Nautilus mit einer Miene an, die nichts Schmeichelhaftes für ihn hatte.

»Ganz gewiß ist der Mann gehirnkrank, dachte ich. Seit acht Tagen hing er einer verrückten Idee nach, und dieser Zustand dauert noch fort. Es ist schade! Ich wünschte, er wäre lieber ein Sonderling, als ein Narr!«

Diesen Gedanken konnte man auf meiner Stirne lesen, aber der Kapitän Nemo beschränkte sich darauf, mich einzuladen, ihn zu begleiten, und ich folgte als ein Mann, der sich in alles ergiebt.

Wir kamen in den Speisesaal, wo das Frühstück aufgetragen war.

»Herr Arronax, sagte der Kapitän, ich bitte Sie, ohne Umstände mit mir zu frühstücken. Wir können beim Essen plaudern. Ich habe Ihnen eine Jagdpartie im Wald versprochen, aber daß wir dabei einen Restaurant treffen, habe ich Ihnen nicht zugesagt. Frühstücken Sie daher, als würden wir vermuthlich sehr spät zum Diner kommen.«

Ich war also beflissen, dem Mahl Ehre zu machen. Es bestand aus verschiedenen Fischen und Stücken Holothurien, trefflichen Thierpflanzen, Beiessen von eröffnenden Algen. Zum Trunk diente klares Wasser, worin ich nach dem Beispiel des Kapitäns einige Tropfen Liqueur mischte, der, wie zu Kamtschatka, aus einer Algenart gewonnen war.

Der Kapitän Nemo aß zuerst, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte er:

»Herr Professor, als ich Ihnen den Vorschlag einer Jagdpartie auf der Insel Crespo machte, glaubten Sie, ich sei mit mir selbst im Widerspruch. Als ich Ihnen mittheilte, daß es sich um unterseeische Wälder handle, haben Sie mich für einen Narren angesehen. Herr Professor, man muß nie so leicht ein Urtheil über die Menschen fassen.

– Aber, Kapitän, glauben Sie …

– Hören Sie mich gefälligst an, dann werden Sie sehen, ob Sie mir Widerspruch mit mir selbst, oder Narrheit vorwerfen dürfen.

– Ich höre Sie an.

– Herr Professor, Sie wissen so gut, wie ich, daß der Mensch unter dem Wasser leben kann, wenn er seinen Bedarf an Luft zum Einathmen bei sich hat. Bei unterseeischen Arbeiten bekommen die Werkleute in wasserdichter Kleidung und den Kopf in einer metallenen Kapsel, die Luft von außen vermittelst Druckpumpen und Luftregulatoren.

– Sie meinen den Skaphanderapparat, sagte ich.

– Allerdings, aber unter diesen Bedingungen ist der Mensch nicht frei. Er ist an die Pumpe gebunden, welche ihm die Luft durch einen Schlauch von Kautschuk zusendet, eine wirkliche Kette, die ihn an die Erde fesselt, und wären wir so an den Nautilus gebunden, so würden wir nicht weit kommen.

– Und wie kann man sich frei machen? fragte ich. –

– Durch den Apparat Rouquayrol-Denayrouze, den zwei Ihrer Landsleute ersonnen, ich aber für meinen Gebrauch verbessert habe, so daß man im Stande ist, sich in diese neue physiologische Lage zu wagen, ohne daß die Organe irgend dabei zu leiden haben. Er besteht in einem Behälter von dickem Blech, worin ich die Luft unter einem Druck von fünfzig Atmosphären zusammenpresse und aufbewahre. Dieser Behälter wird mit Tragriemen, wie ein Tornister, auf dem Rücken befestigt. Sein oberer Theil bildet eine Kapsel, woraus die Luft vermittelst einer Balg-Vorrichtung nur in normaler Spannung herausdringen kann. Bei dem Apparat Rouquayrol, so wie er in Gebrauch ist, laufen zwei Kautschukröhren von dieser Kapsel aus zu einer Art von Gehäuse, welches die Nase und den Mund dessen, welcher ihn gebraucht, umgiebt; der eine dient, um die einzuathmende Luft herbeizuleiten, der andere, um die ausgeathmete fortzuschaffen, und die Zunge schließt, nach Bedürfniß des Einathmens, den einen oder den andern. Ich aber, der es mit einem so bedeutenden Druck aus dem Meeresgrund zu thun habe, habe meinen Kopf, wie den der Skaphander, mit einer Hohlkugel von Kupfer umgeben müssen, und in dieser Kugel endigen die beiden zum Einathmen bestimmten Röhren.

– Vollkommen richtig, Kapitän Nemo; aber die Luft, welche Sie mitnehmen, muß sich doch bald verbrauchen, und sobald sie nur noch fünfzehn Procent Sauerstoff enthält, wird sie zum Einathmen unbrauchbar.

– Allerdings, aber wie ich Ihnen gesagt habe, Herr Arronax, vermittelst der Pumpen des Nautilus bin ich im Stande, sie sehr bedeutend zusammenzupressen, und unter diesen Bedingungen kann der Behälter des Apparats für neun bis zehn Stunden athmungsfähige Luft liefern.

– Nun habe ich keinen Einwand mehr. Nur frage ich noch, Kapitän, wie können Sie Beleuchtung für Ihren Weg so tief im Meeresgrund schaffen?

– Mit dem Ruhmkorff’schen Apparat, Herr Arronax. Wie der andere auf dem Rücken, so befestigt man diesen am Gürtel. Er besteht aus einer Bunsen’schen Säule, welche ich nicht mit doppeltchromsaurem Kali, sondern mit Sodium in Thätigkeit setze. Eine Inductionsröhre sammelt die erzeugte Elektricität und leitet sie zu einer Laterne von eigenthümlicher Einrichtung. In dieser Laterne befindet sich eine gläserne Serpentine, welche nur einen Rest von Kohlensäure enthält. Wenn der Apparat in Thätigkeit tritt, wird dieses Glas leuchtend und giebt ein weißliches andauerndes Licht. Auf diese Art versehen kann ich athmen und sehen.

– Kapitän Nemo, auf alle meine Einwendungen haben Sie so überwältigende Antworten, daß ich nicht mehr zu zweifeln wage. Jedoch, bin ich auch genöthigt, den Apparaten von Rouquayrol und Ruhmkorff ihre Geltung zu lassen, so darf ich doch bezüglich der Büchse, womit Sie mich bewaffnen wollen, einen Vorbehalt machen.

– Das ist ja kein Feuergewehr, erwiderte der Kapitän.

– Also eine Windbüchse?

– Allerdings. Ich kann ja doch an Bord meines Fahrzeugs, ohne Salpeter, Schwefel und Kohlen kein Pulver fabriciren.

– Zudem, sagte ich, um unter’m Wasser, das achthundertundfünfzig Mal dichter als die Luft ist, zu schießen, mußte man einen sehr bedeutenden Widerstand überwinden.

– Das gäbe keinen Grund ab. Es giebt Kanonen, die nach Fulton von den Engländern Coles und Burley, von dem Franzosen Turcy, dem Italiener Landi verbessert wurden; diese sind mit einer besonderen Art von Schloß versehen, so daß man unter diesen Bedingungen daraus schießen kann. Aber ich sage Ihnen wiederholt, da ich kein Pulver habe, so ersetze ich es durch comprimirte Luft, welche mir die Pumpen des Nautilus im Ueberfluß liefern.

– Aber diese Luft muß sich bald verbrauchen.

– Nun, hab‘ ich nicht meinen Behälter Rouquayrol, der mir meinen Bedarf liefern kann. Es ist dafür nur ein besonderer Hahn erforderlich. Uebrigens, Herr Arronax, werden Sie während dieses unterseeischen Jagens an sich selbst die Erfahrung machen, daß man nicht viel Luft noch Kugeln braucht.

– Doch will es mich bedünken, in diesem Halbdunkel und innerhalb einer im Verhältniß zur Luft sehr dichten Flüssigkeit können die Schüsse nicht weit reichen und nicht leicht tödtlich sein.

– Mein Herr, bei diesem Gewehr sind alle Schüsse tödtlich, und wenn ein lebendes Geschöpf auch noch so leicht getroffen wird, sinkt es sogleich todt nieder.

– Weshalb?

– Weil mit diesem Gewehr nicht gewöhnliche Kugeln geschossen werden, sondern kleine Glaskapseln, die von dem österreichischen Chemiker Leniebrock erfunden wurden, und wovon ich einen großen Vorrath habe. Diese Glaskapseln, in Stahl gefaßt und durch ein bleiernes Bodenstück schwer gemacht, sind in Wahrheit kleine Leydner Flaschen, worin die Elektricität sehr hoch gesteigert ist. Sie entladen sich beim leichtesten Stoß, und auch das stärkste Thier sinkt todt nieder. Ich füge bei, daß diese Kapseln nicht größer sind als Nummer vier, und daß eine gewöhnliche Flinte ihrer zehn fassen kann.

– Ich streite nicht weiter, erwiderte ich, indem ich aufstand, und ich habe nur mein Gewehr zu nehmen. Uebrigens, wo Sie hingehen, gehe ich mit!«

Der Kapitän Nemo führte mich zum Hintertheil des Nautilus, und im Vorübergehen vor Ned’s und Conseil’s Cabine rief ich meine beiden Gefährten ab, und sie schlössen sich sogleich an.

Darauf kamen wir in eine kleine Zelle, die nach vorn hin neben dem Maschinenzimmer lag, und worin wir unsere Spazierkleidung anzulegen hatten.

Sechzehntes Capitel

Sechzehntes Capitel

Spaziergang im Freien

Diese Zelle war eigentlich Arsenal und Kleiderkammer des Nautilus. Ein Dutzend Skaphander-Apparate, die an der Wand hingen, harrten der Spaziergänger.

Als Ned-Land sie erblickte, zeigte er einen offenbaren Widerwillen, einen solchen anzuziehen.

»Mein wackerer Ned, sagte ich zu ihm, die Wälder der Insel Crespo sind ja nur unterseeische Wälder.

– Gut! sagte der Harpunier enttäuscht, da er seine Träume von frischem Fleisch schwinden sah. Und Sie, Herr Arronax, wollen sich in diese Kleider stecken?

– Man muß wohl, Meister Ned.

– Es steht Ihnen frei, mein Herr, erwiderte der Harpunier mit Achselzucken, aber ich meinestheils ziehe sie niemals an, wofern man mich nicht mit Gewalt dazu zwingt.

– Man wird Sie nicht mit Gewalt nöthigen, Meister Ned, sagte der Kapitän Nemo.

– Und Conseil will sich in Gefahr begeben? fragte Ned.

– Ich bin überall dabei, wo mein Herr hin geht«, erwiderte Conseil.

Der Kapitän rief, und zwei Mann von den Schiffsleuten kamen und halfen uns diese schweren undurchdringlichen Kleider anziehen, die aus Kautschuk gefertigt und der Art eingerichtet waren, daß sie bedeutenden Druck aushielten. Es war eine Rüstung, geschmeidig und widerstandsfähig zugleich; Hosen und Weste; jene endigten mit einer dichten Fußbekleidung, die mit schweren Bleisohlen besetzt war. Der Stoff der Weste war durch Kupferplättchen geschützt, welche der Brust zum Panzer dienten, um den Druck des Wassers auszuhalten und den Lungen ihre freie Thätigkeit zu sichern. Die Aermel endigten mit geschmeidigen Handschuhen, welche die Handbewegung durchaus nicht hinderten.

Man sieht, sie waren weit verschieden von den unförmlichen Skaphandern, welche im achtzehnten Jahrhundert erfunden und angepriesen wurden.

Der Kapitän Nemo, einer seiner Gefährten – eine herkulische Gestalt von außerordentlicher Körperkraft – Conseil und ich zogen rasch die Kleidung an. Es handelte sich nur darum, unsere Köpfe in die metallenen Kugeln zu stecken. Aber bevor wir dazu schritten, bat ich den Kapitän um die Erlaubniß, die für uns bestimmten Gewehre zu untersuchen.

Einer von der Mannschaft des Nautilus reichte mir eine einfache Flinte, deren stählerner Kolben innen hohl und ziemlich groß war. Er diente als Behälter der zusammengepreßten Luft, welche durch eine Klappe mit einer Feder in den metallenen Lauf gelassen wurde. In dem dicken Theil des Kolbens war eine kleine Büchse, die etwa zwanzig elektrische Kugeln faßte, welche vermittelst einer Sprungfeder automatisch in den Gewehrlauf gelangten. Sobald ein Schuß losgegangen, war auch schon der folgende zum Abschießen fertig.

»Kapitän Nemo, sagte ich, das Gewehr ist vortrefflich, und leicht zu handhaben. Ich wünsche nur es zu probiren. Aber wie gelangen wir auf den Meeresgrund.

– In diesem Augenblick, Herr Professor, sitzt der Nautilus in einer Tiefe von sechs Meter fest, und wir brauchen uns nur auf den Weg zu machen.

– Aber wie gelangen wir hinaus?

– Sie werden’s gleich sehen.«

Der Kapitän Nemo steckte seinen Kopf in die kugelförmige Kappe. Conseil und ich thaten dasselbe, während der Canadier uns ironisch »Glück zu der Jagd« wünschte. Unsere Kleidung endigte sich oben in ein kupfernes, schraubenartig ausgebohrtes Halsband, worauf der metallene Helm eingeschraubt wurde. Drei mit dicken Gläsern versehene Löcher gestatteten nach allen Richtungen zu sehen, indem man nur in der Kugel den Kopf zu drehen hatte. Sobald er aufgesetzt war, fingen die auf unseren Rücken befestigten Apparate Rouquayrol ihre Thätigkeit an, und ich für meinen Theil athmete leicht.

Die Ruhmkorff’sche Lampe an meinem Gürtel, das Gewehr in der Hand, war ich fertig zum Fortgehen. Aber von dieser schweren Kleidung umschlossen und mit meinen bleiernen Sohlen an den Boden geheftet, märe mir’s unmöglich gewesen, nur einen Schritt zu machen.

Doch war dieser Fall vorgesehen; denn ich fühlte, daß man mich in eine kleine neben dem Kleidergemach befindliche Kammer schob. Meine Begleiter folgten, in gleicher Weise bugsirt, mir nach. Ich hörte, wie eine Thüre mit festgefugtem Verschluß über uns zugemacht wurde, und tiefes Dunkel umgab uns.

Nach einigen Minuten hörte ich ein lebhaftes Zischen und fühlte eine gewisse Kälte von den Füßen zur Brust aufsteigen. Offenbar hatte man vom Innern des Schiffs aus mit einem Hahn das äußere Wasser eingelassen, so daß es uns umgab und die ganze Kammer füllte. Darauf öffnete sich eine zweite Thür in der Seitenwand des Nautilus, ein Dämmerlicht umgab uns. Gleich darauf fühlten wir den Meeresgrund unter den Füßen.

Welchen Eindruck dieser Spaziergang in diesen Tiefen auf mich machte, könnte ich unmöglich schildern. Solche Wunder zu erzählen mangelt der Ausdruck. Weder Pinsel noch Feder reichen aus, die diesem Element eigenthümlichen Erscheinungen darzustellen.

Der Kapitän Nemo schritt voran, und sein Genosse einige Schritte hinter uns. Conseil und ich blieben dicht beisammen, als hätten wir durch diese metallene Bepanzerung mit einander reden können. Die Schwere meiner Kleidung war mir schon nicht mehr fühlbar; weder meine Fußbekleidung, noch mein Luftbehälter, noch die schwere Kugel, innerhalb welcher mein Kopf wie ein Mandelkern in seiner Schaale schlotterte, machten mir Beschwerden. Alle diese Gegenstände verloren, in’s Wasser getaucht, eben so viel von ihrem Gewicht, als das von ihnen verdrängte Wasser hatte, und ich empfand die Wohlthat dieses von Archimedes entdeckten Naturgesetzes. Nicht mehr eine träge Masse, hatte ich eine verhältnißmäßig große Freiheit der Bewegung.

Ich staunte über die Stärke des Lichtes, welches bis auf dreißig Fuß unter dem Meeresspiegel den Boden erhellte. Die Sonnenstrahlen drangen leicht durch die Wassermasse, welche dadurch ihre Färbung verlor. Ich konnte die Gegenstände in einer Entfernung von hundert Meter klar unterscheiden. Weiter hinaus schattirte sich die Grundfarbe in feinen Lasurnüancen, dann in der Ferne hellblau, und verschwand zuletzt in unbestimmtem Dunkel. Wahrhaftig, dieses Wasser um mich herum war zwar dichter als die Atmosphäre der Erde, aber fast eben so durchsichtig. Ueber mir bemerkte ich die Oberfläche des Meeres ganz ruhig.

Wir schritten über feinen Sand ohne Runzeln, wie an den Meeresküsten der Fall ist, wo Spuren der hohen See zurückbleiben. Diese blendende Fläche warf, wie ein Reflector, die Sonnenstrahlen mit auffallender Stärke zurück. Daher der ungeheure Widerschein, welcher alle Elementartheile durchdrang. Wird man mir glauben, wenn ich behaupte, daß ich in dieser Tiefe von dreißig Fuß wie am hellen Tag sehen konnte?

Eine Viertelstunde lang ging ich auf diesem heißen Sand, der mit unbetastbarem Muschelstaub besäet war. Der Nautilus, welcher wie eine lange Klippe aussah, verschwand allmälig aus den Augen, aber sein Leuchtfeuer mußte, wann in den Gewässern die Nacht eintrat, unsere Rückkehr an Bord erleichtern, indem seine Strahlen vollkommen klar sichtbar waren. Auf dem Land, wo die Luft mit Staub durchdrungen ist, scheint dieses Licht düster, wie vom Nebel getrübt; aber auf dem Meer, wie unter dem Meer, pflanzen sich die elektrischen Lichtstreifen mit unvergleichlicher Reinheit weiter.

Inzwischen gingen wir immer fort, und die ungeheure Sandfläche schien ohne Grenzen zu sein. Ich schob mit der Hand die Wassergardinen zurück, welche hinter mir wieder zusammenfielen, und der Druck des Wassers verwischte augenblicklich meine Fußstapfen.

Bald zeigten sich vor meinen Blicken, aus der Ferne in vermischten Umrissen, einige Gegenstände. Ich erkannte prächtige Musterstücke von Felsen, mit Pflanzenthieren der schönsten Sorte wie mit einem Teppich bedeckt, so daß ich im ersten Augenblick ganz betroffen war von dem außerordentlichen Anblick.

Es war damals zehn Uhr Vormittags. Die Sonnenstrahlen fielen in ziemlich schiefem Winkel auf die Oberfläche des Meeres, und da ihr Licht durch Brechung wie durch ein Prisma sich zertheilte, so erschienen Blumen, Felsen, Pflänzchen, Muschelwerk, Polypen am Rande mit den sieben Regenbogenfarben geziert. Es war wundervoll zu schauen, eine wahre Augenweide, diese kaleidoskopartige Mischung von Farbentönen, grüngelb, orange, violett, indigo, hellblau!

Bei diesem Anblick war Conseil, gleich mir, stehen geblieben. Der brave Junge war ohne Zweifel im Classificiren dieser Mollusken und Zoophyten vertieft. Polypen und Echinodermen bedeckten in Menge den Boden. Die mancherlei Korallenarten, die gleich Champignons gestalteten Fongiten, die Anemonen, bildeten einen Blumengrund, bunt verziert mit Porpiten im Schmuck ihres Kragens lasurblauer Fühlfäden, mit Seesternen, womit der Sand besäet war.

Es war ein rechter Jammer für mich, die glänzenden Musterstücke von Mollusken, die zu Tausenden auf dem Boden lagen, mit meinen Füßen zu treten. Aber wir mußten vorwärts schreiten, und wir thaten es, während über unseren Häuptern Schaaren von Physaliden mit ultramarinblauen Fühlfäden, die mit den Wogen trieben, Medusen mit opal- oder zart rosenfarbenen Schirmen uns gegen die Sonnenstrahlen deckten.

Alle diese Wunder sah ich im Raum einer Viertelmeile, indem ich kaum stehen bleiben konnte, da der Kapitän Nemo mich mit einem Wink mahnte, ihm zu folgen. Bald änderte sich die Beschaffenheit des Bodens. Auf die Sandebene folgte eine Lage klebrigen Schlammes, der nur aus kieseligen oder kalkartigen Muscheln bestand. Hierauf durchwanderten wir eine Wiese von Algen. Diese dichten Rasen waren so reich, daß sie es mit den von Menschenhand gewebten Tapeten aufnehmen konnten. Zu gleicher Zeit breitete sich über unseren Köpfen eine grüne Decke von Seepflanzen aus der überreichen Algenfamilie, deren man über zweitausend Arten kennt, an der Oberfläche des Meeres. Diese Algen, ein wahres Wunder der Schöpfung, gehören zu den größten Merkwürdigkeiten der allgemeinen Flora. Es gehören dieser Familie die kleinsten, wie die größten Pflanzen der Erde. Denn wie man einerseits im Raum von fünf Quadratmillimeter vierzigtausend dieser mit den Augen nicht wahrnehmbaren, mikroskopischen Pflänzchen gezählt hat, so hat man Fucus getroffen, die über fünfhundert Meter lang waren.

Seit etwa anderthalb Stunden hatten wir den Nautilus verlassen. Es war bald Mittagszeit, wie ich aus den senkrechten Sonnenstrahlen, die sich nicht mehr brachen, abnahm. Der Farbenzauber schwand allmälig, und die Nüancen von Smaragd und Saphir erloschen an unserem Firmament. Wir gingen im regelmäßigen Schritt, der erstaunlich stark auf dem Boden widerhallte. Das geringste Geräusch pflanzte sich mit einer Raschheit fort, woran das Ohr auf der Erde nicht gewöhnt ist. In der That ist das Wasser für den Ton ein besserer Leiter, als die Luft, und er pflanzt sich darin mit vierfacher Schnelligkeit fort.

In diesem Augenblick senkte sich der Boden in starkem Abfall. Das Licht nahm eine gleichmäßige Färbung an. Wir kamen bis zu einer Tiefe von hundert Meter, und hatten dann einen Druck von zehn Atmosphären zu erleiden. Aber mein Skaphanderkleid war so beschaffen, daß dieser Druck mir in keiner Weise nachtheilig war. Ich empfand nur in den Fingergelenken einige Unbehaglichkeit, und auch diese verschwand bald. Der zweistündige Spaziergang in dem ungewohnten Harnisch hatte mich nicht im Mindesten ermüdet. Das Wasser half dazu, daß die Bewegungen überraschend leicht vor sich gingen.

In der Tiefe von dreihundert Fuß waren die Sonnenstrahlen nur noch schwach wahrzunehmen. Es folgte ein röthliches Dämmerlicht. Doch sahen wir hinreichend, um unsere Richtung zu behalten, und wir brauchten noch nicht den Ruhmkorff’schen Apparat in Thätigkeit zu setzen.

In diesem Augenblick machte der Kapitän Nemo Halt. Er wartete, bis ich wieder bei ihm war, und zeigte mir mit dem Finger einige dunkle Massen, welche nicht weit von dort im Schatten hervortraten.

Das ist der Wald der Insel Crespo, dachte ich, und irrte nicht.

Erstes Capitel

Erstes Capitel

Eine schweifende Klippe

Ein seltsames Ereigniß, ein unerklärtes, und eine unerklärbare Naturerscheinung, die sich im Jahre 1866 begab, ist ohne Zweifel noch unvergessen. Nicht allein die Bevölkerung der Hafenstädte war durch Gerüchte beunruhigt, im Binnenlande der öffentliche Geist aufgeregt, besonders die Seeleute geriethen in Bewegung. Die Kaufleute und Rheder, Schiffsherren, Patrone und Kapitäne in Europa und Amerika, Officiere der Kriegsmarine aller Länder, und dann die Staatsregierungen der beiden Welttheile widmeten der Sache im hohen Grade ihr Interesse.

Die Thatsache ist, daß seit einiger Zeit manche Schiffe auf hoher See einem »enormen Gegenstand« begegneten, lang, spindelförmig, mitunter phosphorescirend, unendlich größer und rascher als ein Wallfisch.

Die Angaben über diese Erscheinung, wie sie in den Schiffsbüchern verzeichnet wurden, betrafen mit ziemlicher Genauigkeit die Structur des fraglichen Gegenstandes oder Geschöpfes, die unerhörte Schnelligkeit und erstaunliche Kraft seiner Bewegungen, die besonderen Lebensäußerungen, welche ihm eigenthümlich schienen. War es ein Thier von der Wallfischgattung, so übertraf es an Umfang weit alle von der Wissenschaft bisher verzeichneten. Cuvier, Lacépède, Dumeril, Quatrefages – hätten sicher die Existenz eines solchen Ungeheuers nicht gelten lassen – sofern sie es nicht selbst gesehen, d. h. mit eigenen kundigen Augen gesehen.

Lassen wir die ängstlichen Schätzungen, welche diesem Gegenstand zweihundert Fuß beimaßen, bei Seite, verwerfen die übertriebenen Angaben von der Breite einer Meile und der Länge dreier – und halten uns an das Durchschnittliche der wiederholt gemachten Beobachtungen, so könnte man doch behaupten, daß dieses phänomenale Wesen – sofern es existirte – alle von den Ichthyologen bisher angenommenen Dimensionen bei Weitem übertraf.

Aber es existirte; die Thatsache an sich war nicht in Abrede zu stellen, und bei der Neigung, womit sich die Menschen dem Wunderbaren zuwenden, begreift man leicht die Bewegung, welche diese übernatürliche Erscheinung in der ganzen Welt hervorbrachte. Sie in’s Reich der Fabeln zu verweisen, ging schon nicht mehr an.

In der That begegnete am 20. Juli 1866 das Dampfboot Governor Higginson, der Calcutta and Burnach steam navigation Company gehörig, dieser schwimmenden Masse fünf Meilen östlich von den Küsten Australiens. Der Kapitän Baker glaubte anfangs auf eine unbekannte Klippe zu treffen; er war auch bereits im Begriff, die Lage derselben genau zu bestimmen, als von dem unerklärlichen Gegenstand aus zwei Wasserstrahlen hundertundfünfzig Fuß hoch zischend in die Luft emporschossen. Demnach, sofern nicht auf dieser Klippe intermittirende Quellen eines Geyser sich befanden, hatte es der Governor Higginson mit nichts Anderm zu thun, als einem bisher unbekannten Seesäugethier, welches durch seine Luftlöcher Wasserstrahlen mit Luft und Dunst gemischt, ausstieß.

Die gleiche Thatsache wurde am 23. Juli desselben Jahres in den Gewässern des Stillen Oceans, von dem Christobal Colon der West India and Pacific steam navigation Company beobachtet. Demnach war dieses außerordentliche Seethier im Stande, mit erstaunlicher Schnelligkeit seine Stellung zu wechseln, da es vom Governor Higginson und Christobal Colon nach Verlauf von drei Tagen an zwei Punkten beobachtet wurde, welche der Karte nach über siebenhundert Seemeilen von einander entfernt sind.

Vierzehn Tage später als zweitausend Meilen von da die Helvetia, von der Company Nationale, und der Schannon, von der Royal-Mail, in dem zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gelegenen Theil des Atlantischen Meeres in entgegengesetzter Richtung fuhren, signalisirten sie sich das Ungeheuer unterm 42° 15′ nördl. Breite und 60° 35′ westl. Länge vom Meridian zu Greenwich aus. Bei dieser gleichzeitigen Beobachtung glaubte man die Länge des Thieres zum Mindesten auf etwa dreihundertfünfzig engl. Fuß (ca. 106 Meter) anschlagen zu können. Die größten Wallfische aber, wie sie in der Gegend der Aleuten vorkommen, haben die Länge von hundertundfünfzig Meter niemals überschritten.

Als diese Nachrichten Schlag auf Schlag eintrafen, machten neue an Bord des Pereira gemachte Beobachtungen, ein Zusammenstoßen des Aetna mit dem Ungeheuer, ein von den Officieren der französischen Fregatte La Normandie vorgenommenes Protokoll, eine sehr ernste, vom Generalstab des Commodore Fitz-James an Bord des Lord Clyde gemachte Aufnahme – auf die öffentliche Meinung den tiefsten Eindruck. In den Ländern leichten Humors scherzte man über das Phänomen, aber die ernsten und praktischen Länder, England, Amerika, Deutschland, befaßten sich lebhaft damit.

Ueberall in den großen Verkehrsmittelpunkten kam das Ungeheuer in Schwung; man besang es in den Kaffees, man verspottete es in den Journalen, man spielte es in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die Journale gaben in Abbildungen alle riesenmäßigen Phantasiebilder zum Besten, vom weißen Wallfisch, dem erschrecklichen »Moby-Dick« der Hyperboräerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von fünfhundert Tonnen umwickeln und in den Abgrund des Oceans hinabziehen kann. Man citirte sogar Stellen aus dem Alterthum, die Ansichten des Aristoteles und Plinius, welche für die Existenz solcher Ungeheuer sprachen, sodann die norwegischen Berichte des Bischofs Pontoppidan, die Erzählungen Paul Heggede’s, und endlich die Berichte Harrington’s, dessen Ehrlichkeit nicht anzufechten ist, wenn er behauptet, er habe an Bord des Castillan im Jahre 1857 diese enorme Schlange gesehen. –

Darauf begann eine unendliche Polemik der Gläubigen und Ungläubigen in den gelehrten Gesellschaften und den wissenschaftlichen Journalen. Die »Frage des Ungeheuers« erhitzte alle Gemüther. Die Journalisten, welche wetteifernd mit den Schöngeistern die Wissenschaft vertraten, vergossen, verbrauchten in diesem merkwürdigen Feldzug tonnenweise Tinte; manche sogar etliche Tropfen Blut, denn von der Seeschlange gingen sie zu beleidigenden Persönlichkeiten über.

Sechs Monate lang wurde der Krieg mit abwechselndem Erfolg geführt. Auf die gründlichen Artikel des Geographischen Instituts in Brasilien, der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Britischen Gesellschaft, der Smithson’schen Anstalt zu Washington, auf die Erörterungen des Indian Archipelago, des Cosmos des Abbé Moigno, der Petermann’schen Mittheilungen, auf die wissenschaftliche Chronik der großen Journale entgegnete die kleine Presse mit unerschöpflicher Laune. Die geistreichen Schriftsteller parodirten ein von den Gegnern des Ungeheuers citirtes Wort Linné’s, indem sie behaupteten, »die Natur schaffe keine Dummköpfe«, und beschworen ihre Zeitgenossen, nicht die Natur Lügen zu strafen, indem sie die Existenz des Kraken, der Seeschlangen, des »Moby-Dick« und andere Hirngespinnste irrsinniger Seeleute gelten ließen. Endlich versetzte, in einem Artikel eines sehr gefürchteten satirischen Journals, der beliebteste seiner Redacteure, bei einem Ueberblick über das Ganze, dem Ungeheuer einen letzten Streich, und erlegte es inmitten allgemeinen hallenden Gelächters. Der Geist siegte über die Wissenschaft.

Während der ersten Monate des Jahres 1867 hielt man die Frage für beseitigt, und es schien nicht, als solle dieselbe wieder auftauchen, als neue Thatsachen zur Kenntniß des Publicums kamen. Es handelte sich dabei nicht mehr um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, als die Vermeidung einer wirklichen, ernsten Gefahr. Die Frage nahm eine andere Gestalt an. Das Ungeheuer wurde wieder Inselchen, Felsen, Klippe, aber eine bewegliche, unbestimmbare und unfaßbare.

Am 5. März 1867 stieß der Moravian von der Montreal Ocean Company, unter 27° 30′ Breite und 72° 15′ Länge, bei Nacht wider einen Felsen, der in jener Gegend von keiner Karte verzeichnet war. Nur durch die ausgezeichnete Beschaffenheit seines Rumpfes und seine Schnelligkeit bei vierhundert Pferdekraft entging er der Gefahr, mit seinen zweihundertsiebenunddreißig Passagieren unterzugehen.

Der Vorfall ereignete sich Morgens früh, als schon der Tag graute. Man untersuchte das Meer genau, sah aber nichts, als ein starkes Kielwasser, welches auf drei Kabellängen das Gewässer brach. Ob der Moravian wider einen Felsen gestoßen, konnte man nicht wissen; aber als man ihn im Ausbesserungsbassin untersuchte, fand sich, daß ein Theil seines Kiels zerbrochen war.

Diese so bedeutende Thatsache wäre vielleicht vergessen worden, hätte sie sich nicht drei Wochen später unter gleichen Bedingungen wiederholt. Nur daß diesmal durch die Nationalität des betroffenen Schiffes und den Ruf der Gesellschaft, welcher es gehörte, das Ereigniß das größte Aufsehen bekam.

Der berühmte englische Rheder Cunard ist weltbekannt. Derselbe gründete im Jahre 1840 einen Postcours zwischen Liverpool und Halifax mit drei hölzernen Schiffen von vierhundert Pferdekraft und elfhundertundzweiundsechzig Tonnen Gehalt. Dieses Material vergrößerte sich mit den wachsenden Geschäften nach und nach bedeutend; besonders im Jahre 1853 mit einer Reihe von Schiffen ersten Ranges, Arabia, Persia, China, Scotia etc. etc.; und im Jahre 1867 besaß sie zwölf Fahrzeuge, worunter vier Schraubendampfer. Die Unternehmung ward mit größter Geschicklichkeit geleitet, und ihre Geschäfte waren vom besten Erfolg gekrönt. Seit sechsundzwanzig Jahren, da die Schiffe der Gesellschaft Cunard das Atlantische Meer befuhren, ist von zweitausend Fahrten nicht eine einzige mißglückt, nie kam eine Verspätung vor, nie ist ein Brief, ein Mensch oder ein Schiff abhanden gekommen oder zu Grunde gegangen. Darum erregte auch der Unfall, welcher einem seiner besten Schiffe widerfuhr, so großes Aufsehen.

Am 13. April 1867 fuhr der Scotia unter 15° 12′ Länge und 45° 37′ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer Schnelligkeit von dreizehn Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als eben die Passagiere im großen Salon ihr Vesper nahmen, verspürte man einen wenig merkbaren Stoß. Derselbe kam eher von einem schneidenden Instrument her, als von einem bohrenden oder stoßenden, und schien so leicht, daß kein Mensch an Bord dadurch beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraumes auf’s Verdeck stürzten mit dem Geschrei: »Wir gehen unter!«

Augenblicklich geriethen die Passagiere in großen Schrecken; aber der Kapitän Anderson war im Stande sie unverzüglich zu beruhigen. In der That konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da der Scotia durch wasserdichte Verschläge in sieben Abtheilungen getheilt war, so daß er leicht einem Eindringen des Wassers gewachsen war. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und erkannte, daß das Wasser in das fünfte Gefach durch einen beträchtlichen Leck eindrang. Dieses Fachwerk war zum Glück nicht dasjenige, welches die Kessel enthielt, sonst wären die Feuer mit einem Male ausgelöscht worden.

Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein zwei Meter breites Loch im Kiel. So konnte es nur mit halber Schnelligkeit weiter fahren, und kam um drei Tage verspätet in Liverpool an.

Bei der Ausbesserung fand sich ein regelmäßiger Riß in Form eines gleichschenkeligen Dreiecks. Der Bruch des Eisenblechs zeigte, daß das durchbohrende Werkzeug ausnehmend hart gewesen sein mußte; auch mußte es, nachdem es mit enormer Gewalt eingedrungen, sich durch eigene Bewegung, in unerklärbarer Weise wieder herausgezogen haben.

Diese Thatsache setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Bewegung. Von nun an wurden Unfälle zur See, von welchen man nicht eine bestimmte Ursache wußte, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und das phantastische Thier mußte alle solche Schiffbrüche sich zuschreiben lassen.

Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob, daß der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das Publicum auf’s Entschiedenste, daß die Meere endlich um jeden Preis von dem fürchterlichen Ungethüm befreit würden.

Zehntes Capitel

Zehntes Capitel

Der Mann des Meeres

Es war der Kommandant an Bord, welcher dies sprach.

Auf diese Worte stand Ned-Land plötzlich auf. Der Steward verließ auf einen Wink seines Herrn wankend die Zelle; aber – so zauberhaft wirkte der Wink des Commandanten – nicht eine Geberde verrieth den Groll, den dieser Mensch gegen den Canadier gefaßt haben mußte. Conseil, außergewöhnlich theilnehmend, ich voll Bestürzung, harrten wir schweigend auf die Entwickelung der Scene.

Der Commandant, an eine Ecke des Tisches gelehnt, die Arme gekreuzt, beobachtete uns mit gespannter Achtsamkeit. Nahm er Anstand zu reden? Bereute er die so eben gesprochenen Worte? Man konnte meinen.

Nach einer kleinen Pause, die Niemand unterbrach, sprach er mit ruhigem, eindringlichem Ton:

»Meine Herren, ich spreche französisch, englisch, deutsch und Latein. Ich hätte Ihnen also gleich bei unserer ersten Zusammenkunft antworten können, aber ich wollte Sie erst kennen lernen, sodann überlegen. Ihre vierfache, dem Inhalt nach übereinstimmende Erzählung hat mich auch über Ihre Persönlichkeit versichert. Ich weiß nun, daß der Zufall des Schicksals zu mir geführt hat Herrn P. Arronax, Professor der Naturgeschichte am Museum zu Paris, der mit einer wissenschaftlichen Sendung in’s Ausland betraut ist; seinen Diener Conseil, und Ned-Land aus Canada, Harpunier an Bord der Fregatte Abraham Lincoln, von der Nationalmarine der Vereinigten Staaten Amerika’s.«

Ich verneigte mich mit dem Ausdruck der Zustimmung. Da mir keine Frage gestellt war, hatte ich nicht zu antworten.

Der Mann sprach mit vollkommener Leichtigkeit, ohne falsche Betonung. Seine Sätze waren klar, seine Ausdrücke richtig, seine Aussprache auffallend leicht. Und dennoch fühlte ich, daß er nicht mein Landsmann war.

Er fuhr folgendermaßen fort:

»Es ist Ihnen, mein Herr, gewiß auffallend gewesen, daß ich so lange mit meinem zweiten Besuch gezögert habe. Allein ich wollte reiflich erwägen, welchen Entschluß ich Ihnen gegenüber zu ergreifen hätte. Ich habe lange geschwankt. Sehr bedauerliche Umstände haben Sie in die Nähe eines Mannes gebracht, der mit der Menschheit gebrochen hat. Sie stören durch Ihre Anwesenheit meine Existenz. …

– Ohne es zu wollen, sagte ich.

– Ohne zu wollen? erwiderte der Unbekannte mit etwas gehobener Betonung. Verfolgt mich der Abraham Lincoln wider Willen auf allen Meeren? Haben Sie sich wider Willen an Bord dieser Fregatte eingefunden? Sind Ihre Kugeln wider Willen von meinem Schiff abgeprallt? Hat mich Meister Ned-Land wider Willen mit seiner Harpune getroffen?«

Ich nahm bei diesen Worten eine fortdauernde Gereiztheit wahr. Doch hatte ich auf alle diese Beschuldigungen eine ganz natürliche Antwort zu geben, und gab sie.

»Mein Herr, sagte ich. Sie wissen ohne Zweifel nicht, was in Betreff Ihrer in Amerika und Europa geredet worden ist. Sie wissen nicht, daß verschiedene Unfälle, die durch einen Stoß Ihres unterseeischen Fahrzeugs vorkamen, die öffentliche Meinung auf beiden Kontinenten außerordentlich aufgeregt haben. Ich verschone Sie mit den zahllosen Hypothesen, womit man die unerklärliche Erscheinung, deren Geheimniß einzig in Ihrer Hand lag, zu erklären suchte. Aber wissen Sie, daß bei Ihrer Verfolgung der Abraham Lincoln meinte, ein starkes Seeungeheuer zu verfolgen, von welchem der Ocean um jeden Preis befreit werden müsse.«

Ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen, fuhr der Commandant in ruhigerm Tone fort:

»Herr Arronax, Sie werden wohl nicht zu behaupten wagen, daß Ihre Fregatte nicht eben so wohl ein unterseeisches Boot verfolgt und kanonirt habe, als ein Ungeheuer?«

Diese Frage setzte mich in Verlegenheit, denn gewiß hätte der Commandant Farragut kein Bedenken getragen es zu thun. Er hätte für seine Pflicht gehalten, ein Fahrzeug dieser Art ganz eben so wie einen Riesen-Narwal zu vernichten.

»Sie begreifen also, mein Herr, fuhr der Unbekannte fort, daß ich Sie als Feinde zu behandeln berechtigt bin.«

Ich blieb die Antwort schuldig. Wozu sollte es dienen, einen solchen Satz zu erörtern, wann die Gewalt der besten Beweisgründe Meister ist.

»Ich habe lange geschwankt, fuhr der Commandant fort. Ich hatte keine Verbindlichkeit, Sie gastlich aufzunehmen. Wenn ich mich von Ihnen scheiden mußte, hatte ich kein Interesse daran Sie wieder zu sehen. Ich ließ Sie wieder auf die Plateform meines Schiffes bringen, wohin Sie sich geflüchtet hatten; ich tauchte in die Tiefe und vergaß Ihr Dasein. War ich nicht dazu berechtigt?

– Es war vielleicht die Berechtigung eines Wilden, fuhr ich fort, aber nicht eines civilisirten Menschen.

– Herr Professor, versetzte lebhaft der Commandant, ich gehöre nicht zu denen, welche Sie civilisirt nennen! Ich habe mit der ganzen menschlichen Gesellschaft gebrochen, aus Gründen, welche ich allein zu würdigen berechtigt bin. Ich befolge also auch nicht ihre Regeln, und forderte Sie auf, sich bei mir nie auf dieselben zu berufen.«

Dies sprach er klar und bestimmt. Zorn und Verachtung strahlten aus dem Auge des Unbekannten, und ich sah, daß das Leben dieses Mannes eine furchtbare Vergangenheit hatte. Er hatte sich nicht allein außerhalb der menschlichen Gesetze gestellt, sondern sich auch davon unabhängig gemacht, frei im strengen Sinn des Wortes, ganz unerreichbar! Wer sollte auch wagen, ihn auf den Meeresgrund zu verfolgen, da er auf der Oberfläche die gegen ihn verhängte Verfolgung vereitelte? Welches Schiff könnte einem Stoß seines unterseeischen Monitor widerstehen? Welcher, auch noch so starke Panzer könnte die Stöße seines Sporns aushalten? Kein Mensch könnte ihn für seine Thaten zur Rechenschaft ziehen. Gott, wenn er an ihn glaubte, sein Gewissen, wenn er eins hatte, waren seine einzigen Richter.

Diese Gedanken durchkreuzten sich rasch in meinem Geist, während der sonderbare Mann, vertieft und in sich selbst versenkt, schwieg. Das Interesse, womit ich ihn betrachtete, war mit Schrecken gemischt.

Nach einer langen Pause ergriff der Commandant wieder das Wort:

»Ich habe also geschwankt, sprach er, aber ich habe gedacht, mein Interesse lasse sich mit dem natürlichen Mitgefühl vereinigen, worauf jedes menschliche Wesen Anspruch hat. Sie sollen an Bord meines Schiffes bleiben, weil das Verhängniß Sie dahin verschlagen hat. Sie sollen da frei sein, und zum Entgelt für diese, übrigens ganz verhältnißmäßige, Freiheit will ich Ihnen nur eine einzige Bedingung auferlegen. Ihr Wort, sie anzunehmen, wird mir genügen.

– Reden Sie, mein Herr, erwiderte ich, ich denke, diese Bedingung gehört zu denen, welche ein Ehrenmann annehmen kann?

– Ja, mein Herr, und ich will sie Ihnen mittheilen. Es wäre möglich, daß gewisse unvorhergesehene Ereignisse mich nöthigten, Sie auf Stunden oder Tage, nach Bedürfnis in Ihrer Cabine einzuhalten. Da ich niemals Gemalt anzuwenden wünsche, erwarte ich in diesem Fall mehr wie in jedem andern willigen Gehorsam. Durch dieses Verfahren decke ich Ihre Verantwortlichkeit, entbinde Sie gänzlich, denn ich kann Sie in die Unmöglichkeit versetzen, zu sehen, was nicht gesehen werden darf. Sind Sie diese Bedingungen zufrieden?«

Es gingen also an Bord des Fahrzeugs Dinge vor, die zum Mindesten ganz eigenthümlicher Art waren, und die von Leuten, welche nicht außerhalb der socialen Gesetze standen, nicht gesehen werden durften!

»Wir nehmen sie an, erwiderte ich. Nur möcht‘ ich Sie, mein Herr, um die Erlaubnis bitten, eine einzige Frage an Sie zu richten.

– Reden Sie, mein Herr.

– Sie haben gesagt, wir sollten frei auf Ihrem Schiffe sein?

– Vollständig.

– Ich frage Sie also, was Sie unter dieser Freiheit verstehen.

– Nun, die Freiheit hin und her zu gehen, zu sehen, selbst alles, was hier vorgeht, zu beobachten, – außer in manchen seltenen Fällen, – kurz, die Freiheit, welche wir selbst genießen, ich sammt meinen Genossen.«

Offenbar verstanden wir uns nicht.

»Verzeihen Sie, mein Herr, fuhr ich fort, aber diese Freiheit besteht nur in derjenigen, welche jeder Gefangene hat, in seinem Kerker hin- und herzugehen! Diese kann uns nicht genügen.

– Doch muß sie Ihnen genügen!

– Wie! Sollen wir für immer verzichten, unsere Heimat, Freunde und Verwandte wieder zu sehen!

– Ja, mein Herr. Aber das auf der Erde unerträgliche Joch, welches die Menschen Freiheit nennen, sich wieder aufzuladen, – darauf zu verzichten, ist vielleicht nicht so peinlich, als Sie glauben!

– Das wäre! rief Ned-Land. Niemals werde ich mein Wort darauf geben, daß ich nicht mich zu retten suche!

– Ich fordere Ihnen nicht Ihr Wort ab, Meister Land, erwiderte kalt der Commandant.

– Mein Herr, versetzte ich, gegen Gewohnheit entrüstet. Sie mißbrauchen Ihre Lage! Das ist Grausamkeit!

– Nein, mein Herr, Gnade ist’s. Sie sind meine Kriegsgefangenen! Ich behalte Sie am Leben, während es mich nur ein Wort kosten würde, Sie im Meeresgrund zu versenken! Sie haben mich angegriffen! Sie sind durch Ueberraschung in den Besitz eines Geheimnisses gelangt, in welches kein Mensch auf der Welt dringen darf, das Geheimniß meines Daseins! Und Sie glauben, daß ich Sie wieder ans die Erde entlassen werde, die keine Kenntniß mehr von mir haben soll! Niemals! Indem ich Sie zurückhalte, schütze ich nicht Sie, sondern mich selbst!«

Diese Worte gaben zu erkennen, daß der Commandant einen Entschluß gefaßt hatte, gegen welchen kein Argument durchdringen konnte.

»Also, mein Herr, fuhr ich fort, Sie geben uns nur die Wahl zwischen Leben und Tod?

– Ganz einfach.

– Meine Freunde, sagte ich, auf eine so gestellte Frage giebt’s keine Antwort. Aber kein Wort bindet uns an den Herrn dieses Fahrzeugs.

– Kein Wort, mein Herr,« erwiderte der Unbekannte.

Dann fuhr er in sanfterm Tone fort:

»Jetzt erlauben Sie mir, Herr Arronax, vollständig mitzutheilen, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich kenne Sie, Herr Arronax. Sie, wenn auch nicht Ihre Gefährten, werden sich vielleicht über das Schicksal, welches Sie an mein Loos fesselt, nicht so sehr zu beklagen haben. Sie finden unter den Büchern, welche zu meiner Lieblingslectüre gehören, das Werk über die großen Tiefen des Meeres, welches Sie herausgegeben haben. Ich hab‘ es öfters gelesen. Sie sind in diesem Werk so weit vorgedrungen, als die Wissenschaft auf der Erde Ihnen möglich machte. Aber Sie wissen nicht Alles, haben nicht Alles gesehen. Lassen Sie mich also Ihnen sagen, Herr Professor, daß Sie die an meinem Bord verbrachte Zeit nicht bereuen werden. Sie sollen im Land der Wunder reisen. Staunende Verwunderung wird vielleicht beständig Ihre Seele füllen. Das ununterbrochen Ihren Augen dargebotene Schauspiel wird Sie nicht leicht abstumpfen. Ich will eine nochmalige unterseeische Reise um die Welt – wer weiß? vielleicht die letzte – vornehmen, um meine Studien auf dem Grund dieser so oft befahrenen Meere zu wiederholen, und Sie sollen mein Studiengenosse sein. Von diesem Tag an werden Sie in ein neues Element treten, Sie werden sehen, was noch kein Mensch zu sehen vermochte, – denn ich und die Meinigen zählen nicht mehr, – und unser Planet wird Ihnen durch meine Vermittelung seine letzten Geheimnisse mittheilen.«

Ich kann’s nicht leugnen; diese Worte des Commandanten machten einen starken Eindruck auf mich. Ich war an meiner schwachen Seite gefaßt, und vergaß auf einen Augenblick, daß die Anschauung dieser erhabenen Dinge die verlorene Freiheit nicht aufwiegen konnte. Uebrigens rechnete ich auf die Zukunft, um diese wichtige Frage zu lösen. Daher beschränkte ich mich darauf zu erwidern:

»Mein Herr, wenn Sie mit der Menschheit gebrochen haben, so will ich glauben, daß Sie damit nicht alles menschliche Gefühl abgelegt haben. Wir sind Schiffbrüchige, welche an Bord Ihres Fahrzeugs barmherzig aufgenommen wurden, das werden wir nie vergessen. Was mich betrifft, so verkannte ich nicht, daß, wenn das Interesse an der Wissenschaft den Menschen so weit in Besitz nimmt, daß er das Bedürfniß der Freiheit darüber vergißt, – dasjenige, was unsere Zusammenkunft mir verspricht, mir große Vergütungen gewähren würde.«

Ich dachte, der Commandant werde mir die Hand reichen, um unsern Vertrag zu besiegeln. Er that’s nicht. Es that mir leid um seinetwillen.

»Noch eine Frage, die letzte, sagte ich im Moment, wo dies unerklärliche Wesen Miene machte, sich zurückzuziehen.

– Reden Sie, Herr Professor.

– Mit welchem Namen darf ich Sie nennen?

– Mein Herr, erwiderte der Commandant, ich bin für Sie nur der Kapitän Nemo, und Sie nebst Ihren Gefährten sind für mich nur die Passagiere des Nautilus.«

Der Kapitän Nemo rief. Ein Steward erschien. Der Kapitän ertheilte ihm seine Befehle in der fremdartigen Sprache, welche ich nicht erkennen konnte. Darauf wendete er sich zu dem Canadier und Conseil mit den Worten:

»Ein Mahl wartet in Ihrer Cabine auf Sie. Folgen Sie gefälligst diesem Manne.

– Das läßt man sich gerne gefallen!« erwiderte der Harpunier.

Conseil verließ mit ihm endlich diese Zelle, worin sie seit länger als dreißig Stunden eingeschlossen waren.

»Und nun, Herr Arronax, unser Frühstück ist bereit. Erlauben Sie mir, daß ich vorausgehe.

– Wie Sie befehlen, Kapitän.«

Ich folgte dem Kapitän Nemo, und sowie ich aus der Thür getreten war, gingen wir durch einen elektrisch erleuchteten etwa zehn Meter langen Gang, dann öffnete sich vor uns eine zweite Thüre.

Wir traten nun in einen Speisesaal, der in strengem Styl meublirt und ausgeschmückt war. An beiden Enden desselben befanden sich hohe Anrichttische von Eichenholz mit eingelegten Verzierungen, und auf Fachbrettern prangten Fayence, Porzellan und Glasgefäße von unschätzbarem Werth. Das Silbergeräthe glänzte in den Strahlen, die von einer erleuchteten Decke herabfielen, deren Glanz durch seine Gemälde gemildert war.

In der Mitte des Saales stand ein reich besetzter Tisch. Der Kapitän Nemo wies mir meinen Platz an:

»Setzen Sie sich, sprach er zu mir, und essen Sie, wie ein Mann, der wohl Hunger zum Sterben haben wird.«

Das Frühstück bestand aus einer Anzahl Gerichte, die lediglich das Meer geliefert hatte, und einigen, deren Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte. Ich gebe zu, daß es gut war, aber mit einem besondern Beigeschmack, woran ich mich leicht gewöhnte. Diese verschiedenen Speisen schienen mir reich an Phosphor zu sein, und ich dachte mir, sie müßten aus dem Meere herkommen.

Der Kapitän Nemo blickte mich an. Ich richtete keine Frage an ihn, aber er errieth meine Gedanken und antwortete von selbst auf Fragen, die ich gerne gethan hätte.

»Die meisten dieser Gerichte sind Ihnen wohl unbekannt, sagte er, doch können Sie ohne Besorgniß sie genießen. Sie sind gesund und nahrhaft. Auf Nahrungsmittel von der Erde habe ich lange verzichtet, und befinde mich darum nicht übler. Meine kräftige Mannschaft genießt dieselbe Nahrung wie ich.

– Also, sagte ich, sind diese Speisen alle Erzeugnisse des Meeres?

– Ja, Herr Professor, das Meer befriedigt alle meine Bedürfnisse. Bald werfe ich meine Zugnetze aus, und ziehe sie zum Bersten voll wieder herein. Bald gehe ich mitten in diesem Element, das dem Menschen unzugänglich zu sein scheint, auf die Jagd, und erlege Wild in meinen unterseeischen Waldungen. Meine Heerden weiden, gleich denen des alten Hirten Neptun, ohne Furcht auf dem unermeßlichen Wiesenland des Oceans. Ich habe da ein ungeheures Besitzthum, das ich selbst nutzbar mache, und das von der Hand des Schöpfers aller Dinge stets eingesäet wird.«

Ich blickte den Kapitän Nemo mit einigem Erstaunen an, und antwortete:

»Ich begreife wohl, mein Herr, daß Ihre Netze Ihnen vortreffliche Fische auf die Tafel liefern; minder begreiflich ist mir, daß Sie Ihr Wasserwild in Ihren unterseeischen Wäldern jagen; aber durchaus unbegreiflich, daß ein Stück Fleisch, so klein es sein mag, unter Ihren Gerichten sich findet.

– Ich habe auch, mein Herr, versetzte der Kapitän Nemo, niemals Fleisch von Landthieren auf dem Tisch.

– Dieses doch, erwiderte ich, und wies auf einen Teller, worauf noch einige Schnitt Filet waren.

– Was Sie für Fleisch halten, Herr Professor, ist nichts anders, als Meerschildkröte. Eben so ist dort Leber vom Delphin, welche Sie für Schweineragout nehmen würden. Mein Koch versteht sich vortrefflich darauf, diese verschiedenen Producte des Meeres zuzubereiten und aufzubewahren. Kosten Sie alle diese Speisen. Diese Conserve von Holothurien würde ein Malaie für das beste Gericht auf der Welt halten. Jene Sahne dort ist von der Milch von Seesäugethieren, und der Zucker kommt von dem großen Fucus des Nordmeers; endlich erlauben Sie mir von dem Anemonen-Confect anzubieten, welches dem schmackhaftesten Obst gleichkommt.«

Ich kostete, mehr aus Neugierde, während der Kapitän Nemo mich durch seine unwahrscheinlichen Berichte ergötzte.

»Aber dieses Meer, Herr Arronax, fuhr er fort, gewährt mir nicht nur die vortreffliche Nahrung, sondern auch Kleidung. Die Stoffe Ihrer Kleider sind aus den Fasern einiger Muscheln gewebt und mit antikem Purpur gefärbt. Das Parfüm auf der Toilette Ihrer Cabine ist aus Seepflanzen destillirt. So sind Ihr Bett, Ihre Feder und Tinte aus Bestandtheilen gemacht, welche das Meer liefert. So ist’s mit Allem, was ich jetzt bedarf.

– Sie sind ein Freund des Meeres, Kapitän.

– Ja wohl! Das Meer bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche, und der Seewind ist rein und gesund. In dieser unermeßlichen Einöde ist der Mensch doch nie allein; denn er fühlt das Leben um ihn herum; ein übernatürliches wundervolles Dasein rührt sich in demselben; es ist nur Bewegung und Liebe. Und wirklich, Herr Professor, finden wir die drei Naturreiche, Mineralien, Pflanzen und Thiere in demselben repräsentirt. Das letztere Reich am stärksten durch vier Gruppen von Pflanzenthieren, drei Classen Gliederthiere, fünf Classen Mollusken, drei Classen Wirbelthiere, Säugethiere, Reptilien und die unzählige Menge Fische. Diese Abtheilung des Thierreichs zählt dreizehntausend Gattungen, wovon nur der zehnte Theil den süßen Gewässern angehört. So ist das Meer eine ungeheure Wohnstätte der Natur. Es herrscht darin die äußerste Ruhe. Das Meer ist außerhalb der Macht der Tyrannen. Auf seiner Oberfläche können sie noch Ungerechtigkeit üben, sich bekämpfen, alle Schrecken verüben. Aber dreißig Fuß unterhalb hört ihre Gewalt auf. Ach! mein Herr, im Meeresschooß allein ist Unabhängigkeit! Da fühlt man sich frei!«

Mitten in diesem Schwung des Enthusiasmus verstummte der Kapitän plötzlich. Hatte er sich zu weit aus seiner gewohnten Rückhaltung herausreißen lassen? Er ging einige Augenblicke in großer Bewegung umher. Darauf, als er wieder ruhig geworden, wendete er sich zu mir mit den Worten:

»Jetzt, Herr Professor, wenn Sie den Nautilus besichtigen wollen, stehe ich zu Ihren Diensten.«