Kapitel 5

Kapitel 5

 

Kid hatte noch nicht die lächerliche Grundstücksgesellschaft Tra Li gegründet und weder das historische Geschäft in Eiern gemacht, das den Swiftewater-Bill beinahe an den Bettelstab brachte, noch das Hundewettrennen den Yukon hinab um einen Preis von einer runden Million gewonnen, als er und Kurz sich eines Tages am oberen Klondike voneinander verabschiedeten. Kurz sollte den Klondike hinabfahren, um in Dawson einige Mutungen auf Goldclaims anzumelden, die sie abgesteckt hatten. Kid fuhr mit seinem Hundegespann südwärts. Er wollte den Überraschungssee und die mystischen „Zwei Hütten“ finden. Er hatte die Absicht, an den Quellen des Indianerflusses vorbei, durch eine bisher unbekannte Gegend und über die Berge nach dem Stewart zu gehen. Das Gerücht erzählte, daß irgendwo dort herum in einem Rahmen von zackigen Bergen und Gletschern der Überraschungssee läge, dessen Grund, wie berichtet wurde, ganz mit Gold gepflastert war. Vor langer Zeit sollten Jäger – Männer, deren Namen in den Wäldern längst in Vergessenheit geraten waren – in die eisigen Gewässer des Sees hineingesprungen und mit Goldklumpen in den Händen wiederaufgetaucht sein. Zu verschiedenen Zeiten hatten kleine Scharen von den alten Pionieren den Versuch gemacht, die unwirtliche, undurchdringliche Gegend zu durchqueren und den goldenen Grund des Sees zu untersuchen. Allen war das Wasser jedoch gefährlich kalt erschienen. Einzelne hatten zwar den kühnen Versuch gemacht zu tauchen, sie waren aber im Wasser vom Tod ereilt und leblos an Land gezogen worden. Andere waren der Erschöpfung erlegen. Und einer, der ebenfalls getaucht war, kam überhaupt nie wieder zum Vorschein. Die Überlebenden hatten sich alle entschlossen, wieder zurückzukehren, um den See trockenzulegen, aber keinem von ihnen war es gelungen. Stets waren ihnen tödliche Unfälle zugestoßen. Ein Mann war in ein Luftloch unterhalb Forty Miles gefallen. Ein zweiter wurde von seinen Hunden getötet und gefressen. Ein dritter von einem stürzenden Baum erschlagen. Solche Gerüchte umwoben den Überraschungssee mit einem sagenhaften Schein von Zauber und Spuk. Keiner wußte jetzt genau, wo er überhaupt lag. Und das Gold blieb in seiner Tiefe liegen, da keiner sich getraute, ihn trockenzulegen.

 

Die Lage der ebenfalls von Legenden umworbenen „Zwei Hütten“ ließ sich leichter feststellen. Wenn man vom Stewart fünf Tage lang den MacQuestion hinaufreiste, kam man zu zwei alten Hütten. So alt waren sie, daß sie schon vor der Ankunft der ersten bekannten Goldjäger im Yukon-Land erbaut sein mußten. Umherstreifende Elchjäger, die auch Kid getroffen und gesprochen hatte, behaupteten, daß sie die beiden Hütten schon vor vielen Jahren gefunden, aber vergebens die Minen gesucht hätten, die diese Abenteurer einer vergangenen Zeit doch bearbeitet haben mußten.

 

»Mir wäre es am liebsten, wenn du mit mir gehen würdest«, klagte Kurz, als sie Abschied nahmen. »Weil sich dir der Indianerfluß aufs Gehirn geschlagen hat, brauchst du dich doch nicht gleich solchen Gefahren auszusetzen. Es steht nun mal fest, daß es eine verfluchte Gegend ist, wo du hinwillst. Es ist kein Zweifel, daß es da vom Morgen bis zum Abend spukt, jedenfalls nach allem, was wir beide gehört haben.«

 

»Schon gut, Kurz. Ich will nun mal die Fahrt machen, und in sechs Wochen bin ich wieder in Dawson. Die Fährte am Yukon ist getreten, und die ersten hundert Meilen etwa den Stewart hinauf wohl auch. Alte Leute vom Henderson haben mir erzählt, daß einige Trupps mit Ausrüstungen letzten Herbst hinaufgereist sind, nachdem der Fluß zugefroren war. Wenn ich ihre Spur treffe, werde ich ihnen mit einer Schnelligkeit von dreißig bis vierzig Meilen täglich folgen können. Ich denke, daß ich in einem Monat zurück sein kann, wenn ich erst mal so weit bin.«

 

»Ja, wenn du erst so weit bist, aber die Frage, ob du so weit kommst, ist es ja eben, die mir so viel Sorge macht. Nun, es hilft ja nichts! Also auf Wiedersehen, Kid! Halt deine Augen gut offen und nimm dich in acht vor diesem Spuk. Und schäme dich nicht umzukehren, auch wenn du nichts mitbringst.«

 

Eine Woche darauf befand sich Kid zwischen den unregelmäßigen Gebirgsketten südlich des Indianerflusses. Auf der Wasserscheide des Klondike ließ er den Schlitten zurück und belud die Wolfshunde mit dem Proviant. Jedes der sechs großen Tiere trug fünfzig Pfund, und er selbst hatte ein ähnliches Bündel auf dem Rücken. Dann nahm er seinen Weg durch den weichen Schnee, den er mit seinen Schneeschuhen festtrat, und in einer langen Reihe folgten ihm die Hunde mit ihren schweren Lasten.

 

Er liebte dieses einsame Leben, liebte den kalten arktischen Winter, die schweigsame Wildnis, die unendlichen Schneefelder, die keines Menschen Fuß je betreten hatte. Um ihn erhoben sich die eisbekleideten Bergesgipfel, die keine Namen trugen und auf keiner Karte verzeichnet waren. Nirgends sah er den Lagerrauch eines Jägers in der stillen Luft der Täler in den klaren Himmel steigen. Nur er allein bewegte sich durch die unendliche Stille, die über der weiten, sonst von keinem Menschenfuß betretenen Einöde brütete. Aber diese Einsamkeit bedrückte ihn nicht. Er liebte alles hier. Liebte die Arbeit des Tages, das Kläffen der Wolfshunde, das Lagern im langen Zwielicht, die zitternden Sterne am Himmel und die flammende Pracht des Nordlichts.

 

Besonders liebte er sein Lager, wenn der Tag zu Ende ging. Es bot ihm dann ein Bild, das er sich stets zu malen sehnte und von dem er wußte, daß er es nie in seinem Leben vergessen würde: die festgetretene Stelle im Schnee, wo das Feuer brannte, sein Schlafplatz, der aus einigen über frisch abgeschlagene Fichtenzweige ausgebreiteten Hasenfellen bestand, der von einer Persenning gebildete Windschutz, die in der Weise ausgespannt war, daß sie die Hitze des Feuers auffing und zurückwarf, die von Ruß geschwärzte Kaffeekanne und der an einer langen Stange befestigte Kochtopf, die Mokassins, die auf kleinen Stöcken aufgehängt wurden, um am Feuer zu trocknen, die Schneeschuhe, die aufrecht in den Schnee gesteckt waren. Und um das Feuer herum lagen die Wolfshunde, die sich so nahe wie möglich an die Wärme drängten, sehnsüchtig und eifrig, die zottigen Pelze vom Reif bedeckt, die buschigen Ruten um die Füße gelegt, um sie gegen die Kälte zu schützen. Und rings um das Ganze, nur um ein kleines Stück vom Lichtschein zurückgedrängt, die Mauer der Dunkelheit, die ihn umgab.

 

In solchen Augenblicken erschienen ihm San Franzisko, die Woge und O’Hara unendlich fern, in eine unbeschreiblich ferne Vergangenheit gebannt – nur Schatten von Träumen, die nie Wirklichkeit wurden. Es wurde ihm schwer zu glauben, daß er je ein anderes Leben als dieses wilde, freie geführt hatte, und noch schwerer fiel es ihm, sich mit der Tatsache auszusöhnen, daß er einst seine Zeit und Kraft in dem Bohèmeleben einer großen Stadt verschwendet hatte. Jetzt, da er allein war und niemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, dachte er über vieles nach, dachte tief und einfach. Er erschrak bei dem Gedanken an die Kräftevergeudung, die seine Jahre in der Stadt gekennzeichnet hatte, die billige Oberflächlichkeit aller philosophischen Schulen und Bücher, die zynische Gescheitheit der Ateliers und Redaktionen, die Heuchelei der Kaufleute in den Klubs. Sie alle wußten nicht, was Nahrung, Schlaf und Gesundheit in Wirklichkeit bedeuteten. Sie hatten keine Ahnung, was Hunger war, kannten nicht den gesunden Schmerz körperlicher Müdigkeit, nicht das Rauschen des starken, wilden Blutes, das wie Wein den Körper durchglüht, wenn die schwere Arbeit des Tages vollbracht ist.

 

Und als er noch in der Stadt lebte, lag dieses schöne weiße Land des herben Nordens immer schon da, ohne daß er etwas davon ahnte. Was ihm aber am rätselhaftesten erschien, war doch, daß er, der in so ungewöhnlichem Maße für dieses Leben befähigt war, damals nicht den leisesten Ruf gehört hatte, nicht von selbst fortgezogen war, um dieses Land aufzusuchen. Doch auch dieses Rätsel sollte er lösen, wenn die Zeit kam.

 

»Schau her, Gelbgesicht, jetzt hab‘ ich es!«

 

Der Hund, den er angerufen hatte, hob zuerst die eine, dann die andere Vorderpfote mit einer raschen und doch beherrschten Bewegung, rollte dann wieder seine buschige Rute über die Beine zusammen und grinste ihn über das Feuer an.

 

»Herbert Spencer war fast vierzig Jahre alt, bevor er erkannte, was seine größte Fähigkeit und seine tiefste Sehnsucht war. Ich bin nicht so langsam gewesen. Ich brauchte nicht zu warten, bis ich dreißig wurde, um soweit zu kommen. Denn hier liegt das Gebiet, wo ich mein Höchstes leisten kann und wo meine tiefste Sehnsucht gestillt wird. Und fast wünsche ich, liebes Gelbgesicht, daß ich als ein Wolfsjunges geboren und all meine Tage ein Bruder von dir und den Deinen gewesen wäre.«

 

Tag für Tag wanderte er durch ein Chaos von Cañons und Wasserscheiden, die kein klares topographisches Bild boten. Es sah aus, als hätte ein weltenschaffender Spaßmacher sie hier in übermütiger Laune hingeschleudert. Vergebens suchte er einen Bach oder Nebenfluß, der südwärts nach dem MacQuestion oder dem Stewart führte. Dann kam ein Gebirgssturm, der den Schnee durch diese wirre Anhäufung von hohen und niedrigen Wasserscheiden stieben ließ. Oberhalb der Baumgrenze kämpfte er zwei Tage, ohne Feuer und ohne sehen zu können, in vergeblichem Suchen nach tieferen Regionen. Am zweiten Tage gelangte er an den Rand eines mächtigen schroffen Abhangs.

 

Das Schneegestöber war indessen so dicht, daß er nicht sehen konnte, wie tief der Hang abfiel, und deshalb wagte er nicht hinabzuklettern. Er wickelte sich in seine Pelzdecke und sammelte die Hunde mitten in einer großen Schneewehe dicht um sich, gönnte sich aber keinen Schlaf.

 

Gegen Morgen flaute der Sturm ab, und er kroch aus den Decken, um sich zu orientieren. Eine Viertelmeile weiter abwärts lag unzweifelhaft ein eis- und schneebedeckter See, der von zackigen Bergen umgeben war. Ohne es zu wissen, hatte er den Überraschungssee gefunden.

 

»Der Name ist wirklich sehr zutreffend«, sagte er, als er eine Stunde später am Rande des Sees stand. Eine Gruppe alter Fichten bildete den einzigen Pflanzenwuchs. Auf dem Wege dorthin stolperte er über drei Gräber. Sie waren vom Schnee bedeckt, aber durch Pfähle kenntlich, die jemand mit der Hand zugehauen und mit unleserlichen Inschriften versehen hatte. Am Rande des kleinen Haines lag eine winzige verfallene Hütte. Er öffnete die Tür und trat ein. In einer Ecke lag etwas, das einst eine Schlafstelle aus Fichtenzweigen gewesen, ein Skelett… es war noch in Pelzwerk eingehüllt, von dem nur halbvermoderte Reste übrig waren. – Das ist offenbar der letzte Besucher des Überraschungssees gewesen, dachte Kid, als er einen Goldklumpen vom Boden aufhob, der doppelt so groß wie seine geballte Faust war. Neben dem Goldklumpen stand eine Blechbüchse, die mit rohen Goldklumpen von Walnußgröße gefüllt war – es war leicht zu sehen, daß sie noch nicht ausgewaschen waren.

 

Jetzt erschien ihm alles wahr, was er gehört hatte, und er hegte keinen Zweifel, daß das Gold aus der Tiefe des Sees stammte. Da die Eisdecke so dick war, daß das Wasser nicht ohne besondere Vorkehrungen zu erreichen war, konnte er nichts weiter tun. Gegen Mittag warf er deshalb vom Rande des Abhangs einen letzten Blick auf den geheimnisvollen See, den er gefunden hatte.

 

»Alles sehr schön, mein lieber See«, sagte er. »Du hast ganz recht, wenn du dich hier verbirgst. Aber ich werde wiederkommen und dich trockenlegen – wenn die Gespenster mich nicht erwischen! Ich weiß freilich nicht, wie ich mich hierhergefunden habe, aber meine Fährte wird mir schon zeigen, wie ich dich wiederfinden soll.«

 

Als er vier Tage später ein kleines Tal erreicht hatte, machte er neben dem eisbedeckten Fluß und im Schutz einiger wohlmeinender Fichten Feuer. Irgendwo in der weißen Einöde, die er hinter sich gelassen, lag also der Überraschungssee – irgendwo, aber wo, das wußte er nicht mehr. Mehr als hundert Stunden hatte er sich herumgetrieben und sich durch dichtes Schneegestöber hindurchgekämpft, und nun konnte er seine Fährte nicht wiederfinden. Er hatte deshalb keine Ahnung, in welcher Richtung der See hinter ihm lag. Er konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob Tage oder Wochen vergangen waren. Er hatte mit den Hunden zusammen geschlafen, sich über eine schon vergessene Zahl von kleineren Wasserscheiden gekämpft, war durch unheimliche, gewundene Cañons gezogen, die blind endeten, und hatte zweimal vergebens versucht, ein Feuer zu machen und gefrorenes Elchfleisch aufzutauen. Und jetzt war er also hier, hatte gut gegessen und sich ein angenehmes Lager bereitet. Der Sturm war vorbei. Es war klar und kalt geworden. Die Landschaft hatte wieder ihr normales Gepräge angenommen. Der Bach, an dem er lagerte, sah natürlich aus und lief auch, wie er sollte, nach Süden. Der Überraschungssee war ihm aber ebenso verlorengegangen wie allen andern, die er in vergangenen Tagen gesucht hatte. Als er den Bach einen halben Tag weiter hinabgezogen war, gelangte er in das Tal eines größeren Flusses, der seiner Ansicht nach der MacQuestion sein mußte. Hier erlegte er einen Elch, und jetzt mußten die Wolfshunde wieder Packen mit Lebensmitteln im Gewicht von je fünfzig Pfund tragen. Als er den MacQuestion hinabzog, fand er eine Schlittenfährte. Das letzte Schneegestöber hatte sie verdeckt, aber darunter war sie von denen, die hier gegangen waren, festgetreten. Er zog daraus den Schluß, daß zwei Lager hier am Fluß zu finden sein mußten und daß diese Schlittenspur den Verbindungsweg zwischen ihnen darstellte. Es war klar, daß jemand die „Zwei Hütten“ gefunden hatte, und zwar waren es Leute vom unteren Lager. Er ging deshalb weiter in der Richtung des Flusses. Als er in dieser Nacht lagerte, waren es vierzig Grad Fahrenheit unter Null. Bevor er einschlief, überlegte er sich, was es wohl für Männer sein könnten, die die „Zwei Hütten“ wiederentdeckt hatten, und ob er sie am nächsten Tage ausfindig machen würde. Beim ersten Tagesgrauen war er deshalb wieder auf den Beinen, und ohne Schwierigkeit folgte er der halb verwischten Fährte. Mit den großen Schneeschuhen trat er den losen Schnee fest, so daß die Hunde nicht nötig hatten, hindurchzuwaten.

 

Und dann stürzte sich – an einer Biegung des Flusses – das Unerwartete auf ihn. Ihm schien, als ob er es gleichzeitig hörte und empfand. Der Knall des Stutzens kam von rechts, und die Kugel, die die Schulter seines Drillichüberzuges und seine wollene Jacke durchschlug, versetzte ihm einen so kräftigen Stoß, daß er sich um seine Achse drehte. Er schwankte, da seine Schneeschuhe sich ineinander verwirrt hatten, fand aber das Gleichgewicht wieder. Da hörte er einen zweiten Knall. Diesmal ging die Kugel indessen vorbei. Er wartete keinen weiteren Schuß ab, sondern lief, so schnell er konnte, durch den Schnee den schirmenden Bäumen zu, die hundert Fuß entfernt am Hange standen. Immer und immer wieder knallte die Büchse, und mit Unbehagen stellte er fest, daß ihm etwas Warmes und Feuchtes über den Rücken lief.

 

Er kletterte den Hang hinauf – die Hunde aufgeregt hinter ihm her – und schlüpfte zwischen Bäume und Büsche. Dann band er die Schneeschuhe los, warf sich der Länge nach hin und spähte vorsichtig hinaus. Es war nichts zu sehen. Wer es auch gewesen sein mochte, der ihn angeschossen hatte, jedenfalls lag der Betreffende in Deckung hinter den Bäumen am anderen Ufer.

 

»Wenn nicht bald irgend etwas geschieht, muß ich mich fortschleichen oder ein Feuer machen, sonst erfrieren mir die Füße«, murmelte er vor sich hin, als eine halbe Stunde vergangen war. »Gelbgesicht, was würdest du tun, wenn du hier in der Kälte lägest und merktest, daß der Blutumlauf immer schwächer würde, während ein Mann versuchte, dich niederzuknallen?«

 

Er kroch einige Meter zurück, trat den Schnee fest und führte einen Indianertanz auf, bis er merkte, daß das Blut in seine Füße zurückkehrte, und auf diese Weise hielt er es noch eine halbe Stunde aus. Da hörte er unten vom Fluß das unverkennbare Schellengeläut eines Hundegespannes. Als er hinaus spähte, sah er einen Schlitten um die Flußbiegung schwenken. Nur ein Mann stand darin, der die Steuerstange führte und gleichzeitig die Hunde antrieb. Das plötzliche Erscheinen eines Menschen machte einen tiefen Eindruck auf Kid, der so lange niemanden gesehen hatte. Sein nächster Gedanke galt aber dem vermutlichen Mörder, der sich irgendwo auf dem andern Ufer versteckt hielt.

 

Ohne sich selbst auszusetzen, stieß er einen warnenden Pfiff aus. Der Mann hörte nichts und kam mit rasender Schnelligkeit näher. Wieder pfiff Kid, und diesmal lauter. Der Mann rief seinen Hunden etwas zu und machte halt. Er drehte sich nach der Richtung, wo Kid stand, aber im selben Augenblick knallte ein Schuß. Fast in derselben Sekunde schoß Kid in den Wald hinein, woher der Knall kam. Der Mann am Fluß war indessen schon vom ersten Schuß getroffen worden. Der Schlag der Kugel hatte ihn ins Wanken gebracht. Er taumelte mühselig zum Schlitten. Obgleich nahe am Zusammenbrechen, gelang es ihm, ein Gewehr aus dem Schlitten zu nehmen, wo es unter der Last verborgen lag. Als er sich aber bemühte, es an die Schulter zu bringen, vermochte er sich nicht mehr lange aufrecht zu halten und setzte sich langsam auf den Schlitten. Er konnte nicht mehr genau zielen, und der Schuß ging deshalb in die Luft. Plötzlich fiel er rücklings über das Gepäck am Schlitten nieder, so daß Kid nur die Beine und den Unterkörper sah. Von unten her hörte Kid jetzt das Geläut von mehreren Hundeschellen. Der Mann rührte sich indessen nicht. Drei Schlitten schwenkten um die Biegung des Flusses, von einem halben Dutzend Männern gefolgt. Kid rief ihnen eine Warnung zu, aber sie hatten schon gemerkt, was mit dem ersten Schlitten geschehen war, und eilten deshalb zu ihm hin. Es fiel kein Schuß mehr vom andern Ufer, und Kid befahl deshalb seinen Hunden, ihm zu folgen, und trat aus dem Versteck hervor.

 

Er hörte laute Rufe von den Männern, und zwei von ihnen rissen sich die Fäustlinge von den Händen und warfen ihre Gewehre an die Schulter.

 

»Komm nur her, du blutbefleckter Mörder!« rief einer von ihnen, ein Mann mit einem schwarzen Bart. »Schmeiß deinen Schießprügel in den Schnee.«

 

Kid zögerte einen Augenblick, dann warf er sein Gewehr fort und ging zu ihnen hin.

 

»Untersuch ihn mal, Louis und nimm ihm die Waffen weg!« befahl der Schwarzbärtige.

 

Louis, nach Kids Auffassung ein französisch-kanadischer Schlittenfahrer, gehorchte.

 

Seine Untersuchung brachte lediglich Kids Jagdmesser zum Vorschein, das der Schwarzbärtige zu sich steckte.

 

»Na, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Fremder, bevor ich dich totschieße?« fragte er.

 

»Daß du dich irrst, wenn du glaubst, daß ich den Mann getötet habe«, antwortete Kid.

 

Einer der Schlittenfahrer stieß plötzlich einen lauten Ruf aus. Er war die Fährte entlanggegangen und hatte Kids Fußspuren gefunden, wo dieser die Fährte verlassen hatte, um auf dem Hang Deckung zu suchen.

 

»Warum hast du Joe Kinade getötet?« fragte der Schwarzbärtige.

 

»Ich sage dir ja, daß ich es nicht getan habe«, begann Kid.

 

»Was soll dieses Gerede? Wir haben dich auf frischer Tat ertappt. Da drüben ist die Stelle, wo du die Fährte verließest, als du ihn kommen hörtest. Du lagst oben im Busch und hast ihn ermordet, dein Schuß fiel aus ganz kurzer Entfernung. Du konntest überhaupt nicht vorbeischießen, hol mal den Schießprügel her, den er fortgeworfen hat.«

 

»Laßt mich doch erzählen, wie es zuging«, wandte Kid ein.

 

»Halt das Maul!« schnauzte ihn der Mann an. »Ich denke, dein Gewehr wird die Geschichte schon verraten.«

 

Sie untersuchten Kids Gewehr, nahmen die Patronen heraus und zählten sie. Dann untersuchten sie die Mündung und den Verschluß.

 

»Nur ein Schuß«, entschied der Schwarzbärtige.

 

Pierre roch an dem Verschluß, während seine Nasenflügel wie bei einem Hirsch zitterten und sich blähten.

 

»Erst ganz vor kurzem geschossen«, erklärte er.

 

»Die Kugel ging am Rücken hinein«, sagte Kid. »Er wandte mir das Gesicht zu, als er erschossen wurde. Ihr seht also, daß der Schuß vom andern Ufer gekommen ist.«

 

Der Schwarzbart überdachte einen Augenblick diesen Einwand. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Unsinn, damit kommst du nicht durch. Dreh ihn mal mit dem Gesicht gegen das andere Ufer. Siehst du, so hat er gestanden, als du ihn erschossen hast. Einige von euch könnten ja die Fährte untersuchen, ob ihr einige Spuren nach dem andern Ufer finden könnt.«

 

Sie berichteten gleich darauf, daß der Schnee auf dieser Seite noch völlig unbetreten war. Nicht einmal ein Polarhase hatte sie durchquert. Der Schwarzbärtige beugte sich über den Toten, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen kleinen rauhen wollenen Lappen in der Hand. Er untersuchte ihn und fand darin versteckt die Kugel, die durch den Körper gegangen war. Ihre Spitze war flachgedrückt und hatte die Größe eines Halbdollarstückes. Das stumpfe Ende, das in einer stählernen Hülse steckte, war unbeschädigt. Er verglich sie mit einer Patrone aus Kids Gürtel.

 

»Der Beweis hier genügt, um selbst einen Blinden zu überzeugen, Fremder. Die Kugel hat eine weiche Spitze und eine stählerne Hülse – und deine Kugeln sind von derselben Art. Die Kugel hier ist dreißig, dreißig – deine auch. Die hier stammt von der J.-u.-T.-Waffenfabrik – genau wie deine. Aber jetzt kommst du mit, dann werden wir den Hang hinaufklettern und an Ort und Stelle sehen, wie es vor sich ging.«

 

»Ich wurde ja selbst aus dem Hinterhalt getroffen«, sagte Kid. »Hier können Sie das Loch in meiner Parka sehen.«

 

Während der Schwarzbärtige es untersuchte, öffnete einer der Schlittenfahrer das Gewehr des Toten. Allen war klar, daß er nur den Schuß abgegeben hatte. Die leere Patronenhülse steckte noch in der Kammer.

 

»Ein Jammer, daß der arme Joe dir nicht den Garaus gemacht hat«, erklärte der Schwarzbärtige bitter. »Aber es war immerhin ein ganz feiner Schuß, wenn man das Loch in Betracht zieht, das er selbst bekommen hatte. Also komm mit, du…«

 

»Untersucht doch erst das andere Ufer«, schlug Kid vor.

 

»Jetzt hältst du deine Schnauze und kommst mit. Dann mögen die Tatsachen selbst reden.«

 

Sie verließen die Fährte an der Stelle, wo Kid sie verlassen hatte, und folgten seinen Spuren den Hang hinauf und unter die Bäume.

 

»Hier er tanzen, um Füße warm halten«, zeigte Louis. »Hier er auf Bauche kriechen. Hier Ellbogen stützen beim Schießen.«

 

»Und, bei Gott im Himmel, da liegt sogar die leere Hülse, die er gebraucht hat«, stellte der Schwarzbärtige fest. »Jungens, hier ist nur eins zu tun.«

 

»Erst müßt ihr mich doch fragen, warum ich geschossen habe«, unterbrach ihn Kid.

 

»Und ich haue dir eins in die Visage, daß dir die Zähne zum Hintern hinausfliegen, wenn du die Fresse nicht hältst. Du hast nur die Fragen zu beantworten, die wir stellen. Also, Jungens, wir sind anständige Leute und gehorchen dem Gesetz, und wir werden diese Sache korrekt behandeln. Wie weit, denkst du, sind wir heute gefahren, Pierre?«

 

»Zwanzig Meilen, denke ich.«

 

»Gut, dann errichten wir hier ein Depot von den Ausrüstungen, die wir mitgebracht haben, und schaffen den Kerl da und den armen Joe nach den „Zwei Hütten“ zurück. Ich glaube, wir haben genug gesehen, um zu beweisen, daß er aufgehängt zu werden verdient.«

 

Drei Stunden nach Eintritt der Dunkelheit erreichten der Tote, Kid und seine Wächter die „Zwei Hütten“. Bei dem unsicheren Schein der Sterne konnte Kid ein Dutzend neugebauter Hütten erkennen, die sich um eine größere, ältere Hütte auf einer Ebene am Flußufer scharten. Er wurde in die alte Hütte geworfen und sah, daß sie von einem riesigen jungen Mann, dessen Frau und einem blinden Greis bewohnt war. Die Frau, die der Mann Luzy nannte, war selbst groß und stark; war von dem üblichen Typ, den man in den Grenzbezirken trifft. Der Alte war – wie Kid später erfuhr – in seinen jungen Jahren Trapper am Stewart gewesen und erst im vergangenen Winter völlig erblindet. Er erfuhr ferner, daß das Lager bei den „Zwei Hütten“ von einem halben Dutzend Männern errichtet worden war, die letzten Herbst in ebenso vielen, mit Proviant belasteten Wrickbooten angekommen waren. Sie hatten den blinden Trapper hier vorgefunden und ihre Hütten um die seine herumgebaut. Später Eingetroffene, die mit Hundegespannen über das Eis gezogen waren, hatten die Bevölkerung verdreifacht. Es gab große Vorräte von Fleisch im Lager, und sie hatten Kies gefunden, den sie jetzt auswuschen, wenn er auch freilich nicht viel Gold enthielt.

 

Im Laufe von fünf Minuten hatten sich sämtliche Männer der „Zwei Hütten“ im Raum versammelt. Kid, der an Händen und Füßen mit Riemen aus Elchhaut gebunden war, lag in einer Ecke, wo ihn keiner beachtete, und sah zu. Er zählte im ganzen achtunddreißig Mann, eine wilde, ungehobelte Bande, Leute von der Grenze der Staaten oder Schlittenfahrer aus dem oberen Kanada. Die Leute, die ihn gefangengenommen hatten, gaben immer wieder die Geschichte zum besten, und jeder von ihnen bildete dabei den Mittelpunkt einer aufgeregten, empörten Gruppe.

 

Man hörte murmeln, daß man ihn einfach lynchen sollte… warum, zum Teufel, warten? Und einmal wurde ein großer aufgeregter Irländer nur mit Gewalt daran gehindert, sich auf den wehrlosen Gefangenen zu stürzen, um ihn zu prügeln.

 

Während Kid die Leute zählte, bemerkte er plötzlich ein ihm bekanntes Gesicht. Es war Breck, der Mann, dessen Boot Kid durch die Wasserfälle geführt hatte. Er wunderte sich, daß Breck nicht zu ihm kam und ihn ansprach, ließ sich selbst aber nichts anmerken, daß er ihn erkannt hatte. Als Breck sich dann später umdrehte und ihm heimlich ein Zeichen gab, verstand Kid sein Benehmen.

 

Der Schwarzbärtige, den die anderen Eli Harding nannten, beendete den Streit, ob man Kid sofort lynchen sollte oder nicht.

 

»Hört jetzt auf mit dem Unsinn!« brüllte Harding. »Macht keinen Quatsch! Der Mann gehört mir. Ich habe ihn gefangen und hierhergebracht. Glaubt ihr denn, daß ich ihn den langen Weg nur geschleppt habe, um ihn lynchen zu lassen? Keine Rede davon. Das hätten wir ja auch dort machen können. Ich habe ihn mitgebracht, damit wir ein unparteiisches Urteil fällen, und – bei Gott im Himmel – er soll es auch haben. Er ist gut gebunden, so daß er sich nicht dünnemachen kann. Schmeißt ihn bis morgen früh auf ein Bett, dann werden wir Gericht über ihn halten, wie es sich gehört.«

 

Kid wachte auf, wie er mit gegen die Wand gekehrtem Gesicht auf seinem Bett lag. Ein eisiger Zugwind bohrte sich scharf wie ein Messer von vorn in seine Schulter. Als er hier angebunden wurde, hatte er den Zug nicht gespürt. Da die Luft aber jetzt von draußen mit einem Druck von dreißig Grad Fahrenheit unter Null in die heiße Atmosphäre der Hütte wehte, wurde ihm klar, daß irgend jemand von außen das Moos zwischen den Brettern der Wand ausgezupft hatte. Er schob sich so nahe, wie seine Fesseln es ihm erlaubten, heran und reckte dann den Hals so weit, daß seine Lippen genau die Stelle erreichten, wo der Riß sein mußte. »Wer ist da?« flüsterte er.

 

»Breck«, lautete die Antwort. »Passen Sie auf, daß man Sie nicht hört. Ich werde Ihnen ein Messer hineinstecken.«

 

»Hilft mir nichts«, sagte Kid. »Ich könnte es doch nicht gebrauchen. Die Hände sind mir auf dem Rücken gefesselt und dazu noch an das Bettgestell festgebunden. Außerdem könnten Sie das Messer gar nicht durch das Loch schieben. Aber es muß etwas geschehen. Die Kerle hier haben zweifellos die Absicht, mich aufzuhängen, und ich habe den Mann, wie Sie sich denken können, gar nicht getötet.«

 

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Kid. Und wenn Sie es getan hätten, würden Sie Ihre Gründe gehabt haben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Sie sind eine verfluchte Rasselbande, die Bengels hier! Sie haben sie ja selbst gesehen. Sie sind ganz von der übrigen Welt abgeschnitten und schustern sich ihre eigenen Gesetze zurecht – nach Art von Goldgräbern, verstehen Sie. Sie haben neulich zwei Männer erwischt, Proviantdiebe. Den einen jagten sie zum Lager hinaus, ohne ihm eine Unze Lebensmittel oder nur ein einziges Streichholz mitzugeben. Er kam ungefähr vierzig Meilen weit, dann lebte er noch ein paar Tage, ehe er erfror. Vor zwei Wochen haben sie den zweiten Mann hinausgeworfen. Sie ließen ihm die Wahl: keine Lebensmittel oder zehn Peitschenhiebe für jede Tagesration. Er hielt vierzig Hiebe aus, ehe er ohnmächtig wurde. Und jetzt haben diese Leute Sie gefangen, und alle ohne Ausnahme sind überzeugt, daß Sie Kinade ermordet haben.«

 

»Der Mann, der Kinade tötete, hat auch auf mich geschossen. Seine Kugel machte mir eine Fleischwunde an der einen Schulter.

 

Sorgen Sie nur dafür, daß das Gericht verschoben wird, bis einer dort oben gewesen ist und das Ufer, wo der Mörder sich versteckt hatte, untersucht hat.«

 

»Hilft nichts. Sie stützen sich auf die Aussage Hardings und der fünf Franzosen, die mit ihm waren. Außerdem haben sie noch keinen aufgehängt, und den Spaß möchten sie doch auch erleben. Sie sehen also, daß die Geschichte verdammt dreckig steht. Sie haben keine ordentlichen Goldfunde gemacht und haben es schon satt, nach dem Überraschungssee zu suchen. Die erste Hälfte des Winters gingen sie noch auf die Goldsuche; aber jetzt haben sie schon Schluß damit gemacht. Der Skorbut meldet sich auch schon bei ihnen. Sie brauchen also irgendeine Sensation, um sich aufzupulvern.«

 

»Und da soll ich ihnen das Vergnügen machen«, fügte Kid hinzu. »Sagen Sie mal, Breck, wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, mit so einer gottverlassenen Bande Gold zu suchen?«

 

»Als ich meine Claims am Squawbach richtig in Schuß gebracht und einige Leute dort zum Arbeiten eingestellt hatte, kam ich, auf der Suche nach den „Zwei Hütten“, den Stewart hinauf. Die Leute waren mir indessen zuvorgekommen, und deshalb ging ich den Fluß weiter hinauf. Gestern kam ich zurück, weil ich keinen Proviant mehr hatte.«

 

»Haben Sie etwas gefunden?«

 

»Nicht viel. Aber ich denke, daß ich die Geschichte mit einer hydraulischen Einrichtung machen kann, die ich aufbauen werde, wenn das Land erst zugänglich gemacht ist. Oder ich werde einen. Goldkratzer aufstellen.«

 

»Hören Sie«, unterbrach ihn Kid. »Warten Sie noch einen Augenblick. Ich muß nur etwas überlegen.«

 

Er lauschte sorgfältig auf das Schnarchen der schlafenden Männer, während er den Gedanken erwog, der ihm durch den Kopf geschossen war.

 

»Sagen Sie mal, Breck, haben die Leute hier schon meine Bündel mit Lebensmitteln geöffnet, die die Hunde trugen?«

 

»Nur ein paar davon. Ich war die ganze Zeit dabei. Sie haben sie in Hardings Depot gelegt.«

 

»Haben Sie etwas gefunden?«

 

»Ja, Fleisch!«

 

»Gut. Sie müssen sehen, daß Sie den braunen Leinensack finden, der mit Elchfell geflickt ist. Da werden Sie einige Pfunde Rohgold finden. Sie haben hierzulande noch nie solches Gold gesehen – und auch kein anderer. Und nun hören Sie, was Sie weiter zu tun haben.«

 

Eine Viertelstunde später entfernte sich Breck, nachdem er genau instruiert worden war. Er klagte auch schon, daß seine Füße zu erfrieren begännen. Kids Nase und eine Wange begannen auch zu erfrieren, weil er sie so nahe an die Ritze gehalten hatte; er mußte sie eine halbe Stunde gegen die Decke reiben, bevor das Gefühl, daß das Blut zurückkehrte, ihm die Sicherheit gab, daß seine Haut wieder einmal gerettet war.

 

 

 

»Natürlich bin ich ganz sicher, daß es so ist. Es ist gar kein Zweifel, daß er Kinade getötet hat. Wir haben ja die ganze Geschichte gestern abend gehört! Wozu alles jetzt wiederholen? Ich stimme für schuldig!«

 

So begann die Gerichtsverhandlung gegen Kid. Der gesprochen hatte, war ein schlottriger, harter Mann aus Colorado. Er war offenbar ärgerlich und unwillig, als Harding seinen Vorschlag ablehnte, weil er seinerseits wünschte, daß die Verhandlung in ordentlicher und anständiger Weise vor sich gehen sollte. Harding ernannte darauf einen von ihnen, Shunk Wilson, zum Richter und Leiter der Verhandlung.

 

Die übrige Bevölkerung der „Zwei Hütten“ bildete die Geschworenen. Jedoch wurde, nachdem man über die Sache hin und her geredet hatte, entschieden, daß die Frau, Luzy, nicht berechtigt sein sollte, in der Frage über Kids Schuld oder Unschuld zu stimmen.

 

Während dies vor sich ging, hörte Kid, der auf seinem Lager in der einen Ecke lag, einer Unterredung zu, die Breck flüsternd mit einem Goldgräber führte.

 

»Können Sie mir nicht fünfzig Pfund Mehl verkaufen?«

 

»Sie haben nicht Gold genug, um den Preis zu zahlen, den ich von Ihnen verlange«, lautete die Antwort.

 

»Ich zahle zweihundert.«

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Dreihundert… dreihundertfünfzig…«

 

Als sie bei vierhundert angelangt waren, nickte der Mann und sagte: »Kommen Sie mit in meine Hütte! Dort können Sie den Goldstaub abwiegen.«

 

Die beiden schlichen sich zur Tür und glitten leise hinaus. Einige Minuten darauf kam Breck allein wieder.

 

Harding wollte gerade seine Aussage machen, als Kid sah, daß die Tür sich vorzeitig öffnete und in der schmalen Spalte das Gesicht des Mannes erschien, der das Mehl an Breck verkauft hatte. Er schnitt Gesichter und gab einem im Raum, der nahe am Ofen saß, allerlei merkwürdige Zeichen. Dann stand dieser auf und schob sich zur Tür hin.

 

»Wo gehst du hin, Sam?« fragte Shunk Wilson.

 

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte Sam. »Ich muß nur für einen Augenblick hinaus.«

 

Kid bekam Erlaubnis, die Zeugen auszufragen, und er befand sich gerade mitten in einem Kreuzverhör Hardings, als man von draußen das Heulen von Schlittenhunden und das Knirschen von Kufen hörte. Einer, der an der Tür saß, sah hinaus.

 

»Es sind Sam und sein Partner, die mit ihrem Hundegespann nach dem Stewart fahren, was das Zeug nur halten kann«, berichtete der Mann.

 

Eine halbe Minute lang sprach keiner, aber die Männer sahen sich verständnisinnig an. Sie begannen alle nervös und unruhig zu werden. Kid benutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf Breck zu werfen, der sich flüsternd mit Luzy und ihrem Mann unterhielt.

 

»Mach weiter, du«, sagte Shunk Wilson kurz zu Kid. »Und so schnell wie möglich. Wir wissen schon, was du beweisen willst: daß das andere Ufer nicht untersucht wurde. Der Zeuge gibt das auch zu, und wir auch. Aber es war auch nicht nötig. Es führten keine Fußspuren zu dem Hang dort. Der Schnee war ganz unberührt.«

 

»Und es war doch ein Mann auf der andern Seite«, behauptete Kid unerschütterlich.

 

»An dem Strohhalm kannst du nicht lange hängenbleiben, junger Freund. Wir sind nicht so viele hier am MacQuestion, und wir wissen Bescheid, wo jeder von uns sich aufhält.«

 

»Wer war denn der Mann, den ihr vor zwei Wochen aus dem Lager gejagt habt?« fragte Kid.

 

»Alonzo Miramar. Ein Mexikaner. Aber was hat der verfluchte Dieb damit zu tun?«

 

»Nichts, außer daß Sie ihn nicht in Betracht gezogen haben, Herr Richter.«

 

»Er ging den Fluß hinab, nicht hinauf…«

 

»Wie könnt ihr wissen, wo er hinging?«

 

»Ich sah ihn verschwinden.«

 

»Und das ist alles, was ihr von ihm wißt?«

 

»Nein, das ist es nicht, junger Mann. Ich weiß, wir alle wissen, daß er nur für vier Tage Nahrungsmittel und kein Gewehr hatte, um sich Fleisch zu verschaffen. Wenn er nicht die Kolonie am Yukon erreicht hat, muß er längst vorher verreckt sein.«

 

»Ich vermute, daß Sie alle Gewehre, die es in dieser Gegend gibt, kennen«, erklärte Kid mit Nachdruck.

 

Jetzt wurde Shunk Wilson ärgerlich.

 

»Nach deinen Fragen zu urteilen, scheinst du dir einzubilden, daß ich der Gefangene bin und nicht du. Laßt jetzt den nächsten Zeugen hervortreten. Wo ist Franzosen-Louis?«

 

Während Franzosen-Louis nach vorne ging, öffnete Luzy die Tür.

 

»Wohin gehst du?« rief Shunk Wilson ihr zu.

 

»Ich brauche hier wohl nicht sitzen zu bleiben«, antwortete sie höhnisch. »Am allerwenigsten, wenn ich doch kein Stimmrecht habe.«

 

Einige Minuten später ging ihr Mann ihr nach. Der Richter bemerkte es erst, als er die Tür hinter sich zuwarf. »Wer war denn das?« unterbrach er Pierre, der mitten in seiner Aussage war.

 

»Bill Peabody«, antwortete einer. »Er sagte, er wollte seine Frau was fragen und dann gleich wiederkommen.«

 

Aber statt Bills kam Luzy wieder herein. Sie zog ihren Pelz aus und setzte sich wieder wie vorher an den Ofen.

 

»Ich glaube nicht, daß wir noch nötig haben, die übrigen Zeugen zu vernehmen«, sagte Shunk Wilson, als Pierre seine Aussage beendet hatte. »Wir wissen ja, daß sie nur die Tatsachen bestätigen können, die wir bereits gehört haben. Du, Sörensen, geh mal und hol den Peabody wieder herein! Wir werden jetzt abstimmen, ob der Kerl schuldig ist oder nicht. Und dann kannst du, Fremder, ja inzwischen aufstehen und erzählen, wie es deiner Meinung nach zugegangen ist. Um keine Zeit zu verlieren, werden wir dann die beiden Gewehre, die Munition und die zwei Kugeln, mit denen geschossen wurde, herumgehen lassen.«

 

Mitten in seiner Darstellung, wie er nach diesem Teile des Landes gekommen sei, und als er eben beschreiben wollte, wie er plötzlich angeschossen wurde und den Hang hinauffloh, wurde Kid von dem entrüsteten Shunk Wilson unterbrochen.

 

»Junger Mann, was, zum Teufel, erzählst du uns da für Räubergeschichten? Wir verschwenden damit ja bloß die kostbare Zeit. Natürlich hast du das Recht, uns etwas vorzuschwindeln, um deinen Hals zu retten, aber wir haben keine Lust, uns solchen Quatsch vorbeten zu lassen. Das Gewehr, die Munition und die Kugeln, die Joe Kinade getötet haben – alles spricht gegen dich. Na, was ist denn nu wieder los? Mach mal einer die Tür auf!«

 

Die eisige Luft wehte herein und verdichtete sich in dem heißen Raum. Und durch die offene Tür hörte man gleichzeitig das Heulen von Hundegespannen, das immer schwächer wurde, je weiter sie sich entfernten.

 

»Es sind Sörensen und Peabody«, rief einer. »Sie hauen mit den Peitschen auf die Hunde los und fahren den Fluß hinab.«

 

»Da soll doch der leibhaftige Satan…« Shunk Wilson schwieg mit offenem Munde und starrte Luzy an.

 

»Vielleicht können Sie uns eine Erklärung geben, Frau Peabody?«

 

Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen. Shunks zorniger und mißtrauischer Blick schweifte weiter und blieb auf Breck haften.

 

»Und ich denke mir, daß der Fremde da, mit dem Sie so lange geflüstert haben, die Sache erklären könnte, wenn er Lust hätte.«

 

Breck merkte mit Unbehagen, daß alle Blicke sich auf ihn richteten.

 

»Sam hat auch lange mit ihm gequatscht, ehe er vorhin abhaute«, sagte einer.

 

»Sehen Sie mal, Herr Breck«, fuhr Shunk Wilson fort. »Sie haben die Verhandlung hier unterbrochen, und Sie müssen uns erklären, warum Sie das getan haben. Was haben Sie da vorhin geflüstert?«

 

Breck räusperte sich ängstlich und antwortete: »Ich wollte etwas Proviant von ihm kaufen.«

 

»Und womit wollten Sie bezahlen?«

 

»Mit Goldstaub natürlich.«

 

»Wo haben Sie den denn her?«

 

Breck antwortete nicht.

 

»Er ist immer um den Stewart herumgeschlichen und hat geschnüffelt«, gab einer ungefragt zum besten. »Ich stieß vor einer Woche, als ich auf der Jagd war, auf sein Lager. Und ich kann euch sagen, daß er verdammt geheimnisvoll tat.«

 

»Der Staub stammt ja gar nicht dorther«, sagte Breck. »Ich habe es mit einer einfachen Hydraulik geschafft.«

 

»Bringen Sie mal Ihren Beutel und lassen Sie sehen, wie er aussieht, Ihr Goldstaub«, befahl Wilson.

 

»Ich sage Ihnen ja, daß er gar nicht von dort ist…«

 

»Wir wollen ihn trotzdem sehen, verstehen Sie?«

 

Breck tat, als hätte er sich am liebsten geweigert, aber er sah überall nur drohende Gesichter.

 

Widerstrebend begann er in seiner Tasche zu suchen. Als er eine Büchse herausholen wollte, stieß sie gegen etwas in der Tasche, das ein harter Gegenstand zu sein schien.

 

»Nehmen Sie alles heraus«, donnerte Wilson.

 

Und da kam der große Goldklumpen zum Vorschein, ein erstklassiges Ding, gelb wie kein anderes Gold, das die Zuschauer je gesehen hatten. Wilson schnappte nach Luft.

 

Ein halbes Dutzend, das einen schnellen Blick darauf geworfen hatte, stürzte zur Tür. Sie erreichten sie gleichzeitig, und fluchend und keifend schoben und stießen sie einander durch. Der Richter entleerte den Inhalt der Büchse auf den Tisch, aber bei dem Anblick des ungewaschenen Goldklumpens stürzte wieder ein halbes Dutzend zur Tür.

 

»Wo wollt ihr hin?« fragte Harding, als selbst der Richter Shunk Wilson sich anschickte, den andern zu folgen.

 

»Mir meine Hunde holen natürlich.«

 

»Wollt ihr ihn denn nicht aufhängen?«

 

»Das würde jetzt zuviel Zeit nehmen. Er bleibt ja, bis wir wiederkommen. Ich gehe davon aus, daß die Verhandlung für heute geschlossen ist. Jetzt haben wir keine Zeit, hier sitzen zu bleiben.«

 

Harding zögerte noch einen Augenblick. Er warf Kid einen grimmigen Blick zu, sah, wie Pierre Louis von der Tür aus Zeichen machte. Dann warf er noch einen letzten Blick auf den Goldklumpen und faßte einen raschen Entschluß.

 

»Versuch nicht wegzulaufen!« rief er Kid über die Schulter zu. »Außerdem werde ich mir gestatten, mir deine Hunde zu leihen.«

 

»Was ist denn los? Wieder so ein verdammter Wettlauf nach dem Golde?« fragte der blinde Trapper in einem komisch keifenden Falsett, als das Gebrüll der Männer und das Geheule der Hunde vor den Schlitten durch die Stille des Raumes hallten.

 

»Ja, natürlich«, antwortete Luzy. »Ich habe auch nie solch Gold gesehen. Fühl es mal an, Alter!«

 

Sie legten ihm den Goldklumpen in die Hand. Er interessierte sich aber nur wenig dafür.

 

»Das war hier einst ein schönes Pelzland«, klagte er, »bevor diese verflixten Goldsucher kamen und das Wild vertrieben.«

 

Die Tür öffnete sich, und Breck trat ein.

 

»Schön«, sagte er. »Jetzt sind wir vier allein im ganzen Lager. Es sind vierzig Meilen bis zum Stewart, wenn man den Richtweg einschlägt, wie ich es getan habe. Selbst der schnellste Fahrer braucht mindestens fünf oder sechs Tage. Jetzt wird es aber Zeit, daß Sie wegkommen, Kid.«

 

Breck zerschnitt mit seinem Jagdmesser die ledernen Fesseln des andern und warf der Frau einen vielsagenden Blick zu.

 

»Ich hoffe, daß Sie uns keine Schwierigkeiten machen werden«, sagte er mit eindringlicher Höflichkeit.

 

»Wenn ihr schießen wollt«, rief der Alte, »dann, bitte, bringen Sie mich zuerst aus der Hütte.«

 

»Nur los – nehmt keine Rücksicht auf mich«, antwortete Luzy. »Wenn ich nicht gut genug bin, um einen Mann an den Galgen zu bringen, bin ich auch nicht gut genug, ihn festzuhalten.«

 

Kid stand auf und rieb sich die Gelenke, deren Blutumlauf die Fesseln unterbunden hatten.

 

»Ich habe ein Bündel für Sie fertiggemacht«, sagte Breck. »Für zehn Tage Proviant, Decken, Streichhölzer, Tabak, eine Axt und einen Stutzen.«

 

»Nehmen Sie«, ermunterte Luzy Kid. »Bringen Sie sich in Sicherheit, Fremder. Und machen Sie es so schnell, wie es Ihnen der liebe Herrgott erlaubt.«

 

»Ich möchte aber immerhin erst was Ordentliches zu essen haben, ehe ich verdufte«, sagte Kid. »Und wenn ich dann abhaue, werde ich den MacQuestion hinauf- und hinabgehen. Ich möchte, daß Sie mit mir kommen, Breck. Wir wollen das andere Ufer nach dem Kerl untersuchen, der sich dort verborgen hält.«

 

»Wenn Sie auf meinen Rat hören wollen, Kid, so gehen Sie den Stewart und den Yukon hinab«, wandte Breck ein. »Wenn diese Rasselbande von meiner sogenannten Hydraulik zurückkommt, werden sie alle wütend sein.«

 

Kid lachte und schüttelte den Kopf.

 

»Ich will mich nicht aus dem Lande drücken. Ich habe hier jetzt Interessen wahrzunehmen. Ich will hierbleiben und mich rechtfertigen, Breck. Mir kann es ja schnuppe sein, ob Sie mir glauben oder nicht, aber ich habe tatsächlich den Überraschungssee gefunden. Von dort stammt auch das Gold. Außerdem haben die Burschen ja auch meine Hunde genommen, und ich werde hier warten, bis ich sie zurückbekomme. Außerdem weiß ich, was ich will. Es lag ein Mann am andern Ufer verborgen. Er hat fast sein ganzes Magazin auf mich verschossen.«

 

Als Kid eine halbe Stunde später mit einer großen Schüssel Elchbraten vor sich am Tisch saß und gerade eine mächtige Tasse Kaffee an die Lippen führte, sprang er plötzlich auf.

 

Er war der erste, der das Geräusch hörte. Luzy öffnete schnell die Tür.

 

»Tag, Spike, Tag, Methody«, begrüßte sie zwei Männer, die sich, mit Reif bedeckt, um ein schweres Bündel bemühten, das auf ihrem Schlitten lag.

 

»Wir kommen eben vom oberen Lager«, sagte der eine, als sie in die Hütte getreten waren. Sie behandelten das Bündel, das sie mit in den Raum trugen, mit größter Sorgfalt und Vorsicht.

 

»Und das hier haben wir unterwegs gefunden. Ich denke, es ist schon aus mit ihm.«

 

»Legt ihn auf das Bett dort«, sagte Luzy.

 

Sie beugte sich über das Bündel, entfernte das Pelzwerk und enthüllte das Gesicht, das hauptsächlich aus großen, starrenden Augen und aus Haut bestand, die durch die Kälte schwarz und wund geworden war und sich straff über die Knochen spannte.

 

»Das ist ja Alonzo!« rief sie. »Du armer, verhungerter Teufel!«

 

»Das ist der Mann vom anderen Ufer!« sagte Kid leise zu Breck.

 

»Wir fanden ihn, als er gerade ein Depot plündern wollte, das Harding wohl angelegt hat«, erklärte der eine von den beiden Männern. »Er saß da und fraß rohes Mehl und gefrorenen Speck, und als wir ihn erwischten, schrie er und heulte wie ein Habicht. Schaut ihn euch nur an: Er ist ganz verhungert und größtenteils erfroren dazu. Er kann jede Minute verrecken!«

 

 

 

Eine halbe Stunde später legten sie das Pelzwerk über das Gesicht der erstarrten Gestalt im Bett. Dann wandte Kid sich an Luzy und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Frau Peabody, möchte ich gern noch so ein Beefsteak haben. Aber, bitte, schneiden Sie es nicht zu dünn und braten Sie es vor allem nicht zu sehr durch.«

 

Kapitel 7

Kapitel 7

 

»He! Jetzt schnell in die herrlichen Lumpen!« Kurz betrachtete seinen Partner mit gespieltem Neid. Kid, der sich vergebens bemühte, die Druckfalten aus den Hosen, die er soeben angezogen hatte, zu entfernen, wurde ärgerlich.

 

»Für einen getragenen Anzug sitzt er gar nicht so schlecht!« fuhr Kurz fort. »Wieviel hat er eigentlich gekostet?«

 

»Hundertfünfzig – der ganze Anzug«, antwortete Kid. »Der Mann hatte fast genau meine Größe. Ich fand, daß es ein sehr vernünftiger Preis war. Warum meckerst du denn eigentlich?«

 

»Wer? Ich? Ach, gar nichts! Mir fiel nur ein, daß es wirklich einen großen Fortschritt für einen Bärenfleischliebhaber bedeutet, der im Packeis nach Dawson kam und damals nur eine Garnitur Unterzeug, ein Paar Mokassins und ein Paar Überziehhosen sein eigen nannte, die ebenso durchlöchert waren wie das Wrack der „Hesperus“, und der nichts zu fressen hatte. Siehst ja verflucht vornehm aus, Kompagnon! Verdammt vornehm! Sag mal…«

 

»Was willst du denn?« fragte Kid mürrisch.

 

»Wie heißt sie denn eigentlich?«

 

»Sie? Was heißt hier „sie“? Es gibt gar keine „sie“. Ich bin zum Mittagessen bei Oberst Bowie eingeladen, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich will dir sagen, was mit dir los ist, Kurz: Du bist einfach neidisch, weil ich in so vornehmer Gesellschaft verkehre und du nicht auch eingeladen bist.«

 

»Kommst du nicht ein bißchen spät?«

 

»Wie meinst du das?«

 

»Zum Mittagessen, meine ich. Sie werden die Suppe schon gegessen haben, ehe du kommst.«

 

Kid wollte gerade mit raffiniertem Sarkasmus berichten, wie es auf vornehmen Gesellschaften zugeht, als er merkte, daß der andere ihn zum besten hielt. Er vollendete daher seine Toilette so schnell wie möglich. Mit Fingern, die ihre frühere Gewandtheit verloren hatten, band er seine Krawatte zu einer großen Schleife unter den weichen Kragen.

 

»Schade, daß ich all meine steifen Kragen zur Wäsche gegeben habe«, murmelte Kurz mit aufrichtigem Mitgefühl. »Ich hätte dir sonst gern einen gepumpt.«

 

Kid bemühte sich gerade, ein Paar richtige Schuhe anzuziehen. Die plumpen wollenen Socken waren indessen zu dick, so daß sie nicht in die Schuhe hineingingen. Er warf Kurz einen flehenden Blick zu. Der aber schüttelte den Kopf.

 

»Nichts zu machen! Selbst wenn ich ein Paar dünne hätte, würde ich sie dir doch nicht pumpen. Kehre lieber reumütig zu deinen Mokassins zurück, Kompagnon! Deine Zehen werden in so einem Paar enger Hinterflossenüberzüge todsicher erfrieren.«

 

»Ich habe fünfzehn Dollar dafür gegeben, getragen natürlich«, klagte Kid.

 

»Ich glaube, daß kein einziger dasein wird, der nicht Mokassins trägt.«

 

»Aber es kommen ja auch Damen, Kurz. Ich muß mit richtigen Damen bei Tisch sitzen… mit Frau Bowie und mehreren anderen, wie mir der Oberst erzählte.«

 

»Na – und? Mokassins werden ihnen den Appetit nicht verderben«, erklärte Kurz. »Ich möchte wissen, was der Oberst mit dir vorhat.«

 

»Ich habe keine Ahnung… wenn er nicht vielleicht gehört hat, daß ich den Überraschungssee gefunden habe. Es wird ja ein Vermögen kosten, ihn trockenzulegen, und die Guggenheims wollen gern Geld anlegen.«

 

»So was wird es vermutlich sein. Na, aber halte du dich nur ruhig an die Mokassins! Du gütiger Himmel, der Rock ist da reichlich zerknittert, und zu eng ist er auch noch dazu. Darfst eben nicht zuviel futtern, Kamerad. Wenn du es tust, wirst du einfach platzen! Und wenn die Frauenzimmer ihre Taschentücher auf den Boden fallen lassen, müssen sie hübsch liegenbleiben, heb sie um Gottes willen nicht auf! Was du auch sonst tust, das darfst du auf keinen Fall!«

 

 

 

Wie es sich für einen hochbezahlten Sachverständigen und den Vertreter der angesehenen Firma Guggenheim gehört, bewohnte Oberst Bowie eines der vornehmsten Häuser Dawsons.

 

Es war freilich, wie alle die andern, aus vierkantigen, grob behauenen Balken erbaut, hatte aber zwei Stockwerke und war von so extravaganter Größe, daß es mit einem großen Wohnzimmer prahlen konnte, das tatsächlich nur als Wohnzimmer diente. Große Bärenfelle lagen auf dem rauhen Bretterboden, und an den Wänden hingen Geweihe von Elchen und Rentieren. Hier gab es sogar einen offenen Kamin und einen mächtigen Ofen, in dem ein herrliches Feuer prasselte. Hier traf Kid die gesellschaftliche Auslese Dawsons – Männer wie Warburton Jones, Forschungsreisender und Schriftsteller, Hauptmann Consadine von der berittenen Polizei, Haskell, Goldkommissar des Nordwest-Territoriums, und Baron von Schroeder, der ein Günstling des deutschen Kaisers war und einen internationalen Ruf als Duellant genoß.

 

Und hier traf Kid auch Joy Gastell, die ihn in einem richtigen Gesellschaftskleid bezauberte – bisher hatte er sie ja nur unterwegs in Pelz und Mokassins gesehen.

 

Beim Essen war sie seine Tischdame.

 

»Ich fühle mich wie ein Fisch, der aus seinem Element herausgezogen ist«, gestand er. »Die Gäste hier sind alle wirklich bedeutende Persönlichkeiten, nicht wahr? Außerdem hätte ich mir nie träumen lassen, daß es eine solche orientalische Üppigkeit in Klondike gäbe. Sehen Sie sich mal Herrn von Schroeder an! Er hat tatsächlich einen richtigen Frack an, und Consadine trägt sogar ein gestärktes Hemd. Ich habe indessen festgestellt, daß er auch Mokassins trägt. Was sagen Sie zu meiner Ausstattung?«

 

Um Joys Beifall zu erlangen, bewegte er die Schultern hin und her wie ein Vogel, der sich die Federn putzt.

 

»Es sieht aus, als seien Sie dicker geworden, seit Sie hierhergekommen sind«, lachte sie.

 

»Stimmt nicht! Raten Sie noch einmal…«

 

»Dann gehört der Anzug einem anderen.«

 

»Diesmal haben Sie es getroffen! Ich habe den Anzug zu einem sehr anständigen Preis von einem Angestellten der A.-C.-Gesellschaft gekauft.«

 

»Es ist wirklich schade, daß Kontoristen immer so schmale Schultern haben«, sagte sie mitfühlend. »Aber Sie haben gar nicht gesagt, wie Ihnen meine Ausstattung gefällt.«

 

»Das kann ich einfach nicht«, erklärte er. »Ich habe die Sprache verloren. Ich lebe schon zu lange auf den ewigen Fahrten! So etwas wie das hier wirkt völlig betäubend auf mich. Ich hatte tatsächlich vergessen, daß Frauen überhaupt Arme und Schultern haben. Morgen früh werde ich wach werden und, genau wie mein Freund Kurz, glauben, daß alles nur ein Traum gewesen ist. Letztes Mal, als ich Sie am Squawbach sah…«

 

»Da benahm ich mich ganz wie eine indianische Squaw«, unterbrach sie ihn.

 

»Das wollte ich nicht sagen. Ich erinnerte mich nur, daß ich am Squawbach die Entdeckung machte, daß Sie Füße besitzen.«

 

»Und ich werde Ihnen nie vergessen, daß Sie sie gerettet haben«, sagte sie. »Ich habe seither immer gewünscht, Sie wiederzusehen, um Ihnen meinen Dank abzustatten.« Er zuckte abwehrend die Achseln. »Und deshalb sind Sie heute auch hier eingeladen.«

 

»Sie haben also den Oberst veranlaßt, mich einzuladen?«

 

»Nein, aber seine Frau. Und ich habe sie auch gebeten, Sie mir als Tischherrn zu geben. Und jetzt habe ich also endlich die Gelegenheit, Ihnen etwas anzuvertrauen. Jetzt ist die Unterhaltung ja schon allgemein, so daß man nicht hört, was ich Ihnen sage. Passen Sie gut auf und unterbrechen Sie mich nicht. Sie kennen ja den Monobach?«

 

»Natürlich.«

 

»Es hat sich gezeigt, daß er sehr viel Gold führt… unerhört reich ist. Man berechnet, daß jedes Claim eine Million oder mehr wert ist. Er ist erst ganz vor kurzem entdeckt.«

 

»Ich erinnere mich, wie wild die Leute damals waren.«

 

»Das ganze Gebiet wurde auch bis zum Horizont abgesteckt und abgepfählt und die Nebenflüsse ebenfalls. Aber eben in diesen Tagen ist ein Claim frei geworden, nämlich Nummer drei am Hauptstrom unterhalb des Finderclaims. Die Entfernung bis zum Monobach ist so groß, daß der Kommissar sechzig Tage nach der Markierung als Frist für Eintragung der Mutungen festgesetzt hat. Jetzt sind auch alle Mutungen eingetragen, mit Ausnahme von Claim drei. Es war Cyrus Johnson, der es abgesteckt hatte. Und das war auch alles, was er getan hat. Seitdem ist er nämlich spurlos verschwunden. Kein Mensch hier weiß, ob er gestorben oder ob er den Fluß hinauf- oder hinabgegangen ist. Jedenfalls wird in sechs Tagen die letzte Frist zum Einregistrieren verstrichen sein. Dann wird es bekommen, wer es abgesteckt und als erster Dawson erreicht hat und es dort einregistrieren läßt.«

 

»Eine Million Dollar«, murmelte Kid.

 

»Gilchrist, der das zweite Claim oberhalb des Finderclaims bekommen hat, hat mit einer einzigen Pfanne aus dem Flußbett sechshundert Dollar erzielt. Er hat ein Loch in den Boden gebrannt. Und das Feld unterhalb soll noch reicher sein. Das weiß ich.«

 

»Aber warum weiß das sonst keiner?« fragte Kid skeptisch.

 

»Sie fangen auch schon an, davon zu reden. Lange wurde es geheimgehalten, und erst jetzt ist es durchgesickert. In den nächsten vierundzwanzig Stunden werden gute Hundegespanne zu erschwingen sein. Jetzt müssen Sie so diskret wie möglich verschwinden, sobald wir vom Tisch aufstehen. Ich habe schon alles vorbereitet.

 

Ein Indianer kommt mit einem Brief für Sie, den Sie lesen, und dann tun Sie, als ob es etwas furchtbar Wichtiges wäre, entschuldigen sich und gehen.«

 

»Ich verstehe nicht ganz…«

 

»Dummkopf«, sagte sie leise. »Sie werden heute nacht schon unterwegs sein, um sich ein paar Hundegespanne zu verschaffen. Ich weiß zwei, die zu haben sind. Da ist Hansons Gespann: sieben große Hunde von der Hudsonbucht; er verlangt vierhundert Dollar für das Stück. Das ist heute der höchste Preis, morgen wird er aber schon höher sein. Und Sitka Charley hat acht Malemutes, für die er dreitausendfünfhundert Dollar verlangt. Morgen wird er jeden auslachen, der ihm fünftausend bietet. Und dann haben Sie Ihr eigenes Gespann und müssen sich noch einige dazu verschaffen. Es wird Ihre Sache sein, sie noch heute nacht zu bekommen. Nehmen Sie nur die besten! Es sind ebensosehr die Hunde wie die Männer, die das Rennen gewinnen werden. Es sind hundertundzehn Meilen, und Sie müssen so oft wie überhaupt möglich die Hunde wechseln.«

 

»Ich sehe ja, Sie möchten gern, daß ich einen Versuch mache«, sagte Kid langsam.

 

»Wenn Sie nicht Geld genug für die Hunde haben, werde…«

 

»Ich kann die Hunde schon kaufen, aber glauben Sie nicht, daß das Spiel ein bißchen zu hoch für mich ist?«

 

»Nach dem, was Sie an dem Roulett im „Elch“ geleistet haben«, erwiderte sie, »glaube ich nicht, daß Sie das zu fürchten brauchen. Es ist natürlich eine rein sportliche Leistung, auf die es ankommt, wenn Sie es so nehmen. Ein Wettlauf um eine Million und mit einigen von den besten Hundefahrern und Läufern in diesem Lande als Gegner. Sie sind freilich in diesem Augenblick noch nicht darauf vorbereitet, aber morgen um diese Zeit werden Sie es schon sein. Dann werden die Hunde so teuer sein, daß nur die reichsten Männer sich den Preis leisten können. Der Große Olaf ist in der Stadt… er kam vorigen Monat aus Circle hierher. Er ist einer der gewieftesten Hundefahrer im ganzen Land, und wenn er mitgeht, wird er der gefährlichste Gegner für Sie sein.

 

Arizona-Bill wird auch ein schlimmer Konkurrent sein. Er ist jahrelang professioneller Schlittenfahrer und Postführer gewesen. Wenn er auch mitgeht, wird das Hauptinteresse sich auf ihn und den Großen Olaf richten.«

 

»Und da wollen Sie, daß ich sozusagen als Außenseiter mitlaufe?«

 

»Vollkommen richtig! Und das wird auch seine Vorteile haben. Von Ihnen wird man nicht erwarten, daß Sie das Rennen gewinnen. Sie wissen ja selbst, daß Sie noch immer als Chechaquo betrachtet werden! Sie sind noch keine vier Jahre hier. Niemand wird Notiz von Ihnen nehmen, ehe Sie die Führung der letzten Strecke auf dem Heimweg übernommen haben.«

 

»Und auf dieser letzten Strecke soll der Außenseiter also zeigen, daß er in guter Form ist.«

 

Sie nickte und sprach dann ernst weiter: »Vergessen Sie nicht, daß ich mir nie verzeihen kann, Sie am Squawbach hinters Licht geführt zu haben, und daß ich erst wieder ein gutes Gewissen habe, wenn Sie das Claim am Monobach gewinnen. Und wenn es jemand gibt, der das Rennen gegen die alten Leute gewinnen kann, dann sind Sie es.«

 

Es war die Art, wie sie es sagte… er fühlte einen warmen Strom seinen Körper durchfluten und ihm Kopf und Herz heiß machen. Dann warf er einen schnellen, prüfenden Blick auf ihr Gesicht – ohne es zu wollen und doch voller Ernst. Und im selben Augenblick, in dem er ihren Augen begegnete, die ihn fest ansahen, ehe sie sich wieder senkten, glaubte er etwas in ihnen zu lesen, das ihm viel wertvoller war als das Claim, das Cyrus Johnson zu registrieren vergessen hatte.

 

»Ich werde es tun«, sagte er. »Und ich werde gewinnen.«

 

Das frohe Aufleuchten ihrer Augen schien ihm einen köstlicheren Preis zu versprechen als alles Gold des Monobaches. Er bemerkte eine Bewegung ihrer Hand, die ihm am nächsten lag. Vom Tischtuch verborgen, streckte er ihr unwillkürlich die seine entgegen und empfand selig den leisen und warmen Druck von den Fingern einer Frau. Und wieder durchspülte eine Woge von Wärme seinen Körper.

 

Was wird Kurz sagen? war der nächste Gedanke, der heiter und neckisch durch sein Gehirn blitzte, als er seine Hand vorsichtig wieder zurückzog. Fast eifersüchtig sah er die Gesichter von Schroeders und Jones‘ an und sann erstaunt darüber nach, ob sie denn nicht entdeckt hatten, welch herrliche, seltene Frau hier neben ihm saß.

 

Ihre Stimme riß ihn aus seinen Träumen, und er mußte feststellen, daß sie schon einige Minuten sprach, ohne daß er zugehört hatte.

 

»Sie sehen also, Arizona-Bill ist ein weißer Indianer«, erzählte sie. »Und der Große Olaf ist… nun, er ist ein Mann, der mit einem Bären ringen kann, ein König der Schneefelder, ein mächtiger Herrscher der wilden Einöden. Er kann laufen und durchhalten, wie nur die Indianer es können, und er hat nie ein anderes Leben kennengelernt als das im Eis und in der Wildnis.«

 

»Von wem sprechen Sie?« fragte Hauptmann Consadine über den Tisch hinweg.

 

»Vom Großen Olaf«, antwortete sie. »Ich erzählte Herrn Bellew eben, daß er ein so glänzender Läufer ist.«

 

»Da haben Sie wirklich recht«, bestätigte Hauptmann Consadine mit seiner mächtigen Stimme. »Der Große Olaf ist der beste Läufer in ganz Yukon. Ich würde gegen den Teufel selbst auf ihn setzen, wenn es sich um Fahrten durch Eis und Schnee handelte. Er war es ja, der 1895 die Regierungsdepeschen herbrachte, nachdem zwei Kuriere am Chilcoot erfroren und der dritte im offenen Wagen bei den „Dreißig Meilen“ ertrunken war.«

 

 

 

Auf der Fahrt an den Monobach hatte Kid sich nicht übereilt, weil er fürchtete, seine Hunde abzuhetzen, bevor das entscheidende Rennen begann. Er hatte außerdem die Gelegenheit benutzt, jede Meile des Weges kennenzulernen und die Stellen auszuwählen, wo er die Hunde wechseln wollte. So viele Männer wollten an dem Rennen teilnehmen, daß die ganze Strecke von hundertundzehn Meilen fast wie ein einziges zusammenhängendes Dorf aussah. Überall am Wege waren Relaisstationen eingerichtet. Herr von Schroeder, der sich nur des Spaßes halber an dem Rennen beteiligte, hatte nicht weniger als elf Hundegespanne – also ein Gespann auf je zehn Meilen. Arizona-Bill mußte sich mit acht Gespannen begnügen, der Große Olaf mit sieben und Kid mit ebensovielen. Außer ihnen waren mehr als drei Dutzend Männer beteiligt. Selbst hier im goldenen Norden betrug der Preis eines Hundewettrennens nicht jeden Tag eine ganze Million. Das Land war völlig reingefegt von Hunden. Kein Tier von irgendwie vernünftiger Schnelligkeit und Ausdauer war dem feinzähnigen Kamm entgangen, der die Bäche und Goldlager gestriegelt hatte. Die Preise für Gespanne waren auf das Doppelte und Vierfache gestiegen, solange diese wahnsinnige Spekulation anhielt.

 

Das dritte Claim unterhalb des Finderclaims lag zehn Meilen von der Mündung flußaufwärts. Die übrigen hundert Meilen mußte man auf dem zugefrorenen Yukon zurücklegen.

 

Auf Claim drei waren nicht weniger als fünfzig Zelte und dreihundert Hunde untergebracht. Die alten Pfähle, die Cyrus Johnson vor sechzig Tagen eingerammt hatte, standen noch, und alle Teilnehmer hatten einmal über das andere die Grenzen des Claims überschritten, denn dem Rennen der Hunde ging ein Wettlauf der Männer selbst voraus. Jeder Interessent mußte selbst das Claim für sich abzeichnen, und das bedeutete, daß er zwei Mittelpfähle und vier Eckpflöcke einrammen und den Bach zweimal überqueren mußte, ehe er mit seinen Hunden nach Dawson fahren konnte.

 

Außerdem war es so geregelt, daß keiner dem andern zuvorkommen konnte. Erst wenn es Freitag nacht zwölf schlug, wurde das Claim für den Neuerwerb geöffnet, es war also erst nach Mitternacht erlaubt, Pfähle einzurammen.

 

So hatte der Goldkommissar von Dawson die Sache organisiert, und Hauptmann Consadine hatte eine Schwadron der berittenen Polizei hinaus geschickt, um dafür zu sorgen, daß man sich nach dieser Bestimmung richtete.

 

Es hatten auch eifrige Diskussionen stattgefunden, ob man sich nach der Zeitangabe der Polizei oder nach der Sonnenzeit zu richten hätte, aber Hauptmann Consadine hatte die Entscheidung getroffen, daß die polizeilichen Zeitangaben maßgebend seien, und um jedem Streit vorzubeugen, hatte er ferner angeordnet, daß man sich nach der Uhr des Leutnants Pollock zu richten hätte.

 

Der Weg führte durch das ebene Flußbett, und da dieses nur zwei Fuß breit war, glich es einer engen Rinne, die auf beiden Seiten von dem Schnee dreier Monate wie von einer hohen Wand eingerahmt wurde. Kein Wunder, daß alle sich mit dem Problem beschäftigten, wie mindestens vierzig Schlitten und dreihundert Hunde auf einer so engen Bahn starten sollten.

 

»Pfui Deibel!« sagte Kurz. »Das wird das saumäßigste Holterdiepolter, das es je gegeben hat. Ich sehe keinen andern Ausweg, Kid, als brutale Kraft anzuwenden und sich mit Fäusten und Ellbogen durchzuschlagen. Selbst wenn der ganze Bach schneefrei wäre, böte er doch kaum Platz für zwölf Gespanne. Mein Riecher sagt mir, daß es eine mordsmäßige Keilerei geben wird, ehe das Rennen losgeht. Und wenn es dazu kommt, mußt du es mir überlassen, die Keile auszuteilen.«

 

Kid zuckte die Achseln und lachte vielsagend.

 

»Um Gottes willen, halt die Finger davon!« rief sein Partner erschrocken. »Was auch geschieht, du darfst dich nicht hineinmischen. Du kannst die Hunde nicht hundert Meilen mit zerschundenen Knöcheln fahren – und das wird es bedeuten, wenn du dich an der Keilerei beteiligst.«

 

Kid nickte. »Du hast recht, Kurz. Ich will unsere Chance nicht dadurch verderben.«

 

»Und vergiß nicht«, fügte Kurz hinzu, »daß ich die ersten zehn Meilen schaffen muß, während du es dir so bequem wie nur möglich machst. Ich werde dich schon bis zum Yukon durchschleppen. Dann mußt du mit den Hunden den Rest schaffen. Sag mal, was glaubst du, hat der Schroeder vor? Er hat sein erstes Gespann eine Viertelmeile flußabwärts aufgestellt und will es an einer grünen Laterne erkennen. Aber wir werden ihm die Kunst schon nachmachen! Wir werden uns ein rotes Licht anschaffen.«

 

Der Tag war klar und kalt gewesen, aber gegen Abend hatte eine Decke von Wolken den Himmel verhüllt. Als die Nacht kam, wurde es warm und dunkel, und eine Andeutung von Schnee lag in der Luft. Das Thermometer zeigte fünfzehn Grad unter Null – und in Klondike betrachtet man eine Wintertemperatur von nur fünfzehn Grad Kälte als mild.

 

Wenige Minuten vor Mitternacht verließ Kid Kurz, der mit den Hunden etwa fünfhundert Meter flußabwärts stehenblieb, und schloß sich den vielen Bewerbern um Claim drei an. Es waren im ganzen fünfundvierzig, die an dem Wettrennen um die Million teil nehmen wollten, welche Cyrus Johnson hinterlassen hatte, als er sich in sein eisiges Grab legte. Alle hatten sechs Pflöcke und einen schweren hölzernen Hammer bei sich und trugen eine kittelartige Parka aus schwerem Drillich.

 

Leutnant Pollock stand in seinem dicken Bärenpelz da und sah beim Schein einer Laterne auf die Uhr. Es fehlte noch eine Minute an zwölf.

 

»Achtung!« rief er und hob den Revolver in seiner Rechten, während er den Sekundenzeiger der Uhr beobachtete, der seine letzte Runde vor Mitternacht machte.

 

Die fünfundvierzig Kapuzen der Parkas wurden zurückgeschlagen. Fünfundvierzig Händepaare zogen die Fäustlinge aus. Fünfundvierzig Fußpaare drückten sich fest und energisch in den hartgetretenen Schnee. Und fünfundvierzig Pflöcke wurden in den Schnee gesteckt, während ebenso viele Hämmer sich hoben.

 

Der Schuß knallte. Die Hammerschläge erdröhnten – Cyrus Johnsons Anrecht auf die Million war erloschen. Um völlige Verwirrung zu vermeiden, hatte Leutnant Pollock bestimmt, daß zuerst der untere Mittelpflock, dann der südöstliche und in derselben Reihenfolge die andern, der obere Mittelpflock aber unterwegs gerammt werden sollte.

 

Kid schlug seinen ersten Pflock ein und lief als einer der ersten weiter. An den Ecken brannten Feuer, und an jedem Feuer stand ein Polizist, der die Namen der Läufer in eine Liste eintrug, die er in der Hand hielt. Jeder mußte ihm seinen Namen nennen und sein Gesicht zeigen. Es sollte nach Möglichkeit verhindert werden, daß jemand einen andern an seiner Statt die Pfähle einrammen ließ, während er selbst schon nach der Stadt unterwegs war.

 

An der ersten Ecke schlug von Schroeder seinen Pflock neben den Kids ein. Sie gebrauchten gleichzeitig ihre Hämmer. Während sie noch hämmerten, kamen andre hinzu, und zwar so ungestüm, daß einer dem andern im Wege stand und ein verworrenes Hin- und Hergestoße veranlaßte. Während Kid sich den Weg durch die Menge bahnte, um dem Polizisten seinen Namen zu nennen, sah er, wie der Baron mit einigen von den andern Läufern zusammenstieß, den Halt verlor und in den Schnee fiel. Kid wartete indessen nicht ab, daß er wieder auf die Beine kam. Andere waren ihm schon zuvorgekommen. Im Schein des erlöschenden Lichtes sah er den mächtigen Rücken des Großen Olaf, und an der südwestlichen Ecke rammte er seinen Pflock neben dem Olafs ein.

 

Es war durchaus keine leichte Aufgabe, dieses Hindernisrennen. Die Grenzen des Claims hatten eine Gesamtlänge von fast einer Meile, und der größte Teil des Rennens ging über eine unebene, verschneite Fläche, die voll von großen Knorren war. Um Kid herum stolperten und strauchelten die Männer, und mehrmals fiel er selbst kopfüber hin und kroch auf allen vieren herum. Einmal stürzte der Große Olaf unmittelbar vor ihm und riß ihn im Fall mit, so daß sie aufeinander zu liegen kamen.

 

Der oberste Mittelpfahl wurde unmittelbar am Rande des Uferhanges eingerammt, und dann wälzten sich die Läufer den Hang hinab, über das gefrorene Flußbett und das andere Ufer hinauf. Als Kid hier herumkroch, packte ihn eine Hand am Fußgelenk und zog ihn zurück. Im flackernden Schein des fernen Feuers konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen, der ihm diesen Streich gespielt hatte. Aber Arizona-Bill, dem dasselbe geschehen war, stand auf und versetzte dem Angreifer einen Faustschlag ins Gesicht. Kid sah und hörte das, während er sich noch bemühte, auf die Beine zu kommen, aber im selben Augenblick bekam er selbst einen Faustschlag, so daß er halb bewußtlos in den Schnee taumelte. Er kam jedoch wieder hoch und merkte sich den Mann, der es getan hatte.

 

Er hob schon die Faust, um ihm eins auszuwischen, als er sich der Warnung Kurz‘ erinnerte und sich beherrschte.

 

Im nächsten Augenblick wurde er aber unterhalb des Knies von einem Körper getroffen, der gegen ihn fiel, und stürzte wieder zu Boden.

 

Das gab ihm einen Vorgeschmack von dem, was geschehen sollte, wenn die Männer ihre Schlitten erreichten. Immer wieder strömten Leute vom andern Ufer herbei und stürzten sich ins Getümmel. Haufenweise kletterten sie den Hang herauf, und haufenweise wurden sie von ihren ungeduldigen Nebenbuhlern zurückgezerrt. Es fielen viele Schläge, unzählige Flüche entstiegen dem Klumpen keuchender Männer, die noch so viel Luft hatten, daß sie etwas entbehren konnten, während Kid, der seltsamerweise das Gefühl hatte, als schwebte Joys Gesicht immer vor seinen Augen, von ganzem Herzen hoffte, daß die Hämmer nicht als Kampfwaffen benutzt werden würden. Ein Mal über das andere wurde er umgestoßen, mit Füßen getreten, oft mußte er im tiefen Schnee nach den Pflöcken suchen, aber schließlich gelang es ihm, aus dem Knäuel herauszukommen, so daß er den Hang etwas weiter abwärts erklettern konnte. Freilich taten viele dasselbe, und es war ihm nicht möglich zu verhindern, daß ihn viele bei dem Rennen um die nordwestliche Ecke überholten.

 

Als er die Hälfte des Weges nach der vierten Ecke hinter sich hatte, stellte ihm jemand ein Bein, er flog weit hin und verlor seinen letzten Pflock. Mindestens fünf Minuten suchte er im Dunkeln, bis er ihn wiedergefunden hatte, und während dieser ganzen Zeit hasteten die keuchenden Männer an ihm vorbei. Aber von der letzten Ecke bis zum Bach begann er mehrere zu überholen, denen das Rennen über eine Meile doch zuviel gewesen war. Unten auf dem Bach selbst herrschte das wildeste Tohuwabohu. Ein Dutzend Schlitten waren ineinandergefahren und umgekippt, und fast hundert Hunde befanden sich in einer wilden Keilerei. Dazwischen bemühten sich Männer, die ineinander verstrickten Tiere wieder aus dem verworrenen Haufen zu ziehen, und schlugen mit ihren Hämmern auf sie los. Kid sah es nur flüchtig, im Vorbeilaufen, aber er fragte sich, ob Dore je ein Bild von einer ähnlichen grotesken Unheimlichkeit gezeichnet hätte.

 

Er sprang von der überfüllten Straße den Abhang ein Stück hinunter und erreichte die festgetretene Schlittenbahn, wo er schneller laufen konnte. Hier war der Schnee neben dem Wege an zahlreichen Stellen festgestampft, und auf den Lagerplätzen standen Schlitten und Männer und warteten auf die Wettläufer, die noch nicht abgefahren waren. Hinter sich hörte Kid das Heulen und Stampfen laufender Hunde und hatte eben noch Zeit, in den tiefen Schnee neben dem Wege zu springen, als der Schlitten schon vorbeihuschte; er konnte den Mann sehen, der, auf den Knien liegend, die Hunde wie ein Rasender anfeuerte. Aber kaum war der Schlitten vorbei, als er mitten in einem wilden Kampfgetümmel steckenblieb. Die aufgeregten Hunde eines anderen Schlittens, die neben dem Wege warteten und eifersüchtig auf die Tiere waren, die vorbeiliefen, hatten sich losgerissen und waren auf sie losgesprungen.

 

Kid bog um sie herum und schlüpfte glücklich vorbei. Er konnte die grüne Laterne von Schroeder und daneben das rote Licht sehen, das sein eigenes Gespann kenntlich machte. Zwei Männer überwachten das Gespann von Schroeder und streckten große Knüppel abwehrend vor sich aus.

 

»Hierher, Kid, hierher!« hörte er Kurz ängstlich rufen.

 

»Ich komme schon«, keuchte er zurück.

 

Bei dem roten Schein sah er, daß der Schnee aufgewühlt und voller Fußstapfen war, und aus der Art, wie sein Freund keuchte, konnte er schließen, daß es einen schweren Kampf gegeben hatte.

 

Er taumelte zum Schlitten, und im selben Augenblick, da er sich hinwarf, knallte Kurz mit der Peitsche und rief: »Hü, ihr Deubel, hü!«

 

Die Hunde sprangen in die Sielen, und mit einem Ruck glitt der Schlitten fort. Es waren große Tiere – Hansons Preisgespann von der Hudson Bay -, und Kid hatte sie für die erste Strecke, die zehn Meilen des Monobachs, dann den sehr ungangbaren Richtweg über die Ebene an der Mündung und endlich die ersten zehn Meilen am Yukon gewählt.

 

»Wie viele sind uns voraus?« fragte er.

 

»Schnauze halten und Puste sparen«, antwortete Kurz. »Hü, ihr Bestien, hü, zum Teufel, hü!«

 

Er lief hinter dem Schlitten her, durch ein kurzes Seil daran festgebunden. Kid konnte weder ihn noch den Schlitten, auf dem er lag, sehen. Die Feuer verschwanden schon weit hinter ihnen, und sie sausten, so schnell die Hunde laufen konnten, durch eine Mauer von schwarzer Dunkelheit dahin. Diese Finsternis war fast klebrig; sie war zu einer festen Materie geworden.

 

In einer scharfen Kurve merkte Kid, wie der Schlitten nach der Seite kippte und nur auf einer Kufe lief; von vorne hörte er das Fauchen von Tieren und die Flüche streitender Männer. Später wurde diese Episode die »Barnes-Slocum-Kollision« genannt. Es waren nämlich die Gespanne dieser beiden, die zuerst ineinanderfuhren, und in sie sausten dann Kids sieben große Kampfhunde in voller Fahrt hinein. Sie waren kaum etwas anderes als halbgezähmte Wölfe, und die Aufregung der Nacht am Klondike hatte schon in allen Tieren die Kampflust erweckt. Die Klondike-Hunde werden ohne Zügel gefahren, können also nur durch Zurufe angehalten werden. Es war daher ganz unmöglich, dem wilden Kampfgetümmel in der Enge des Bachbetts ein Ende zu machen. Hinter ihnen kamen Schlitten auf Schlitten und sausten in das Chaos hinein. Männer, die ihre Gespanne schon aus dem Knäuel befreit hatten, wurden von neuen Lawinen ankommender Schlitten überrannt. Und dabei waren all diese Hunde wohlgenährt, gut ausgeruht und kampflustig.

 

»Hier gibt es nur eins: losschlagen, sich hinaushauen und durchstoßen«, heulte Kurz seinem Kameraden ins Ohr. »Und paß gut auf deine Hände auf! Das Dreschen überlaß mir.«

 

Kid wußte später nie genau, was eigentlich in der nächsten halben Stunde geschah. Aber schließlich tauchte er doch aus dem Knäuel auf, völlig erschöpft und nach Luft schnappend. Das Kinn schmerzte von einem Fausthieb, die eine Schulter war von einem Hammerschlag zerquetscht, das Blut lief in einem warmen Strom über sein Bein, das von den Fängen eines Hundes verwundet worden war. Beide Ärmel seiner Parka waren zerfetzt. Wie im Traume half er Kurz die Hunde wieder anzuschirren, während die Schlacht hinter ihnen weitertobte. Einen sterbenden Hund schnitten sie aus den Strängen und bemühten sich eifrig in der Dunkelheit, das zerrissene Geschirr wieder instand zu setzen.

 

»Jetzt legst du dich hin und sorgst dafür, daß du wieder Luft kriegst«, befahl Kurz.

 

Und dann sausten die Hunde wieder durch die dunkle Nacht. Ihre Kräfte waren noch frisch und unverbraucht, und so liefen sie schnell den Monobach hinab und schlugen die Richtung nach dem Yukon ein. Hier, wo sie wieder die ausgefahrene Schlittenbahn erreichten, hatte irgend jemand ein Feuer angezündet, und hier verabschiedete sich auch Kurz von Kid. Und hier, beim Schein des flackernden Feuers, hatte Kid wieder ein unvergeßliches Bild aus dem Lande des Nordens, als der Schlitten hinter den weiterstürmenden Hunden dahinglitt. Es war das Bild seines Kameraden, der wankend dastand, bis er in den Schnee sank.

 

Und selbst als er erschöpft im Schnee lag, ein Auge geschwollen und von gewaltigen Faustschlägen geschlossen, die Knöchel blutig und zerschlagen, einen Arm von den Fängen der kampfwilden Hunde zerrissen, so daß ein Strom von Blut sich über ihn ergoß – selbst da noch spornte er seinen Freund durch Zurufe an.

 

 

 

»Wie viele sind noch vor mir?« fragte Kid, als er auf der ersten Station die ermüdeten Hudson-Bay-Hunde sich hinlegen ließ und auf den wartenden Schlitten sprang.

 

»Ich habe elf gezählt!« rief der Mann ihm nach, denn Kid war mit seinen eilenden Hunden schon weit weg. Sie sollten ihn fünfzig Meilen weit über die nächste Wegstrecke bringen, bis er die Mündung des Weißen Flusses erreichte. Es waren nicht weniger als neun Hunde, aber es war trotzdem sein schlechtestes Gespann. Die fünfundzwanzig Meilen vom Weißen Fluß bis zu den „Sechzig Meilen“ hatte er in zwei Strecken eingeteilt, weil dort viel Packeis lag. Für diese Strecken hatte er seine beiden kräftigsten Gespanne bereitgestellt.

 

Er lag ausgestreckt, das Gesicht nach unten, auf dem Schlitten und hielt sich mit beiden Händen fest. Sobald die Hunde in der höchsten Schnelligkeit nachließen, erhob er sich auf die Knie, wobei er sich vorsichtig mit der einen Hand festhielt, und trieb sie mit Worten und Peitschenschlägen an. Obgleich es ein minderwertiges Gespann war, hatte er doch, bevor er den Weißen Fluß erreichte, zwei Schlitten überholt.

 

Hier hatte bei dem Zufrieren des Flusses das Packeis eine Schranke gebildet, so daß das Wasser auf einer Strecke von mehr als einer halben Meile unterhalb der Barriere zu einer ganz glatten Fläche hatte gefrieren können. Das ermöglichte den Wettfahrern, die Schlitten im Fahren zu wechseln, und auf dem Wege unterhalb des Packeises stand deshalb ein Ersatzschlitten neben dem andern.

 

Als Kid über das Packeis auf die glatte Eisebene hinausfuhr, rief er immer wieder laut: »Billy! Billy!«

 

Billy hörte seinen Ruf und gab Antwort. Im Schein der vielen Feuer, die auf dem Eise brannten, sah Kid einen Schlitten von der Seite her gerade auf sich zukommen. Die Hunde waren ausgeruht und überholten ihn. Als die beiden Schlitten nebeneinander liefen, sprang er auf den neuen hinüber, während Billy sich sofort fallen ließ.

 

»Wo ist der Große Olaf?« rief Kid.

 

»An der Spitze«, gab Billys Stimme zur Antwort. Und schon lagen die vielen Feuer hinter ihm, und Kid sauste weiter durch die schwere Dunkelheit.

 

Im Packeis dieser Strecke, als der Weg ihn durch ein Chaos von hochkant stehenden Eisschollen führte, ließ sich Kid vom Schlitten gleiten, spannte sich selbst vor und lief neben den Hunden her. Dennoch überholte er drei Schlitten. Sie hatten Unfälle gehabt. Er hörte die Männer laut fluchen, während sie die Hunde aus dem Geschirr schnitten, um es reparieren zu können.

 

Als er über das Packeis der nächsten Strecke zu den „Sechzig Meilen“ fuhr, überholte er wieder zwei Schlitten. Aber es sollte ihm selber auch nicht besser ergehen, denn einer seiner Hunde verrenkte sich die Schulter, so daß Kid nicht weiterfahren konnte und das Gespann anhielt. Die andern Hunde waren erbost und griffen ihren Genossen mit den Fängen an, so daß Kid genötigt war, sie mit dem dicken Ende seiner Peitsche zurückzutreiben.

 

Als er das verletzte Tier vom Strang schnitt, hörte er das Heulen andrer Hunde hinter sich und die Stimme eines Mannes, die ihm bekannt vorkam. Es war Herr von Schroeder. Kid stieß einen warnenden Ruf aus, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Baron rief seinen Hunden etwas zu, legte die Steuerstange um, und es gelang ihm, in einem Abstand von wenigen Fuß vorbeizuschlüpfen. Aber so undurchdringlich war die Dunkelheit, daß Kid ihn wohl vorbeifahren hörte, aber nicht sah.

 

Auf der ebenen Eisfläche bei der Handelsstation von „Sechzig Meilen“ überholte Kid noch zwei Schlitten. Alle drei hatten hier die Gespanne gewechselt, und fünf Minuten lang fuhren sie Seite an Seite, die Männer auf den Knien liegend, während sie die Hunde durch Rufe und Peitschenhiebe antrieben. Kid hatte sich diese Strecke besonders genau eingeprägt und bemerkte jetzt den hohen Fichtenbaum, der in dem schwachen Schein der vielen Feuer nur undeutlich zu erkennen war.

 

Hinter dem Baum, wo es wieder ganz dunkel wurde, hörte die glatte Fläche plötzlich auf. Kid wußte auch, daß der Weg sich dort verengte, so daß nur für einen Schlitten Platz war. Er beugte sich vor, ergriff den Strang und zog den Schlitten an den letzten Hund heran.

 

Er ergriff das Tier an dem einen Hinterbein und warf es um.

 

Unter wütendem Bellen versuchte es ihn zu beißen, aber die andern Hunde zogen es weiter. Es hatte doch mit Erfolg als Bremse gewirkt, und die beiden andern Schlitten, die noch immer nebeneinander liefen, sausten vor ihm in die schmale Passage hinein. Kid hörte das Krachen und das Getümmel, als sie zusammenstießen. Schnell gab er den Deichselhund wieder frei, sprang an die Steuerstange und ließ das Gespann rechts in den weichen Schnee einschwenken, wo die Hunde bis an den Hals versanken. Es war eine anstrengende Arbeit, aber er kam an den festgefahrenen Schlitten vorbei und erreichte weiter vorne wieder den festgetretenen Weg.

 

Von den „Sechzig Meilen“ ab hatte Kid sein zweitschlechtestes Gespann. Obgleich es sonst an sich eine gute Strecke war, hatte er sich doch entschlossen, es nur fünfzehn Meilen weit zu benutzen. Zwei weitere Gespanne sollten ihn dann nach Dawson und dem Büro des Goldkommissars bringen, und für diese Strecke hatte Kid die beiden besten Gespanne bestimmt. Sitka Charley selbst wartete auf ihn mit seinen acht Malemutes, die Kid die nächsten zwanzig Meilen fahren sollten. Das Schlußrennen wollte er dann mit seinen eigenen Hunden machen, die ihn fünfzehn Meilen fahren mußten. Es war dasselbe Gespann, das er den ganzen Winter gebraucht hatte und das mit ihm auf der Suche nach dem Überraschungssee gewesen war. Die beiden Männer, die er bei den „Sechzig Meilen“ nach dem Zusammenstoß hinter sich ließ, überholten ihn nicht wieder, anderseits aber gelang es auch seinem Gespann nicht, einen der drei Schlitten einzuholen, die noch immer an der Spitze waren. Wenn es seinen Tieren auch an Kraft und Schnelligkeit fehlte, so waren sie doch willig, und er brauchte sie nicht anzutreiben, damit sie ihr Bestes hergaben. Kid hatte nichts zu tun, als ruhig, das Gesicht nach unten, auf dem Schlitten zu liegen und sich mit beiden Händen anzuklammern. Ein Mal über das andere tauchte er aus der Dunkelheit im Lichtkreis eines flackernden Feuers auf, sah im Vorbeifahren pelzgekleidete Männer, die bei wartenden Hundegespannen standen, und tauchte dann wieder in der Finsternis unter. Meile auf Meile sauste er dahin, ohne etwas anderes zu hören als das Knirschen und Kreischen der Kufen über dem Schnee. Fast automatisch hielt er sich fest, während der Schlitten vorwärts sauste, in die Luft geschleudert wurde oder bei den Wegbiegungen halb umkippte. Immer wieder tauchten unterwegs drei Gesichter in seinem Bewußtsein auf: das Joy Gastells, lachend und kühn, das seines Freundes Kurz, zerschlagen und blutig nach der Schlacht am Monobach, und das John Bellews, gefurcht und abgehärtet, wie in Eisen gegossen, unerbittlich in seiner Strenge. Und hin und wieder fühlte Kid das Bedürfnis, in laute Rufe auszubrechen, eine wilde Jubelhymne anzustimmen, wenn er sich der Redaktion der Woge erinnerte oder an die lange Erzählung aus San Franzisko, die er nie zu Ende gebracht hatte, oder wenn er an all die andern Nichtigkeiten jener tatenlosen Tage dachte.

 

Als er seine erschöpften Hunde gegen die acht Malemutes auswechselte, brach der graue Morgen an. Sie waren leichter als die Hudson-Bay-Hunde und waren auch entsprechend schneller. Sie besaßen die geschmeidige Unermüdlichkeit echter Wölfe. Sitka Charley rief ihm die Reihenfolge nach, in der die Schlitten vor ihm fuhren. Der Große Olaf führte, Arizona-Bill war der zweite, Baron von Schroeder der dritte. Sie waren die drei besten Schlittenfahrer im Lande. Tatsächlich hatten die Leute schon, ehe Kid Dawson verließ, in derselben Reihenfolge auf die drei gesetzt. Während sie selbst ihr Rennen um eine Million machten, betrug der Einsatz, den andre auf sie setzten, schon fast ein halbe Million.

 

Kein einziger hatte auf Kid gesetzt, wurde er doch trotz seiner verschiedenen Fahrten, die ihm einen gewissen Ruf verschafft hatten, noch immer als ein Chechaquo betrachtet, der noch viel zu lernen hatte.

 

Als es heller wurde, sah Kid vor sich einen Schlitten, und nach einer halben Stunde war sein Führerhund schon unmittelbar dahinter. Erst als der Mann den Kopf wandte, um ihm einen Gruß zuzurufen, sah Kid, daß es Arizona-Bill war. Herr von Schroeder hatte ihn offenbar überholt. Der festgetretene Pfad durch den weichen Schnee war zu schmal, und eine zweite halbe Stunde war Kid deshalb genötigt, hinter ihm zu bleiben. Dann fuhren sie über Packeis und schwenkten auf eine glatte Ebene ein, wo mehrere Relaisstationen errichtet waren und man den Schnee überall in weitem Umkreis festgetreten hatte. Kid trieb seine Tiere an; er lag auf den Knien und knallte unter lauten Zurufen mit der Peitsche. Er bemerkte, daß der rechte Arm Arizona-Bills unbeweglich herabhing und daß er gezwungen war, die Peitsche mit der Linken zu schwingen. So unbequem es auch war, konnte er sich nicht am Schlitten festhalten und mußte deshalb hin und wieder die Peitsche hinlegen und sich mit der linken Hand festhalten, um nicht vom Schlitten zu fallen. Kid erinnerte sich des Kampfes beim Claim drei und verstand, was los war. Der Rat, den Kurz ihm gegeben hatte, war wirklich sehr klug gewesen.

 

»Was ist geschehen?« fragte er, als er den andern einholte.

 

»Weiß nicht!« antwortete Arizona-Bill. »Ich glaube, ich habe mir bei einer Keilerei die Schulter verrenkt.«

 

Nur mit großer Mühe gelang es Kid, ihn zu überholen, als aber die letzte Relaisstation in Sicht kam, war Arizona-Bill immerhin um eine halbe Meile hinter ihm. Vor sich konnte Kid den Großen Olaf und Herrn von Schroeder nebeneinander sehen. Wieder hob Kid sich auf die Knie und hetzte seine erschöpften Hunde zu einer letzten verzweifelten Anstrengung, wie es nur einem Manne möglich ist, der mit dem sicheren Instinkt, des Hundefahrers geboren ist. Er kam unmittelbar an den Schlitten von Schroeder heran, und in dieser Reihenfolge sausten die drei Schlitten über die glatte Fläche unterhalb einer Ansammlung von Packeis, wo viele Männer mit wartenden Gespannen standen. Die Entfernung bis Dawson betrug jetzt nur noch fünfzehn Meilen.

 

Herr von Schroeder, der jede zehnte Meile das Gespann wechselte, hatte das auch fünf Meilen vorher getan und sollte erst nach weiteren fünf Meilen ein neues Gespann übernehmen. Er fuhr also mit voller Geschwindigkeit weiter. Der Große Olaf und Kid wechselten im Fahren die Schlitten, und ihre frischen Gespanne holten gleich wieder den Vorsprung, den der Baron inzwischen erobert hatte, auf.

 

Es gelang dem Großen Olaf, vorbeizukommen, und Kid folgte ihm auf der engen Bahn.

 

Gut, aber nicht gut genug, zitierte Kid in Gedanken Herbert Spencer.

 

Herrn von Schroeder, der jetzt hinter ihm war, brauchte er nicht mehr zu fürchten, aber vor sich hatte er den besten Hundefahrer des ganzen Landes. Ihn zu überholen schien fast unmöglich. Immer und immer wieder, ein Mal über das andere, brachte Kid seinen Leithund direkt an den Schlitten des anderen heran, aber jedesmal machte auch der Große Olaf eine letzte Kraftanstrengung, und es gelang ihm immer wieder, den Abstand zu vergrößern. Kid mußte sich darauf beschränken, sich dicht hinter ihm zu halten, und er tat es mit grimmiger Energie.

 

Das Rennen war nicht verloren, solange keiner gewonnen hatte, und auf einer Strecke von fünfzehn Meilen konnte noch allerlei geschehen.

 

Drei Meilen vor Dawson geschah auch wirklich etwas Unerwartetes. Zu Kids größter Überraschung hob der Große Olaf sich auf die Knie und begann mit Flüchen und Peitschenhieben die letzte Unze Kraft aus seinen Hunden herauszupressen. Es war eine Anspannung, die eigentlich den letzten hundert Metern und nicht dem Beginn des Drei-Meilen-Schlußrennens hätte vorbehalten bleiben müssen. Obgleich es der reine Hundemord war, mußte Kid doch seinem Beispiel folgen. Sein eigenes Gespann war prachtvoll. Keine Hunde am Yukon hatten je schwerere Arbeit geleistet, aber keine waren auch besser in Form. Außerdem hatte Kid viel mit ihnen zusammen erlebt, hatte mit ihnen gegessen und geschlafen und kannte jeden einzelnen durch und durch, kannte ihre Eigenarten und wußte, wie man die Intelligenz der Tiere aufpeitschen und den äußersten Grad von Willigkeit aus ihnen herausholen konnte.

 

Wieder krochen sie über Packeis, und wieder kamen sie auf die glatte Ebene. Der Große Olaf war nur um fünfzig Fuß voraus.

 

Da schoß ein Schlitten heran und sauste ihnen entgegen, und mit einem Schlage verstand Kid die furchtbare Anspannung des Großen Olaf. Er hatte nur versucht, einen Vorsprung zu gewinnen, um das Gespann wechseln zu können.

 

Dieses frische Gespann, das hier wartete, um ihn die letzte Strecke des Heimweges zu fahren, war eine besondere Überraschung, die er sich vorbehalten hatte. Selbst die Männer, die ihr Geld auf ihn gesetzt, hatten nichts davon gewußt.

 

Kid kämpfte wie ein Verzweifelter, um vorbeizukommen, ehe der andere den Schlitten gewechselt hatte. Er hetzte seine Hunde vorwärts, bis er die fünfzig Meter, die zwischen den beiden lagen, überwunden hatte. Durch Zurufe und Peitschenhiebe gelang es ihm, den andern einzuholen, so daß sein Leithund Seite an Seite mit dem letzten Hund des Großen Olaf lief. Auf der anderen Seite lief der Relaisschlitten. So schnell fuhren sie alle drei, daß der Große Olaf den Sprung auf den Relaisschlitten nicht wagen durfte. Wenn er zu kurz sprang und stürzte, übernahm Kid die Führung, und das Rennen war verloren.

 

Der Große Olaf versuchte, einen Vorsprung zu erreichen, er trieb die Hunde prachtvoll an, aber Kids Leithund hielt sich noch immer neben dem Deichselhund des anderen. Eine halbe Meile liefen die drei Schlitten Seite an Seite. Sie näherten sich dem Ende der glatten und dem Anfang einer ganz schmalen Strecke, als der Große Olaf es wagte. Während die Schlitten noch nebeneinander herrasten, sprang er, und im selben Augenblick hatte er sich schon auf die Knie geworfen und trieb das frische Gespann mit Peitsche und Stimme an.

 

Der glatte Weg verengte sich und wurde zu einem schmalen Pfad, aber er hetzte die Hunde vorwärts und erreichte den Pfad mit einem Vorsprung von einem knappen Meter.

 

Aber ein Mann ist erst besiegt, wenn er ganz vernichtet ist, sagte sich Kid und trieb seine Tiere an, sosehr ihn auch der andere – wenn auch vergeblich – abzuhängen versuchte. Keins von den andern Gespannen, die Kid heute gefahren, hätte eine so tödliche Hetze ertragen, kein anderes sich mit frischen Hunden auf der Höhe halten können, kein einziges außer diesem! Aber das Rennen galt jetzt Tod und Leben, und als sie um den Hügel bei Klondike City schwenkten, spürte Kid, daß seine Tiere nachzulassen begannen. Es war freilich fast unmerkbar, daß sie zurückblieben, und nur Fuß um Fuß gelang es dem Großen Olaf, die Führung zu erlangen, bis er sich schließlich einen Vorsprung von einigen Metern erobert hatte.

 

Die ganze Bevölkerung von Klondike City, die sich auf dem Eise versammelt hatte, brach in begeisterte Hochrufe aus. Hier fließt der Klondike in den Yukon, und eine halbe Meile weiter, am Nordufer, lag Dawson. Die Menge brach in einen wahnsinnigen Sturm von Hochrufen aus, und Kid sah einen Schlitten, der zu ihm heransauste.

 

Er erkannte sofort die prachtvollen Tiere, die den Schlitten zogen. Es war Joy Gastells Gespann, und sie führte es selbst.

 

Sie hatte die Kapuze ihrer Parka aus Eichhörnchenpelz zurückgeschlagen, so daß man das kameenhafte Oval ihres Gesichtes sehen konnte, das sich von dem Hintergrund des schweren dunklen Haares abhob. Die Handschuhe hatte sie ausgezogen und klammerte sich mit den bloßen Händen an Peitsche und Schlitten.

 

»Spring!« rief sie, als ihr Leithund Kids Gespann anknurrte.

 

Kid sprang auf den Schlitten hinter sie. Der schwankte gewaltig unter dem Gewicht seines Körpers, aber Joy hielt sich auf den Knien und schwang die Peitsche.

 

»Hü… hü… vorwärts! Hü…!« schrie sie, und die Hunde heulten und bellten vor Eifer und Anstrengung, den Schlitten des Großen Olaf einzuholen.

 

Und als dann der Leithund wirklich den Schlitten Olafs erreichte und sich Fuß um Fuß vorwärts arbeitete, bis die Gespanne Seite an Seite liefen, wurde die Bevölkerung von Dawson wahnsinnig vor Begeisterung.

 

Es war wirklich eine ungeheure Menge von Zuschauern, denn die Männer von allen Bächen und allen Minen hatten ihr Gerät liegenlassen, um hierherzukommen und selbst den Ausgang des Rennens zu sehen. Und ein totes Rennen über eine Strecke von hundertundzehn Meilen war Grund genug, um vor Begeisterung verrückt zu werden.

 

»Sobald wir die Führung haben, springe ich ab«, schrie Joy Kid über die Schulter zu.

 

Kid versuchte zu protestieren.

 

»Und achten Sie gut auf die scharfe Kurve halbwegs auf dem Hange«, warnte sie ihn.

 

In einem Abstand von sechs Fuß liefen die beiden Schlitten jetzt nebeneinander her, aber nur eine knappe Minute hielt der Große Olaf durch Peitsche und Stimme die Stellung, dann begannen ihn die Hunde Joys Zoll um Zoll zu überholen.

 

»Halten Sie sich bereit!« rief Joy Kid zu. »In einer Minute springe ich ab! Nehmen Sie die Peitsche!«

 

Als er die Hand frei machte, um die Peitsche zu ergreifen, hörten sie einen warnenden Ruf vom Großen Olaf, aber es war schon zu spät. Der Leithund Olafs hatte sich empört, weil er überholt wurde, und war zum Angriff übergegangen. Seine Fänge bohrten sich Joys Leithund in die Seite. Die beiden rivalisierenden Gespanne stürzten aufeinander. Die Schlitten liefen in den Knäuel der kämpfenden Tiere hinein und überschlugen sich. Kid kämpfte sich auf die Beine und versuchte Joy beim Aufstehen zu helfen. Aber sie schob ihn fort und rief ihm zu: »Gehen Sie doch!«

 

Der Große Olaf, der noch immer entschlossen war, das Rennen zu gewinnen, hatte schon zu Fuß einen Vorsprung von fünfzehn Meter gewonnen. Kid gehorchte Joy, und als die beiden Männer den Fuß des Hanges bei Dawson erreichten, war er dem anderen schon auf den Fersen.

 

Aber auf dem Wege den Hang hinauf raffte Olaf sich mächtig zusammen, schob seinen riesigen Körper vorwärts und gewann einen neuen Vorsprung von fast vier Meter.

 

Das Büro des Goldkommissars lag in der Hauptstraße fünf Häuserblocks weiter. Die Straße war so voll von Menschen wie bei einer Parade. Es fiel Kid diesmal nicht so leicht, seinen großen Gegner zu erreichen, und als es ihm endlich gelang, konnte er nicht an ihm vorbeikommen. Seite an Seite liefen sie durch die schmale Rinne zwischen den festen Mauern pelzgekleideter Männer, die „Hoch“ schrien. Bald gewann der eine, bald der andere durch übermenschliche Anstrengung einen Vorsprung von vielleicht einem Zoll, aber nur, um ihn sofort wieder zu verlieren.

 

Hatte das Rennen die Hunde fast das Leben gekostet, so wurde es den beiden selbst nicht leichter. Aber sie liefen um den Preis einer Million und um großen Ruhm im ganzen Yukon-Land. Der einzige Eindruck von außen, dessen Kid sich von dieser letzten wahnsinnigen Strecke erinnerte, war das Erstaunen, daß es so viele Menschen in Klondike gab. Er hatte sie ja noch nie alle an einem Ort beisammen gesehen.

 

Er merkte, daß er gegen seinen Willen zurückblieb, und der Große Olaf kam tatsächlich fast um einen ganzen Schritt vor. Kid hatte das Gefühl, daß sein Herz bersten wollte, während er jede Empfindung in den Beinen verlor. Er wußte wohl, daß sie sich unter ihm bewegten, aber er ahnte nicht, wie er sie dazu brachte, sich zu bewegen, oder wie es ihm gelang, seinen Willen stärker auf sie wirken zu lassen, oder wie er sie zwang, ihn bis an die Seite des riesigen Nebenbuhlers zu bringen. Vor ihnen tauchte die offene Tür des Kommissariatsbüros auf.

 

Beide machten eine letzte vergebliche Anstrengung, aber keinem gelang es, sich von dem anderen zu lösen, und Seite an Seite erreichten sie die Tür, stießen mit großer Gewalt gegeneinander und fielen dann beide kopfüber in das Büro hinein.

 

Sie setzten sich beide auf, wo sie hingefallen waren, beide zu müde, um aufzustehen. Der Schweiß strömte dem Großen Olaf über das Gesicht, er atmete schwer, rang röchelnd nach Atem, griff in die Luft und versuchte zu sprechen. Dann streckte er in unverkennbarer Absicht die Hand aus, und Kid reichte ihm die seine. Sie schüttelten sie sich kräftig.

 

»Es war ein totes Rennen«, hörte Kid den Kommissar sagen, aber es war wie im Traum, und die Stimme erschien ihm unwirklich und aus weiter Ferne zu kommen. »Ich kann nur sagen, daß Sie beide gewonnen haben. Sie müssen das Claim miteinander teilen. Sie sind Kompagnons.«

 

Die beiden Männer hoben die Arme und ließen sie wieder sinken, um ihr Einverständnis kundzugeben. Der Große Olaf nickte nachdrücklich mit dem Kopf und gab allerlei seltsame Laute von sich, aber schließlich gelang es ihm, herauszustoßen, was er sagen wollte.

 

»Sie verfluchter Chechaquo«, sagte er, aber in seinem Tonfall lag Bewunderung. »Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, aber geschafft haben Sie’s.«

 

Vor dem Büro lärmte und brüllte die dichtgedrängte Menge, und der Raum selbst war von begeisterten Männern überfüllt. Kid und Olaf versuchten aufzustehen und halfen einander, auf die Beine zu kommen. Kid merkte, daß seine Beine ganz kraftlos waren und daß er dastand und hin und her schwankte. Dann taumelte Olaf zu ihm hin und sagte: »Es tut mir leid, daß meine Hunde Ihre überfielen.«

 

»Es war nichts dabei zu machen«, gab Kid stöhnend zurück. »Ich hörte, wie Sie uns warnten…«

 

»Aber wissen Sie«, sagte Olaf mit leuchtenden Augen. »Das Mädel da – das war ein verdammt feines Mädel!«

 

»Ein ganz verdammt feines Mädel«, stimmte Kid ihm zu.

 

 

 

 

 

ENDE

 

Einleitung

Alaska-Kid

 

Über das Buch

 

San Francisco, O’Hara und seine Zeitschrift, für die er Erzählungen in wöchentlichen Fortsetzungen schrieb, die Redaktion, die Klubs, in denen er verkehrte, all die Nichtigkeiten jener tatenlosen Tage scheinen einer unbeschreiblich fernen Vergangenheit anzugehören. Nur mit Schaudern denkt Kid Bellew daran, wie er einst Zeit und Kraft in dem Bohèmeleben der großen Stadt vergeudet hat, ohne zu wissen, was Nahrung, Schlaf und Gesundheit in Wirklichkeit bedeuten. Aus einer Laune heraus hat er sich Goldgräbern auf dem Wege nach Alaska angeschlossen, hat ungeheure körperliche Strapazen auf sich genommen und schließlich Gefallen am harten Leben in den endlosen Wäldern, den unnahbaren, zerklüfteten Gebirgen und den wild schäumenden Wassern gefunden. Gemeinsam mit Jack Kurz, einem prächtigen Kameraden, schlägt er sich quer durch Alaska, zu Fuß, im Boot, auf Schneeschuhen und mit dem Hundeschlitten. Aus dem ehemaligen Chechaquo, dem Grünschnabel, wird der erfahrene Waldläufer, Hundeführer und Goldsucher Alaska-Kid.

 

 

 

Über den Autor

 

Jack London (eig. John Griffith, später J. G. London nach seinem Stiefvater) wurde am 12.01.1876 in San Francisco geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er schlägt sich als Fabrikarbeiter, Austernpirat, Landstreicher und Seemann durch, holt das Abitur nach, beginnt zu studieren, geht dann als Goldsucher nach Alaska, lebt monatelang im Elendsviertel von London, gerät als Korrespondent im russisch-japanischen Krieg in Gefangenschaft und bereist die ganze Welt. Am 22.11.1916 setzt der berühmte Schriftsteller auf seiner Farm in Kalifornien seinem zuletzt von Alkohol, Erfolg und Extravaganz geprägten Leben ein Ende.

 

Kapitel 4

Kapitel 4

 

»Komisch, daß du gar nicht spielst«, sagte Kurz eines Abends im „Elch“ zu Kid. »Liegt es dir denn gar nicht im Blut?«

 

»Natürlich«, antwortete Kid. »Aber ich habe auch die Zahlen im Kopf. Ich will was Reelles für mein Geld haben.«

 

Der ganze große Schankraum um sie her hallte wider von dem Knattern und Rasseln und Rumpeln der zwölf Roulette, an denen pelzgekleidete Männer in Mokassins ihr Glück versuchten. Kid machte eine Handbewegung, die all diese Leute umfaßte.

 

»Schau sie dir an«, sagte er. »Die nüchternen Zahlen erzählen mir, daß sie heute nacht mehr verlieren als gewinnen werden und daß die meisten von ihnen in diesem Augenblick im Verlust sitzen.«

 

»Du bist sicher ein guter Rechner«, murmelte Kurz bewundernd. »Und meistens hast du ja auch recht. Aber es gibt auch so etwas wie Tatsachen! Und es ist eine Tatsache, daß es ganze Glückssträhnen geben kann. Es gibt Augenblicke, in denen jeder Idiot, der nur spielt, gewinnen muß. Das weiß ich, denn ich habe selbst Spiele genug mitgemacht und mehr als einmal erlebt, daß die Bank gesprengt wurde. Die einzige Methode, zu gewinnen, ist, ruhig abzuwarten, bis man eine Vorahnung bekommt, daß jetzt die Glückssträhne angesaust kommt, und sie dann bis zum letzten auszunutzen.«

 

»Das klingt ja sehr einfach«, sagte Kid kritisch, »so einfach, daß ich gar nicht begreifen kann, wie man überhaupt verlieren kann.«

 

»Der Fehler ist ja eben«, gab Kurz zu, »daß die meisten Leute ihre Vorahnungen mißverstehen. Es ist natürlich hin und wieder auch geschehen, daß ich mich in meinen Vorahnungen geirrt habe. Man muß eben versuchen, es herauszukriegen.«

 

Kid schüttelte den Kopf.

 

»Das ist auch nur eine Art Berechnung, Kurz. Die meisten Männer irren sich aber in ihren Ahnungen.«

 

»Aber hast du denn nie so ein todsicheres Gefühl gehabt, daß du nur dein Geld hinzulegen brauchtest, um den Gewinn in die Tasche zu stecken?«

 

Kid lachte.

 

»Ich bin zu ängstlich, wenn ich an die vielen Prozent Chancen denke, die ich gegen mich habe. Aber ich will dir was sagen, Kurz: Ich werde jetzt einen Dollar auf die „Hohe Karte“ setzen und sehen, ob ich so viel gewinne, daß wir einen dafür trinken können.«

 

Kid wollte sich den Weg zum Pharaotisch bahnen, aber Kurz hielt ihn am Arm zurück.

 

»Laß mal, du. Ich habe eben eine von meinen Ahnungen. Setz lieber deinen Dollar an dem Roulett.«

 

Sie gingen zum Roulettisch neben der Bar.

 

»Warte, bis ich es dir sage«, riet Kurz.

 

»Welche Nummer?« – »Das mußt du selbst bestimmen. Aber warte, bis ich es dir sage.«

 

»Du willst doch nicht behaupten, daß ich gerade an diesem Tisch eine besondere Chance hätte?« wandte Kid ein.

 

»Eine ebenso gute wie am nächsten.«

 

»Aber jedenfalls keine so gute wie die Bank.«

 

»Wart ab und sieh«, erklärte Kurz eindringlich. »Jetzt – jetzt los!«

 

Der Bankhalter hatte soeben die kleine elfenbeinerne Kugel auf ihre wirbelnde Fahrt über den glatten Rand des rollenden Rades mit den vielen Löchern hinausfliegen lassen.

 

Kid, der am unteren Tischende stand, lehnte sich über einen der Spieler und warf seinen Dollar achtlos auf den Tisch. Er rollte über das glatte grüne Tuch und blieb dann säuberlich in der Mitte von „34“ liegen.

 

Die Kugel hielt an, und der Bankhalter rief: »Vierunddreißig gewinnt.« Er strich das Geld vom Tisch und legte fünfunddreißig Dollar vor Kid hin. Als Kid das Geld in die Tasche steckte, klopfte Kurz ihm auf die Schulter.

 

»Na, da siehst du, was eine Ahnung bedeutet, Kid! Wie ich es wissen konnte? Das kann ich dir nicht erklären. Ich wußte einfach, daß du gewinnen würdest. Denn, siehst du, wenn dein Dollar auf eine andere Zahl gefallen wäre, dann hätte die gewonnen. Wenn die Ahnung richtig ist, mußt du einfach gewinnen.«

 

»Aber wenn nun Doppelzero herausgekommen wäre, was dann?« fragte Kid, während sie sich zur Bar begaben.

 

»Dann wäre dein Dollar auf zwei Nullen liegengeblieben«, antwortete Kurz. »Das ist einfach unvermeidlich. Ahnung ist und bleibt Ahnung. Da kannst du sagen, was du willst – nichts zu machen. Aber komm jetzt wieder an den Tisch. Ich habe eine neue Ahnung bekommen, daß ich jetzt, nachdem ich dir gewinnen half, selbst ein paar Treffer kriege.«

 

»Spielst du denn nach einem bestimmten System?« fragte Kid zehn Minuten später, als sein Kamerad schon hundert Dollar verloren hatte.

 

Kurz schüttelte empört den Kopf, während er seine Spielmarken auf „3“ und auf „17“ legte. Außerdem legte er eine Marke, die er noch übrig hatte, auf Grün.

 

»Die Hölle ist vollgepfropft mit Idioten, die nach Systemen gespielt haben«, bemerkte er noch, als der Bankhalter das Geld an sich raffte.

 

Kid, der zuerst nur zugesehen hatte, wurde allmählich ganz bezaubert. Er verfolgte mit dem größten Interesse jede Einzelheit des Spieles von der wirbelnden Kugel bis zur Ein- und Auszahlung der Einsätze. Er selbst spielte nicht mit, sondern begnügte sich mit dem Zusehen. Aber es interessierte ihn so, daß Kurz, der erklärte, jetzt genug vom Spiel bekommen zu haben, ihn kaum vom Tisch wegziehen konnte.

 

Der Bankhalter gab Kurz den Goldsack wieder, den er als Sicherheit hinterlegt hatte, um mitspielen zu dürfen, und gleichzeitig bekam er einen Schein, worauf stand: Verloren 350 Dollar.

 

Kurz ging mit dem Sack und dem Schein quer durch den Raum, um beides dem Mann zu geben, der dort hinter einer großen Goldwaage saß. Er wog für dreihundertfünfzig Dollar Goldstaub ab und tat sie in den Goldbehälter des Hauses.

 

»Diese Ahnung war wohl auch eine von deinen Berechnungen«, spottete Kid.

 

»Ich mußte doch zu Ende spielen, nicht wahr? Nur um zu sehen, wie es zusammenhing«, gab Kurz zurück. »Und ich denke, ich mußte es auch durchführen, um zu beweisen, daß es so was wie Ahnungen gibt.«

 

»Macht nichts, Kurz«, lachte Kid. »Ich habe selbst eben so etwas wie eine Ahnung bekommen.«

 

Kurz‘ Augen strahlten, und er rief eifrig: »Was denn, Kid? Dann nur gleich hinein und spiel!«

 

»Es ist nichts dergleichen, Kurz. Meine Ahnung sagt mir nur, daß ich eines schönen Tages ein System ausarbeiten werde, das den ganzen Tisch da drinnen sprengen wird.«

 

»System…«, seufzte Kurz. Dann betrachtete er seinen Partner mit tiefem Mitleid. »Kid, höre auf den guten Rat deines Stallbruders und laß alle Systeme schießen. Systeme gehen todsicher zum Teufel. Bei Systemen gibt es keine Ahnungen.«

 

»Deshalb liebe ich sie ja gerade«, antwortete Kid. »Ein System hat eine ordentliche Basis. Wenn du das richtige System findest, kannst du nie verlieren, und darin liegt der Unterschied zwischen Systemen und Ahnungen. Du weißt nie, wann die richtige Ahnung zum Teufel geht.«

 

»Aber ich weiß von unzähligen Systemen, die zum Teufel gegangen sind, und ich habe noch nie eins gesehen, das zum Gewinn geführt hat.«

 

Kurz schwieg einen Augenblick und seufzte tief. »Weißt du, Kid, wenn du anfängst, dich in Systeme zu verlieben, dann ist hier nicht der rechte Platz für dich. Dann ist es wirklich Zeit, daß wir wieder auf die Reise gehen.«

 

 

 

In den folgenden Wochen schienen die beiden Partner entgegengesetzte Ziele zu verfolgen. Kid wollte noch immer die meiste Zeit im „Elch“ verbringen, wo er dem Roulettspiel zusah, während Kurz ebenso eifrig verlangte, daß sie auf die Reise gehen sollten. Als Kurz schließlich vorschlug, daß sie zweihundert Meilen weit den Yukon hinab auf die Goldsuche gehen wollten, setzte Kid sich auf die Hinterbeine.

 

»Siehst du, Kurz«, sagte er. »Ich will nicht gehen. Die Fahrt würde mindestens zehn Tage in Anspruch nehmen, und ich hoffe mein System schon vorher in die Tat umzusetzen. Ich könnte beinahe schon jetzt damit anfangen und gewinnen. Aber warum in aller Welt willst du mich überhaupt in dieser Weise durch das Land schleppen?«

 

»Kid, ich muß mich ja ein bißchen deiner annehmen«, erwiderte Kurz. »Bei dir geht eine kleine Schraube los. Ich würde dich bis nach Jericho oder nach dem Nordpol schleppen, wenn ich dich nur von dem verdammten Tisch losreißen könnte.«

 

»Das mag ja alles ganz gut sein, Kurz, aber schließlich bin ich ja verhältnismäßig erwachsen und noch dazu ein guter Fleischesser. Das einzige, was du schleppen sollst, ist das Gold, das ich durch mein System gewinnen werde, und ich glaube, daß du ein Hundegespann brauchen wirst.«

 

Kurz antwortete nur mit einem Stöhnen.

 

»Und ich möchte auch nicht, daß du auf eigene Faust spielst«, fuhr Kid fort. »Wir werden den Gewinn teilen, aber ich brauche all unser Geld, um es durchzuführen. Das System ist ja noch nicht ausprobiert, und es ist sehr gut möglich, daß ich einige Verluste haben werde, ehe ich es richtig in Gang kriege.«

 

Nachdem Kid lange Stunden und Tage mit ständiger Beobachtung des Tisches verbracht hatte, kam schließlich der Abend, an dem er erklärte, daß er bereit sei. Düster und pessimistisch begleitete Kurz seinen Kompagnon in den „Elch“, mit einer Miene, als ginge er zu seinem eigenen Begräbnis. Kid kaufte einen Haufen Spielmarken und setzte sich neben den Bankhalter am Ende des Tisches. Immer wieder machte der Ball seinen sausenden Kreislauf durch das Rad, und die andern Spieler gewannen und verloren, aber Kid wagte noch keine einzige Marke zu setzen. Kurz wurde immer ungeduldiger. »Nur los, Kamerad, nur immer los«, drängte er. »Mach bald Schluß mit dem Begräbnis. Was hast du denn? Kalte Füße gekriegt?«

 

Kid schüttelte den Kopf und wartete. Ein Dutzend Spiele wurden beendet, dann warf er plötzlich zehn Ein-Dollar-Marken auf „26“. Die Zahl gewann, und der Bankhalter zahlte Kid dreihundertfünfzig Dollar aus. Wieder ging ein Dutzend Spiele vorüber, als Kid endlich zum zweitenmal zehn Dollar, jetzt aber auf „32“ setzte. Und wiederum erhielt er dreihundertfünfzig Dollar.

 

»Das nenne ich eine Ahnung«, flüsterte ihm Kurz laut und aufgeregt ins Ohr. »Nur festhalten, festhalten!«

 

»Keine Spur von Ahnung«, flüsterte Kid zurück. »Es gehört zum System. Ist es nicht prachtvoll?«

 

»Das kannst du mir nicht weismachen«, behauptete Kurz. »Ahnungen kommen einem oft auf die merkwürdigsten Arten. Vielleicht glaubst du, daß es ein System ist, aber das ist es nicht. Systeme taugen nie etwas. Das gibt es gar nicht! Es ist todsicher eine Ahnung, daß du so spielst…«

 

Kid änderte jetzt sein Spiel.

 

Er setzte etwas öfter, aber stets nur einzelne Marken, warf sie hierhin und dorthin und verlor mehr, als er gewann.

 

»Hör jetzt lieber auf«, riet ihm Kurz. »Steck ein, was du hast. Du hast dreimal ins Schwarze getroffen und immerhin einen Tausender gewonnen. Du kannst jetzt ruhig aufhören.«

 

In demselben Augenblick surrte die Kugel wieder durch das Rad, und Kid warf zehn Dollar auf „26“. Die Kugel fiel in das Loch der „26“, und der Bankhalter zahlte Kid dreihundertfünfzig Dollar aus.

 

»Wenn du also sowieso ganz hirnverbrannt bist und auch noch den großen Treffer deines Lebens bekommen hast, dann setz den Höchstbetrag«, sagte Kurz. »Schmeiß nächstes Mal fünfundzwanzig drauf!«

 

Eine Viertelstunde verging, in dem Kid teils gewann, teils verlor, aber immer nur kleine Beträge auf verschiedene Zahlen. Da setzte er, mit der Plötzlichkeit, die sein ganzes Spiel kennzeichnete, fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero, und der Bankhalter zahlte ihm achthundertfünfundsiebzig Dollar aus.

 

»Weck mich doch, Kid, ich träume ja!« stöhnte Kurz.

 

Kid lächelte, schlug in seinem Notizbuch nach und vertiefte sich in Berechnungen. Immer wieder zog er sein Notizbuch aus der Tasche, und hin und wieder schrieb er Zahlen auf.

 

Es hatte sich eine ganze Menge von Leuten um den Tisch gesammelt, während die Spieler selbst versuchten, dieselben Zahlen zu belegen wie er. Da änderte er mit einem Schlage wieder seine Taktik. Zehnmal nacheinander setzte er zehn Dollar auf »18« und verlor. Jetzt hätte selbst der Kühnste ihn im Stich gelassen. Da wechselte er wieder die Nummer und gewann zum fünften Male dreihundertfünfzig Dollar. Im selben Augenblick kehrten die anderen Spieler reumütig zu seinen Zahlen zurück, ließen ihn aber wieder allein, als er aufs neue eine Reihe von Verlusten zu verbuchen hatte.

 

»Laß das Ding jetzt, Kid, laß es«, warnte Kurz. »Selbst die beste Strähne von Ahnungen hat nur eine bestimmte Länge, und deine ist jetzt fertig. Du machst keinen Treffer mehr.«

 

»Ich werde nur noch einmal ins Schwarze treffen, ehe ich meinen Gewinn zusammenraffe«, antwortete Kid.

 

Einige Minuten warf er noch Spielmarken mit wechselndem Glück auf verschiedene Zahlen, dann setzte er plötzlich fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero. »Jetzt werde ich Schluß machen«, sagte er zu dem Bankhalter, nachdem er gewonnen hatte.

 

»Oh, du brauchst es mir nicht zu zeigen«, sagte Kurz, als sie zusammen zur Waage gingen. »Ich habe selbst nachgerechnet. Du mußt so etwa dreitausendsechshundert gewonnen haben. Stimmt es?«

 

»Dreitausendsechshundertdreißig«, antwortete Kid.

 

»Und jetzt mußt du den Goldstaub nach Hause tragen. So haben wir es abgemacht.«

 

 

 

»Fordere das Glück nicht heraus«, flehte Kurz am nächsten Abend in der Hütte, als er bemerkte, daß Kid Vorbereitungen traf, wieder in den „Elch“ zu gehen. »Du hast gestern eine gewaltig lange Strähne von Ahnungen gehabt, aber du hast sie auch bis zum letzten Tropfen ausgepreßt. Wenn du wieder anfängst, wirst du deinen ganzen Gewinn zusetzen.«

 

»Aber ich sage dir ja, daß es keine Ahnungen sind, Kurz. Es ist Berechnung. Ein System. Man kann überhaupt nicht verlieren.«

 

»Zur Hölle mit allen Systemen. So etwas wie ein System kann es gar nicht geben. Ich habe mal siebzehn solche Strähnen in „Schwarz und Rot“ gehabt. War es System? Quatsch! Es war blödes, blindes Schwein; aber ich hatte kalte Füße bekommen und wagte nicht, zu Ende zu spielen. Wenn ich durchgehalten und mich nicht nach der dritten Runde zurückgezogen hätte, würde ich mit dem ursprünglichen Einsatz von einem viertel Dollar dreißigtausend Dollar gewonnen haben.«

 

»Das ist ja auch schnuppe, Kurz. Hier handelt es sich um ein richtiges System.«

 

»Na, das mußt du mir erst beweisen.«

 

»Werd‘ ich schon. Komm jetzt mit, ich zeig‘ es dir heute wieder.«

 

Als sie den Schankraum des „Elch“ betraten, richteten sich alle Augen auf Kid, und die Spieler am Tisch machten ihm Platz, als er sich wie am vorhergehenden Tage neben den Bankhalter setzte. Sein Spiel war indessen heute ganz anders. Im Laufe von anderthalb Stunden setzte er im ganzen nur viermal, aber jedesmal fünfundzwanzig Dollar, und gewann stets. Er steckte dreitausendfünfhundert Dollar ein. Und Kurz trug wieder den Goldstaub nach Hause.

 

»Jetzt ist es aber Zeit, Schluß mit dem Spaß zu machen«, riet Kurz, als er auf dem Bettrand saß und sich die Mokassins auszog.

 

»Du hast siebentausend Dollar gewonnen. Der Mann muß verrückt sein, der sein Schicksal noch weiter herausfordert.«

 

»Lieber Kurz, ein Mann würde ganz und himmelschreiend hirnverbrannt sein, wenn er nicht ein solches System, wie meines ist, ausnützt.«

 

»Hör mal, Kid. Du bist ein verdammt gescheiter Kerl. Du hast die Universität besucht. Du kannst in einer Minute mehr begreifen als ich in vierzigtausend Jahren. Aber trotzdem bist du mehr als verrückt, wenn du behauptest, daß dein Glück ein System sei. Ich bin viel in der Welt herumgekommen, und ich kann dir geradeheraus und vertraulich und mit absoluter Sicherheit erklären, daß es kein System gibt, das eine Bank sprengen kann.«

 

»Aber ich werde es dir beweisen. Es ist einfach eine Schatzkammer.«

 

»Nein, das ist es nicht, Kid. Es ist nur der Traum von einer Schatzkammer. Ich schlafe einfach. Plötzlich wache ich wieder auf und mache Feuer und Frühstück.«

 

»Gut, mein ungläubiger Freund, hier ist der Goldstaub. Greif zu!«

 

Und Kid warf seinem Partner den schweren Beutel mit dem Goldstaub aufs Knie. Er wog fünfunddreißig Pfund, und Kurz mußte zugeben, daß er es spürte, als der Beutel sein Bein traf.

 

»Hm, ich habe freilich einige verdammt lebendige Träume in meinem Leben gehabt. Im Traum ist alles möglich. Im wirklichen Leben sind Systeme nicht möglich. Nun, ich bin ja nie auf der Universität gewesen, aber trotzdem habe ich vollkommen recht, wenn ich diese Spielorgie als einen Traum betrachte.«

 

»Hamiltons Gesetz der Kargheit«, lachte Kid.

 

»Ich habe nie was von dem Herrn gehört, aber sein Mittel wird schon das richtige sein. Ich träume, Kid, und du schleichst in meinem Traum herum und quälst mich mit Systemen. Wenn du mich, gern hast, wenn du mich wirklich im Ernst gern hast, dann brüllst du jetzt: Wach auf, Kurz… und dann werde ich wach werden und das Frühstück machen.«

 

 

 

Als Kid am dritten Spielabend seinen Einsatz auf den Tisch legte, schob der Bankhalter ihm fünfzehn Dollar zurück.

 

»Mehr als zehn dürfen Sie nicht mehr setzen«, sagte er. »Die Höchstgrenze ist herabgesetzt worden.«

 

»Wollt ihr nur Kleingeld haben?« spottete Kurz.

 

»Wir zwingen niemand, an diesem Tisch zu spielen, wenn er keine Lust hat«, antwortete der Bankhalter. »Und ich sage Ihnen offen und ehrlich, daß es uns lieber wäre, Ihr Partner würde nicht an unserm Tisch spielen.«

 

»Furcht vor seinem System, was?« neckte Kurz den Bankhalter, als er Kid dreihundertfünfzig Dollar auszahlte.

 

»Ich will nicht sagen, daß ich an Systeme glaube, das tue ich nicht. Es hat noch kein System gegeben, das die Bank eines Rouletts oder eines Spiels von der Art gesprengt hätte. Aber ich habe auch manchmal seltsame Glückssträhnen gesehen. Und ich will diese Bank nicht sprengen lassen, solange ich es verhindern kann.«

 

»Kalte Füße?«

 

»Bankhalten ist ein Geschäft genau wie jedes andere, mein Freund. Wir sind keine Philanthropen.«

 

Abend für Abend gewann Kid. Seine Spieltaktik wechselte beständig.

 

Die Sachverständigen drängten sich um den Tisch, und einer nach dem andern notierte sich seine Einsätze und Nummern und versuchte vergebens, hinter sein System zu kommen. Sie mußten gestehen, daß sie nicht imstande waren, den Schlüssel zu dem Geheimnis zu finden. Sie schworen, daß es nur Glück wäre… wenn auch freilich das ungeheuerlichste Glück, das sie je gesehen hätten.

 

Es war der Wechsel in Kids Methoden, der sie verwirrte. Zuweilen schlug er in seinem Notizbuch nach oder vertiefte sich in lange Berechnungen, und dann konnte eine ganze Stunde vergehen, ohne daß er einen einzigen Einsatz wagte. Dann wieder konnte er drei Spiele mit Höchsteinsätzen nacheinander gewinnen und im Laufe von fünf oder zehn Minuten tausend Dollar oder mehr einstecken. Und hin und wieder geschah es auch, daß seine Taktik einfach darin bestand, einzelne Spielmarken in verblüffender Verschwendung über den Tisch auszustreuen. Das konnte dann zehn Minuten bis eine halbe Stunde anhalten – und dann warf er plötzlich, wenn die Kugel nur noch wenige Runden übrig hatte, den Höchsteinsatz auf Reihe, Farbe und Zahl und gewann alle drei. Einmal geschah es sogar, daß er vierzig Spiele nacheinander zum Höchsteinsatz verlor, so daß er eine allgemeine Verwirrung in den Köpfen all derer anrichtete, die sich bemühten, sein System zu durchschauen.

 

Aber so scheinbar regellos er auch spielte, trug Kurz doch jeden Abend dreitausendfünfhundert Dollar nach Hause.

 

»Es ist kein System«, erklärte Kurz bei einer ihrer Diskussionen während des Ausziehens. »Ich passe auf wie ein Schießhund; aber es ist mir nicht möglich, die Sache herauszufinden. Du spielst nie dasselbe Spiel zweimal. Du steckst nur den Gewinn ein, wenn du Lust dazu hast. Und wenn du nicht willst, tust du es absichtlich nicht.«

 

»Vielleicht bist du jetzt der Lösung näher, als du denkst, Kurz. Manchmal muß ich eben auf Nummern setzen, die verlieren. Es gehört mit zum System.«

 

»System – geh zur Hölle damit! Ich habe mich mit jedem erfahrenen Spieler in der ganzen Stadt unterhalten. Und sie sind sich alle wie ein Mann einig, daß es so was wie ein System nicht gibt.«

 

»Und dabei tue ich doch nichts anderes, als es ihnen zeigen.«

 

»Schau mal her, Kid.« Kurz beugte sich über die Kerze, um sie auszublasen, zögerte aber einen Augenblick. »Ich bin wirklich ärgerlich. Vielleicht denkst du, das hier sei eine Kerze… aber das ist es nicht. Und ich bin auch nicht ich. Ich wandere irgendwo herum, liege, in meine Decken gehüllt, auf dem Rücken und träume mit offenem Munde alles, was hier geschieht. Du bist es gar nicht, der zu mir spricht, sowenig wie die Kerze hier eine richtige Kerze ist.«

 

»Das ist aber doch komisch, daß ich genau dasselbe träume wie du«, behauptete Kid.

 

»Gar nichts ist komisch. Du bist ja ein Teil von meinem Traum, das ist die ganze Geschichte. Ich habe viele Männer im Schlaf reden hören. Und ich möchte dir etwas sagen, Kid: Ich beginne blöd und verrückt zu werden. Wenn dieser Traum noch lange andauert, werde ich mir zum Schluß die Adern aufbeißen und laut heulen.«

 

 

 

Am sechsten Spielabend wurde der Höchsteinsatz im „Elch“ auf fünf Dollar herabgesetzt.

 

»Meinetwegen!« versicherte Kid dem Bankhalter. »Ich will heute abend wie immer dreitausendfünfhundert Dollar gewinnen, und Sie zwingen mich nur, etwas länger zu spielen. Ich muß nur auf doppelt so viele Gewinnummern halten wie sonst – das ist alles.«

 

»Warum können Sie nicht ebensogut einen andern Tisch unsicher machen?« fragte der Bankhalter ärgerlich.

 

»Weil mir dieser besonders sympathisch ist!« Kid warf einen Blick auf den prasselnden Ofen, der nur einige Schritte von ihm entfernt stand. »Außerdem zieht es hier nicht. Es ist so schön warm und behaglich hier.«

 

Als Kurz am neunten Abend den Goldstaub nach Hause getragen hatte, bekam er einen Anfall.

 

»Ich bin fertig, Kid, durch und durch fertig«, begann er. »Ich weiß, wann ich genug bekommen habe. Ich träume tatsächlich nicht! Ich laufe vollständig wach und mit weit offenen Augen herum. Es gibt kein System, und doch hast du eins. Die ganze Rechenkunst kann sich zu Bett legen. Der Kalender kann sich begraben lassen, mit oder ohne Predigt. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Es gibt nichts mehr, das Regel und Einheitlichkeit heißt. Das große Einmaleins kann dahin gehen, wo der Pfeffer wächst. Zwei ist acht, und acht ist elf, und zweimal zwei ist achthundertsechsundvierzig, und… noch eineinhalb dazu. – Eins ist das andere, und nichts ist alles, und zweimal alles ist Hautcreme, Milchfieber und ausgestopfte Kattunpferde. Du hast ein System gefunden! Mit deinen Zahlen schlägst du alle andern Zahlen. Was nicht ist, ist doch, und wenn es nicht ist, muß es sein. Die Sonne geht im Westen auf, der Mond ist eine Goldader, die Sterne sind aus Rindfleisch gemacht. Skorbut ist ein Segen Gottes, wer stirbt, spukt; die Berge schwimmen, Wasser ist Gas, und ich bin nicht ich, und du bist irgend jemand anders als du, und vielleicht sind wir überhaupt Zwillinge, wenn wir nicht Bratkartoffeln in spinatgrüner Soße sind! – Weck mich auf, lieber Freund, weck mich, wer will! Wenn ich nur wach werde!«

 

 

 

Am nächsten Morgen kam Besuch in die Hütte. Kid kannte den Herrn – es war Harvey Moran, der Inhaber aller Spieltische im „Tivoli“. Es lag etwas wie eine Bitte in seiner tiefen, barschen Stimme, als er auf das Geschäftliche zu sprechen kam.

 

»Die Sache ist die, Kid«, begann er. »Sie haben uns alle aus dem Häuschen gebracht. Ich vertrete neun andere Spieltischbesitzer, also alle Konzessionsinhaber hier in der Stadt. Wir begreifen es einfach nicht. Wir wissen alle, daß es nie ein System gegeben hat, das etwas gegen das Roulett ausrichten konnte. Alle mathematischen Sachverständigen an den Universitäten haben dasselbe gesagt. Sie sagten, daß das Roulett an sich ein System sei, das einzige System, das es von dieser Art gibt, und deshalb könne es von keinem andern System geschlagen werden, denn das würde bedeuten, daß die Algebra zum Teufel gegangen wäre.«

 

Kurz nickte energisch mit dem Kopf.

 

»Wenn ein System ein anderes System schlagen könnte, dann gäbe es gar nicht so was wie ein System«, fuhr der Roulettbesitzer fort. »Dann wäre alles möglich… eine Sache könnte gleichzeitig an zwei Stellen sein, oder zwei Sachen könnten an einer Stelle sein, die eigentlich nur für eine Platz hat.«

 

»Nun gut…«, antwortete Kid überlegen. »Sie haben ja mein Spiel gesehen, und wenn Sie denken, daß es nur eine Glückssträhne ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie sich den Kopf darüber zerbrechen.«

 

»Das ist ja eben das Verfluchte. Wir können nicht anders, als über die Sache nachdenken. Es ist offenbar ein System, das Sie gefunden haben, und doch wissen wir, daß es kein System gibt. Jetzt habe ich Sie fünf Abende lange beobachtet, und alles, was ich herausgekriegt habe, ist, daß Sie einige Nummern vorziehen und daß Sie immer gewinnen. Jetzt haben wir zehn Inhaber uns zusammengetan und wollen Ihnen in aller Freundschaft einen Vorschlag machen. Wir wollen ein Roulett in dem Hinterraum des „Elch“ aufstellen, und dann halten wir die Bank gegen Sie, und Sie sprengen unsere Bank. Es wird ganz privatim und vertraulich sein. Nur Sie, Kurz und wir. Was sagen Sie dazu?«

 

»Ich finde das reichlich umständlich«, antwortete Kid. »Sie können kommen und sehen, wie ich es mache. Ich werde heute abend im Schankraum des „Elch“ spielen. Sie können ja dort ebensogut beobachten wie anderswo.«

 

Als Kid am Abend seinen Platz am Tisch einnahm, hörte der Bankhalter auf zu spielen. »Das Spiel ist geschlossen«, sagte er. »Auftrag des Chefs.«

 

Die versammelten Spieltischbesitzer ließen sich aber nicht so abweisen. Im Laufe weniger Minuten hatten sie eine Bank auf die Beine gestellt. Jeder schoß tausend Dollar ein, und dann übernahmen sie den Tisch.

 

»Jetzt versuchen Sie mal die Bank zu sprengen«, sagte Harvey Moran herausfordernd, als der Bankhalter die Kugel auf ihre erste Rundfahrt sandte.

 

»Räumen Sie mir einen Höchsteinsatz von fünfundzwanzig Dollar ein!« schlug Kid vor.

 

»Selbstverständlich – nur los!«

 

Kid setzte sofort fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero und gewann.

 

Moran wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Immer herein in die gute Stube«, sagte er. »Wir haben zehntausend in die Bank gesteckt.«

 

Nach anderthalb Stunden gehörten die zehntausend Dollar Kid.

 

»Die Bank ist gesprengt«, teilte der Bankhalter mit.

 

»Haben Sie jetzt genug davon?« fragte Kid.

 

Die Spieltischbesitzer sahen sich an. Sie hatten tatsächlich Respekt bekommen; sie, die wohlgenährten Schützlinge der Gesetze des Zufalls, waren endlich einmal klein geworden. Sie hatten einen Gegner gefunden, der entweder mit diesen Gesetzen in besserer Verbindung stand als sie oder höhere und bisher unbekannte Gesetze angerufen hatte.

 

»Wir geben es auf!« sagte Moran. »Bist du einverstanden, Burke?«

 

Der dicke Burke, dem die Spieltische in der Kneipe von M. u. G. gehörten, nickte.

 

»Das Unmögliche ist Tatsache geworden«, sagte er. »Dieser Kid hat ein richtiges System erfunden. Wenn wir ihn weitermachen lassen, plündert er uns alle aus. Wenn wir überhaupt unsere Tische in Betrieb halten wollen, sehe ich keinen anderen Ausweg, als daß wir die Höchstgrenze der Einsätze auf einen Dollar oder auf zehn Cent oder gar auf einen Cent herabsetzen. Bei den Sätzen kann er an einem Abend nicht viel gewinnen.«

 

Alle sahen Kid erwartungsvoll an. Er zuckte die Achseln.

 

»In diesem Falle würde ich eine ganze Bande von Leuten anstellen, um an Ihren Tischen zu spielen. Ich kann ihnen zehn Dollar für vier Stunden zahlen und noch gut dabei verdienen.«

 

»Dann müssen wir einfach unsere Läden zumachen«, antwortete der dicke Burke. »Wenn Sie nicht…«, er zögerte und ließ seine Augen über die Gesichter seiner Kollegen schweifen, um festzustellen, ob sie mit ihm einig wären, »wenn Sie nicht bereit sein sollten, die Sache von einem rein geschäftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Zu welchem Preis wollen Sie Ihr System verkaufen?«

 

»Für dreißigtausend«, antwortete Kid. »Das macht nur dreitausend Dollar für jeden.«

 

Sie besprachen seinen Vorschlag miteinander und nickten dann zustimmend.

 

»Und Sie werden uns Ihr System verraten?«

 

»Selbstverständlich.«

 

»Und Sie werden uns versprechen, in Dawson nicht mehr Roulett zu spielen?«

 

»Fällt mir gar nicht ein«, erklärte Kid bestimmt. »Aber ich will versprechen, nicht mehr nach diesem System zu spielen.«

 

»Gott bewahre«, rief Moran entsetzt. »Sie haben also noch andere Systeme erfunden?«

 

»Einen Augenblick«, rief Kurz. »Ich muß mit meinem Partner sprechen. Komm mal, Kid… gehen wir ein bißchen abseits.«

 

Kid folgte ihm in eine ruhige Ecke der Schankstube, während Hunderte von neugierigen Blicken ihn und Kurz betrachteten.

 

»Hör mal, Kid…«, flüsterte Kurz mit seiner heiseren Stimme, »vielleicht ist es doch kein Traum. Und in dem Falle würdest du wahnsinnig sein, es so billig zu verkaufen. Du hast die Kerle jetzt da, wo du sie haben wolltest. Es stecken Millionen in dieser Sache. Aber quetsch‘ sie bis aufs Blut, bis aufs Blut, Kid!«

 

»Aber wenn es doch nur ein Traum wäre?« fragte Kid freundlich.

 

»Dann mußt du um des Traumes und des heiligen Michaels willen eine tüchtige Menge Pinke aus den verfluchten Spieltischbesitzern herausquetschen. Was, zum Deibel, hilft dir alles Träumen, wenn du dich nicht zu dem richtigen, wirklichen, todsicheren, endgültigen Schluß durchträumen kannst?«

 

»Gott sei Dank ist es kein Traum, Kurz.«

 

»Dann verzeih ich’s dir nie, wenn du die Sache für dreißigtausend abgibst.«

 

»Wenn ich sie für dreißigtausend verkaufen kann, wirst du mir um den Hals fallen, wach werden und feststellen, daß du gar nicht geträumt hast. Es ist nämlich kein Traum, Kurz. In einigen Minuten wirst du entdecken, daß du die ganze Zeit wach gewesen bist. Ich will dir was sägen: Wenn ich es jetzt für dreißigtausend verkaufe, dann tue ich es, weil ich muß.«

 

Als Kid an den Tisch zurückgekehrt war, teilte er den Spielbesitzern mit, daß er an seinem Angebot festhalte. Sie wollten ihm Anweisungen über je dreitausend Dollar geben.

 

»Verlange gleich Goldstaub«, riet ihm Kurz.

 

»Ich möchte bemerken, daß ich den Betrag nur in Goldstaub nehme«, sagte Kid.

 

Der Besitzer des „Elch“, bekam die Anweisungen, und Kid nahm den Goldstaub in Empfang.

 

»Jetzt will ich gar nicht mehr aufwachen«, kicherte er, als er das Gewicht der einzelnen Beutel nachprüfte. »Alles in allem macht es ungefähr siebzigtausend Dollar. Es ist ein teurer Spaß geworden, jetzt die Augen aufzumachen, aus den Decken zu kriechen und das Frühstück zuzubereiten.«

 

»Worin besteht nun Ihr System?« fragte der dicke Burke. »Wir haben jetzt bezahlt, und wir wollen es auch haben.«

 

Kid führte sie an den Tisch zurück.

 

»Jetzt, meine Herren, müssen Sie ein bißchen Geduld haben. Es ist kein gewöhnliches System. Es kann vielleicht kaum ein gesetzmäßiges System genannt werden, aber sein großer Vorteil liegt darin, daß es Erfolg bringt. Ich hege freilich gewisse Zweifel, aber darauf kommt es ja nicht an. Sie werden selbst sehen. Herr Bankhalter, wollen Sie sich bereit halten! Warten Sie, bitte, ich werde „26“ nehmen. Denken Sie, daß ich darauf setze! Halten Sie sich bereit… jetzt!«

 

Die Kugel wirbelte über das Rad.

 

»Sie haben wohl bemerkt, daß „9“ gerade gegenüberliegt.«

 

Die Kugel blieb auf „26“ liegen.

 

Der dicke Burke fluchte kräftig in den Bart hinein.

 

Alle warteten gespannt.

 

»Wenn Doppelzero gewinnen soll, muß „11“ gegenüberliegen. Versuchen Sie es bitte selbst…«

 

»Aber das System?« fragte Moran ungeduldig. »Wir wissen schon, daß Sie die Nummern finden können, die gewinnen, und wir wissen selbst, was die Nummern bedeuten… aber wie machen Sie das?«

 

»Indem ich mir die Reihenfolge gemerkt habe. Durch einen Zufall bemerkte ich zweimal, wie die Kugel lief, wenn „9“ gegenüberstand… beide Male gewann „26“. Dann sah ich, daß es sich wiederholte. Weiter beobachtete ich andere Reihenfolgen und stellte sie allmählich fest. Wenn Doppelzero gegenüberliegt, gibt es „32“, und „11“ gibt Doppelzero. Es gelingt nicht immer, aber meistens. Sie werden bemerkt haben, daß ich meistens sage. Wie ich vorhin schon sagte, hege ich einen gewissen Verdacht, aber ich will ja nichts behaupten…«

 

Plötzlich schien dem dicken Burke ein Licht aufzugehen, und er beugte sich über den Tisch, brachte das Rad zum Stillstand und untersuchte es eingehend. Die Köpfe der neun anderen Spieltischbesitzer beugten sich ebenfalls vor, und alle beteiligten sich eifrig an der Untersuchung. Dann richtete sich der dicke Burke wieder auf und warf einen schnellen Blick auf den Ofen, der ganz in der Nähe stand.

 

»Tod und Teufel!« sagte er. »Es war überhaupt kein System. Der Tisch steht nur zu nahe am Feuer, und das verfluchte Rad ist infolge der Wärme verbogen. Und wir sind gründlich hereingefallen! Kein Wunder, daß er immer diesen Tisch nahm! An den anderen Tischen wäre es ihm schwergeworden, die Bank zu sprengen!«

 

Harvey Moran atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Na, Gott sei Dank!« sagte er. »Und eigentlich ist es nicht teuer bezahlt, wenn festgestellt ist, daß es kein System war.« Sein Gesicht begann zu zucken, und dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. Er schlug Kid freundlich auf die Schulter und sagte: »Kid, Donnerwetter, Sie haben uns einen Schrecken eingejagt! Und dabei haben wir uns schon beglückwünscht, daß Sie unsere Tische in Ruhe ließen! Hören Sie, ich habe einige Flaschen richtigen Schum gekriegt, denen werde ich den Hals abschlagen, wenn ihr mit mir ins „Tivoli“ gehen wollt.«

 

Als sie später zu ihrer Hütte zurückgekehrt waren, zählte Kurz die gesamten Beutel mit Goldstaub nach und prüfte ihr Gewicht. Dann stellte er sie in Reih und Glied auf den Tisch, setzte sich auf den Bettrand und begann sich die Mokassins auszuziehen. »Siebzigtausend«, rechnete er nach. »Und sie wiegen dreihundertfünfzig Pfund. Und alles nur dank einem verbogenen Rad und einem scharfen Blick! Kid, du frißt sie roh, du frißt sie bei lebendigem Leibe, du schwimmst unter Wasser! Du hast mir’s nach allen Regeln der Kunst gegeben; aber doch weiß ich, daß es ein Traum ist. Es ist nur ein Traum, daß das Gute in Erfüllung geht. Ich hab‘ verdammt wenig Lust, wieder aufzuwachen. Ich hoffe sogar, daß ich nie aufgeweckt werde.«

 

»Nur Mut!« antwortete Kid. »Du wachst nicht auf. Es gibt eine ganze Menge Philosophen, die der Ansicht sind, daß wir Menschen alle Schlafwandler sind. Du befindest dich also in der besten Gesellschaft.«

 

Kurz stand auf, trat an den Tisch, wählte sich den schwersten Beutel aus und wiegte ihn in seinen Armen, als wäre er ein Wickelkind.

 

»Mag sein, daß ich ein Schlafwandler bin«, sagte er, »aber jedenfalls befinde ich mich – wie du sagst – in verflucht guter Gesellschaft.«