Kapitel 5

 

Kid hatte noch nicht die lächerliche Grundstücksgesellschaft Tra Li gegründet und weder das historische Geschäft in Eiern gemacht, das den Swiftewater-Bill beinahe an den Bettelstab brachte, noch das Hundewettrennen den Yukon hinab um einen Preis von einer runden Million gewonnen, als er und Kurz sich eines Tages am oberen Klondike voneinander verabschiedeten. Kurz sollte den Klondike hinabfahren, um in Dawson einige Mutungen auf Goldclaims anzumelden, die sie abgesteckt hatten. Kid fuhr mit seinem Hundegespann südwärts. Er wollte den Überraschungssee und die mystischen „Zwei Hütten“ finden. Er hatte die Absicht, an den Quellen des Indianerflusses vorbei, durch eine bisher unbekannte Gegend und über die Berge nach dem Stewart zu gehen. Das Gerücht erzählte, daß irgendwo dort herum in einem Rahmen von zackigen Bergen und Gletschern der Überraschungssee läge, dessen Grund, wie berichtet wurde, ganz mit Gold gepflastert war. Vor langer Zeit sollten Jäger – Männer, deren Namen in den Wäldern längst in Vergessenheit geraten waren – in die eisigen Gewässer des Sees hineingesprungen und mit Goldklumpen in den Händen wiederaufgetaucht sein. Zu verschiedenen Zeiten hatten kleine Scharen von den alten Pionieren den Versuch gemacht, die unwirtliche, undurchdringliche Gegend zu durchqueren und den goldenen Grund des Sees zu untersuchen. Allen war das Wasser jedoch gefährlich kalt erschienen. Einzelne hatten zwar den kühnen Versuch gemacht zu tauchen, sie waren aber im Wasser vom Tod ereilt und leblos an Land gezogen worden. Andere waren der Erschöpfung erlegen. Und einer, der ebenfalls getaucht war, kam überhaupt nie wieder zum Vorschein. Die Überlebenden hatten sich alle entschlossen, wieder zurückzukehren, um den See trockenzulegen, aber keinem von ihnen war es gelungen. Stets waren ihnen tödliche Unfälle zugestoßen. Ein Mann war in ein Luftloch unterhalb Forty Miles gefallen. Ein zweiter wurde von seinen Hunden getötet und gefressen. Ein dritter von einem stürzenden Baum erschlagen. Solche Gerüchte umwoben den Überraschungssee mit einem sagenhaften Schein von Zauber und Spuk. Keiner wußte jetzt genau, wo er überhaupt lag. Und das Gold blieb in seiner Tiefe liegen, da keiner sich getraute, ihn trockenzulegen.

 

Die Lage der ebenfalls von Legenden umworbenen „Zwei Hütten“ ließ sich leichter feststellen. Wenn man vom Stewart fünf Tage lang den MacQuestion hinaufreiste, kam man zu zwei alten Hütten. So alt waren sie, daß sie schon vor der Ankunft der ersten bekannten Goldjäger im Yukon-Land erbaut sein mußten. Umherstreifende Elchjäger, die auch Kid getroffen und gesprochen hatte, behaupteten, daß sie die beiden Hütten schon vor vielen Jahren gefunden, aber vergebens die Minen gesucht hätten, die diese Abenteurer einer vergangenen Zeit doch bearbeitet haben mußten.

 

»Mir wäre es am liebsten, wenn du mit mir gehen würdest«, klagte Kurz, als sie Abschied nahmen. »Weil sich dir der Indianerfluß aufs Gehirn geschlagen hat, brauchst du dich doch nicht gleich solchen Gefahren auszusetzen. Es steht nun mal fest, daß es eine verfluchte Gegend ist, wo du hinwillst. Es ist kein Zweifel, daß es da vom Morgen bis zum Abend spukt, jedenfalls nach allem, was wir beide gehört haben.«

 

»Schon gut, Kurz. Ich will nun mal die Fahrt machen, und in sechs Wochen bin ich wieder in Dawson. Die Fährte am Yukon ist getreten, und die ersten hundert Meilen etwa den Stewart hinauf wohl auch. Alte Leute vom Henderson haben mir erzählt, daß einige Trupps mit Ausrüstungen letzten Herbst hinaufgereist sind, nachdem der Fluß zugefroren war. Wenn ich ihre Spur treffe, werde ich ihnen mit einer Schnelligkeit von dreißig bis vierzig Meilen täglich folgen können. Ich denke, daß ich in einem Monat zurück sein kann, wenn ich erst mal so weit bin.«

 

»Ja, wenn du erst so weit bist, aber die Frage, ob du so weit kommst, ist es ja eben, die mir so viel Sorge macht. Nun, es hilft ja nichts! Also auf Wiedersehen, Kid! Halt deine Augen gut offen und nimm dich in acht vor diesem Spuk. Und schäme dich nicht umzukehren, auch wenn du nichts mitbringst.«

 

Eine Woche darauf befand sich Kid zwischen den unregelmäßigen Gebirgsketten südlich des Indianerflusses. Auf der Wasserscheide des Klondike ließ er den Schlitten zurück und belud die Wolfshunde mit dem Proviant. Jedes der sechs großen Tiere trug fünfzig Pfund, und er selbst hatte ein ähnliches Bündel auf dem Rücken. Dann nahm er seinen Weg durch den weichen Schnee, den er mit seinen Schneeschuhen festtrat, und in einer langen Reihe folgten ihm die Hunde mit ihren schweren Lasten.

 

Er liebte dieses einsame Leben, liebte den kalten arktischen Winter, die schweigsame Wildnis, die unendlichen Schneefelder, die keines Menschen Fuß je betreten hatte. Um ihn erhoben sich die eisbekleideten Bergesgipfel, die keine Namen trugen und auf keiner Karte verzeichnet waren. Nirgends sah er den Lagerrauch eines Jägers in der stillen Luft der Täler in den klaren Himmel steigen. Nur er allein bewegte sich durch die unendliche Stille, die über der weiten, sonst von keinem Menschenfuß betretenen Einöde brütete. Aber diese Einsamkeit bedrückte ihn nicht. Er liebte alles hier. Liebte die Arbeit des Tages, das Kläffen der Wolfshunde, das Lagern im langen Zwielicht, die zitternden Sterne am Himmel und die flammende Pracht des Nordlichts.

 

Besonders liebte er sein Lager, wenn der Tag zu Ende ging. Es bot ihm dann ein Bild, das er sich stets zu malen sehnte und von dem er wußte, daß er es nie in seinem Leben vergessen würde: die festgetretene Stelle im Schnee, wo das Feuer brannte, sein Schlafplatz, der aus einigen über frisch abgeschlagene Fichtenzweige ausgebreiteten Hasenfellen bestand, der von einer Persenning gebildete Windschutz, die in der Weise ausgespannt war, daß sie die Hitze des Feuers auffing und zurückwarf, die von Ruß geschwärzte Kaffeekanne und der an einer langen Stange befestigte Kochtopf, die Mokassins, die auf kleinen Stöcken aufgehängt wurden, um am Feuer zu trocknen, die Schneeschuhe, die aufrecht in den Schnee gesteckt waren. Und um das Feuer herum lagen die Wolfshunde, die sich so nahe wie möglich an die Wärme drängten, sehnsüchtig und eifrig, die zottigen Pelze vom Reif bedeckt, die buschigen Ruten um die Füße gelegt, um sie gegen die Kälte zu schützen. Und rings um das Ganze, nur um ein kleines Stück vom Lichtschein zurückgedrängt, die Mauer der Dunkelheit, die ihn umgab.

 

In solchen Augenblicken erschienen ihm San Franzisko, die Woge und O’Hara unendlich fern, in eine unbeschreiblich ferne Vergangenheit gebannt – nur Schatten von Träumen, die nie Wirklichkeit wurden. Es wurde ihm schwer zu glauben, daß er je ein anderes Leben als dieses wilde, freie geführt hatte, und noch schwerer fiel es ihm, sich mit der Tatsache auszusöhnen, daß er einst seine Zeit und Kraft in dem Bohèmeleben einer großen Stadt verschwendet hatte. Jetzt, da er allein war und niemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, dachte er über vieles nach, dachte tief und einfach. Er erschrak bei dem Gedanken an die Kräftevergeudung, die seine Jahre in der Stadt gekennzeichnet hatte, die billige Oberflächlichkeit aller philosophischen Schulen und Bücher, die zynische Gescheitheit der Ateliers und Redaktionen, die Heuchelei der Kaufleute in den Klubs. Sie alle wußten nicht, was Nahrung, Schlaf und Gesundheit in Wirklichkeit bedeuteten. Sie hatten keine Ahnung, was Hunger war, kannten nicht den gesunden Schmerz körperlicher Müdigkeit, nicht das Rauschen des starken, wilden Blutes, das wie Wein den Körper durchglüht, wenn die schwere Arbeit des Tages vollbracht ist.

 

Und als er noch in der Stadt lebte, lag dieses schöne weiße Land des herben Nordens immer schon da, ohne daß er etwas davon ahnte. Was ihm aber am rätselhaftesten erschien, war doch, daß er, der in so ungewöhnlichem Maße für dieses Leben befähigt war, damals nicht den leisesten Ruf gehört hatte, nicht von selbst fortgezogen war, um dieses Land aufzusuchen. Doch auch dieses Rätsel sollte er lösen, wenn die Zeit kam.

 

»Schau her, Gelbgesicht, jetzt hab‘ ich es!«

 

Der Hund, den er angerufen hatte, hob zuerst die eine, dann die andere Vorderpfote mit einer raschen und doch beherrschten Bewegung, rollte dann wieder seine buschige Rute über die Beine zusammen und grinste ihn über das Feuer an.

 

»Herbert Spencer war fast vierzig Jahre alt, bevor er erkannte, was seine größte Fähigkeit und seine tiefste Sehnsucht war. Ich bin nicht so langsam gewesen. Ich brauchte nicht zu warten, bis ich dreißig wurde, um soweit zu kommen. Denn hier liegt das Gebiet, wo ich mein Höchstes leisten kann und wo meine tiefste Sehnsucht gestillt wird. Und fast wünsche ich, liebes Gelbgesicht, daß ich als ein Wolfsjunges geboren und all meine Tage ein Bruder von dir und den Deinen gewesen wäre.«

 

Tag für Tag wanderte er durch ein Chaos von Cañons und Wasserscheiden, die kein klares topographisches Bild boten. Es sah aus, als hätte ein weltenschaffender Spaßmacher sie hier in übermütiger Laune hingeschleudert. Vergebens suchte er einen Bach oder Nebenfluß, der südwärts nach dem MacQuestion oder dem Stewart führte. Dann kam ein Gebirgssturm, der den Schnee durch diese wirre Anhäufung von hohen und niedrigen Wasserscheiden stieben ließ. Oberhalb der Baumgrenze kämpfte er zwei Tage, ohne Feuer und ohne sehen zu können, in vergeblichem Suchen nach tieferen Regionen. Am zweiten Tage gelangte er an den Rand eines mächtigen schroffen Abhangs.

 

Das Schneegestöber war indessen so dicht, daß er nicht sehen konnte, wie tief der Hang abfiel, und deshalb wagte er nicht hinabzuklettern. Er wickelte sich in seine Pelzdecke und sammelte die Hunde mitten in einer großen Schneewehe dicht um sich, gönnte sich aber keinen Schlaf.

 

Gegen Morgen flaute der Sturm ab, und er kroch aus den Decken, um sich zu orientieren. Eine Viertelmeile weiter abwärts lag unzweifelhaft ein eis- und schneebedeckter See, der von zackigen Bergen umgeben war. Ohne es zu wissen, hatte er den Überraschungssee gefunden.

 

»Der Name ist wirklich sehr zutreffend«, sagte er, als er eine Stunde später am Rande des Sees stand. Eine Gruppe alter Fichten bildete den einzigen Pflanzenwuchs. Auf dem Wege dorthin stolperte er über drei Gräber. Sie waren vom Schnee bedeckt, aber durch Pfähle kenntlich, die jemand mit der Hand zugehauen und mit unleserlichen Inschriften versehen hatte. Am Rande des kleinen Haines lag eine winzige verfallene Hütte. Er öffnete die Tür und trat ein. In einer Ecke lag etwas, das einst eine Schlafstelle aus Fichtenzweigen gewesen, ein Skelett… es war noch in Pelzwerk eingehüllt, von dem nur halbvermoderte Reste übrig waren. – Das ist offenbar der letzte Besucher des Überraschungssees gewesen, dachte Kid, als er einen Goldklumpen vom Boden aufhob, der doppelt so groß wie seine geballte Faust war. Neben dem Goldklumpen stand eine Blechbüchse, die mit rohen Goldklumpen von Walnußgröße gefüllt war – es war leicht zu sehen, daß sie noch nicht ausgewaschen waren.

 

Jetzt erschien ihm alles wahr, was er gehört hatte, und er hegte keinen Zweifel, daß das Gold aus der Tiefe des Sees stammte. Da die Eisdecke so dick war, daß das Wasser nicht ohne besondere Vorkehrungen zu erreichen war, konnte er nichts weiter tun. Gegen Mittag warf er deshalb vom Rande des Abhangs einen letzten Blick auf den geheimnisvollen See, den er gefunden hatte.

 

»Alles sehr schön, mein lieber See«, sagte er. »Du hast ganz recht, wenn du dich hier verbirgst. Aber ich werde wiederkommen und dich trockenlegen – wenn die Gespenster mich nicht erwischen! Ich weiß freilich nicht, wie ich mich hierhergefunden habe, aber meine Fährte wird mir schon zeigen, wie ich dich wiederfinden soll.«

 

Als er vier Tage später ein kleines Tal erreicht hatte, machte er neben dem eisbedeckten Fluß und im Schutz einiger wohlmeinender Fichten Feuer. Irgendwo in der weißen Einöde, die er hinter sich gelassen, lag also der Überraschungssee – irgendwo, aber wo, das wußte er nicht mehr. Mehr als hundert Stunden hatte er sich herumgetrieben und sich durch dichtes Schneegestöber hindurchgekämpft, und nun konnte er seine Fährte nicht wiederfinden. Er hatte deshalb keine Ahnung, in welcher Richtung der See hinter ihm lag. Er konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob Tage oder Wochen vergangen waren. Er hatte mit den Hunden zusammen geschlafen, sich über eine schon vergessene Zahl von kleineren Wasserscheiden gekämpft, war durch unheimliche, gewundene Cañons gezogen, die blind endeten, und hatte zweimal vergebens versucht, ein Feuer zu machen und gefrorenes Elchfleisch aufzutauen. Und jetzt war er also hier, hatte gut gegessen und sich ein angenehmes Lager bereitet. Der Sturm war vorbei. Es war klar und kalt geworden. Die Landschaft hatte wieder ihr normales Gepräge angenommen. Der Bach, an dem er lagerte, sah natürlich aus und lief auch, wie er sollte, nach Süden. Der Überraschungssee war ihm aber ebenso verlorengegangen wie allen andern, die er in vergangenen Tagen gesucht hatte. Als er den Bach einen halben Tag weiter hinabgezogen war, gelangte er in das Tal eines größeren Flusses, der seiner Ansicht nach der MacQuestion sein mußte. Hier erlegte er einen Elch, und jetzt mußten die Wolfshunde wieder Packen mit Lebensmitteln im Gewicht von je fünfzig Pfund tragen. Als er den MacQuestion hinabzog, fand er eine Schlittenfährte. Das letzte Schneegestöber hatte sie verdeckt, aber darunter war sie von denen, die hier gegangen waren, festgetreten. Er zog daraus den Schluß, daß zwei Lager hier am Fluß zu finden sein mußten und daß diese Schlittenspur den Verbindungsweg zwischen ihnen darstellte. Es war klar, daß jemand die „Zwei Hütten“ gefunden hatte, und zwar waren es Leute vom unteren Lager. Er ging deshalb weiter in der Richtung des Flusses. Als er in dieser Nacht lagerte, waren es vierzig Grad Fahrenheit unter Null. Bevor er einschlief, überlegte er sich, was es wohl für Männer sein könnten, die die „Zwei Hütten“ wiederentdeckt hatten, und ob er sie am nächsten Tage ausfindig machen würde. Beim ersten Tagesgrauen war er deshalb wieder auf den Beinen, und ohne Schwierigkeit folgte er der halb verwischten Fährte. Mit den großen Schneeschuhen trat er den losen Schnee fest, so daß die Hunde nicht nötig hatten, hindurchzuwaten.

 

Und dann stürzte sich – an einer Biegung des Flusses – das Unerwartete auf ihn. Ihm schien, als ob er es gleichzeitig hörte und empfand. Der Knall des Stutzens kam von rechts, und die Kugel, die die Schulter seines Drillichüberzuges und seine wollene Jacke durchschlug, versetzte ihm einen so kräftigen Stoß, daß er sich um seine Achse drehte. Er schwankte, da seine Schneeschuhe sich ineinander verwirrt hatten, fand aber das Gleichgewicht wieder. Da hörte er einen zweiten Knall. Diesmal ging die Kugel indessen vorbei. Er wartete keinen weiteren Schuß ab, sondern lief, so schnell er konnte, durch den Schnee den schirmenden Bäumen zu, die hundert Fuß entfernt am Hange standen. Immer und immer wieder knallte die Büchse, und mit Unbehagen stellte er fest, daß ihm etwas Warmes und Feuchtes über den Rücken lief.

 

Er kletterte den Hang hinauf – die Hunde aufgeregt hinter ihm her – und schlüpfte zwischen Bäume und Büsche. Dann band er die Schneeschuhe los, warf sich der Länge nach hin und spähte vorsichtig hinaus. Es war nichts zu sehen. Wer es auch gewesen sein mochte, der ihn angeschossen hatte, jedenfalls lag der Betreffende in Deckung hinter den Bäumen am anderen Ufer.

 

»Wenn nicht bald irgend etwas geschieht, muß ich mich fortschleichen oder ein Feuer machen, sonst erfrieren mir die Füße«, murmelte er vor sich hin, als eine halbe Stunde vergangen war. »Gelbgesicht, was würdest du tun, wenn du hier in der Kälte lägest und merktest, daß der Blutumlauf immer schwächer würde, während ein Mann versuchte, dich niederzuknallen?«

 

Er kroch einige Meter zurück, trat den Schnee fest und führte einen Indianertanz auf, bis er merkte, daß das Blut in seine Füße zurückkehrte, und auf diese Weise hielt er es noch eine halbe Stunde aus. Da hörte er unten vom Fluß das unverkennbare Schellengeläut eines Hundegespannes. Als er hinaus spähte, sah er einen Schlitten um die Flußbiegung schwenken. Nur ein Mann stand darin, der die Steuerstange führte und gleichzeitig die Hunde antrieb. Das plötzliche Erscheinen eines Menschen machte einen tiefen Eindruck auf Kid, der so lange niemanden gesehen hatte. Sein nächster Gedanke galt aber dem vermutlichen Mörder, der sich irgendwo auf dem andern Ufer versteckt hielt.

 

Ohne sich selbst auszusetzen, stieß er einen warnenden Pfiff aus. Der Mann hörte nichts und kam mit rasender Schnelligkeit näher. Wieder pfiff Kid, und diesmal lauter. Der Mann rief seinen Hunden etwas zu und machte halt. Er drehte sich nach der Richtung, wo Kid stand, aber im selben Augenblick knallte ein Schuß. Fast in derselben Sekunde schoß Kid in den Wald hinein, woher der Knall kam. Der Mann am Fluß war indessen schon vom ersten Schuß getroffen worden. Der Schlag der Kugel hatte ihn ins Wanken gebracht. Er taumelte mühselig zum Schlitten. Obgleich nahe am Zusammenbrechen, gelang es ihm, ein Gewehr aus dem Schlitten zu nehmen, wo es unter der Last verborgen lag. Als er sich aber bemühte, es an die Schulter zu bringen, vermochte er sich nicht mehr lange aufrecht zu halten und setzte sich langsam auf den Schlitten. Er konnte nicht mehr genau zielen, und der Schuß ging deshalb in die Luft. Plötzlich fiel er rücklings über das Gepäck am Schlitten nieder, so daß Kid nur die Beine und den Unterkörper sah. Von unten her hörte Kid jetzt das Geläut von mehreren Hundeschellen. Der Mann rührte sich indessen nicht. Drei Schlitten schwenkten um die Biegung des Flusses, von einem halben Dutzend Männern gefolgt. Kid rief ihnen eine Warnung zu, aber sie hatten schon gemerkt, was mit dem ersten Schlitten geschehen war, und eilten deshalb zu ihm hin. Es fiel kein Schuß mehr vom andern Ufer, und Kid befahl deshalb seinen Hunden, ihm zu folgen, und trat aus dem Versteck hervor.

 

Er hörte laute Rufe von den Männern, und zwei von ihnen rissen sich die Fäustlinge von den Händen und warfen ihre Gewehre an die Schulter.

 

»Komm nur her, du blutbefleckter Mörder!« rief einer von ihnen, ein Mann mit einem schwarzen Bart. »Schmeiß deinen Schießprügel in den Schnee.«

 

Kid zögerte einen Augenblick, dann warf er sein Gewehr fort und ging zu ihnen hin.

 

»Untersuch ihn mal, Louis und nimm ihm die Waffen weg!« befahl der Schwarzbärtige.

 

Louis, nach Kids Auffassung ein französisch-kanadischer Schlittenfahrer, gehorchte.

 

Seine Untersuchung brachte lediglich Kids Jagdmesser zum Vorschein, das der Schwarzbärtige zu sich steckte.

 

»Na, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Fremder, bevor ich dich totschieße?« fragte er.

 

»Daß du dich irrst, wenn du glaubst, daß ich den Mann getötet habe«, antwortete Kid.

 

Einer der Schlittenfahrer stieß plötzlich einen lauten Ruf aus. Er war die Fährte entlanggegangen und hatte Kids Fußspuren gefunden, wo dieser die Fährte verlassen hatte, um auf dem Hang Deckung zu suchen.

 

»Warum hast du Joe Kinade getötet?« fragte der Schwarzbärtige.

 

»Ich sage dir ja, daß ich es nicht getan habe«, begann Kid.

 

»Was soll dieses Gerede? Wir haben dich auf frischer Tat ertappt. Da drüben ist die Stelle, wo du die Fährte verließest, als du ihn kommen hörtest. Du lagst oben im Busch und hast ihn ermordet, dein Schuß fiel aus ganz kurzer Entfernung. Du konntest überhaupt nicht vorbeischießen, hol mal den Schießprügel her, den er fortgeworfen hat.«

 

»Laßt mich doch erzählen, wie es zuging«, wandte Kid ein.

 

»Halt das Maul!« schnauzte ihn der Mann an. »Ich denke, dein Gewehr wird die Geschichte schon verraten.«

 

Sie untersuchten Kids Gewehr, nahmen die Patronen heraus und zählten sie. Dann untersuchten sie die Mündung und den Verschluß.

 

»Nur ein Schuß«, entschied der Schwarzbärtige.

 

Pierre roch an dem Verschluß, während seine Nasenflügel wie bei einem Hirsch zitterten und sich blähten.

 

»Erst ganz vor kurzem geschossen«, erklärte er.

 

»Die Kugel ging am Rücken hinein«, sagte Kid. »Er wandte mir das Gesicht zu, als er erschossen wurde. Ihr seht also, daß der Schuß vom andern Ufer gekommen ist.«

 

Der Schwarzbart überdachte einen Augenblick diesen Einwand. Dann schüttelte er den Kopf.

 

»Unsinn, damit kommst du nicht durch. Dreh ihn mal mit dem Gesicht gegen das andere Ufer. Siehst du, so hat er gestanden, als du ihn erschossen hast. Einige von euch könnten ja die Fährte untersuchen, ob ihr einige Spuren nach dem andern Ufer finden könnt.«

 

Sie berichteten gleich darauf, daß der Schnee auf dieser Seite noch völlig unbetreten war. Nicht einmal ein Polarhase hatte sie durchquert. Der Schwarzbärtige beugte sich über den Toten, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen kleinen rauhen wollenen Lappen in der Hand. Er untersuchte ihn und fand darin versteckt die Kugel, die durch den Körper gegangen war. Ihre Spitze war flachgedrückt und hatte die Größe eines Halbdollarstückes. Das stumpfe Ende, das in einer stählernen Hülse steckte, war unbeschädigt. Er verglich sie mit einer Patrone aus Kids Gürtel.

 

»Der Beweis hier genügt, um selbst einen Blinden zu überzeugen, Fremder. Die Kugel hat eine weiche Spitze und eine stählerne Hülse – und deine Kugeln sind von derselben Art. Die Kugel hier ist dreißig, dreißig – deine auch. Die hier stammt von der J.-u.-T.-Waffenfabrik – genau wie deine. Aber jetzt kommst du mit, dann werden wir den Hang hinaufklettern und an Ort und Stelle sehen, wie es vor sich ging.«

 

»Ich wurde ja selbst aus dem Hinterhalt getroffen«, sagte Kid. »Hier können Sie das Loch in meiner Parka sehen.«

 

Während der Schwarzbärtige es untersuchte, öffnete einer der Schlittenfahrer das Gewehr des Toten. Allen war klar, daß er nur den Schuß abgegeben hatte. Die leere Patronenhülse steckte noch in der Kammer.

 

»Ein Jammer, daß der arme Joe dir nicht den Garaus gemacht hat«, erklärte der Schwarzbärtige bitter. »Aber es war immerhin ein ganz feiner Schuß, wenn man das Loch in Betracht zieht, das er selbst bekommen hatte. Also komm mit, du…«

 

»Untersucht doch erst das andere Ufer«, schlug Kid vor.

 

»Jetzt hältst du deine Schnauze und kommst mit. Dann mögen die Tatsachen selbst reden.«

 

Sie verließen die Fährte an der Stelle, wo Kid sie verlassen hatte, und folgten seinen Spuren den Hang hinauf und unter die Bäume.

 

»Hier er tanzen, um Füße warm halten«, zeigte Louis. »Hier er auf Bauche kriechen. Hier Ellbogen stützen beim Schießen.«

 

»Und, bei Gott im Himmel, da liegt sogar die leere Hülse, die er gebraucht hat«, stellte der Schwarzbärtige fest. »Jungens, hier ist nur eins zu tun.«

 

»Erst müßt ihr mich doch fragen, warum ich geschossen habe«, unterbrach ihn Kid.

 

»Und ich haue dir eins in die Visage, daß dir die Zähne zum Hintern hinausfliegen, wenn du die Fresse nicht hältst. Du hast nur die Fragen zu beantworten, die wir stellen. Also, Jungens, wir sind anständige Leute und gehorchen dem Gesetz, und wir werden diese Sache korrekt behandeln. Wie weit, denkst du, sind wir heute gefahren, Pierre?«

 

»Zwanzig Meilen, denke ich.«

 

»Gut, dann errichten wir hier ein Depot von den Ausrüstungen, die wir mitgebracht haben, und schaffen den Kerl da und den armen Joe nach den „Zwei Hütten“ zurück. Ich glaube, wir haben genug gesehen, um zu beweisen, daß er aufgehängt zu werden verdient.«

 

Drei Stunden nach Eintritt der Dunkelheit erreichten der Tote, Kid und seine Wächter die „Zwei Hütten“. Bei dem unsicheren Schein der Sterne konnte Kid ein Dutzend neugebauter Hütten erkennen, die sich um eine größere, ältere Hütte auf einer Ebene am Flußufer scharten. Er wurde in die alte Hütte geworfen und sah, daß sie von einem riesigen jungen Mann, dessen Frau und einem blinden Greis bewohnt war. Die Frau, die der Mann Luzy nannte, war selbst groß und stark; war von dem üblichen Typ, den man in den Grenzbezirken trifft. Der Alte war – wie Kid später erfuhr – in seinen jungen Jahren Trapper am Stewart gewesen und erst im vergangenen Winter völlig erblindet. Er erfuhr ferner, daß das Lager bei den „Zwei Hütten“ von einem halben Dutzend Männern errichtet worden war, die letzten Herbst in ebenso vielen, mit Proviant belasteten Wrickbooten angekommen waren. Sie hatten den blinden Trapper hier vorgefunden und ihre Hütten um die seine herumgebaut. Später Eingetroffene, die mit Hundegespannen über das Eis gezogen waren, hatten die Bevölkerung verdreifacht. Es gab große Vorräte von Fleisch im Lager, und sie hatten Kies gefunden, den sie jetzt auswuschen, wenn er auch freilich nicht viel Gold enthielt.

 

Im Laufe von fünf Minuten hatten sich sämtliche Männer der „Zwei Hütten“ im Raum versammelt. Kid, der an Händen und Füßen mit Riemen aus Elchhaut gebunden war, lag in einer Ecke, wo ihn keiner beachtete, und sah zu. Er zählte im ganzen achtunddreißig Mann, eine wilde, ungehobelte Bande, Leute von der Grenze der Staaten oder Schlittenfahrer aus dem oberen Kanada. Die Leute, die ihn gefangengenommen hatten, gaben immer wieder die Geschichte zum besten, und jeder von ihnen bildete dabei den Mittelpunkt einer aufgeregten, empörten Gruppe.

 

Man hörte murmeln, daß man ihn einfach lynchen sollte… warum, zum Teufel, warten? Und einmal wurde ein großer aufgeregter Irländer nur mit Gewalt daran gehindert, sich auf den wehrlosen Gefangenen zu stürzen, um ihn zu prügeln.

 

Während Kid die Leute zählte, bemerkte er plötzlich ein ihm bekanntes Gesicht. Es war Breck, der Mann, dessen Boot Kid durch die Wasserfälle geführt hatte. Er wunderte sich, daß Breck nicht zu ihm kam und ihn ansprach, ließ sich selbst aber nichts anmerken, daß er ihn erkannt hatte. Als Breck sich dann später umdrehte und ihm heimlich ein Zeichen gab, verstand Kid sein Benehmen.

 

Der Schwarzbärtige, den die anderen Eli Harding nannten, beendete den Streit, ob man Kid sofort lynchen sollte oder nicht.

 

»Hört jetzt auf mit dem Unsinn!« brüllte Harding. »Macht keinen Quatsch! Der Mann gehört mir. Ich habe ihn gefangen und hierhergebracht. Glaubt ihr denn, daß ich ihn den langen Weg nur geschleppt habe, um ihn lynchen zu lassen? Keine Rede davon. Das hätten wir ja auch dort machen können. Ich habe ihn mitgebracht, damit wir ein unparteiisches Urteil fällen, und – bei Gott im Himmel – er soll es auch haben. Er ist gut gebunden, so daß er sich nicht dünnemachen kann. Schmeißt ihn bis morgen früh auf ein Bett, dann werden wir Gericht über ihn halten, wie es sich gehört.«

 

Kid wachte auf, wie er mit gegen die Wand gekehrtem Gesicht auf seinem Bett lag. Ein eisiger Zugwind bohrte sich scharf wie ein Messer von vorn in seine Schulter. Als er hier angebunden wurde, hatte er den Zug nicht gespürt. Da die Luft aber jetzt von draußen mit einem Druck von dreißig Grad Fahrenheit unter Null in die heiße Atmosphäre der Hütte wehte, wurde ihm klar, daß irgend jemand von außen das Moos zwischen den Brettern der Wand ausgezupft hatte. Er schob sich so nahe, wie seine Fesseln es ihm erlaubten, heran und reckte dann den Hals so weit, daß seine Lippen genau die Stelle erreichten, wo der Riß sein mußte. »Wer ist da?« flüsterte er.

 

»Breck«, lautete die Antwort. »Passen Sie auf, daß man Sie nicht hört. Ich werde Ihnen ein Messer hineinstecken.«

 

»Hilft mir nichts«, sagte Kid. »Ich könnte es doch nicht gebrauchen. Die Hände sind mir auf dem Rücken gefesselt und dazu noch an das Bettgestell festgebunden. Außerdem könnten Sie das Messer gar nicht durch das Loch schieben. Aber es muß etwas geschehen. Die Kerle hier haben zweifellos die Absicht, mich aufzuhängen, und ich habe den Mann, wie Sie sich denken können, gar nicht getötet.«

 

»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, Kid. Und wenn Sie es getan hätten, würden Sie Ihre Gründe gehabt haben. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Sie sind eine verfluchte Rasselbande, die Bengels hier! Sie haben sie ja selbst gesehen. Sie sind ganz von der übrigen Welt abgeschnitten und schustern sich ihre eigenen Gesetze zurecht – nach Art von Goldgräbern, verstehen Sie. Sie haben neulich zwei Männer erwischt, Proviantdiebe. Den einen jagten sie zum Lager hinaus, ohne ihm eine Unze Lebensmittel oder nur ein einziges Streichholz mitzugeben. Er kam ungefähr vierzig Meilen weit, dann lebte er noch ein paar Tage, ehe er erfror. Vor zwei Wochen haben sie den zweiten Mann hinausgeworfen. Sie ließen ihm die Wahl: keine Lebensmittel oder zehn Peitschenhiebe für jede Tagesration. Er hielt vierzig Hiebe aus, ehe er ohnmächtig wurde. Und jetzt haben diese Leute Sie gefangen, und alle ohne Ausnahme sind überzeugt, daß Sie Kinade ermordet haben.«

 

»Der Mann, der Kinade tötete, hat auch auf mich geschossen. Seine Kugel machte mir eine Fleischwunde an der einen Schulter.

 

Sorgen Sie nur dafür, daß das Gericht verschoben wird, bis einer dort oben gewesen ist und das Ufer, wo der Mörder sich versteckt hatte, untersucht hat.«

 

»Hilft nichts. Sie stützen sich auf die Aussage Hardings und der fünf Franzosen, die mit ihm waren. Außerdem haben sie noch keinen aufgehängt, und den Spaß möchten sie doch auch erleben. Sie sehen also, daß die Geschichte verdammt dreckig steht. Sie haben keine ordentlichen Goldfunde gemacht und haben es schon satt, nach dem Überraschungssee zu suchen. Die erste Hälfte des Winters gingen sie noch auf die Goldsuche; aber jetzt haben sie schon Schluß damit gemacht. Der Skorbut meldet sich auch schon bei ihnen. Sie brauchen also irgendeine Sensation, um sich aufzupulvern.«

 

»Und da soll ich ihnen das Vergnügen machen«, fügte Kid hinzu. »Sagen Sie mal, Breck, wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, mit so einer gottverlassenen Bande Gold zu suchen?«

 

»Als ich meine Claims am Squawbach richtig in Schuß gebracht und einige Leute dort zum Arbeiten eingestellt hatte, kam ich, auf der Suche nach den „Zwei Hütten“, den Stewart hinauf. Die Leute waren mir indessen zuvorgekommen, und deshalb ging ich den Fluß weiter hinauf. Gestern kam ich zurück, weil ich keinen Proviant mehr hatte.«

 

»Haben Sie etwas gefunden?«

 

»Nicht viel. Aber ich denke, daß ich die Geschichte mit einer hydraulischen Einrichtung machen kann, die ich aufbauen werde, wenn das Land erst zugänglich gemacht ist. Oder ich werde einen. Goldkratzer aufstellen.«

 

»Hören Sie«, unterbrach ihn Kid. »Warten Sie noch einen Augenblick. Ich muß nur etwas überlegen.«

 

Er lauschte sorgfältig auf das Schnarchen der schlafenden Männer, während er den Gedanken erwog, der ihm durch den Kopf geschossen war.

 

»Sagen Sie mal, Breck, haben die Leute hier schon meine Bündel mit Lebensmitteln geöffnet, die die Hunde trugen?«

 

»Nur ein paar davon. Ich war die ganze Zeit dabei. Sie haben sie in Hardings Depot gelegt.«

 

»Haben Sie etwas gefunden?«

 

»Ja, Fleisch!«

 

»Gut. Sie müssen sehen, daß Sie den braunen Leinensack finden, der mit Elchfell geflickt ist. Da werden Sie einige Pfunde Rohgold finden. Sie haben hierzulande noch nie solches Gold gesehen – und auch kein anderer. Und nun hören Sie, was Sie weiter zu tun haben.«

 

Eine Viertelstunde später entfernte sich Breck, nachdem er genau instruiert worden war. Er klagte auch schon, daß seine Füße zu erfrieren begännen. Kids Nase und eine Wange begannen auch zu erfrieren, weil er sie so nahe an die Ritze gehalten hatte; er mußte sie eine halbe Stunde gegen die Decke reiben, bevor das Gefühl, daß das Blut zurückkehrte, ihm die Sicherheit gab, daß seine Haut wieder einmal gerettet war.

 

 

 

»Natürlich bin ich ganz sicher, daß es so ist. Es ist gar kein Zweifel, daß er Kinade getötet hat. Wir haben ja die ganze Geschichte gestern abend gehört! Wozu alles jetzt wiederholen? Ich stimme für schuldig!«

 

So begann die Gerichtsverhandlung gegen Kid. Der gesprochen hatte, war ein schlottriger, harter Mann aus Colorado. Er war offenbar ärgerlich und unwillig, als Harding seinen Vorschlag ablehnte, weil er seinerseits wünschte, daß die Verhandlung in ordentlicher und anständiger Weise vor sich gehen sollte. Harding ernannte darauf einen von ihnen, Shunk Wilson, zum Richter und Leiter der Verhandlung.

 

Die übrige Bevölkerung der „Zwei Hütten“ bildete die Geschworenen. Jedoch wurde, nachdem man über die Sache hin und her geredet hatte, entschieden, daß die Frau, Luzy, nicht berechtigt sein sollte, in der Frage über Kids Schuld oder Unschuld zu stimmen.

 

Während dies vor sich ging, hörte Kid, der auf seinem Lager in der einen Ecke lag, einer Unterredung zu, die Breck flüsternd mit einem Goldgräber führte.

 

»Können Sie mir nicht fünfzig Pfund Mehl verkaufen?«

 

»Sie haben nicht Gold genug, um den Preis zu zahlen, den ich von Ihnen verlange«, lautete die Antwort.

 

»Ich zahle zweihundert.«

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Dreihundert… dreihundertfünfzig…«

 

Als sie bei vierhundert angelangt waren, nickte der Mann und sagte: »Kommen Sie mit in meine Hütte! Dort können Sie den Goldstaub abwiegen.«

 

Die beiden schlichen sich zur Tür und glitten leise hinaus. Einige Minuten darauf kam Breck allein wieder.

 

Harding wollte gerade seine Aussage machen, als Kid sah, daß die Tür sich vorzeitig öffnete und in der schmalen Spalte das Gesicht des Mannes erschien, der das Mehl an Breck verkauft hatte. Er schnitt Gesichter und gab einem im Raum, der nahe am Ofen saß, allerlei merkwürdige Zeichen. Dann stand dieser auf und schob sich zur Tür hin.

 

»Wo gehst du hin, Sam?« fragte Shunk Wilson.

 

»Ich bin gleich wieder da«, erklärte Sam. »Ich muß nur für einen Augenblick hinaus.«

 

Kid bekam Erlaubnis, die Zeugen auszufragen, und er befand sich gerade mitten in einem Kreuzverhör Hardings, als man von draußen das Heulen von Schlittenhunden und das Knirschen von Kufen hörte. Einer, der an der Tür saß, sah hinaus.

 

»Es sind Sam und sein Partner, die mit ihrem Hundegespann nach dem Stewart fahren, was das Zeug nur halten kann«, berichtete der Mann.

 

Eine halbe Minute lang sprach keiner, aber die Männer sahen sich verständnisinnig an. Sie begannen alle nervös und unruhig zu werden. Kid benutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf Breck zu werfen, der sich flüsternd mit Luzy und ihrem Mann unterhielt.

 

»Mach weiter, du«, sagte Shunk Wilson kurz zu Kid. »Und so schnell wie möglich. Wir wissen schon, was du beweisen willst: daß das andere Ufer nicht untersucht wurde. Der Zeuge gibt das auch zu, und wir auch. Aber es war auch nicht nötig. Es führten keine Fußspuren zu dem Hang dort. Der Schnee war ganz unberührt.«

 

»Und es war doch ein Mann auf der andern Seite«, behauptete Kid unerschütterlich.

 

»An dem Strohhalm kannst du nicht lange hängenbleiben, junger Freund. Wir sind nicht so viele hier am MacQuestion, und wir wissen Bescheid, wo jeder von uns sich aufhält.«

 

»Wer war denn der Mann, den ihr vor zwei Wochen aus dem Lager gejagt habt?« fragte Kid.

 

»Alonzo Miramar. Ein Mexikaner. Aber was hat der verfluchte Dieb damit zu tun?«

 

»Nichts, außer daß Sie ihn nicht in Betracht gezogen haben, Herr Richter.«

 

»Er ging den Fluß hinab, nicht hinauf…«

 

»Wie könnt ihr wissen, wo er hinging?«

 

»Ich sah ihn verschwinden.«

 

»Und das ist alles, was ihr von ihm wißt?«

 

»Nein, das ist es nicht, junger Mann. Ich weiß, wir alle wissen, daß er nur für vier Tage Nahrungsmittel und kein Gewehr hatte, um sich Fleisch zu verschaffen. Wenn er nicht die Kolonie am Yukon erreicht hat, muß er längst vorher verreckt sein.«

 

»Ich vermute, daß Sie alle Gewehre, die es in dieser Gegend gibt, kennen«, erklärte Kid mit Nachdruck.

 

Jetzt wurde Shunk Wilson ärgerlich.

 

»Nach deinen Fragen zu urteilen, scheinst du dir einzubilden, daß ich der Gefangene bin und nicht du. Laßt jetzt den nächsten Zeugen hervortreten. Wo ist Franzosen-Louis?«

 

Während Franzosen-Louis nach vorne ging, öffnete Luzy die Tür.

 

»Wohin gehst du?« rief Shunk Wilson ihr zu.

 

»Ich brauche hier wohl nicht sitzen zu bleiben«, antwortete sie höhnisch. »Am allerwenigsten, wenn ich doch kein Stimmrecht habe.«

 

Einige Minuten später ging ihr Mann ihr nach. Der Richter bemerkte es erst, als er die Tür hinter sich zuwarf. »Wer war denn das?« unterbrach er Pierre, der mitten in seiner Aussage war.

 

»Bill Peabody«, antwortete einer. »Er sagte, er wollte seine Frau was fragen und dann gleich wiederkommen.«

 

Aber statt Bills kam Luzy wieder herein. Sie zog ihren Pelz aus und setzte sich wieder wie vorher an den Ofen.

 

»Ich glaube nicht, daß wir noch nötig haben, die übrigen Zeugen zu vernehmen«, sagte Shunk Wilson, als Pierre seine Aussage beendet hatte. »Wir wissen ja, daß sie nur die Tatsachen bestätigen können, die wir bereits gehört haben. Du, Sörensen, geh mal und hol den Peabody wieder herein! Wir werden jetzt abstimmen, ob der Kerl schuldig ist oder nicht. Und dann kannst du, Fremder, ja inzwischen aufstehen und erzählen, wie es deiner Meinung nach zugegangen ist. Um keine Zeit zu verlieren, werden wir dann die beiden Gewehre, die Munition und die zwei Kugeln, mit denen geschossen wurde, herumgehen lassen.«

 

Mitten in seiner Darstellung, wie er nach diesem Teile des Landes gekommen sei, und als er eben beschreiben wollte, wie er plötzlich angeschossen wurde und den Hang hinauffloh, wurde Kid von dem entrüsteten Shunk Wilson unterbrochen.

 

»Junger Mann, was, zum Teufel, erzählst du uns da für Räubergeschichten? Wir verschwenden damit ja bloß die kostbare Zeit. Natürlich hast du das Recht, uns etwas vorzuschwindeln, um deinen Hals zu retten, aber wir haben keine Lust, uns solchen Quatsch vorbeten zu lassen. Das Gewehr, die Munition und die Kugeln, die Joe Kinade getötet haben – alles spricht gegen dich. Na, was ist denn nu wieder los? Mach mal einer die Tür auf!«

 

Die eisige Luft wehte herein und verdichtete sich in dem heißen Raum. Und durch die offene Tür hörte man gleichzeitig das Heulen von Hundegespannen, das immer schwächer wurde, je weiter sie sich entfernten.

 

»Es sind Sörensen und Peabody«, rief einer. »Sie hauen mit den Peitschen auf die Hunde los und fahren den Fluß hinab.«

 

»Da soll doch der leibhaftige Satan…« Shunk Wilson schwieg mit offenem Munde und starrte Luzy an.

 

»Vielleicht können Sie uns eine Erklärung geben, Frau Peabody?«

 

Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen. Shunks zorniger und mißtrauischer Blick schweifte weiter und blieb auf Breck haften.

 

»Und ich denke mir, daß der Fremde da, mit dem Sie so lange geflüstert haben, die Sache erklären könnte, wenn er Lust hätte.«

 

Breck merkte mit Unbehagen, daß alle Blicke sich auf ihn richteten.

 

»Sam hat auch lange mit ihm gequatscht, ehe er vorhin abhaute«, sagte einer.

 

»Sehen Sie mal, Herr Breck«, fuhr Shunk Wilson fort. »Sie haben die Verhandlung hier unterbrochen, und Sie müssen uns erklären, warum Sie das getan haben. Was haben Sie da vorhin geflüstert?«

 

Breck räusperte sich ängstlich und antwortete: »Ich wollte etwas Proviant von ihm kaufen.«

 

»Und womit wollten Sie bezahlen?«

 

»Mit Goldstaub natürlich.«

 

»Wo haben Sie den denn her?«

 

Breck antwortete nicht.

 

»Er ist immer um den Stewart herumgeschlichen und hat geschnüffelt«, gab einer ungefragt zum besten. »Ich stieß vor einer Woche, als ich auf der Jagd war, auf sein Lager. Und ich kann euch sagen, daß er verdammt geheimnisvoll tat.«

 

»Der Staub stammt ja gar nicht dorther«, sagte Breck. »Ich habe es mit einer einfachen Hydraulik geschafft.«

 

»Bringen Sie mal Ihren Beutel und lassen Sie sehen, wie er aussieht, Ihr Goldstaub«, befahl Wilson.

 

»Ich sage Ihnen ja, daß er gar nicht von dort ist…«

 

»Wir wollen ihn trotzdem sehen, verstehen Sie?«

 

Breck tat, als hätte er sich am liebsten geweigert, aber er sah überall nur drohende Gesichter.

 

Widerstrebend begann er in seiner Tasche zu suchen. Als er eine Büchse herausholen wollte, stieß sie gegen etwas in der Tasche, das ein harter Gegenstand zu sein schien.

 

»Nehmen Sie alles heraus«, donnerte Wilson.

 

Und da kam der große Goldklumpen zum Vorschein, ein erstklassiges Ding, gelb wie kein anderes Gold, das die Zuschauer je gesehen hatten. Wilson schnappte nach Luft.

 

Ein halbes Dutzend, das einen schnellen Blick darauf geworfen hatte, stürzte zur Tür. Sie erreichten sie gleichzeitig, und fluchend und keifend schoben und stießen sie einander durch. Der Richter entleerte den Inhalt der Büchse auf den Tisch, aber bei dem Anblick des ungewaschenen Goldklumpens stürzte wieder ein halbes Dutzend zur Tür.

 

»Wo wollt ihr hin?« fragte Harding, als selbst der Richter Shunk Wilson sich anschickte, den andern zu folgen.

 

»Mir meine Hunde holen natürlich.«

 

»Wollt ihr ihn denn nicht aufhängen?«

 

»Das würde jetzt zuviel Zeit nehmen. Er bleibt ja, bis wir wiederkommen. Ich gehe davon aus, daß die Verhandlung für heute geschlossen ist. Jetzt haben wir keine Zeit, hier sitzen zu bleiben.«

 

Harding zögerte noch einen Augenblick. Er warf Kid einen grimmigen Blick zu, sah, wie Pierre Louis von der Tür aus Zeichen machte. Dann warf er noch einen letzten Blick auf den Goldklumpen und faßte einen raschen Entschluß.

 

»Versuch nicht wegzulaufen!« rief er Kid über die Schulter zu. »Außerdem werde ich mir gestatten, mir deine Hunde zu leihen.«

 

»Was ist denn los? Wieder so ein verdammter Wettlauf nach dem Golde?« fragte der blinde Trapper in einem komisch keifenden Falsett, als das Gebrüll der Männer und das Geheule der Hunde vor den Schlitten durch die Stille des Raumes hallten.

 

»Ja, natürlich«, antwortete Luzy. »Ich habe auch nie solch Gold gesehen. Fühl es mal an, Alter!«

 

Sie legten ihm den Goldklumpen in die Hand. Er interessierte sich aber nur wenig dafür.

 

»Das war hier einst ein schönes Pelzland«, klagte er, »bevor diese verflixten Goldsucher kamen und das Wild vertrieben.«

 

Die Tür öffnete sich, und Breck trat ein.

 

»Schön«, sagte er. »Jetzt sind wir vier allein im ganzen Lager. Es sind vierzig Meilen bis zum Stewart, wenn man den Richtweg einschlägt, wie ich es getan habe. Selbst der schnellste Fahrer braucht mindestens fünf oder sechs Tage. Jetzt wird es aber Zeit, daß Sie wegkommen, Kid.«

 

Breck zerschnitt mit seinem Jagdmesser die ledernen Fesseln des andern und warf der Frau einen vielsagenden Blick zu.

 

»Ich hoffe, daß Sie uns keine Schwierigkeiten machen werden«, sagte er mit eindringlicher Höflichkeit.

 

»Wenn ihr schießen wollt«, rief der Alte, »dann, bitte, bringen Sie mich zuerst aus der Hütte.«

 

»Nur los – nehmt keine Rücksicht auf mich«, antwortete Luzy. »Wenn ich nicht gut genug bin, um einen Mann an den Galgen zu bringen, bin ich auch nicht gut genug, ihn festzuhalten.«

 

Kid stand auf und rieb sich die Gelenke, deren Blutumlauf die Fesseln unterbunden hatten.

 

»Ich habe ein Bündel für Sie fertiggemacht«, sagte Breck. »Für zehn Tage Proviant, Decken, Streichhölzer, Tabak, eine Axt und einen Stutzen.«

 

»Nehmen Sie«, ermunterte Luzy Kid. »Bringen Sie sich in Sicherheit, Fremder. Und machen Sie es so schnell, wie es Ihnen der liebe Herrgott erlaubt.«

 

»Ich möchte aber immerhin erst was Ordentliches zu essen haben, ehe ich verdufte«, sagte Kid. »Und wenn ich dann abhaue, werde ich den MacQuestion hinauf- und hinabgehen. Ich möchte, daß Sie mit mir kommen, Breck. Wir wollen das andere Ufer nach dem Kerl untersuchen, der sich dort verborgen hält.«

 

»Wenn Sie auf meinen Rat hören wollen, Kid, so gehen Sie den Stewart und den Yukon hinab«, wandte Breck ein. »Wenn diese Rasselbande von meiner sogenannten Hydraulik zurückkommt, werden sie alle wütend sein.«

 

Kid lachte und schüttelte den Kopf.

 

»Ich will mich nicht aus dem Lande drücken. Ich habe hier jetzt Interessen wahrzunehmen. Ich will hierbleiben und mich rechtfertigen, Breck. Mir kann es ja schnuppe sein, ob Sie mir glauben oder nicht, aber ich habe tatsächlich den Überraschungssee gefunden. Von dort stammt auch das Gold. Außerdem haben die Burschen ja auch meine Hunde genommen, und ich werde hier warten, bis ich sie zurückbekomme. Außerdem weiß ich, was ich will. Es lag ein Mann am andern Ufer verborgen. Er hat fast sein ganzes Magazin auf mich verschossen.«

 

Als Kid eine halbe Stunde später mit einer großen Schüssel Elchbraten vor sich am Tisch saß und gerade eine mächtige Tasse Kaffee an die Lippen führte, sprang er plötzlich auf.

 

Er war der erste, der das Geräusch hörte. Luzy öffnete schnell die Tür.

 

»Tag, Spike, Tag, Methody«, begrüßte sie zwei Männer, die sich, mit Reif bedeckt, um ein schweres Bündel bemühten, das auf ihrem Schlitten lag.

 

»Wir kommen eben vom oberen Lager«, sagte der eine, als sie in die Hütte getreten waren. Sie behandelten das Bündel, das sie mit in den Raum trugen, mit größter Sorgfalt und Vorsicht.

 

»Und das hier haben wir unterwegs gefunden. Ich denke, es ist schon aus mit ihm.«

 

»Legt ihn auf das Bett dort«, sagte Luzy.

 

Sie beugte sich über das Bündel, entfernte das Pelzwerk und enthüllte das Gesicht, das hauptsächlich aus großen, starrenden Augen und aus Haut bestand, die durch die Kälte schwarz und wund geworden war und sich straff über die Knochen spannte.

 

»Das ist ja Alonzo!« rief sie. »Du armer, verhungerter Teufel!«

 

»Das ist der Mann vom anderen Ufer!« sagte Kid leise zu Breck.

 

»Wir fanden ihn, als er gerade ein Depot plündern wollte, das Harding wohl angelegt hat«, erklärte der eine von den beiden Männern. »Er saß da und fraß rohes Mehl und gefrorenen Speck, und als wir ihn erwischten, schrie er und heulte wie ein Habicht. Schaut ihn euch nur an: Er ist ganz verhungert und größtenteils erfroren dazu. Er kann jede Minute verrecken!«

 

 

 

Eine halbe Stunde später legten sie das Pelzwerk über das Gesicht der erstarrten Gestalt im Bett. Dann wandte Kid sich an Luzy und sagte: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Frau Peabody, möchte ich gern noch so ein Beefsteak haben. Aber, bitte, schneiden Sie es nicht zu dünn und braten Sie es vor allem nicht zu sehr durch.«