6 Li Wan Die Schoene

Li Wan, die Schöne

»Die Sonne sinkt, Canim, und die Hitze des Tages ist vorbei!« So rief Li Wan ihrem Manne zu, dessen Kopf in dem Eichhörnchenfellgewand verborgen war, aber sie rief es so leise, als wankte sie zwischen der Pflicht, ihn zu wecken, und der Furcht vor ihm, wenn er erwachte. Denn sie fürchtete ihren großen Gatten, der keinem der Männer glich, die sie je gekannt hatte.

Das Elchfleisch prasselte unruhig über dem Feuer, und sie stellte die Bratpfanne neben die rote Glut. Dabei warf sie einen vorsichtigen Blick auf die beiden Hudsonbuchthunde, von deren scharlachroten Zungen gierig der Geifer troff und die jeder ihrer Bewegungen folgten. Es waren mächtige zottige Gesellen, die auf der vom Winde geschützten Seite des Feuers in dem dünnen Rauch zusammengekauert waren, um den schwärmenden Myriaden von Moskitos zu entgehen. Als Li Wan den Hang hinabblickte, dorthin, wo der Klondike seine angeschwollenen Fluten zwischen den steilen Ufern dahinwälzte, schlängelte sich einer der Hunde wie ein Wurm vorwärts und warf mit einem gewandten, katzenartigen Pfotenschlag ein Stück des heißen Fleisches auf den Boden. Aber Li Wan ergriff ihn auf frischer Tat und gab ihm mit einem Holzscheit einen Schlag über die Schnauze, daß er schnappend und knurrend zurücksprang.

»Nein, Olo«, lachte sie und hob das Fleisch auf, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Du bist immer hungrig, und dann bringt deine Nase dich in endlose Unannehmlichkeiten.«

Aber Olos Kamerad gesellte sich zu ihm, und gemeinsam boten sie der Frau Trotz. Die Haare sträubten sich ihnen auf Rücken und Schultern, sie verzerrten und fletschten die dünnen Lippen und entblößten die grausam drohenden Fleischfresser-Fangzähne. Selbst ihre Nasen zuckten und wanden sich wie die wilden Bestien, und sie knurrten wie Wölfe mit all dem Haß und der ganzen Bosheit ihrer Rasse, bereit, sich auf die Frau zu stürzen und sie zu Boden zu reißen.

»Und du auch, Bash? Du bist so wild wie dein Herr und beugst dich nie der Hand, die dich füttert! Dies ist nicht deine Sache, darum nimm dies! Und das!«

Dies rufend, schlug sie mit dem Scheit nach ihnen, aber sie wichen den Schlägen aus, ohne sich zurückzuziehen. Sie trennten sich und näherten sich je von einer Seite, kriechend und knurrend. Li Wan rang mit dem Wolfshund um die Herrschaft seit der Zeit, da sie zwischen den Fellballen der Teepee herumgezottelt war, und sie wußte, daß eine Krisis bevorstand. Bash hatte haltgemacht, seine Muskeln strafften sich zum Sprunge; Olo kroch noch in Reichweite ihres Schlages.

Sie ergriff zwei qualmende Scheite an den verkohlten Enden und trat den Bestien entgegen. Die eine hielt sich zurück, aber Bash sprang zu, und ihre brennende Waffe traf ihn in der Luft. Ein scharfes Schmerzgeheul ertönte, und der Geruch von verbranntem Haar und Fleisch machte sich bemerkbar, während das Tier in den Schmutz rollte und die Frau ihm die schwelende Asche in den Rachen stieß. Wild schnappend warf er sich beiseite und suchte in fast wahnsinniger Furcht das Weite. Olo hatte schon seinen Rückzug begonnen, als Li Wan ihn an ihre Übermacht gemahnte, indem sie ihm ein schweres Holzscheit in die Rippen jagte. Unter einem Regen von Brennholz zog sich das Paar zurück und begann sich am Rande des Lagerplatzes, abwechselnd wimmernd und knurrend, die Wunden zu lecken.

Li Wan blies die Asche vom Fleisch und setzte sich wieder. Ihr Herz hatte nicht schneller geschlagen, sie war die Zwischenfälle gewohnt, sie gehörten mit zu ihrem täglichen Leben. Canim hatte sich bei dem Lärm nicht gerührt, sondern nur kräftig geschnarcht.

»Komm, Canim!« rief sie. »Die Hitze des Tages ist entschwunden, und der Weg wartet auf uns.«

Das Eichhörnchenfell geriet in Bewegung und wurde durch einen braunen Arm beiseite geworfen. Das Augenlid des Mannes zuckte und senkte sich wieder. – Seine Last ist schwer, dachte sie, und er ist noch müde von der Morgenarbeit.

Ein Moskito stach sie in den Nacken, und sie betupfte sich die ungeschützte Stelle mit feuchtem Lehm aus einem Klumpen, den sie immer zur Hand hatte. Den ganzen Morgen hatten sich Mann und Frau, während sie sich, in eine Wolke dieser Pest eingehüllt, zur Wasserscheide hinaufgeschleppt hatten, mit dieser klebrigen Masse beschmiert, die in der Sonne trocknete und ihre Gesichter mit Lehmmasken bedeckte. Diese Masken sprangen an verschiedenen Stellen durch die Bewegung der Gesichtsmuskeln und mußten beständig erneuert werden, so daß der Niederschlag unregelmäßig stark und von seltsamem Aussehen war.

Li Wan schüttelte Canim sanft, aber anhaltend, bis er völlig erwachte und sich aufsetzte. Sein erster Blick galt der Sonne, und nachdem er die Himmelsuhr befragt hatte, beugte er sich über das Feuer und machte sich gierig über das Fleisch her.

Er war ein großer Indianer, volle sechs Fuß hoch, mit breiter Brust und schweren Muskeln, und seine Augen blickten kühner und zeugten von einer Geisteskraft, wie sie bei seiner Rasse selten ist. Linien, von Energie geprägt, hatten tiefe Furchen in sein Antlitz gegraben und ließen einen Mann erkennen, der gewohnt war, seinen Willen unerschütterlich durchzusetzen und Versuchen, ihn zu durchkreuzen, mit tückischer Grausamkeit zu begegnen.

»Morgen, Li Wan, werden wir ein Festessen haben.« Er saugte einen Markknochen aus und warf ihn den Hunden zu. »In Speck gebratene Pfannkuchen und, was noch besser schmeckt, Zucker…«

»Pfannkuchen?« fragte sie, das Wort neugierig genießend.

»Ja«, antwortete Canim überlegen, »und ich werde dir neue Kochkünste beibringen. Die Dinge, von denen ich spreche, kennst du nicht und vieles andere auch nicht. Du hast deine Tage in einem kleinen entlegenen Winkel verlebt und weißt nichts. Ich aber«, er richtete sich auf und blickte sie stolz an, »ich bin ein großer Wanderer und war überall, selbst unter den Weißen, und ich kenne ihre Gebräuche und die vieler anderer Völker. Ich bin kein Baum, der immer auf demselben Platze steht und nicht weiß, was hinter dem nächsten Hügel liegt; ich bin Canim, das Kanu, geschaffen, hierhin und dorthin zu wandern und die Welt der Länge und Breite nach zu durchreisen und zu durchforschen.«

Sie neigte demütig ihr Haupt. »Es ist wahr. Ich habe alle meine Tage Fisch, Fleisch und Beeren gegessen und in einem kleinen Winkel gelebt. Ich ließ mir nicht träumen, daß die Welt so groß war, bis du mich meinem Volke entführtest und ich auf endlosen Wegen für dich kochte und Lasten trug.« Sie sah plötzlich zu ihm auf. »Sag mir, Canim, hat dieser Weg nie ein Ende?«

»Nein«, antwortete er. »Mein Weg gleicht der Welt, er endet nie. Mein Weg ist die Welt, ich befahre ihn, seit meine Füße mich tragen konnten, und ich werde ihn wandern, bis ich sterbe. Mein Vater und meine Mutter sind vielleicht tot – es ist lange her, seit ich sie sah –, aber ich mache mir nichts daraus. Mein Stamm ist wie der deine. Er bleibt auf demselben Fleck, weit von hier, aber ich mache mir nichts aus meinem Stamm, denn ich bin Canim, das Kanu!«

»Und muß ich, Li Wan, so müde ich bin, immer deinen Weg wandern, bis ich sterbe?«

»Du, Li Wan, bist mein Weib, und das Weib wandert den Weg des Gatten, wohin er auch führt. So ist das Gesetz. Und wäre es nicht so, so würde es doch Canims Gesetz sein, der sich selbst und den Seinen die Gesetze gibt.«

Wieder neigte sie ihr Haupt, denn sie kannte kein anderes Gesetz, als daß der Mann der Herr des Weibes sei.

»Beeile dich nicht«, warnte er sie, als sie die spärlichen Ausrüstungsgegenstände in ein Bündel zusammenzuschnüren begann. »Die Sonne brennt noch heiß, der Weg führt bergab und ist gut.«

Sie ließ gehorsam von ihrer Arbeit und setzte sich wieder.

Canim betrachtete sie mit forschenden Blicken. »Du kauerst nicht nieder wie andere Frauen?« bemerkte er.

»Nein«, sagte sie. »Es ermüdet mich, und ich kann in der Stellung nicht ausruhen.«

»Und warum zeigen deine Füße nicht geradeaus?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie anders als die Füße unserer Frauen sind.«

Ein zufriedenes Leuchten blitzte in seinen Augen auf, sonst aber gab er kein Zeichen.

»Gleich dem anderer Frauen ist dein Haar schwarz; aber weißt du, daß es weich und fein ist, weicher und feiner als das anderer Frauen?«

»Ich habe es bemerkt«, erwiderte sie kurz, denn sie war verwirrt von einer solchen kalten Erwähnung ihrer weiblichen Mängel.

»Es ist jetzt ein Jahr her, seit ich dich deinem Volke entführte«, fuhr er fort, »und du bist noch beinahe ebenso scheu und furchtsam vor mir wie damals, als meine Augen zum ersten Male auf dir ruhten. Woher kommt das?«

Li Wan schüttelte den Kopf. »Ich fürchte mich vor dir, Canim, du bist so stark und fremd. Und dann: Bevor du deine Blicke auf mich warfst, fürchtete ich mich vor allen jungen Leuten. Ich weiß nicht – ich kann nicht sagen… Aber mir scheint, ich weiß nicht wieso, als wäre ich nicht für sie geschaffen, als wäre ich…«

»Nun?« ermutigte er sie, ungeduldig über ihr Stocken.

»Als wären sie nicht von meiner Art.«

»Nicht von deiner Art?« fragte er langsam.

»Ich weiß nicht, ich…« Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich kann nicht in Worte kleiden, was ich empfand. Es war ein Gefühl von Fremdheit in mir. Ich war anders als andere Mädchen, die die jungen Männer im geheimen aufsuchten. Ich konnte mir nichts aus den jungen Männern auf diese Weise machen. Es schien mir, als wäre es ein großes Unrecht, eine schlechte Handlung.«

»Was ist deine früheste Erinnerung?« fragte Canim plötzlich ohne Übergang.

»Pow-Wah-Kaan, meine Mutter.«

»Und nichts vor Pow-Wah-Kaan?«

»Nichts.«

Aber Canim hielt ihren Blick mit dem seinen fest, suchte im Innersten ihrer Seele und sah sie schwanken.

»Denk nach, denk scharf nach, Li Wan!« drohte er. Sie stammelte, und ihre Augen flehten um Mitleid, aber sein Wille beherrschte sie und entrang die Worte ihrem widerstrebenden Munde.

»Aber es waren nur Träume, Canim, böse Träume meiner Kindheit, Schatten unwirklicher Dinge, Gesichte, ähnlich wie Hunde sie wimmernd sehen, wenn sie in der Sommerhitze schlafen.«

»Erzähle von diesen Dingen!« befahl er.

»Es sind vergessene Gedanken«, wandte sie ein. »Als Kind träumte ich wach, die offenen Augen dem Tage zugewandt, und wenn ich von den seltsamen Dingen sprach, die ich sah, lachte man mich aus, und die andern Kinder fürchteten sich und zogen sich vor mir zurück. Und wenn ich von dem, was ich sah, zu Pow-Wah-Kaan sprach, so schalt sie mich aus und sagte, es sei häßlich; sie schlug mich auch deswegen. Es war eine Krankheit, glaube ich, wie die Fallsucht, die alte Männer befällt, und allmählich ging es mir besser, und ich träumte nicht mehr. Und jetzt – kann ich mich nicht mehr darauf besinnen.« Sie hob verwirrt die Hand an die Stirn. »Hier irgendwo stecken sie, aber ich kann sie nicht finden, nur…«

»Nur«, wiederholte Canim und hielt sie fest.

»Nur eines. Aber du wirst über meine Torheit lachen, es ist so unwahrscheinlich.«

»Nein, Li Wan. Träume sind Träume. Sie mögen Erinnerungen an andere Leben sein, die wir lebten. Ich war einst ein Elch. Ich glaube ganz fest, daß ich einst ein Elch war, wenn ich daran denke, was ich in Träumen gesehen und gehört habe.«

Sosehr er sich auch bemühte, sie zu verbergen, offenbarte sich doch eine immer wachsende Ängstlichkeit, aber Li Wan, die nach Worten suchte, in die sie ihre Gedanken kleiden konnte, bemerkte sie nicht.

»Ich sehe einen Platz mit festgestampftem Schnee zwischen den Bäumen«, begann sie, »und im Schnee die Fährte eines Mannes, der sich schwer auf Händen und Füßen weiterschleppt. Und ich sehe auch den Mann im Schnee, und wenn ich ihn sehe, scheint es mir, als sei ich ihm ganz nahe. Er sieht nicht so aus wie andere Männer, denn er hat Haar im Gesicht, viel Haar, und das Haar auf seinem Gesicht und seinem Kopfe ist gelb wie das Sommerkleid eines Wiesels. Seine Augen sind geschlossen, aber sie öffnen sich und suchen umher. Sie sind blau wie der Himmel und schauen in die meinen und suchen nicht mehr. Und seine Hand bewegt sich langsam wie in großer Schwäche, und ich fühle…«

»Nun«, flüsterte Canim heiser. »Du fühlst…«

»Nein, nein!« schrie sie hastig. »Ich fühle nichts. Sagte ich ›fühle‹? Ich meinte es nicht. Es kann nicht sein, daß ich es fühlte. Ich sehe und sehe nur, und alles, was ich sehe, ist – ein Mann im Schnee, mit Augen wie der Himmel und Haaren wie das Wiesel. Ich sah es oft und immer dasselbe – einen Mann im Schnee…«

»Und siehst du dich selber?« fragte er, indem er sich vorbeugte und sie fest anblickte. »Siehst du je dich selber und den Mann im Schnee?«

»Warum sollte ich mich sehen? Bin ich nicht wirklich?«

Seine Muskeln erschlafften, und er ließ sich zurücksinken, mit großer Befriedigung in den Augen, die er von ihr wandte, damit sie sie nicht sähe.

»Ich will dir etwas sagen, Li Wan!« sprach er mit Entschiedenheit. »In einem früheren Leben, als du dies sahst, warst du ein Vögelchen, und die Erinnerung hieran lebt noch in dir. Das ist nicht seltsam. Ich war einst ein Elch, und meines Vaters Vater wurde ein Bär nach seinem Tode, so sagte der Schamane, und der Schamane lügt nicht. So gleiten wir von Leben zu Leben auf den Pfaden der Götter, und nur die Götter wissen und verstehen. Träume und Schatten von Träumen sind Erinnerungen, nichts weiter, und der Hund, der in der Sonnenhitze im Schlafe wimmert, erinnert sich zweifellos längst geschehener Dinge. Bash hier war einst ein Krieger. Ich glaube fest, daß er ein Krieger war.«

Canim warf dem Tiere einen Knochen zu und erhob sich. »Komm, laß uns aufbrechen. Es ist noch heiß, aber es wird nicht kühler werden.«

»Und diese Weißen, wie sind sie?« fragte Li Wan plötzlich.

»Sie sind wie du und ich«, erwiderte er, »nur ist ihre Haut heller. Ehe der Tag stirbt, wirst du bei ihnen sein.«

Canim band seinen Schlafsack an seinen anderthalb Zentner schweren Packen, bestrich das Gesicht mit nassem Lehm und setzte sich, um sich auszuruhen, bis Li Wan die Hunde beladen hatte. Olo kroch beim Anblick des Knüttels in ihrer Hand zusammen und machte keine Schwierigkeiten, als ihm das vierzig Pfund schwere Bündel auf den Rücken geschnallt wurde. Bash jedoch war gekränkt und schlechter Laune und wimmerte und knurrte, als die Last ihm aufgeladen wurde. Er krümmte den Rücken, fletschte die Zähne, als Li Wan die Riemen anzog, während die ganze Heimtücke seiner Natur aus seinen Blicken blitzte, die er ihr von der Seite zuwarf. Und Canim lachte. »Hab‘ ich nicht gesagt, daß du einst ein großer Krieger warst?«

»Diese Felle werden einen guten Preis bringen«, bemerkte er, indem er sich den Kopfriemen zurechtrückte und seinen Packen vom Boden aufhob. »Einen großen Preis. Die weißen Männer zahlen gut für solche Ware, denn sie haben keine Zeit zu jagen und sind zu empfindlich gegen die Kälte. Bald werden wir Festschmaus halten, Li Wan, wie noch nie in allen deinen früheren Leben.«

Sie murmelte ihre Anerkennung für die Leutseligkeit ihres Herrn, schlüpfte ins Geschirr und beugte sich unter der Last vorwärts.

»Das nächste Mal möchte ich als weißer Mann zur Welt kommen«, fügte er hinzu und schwang sich den Weg hinab, der in die Schlucht zu seinen Füßen mündete.

Die Hunde folgten ihm rasch auf den Fersen, und Li Wan schloß den Zug. Aber ihre Gedanken waren weit fort, jenseits der Gletscher im Osten, an dem kleinen Fleckchen Erde, wo sie ihre Kindheit verlebt hatte. Als Kind schon, dessen erinnerte sie sich wohl, hatte man sie stets als etwas Merkwürdiges angesehen, wie eine, die von einem Leid heimgesucht war. Tatsächlich hatte sie wachend geträumt und war gescholten und geschlagen worden wegen der seltsamen Gesichte, die sie hatte, bis sie ihnen mit der Zeit entwachsen war. Aber nicht ganz. Wenn sie sie auch nicht mehr im Wachen beunruhigten, so kamen sie doch, so erwachsen sie auch war, im Schlafe zu ihr, und manche Nacht wurde sie von diesem von flatternden Gestalten erfüllten, unbestimmten sinnlosen Alp bedrückt. Das Gespräch mit Canim hatte sie angeregt, und den ganzen Weg, den unebenen Hang der Wasserscheide hinab, lauschte sie den neckischen Phantasien ihrer Träume.

»Wir wollen verschnaufen«, sagte Canim, als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt und das Bett des Hauptflusses erreicht hatten.

Er stützte seinen Packen auf einen Felsvorsprung, streifte den Kopfriemen ab und ließ sich nieder. Li Wan folgte seinem Beispiel, und die Hunde streckten sich keuchend aus. Zu ihren Füßen rauschte die eisige Flut der Berge, aber sie war schmutzig und mißfarben, als ob jemand die Erde aufgewühlt und das Wasser dadurch verunreinigt hätte.

»Woher kommt das?« fragte Li Wan.

»Weil die Weißen in der Erde arbeiten. Hörst du?«

Er hob die Hand und sie hörten den Klang von Hacke und Spaten und den Ton menschlicher Stimmen. »Sie sind verrückt nach Gold und arbeiten unablässig, um es zu finden. Gold? Das ist etwas Gelbes, wird in der Erde gefunden und gilt als sehr wertvoll. Es dient auch als Wertmesser.«

Aber Li Wans umherschweifende Blicke hatten ihre Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt. Einige Schritte weiter abwärts, halb verborgen hinter einer Gruppe junger Tannen, erhoben sich die Querbalken und das vorspringende Dach einer Hütte. Ein Schauer durchrieselte sie, und all ihre Traumgesichte erhoben sich und regten sich unruhig.

»Canim«, flüsterte sie in Angst und Qual, »Canim, was ist das?«

»Das Zelt des weißen Mannes, in dem er ißt und schläft.«

Sie betrachtete es schweigend, übersah seine Vorzüge mit einem Blick und zitterte wieder bei den unerklärlichen Gefühlen, die es in ihr wachrief.

»Es muß sehr warm bei Frostwetter sein«, sagte sie laut, obgleich ihr war, als ob ihre Lippen fremdartige Laute bilden müßten.

Sie fühlte den Drang, sie zu sprechen, tat es aber nicht, und im nächsten Augenblick sagte Canim: »Es wird Hütte genannt.«

Ihr Herz sprang heftig. Das waren die Laute! Eben das! In plötzlichem Erschrecken sah sie sich um. Wie konnte sie dieses seltsame Wort kennen, ehe sie es noch gehört hatte? Wie konnte das sein? Und dann wußte sie plötzlich, zwischen Furcht und Entsetzen schwankend, daß zum ersten Male in ihrem Leben Sinn und Bedeutung in dem gelegen hatte, was ihre Träume ihr zugeflüstert hatten.

»Hütte«, wiederholte sie bei sich. »Hütte – Hütte.« Ein Gewirr undeutlicher Traumbilder wirbelte um sie auf, bis ihr der Kopf schwirrte und das Herz zu springen drohte. Schatten, Ungewisse Gestalten und unverständliche Gedankenverbindungen flatterten und wirbelten durcheinander, und vergebens suchte sie sie in ihr Bewußtsein zu zwingen und festzuhalten. Denn sie fühlte, daß hier, in diesem Chaos von Erinnerungen, der Schlüssel des Geheimnisses lag; wenn sie ihn nur fassen und halten konnte, so mußte alles klar und verständlich werden.

O Canim! O Pow-Wah-Kaan! O Schatten und Phantome, was bedeutete das alles?

Sprachlos und zitternd wandte sie sich zu Canim. Sie war krank und halb ohnmächtig und konnte nur den berauschenden Tönen lauschen, die in wundersamem Rhythmus aus der Hütte drangen. In ihrer Ekstase schien es ihr, als ob alles sich endlich klären müßte. – Jetzt! Jetzt! dachte sie. Plötzlich wurden ihre Augen feuchte, und Tränen rannen über ihre Wangen herab. Das Geheimnis erschloß sich, aber ihre Schwäche übermannte sie. Wenn sie sich nur noch lange genug aufrecht halten konnte! Wenn nur… Aber die Landschaft senkte und hob sich, und die Hügel schwankten am Himmel auf und nieder, als sie aufsprang und rief: »Väterchen! Väterchen!« Dann schwankte die Sonne, Finsternis schlug sie, und sie fiel kraftlos zwischen den Felsblöcken vornüber.

Canim überzeugte sich, daß ihr Hals nicht durch das schwere Bündel gebrochen war, brummte zufrieden und bespritzte sie mit Wasser aus dem Flusse. Langsam kam sie unter erstickendem Schluchzen zu sich und setzte sich auf.

»Es ist nicht gut, wenn die Sonne einem so heiß auf den Kopf scheint«, meinte er.

Und sie antwortete: »Nein, es ist nicht gut, und die harte Last drückte mich schwer.«

»Wir werden unser Lager aufschlagen, so daß du lange schlafen kannst und wieder zu Kräften kommst«, sagte er freundlich. »Und wenn wir jetzt gehen, werden wir um so eher zur Ruhe kommen.«

Li Wan sagte nichts, gehorsam erhob sie sich, wenn auch schwankend, und jagte die Hunde auf. Mechanisch folgte sie seinen Schritten, und als sie an der Hütte vorbeikam, wagte sie kaum zu atmen. Aber kein Ton drang heraus, obgleich die Tür offenstand und Rauch dem Schornstein aus dünnem Eisenblech entstieg.

An der Wendung des Flusses stießen sie auf einen Mann. Seine Haut war weiß, und er hatte blaue Augen, und für einen Augenblick war es Li Wan, als sähe sie den andern Mann im Schnee. Aber sie sah ihn nur verschwommen, denn sie war schwach und müde von allem, was geschehen war. Dennoch blickte sie ihn neugierig an und blieb neben Canim stehen, um ihn arbeiten zu sehen. Mit einer regelmäßig wiederkehrenden wippenden Bewegung wusch er Sand in einer großen Pfanne, und wie sie sahen, gab er ihr einen gewandten Schwung, daß sich das gelbe Gold in einem breiten Streifen quer über den Boden der Pfanne legte.

»Dieser Fluß ist sehr reich«, erzählte ihr Canim im Weitergehen. »Eines schönen Tages werde ich schon einen ebensolchen Fluß finden, und dann werde ich ein mächtiger Mann.«

Hütten und Menschen wurden zahlreicher, bis sie an eine Stelle kamen, wo der Hauptarm des Flusses vor ihnen lag. Es war ein Schauplatz großer Verwüstung. Überall war die Erde umgepflügt und zerrissen, wie nach einer Titanenschlacht. Wo sich nicht aufgeworfene Kieshügel erhoben, gähnten tiefe Löcher; Risse und Spalten, wo die dicke Erdschicht bis zur Felsunterlage abgeschält war. Der Fluß strömte nicht in seinem Bette, das Wasser war abgedämmt und abgeleitet, sickerte in Senkgruben und tiefgelegene Stellen und wurde, durch riesige Wasserräder gehoben, tausend- und abertausendmal ausgenützt. Die Hügel waren ihrer Bäume beraubt, und ihre bloßgelegten Flanken waren von großen Holzgleitbahnen und Versuchsbohrungen angebohrt und durchlöchert. Und über allem breitete sich wie ein ungeheures Ameisenheer eine Schar von Männern aus – von Männern, die zu den selbstgegrabenen Löchern hinein- und herauskrabbelten und schwitzend an den großen Sandhaufen arbeiteten, die sie in beständiger Bewegung hielten. Männer, so weit das Auge reichte, bis zu den Hängen der Hügel, Männer, die das Antlitz der Natur zerfurchten und zerrissen. Li Wan war entsetzt über diese ungeheure Umwälzung. »Wahrhaftig, diese Männer sind verrückt«, sagte sie zu Canim.

»Was für ein Wunder! Das Gold, nach dem sie graben, ist etwas Großes«, erwiderte er. »Es ist das Größte in der Welt.«

Stundenlang wanderten sie durch dieses Chaos der Habgier, Canim eifrig und aufmerksam, Li Wan schwach und teilnahmslos. Sie wußte, daß sie am Rande der Enthüllung gewesen war, und fühlte, daß sie sich immer noch am Rande der Enthüllung befand, aber die Nervenerregung, die sie durchgemacht, hatte sie ermüdet, und sie wartete passiv auf das Ereignis, das eintreten mußte, ohne daß sie wußte, was es war. Überallher erfaßten ihre Sinne zahllose Eindrücke, und jeder einzelne wurde ihr zu einem wirren Anreiz ihrer erschöpften Einbildungskraft. Irgendwo aus ihrem Innern kam die Antwort auf die sie umgebenden Dinge, vergessene und ungeahnte Zusammenhänge wurden erneuert, und sie wurde dessen in einer schlaffen, gleichgültigen Weise gewahr, ihre Seele war verwirrt, aber sie war den geistigen Anforderungen nicht gewachsen, um die Dinge deuten und verstehen zu können. So trottete sie müde weiter hinter ihrem Herrn her und begnügte sich mit dem Bewußtsein, daß das, was sie erwartete, irgendwo und irgendwie einmal geschehen müsse.

Nachdem der Strom die wahnsinnige Sklaverei der Menschen erduldet hatte, kehrte er schließlich zu seiner alten Art zurück, jedoch völlig beschmutzt und getrübt von seiner Fron, und schlängelte sich träge zwischen den Niederungen und Wäldern dahin, zu denen sich das Tal in der Nähe der Mündung weitete. Hier führte der Boden kein Gold mehr, und die Männer hatten nicht Lust, sich weiterlocken zu lassen. Und hier war es, wo Li Wan, als sie stehenblieb, um Olo mit ihrem Stock anzutreiben, den weichen Silberklang eines Frauenlachens hörte.

Vor einer Hütte saß eine Frau mit schöner Haut und rosig wie ein Kind und lachte mit Grübchen in den Wangen über die Worte einer anderen Frau in der Tür. Aber die sitzende Frau schüttelte die schwere Masse ihres schwarzen, nassen Haares, das unter der warmen Liebkosung der Sonne seine Feuchtigkeit verströmte.

Einen Augenblick blieb Li Wan wie angewurzelt stehen. Da sah sie ein blendendes Aufblitzen und fühlte ein Schnappen, als ob etwas nachgab. Darauf verschwanden die Frau vor der Hütte und die Hütte selbst, die hohen Fichten und der gezackte Horizont, und Li Wan sah eine andere Frau im Scheine einer andern Sonne, die die schwere Masse ihres schwarzen Haares bürstete, und beim Bürsten sang. Und Li Wan hörte die Worte des Liedes und verstand sie und war wieder Kind. Sie hatte eine Erscheinung, in der all die verwirrenden Träume verschmolzen und eins wurden, und Gestalten und Schatten nahmen ihren gewohnten Platz ein, und alles wurde klar und deutlich und wirklich. Viele Bilder rollten vorbei, fremde Szenen und Bäume und Blumen und Menschen, und sie sah sie und kannte sie alle.

»Als du ein Vögelchen warst«, sagte Canim, und seine Augen bohrten sich in die ihren.

»Als ich ein Vögelchen war«, flüsterte sie so schwach und leise, daß er es kaum hörte. Und sie wußte, daß sie log, als sie den Kopf gegen den Riemen stemmte und weiterschritt. Und so seltsam war alles, daß die Wirklichkeit jetzt unwirklich wurde. Die meilenweite Wanderung und das Aufschlagen des Lagers am Flußufer erschienen ihr wie ein Erlebnis in einem Nachtspuk. Sie kochte das Fleisch, fütterte die Hunde und lud die Packen ab wie im Traum und kam erst wieder zu sich, als Canim von seinen nächsten Reisen zu sprechen begann.

»Der Klondike mündet in den Yukon«, sagte er. »Das ist ein mächtiger Strom, größer als der Mackenzie, den du kennst. Dann gehen wir beide, du und ich, nach Fort Yukon hinab. Mit den Hunden im Winter sind es zwanzig Tagemärsche. Dann folgen wir dem Yukon nach Westen – hundert bis zweihundert Tage. Ich habe nie genau gehört, wieviel es sind, aber es ist sehr weit. Und dann endlich kommen wir ans Meer. Du kennst das Meer nicht, so lasse mich denn davon erzählen: Wie ein See zu einer Insel, so verhält sich das Meer zum Festland. Alle Ströme fließen ihm zu, und es ist ohne Ende. Ich habe es in der Hudsonbucht gesehen, und ich werde es noch bei Alaska sehen. Und dann können wir in einem großen Kanu aufs Meer fahren, du und ich, Li Wan, oder wir können dem Lande viele Hundert Tage südlich folgen. Und weiter weiß ich nichts mehr, außer, daß ich Canim, das Kanu, bin, der weit über die Erde wandert und schweift.«

Sie saß lauschend da, und Furcht schlich sich ihr ins Herz, als sie an die grenzenlose Wildnis dachte, in die sie sich stürzen sollte. »Es ist ein schwerer Weg«, war alles, was sie sagte, während sie den Kopf ergeben auf die Knie sinken ließ.

Und dann hatte sie einen prachtvollen Einfall, einen so wunderbaren, daß sie ganz Feuer und Flamme wurde. Sie schritt zum Flusse hinab und wusch sich den getrockneten Lehm vom Gesicht. Und als das Wasser wieder still geworden war, blickte sie lange auf das Spiegelbild ihrer Züge. Jedoch Sonne und Wetter hatten ihre Arbeit getan, und die Rauheit und der Bronzeton ihrer Haut zeigte nicht die Weichheit und die Grübchen eines Kindes. Aber der Einfall war doch prachtvoll, und als sie wieder neben ihren Gatten unter das Schlaffell kroch, war sie immer noch gleich freudig erregt. Wach lag sie da, starrte in den blauen Himmel hinauf und wartete darauf, daß Canim fest eingeschlafen wäre. Als dies geschehen war, kroch sie langsam und vorsichtig fort, stopfte das Schlaffell fest um ihn und stand auf. Als sie den zweiten Schritt tat, knurrte Bash wild. Sie sprach ihm flüsternd zu und blickte auf den Mann. Canim schnarchte tief. Da wandte sie sich um und eilte mit schnellen, geräuschlosen Schritten den Weg, den sie gekommen, zurück.

 

Frau Evelyn van Wyck wollte sich gerade zu Bett begeben. Müde der Pflichten, die das Gesellschaftsleben, ihr Reichtum und ihr Witwentum ihr auferlegten, war sie nach dem Norden gereist und war darauf verfallen, sich in einer gemütlichen Hütte am Rande des Minenlagers häuslich niederzulassen. Mit Hilfe ihrer Freundin und Genossin Myrtle Giddings spielte sie ein erdnahes Leben und pflegte das Primitive mit einer Hingebung, die sie mit ihrer ganzen Verfeinerung würzte.

Sie war bestrebt, sich von den Generationen der überfeinsten Kultur loszureißen, und suchte die enge Verbindung mit der Erde, die ihre Vorfahren längst aufgegeben hatten. Auch geistig glaubte sie aufrichtig, sich der Art des Steinzeitmenschen zu nähern, und gerade jetzt, als sie ihr Haar für die Nacht aufsteckte, frönte sie ihrer Phantasie, indem sie sich eine paläologische Liebeswerbung vorstellte. Die Einzelheiten dieser Phantasie bestanden hauptsächlich aus Höhlenwohnungen und gespaltenen Markknochen, wilden Raubtieren, zottigen Mammuts und Kämpfen mit roh zugehauenen Feuersteinmessern. Aber die Erregung war bezaubernd. Und als Evelyn van Wyck gerade durch die finsteren Laubengänge des Waldes vor den allzu glühenden Angriffen ihres niedrigstirnigen, fellbekleideten Verehrers floh, öffnete sich die Tür der Hütte, ohne daß jemand die Höflichkeit besessen hätte anzuklopfen, und herein trat ein fellbekleidetes wildes Weib.

»Herrgott!«

Mit einem Sprunge, der einer Höhlenbewohnerin Ehre gemacht haben würde, landete Fräulein Giddings hinter dem Tisch. Aber Frau van Wyck wich nicht. Sie bemerkte, daß der Eindringling sich in großer Aufregung befand, und warf einen raschen Blick nach rückwärts, um sich zu vergewissern, daß der Weg zu ihrem Bette frei war, unter dessen Kissen der große Coltrevolver lag.

»Sei gegrüßt, o Frau mit dem wunderbaren Haar«, sagte Li Wan.

Aber sie sagte es in ihrer eigenen Sprache, die nur an einem ganz kleinen Fleckchen der Erde gesprochen wurde, und die beiden Frauen verstanden sie nicht.

»Soll ich Hilfe holen?« fragte Fräulein Giddings zitternd.

»Das arme Geschöpf ist harmlos, glaube ich«, antwortete Frau van Wyck. »Und sieh nur ihre Fellkleider, wie zerlumpt und zerschlissen sie sind. Sie sind sicher einzig in ihrer Art. Ich kaufe sie mir für meine Sammlung. Hol bitte meinen Beutel mit Goldstaub, Myrtle, und die Waagschale.«

Li Wan sah, wie die Lippen die Worte formten, aber die Worte waren unverständlich, und in diesem Augenblick banger Erwartung erkannte sie erst, daß es kein Verständigungsmittel für sie gab. Verzweifelt über ihre Stummheit, brach sie mit weit ausgebreiteten Armen aus: »O meine Schwester!« Die Tränen rannen ihr über die Wangen herab, als sie sich ihnen sehnsüchtig zuwandte, und ihre brechende Stimme verriet den Kummer, dem sie keine Worte zu leihen vermochte. Aber Fräulein Giddings zitterte, und selbst Frau van Wyck war verwirrt.

»Ich möchte leben, wie ihr lebt. Eure Wege sind meine Wege, und unsere Wege sollen eins sein. Mein Gatte ist Canim, das Kanu, und er ist groß und seltsam, und ich fürchte mich. Sein Weg ist die ganze Welt und endet nie, und ich bin müde. Meine Mutter war wie du, und ihr Haar war wie deines und ihre Augen wie deine. Und damals war das Leben freundlich für mich, und die Sonne war warm.«

Demütig kniete sie und beugte das Haupt zu Frau van Wycks Füßen. Aber Frau van Wyck zog, erschrocken über diese Leidenschaftlichkeit, ihre Füße an sich.

Li Wan erhob sich, nach Worten ringend. Ihre stummen Lippen vermochten nicht, das überwältigende verwandtschaftliche Gefühl auszusprechen.

»Handeln? Du handeln?« fragte Frau van Wyck, indem sie nach Art überlegener Menschen gebrochen zu sprechen begann.

Sie berührte Li Wans zerlumpte Felle, um ihren Wunsch anzudeuten, und schüttete für mehrere Hundert Dollar Goldstaub in die Waagschale. Sie rührte in dem Staub und ließ ihn verführerisch durch ihre Finger gleiten.

Aber Li Wan sah nur diese milchweißen, so wohlgeformten Finger, die sich zart zu den rosigen, juwelengleichen Nägeln rundeten. Sie legte ihre eigene Hand daneben, diese verarbeitete, schwielige Hand, und weinte.

Frau van Wyck mißverstand sie. »Gold«, ermunterte sie, »gutes Gold! Du handeln? Du tauschen?« Und sie legte wieder ihre Hand auf Li Wans Fellkleid. »Wieviel? Du verkaufen? Wieviel?« fuhr sie fort und ließ die Hand gegen den Strich der Felle gleiten, um sich zu vergewissern, daß die Säume mit Sehnenfaden genäht waren.

Aber Li Wan war ebenso taub wie stumm, und die Worte der Frau bedeuteten ihr nichts. Verzweiflung über ihren Mißerfolg ergriff sie. Wie sollte sie diesen Frauen verständlich machen, daß sie eine der Ihren war? Sie wußte, daß sie vom selben Stamme, daß sie Blutschwestern waren. Ihre Augen irrten durch das Innere der Hütte und blieben an den weichen Vorhängen, die rings an den Wänden hingen, an den weiblichen Kleidungsstücken, dem ovalen Spiegel und den eleganten Toilettegegenständen haften. Und diese Dinge beunruhigten sie, denn sie hatte ähnliche früher gesehen. Und als sie so darauf blickte, formten ihre Lippen unwillkürlich Laute, die auszusprechen sich ihre Kehle noch zitternd widersetzte. Dann überkam sie ein Gedanke, und sie versuchte sich zu fassen. Sie mußte ruhig sein. Sie mußte sich beherrschen, denn diesmal durfte sie sich keinem Mißverständnis aussetzen, sonst… Und sie rang mit einer Flut unterdrückter Tränen und beruhigte sich.

Sie legte die Hand auf den Tisch, »Tisch«, sagte sie klar und deutlich. »Tisch«, wiederholte sie.

Sie blickte Frau van Wyck an, die zustimmend nickte.

Li Wan frohlockte, beherrschte sich aber mit Anspannung aller Willenskraft und blieb ruhig. »Ofen«, fuhr sie fort. »Ofen.«

Und jedesmal, wenn Frau van Wyck nickte, stieg Li Wans Aufregung. Stammelnd und zögernd, dann wieder in fieberhafter Hast, je nachdem die vergessenen Ausdrücke schnell oder langsam wieder auftauchten, ging sie durch die Hütte und nannte ein Ding nach dem andern beim Namen. Und als sie endlich stehenblieb, tat sie es triumphierend, in aufrechter Haltung und mit zurückgezogenem Kopf, erwartungsvoll, fragend.

»Katze«, sagte Frau van Wyck lachend und buchstabierte nach Kinderart: »Ich – sehe – wie – die – Katze – eine – Maus – hascht.«

Li Wan nickte ernsthaft. Endlich begannen sie zu begreifen, diese Frauen. Ihr Blut färbte den Bronzeton ihrer Haut noch dunkler bei diesem Gedanken, und sie lächelte und nickte noch heftiger.

Frau van Wyck, wandte sich an ihre Freundin. »Ich vermute, sie hat irgendwo ein bißchen Missionserziehung genossen und will sich nun zeigen.«

»Natürlich«, kicherte Fräulein Giddings. »Die kleine Närrin. Ihre Eitelkeit bringt uns noch um unsern ganzen Schlaf.«

»Macht nichts, ich will nun mal die Jacke haben. Wenn sie auch alt ist, so ist es doch ausgezeichnete Arbeit – ein Prachtstück.« Sie wandte sich an ihre Besucherin: »Tauschen? Du? Tauschen? Wieviel? He! Wieviel, du?«

»Vielleicht will sie lieber ein Kleid oder etwas Derartiges haben«, meinte Fräulein Giddings.

Frau van Wyck ging zu Li Wan und machte ihr ein Zeichen, daß sie ihr ihren Morgenrock für die Jacke geben wolle. Um den Abschluß des Handels zu beschleunigen, ergriff sie Li Wans Hand, legte sie zwischen die Spitzen auf ihrem wogenden Busen und rieb die Finger hin und her, damit Li Wan die Feinheit des Stoffes fühlte. Der edelsteinbesetzte Schmetterling jedoch, der das Gewand an dieser Stelle zusammenhielt, war nicht sicher befestigt, und so glitt der Stoff beiseite und entblößte eine feste weiße Brust, die noch nie die Berührung von Kinderlippen gespürt hatte.

Frau van Wyck ordnete ruhig ihr Kleid, aber Li Wan stieß einen lauten Schrei aus und riß und zerrte an ihrem Fellhemd, bis ihre eigene Brust, fest und weiß wie die Evelyn van Wycks, sich enthüllte. Mit unartikuliertem Stammeln und lebhaften Zeichen versuchte sie, ihre Stammesverwandtschaft zu beweisen.

»Ein Mischling«, erklärte Frau van Wyck. »Ich dachte es mir gleich, als ich ihr Haar sah.«

Fräulein Giddings machte eine Bewegung des Abscheus. »Stolz auf die weiße Haut ihres Vaters. Das ist ekelhaft. Gib ihr etwas Evelyn, und laß sie gehen.«

Aber die andere seufzte. »Die Ärmste! Wenn ich nur etwas für sie tun könnte!«

Ein schwerer Fußtritt knirschte draußen im Sand. Dann öffnete sich die Tür der Hütte, und Canim trat ein.

Fräulein Giddings sah sich einem plötzlichen Tode ausgesetzt und schrie, aber Frau van Wyck trat ihm ruhig entgegen.

»Was willst du?« fragte sie.

»Guten Abend«, sagte Canim liebenswürdig und geradezu; dann zeigte er auf Li Wan: »Meine Frau.« Er streckte die Hand nach ihr. aus, aber sie wies ihn zurück.

»Sprich, Canim! Sag ihnen, daß ich…«

»Daß du die Tochter Pow-Wah-Kaans bist? Nein, was geht sie das an? Was sollten sie sich daraus machen? Ich erzähle ihnen lieber, daß du ein schlechtes Weib bist, das sich aus dem Bett des Gatten fortschleicht, wenn der Schlaf schwer auf seinen Augen liegt.«

Wieder streckte er die Hand nach ihr aus, aber sie floh zu Frau van Wyck, warf sich ihr zu Füßen und machte verzweifelte Anstrengungen, ihre Knie zu umklammern.

Die Dame wich zurück und erlaubte Canim mit einem Blick, sich ihrer zu bemächtigen. Er ergriff Li Wan unter den Armen und hob sie auf. Sie kämpfte in wahnsinniger Verzweiflung mit ihm, bis seine Brust vor Anstrengung wogte.

»Laß mich los, Canim«, schluchzte sie.

Aber er drehte ihr Handgelenk, bis sie den Kampf aufgab.

»Die Erinnerungen an die Zeit, da du ein kleines Vögelchen warst, sind allzu stark und verwirren dich«, sagte er.

»Ich weiß es! Ich weiß es!« brach sie aus. »Ich sehe den Mann auf Händen und Knien durch den Schnee kriechen. Und ich bin ein kleines Kind und sitze auf seinem Rücken. Und das war, ehe ich Pow-Wah-Kaan und die Zeit kannte, da ich in einem kleinen Winkel der Erde lebte.«

»Das weißt du«, antwortete er und drängte sie zur Tür, »aber du wirst mit mir den Yukon hinabwandern und wirst vergessen.«

»Nie werde ich es vergessen!« Wie rasend klammerte sie sich an den Türpfosten.

»Dann werde ich dich lehren, zu vergessen, ich, Canim, das Kanu!«

Und mit diesen Worten riß er ihre Finger los und schritt mit ihr den Weg hinab.


7 Der Bund Der Alten

Der Bund der Alten

Vor dem Kriegsgericht stand ein Mann, bei dem es um Leben und Tod ging. Es war ein alter Mann, ein Eingeborener vom Weißfischfluß, der unterhalb des Le-Barge-Sees in den Yukon mündet. Ganz Dawson befand sich in Aufregung, ja, die Bevölkerung längs des Yukons auf tausend Meilen flußauf und – ab. Es war von jeher Brauch bei den land- und seeräuberischen Angelsachsen gewesen, den besiegten Völkern Gesetze zu geben, und oft sind diese Gesetze hart. Aber in Imbers Fall schien das Gesetz einmal unzulänglich und milde zu sein. Wollte man sie mathematisch berechnen, so entsprach die Strafe, die ihn treffen mußte, nicht der Schwere des Verbrechens. Daß er gestraft würde, stand von vornherein fest und konnte nicht bezweifelt werden, aber obwohl das Urteil auf Todesstrafe lauten mußte, besaß Imber ja nur ein einziges Leben, während es sich bei der Anklage gegen ihn um ein Dutzend von Menschenleben handelte.

Tatsächlich klebte das Blut so vieler Menschen an seinen Händen, daß die Zahl seiner Opfer sich nicht genau feststellen ließ. Eine Pfeife am Wegrande rauchend oder am Ofen hockend, machte man lose Überschläge über die Zahl seiner Opfer. Sie waren alle weiß gewesen, die armen Ermordeten, und sie waren einzeln, paar- oder scharenweise erschlagen worden. Und so sinnlos und unüberlegt waren diese Morde gewesen, daß sie der berittenen Polizei lange ein Mysterium gewesen waren, sogar in den Tagen der Kapitäne und später, als die Goldwäsche sich zu rentieren begann und ein Gouverneur von der Regierung geschickt wurde, um das Land für seinen Reichtum bezahlen zu lassen.

Aber noch mysteriöser war, daß Imber nach Dawson kam und sich selbst stellte. Es war spät im Frühling, und der Yukon murrte und wand sich unter seiner Eisdecke, als der alte Indianer mühsam das Flußufer hinaufklomm und blinzelnd an der Hauptstraße stehenblieb. Leute, die ihn hatten kommen sehen, bemerkten, daß er schwach und unsicher auf den Beinen war und daß er zu einem Stapel Bauholz wankte, auf dem er sich niederließ. Hier saß er einen ganzen Tag und starrte geradeaus auf den ununterbrochenen Strom weißer Männer, der vorüberflutete. Mancher Kopf wandte sich neugierig zur Seite, um seinem stieren Blick zu begegnen, und mehr als eine Bemerkung fiel über den Alten. Unzählige Menschen erinnerten sich später, daß die ungewöhnliche Gestalt ihnen aufgefallen war, und brüsteten sich stets damit, daß sie sofort das Seltsame der Erscheinung erkannt hatten.

Aber es war Dickensen, Klein Dickensen, vorbehalten, der Held des Tages zu werden. Klein Dickensen war mit großen Träumen und einer Handvoll Geld ins Land gekommen. Mit dem Gelde waren aber auch die schönen Träume verschwunden, und um den Betrag für die Rückreise nach den Staaten zu verdienen, hatte er eine Stellung bei der Maklerfirma Holbrook & Mason angenommen.

Auf der andern Seite der Straße, gerade gegenüber dem Kontor von Holbrook & Mason, lag der Stapel Bauholz, auf den Imber sich gesetzt hatte. Dickensen sah ihn durch das Fenster, ehe er frühstücken ging, und als er vom Frühstück zurückkam und wieder zum Fenster hinaussah, saß der alte Siwash immer noch da.

Dickensen sah weiter zum Fenster hinaus, und auch er brüstete sich später stets mit seiner schnellen Auffassungsgabe. Er war ein romantisches Kerlchen, und so verglich er den unbeweglichen alten Heiden mit dem Schutzgeist der Siwashrasse, der ruhig auf die Heerscharen der angelsächsischen Eindringlinge starrte. Die Stunden gingen, aber Imber blieb unbeweglich sitzen und regte keinen Muskel, und Dickensen mußte an den Mann denken, der einmal aufrecht auf einem Schlitten in der Hauptstraße gesessen hatte, wo die Leute von allen Seiten vorübergekommen waren. Man hatte geglaubt, daß der Mann sich ausruhe. Als man ihn aber später berührte, fand man, daß er steif und kalt war. Er war mitten in der verkehrsreichen Straße erfroren. Um ihn zu strecken, damit man ihn in den Sarg legen konnte, mußte man ihn erst ans Feuer schleppen und ein bißchen auftauen. Es schauderte Dickensen bei der Erinnerung.

Später trat Dickensen auf die Straße, um eine Zigarre zu rauchen und ein wenig frische Luft zu schnappen, und gleich darauf kam Emily Travis zufällig vorbei. Emily Travis war fein, zart und reizend, und ob sie sich nun in London oder in Klondike befand, so kleidete sie sich stets, wie es sich für die Tochter eines millionenschweren Mineningenieurs geziemte. Klein Dickensen legte seine Zigarre auf den Rand des Fensterrahmens, wo er sie leicht wiederfinden konnte, und lüftete den Hut. Sie hatten sich zehn Minuten unterhalten, als Emily Travis über Dickensens Schulter blickte und erschrocken aufschrie. Dickensen drehte sich um und war auch betroffen. Imber war über die Straße geschritten und stand nun, ein magerer und hungrig aussehender Schatten, da, den Blick auf das junge Mädchen geheftet.

»Was willst du?« fragte Klein Dickensen zitternd, indem er seinen ganzen Mut zusammennahm.

Imber murmelte etwas und trat auf Emily Travis zu. Er betrachtete sie genau und eingehend, als wollte er sich jeden Quadratzentimeter ihrer Gestalt einprägen. Namentlich schienen ihn ihr seidenweiches braunes Haar und die Farbe ihrer Wangen zu interessieren, die, leicht sommersprossig und zart, an den daunigen Reif von Schmetterlingsschwingen erinnerten. Er ging um sie herum und betrachtete sie mit einem berechnenden Blick, als studiere er die Linien im Bau eines Pferdes oder Schiffes. Bei dem Rundgang kam ihre rosige Ohrmuschel zwischen sein Auge und die sinkende Sonne, und er machte halt, um ihre rosenrote Durchsichtigkeit zu betrachten. Dann kehrte er zu ihrem Antlitz zurück und blickte lange und fest in die blauen Augen. Er brummte und legte die eine Hand auf ihren Arm mitten zwischen Schulter und Ellenbogen. Mit der andern Hand hob er ihren Unterarm und bog ihn zurück. Widerwille und Verwunderung zeigten sich auf seinen Zügen, und er ließ den Arm mit verächtlichem Grunzen fallen. Dann murmelte er einige Kehllaute, drehte ihr den Rücken zu und wandte sich an Dickensen.

Dickensen verstand nicht, was er sagte, und Emily Travis lachte. Imber wandte sich von einem zum andern und runzelte die Stirn, aber beide schüttelten den Kopf. Er war im Begriff zu gehen, als sie rief: »He, Jimmy! Komm mal her!«

Jimmy kam von der andern Seite der Straße. Er war ein großer, dicker Indianer, wie ein Weißer gekleidet, mit einem Dorado-Sombrero auf dem Kopf. Er sprach mit Imber, mühselig und mit krampfhafter Heiserkeit. Jimmy war ein Sitkan und kannte die Mundarten des Innern nur oberflächlich. »Ihn Weißfischmann«, sagte er zu Emily Travis. »Mich kennen sein Sprach nicht viel. Ihn sprechen wollen Häuptling von weiße Männer.«

»Den Gouverneur«, ließ Dickensen einfallen.

Jimmy sprach noch etwas mit dem Weißfischmann, und sein Gesicht wurde ernst und bestürzt.

»Ich glauben, ihn fragen nach Käptn Alexander«, erklärte er. »Ihn sagen, ihn töten weiße Männer, weiße Frauen, weiße Knaben, ihn töten viele weiße Leute. Ihn wollen sterben.«

»Wahrscheinlich verrückt«, sagte Dickensen mit einer bezeichnenden Handbewegung.

»Vielleicht, vielleicht«, sagte Jimmy und wandte sich wieder an Imber, der immer noch nach dem Häuptling der weißen Männer fragte.

Ein Polizist trat zu der Gruppe und hörte, wie Imber seinen Wunsch wiederholte. Er war ein handfester junger Bursche, breitschultrig und breitbrüstig, mit festen, etwas gespreizten Beinen, und so groß Imber auch war, war er doch noch einen halben Kopf größer. Seine Augen waren kühl, grau und ruhig, und er trug das eigentümliche Selbstbewußtsein zur Schau, das von edlem Herkommen stammt. Seine prachtvolle Männlichkeit wurde noch betont durch eine ausgesprochene Jungenhaftigkeit – er war blutjung –, und seine glatten Wangen schienen so leicht zu erröten wie die einer Jungfrau.

Imber fühlte sich gleich zu ihm hingezogen. Seine Augen leuchteten beim Anblick einer Säbelhiebnarbe auf seiner Backe. Er ließ seine welke Hand über das Bein des jungen Mannes gleiten und streichelte seine schwellenden Muskeln. Er beklopfte mit den Knöcheln die breite Brust und drückte und betastete die dicke Muskelschicht, die seine Schultern wie ein Harnisch bedeckte. Die Gruppe hatte sich um einige neugierige Passanten vermehrt – rauhe Minenarbeiter, Gebirgs- und Grenzbewohner, Nachkommen langbeiniger und breitschultriger Generationen. Imber sah von einem zum andern und sagte dann laut etwas in der Weißfischsprache.

»Was sagt er?« fragte Dickensen.

»Ihn sagen, das sein ein Mann, das Polizeimann«, erklärte Jimmy.

Klein Dickensen war nur klein, und wegen Fräulein Travis‘ Anwesenheit bereute er seine Frage.

Dem Polizisten tat er leid, und er sprang in die Bresche. »Ich glaube fast, es ist etwas an seiner Geschichte. Ich will ihn mit zum Kapitän nehmen. Sag ihm, daß er mich begleiten soll, Jimmy.«

Jimmy willfahrte dem Wunsche in noch krampfhafteren Kehllauten, und Imber brummte zufrieden.

»Aber frag ihn, Jimmy, was er meinte, als er meinen Arm faßte.«

So sprach Emily Travis, und Jimmy gab die Frage weiter, und er nahm die Antwort entgegen.

»Ihn sagen, du nicht bange«, sagte Jimmy.

Emily Travis sah froh aus.

»Ihn sagen, du nicht skookum, nicht stark, du sehr zart wie ein kleines Kind. Ihn brechen dich mit seinen Händen in Stücke. Ihn finden es sehr komisch, sehr merkwürdig, daß du kannst werden Mutter von Männern so groß, so stark wie Polizeimann.«

Emily Travis blickte nicht fort, aber ihre Wangen färbten sich rot. Klein Dickensen errötete auch und wurde ganz verlegen. Dem Polizisten strömte sein Knabenblut ins Gesicht.

»Komm«, sagte er barsch und bahnte sich einen Weg durch die Menge.

So kam es, daß Imber den Weg nach den Militärbaracken nahm, wo er freiwillig ein umfassendes Geständnis ablegte und von wo er nie zurückkehren sollte.

Imber sah sehr abgespannt aus. Die Ermüdung der Hoffnungslosigkeit und des Alters stand auf seinen Zügen. Seine Schultern hingen, und seine Augen waren glanzlos. Sein wirres Haar hätte weiß sein müssen, aber Sonne, Wind und Wetter hatten es verbrannt und verwittert, so daß es strähnig, leb- und farblos herabhing. Er zeigte keinerlei Interesse für die Vorgänge um ihn her. Der Gerichtssaal war vollgepfropft mit Männern von den Flüssen und Wegen, und in dem leisen Murren und Knurren ihrer Stimmen lag ein unheilverkündender Klang, der in seinen Ohren klang wie das Rauschen des Meeres in tiefen Höhlen.

Er saß dicht an einem Fenster und ließ seine Augen hin und wieder teilnahmslos auf der trüben Szenerie draußen ruhen. Der Himmel war bedeckt, und ein grauer Staubregen fiel. Der Yukon war im Steigen begriffen. Der eisfreie Fluß überschwemmte die Stadt. In der Hauptstraße fuhren die immer rastlosen Menschen in Kanus und Booten hin und her. Meistens sah er, wie diese Boote sich von der Straße seitwärts wandten und auf das überschwemmte Viereck zuhielten, das den Exerzierplatz des Lagers bezeichnete. Zuweilen verschwanden die Fahrzeuge unter ihm, und er hörte, wie sie gegen die Balken des Hauses schrammten und ihre Besitzer durchs Fenster des tiefergelegenen Stockwerks hineinkletterten. Hierauf vernahm er das Plätschern, wenn die Männer im Zimmer darunter durch das Wasser wateten und die Treppe heraufkamen. Dann erschienen sie in der Tür mit gezogenen Hüten und triefenden Schifferstiefeln und schlossen sich der wartenden Menge an.

Und während sie ihre Blicke auf ihn hefteten und in grimmiger Erwartung schon die Strafe genossen, die er erleiden sollte, betrachtete Imber sie und dachte nach über ihre Gebräuche und Gesetze, die niemals schliefen, sondern ununterbrochen wirkten, in guten und schlechten Zeiten, bei Überschwemmung und Hungersnot, in Sorge und Schrecken und Tod, und die unaufhörlich weiterleben würden bis ans Ende aller Tage.

Ein Mann klopfte scharf auf einen Tisch, und die Unterhaltung erstarb. Imber sah den Mann an. Er schien Autorität zu besitzen, aber Imber erriet, daß der Mann mit der vierkantigen Stirn, der an einem Tische weiter hinten saß, der Häuptling über alle, auch über den, der geklopft hatte, war. Ein anderer Mann am selben Tische erhob sich und begann aus vielen Bogen Papier laut vorzulesen. Bei Beginn jedes Bogens räusperte er sich, und am Schlusse feuchtete er sich die Finger an. Imber verstand nicht, was er las, aber die anderen taten es, und Imber sah, daß sie zornig wurden. Zuweilen wurden sie sehr zornig, und einmal fluchte ihm ein Mann, langsam, mit scharf betonten Silben sprechend, brennend und scharf, bis der Mann am Tische ihn durch Klopfen zur Ruhe brachte.

Unendlich lange las der Mann. Seine eintönige, singende Aussprache verlockte Imber zu Träumen, und er träumte tief, als der Mann innehielt. Eine Stimme sprach ihn in seiner eigenen Weißfischsprache an, und er raffte sich auf und erkannte ohne Überraschung den Sohn seiner Schwester, einen jungen Mann, der vor Jahren ausgewandert war, um sich bei den Weißen niederzulassen.

»Du kennst mich nicht mehr?« sagte er statt eines Grußes.

»Doch«, antwortete Imber. »Du bist Howkan, der fortzog. Deine Mutter ist tot.«

»Sie war eine alte Frau«, sagte Howkan.

Aber Imber hörte nicht, und Howkan legte ihm die Hand auf die Schulter und weckte ihn wieder.

»Ich werde dir sagen, was der Mann gesprochen hat: Es ist die Geschichte der Untaten, die du verübt hast, und die du, o Tor, dem Kapitän erzählt hast. Und du wirst erklären, ob es wahr ist oder nicht. So ist es befohlen.«

Howkan war in die Mission geraten, und dort hatte man ihn lesen und schreiben gelehrt. In seinen Händen hielt er die vielen dünnen Bogen, aus denen der Mann vorgelesen hatte und die, als Imber, mit Jimmy als Dolmetscher, sein Geständnis vor Kapitän Alexander abgelegt hatte, von einem Schreiber beschrieben worden waren. Jetzt begann Howkan zu lesen. Imber lauschte eine Weile, dann zeigte sich Erstaunen in seinen Zügen, und er unterbrach ihn schroff.

»Das ist, was ich gesagt habe, Howkan. Aber jetzt kommt von deinen Lippen, was deine Ohren nicht gehört haben.«

Howkan schmunzelte selbstzufrieden. Sein Haar war mitten über der Stirn gescheitelt. »Nein, es kommt aus dem Papier, o Imber. Meine Ohren haben es nie gehört. Es kommt aus dem Papier durch meine Augen in meinen Kopf und aus meinem Munde zu dir. Das ist der Weg, den es geht.«

»Das ist der Weg, den es geht? Und es ist in dem Papier da?« Imbers Stimme senkte sich zu einem ehrerbietigen Flüstern, während er die Bogen zwischen Daumen und Zeigefinger knistern ließ und auf die Schriftzeichen starrte. »Das ist eine große Medizin, Howkan, und du bist ein Wundertäter.«

»Das ist gar nichts, das ist gar nichts«, antwortete der junge Mann nachlässig und stolz. Dann las er aufs Geratewohl einen Satz aus dem Dokument: »In diesem Jahre kam, ehe das Eis brach, ein alter Mann mit einem Knaben, der hinkte. Die tötete ich ebenfalls, und der alte Mann machte sehr viel Lärm…«

»Das ist wahr«, unterbrach Imber ihn atemlos. »Er machte sehr viel Lärm und brauchte lange, um zu sterben. Aber woher weißt du das, Howkan? Hat der Häuptling der weißen Männer es dir vielleicht erzählt? Niemand sah es, und er ist der einzige, dem ich es gesagt habe.«

Howkan schüttelte ungeduldig den Kopf. »Habe ich dir nicht gesagt, daß es auf dem Papier steht, du Narr?«

Imber starrte auf das beschriebene Blatt. »Wie der Jäger den Schnee betrachtet und sagt: Erst gestern ist hier ein Kaninchen vorbeigekommen; hier bei den Weiden machte es halt, lauschte und hörte etwas und wurde bange; hier machte es kehrt und lief zurück; hier machte es schnelle, weite Sprünge, und hier kam ein Luchs mit noch schnelleren und weiteren Sprüngen; hier, wo die Klauen sich tief in den Schnee gegraben haben, machte der Luchs einen sehr weiten Satz, und hier packte er das Kaninchen, und es rollte unter ihn, und hier ist die Spur des Luchses allein und kein Kaninchen mehr – wie der Jäger die Zeichen im Schnee sieht und so und so und hier und da sagt, so siehst du auf das Papier und erkennst die Dinge, die der alte Imber getan hat.«

»Geradeso«, sagte Howkan. »Und nun hör zu und halt deine Weiberzunge zwischen deinen Zähnen, bis man verlangt, daß du sprichst.«

Hierauf las Howkan ihm sein Geständnis vor. Es dauerte lange, und Imber saß nachdenklich und schweigend da. Zuletzt sagte er: »Das ist, was ich gesagt habe, und wahr ist es, aber ich bin alt geworden, Howkan, und mir fallen Dinge ein, die ich vergessen habe und die der Häuptling dort wissen sollte. Erstens war da der Mann, der mit klug erdachten Fallen aus Eisen über die Gletscher kam, der die Biber des Weißfischflusses jagte. Ihn erschlug ich. Und dann waren da drei Männer, die vor langer Zeit am Weißfischfluß Gold suchten. Die tötete ich auch und ließ sie dem Vielfraß. Und bei den Fünf Fingern war ein Mann mit einem Floß und viel Fleisch.«

In den Pausen, die Imber machte, um nachzudenken, übersetzte Howkan, was er gesagt hatte, und ein Schreiber schrieb es nieder. Das Gericht lauschte gespannt auf jede dieser ungeschminkten kleinen Tragödien, bis Imber von einem rothaarigen, schieläugigen Manne erzählte, den er durch einen Schuß auf ungewöhnliche Entfernung getötet hatte.

»Teufel auch«, sagte ein Mann in der vordersten Reihe der Zuhörer. Er sagte es in tiefempfundenem, traurigem Ton. Er war rothaarig. »Teufel auch«, wiederholte er. »Das war mein Bruder Bill.« Und mit regelmäßigen Zwischenräumen hörte man während der ganzen Sitzung sein feierliches »Teufel auch« im Gerichtssaal; er ließ sich weder von seinen Kameraden noch von einem Manne am Tische zum Schweigen bringen.

Imbers Kopf sank wieder herab, und seine Augen wurden trübe, wie von einem Schleier überzogen, der die Welt vor ihm verbarg.

Da weckte Howkan ihn wieder: »Steh auf, o Imber. Es wird befohlen, daß du erzählst, warum du dieses Unheil angerichtet und diese Menschen getötet hast und warum du zuletzt hierhergekommen bist, um das Gesetz zu suchen.«

Imber erhob sich schwerfällig und schwankend. Er begann leise murmelnd zu erzählen, aber Howkan unterbrach ihn.

»Dieser alte Mensch ist ganz verrückt«, sagte er auf englisch zu dem Manne mit der vierkantigen Stirn. »Seine Rede ist töricht und wie die eines Kindes.«

»Wir wollen seine Rede hören, die wie die eines Kindes ist«, sagte der Mann mit der vierkantigen Stirn. »Und wir wollen sie Wort für Wort hören, genau wie er sie spricht. Verstehst du?«

Howkan verstand, und Imbers Augen leuchteten, denn er hatte dies Spiel zwischen seinem Neffen und dem mächtigen Manne verstanden. Und dann begann die Erzählung, das Epos eines bronzefarbigen Patrioten, selbst wert, in Bronze gegossen und für ungeborene Geschlechter aufbewahrt zu werden. Eine seltsame Stille legte sich über die Menge, und der Richter mit der vierkantigen Stirn stützte den Kopf in die Hand und sann nach über seine Seele und die Seele seiner Rasse. Man hörte nichts als die tiefen Laute Imbers, regelmäßig unterbrochen von der schrillen Stimme des Dolmetschers, und hin und wieder wie den Schlag einer tiefen Kirchenglocke das erstaunte und nachdenkliche »Teufel auch« des rothaarigen Mannes.

»Ich bin der Imber vom Weißfischflusse.« So übersetzte Howkan, dessen angeborene Barbarei Macht über ihn gewann und der seine Missionserziehung und seinen Zivilisationsfirnis vergaß, als er von dem wilden Klange und dem Rhythmus der Erzählung des alten Imber gepackt wurde. »Mein Vater war Otsbaok, ein starker Mann. Das Land war warm von Sonnenschein und Frohsinn, als ich Knabe war. Das Volk hungerte weder nach fremden Dingen, noch lauschte es neuen Stimmen, und die Wege seiner Väter waren auch seine Wege. Die Frauen fanden Gnade vor den Augen der jungen Männer, und die jungen Männer blickten mit Zufriedenheit auf sie. Säuglinge hingen an den Brüsten der Frauen, und die Hüften der Frauen waren schwer vom Wachstum des Stammes. Männer waren Männer in jenen Tagen. In Frieden und Überfluß wie in Krieg und Hunger waren sie Männer.

Damals gab es mehr Fische im Wasser als jetzt und mehr Wild im Walde. Unsere Hunde waren Wölfe, warm in ihrem dicken Pelz und abgehärtet gegen Frost und Sturm. Und wie unsere Hunde, so waren auch wir, denn auch wir waren abgehärtet gegen Frost und Sturm. Und als die Pellys in unser Land kamen, töteten wir sie oder wurden getötet. Denn wir waren Männer, wir vom Weißfischvolke, und unsere Väter und die Väter unserer Väter hatten mit den Pellys gekämpft und die Grenzen des Landes festgesetzt.

Ja, wie unsere Hunde, so waren auch wir. Und eines Tages kam der erste weiße Mann. Auf Händen und Knien schleppte er sich über den Schnee. Und seine Haut war straff gespannt, und die Knochen stachen spitz heraus. – Nie hat es einen solchen Mann gegeben, dachten wir, und wir wunderten uns, aus welchem fremden Stamme er sein und wo sein Land liegen mochte. Und er war schwach, sehr schwach, wie ein kleines Kind, so daß wir ihm einen Platz am Feuer und warme Pelze gaben, und wir gaben ihm zu essen, wie man kleinen Kindern zu essen gibt. Und bei ihm war ein Hund, so groß wie drei von unseren Hunden, aber sehr schwach. Das Haar dieses Hundes war kurz und nicht warm, und sein Schwanz war erfroren, so daß die Spitze abfiel. Und diesen fremden Hund fütterten wir und jagten unsere Hunde vom Feuer fort, damit er daran liegen konnte, denn sonst hätten sie ihn getötet. Und das Elchfleisch und der in der Sonne gedörrte Lachs brachten Mann und Hund wieder zu Kräften, und wie die Kräfte kamen, wurden sie groß und unerschrocken. Und der Mann sprach laute Worte und lachte über die alten und jungen Männer und betrachtete die Jungfrauen mit dreisten Blicken. Und der Hund kämpfte mit unsern Hunden, und obwohl er kurzhaarig und weichlich war, biß er drei von ihnen an einem Tage tot.

Als wir den Mann nach seinem Volke fragten, sagte er: ›Ich habe viele Brüder‹, und lachte auf eine Weise, die nicht gut war. Und als er seine volle Kraft wieder hatte, zog er fort, und mit ihm zog Noda, die Tochter des Häuptlings. Dann warf eine unserer Hündinnen. Und nie hat man solche Welpen gesehen – dickköpfig, großmäulig und kurzhaarig und hilflos. Ich entsinne mich deutlich meines Vaters Otsbaok, eines starken Mannes. Sein Gesicht wurde schwarz vor Zorn über solche Hilflosigkeit, und er nahm einen Stein, und gleich darauf gab es keine Hilflosigkeit mehr. Und zwei Sommer darauf kam Noda wieder zu uns mit einem Knaben auf dem Arm. Und so begann es. Dann kam ein anderer weißer Mann mit kurzhaarigen Hunden, die er zurückließ, als er fortzog. Und mit ihm gingen sechs unserer stärksten Hunde, die er von Koo-So-Tee, dem Bruder meiner Mutter, für eine wunderbare Pistole gekauft hatte, die sehr schnell sechsmal hintereinander schießen konnte. Und Koo-So-Tee war sehr stolz auf seine Pistole und lachte über unsere Bogen und Pfeile. ›Weiberkram‹ nannte er sie und trat einem Grislybären mit der Pistole in der Hand entgegen. Nun ist es bekanntlich nicht gut, einen Bären mit einer Pistole zu jagen, aber wie sollten wir das wissen? Und wie konnte Koo-So-Tee das wissen? Also er trat dem Bären keck entgegen und schoß seine Pistole sehr schnell sechsmal ab, aber der Bär brummte nur und erdrückte ihn an seiner Brust, als ob er ein Ei wäre, und wie der Honig aus dem Nest der wilden Bienen, so tropfte Koo-So-Tees Hirn zu Boden.

Er war ein guter Jäger gewesen, und jetzt gab es niemand, der seiner Squaw und seinen Kindern Fleisch bringen konnte. Und wir wurden erbittert und sagten: ›Was gut für die weißen Männer ist, ist nicht gut für uns.‹ Und das ist wahr. Es gibt viele weiße Männer, und sie sind fett, aber ihre Sitten haben uns verzehrt. Es kam der dritte weiße Mann, mit großen Reichtümern an jeder Art, wundersamen Nahrungsmitteln und anderen Dingen. Er erstand zwanzig von unseren stärksten Hunden. Und mit Geschenken und großen Versprechungen lockte er zehn von unsern jungen Jägern mit auf die Reise, von der keiner wußte, wohin sie ging. Es heißt, daß sie im Schnee auf den Eisbergen umkamen, wo nie ein Mensch gewesen ist, oder auf den Hügeln des Schweigens, die hinter dem Ende der Welt liegen. Wie dem auch sein mochte, jedenfalls wurden Hunde und junge Männer nie mehr vom Weißfischvolke gesehen.

Und mit den Jahren kamen mehr weiße Männer, und immer, gegen Bezahlung und Geschenke, nahmen sie junge Männer mit. Und die jungen Männer kehrten zuweilen zurück mit so seltsamen Geschichten über Gefahren und Mühseligkeiten in Ländern, die hinter dem der Pellys lagen, und zuweilen kehrten sie nicht zurück. Und wir sagten: ›Wenn sie sich nicht fürchten, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, diese weißen Männer, so ist es, weil ihrer viele sind; aber wir hier am Weißfischflusse sind unser wenige, und unsere jungen Männer dürfen nicht mehr fortziehen.‹ Aber die jungen Männer zogen weiterhin fort und die jungen Weiber auch, und wir waren sehr zornig.

Wahr ist, wir aßen Mehl und gesalzenen Speck und tranken Tee, was uns großes Vergnügen bereitete; wenn wir aber keinen Tee bekommen konnten, war es sehr schlimm, und wir wurden mürrisch und gerieten schnell in Wut. So sehnten wir uns nach den Dingen, die die weißen Männer uns verhandelten. Handel! Handel! Immer wurde gehandelt. Einen Winter verkauften wir unser Fleisch für unbrauchbare Uhren und für abgenutzte Feilen und Pistolen, zu denen die Patronen fehlten. Und dann kam Hungersnot, und wir hatten kein Fleisch, und zweimal zwanzig von uns starben, ehe der Frühling kam. ›Jetzt sind wir schwach geworden‹, sagten wir, ›und jetzt werden die Pellys uns überfallen und unsere Grenzen auslöschen.‹ Aber wie uns, so war es auch den Pellys ergangen, und sie waren zu schwach, gegen uns zu ziehen. Mein Vater Otsbaok, ein starker Mann, war jetzt alt und sehr weise. Und er sprach zum Häuptling und sagte: ›Sieh, unsere Hunde sind wertlos. Nicht länger sind sie dickpelzig und stark, und sie sterben im Frost und im Geschirr. Laß uns ins Dorf gehen und sie töten und nur die verschonen, die von Wölfen abstammen. Die laß uns des Nachts draußen anbinden, damit sie sich mit den wilden Wölfen des Waldes paaren können. So werden wir wieder warme, kräftige Hunde erhalten.‹

Und seine Worte fanden Gehör, und das Weißfischvolk wurde bekannt wegen seiner Hunde, die die besten im Lande waren. Aber um unserer selbst willen wurden wir nicht bekannt. Die besten unserer jungen Männer und Frauen waren weggezogen mit den weißen Männern, um auf Wegen und Flüssen nach fernen Orten zu wandern. Und die jungen Frauen kamen zurück, alt und gebrochen wie Noda, oder sie kehrten gar nicht wieder. Und die jungen Männer kamen zurück, um eine Zeitlang an unserm Feuer zu sitzen, voll von übler Rede und roher Art, sie tranken und spielten lange Tage und Nächte hindurch, eine große Unrast lebte in ihren Herzen, bis der Ruf der weißen Männer zu ihnen drang und sie wieder weiterzogen nach unbekannten Orten. Und sie waren ohne Ehre und Achtung, sie spotteten der alten Gebräuche und lachten Häuptling und Schamanen ins Gesicht.

Ja, wir waren ein schwaches Häufchen geworden, wir Weißfische. Wir verkauften unsere warmen Pelze und Felle für Tabak und Whisky und dünnen Baumwollstoff, in dem wir vor Kälte schauerten. Und der Husten kam über uns, und Männer und Frauen husteten und schwitzten die langen Nächte hindurch, und die Jäger auf der Fährte des Wildes spuckten Blut in den Schnee. Bald blutete der eine, bald der andere und starb. Und die Frauen gebaren wenig Kinder, und die wenigen waren schwach und kränklich. Und andere Krankheiten kamen von den weißen Männern zu uns, Krankheiten, wie wir sie nie gekannt hatten und auf die wir uns nicht verstanden. Pocken und Masern habe ich diese Krankheiten nennen hören, und wir starben an ihnen, wie der Lachs im Herbst im stillen Bergstrom stirbt, wenn er gelaicht hat und nicht mehr zu leben braucht. Und immer noch, und das ist das Seltsame daran, kommen die weißen Männer wie der Atem des Todes. Alle ihre Wege führen zum Tode, ihre Nüstern sind voll von ihm, und doch sterben sie nicht. Ihrer ist der Whisky, der Tabak und die kurzhaarigen Hunde; ihrer sind die vielen Krankheiten, die Pocken und die Masern, der Husten und das Bluten aus dem Munde; ihrer die weiße Haut und die Empfindlichkeit gegen Frost und Sturm; ihrer die Pistolen, die sechsmal sehr schnell hintereinander schießen und die wertlos sind. Und dennoch werden sie dick und gedeihen mit ihren vielen Übeln und legen eine schwere Hand auf die ganze Welt und stampfen schwer über ihre Völker. Und ihre Frauen sind zart wie kleine Kinder, leicht zerbrechlich und doch nie zerbrochen, Mütter von Männern. Und aus all dieser Weichlichkeit und Krankheit und großen Schwäche erwachsen Stärke, Macht und Herrschertum. Sie sind Götter oder Teufel, wie dem nun sein mag. Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ich, der alte Imber von den Weißfischen? Nur das weiß ich, daß sie unerforschlich sind, diese weißen Männer, die über die ganze Erde wandern und überall kämpfen. Ja, das Wild im Walde wurde immer seltener. Es ist wahr, die Büchse des weißen Mannes ist eine vortreffliche Waffe und tötet auf weite Entfernung, aber was nützt die Büchse, wenn es kein Wild zu töten gibt? Als ich ein Knabe am Weißfischflusse war, gab es Elche auf jedem Hügel, und jedes Jahr kamen unzählige Rene. Aber jetzt kann der Jäger zehn Tage lang einer Fährte folgen, und nicht ein einziger Elch erfreut sein Auge, und die unzähligen Rene sind verschwunden. Wenig wert ist die Büchse, sage ich, die auf weite Entfernung tötet, wenn es nichts zu töten gibt. Und ich, Imber, sann über diese Dinge nach und sah unterdessen, wie die Weißfische und die Pellys und alle Stämme im Lande ausstarben wie das Wild im Walde. Lange sann ich nach. Ich sprach mit den Schamanen und mit den alten und weisen Männern. Ich hielt mich abseits, damit der Lärm des Dorfes mich nicht störte, und ich aß kein Fleisch, daß mein Magen mich nicht beschweren und Auge und Ohr erschlaffen sollten. Lange und schlaflos saß ich im Walde und wartete mit offenen Augen auf das Zeichen und mit geduldig lauschenden Ohren auf die Worte, die da kommen sollten. Und ich wanderte allein im Dunkel der Nacht das Flußufer hinab, wo der Wind klagte, das Wasser schluchzte und wo ich Weisheit bei den Geistern alter verstorbener Schamanen in den Bäumen suchte. Und zuletzt kamen, wie in einer Vision, die abscheulichen kurzhaarigen Hunde zu mir, und der Weg lag deutlich vor mir. Durch die Weisheit Otsboaks – er war mein Vater und ein starker Mann – war das Blut unsrer eigenen Wolfshunde rein geblieben, und daher hatten wir ihren warmen Pelz und ihre Stärke im Geschirr behalten. Und so kehrte ich in mein Dorf zurück und sprach zu den Männern. ›Dies ist ein Stamm, diese weißen Männer‹, sagte ich, ›ein sehr großer Stamm, und sicherlich gibt es kein Wild mehr in ihrem Lande, und nun kommen sie zu uns, um selbst neues Land zu erhalten. Aber sie machen uns schwach, und wir müssen sterben. Sie sind ein sehr hungriges Volk. Schon hat unser Wild uns verlassen, und wenn wir leben wollen, müssen wir mit ihnen verfahren, wie wir es mit ihren Hunden getan haben.‹

Und ich redete weiter und riet zum Kampf. Und die Männer der Weißfische lauschten, und einige sagten dies und andere das, und einige sprachen von andern, gleichgültigen Dingen, aber niemand sprach kühn von Taten und Kampf. Während aber die jungen Männer weich wie Wasser und furchtsam waren, bemerkte ich, wie die Alten schwiegen und in ihren Augen das Feuer kam und ging. Und später, als das Dorf schlief und niemand davon wußte, führte ich die alten Männer in den Wald und sprach noch mehr. Und jetzt waren wir einig, und wir erinnerten uns der guten Tage unserer Jugend und des freien Landes und des Reichtums und des Frohsinns und des Sonnenscheins, und wir nannten uns Brüder und schworen uns tiefstes Geheimnis und einen mächtigen Eid, das Land von der bösen Brut zu reinigen, die sich darin niedergelassen hatte. Es ist klar, daß wir Toren waren, aber wie konnten wir das wissen, wir Alten vom Weißfischvolke?

Und um die andern anzufeuern, beging ich die erste Tat. Ich lauerte am Yukon, bis das erste Kanu den Fluß hinabkam. In ihm saßen zwei weiße Männer, und als ich mich am Ufer erhob und die Hand hob, änderten sie den Kurs und ruderten auf mich zu. Und als der Mann im Steven den Kopf aufrichtete, um zu wissen, was ich von ihm wollte, sang mein Pfeil durch die Luft gerade in seine Kehle, und er wußte es. Der andere Mann, der achtern am Ruder saß, hatte die Büchse halb zur Schulter gehoben, als der erste meiner drei Wurfspieße ihn traf.

›Das waren die ersten‹, sagte ich, als die Alten sich um mich scharten. ›Später wollen wir die jungen Männer, die noch stark sind, sammeln, dann wird die Arbeit leicht sein.‹

Und dann warfen wir die beiden toten Männer in den Fluß. Und aus dem Kanu, das ein sehr gutes Kanu war, machten wir ein Feuer und ebenso aus den Dingen, die im Kanu waren. Aber erst sahen wir uns die Dinge an; es waren Ledersäcke, die wir mit unsern Messern aufschnitten. Und in diesen Säcken war eine Menge Papier, gerade wie das, aus dem du liest, Howkan, mit Zeichen darauf, über die wir uns wunderten und die wir nicht verstehen konnten. Jetzt bin ich weise geworden und weiß, daß es die Rede von Menschen ist, was du mir erzählt hast.«

Ein Flüstern und Summen ging durch den Gerichtssaal, als Howkan diese Geschichte vom Kanu fertig übersetzt hatte, und die Stimme eines Mannes sagte laut: »Das war die Post, die im Jahre 1891 verlorenging; Peter James und Delany brachten sie, und zuletzt hörte man von ihnen in Le Barge, wo sie Matthrews trafen.« Der Schreiber kritzelte ruhig weiter, und die Geschichte des Nordens wurde um ein neues Kapitel vermehrt.

»Es gibt nicht viel mehr«, fuhr Imber langsam fort. »Sie stehen in dem Papier, die Dinge, die wir taten. Wir waren alte Männer, und wir verstanden nicht. Selbst ich, Imber, verstehe es jetzt noch nicht. Im geheimen töteten und töteten wir, denn das Alter hatte uns listig gemacht, und wir hatten gelernt, wie schnell es geht, wenn man nicht eilt. Als weiße Männer mit bösen Blicken und harten Worten zu uns kamen und sechs der jungen Männer in eisernen Fesseln fortführten, wußten wir, daß wir weiter töten mußten. Und einer nach dem andern zogen wir Alten den Fluß hinauf nach unbekannten Ländern. Das war tapfer. Alt waren wir und unerschrocken, aber die Furcht vor der Ferne ist eine schreckliche Furcht für Männer, die alt sind. So töteten wir, listig und ohne Hast. Auf dem Chilcoot und im Delta töteten wir, von den Pässen bis ans Meer, überall, wo die weißen Männer sich ihren Weg bahnten und ihr Lager aufschlugen. Es ist wahr, sie starben, aber es half nichts. Immer wieder kamen sie über die Berge, immer mehr, während unter den Alten immer weniger waren. Ich erinnere mich des Lagers eines weißen Mannes beim Renkreuzweg. Er war ein sehr kleiner weißer Mann, und drei von den Alten überraschten ihn im Schlafe. Und am nächsten Tage stieß ich auf alle vier. Der weiße Mann war der einzige, der noch atmete, und es war Atem genug in ihm, um mich zu verfluchen, ehe er starb.

Und so ging es, bald ein alter Mann und bald ein anderer. Manchmal erfuhren wir lange hinterher, wie sie gestorben waren, und manchmal erfuhren wir gar nichts davon. Und die alten Männer der andern Stämme waren gebrechlich und ängstlich und wollten sich uns nicht anschließen. Wie ich sage: einer nach dem andern, bis ich allein übrig war. Ich bin Imber vom Weißfischvolke. Mein Vater war Otsbaok, ein starker Mann. Jetzt gibt es kein Weißfischvolk mehr. Von den Alten bin ich der letzte. Die jungen Männer und Frauen sind weggezogen, manche, um mit den Pellys, manche, um mit den Lachsen, und die meisten, um mit den weißen Männern zusammen zu leben. Ich bin sehr alt und sehr müde, und da es zu nichts führt, gegen das Gesetz zu kämpfen, bin ich, wie du sagst, Howkan, gekommen, um das Gesetz zu suchen.«

»O Imber, du bist wahrlich ein Tor«, sagte Howkan.

Doch Imber träumte.

Der Richter mit der vierkantigen Stirn träumte ebenfalls, und seine ganze Rasse erhob sich vor ihm in einem mächtigen Phantasiegebilde, seine eisenbeschlagene, gepanzerte Rasse, die Gesetzgeberin und Weltschöpferin unter den Geschlechtern der Menschen. Wie im Morgenrot sah er sie hinter finsteren Wäldern und düsteren Meeren tagen, in blutrot flammendem Triumph, und den dunkelbeschatteten Hang hinab sah er den blutroten Sand in die Nacht tropfen. Und in allem sah er das Gesetz, das mächtige, unbarmherzige, unabänderliche und stets gebieterische, größer als die Menschenstäubchen, die es erfüllten oder von ihm zermalmt wurden, wie es auch größer war als er, dessen Herz jetzt nach Frieden verlangte.


8 Wie Vor Alters Zog Die Argo

Wie vor alters zog die Argo…

Es war im Sommer 1897, als Unruhe in der Familie Tarwater entstand. Großvater Tarwater war nach einem Jahrzehnt der Unterjochung und Unterdrückung wieder einmal ausgebrochen. Diesmal war es das Klondikefieber. Das erste und einzige Symptom solcher Anfälle war Gesang. Er sang nur ein Lied, und auch von dem konnte er nicht mehr als vier Verse der ersten Strophe. Und die Familie wußte, daß ihn die Füße juckten und daß ihm die alte Tollheit im Hirn krabbelte, wenn er sein heiseres, brüchiges Falsett erhob und sang:

»Wie vor alters zog die Argo,

Kann uns keiner heut‘ verwehren

Auszuziehen, tum-tum-tum,

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

Zehn Jahre zuvor hatte er das Lied nach der Melodie des kirchlichen Lobgesangs gesungen, als ihn das Fieber gepackt hatte, nach Patagonien zu ziehen und Gold zu graben. Die ganze zahlreiche Familie hatte sich ihm widersetzt, aber sie hatte eine schwere Zeit mit ihm gehabt. Als nichts seinen Entschluß erschüttern konnte, hatten sie ihm Rechtsanwälte geschickt mit der Drohung, ihn zu entmündigen und in der staatlichen Irrenanstalt einzusperren – eine vernünftige Maßregel einem Mann gegenüber, der vor einem Vierteljahrhundert alles bis auf zehn Morgen mageren Bodens eines Gutes in Kalifornien verspekuliert und seitdem auch nicht viel mehr Scharfsinn in Geschäften bewiesen hatte.

Die Anwendung der Rechtsanwälte bei John Tarwater glich der Anwendung eines Senfpflasters, denn seiner Meinung nach waren es von allen Menschen gerade diese, die ihm seinen ausgedehnten Besitz entrissen hatten. Zu der Zeit, als er das Patagonienfieber hatte, genügte der Gedanke an ein so drastisches Mittel allein, um ihn zu kurieren. Er bewies schnell, daß er nicht verrückt war, indem er das Fieber abschüttelte und darauf einging, nicht nach Patagonien zu ziehen.

Hierauf bewies er, wie verrückt er in Wirklichkeit war, indem er unaufgefordert seiner Familie die zehn Morgen zu Tarwater Flat, einschließlich Haus, Scheuer, Wirtschaftsgebäude und Wasserrechte, überschrieb. Ebenfalls übertrug er ihnen die achthundert Dollar, die er auf der Bank hatte, das lang gesparte Wrackgut seines vernichteten Vermögens. Hierin sah die Familie jedoch keinen Grund, ihn in die Irrenanstalt zu schicken, was ja unweigerlich seine löblichen Absichten durchkreuzt hätte. »Großvater ist sicher schlechter Laune«, sagte Mary, seine älteste Tochter, selbst schon Großmutter, als ihr Vater das Rauchen aufgab.

Alles, was er für sich behalten hatte, war ein Gespann alter Pferde und ein einziges Zimmer in dem überfüllten Hause. Da er versicherte, niemand Dank schulden zu wollen, übertrug man ihm ferner die Aufgabe, zweimal wöchentlich die Post der Vereinigten Staaten von Kelterville über die Tarwater-Berge nach Old Almaden zu bringen – einer sporadisch bearbeiteten Quecksilbermine im Viehland in den Bergen. Mit seinen beiden alten Pferden beanspruchten die beiden wöchentlichen Fahrten seine ganze Zeit. Und in den zehn Jahren hatte er, ob Regen oder Sonnenschein, nie eine Fahrt versäumt. Und ebensowenig hatte er es auch nur ein einziges Mal unterlassen, allwöchentlich die Bezahlung für seine Beköstigung in Marys Hand zu legen. Diese Beköstigung hatte er während der Erholung von seinem Patagonienfieber verlangt und genau bezahlt, obwohl er seinen Tabak hatte aufgeben müssen, um dazu imstande zu sein.

»Hu!« vertraute er dem zerbrochenen Wasserrad der alten Tarwater-Wassermühle an, die er selbst aus Stämmen aus dem Walde erbaut und die Weizen für die ersten Ansiedler gemahlen hatte. »Hu! Solange ich mich selbst erhalte, werden sie mich nicht ins Armenhaus schicken, und wenn ich nicht einen roten Heller habe, so ist es nicht wahrscheinlich, daß so ein Rechtsverdreher kommt und mich beschnüffelt.«

Und doch waren gerade diese in hohem Maße vernünftigen Handlungen der Grund, daß man John Tarwater für leicht verrückt hielt.

Das erste Mal hatte er das Lied »Wie vor alters zog die Argo« im Jahre 1849 gesungen, als er, zweiundzwanzig Jahre alt und heftig vom Kalifornienfieber ergriffen, in Michigan zweihundertvierzig Morgen, davon vierzig gerodet, für vier Ochsengespanne und einen Wagen verkauft hatte und quer über die Steppe gezogen war.

»Und bei Fort Hall, wo die Oregon-Auswanderer nach Norden gingen, bogen wir südwärts nach Kalifornien ab«, pflegte er seinen Bericht von dieser beschwerlichen Reise zu schließen. »Und Bill Ping und ich fingen Grislybären mit dem Lasso im Unterholz von Cache Slough im Sacramento-Tal.«

Dann waren Jahre mit Frachtfahren und Minenarbeit gefolgt. Mit einem in den Mercedes-Goldwäschereien gesammelten Gewinn befriedigte er schließlich den Landhunger seiner Rasse und seiner Zeit und ließ sich im Sonoma-Land nieder.

Die zehn Jahre, die er die Post in der Tarwater-Gemeinde, durch das Tarwater-Tal und über den Tarwater-Berg – das meiste davon hatte ihm einmal gehört – fuhr, verbrachte er damit, daß er davon träumte, das Land wiederzugewinnen, ehe er starb.

Und jetzt, da seine riesige, magere Gestalt aufrechter war, als sie seit Jahren gewesen, und blaue Flammen in seinen kleinen, engstehenden Augen glimmten, stimmte er wieder sein altes Lied an.

»Da geht er nun – hört nur!« sagte William Tarwater.

»Niemand zu Hause«, lachte Harris Topping, Tagelöhner, mit Annie Tarwater verheiratet und Vater ihrer neun Kinder.

Die Küchentür öffnete sich, um den alten Mann einzulassen, der soeben seine Pferde gefüttert hatte. Der Gesang war auf seinen Lippen verstummt, aber Mary war gereizt, weil sie sich die Hand verbrannt hatte und weil der Magen eines Enkelkindes sich weigerte, die gewässerte Kuhmilch ordentlich zu verdauen.

»Es hat keinen Zweck, so anzufangen«, wandte sie sich streitsüchtig an ihn. »Die Zeit ist vorbei, als du nach einer Gegend wie Klondike durchbrennen konntest, und dein Singen kann sie dir nicht wiederkaufen.«

»Einerlei«, antwortete er ruhig. »Ich wette, daß ich nach diesem Klondike gehen und Gold genug sammeln könnte, um den Tarwater-Besitz zurückzukaufen.«

»Alter Narr!« bemerkte Annie.

»Um ihn zurückzukaufen, brauchst du mindestens dreihunderttausend, wenn nicht mehr«, versuchte William ihn zum Schweigen zu bringen.

»Dann könnte ich dreihunderttausend und noch mehr sammeln, wenn ich nur dort wäre«, sagte der alte Mann ruhig.

»Danke Gott, daß du nicht hinspazieren kannst, sonst brächest du heute schon auf!« rief Mary. »Seereisen kosten Geld.«

»Ich hatte Geld«, sagte ihr Vater demütig.

»Aber jetzt hast du keines – daher denk nicht mehr dran«, riet William. »Die Zeiten sind vorbei, da du mit Bill Ping Bären fingst. Es gibt keine Bären mehr.«

»Einerlei…«

Aber Mary schnitt ihm das Wort ab. Sie nahm die Zeitung vom Küchentisch und schwang sie ihrem betagten Vater heftig vor der Nase hin und her.

»Was sagen diese Klondiker? Hier steht es schwarz auf weiß. Nur die Jungen und Starken können Klondike aushalten. Es ist schlimmer als der Nordpol. Und selbst die haben dort massenhaft Tote zurückgelassen. Sieh nur die Bilder. Du bist vierzig Jahre älter als die ältesten von ihnen.«

John Tarwater sah wirklich hin, aber seine Augen schweiften zu anderen Fotografien auf dem im höchsten Maße effektvollen Umschlag.

»Und sieh hier die Fotografien von den Goldklumpen, die sie mitgebracht haben«, sagte er. »Ich kenne Gold. Habe ich nicht zwanzigtausend aus der Mercedes-Grube geholt? Und wären es nicht hunderttausend geworden, wenn der Wolkenbruch nicht meinen Damm gesprengt hätte! Wenn ich jetzt nur in Klondike wäre…«

»Total verrückt!« knurrte William beiseite, aber hörbar für die andern.

»Eine hübsche Art, mit seinem alten Vater zu reden«, tadelte der alte Tarwater ihn mild. »Mein Vater würde mir das Fell mit einem Knüppel gegerbt haben, wenn ich so zu ihm gesprochen hätte.«

»Aber du bist wirklich verrückt, Vater«, begann William.

»Du wirst schon recht haben, mein Sohn. Aber in dem Punkt war mein Vater nicht verrückt. Er hätte es getan.«

»Der alte Mann hat ein paar Artikel von Männern gelesen, die noch nach den Vierzigern Glück gehabt haben«, höhnte Annie.

»Und warum nicht, mein Kind?« fragte er. »Warum kann ein Mann nicht Glück haben, wenn er siebzig ist? Ich bin dies Jahr erst siebzig geworden. Und vielleicht hätte ich Glück, wenn ich nur nach Klondike kommen könnte.«

»Was du eben nicht kannst«, wies Mary ihn ab.

»Na ja«, seufzte er, »wenn nicht, dann kann ich ja ebensogut gleich zu Bett gehen.«

Er stand auf, lang, mager knochig und knorrig, die prächtige Ruine eines Mannes. Sein zottiges Haar und sein Backenbart waren nicht grau, sondern schneeweiß, ebenso die Haarbüschel, die auf der Rückseite seiner ungeheuer knochigen Finger standen. Er bewegte sich zur Tür, öffnete sie, seufzte, blieb stehen und sandte einen Blick zurück.

»Und doch«, murmelte er klagend, »jucken mich die Fußsohlen ganz schrecklich.«

Lange, ehe die Familie am nächsten Morgen aufstand, hatte der alte Tarwater seine Pferde beim Laternenschein gefüttert und angespannt, sich das Frühstück bei Lampenlicht bereitet und gegessen und war durch das Tarwater-Tal nach Kelterville aufgebrochen. Zweierlei Ungewöhnliches war an dieser gewöhnlichen Fahrt, die er seit Abschluß des Postkontraktes tausendundvierzigmal gemacht hatte. Er fuhr nicht nach Kelterville, sondern bog südwärts auf die Landstraße nach Santa Rosa ab. Noch merkwürdiger als dies war das in Papier gewickelte Paket zwischen seinen Füßen. Es enthielt seinen einzigen schwarzen Anzug, den Mary ihn lange nicht mehr hatte tragen lassen wollen, nicht weil er abgetragen war, sondern weil er, wie sie seiner Vermutung nach im Innersten dachte, anständig genug war, um ihn darin zu begraben.

Und in Santa Rosa verkaufte er den Anzug sofort in einem Trödlerladen für zweieinhalb Dollar. Von demselben willfährigen Geschäftsmann empfing er vier Dollar für den Trauring seiner längst verstorbenen Frau. Sein Gespann und den Wagen verkaufte er für fünfundsiebzig Dollar, wenn er auch nur fünfundzwanzig in bar erhielt. Als er zufällig auf der Straße Alton Granger traf, demgegenüber er noch nie ein Wort von den zehn Dollar erwähnt hatte, die er ihm im Jahre vierundsiebzig geliehen, erinnerte er ihn an die kleine Angelegenheit und erhielt augenblicklich sein Geld. Und von all den Menschen, die vermutlich nicht bei Kasse waren, hatte er allein Glück bei dem Trunkenbold der Stadt, dem er in seinen alten guten Tagen manches Glas spendiert hatte: Er lieh sich von ihm einen Dollar. Schließlich fuhr er mit dem Nachmittagszug nach San Franzisko.

Zwölf Tage später landete er, einen Leinensack mit wollenen Decken und altem Zeug schleppend, an der Küste von Dyea, mitten in dem großen Klondikestrom. Der Strand war ein brüllendes Tollhaus. Zehntausend Tonnen Ausrüstung lagen angehäuft und verstreut da, zweimal zehntausend Mann ruderten darin herum und riefen durcheinander. Die Fracht auf Indianerrücken über den Chilcoot nach dem Linderman-See war von sechzehn auf dreißig Cent gesprungen, was einem Preis von sechshundert Dollar für eine Tonne entsprach. Und der subarktische Winter mit seiner Finsternis stand vor der Tür. Alle wußten es, und alle wußten auch, daß von den zwanzigtausend nur wenige über die Pässe kommen sollten, während die übrigen hier überwintern und auf das späte Frühlingstauwetter warten mußten.

So war der Strand, den der alte John Tarwater betrat, und er steuerte direkt über den Strand auf den Chilcoot los, sein altes Lied gackernd, selbst ein richtiger alter Argonaute, den keine Ausrüstung beschwerte. Denn er besaß keine Ausrüstung. Nachts schlief er auf der flachen Strecke fünf Meilen oberhalb Dyeas, an der Stelle, wo die Schiffahrt in Booten begann. Hier wurde der Dyea-Fluß ein stürmischer Gebirgsstrom, der in einer engen Schlucht aus den Gletschern stürzte, die ihm ihr Wasser von weit her sandten.

Und hier sah er früh am nächsten Morgen einen kleinen Mann, der nicht mehr als hundert Pfund wog, über einen Baumstamm wandern, mit gut hundert Pfund Mehl auf dem Rücken. Er sah ferner, wie der kleine Mann von dem Baumstamm stolperte, kopfüber in eine ruhige, zwei Fuß tiefe Pfütze fiel und sich ganz ruhig anschickte, zu ertrinken. Er wünschte sicher nicht, so leicht zu sterben, aber das Mehl auf seinem Rücken wog ebensoviel wie er selber und erlaubte ihm nicht aufzustehen.

»Schönen Dank, Alter«, sagte er zu Tarwater, als der ihn aufs Trockene gezogen hatte.

Während er sich die Schuhe aufschnürte und das Wasser ausgoß, setzten sie die Unterhaltung fort. Dann zog er ein Zehndollarstück aus der Tasche und bot es seinem Retter an.

Der alte Tarwater schüttelte den Kopf und zitterte vor Kälte, denn das Eiswasser hatte ihn bis zu den Knien durchnäßt.

»Aber ich denke, ich hätte nichts dagegen, mich zu einer freundschaftlichen Mahlzeit mit Ihnen zusammenzusetzen.«

»Haben Sie noch nicht gefrühstückt?« fragte der kleine Mann, der über Vierzig war und gesagt hatte, daß er Anson hieß, mit einem offenbar interessierten Blick.

»Nicht einen Bissen«, antwortete John Tarwater.

»Wo ist Ihre Ausrüstung? Voraus?«

»Hab‘ keine Ausrüstung.«

»Wollen Sie im Lande kaufen?«

»Hab‘ nicht einen Dollar, um was zu kaufen, Freundchen. Was im Augenblick nicht so wichtig ist wie ein bißchen warmes Frühstück.«

In Ansons Lager, eine Viertelmeile weiter, fand Tarwater einen schlanken jungen Mann von dreißig mit rotem Backenbart, der über einem Feuer aus nassem Weidenholz fluchte. Nachdem er als Charles vorgestellt war, übertrug er seine finsteren Blicke und seine Wut auf Tarwater, der tat, als ob er nichts merkte, und sich seinerseits mit dem Feuer zu schaffen machte. Er benutzte den kühlen Morgenwind, um Zug zu erhalten, den die andern dummerweise durch Steine ferngehalten hatten, und erzeugte bald weniger Rauch und mehr Feuer. Das dritte Mitglied der Gesellschaft, Bill Wilson, oder der Große Bill, wie sie ihn nannten, kam mit einem hundertvierzig Pfund schweren Packen; und Charles servierte etwas, das Tarwater für ein sehr schlechtes Frühstück ansah. Die Grütze war halbgar und zum größten Teil verbrannt, der Speck verkohlt und der Kaffee unaussprechlich.

Sobald das Essen verschlungen war, nahmen die drei Teilhaber ihre Packgurte und machten sich auf den Weg nach der Stelle, wo in ihrem letzten Lager, eine Meile zurück, der Rest ihrer Ausrüstung lag. Und der alte Tarwater bekam zu tun. Er wusch die Schüsseln, holte trockenes Holz, setzte einen zerrissenen Packgurt instand, schliff Schlachtermesser und Lageraxt und packte Hacken und Schaufeln um, so daß sie besser zu tragen waren.

Was während des kurzen Frühstücks Eindruck auf ihn gemacht hatte, war der Respekt, den Anson und der Große Bill vor Charles hatten. Als Anson am Morgen einmal, nachdem er einen neuen Hundertpfundpacken hereingebracht hatte, verschnaufte, machte Tarwater eine feine Anspielung hierauf.

»Sehen Sie, die Sache ist die«, sagte Anson. »Wir haben die Führerschaft geteilt. Jeder hat seine besondere Aufgabe. Ich bin Zimmermann. Wenn wir zum Linderman-See kommen und die Bäume gefällt und zu Planken zersägt sind, habe ich den Bootsbau zu leiten. Der Große Bill ist Flößer und Grubenarbeiter. Er hat für das Holz und für alle Minenunternehmen zu sorgen. Das meiste von unserer Ausrüstung ist vorausgeschickt. Wir mußten den Indianern so viel für den Transport nach dem Chilcoot bezahlen, daß wir ruiniert sind. Unser letzter Teilhaber ist oben bei den Sachen und schafft sie selbst nach der anderen Seite hinüber. Er heißt Liverpool und ist Seemann. Wenn die Boote gebaut sind, ist er es daher, der ihre Ausrüstung zu leiten hat, damit wir die Seen und Stromwirbel bis Klondike hinunterfahren können.«

»Und Charles – dieser Herr Crayton –, was ist seine Spezialität?« fragte Tarwater.

»Er ist Geschäftsmann. Er leitet die Organisation und etwaige Geschäfte.«

»Hm«, überlegte Tarwater. »Es ist ein Glück, eine solche Schar von Sonderkenntnissen für eine Expedition zu bekommen.«

»Mehr als Glück«, meinte Anson. »Es war auch alles Zufall. Jeder von uns zog allein. Wir trafen uns auf dem San-Franziskoer Dampfer und gründeten die Gesellschaft. – Na, ich muß fort. Sonst gibt Charles mir noch einen Tritt, weil ich nicht meinen Teil trage. Eigentlich kann man doch nicht verlangen, daß ein Mann von hundert Pfund ebensoviel trägt wie einer von hundertsechzig.«

»Los, mach uns was zu Essen«, sagte Charles zu Tarwater, als er das nächste Mal mit einer Last hereinkam und sah, wie geschickt der alte Mann war.

Und Tarwater bereitete ein Mittagessen, das wirklich ein Mittagessen war, wusch die Schüsseln, hatte wirkliches Schweinefleisch und Bohnen zum Abendessen und dazu in einer Bratpfanne gebackenes Brot, das so delikat war, daß die drei Teilhaber sich fast zuschanden daran aßen. Als das Aufwaschen nach dem Abendessen besorgt war, hieb er Späne, um am Morgen schnell und sicher Feuer anmachen zu können, zeigte Anson einen Kniff mit dem Schuhzeug, unentbehrlich für einen Mann, der etwas schleppen sollte, sang sein »Wie vor alters zog die Argo« und erzählte ihnen von der großen Auswanderung über die Steppe im Jahre neunundvierzig.

»Wahrhaftig, das erste anständige und angenehme Lager, seit wir von der See aufbrachen«, bemerkte der Große Bill, als er seine Pfeife ausklopfte und sich die Schuhe aufschnürte, um zu Bett zu gehen.

»Hab‘ ich’s euch ein bißchen erleichtert, Jungens, was?« forschte Tarwater freundlich.

Alle nickten.

»Na, dann will ich euch einen Vorschlag machen, Jungens. Ihr könnt ihn annehmen oder nicht, aber hört ihn bitte an. Ihr habt Eile, weiterzukommen, ehe alles zufriert. Die halbe Zeit, die ihr zum Tragen verwenden könntet, vergeudet einer von euch auf das Kochen. Wenn ich das für euch besorge, werdet ihr schneller weiterkommen. Das Essen wird auch besser sein und euch befähigen, besser zu tragen. Und ich selbst kann hin und wieder auch ein bißchen tragen, ein ganz klein bißchen, ja, ein ganz klein bißchen.«

Der große Bill und Anson wollten gerade zum Zeichen ihres Einverständnisses nicken, als Charles sich dazwischenlegte.

»Was wollen Sie von uns dafür?« fragte er den alten Mann.

»Ach, das überlasse ich Ihnen.«

»Das ist kein Geschäft«, verwies Charles ihn scharf. »Sie haben den Vorschlag gemacht. Nun machen Sie ihn auch ganz.«

»Nun, die Sache ist so…«

»Sie denken, daß wir Sie den ganzen Winter durchfüttern sollen, wie?« unterbrach ihn Charles.

»Nein, mein Herr, das tue ich nicht. Alles, womit ich rechne, ist, daß eine Reise nach Klondike in Ihrem Boot hochanständig von Ihnen wäre.«

»Sie haben nicht eine Unze Proviant, Alter, Sie würden verhungern, wenn Sie hinkämen.«

»Ich hab‘ lange Zeit hindurch ziemlich viel Glück mit meiner Ernährung gehabt«, antwortete der alte Tarwater mit einem lustigen Schimmer in den Augen: »Ich bin siebzig und bis jetzt noch nie verhungert.«

»Wollen Sie eine Erklärung unterschreiben, daß Sie selbst für sich sorgen werden, sobald Sie nach Dawson kommen?« fragte der Geschäftsmann.

»Gewiß«, lautete die Antwort.

Und wieder brachte Charles seine beiden Kompagnons zum Schweigen, die ihre Zufriedenheit mit dem Arrangement äußern wollten.

»Noch eines, Alter: Wir sind vier Teilhaber, die alle in einer solchen Frage Stimmrecht haben. Der junge Liverpool ist mit der Hauptausrüstung vorausgezogen, hat deshalb ein Wörtchen mitzureden und kann es nicht, weil er nicht hier ist.«

»Was für eine Art Teilhaber ist er denn?« fragte Tarwater.

»Er ist ein grobkörniger Seemann und hat ein rasches, bösartiges Temperament.«

»Ein bißchen ungestüm«, fügte Anson hinzu.

»Und fluchen kann er, einfach fürchterlich«, bezeugte der Große Bill. »Aber er ist ehrlich«, fügte er hinzu.

Anson nickte herzhaft zu dieser Einschätzung.

»Na, Jungens«, meinte Tarwater, »ich bin von Kalifornien hierhergekommen, und jetzt bin ich unterwegs nach Klondike. Nichts kann mich aufhalten. Ich muß dreihunderttausend aus der Erde holen. Nichts kann mich aufhalten, weil ich das Geld eben brauche. Daß der Junge bösartig ist, stört mich nicht, wenn er nur ehrlich ist. Ich will auf gut Glück mit euch gehen, bis wir ihn einholen. Wenn er dann nicht auf den Vorschlag eingehen will, gebe ich’s auf. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß er nein sagen wird, denn das hieße, daß wir der Zeit, wenn alles zufriert, zu nahe kommen würden und daß es zu spät für mich wäre, eine andere Möglichkeit zu finden. Und da ich sicher bin, nach Klondike zu kommen, ist es einfach unmöglich, daß er nein sagen wird.«

 

Der alte John Tarwater wurde eine auffallende Gestalt auf einem Wege, der von auffallenden Gestalten wimmelte. Tausende von Männern, die jeder für sich für jede halbe Tonne Ausrüstung zurücktrotteten und jede Meile Weges zwanzigmal zurücklegten, lernten ihn kennen und begrüßten ihn als »Vater Weihnacht«. Und immer, wenn er arbeitete, stimmte er mit der Fistelstimme des alten Mannes sein Lied an. Keiner der drei Männer, denen er sich angeschlossen hatte, konnte sich über seine Arbeit beklagen. Allerdings waren seine Glieder steif – und er litt ein wenig an Rheumatismus. Er bewegte sich langsam und schien zu knirschen und zu knacken, wenn er sich regte. Aber er hielt sich immer in Bewegung. Er war der letzte, der abends in die Wolldecken kroch, und der erste, der morgens herauskam, so daß die andern warmen Kaffee erhielten, ehe sie ihren einen Packen vor dem Frühstück holten. Und zwischen Frühstück und Mittag und zwischen Mittag und Abendbrot ging er stets selber zurück und holte verschiedene Packen. Mehr als sechzig Pfund konnte er indessen nicht tragen. Er konnte es zwar auf fünfundsiebzig bringen, aber nicht für die Dauer. Einmal versuchte er es mit neunzig, fiel aber unterwegs um und war einige Tage ganz schwach.

Arbeit! Auf einem Wege, wo schwer arbeitende Männer zum erstenmal lernten, was Arbeit war, arbeitete keiner im Verhältnis zu seiner Kraft schwerer als der alte Tarwater. Verzweifelt von der Nähe des Winters angetrieben und wahnsinnig von dem Traum vom Golde angelockt, arbeiteten sie bis aufs äußerste und sanken neben dem Wege nieder. Andere schossen sich eine Kugel vor den Kopf, wenn sie sich von der Hoffnungslosigkeit ihres Unternehmens überzeugt hatten. Einige verloren den Verstand, und unter der Qual dieser für Menschen so vernichtenden Anspannung brachen andere die Kameradschaft und beendeten lebenslängliche Freundschaften mit Burschen, die ebenso gut wie sie selbst und ebenso überanstrengt und wahnsinnig waren.

Arbeit! Der alte Tarwater beschämte sie alle trotz seinem Knirschen und Knacken und dem schlimmen trockenen Husten, den er sich angeschafft hatte. Früh und spät, unterwegs oder im Lager neben dem Wege, konnte man ihn stets irgendwie beschäftigt sehen, und immer antwortete er auf den Ruf »Vater Weihnacht«. Müde Menschen, die zurückgingen, pflegten ihre Packen auf einen Baumstamm oder einen Stein zu stützen, wenn sie zu ihm kamen, und zu sagen: »Sing uns dein Lied von neunundvierzig, Vater.« Und wenn er stöhnend ihren Wunsch erfüllt hatte, nahmen sie ihre Lasten wieder auf, bemerkten, daß es wirklich herzergreifend wäre, und gingen weiter.

»Wenn sich je ein Mann seine Reise erarbeitet und verdient hat«, vertraute der Große Bill seinen beiden Kompagnons an, »dann ist es unser alter Schelm.«

»Darauf kannst du wetten«, bestätigte Anson. »Er ist ein wertvoller Zuwachs unserer Gesellschaft, und ich meinerseits hätte nicht das geringste dagegen, ihn zum regelrechten Teilhaber zu machen.«

»Nichts davon!« fuhr Charles Clayton dazwischen. »Wenn wir nach Dawson kommen, sind wir fertig mit ihm – so lautet das Abkommen. Wenn wir ihn bei uns behielten, müßten wir ihn nur begraben. Außerdem gibt es Hungersnot, und da ist jede Unze Proviant von Bedeutung. Denkt daran, daß wir ihn den ganzen Weg von unserem eigenen Vorrat füttern, und wenn uns nächstes Jahr der Proviant ausgeht, dann wißt ihr den Grund. Dampfschiffe können erst Mitte Juni Proviant nach Dawson bringen, und bis dahin sind es noch neun Monate.«

»Nun ja, du hast ebensoviel an Geld und Ausrüstung eingeschossen wie wir andern«, gab der Große Bill zu, »und selbstverständlich hast du ein Wörtchen mitzureden.«

»Und das will ich auch haben«, betonte Charles mit wachsender Gereiztheit. »Und es ist ein Glück für euch, daß ihr mit eurer blöden Gefühlsduselei einen habt, der für euch an die Zukunft denkt, sonst würdet ihr alle verhungern. Ich sage euch, die Hungersnot steht vor der Tür. Ich bin mir über die Situation klar. Mehl wird zwei Dollar das Pfund kosten oder auch zehn, und niemand wird zu verkaufen haben. Denkt an meine Worte.«

Über die mit losem Geröll bedeckte Ebene, durch die dunkle Schlucht nach dem Scheidekamm, vorbei an überhängenden, stets drohenden Gletschern, nach den Scales und von den Scales die steilen, vom Eis polierten Hänge der Felsen hinauf, wo die Träger mit Händen und Füßen klettern mußten, sorgte der alte Tarwater für das Essen, schleppte und sang. Der erste Herbststurm wehte ihn über den Chilcoot-Paß, jenseits der Waldgrenze. Leute ohne Brennholz am schneidend kalten Rande des Kratersees unter ihm hörten aus dem dichten Schneegestöber oben eine gespensterhafte Stimme singen:

»Wie vor alters zog die Argo,

Kann uns keiner heut‘ verwehren

Auszuziehen, tum-tum-tum,

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

Und aus dem Schneetreiben sahen sie eine hohe, magere Gestalt auftauchen, mit einem Backenbart aus fliegendem Weiß, das sich mit dem Schneesturm mischte, während die Gestalt sich unter einem sechzigpfündigen Packen mit Lagerutensilien beugte.

»Vater Weihnacht!« ertönte es, und dann: »Drei donnernde Hurras für Vater Weihnacht!«

 

Zwei Meilen hinter dem Kratersee lag das Glückslager – so genannt, weil hier die Waldgrenze war und die Menschen sich wieder am Feuer erwärmen konnten. Es war kaum Wald zu nennen, denn er bestand nur aus zwergenhaften Bergkiefern, deren Wipfel sich nie höher als einen Fuß über das Moos erhoben und die sich schlängelten und krochen wie die Pflanzen, die von Schweinen aufgewühlt werden. Hier auf dem Wege, der nach dem Glückslager führte, beim ersten Sonnenschein seit mehr als einer Woche, stützte der alte Tarwater seine Last auf einen großen Findlingsstein und schöpfte Luft. Um diesen großen Stein herum ging der Weg, auf dem beladene Männer sich langsam vorwärts arbeiteten und Männer mit leeren Tragriemen schnell nach neuen Lasten zurückhumpelten. Zweimal versuchte der alte Tarwater sich zu erheben und weiterzugehen, und jedesmal ließ er sich, von seinem Zittern gewarnt, wieder sinken, um mehr Kraft zu gewinnen. Vom Wege hinter dem Stein hörte er, wie zwei Männer sich begrüßten; er erkannte die Stimme Charles Claytons und war sich darüber klar, daß sie jetzt Jung Liverpool getroffen hatten. Sofort stürzte Charles sich in Geschäfte, und Tarwater hörte mit großer Deutlichkeit jedes Wort von der wenig schmeichelhaften Beschreibung, die Charles von ihm gab, sowie von dem Vorschlag, ihm freie Reise bis Dawson zu gewähren.

»Ein verflucht blöder Vorschlag«, lautete Liverpools Meinung, als Charles ausgesprochen hatte. »Ein alter Großvater von siebzig. Wenn er auf dem letzten Loch pfeift, warum, zum Donnerwetter, habt ihr euch dann so an ihm festgehakt? Wenn es Hungersnot gibt, und es sieht danach aus, brauchen wir jede Unze Proviant für uns selbst. Wir haben uns nur für vier versorgt und nicht für fünf.«

»Es ist alles in Ordnung«, hörte Tarwater den andern versichern. »Reg dich nicht auf. Das alte Wrack ist darauf eingegangen, die endgültige Entscheidung dir zu überlassen, sobald wir dich einholten. Du brauchst nichts zu tun, als deinen Willen geltend zu machen und nein zu sagen.«

»Du meinst, ich soll den Alten an die Luft setzen, nachdem ihr ihn ermutigt habt und seine Arbeit von Dyea bis hierher gebraucht habt?«

»Die Reise ist hart, Liverpool, und nur Männer, die hart sind, kommen durch«, bemühte Charles sich, die Sache zu beschönigen.

»Und da soll ich es sein, der die dreckige Arbeit tut?« beschwerte sich Liverpool, während Tarwater das Herz im Leibe sank.

»Da hast du nicht ganz unrecht«, sagte Charles, »die Entscheidung liegt bei dir.«

Dann stieg das Herz wieder im alten Tarwater, als die Luft von einem Orkan lästerlicher Rede durchschnitten wurde, aus der Sätze brachen wie: »Dreckiges Stinktier. – Erst will ich euch in der Hölle sehen! – Mein Entschluß ist gefaßt. – Brand und Verderbnis der Hölle. – Das alte Wrack zieht mit uns den Yukon hinauf, darauf kannst du dich verlassen, mein Junge! – Hart? Du weißt nicht, was hart ist, aber ich will es dir zeigen! – Ich lasse die ganze Ausrüstung zum Teufel gehen, wenn einer von euch versucht, ihn beiseite zu schieben! – Versucht es nur, und ihr werdet denken, der Jüngste Tag und alle Plagen Gottes hätten euch auf einmal getroffen!« So sehr stärkte Liverpools Redestrom den alten Mann, daß er sich, ganz ohne sich der Anstrengung bewußt zu sein, unter der Last erhob und nach dem Glückslager schritt.

Vom Glückslager nach dem Langen See, vom Langen See nach dem Tiefen See und über den ungeheuren Schweinerücken bis zum Linderman-See ging der menschentötende Wettlauf mit dem Winter. Männern brachen die Herzen und sprangen die Rücken, und sie weinten neben dem Wege vor Ermattung. Aber der Winter gab nicht nach. Die Herbststürme wehten, und unter bitterkalten, durchweichenden Regenschauern und immer zunehmenden Schneegestöbern schafften Tarwater und die Gesellschaft, an die er geknüpft war, das letzte von ihrer Ausrüstung an den Strand.

Es gab keine Ruhe. Jenseits des Sees, eine Meile hinter einem brüllenden Bergstrom, stachen sie ein Stück Tannenwald ab und bauten ihre Sägegrube. Hier sägten sie mit Handkraft, mit einer unzweckmäßigen Langsäge, Baumstämme zu Brettern. Sie arbeiteten Tag und Nacht. Dreimal wurde der alte Tarwater bei der Nachtarbeit in der Sägegrube ohnmächtig. Am Tage bereitete er wie gewöhnlich das Essen, und in den Abendpausen half er Anson, am Ufer des Bergstromes aus den frischen Planken das Boot zu bauen.

Die Tage wurden kürzer. Der Wind schlug nach Norden um und wurde zu unendlichem Sturm. Morgens krochen die müden Männer aus ihren Wolldecken, setzten sich in Socken an das Feuer, das Tarwater stets für sie angezündet hatte, und trockneten und tauten ihre gefrorenen Schuhe auf. Immer mehr wurde von der Hungersnot im Lande erzählt. Die letzten Dampfer, die Proviant von der Beringsee brachten, wurden durch den niedrigen Wasserstand an der Grenze des Yukonlandes, Hunderte von Meilen nördlich von Dawson, aufgehalten. Sie lagen bei der Station der alten Hudsonbucht-Kompanie am Fort Yukon innerhalb des Polarkreises. Mehl kostete in Dawson zwei Dollar das Pfund, aber niemand wollte Mehl verkaufen. Bonanza- und Doradokönige mit ungeheurem Geld verließen das Land, weil sie keinen Proviant kaufen konnten. Komitees von Minenarbeitern konfiszierten alle Nahrungsmittel und setzten die Bevölkerung auf knappe Rationen. Ein Mann, der auch nur eine Unze Proviant zurückhielt, wurde wie ein Hund niedergeschossen. Zwei Dutzend waren schon hingerichtet worden.

Und unter einer Anstrengung, die so viele jüngere geknickt hatte, begann auch der alte Tarwater zusammenzubrechen. Sein Husten war schrecklich geworden, und hätten seine ermatteten Kameraden nicht wie die Toten geschlafen, so würde er sie die Nächte hindurch wach gehalten haben. Er begann auch an Kälteschauern zu leiden, so daß er sich mit allen Kleidungsstücken, die er hatte, ins Bett legte und sein Kleidersack nicht einen Fetzen mehr enthielt. Alles, was er besaß, war um seine magere, alte Gestalt gewickelt.

»Wenn er jetzt schon, wo das Thermometer nicht niedriger als zwanzig Grad Fahrenheit über dem Nullpunkt steht, alles anzieht, was er hat«, sagte der Große Bill, »was will er dann erst tun, wenn es auf fünfzig oder sechzig unter Null fällt?«

Sie zogen das roh gearbeitete Boot an einer Leine den Bergstrom hinab, wobei sie es ein dutzendmal fast verloren hätten, und ruderten es über das Südende des Linderman-Sees direkt in einen Herbststurm hinein. Am nächsten Morgen gedachten sie das Boot zu beladen und geradeswegs nach Norden ihre gefährliche Fahrt von fünfhundert Meilen über Seen, Stromschnellen und tief eingeschnittene Flußbetten anzutreten. Ehe jedoch der junge Liverpool an diesem Abend zu Bett ging, verließ er das Lager. Er kehrte wieder und fand die ganze Gesellschaft im Schlaf. Er weckte Tarwater und sprach leise mit ihm.

»Hören Sie, Vater«, sagte er, »Sie haben freie Fahrt in unserm Boot. Und wenn sich je ein Mann freie Fahrt verdient hat, so sind Sie es. Aber Sie wissen selbst, daß Sie schon ziemlich bei Jahren sind und daß Sie augenblicklich nicht mit Ihrer Gesundheit prahlen können. Wenn Sie mit uns weiterziehen, setzen Sie, so sicher wie die Hölle, Ihren Pelz zu. – Lassen Sie mich ausreden, Vater. Die Bezahlung für eine Reise ist jetzt auf fünfhundert Dollar gestiegen. Ich habe meinen Willen durchgesetzt und einen Passagier abgelehnt. Er ist Beamter der Alaska-Handelsgesellschaft, muß unbedingt ins Land und hat sechshundert geboten, um in unserm Boot mitzufahren. Die Fahrt gehört Ihnen. Verkaufen Sie sie ihm, stecken Sie die sechshundert in die Tasche und ziehen Sie wieder heim, solange der Weg gut ist. Sie können in zwei Tagen in Dyea und eine Woche später in Kalifornien sein. Was meinen Sie dazu?«

Tarwater hustete und zitterte eine Weile, ehe er Luft bekam, um zu reden.

»Mein Sohn«, sagte er, »ich möchte Ihnen nur eines sagen. Ich fuhr neunundvierzig mit einem Viergespann von Ochsen über die Steppe, ohne einen einzigen zu verlieren. Ich fuhr mit ihnen direkt nach Kalifornien, und später arbeitete ich als Fuhrmann mit ihnen von Sutter Fort nach American Bar. Und jetzt bin ich nach Klondike unterwegs. Nichts kann mich halten. Nichts. Ich muß mit Ihnen am Steuer im Boot bis nach Klondike reisen und dreihunderttausend aus den Graswurzeln schütteln. Da es so steht, wäre es gegen alle Vernunft, wenn ich meine Reise verkaufte. Aber ich danke Ihnen herzlich, mein Sohn, ich danke Ihnen herzlich.«

Einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte der junge Seemann die Hand aus und ergriff die des alten Mannes.

»Bei Gott, Vater!« rief er. »Sie werden sicher hinkommen. Sie sind aus dem richtigen Stoff gemacht.«

Er ließ einen Blick unverstellter Verachtung über die Schlafenden zu der Stelle schweifen, wo Charles Crayton in seinen roten Bart schnarchte. »Es scheint heute nicht mehr viele Ihres Schlages zu geben, Vater.«

Nordwärts kämpften sie sich, obwohl Veteranen, die zurückkehrten, den Kopf schüttelten und prophezeiten, daß sie auf den Seen einfrieren würden. Daß das Wasser jeden Tag zufrieren konnte, war klar, und es hieß ohne Zögern aufzubrechen. Deshalb entschloß Liverpool sich, mit dem vollbelasteten Boot über den reißenden Strom zu fahren, der den Linderman-See mit dem Bennett-See verbindet. Man pflegte die leeren Boote abwärts zu ziehen und die Fracht hinüberzutragen, und selbst dabei hatten viele leere Boote Schiffbruch erlitten. Jetzt aber war keine Zeit zu solcher Vorsicht.

»Steigen Sie aus, Vater«, kommandierte Liverpool, als er sich anschickte, vom Ufer abzustoßen und sich in die Stromschnellen zu stürzen.

Der alte Tarwater schüttelte sein weißes Haupt.

»Ich bleibe bei der Ausrüstung«, erklärte er. »Das ist die einzige Möglichkeit, durchzukommen. Sehen Sie, mein Sohn, ich muß nach Klondike. Wenn ich im Boot bleibe, ist es selbstverständlich, daß das Boot nach Klondike kommt. Steige ich aus, so ist es höchstwahrscheinlich, daß ihr das Boot verliert.«

»Na, es hat keinen Zweck, das Boot zu überlasten«, erklärte Charles und sprang plötzlich ans Ufer, als das Boot loswarf.

»Das nächste Mal wartest du meinen Befehl ab!« rief Liverpool ihm zu, während die Strömung das Boot packte. »Und dann gibt es kein Herumspazieren um die Stromschnellen und keine Zeitvergeudung mehr, um auf dich zu warten und dich wieder aufzulesen.«

Für jedes Stück, das sie auf dem Strom in zehn Minuten schafften, brauchte Charles fast eine halbe Stunde, und die Zeit, die sie am Ende des Bennett-Sees auf ihn warteten, verbrachten sie mit mehreren arg mitgenommenen zurückkehrenden Veteranen. Die Nachrichten von der Hungersnot waren ernster als je. Die berittene Nordwest-Polizei, die am unteren Ende des Marsh-Sees stationiert war, wo die Goldgräber auf kanadisches Gebiet gelangten, ließ keinen durch, der nicht mindestens siebenhundert Pfund Proviant mitbrachte. In Dawson warteten tausend Mann mit Hunden auf das Zufrieren des Sees, um über das Eis zu kommen. Die Handelsgesellschaften konnten ihre Verträge bezüglich der Lieferung von Nahrungsmitteln nicht erfüllen, und Teilhaber losten unter sich, wer weiterziehen und wer zurückbleiben und die Claims bearbeiten sollte. »Das entscheidet«, sagte Charles, als er von dem Auftreten der berittenen Polizei hörte. »Alter Mann, Sie können ebensogut gleich umkehren.«

»Klettern Sie an Bord«, kommandierte Liverpool, »wir gehen nach Klondike, und der alte Vater geht mit.«

Ein Umschlagen des Sturmes nach Süden schaffte ihnen günstigen Wind auf dem Bennett-See, auf dem sie vor dem Winde unter einem großen, von Liverpool verfertigten Segel liefen. Das schwere Gewicht der Ausrüstung wirkte als Ballast, so daß er drauflosfuhr, wie ein kühner Seemann muß, wenn jede Minute von Wichtigkeit ist. Eine Drehung des Windes von vier Strich nach Südwest, die gerade rechtzeitig kam, als sie den Caribou Crossing erreichten, trieb sie durch dieses Bindeglied von Tagish- und Marsh-See. Während eines stürmischen Sonnenuntergangs und der darauffolgenden Dämmerung unternahmen sie die gefährliche Kreuzung über den Großen Windarm, wo sie zwei andere Boote mit Goldgräbern kentern und die Insassen ertrinken sahen.

Charles war dafür, daß sie nachts an Land gehen sollten, aber Liverpool blieb unerbittlich und steuerte nach dem Tagish-See, wobei er sich nach dem Geräusch der Brandung auf den Klippen und nach den gelegentlichen Feuern an der Küste richtete, die von schiffbrüchigen oder furchtsamen Argonauten erzählten. Um vier Uhr morgens weckte er Charles. Der alte Tarwater, der wach lag und zitterte, hörte, wie Liverpool Charles nach achtern neben sich an die Ruderpinne rief, und hörte auch die einseitige Unterhaltung.

»Hör gut zu, Freund Charles, und halt selber den Mund«, begann Liverpool. »Ich wünsche, daß du dir eins merkst. Der alte Vater reist weg auf Order der Polizei. Verstanden? Er reist weg. Wenn sie unsere Ausrüstung untersuchen, gehört dem alten Vater ein Fünftel davon. Verstanden? Dadurch kommen wir alle unter das Gewicht, das wir haben sollten, aber wir werden sie schon irgendwie bluffen. Also merk dir das und vergiß es nicht! Es bleibt dabei!«

»Wenn du glaubst, ich würde das alte Wrack verraten…«, begann Charles gekränkt.

»Das ist dein Gedanke, ich habe nicht ein Wort davon gesagt«, unterbrach ihn Liverpool. »Versteh mich recht: Mir ist es einerlei, was du gedacht hast. Es kommt darauf an, was du denken wirst. Wir kommen heute im Laufe des Nachmittags an der Polizeistation vorbei und müssen uns bereithalten, die Geschichte ohne Blinzeln durchzuführen, und es ist am besten, so wenig wie möglich davon zu reden.«

»Wenn du glaubst, ich wollte…«, begann Charles wieder.

»Hör mal«, unterbrach ihn Liverpool. »Ich weiß nicht, was du willst. Ich will es auch nicht wissen. Ich wünsche, daß du weißt, was ich will. Wenn wir Pech haben, wenn der alte Vater von der Polizei zurückgeschickt wird, dann suche ich mir den ersten ruhigen Platz aus und setze dich an Land. Und dann gebe ich dir eine gehörige Tracht Prügel. Versteh mich recht. Das wird keine halbe Sache, sondern eine richtige zweibeinige und zweihändige Tracht Prügel. Ich gedenke dich nicht totzuschlagen, aber viel wird nicht daran fehlen.«

»Aber was kann ich denn dabei machen?« meinte Charles kläglich.

»Nur eines«, waren Liverpools Schlußworte. »Bete nur kräftig, daß der alte Vater an der Polizei vorbeikommt, daß er wirklich vorbeikommt – das ist alles. Und nun mach, daß du wieder in deine Decken kommst.«

Ehe sie den Le-Barge-See erreichten, war das Land mit Schnee bedeckt, der das nächste halbe Jahr nicht schmelzen sollte. Sie konnten auch nicht nach Belieben am Ufer anlegen, denn dort bildete sich schon eine Eiskante. Gerade vor der Mündung des Flusses in den Le-Barge-See fanden sie Hunderte von Argonauten, deren Boote der Sturm aufgehalten hatte. Von Norden wehte quer über den großen See herüber ein unendlicher Schneesturm. Drei Morgen hintereinander stießen sie ab und kämpften mit dem Sturm und den Wellen, deren Spritzer zu Eis wurden, wenn sie ins Boot fielen. Während die anderen sich an den Riemen zuschanden arbeiteten, sorgte der alte Tarwater dafür, sein Blut genügend in Zirkulation zu halten, indem er das Eis zerhieb und über Bord warf.

Als sie drei Tage nacheinander geschlagen waren und hilflos dalagen, machten sie kehrt und liefen wieder in den schirmenden Fluß ein. Am vierten Tage waren die Boote zu dreihundert angewachsen, und die zweitausend Argonauten an Bord wußten, daß der große Sturm das Zufrieren des Le-Barge-Sees verkündete. Eine Strecke weiter strömten die reißenden Flüsse noch tagelang. Wenn sie aber nicht gleich aufbrachen, waren sie dazu verurteilt, für die nächsten sechs Monate einzufrieren.

»Heute müssen wir durchkommen«, erklärte Liverpool. »Heute gibt es kein Umkehren. Und wer von uns an den Riemen stirbt, wird wieder aufleben und weiterrudern.«

Und sie kamen durch; sie legten bis Anbruch der Nacht die Hälfte von der Länge des Sees zurück und ruderten weiter die ganze Nacht, während der Wind sich legte. Sie schliefen an den Riemen ein, wurden von Liverpool aufgerüttelt und arbeiteten sich durch einen bösen Traum, lang wie ein Leben, hindurch, während die Sterne zum Vorschein kamen, die Oberfläche des Sees glatt wie ein Stück Papier wurde und zu dünnem Eis gefror, das wie zerbrochenes Glas klirrte, wenn die Ruderblätter es zerschlugen.

Als der Tag klar und kalt anbrach, fuhren sie in die Flußmündung ein und ließen einen zugefrorenen See hinter sich. Liverpool sah sich nach seinem betagten Passagier um und fand ihn hilflos und fast bewußtlos. Als er das Boot an die Eiskante schwang, um ein Feuer zu machen und Tarwater von innen und außen zu erwärmen, protestierte Charles gegen einen solchen Zeitverlust.

»Dies ist nicht Geschäft, misch dich also nicht hinein«, unterrichtete Liverpool ihn. »Ich bin es, der für die Bootsfahrt einsteht. Klettere also nur heraus und hack Holz, und zwar eine Menge. Du, Anson, machst ein Feuer, und du, Bill, stellst den Yukonofen im Boot auf. Der alte Vater ist nicht so jung wie wir andern, und für den Rest dieser Reise soll er am Feuer sitzen.« Alles geschah, wie er sagte, und das Boot, dessen zwei Ofenröhren der Rauch wie einem Flußdampfer entstieg, wurde vom Strom gepackt, stieß auf Klippen, blieb hängen, wo der Strom sich teilte, ging auf Stromschnellen und tiefe Schluchten los und trieb immer tiefer in den Winter des Nordlandes hinein. Der Große und der Kleine Lachsfluß warfen Grützeis in den Hauptstrom, als sie vorbeifuhren, und unterhalb der Schnellen löste sich Grundeis vom Flußbett und bedeckte die Oberfläche mit kristallklarem Schaum. Tag und Nacht wuchs das Randeis, bis es an ruhigen Stellen hundert Meter weit von der Küste in den Strom ragte. Und der alte Tarwater saß mit all seinen Kleidungsstücken am Ofen und schürte das Feuer. Da sie aus Furcht vor dem drohenden Zufrieren nicht anzuhalten wagten, fuhren sie Tag und Nacht weiter, inmitten einer immer wachsenden Menge Grützeis.

»Hallo, wie steht’s, Alter?« rief Liverpool von Zeit zu Zeit.

»Glänzend«, hatte der alte Tarwater zu antworten gelernt.

»Mein Sohn, was kann ich je zum Dank für Sie tun?« fragte Tarwater, der für das Feuer sorgte, zuweilen Liverpool, der, um die Blutzirkulation rege zu halten, bald die eine, bald die andere Hand auf den Bootsrand schlug, während er auf dem eiskalten Achtersitz saß und steuerte.

»Sing nur dein Lied, alter Neunundvierziger«, lautete die merkwürdige Antwort.

Und Tarwater erhob seine Stimme zu einem gackernden Singen, das er laut erklingen ließ, als das Boot schließlich durch das treibende Grützeis ans Ufer schwang, am Ufer von Dawson vertäut wurde und die ganze Flußstraße in Dawson die Ohren spitzte, um den Triumphgesang zu hören:

»Wie vor alters zog die Argo,

Kann uns keiner heut‘ verwehren

Auszuziehen, tum-tum-tum,

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

Charles tat es, aber er tat es so vorsichtig, daß keiner von seiner Gesellschaft, am wenigsten der Seemann, etwas davon erfuhr. Er sah, daß zwei große, offene Boote sich mit Männern füllten. Auf seine Frage erfuhr er, daß es Leute ohne Proviant waren, die vom Sicherheitsausschuß eingefangen waren und den Yukon hinabgeschickt wurden. Die Boote sollten von dem letzten kleinen Dampfer, der sich in Dawson befand, geschleppt werden und man hoffte, daß sie, ehe der Fluß zufror, Fort Yukon erreichten, wo die gestrandeten Dampfer lagen. Auf jeden Fall sollte Dawson von ihrer Anwesenheit und ihrem Hunger befreit werden, einerlei, wie es ihnen erging. Deshalb begab sich Charles zum Sicherheitsausschuß, um ihm heimlich einen Floh bezüglich Tarwaters ins Ohr zu setzen, der weder Proviant noch Geld hatte und alt war. Tarwater war einer der letzten, der aufgelesen wurde, und als der junge Liverpool ans Ufer zurückkehrte, sah er gerade noch die Boote in einer Pressung von Grützeis um die Biegung hinter den Moosehide-Bergen verschwinden.

Die Boote fuhren den ganzen Tag im Grützeis und entgingen mehrmals Baumstämmen, die an seichten Stellen im Grunde des Yukons saßen. Sie legten ihre Hunderte von Meilen nordwärts zurück und froren dicht neben der Proviantflotte ein. Hier, innerhalb des Polarkreises, ließ der alte Tarwater sich für den langen Winter nieder. Er arbeitete täglich einige Stunden, indem er Holz für die Dampfschiffgesellschaft hackte, und das genügte, ihn zu ernähren. Die übrige Zeit hatte er nichts zu tun, als in seiner aus Baumstämmen erbauten Hütte den Winterschlaf zu halten.

Wärme, Ruhe und genügend Nahrung heilten seinen schlimmen Husten und brachten ihn in einen so guten Gesundheitszustand, wie es für seine vorgeschrittenen Jahre möglich war. Aber kurz vor Weihnachten verursachte der Mangel an frischem Gemüse eine Skorbutepidemie, und einer der enttäuschten Abenteurer nach dem anderen ergab sich auf diesem Höhepunkt des Unglücks kläglich und legte sich in seine Koje. Das tat Tarwater nicht. Als sich die ersten Symptome bei ihm zeigten, brachte er sein einziges Heilmittel, nämlich Bewegung, in Anwendung. In der der alten Handelsstation gehörigen Niederlage suchte er eine Anzahl alter Fallen hervor, und von einem Dampferkapitän lieh er sich eine Büchse.

So ausgerüstet, ließ er das Holzhacken und begann mehr als sein bloßes Auskommen zu verdienen. Auch als der Skorbut in seinem eigenen Körper ausbrach, verlor er den Mut nicht. Immer noch versorgte er seine Fallen und sang sein altes Lied. Kein Pessimist konnte seine Sicherheit bezüglich der dreihunderttausend erschüttern, die er in einem Strom von Klondikegold aus den Graswurzeln schütteln wollte.

»Aber dies ist kein Goldland«, sagten sie zu ihm.

»Gold ist, wo man es findet, mein Sohn. Ich muß es doch wissen, denn ich habe in Minen gearbeitet, längst ehe du geboren wurdest, im Jahre neunundvierzig«, lautete die Antwort. »Was war Bonanza Creek anderes als eine Elchweide? Kein Goldsucher wollte ihn ansehen; und doch wuschen sie Pfannen zu fünfhundert Dollar aus und gewannen fünfzig Millionen Dollar. Dorado war ebenso schlecht. Nach allem, was man weiß, liegen gerade unter dieser Hütte oder eben jenseits des nächsten Hügels Millionen und warten darauf, daß ein Glücklicher wie ich kommt und sie ans Tageslicht bringt.«

Ende Januar kam sein Unglück. Irgendein kräftiges Tier, seiner festen Meinung nach ein Luchs, verfing sich in einer seiner Fallen und schleppte sie fort. Ein starker Schneefall hielt seine Verfolgung auf halbem Wege auf, verlöschte die Fährte und ließ ihn sich verirren. Es war nur wenige Stunden täglich zwischen den zwanzig Stunden Finsternis hell, und seine Bemühungen in der Dämmerung und dem beständigen Schneefall hatten zur Folge, daß er sich noch gründlicher verirrte.

Glücklicherweise steigt das Thermometer stets, wenn Winterschnee im Nordland fällt; statt der gewöhnlichen vierzig, fünfzig oder sogar sechzig Grad Fahrenheit unter Null blieb die Temperatur auf fünfzehn Grad stehen. Er war auch warm gekleidet und hatte eine volle Streichholzschachtel bei sich. Ferner trug zur Linderung seiner Unannehmlichkeit bei, daß er am fünften Tage einen verwundeten Elch tötete, der mehr als eine halbe Tonne wog. Er schlug sein Lager neben dem toten Elch in einem tannenbewachsenen Gelände auf und bereitete sich darauf vor, hier den Winter durchzuhalten, falls er nicht von einer Abteilung, die nach ihm suchte, gefunden wurde oder sein Skorbut sich verschlimmern sollte.

Nach zwei Wochen aber hatte sich noch kein Mensch gezeigt, sein Skorbut sich aber unweigerlich verschlimmert. Dicht an seinem Feuer, gegen die äußere Kälte durch eine Mauer aus Tannenzweigen geschützt, lag er lange Stunden zusammengekauert schlafend und lange Stunden wach da. Aber die wachen Stunden wurden weniger, wurden sehr bald zu halbwachen und halbträumenden Stunden. Und langsam sank der letzte Funke von Bewußtsein, der John Tarwater ausmachte, immer tiefer hinab in die Tiefe seines Wesens, die zusammengesetzt war, ehe der Mensch Mensch war oder während er Mensch wurde, als er zuerst von allen Tieren sich selbst mit nach innen gewandten Augen betrachtet und den Grundstein zur Moral in einem Aberglauben gelegt hatte, der die Welt mit den Ungeheuern bevölkert, die seinen eigenen, jeder Ethik baren Wünschen entsprungen waren.

Wie ein Mensch im Fieber mit langen Zwischenräumen zum Bewußtsein erwacht, so erwachte der alte Tarwater, bereitete sich sein Elchfleisch und legte Holz aufs Feuer. Aber immer längere Zeit verbrachte er in seiner Schlaffheit, ohne zu wissen, was Traum im Wachen und was Traum im Schlafen während seiner Bewußtlosigkeit war. Und hier, in den unvergeßlichen Verstecken der ungeschriebenen Geschichte der Menschheit, die undenkbar und nicht zu erfahren ist, wie die Begebenheiten in einem Alptraum oder unmögliche Erlebnisse in der Verrücktheit, begegnete er den Ungeheuern, die das erste Moralgefühl des Menschen geschaffen und die ihn seither stets geplagt haben, so daß er phantastische Erzählungen ersinnen mußte, um sie zu täuschen oder zu bekämpfen.

Kurz, unter der Last seiner siebzig Jahre, in der ungeheuren schweigenden Einsamkeit des Nordens fand der alte Tarwater wie in einem durch einen Schlaftrunk oder ein Betäubungsmittel hervorgerufenen Delirium das kindliche Gemüt des Kindmenschen einer früheren Zeit wieder. In der Dämmerung der flatternden Schwingen des Todes kauerte Tarwater nieder und begann wie sein ferner Vorgänger, der Kindmensch, Mythen zu schaffen, die Sonne zu einem Halbgott zu machen und selbst der Halbgott zu werden, der nach dem Schatz aus undenkbaren Zeiten suchte, nach dem Schatz, der so schwer zu erringen ist.

Entweder mußte er den Schatz gewinnen – denn so lautete die unerbittliche Logik im Schattenland des Unbewußten –, oder er mußte in dem alles verschlingenden Meer, dem schwarzen Verzehrer des Lichts, versinken, der allnächtlich die Sonne verschlang, so daß sie erlosch – die Sonne, die immer wieder neu geboren am nächsten Morgen im Osten aufging und die für den Menschen das erste Symbol der Unsterblichkeit durch Wiedergeburt geworden ist. Alles das war in den Tiefen seines Bewußtseins (dem dunklen Westen des sinkenden Lichts) die nahe Dämmerung des Todes, in der er langsam versank.

Wie aber sollte er diesen finsteren Ungeheuern entgehen, die ihn von innen heraus langsam verschlangen? Allzu tief versunken war er, um von Befreiung zu träumen oder einen Fluchtgedanken zu hegen. Für ihn hatte die Wirklichkeit aufgehört zu sein. Nicht einmal aus der verfinsterten Kammer seines eigenen Ichs konnte die Wirklichkeit wieder aufflammen. Seine Jahre lasteten zu schwer auf ihm, und die Schwäche, die Folge der Krankheit, und die Schlaffheit und Gefühllosigkeit, die Folgen der Stille und Kälte, waren zu mächtig. Nur von außen konnte die Wirklichkeit auf ihn wirken und in ihm die Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit wieder erwecken. Sonst mußte er durch das Schattenreich des Unbewußten in die völlige Finsternis der Auslöschung sinken.

Doch er kam, dieser Anstoß der Wirklichkeit von außen, krachte in einem lauten, explosiven Schnauben gegen seine Trommelfelle. Zwei Tage lang, bei einer Temperatur, die sich nie über fünfzig Grad unter Null erhob, hatte sich nicht ein Windhauch geregt, hatte nicht der geringste Laut die Stille durchbrochen. Wie der Opiumraucher auf seiner Ruhebank seine Augen wieder von den weiten Räumen des Traumes auf die Enge der elenden Kammer einstellt, so starrte der alte Tarwater mit unsicherem Blick vor sich hin, über das sterbende Feuer, auf einen großen Elch, der ihn, ein verwundetes Bein nachschleppend, mit allen Anzeichen äußerster Ermattung erschrocken anstarrte; auch der war blind im Schattenland umhergeschweift und gerade, als er an Tarwaters Feuer trat, zur Wirklichkeit erwacht.

Matt zog der alte Tarwater sich den großen Fäustling aus Fell mit dem dicken Wollrand von seiner rechten Hand. Er versuchte, den Zeigefinger zu bewegen, fand aber, daß er zu steif war. Vorsichtig, langsam, in langen Minuten, wühlte er die bloße Hand unter seine Wolljacke und seine Fellparks, durch die Brustöffnung seiner Hemden in seine linke Armhöhle, die nur wenig warm war. Lange Minuten vergingen, ehe der Finger beweglich wurde, und dann hob er mit ebenso vorsichtiger Langsamkeit die Büchse an die Schulter und zielte über das Feuer hinweg auf das große Tier.

Bei dem Schuß wankte der eine der beiden schattenhaften Wanderer in die Finsternis hinab, und der andere wirbelte aufwärts zum Licht, wie ein Betrunkener auf seinen vom Skorbut geschwächten Beinen taumelnd, vor Nervosität und Kälte bebend. Er rieb sich mit zitternden Fingern die rinnenden Augen und starrte auf die wirkliche Welt um sich her, die mit einer so überwältigenden Plötzlichkeit zu ihm zurückgekehrt war. Er nahm sich zusammen und erkannte, daß er lange Zeit, wie lange, wußte er nicht, in den Armen des Todes gebettet gewesen. Er spie aus, lauschte auf das Geräusch und schloß daraus, daß es weit unter sechzig Grad sein mußte. Tatsächlich zeigte das Spiritusthermometer in Fort Yukon an diesem Tage fünfundsiebzig Grad Fahrenheit unter Null, was, da der Gefrierpunkt zweiunddreißig Grad über Null liegt, hundertundsieben Grad Frost entspricht.

Langsam schmiedete Tarwaters Hirn einen vernünftigen Plan zur Tat. Hier in der unendlichen Einsamkeit wohnte der Tod. Zwei verwundete Elche waren hierhergekommen. Als sich der Himmel nach Eintritt der großen Kälte geklärt hatte, war ihm die Lage seiner Zufluchtsstätte klargeworden. Er wußte, daß die beiden verwundeten Elchtiere sich von Osten zu ihm geschleppt hatten. Deshalb mußte es Menschen im Osten geben – ob Weiße oder Indianer, konnte er nicht sagen –, aber jedenfalls Menschen, die ihm in seiner Not beistehen und ihm helfen konnten, sich jenseits des Meeres der Finsternis in der Wirklichkeit zu verankern.

Er bewegte sich langsam, aber er bewegte sich, umgürtete sich mit Büchse und Munition, nahm Streichhölzer und einen Packen mit zwanzig Pfund Elchfleisch. Ein verjüngter Argonaute, wenn auch auf beiden Beinen lahm und wankend, kehrte er dem gefährlichen Westen den Rücken und hinkte nun nach Osten, wo die Sonne aufgeht und wiedergeboren wird.

Mehrere Tage später – wie viele, sollte er nie erfahren – gelangte er, unter Träumen und Gesichten und sein altes Goldlied von neunundvierzig gackernd, wie einer, der am Ertrinken ist und matt schwimmt, um sein Bewußtsein über der verschlingenden Finsternis zu halten, auf einen Schneehang über einer tiefen Bergesschlucht und sah von unten Rauch aufsteigen und Männer, die mit der Arbeit aufhörten, um ihn anzustarren. Immer singend, stolperte er zu ihnen hinab, und als er vor Atemlosigkeit aufhörte, riefen sie ihn mit verschiedenen Namen: Heiliger Nikolaus, alter Weihnacht, Vollbart, Letzter Mohikaner und Vater Weihnacht. Und als er bei ihnen war, stand er ganz still, ohne zu reden, während große Tränen aus seinen Augen rannen. Er weinte lange schweigend, bis er sich, als besänne er sich plötzlich, mit krachenden und knirschenden Gliedern in den Schnee setzte, in dieser vorteilhaften Stellung seitwärts umsank und in eine ruhige und leichte Ohnmacht fiel.

In weniger als einer Woche war der alte Tarwater wieder auf den Beinen und hinkte bei der Hausarbeit in der Hütte umher, bereitete Essen und wusch auf für die fünf Mann am Bache. Es waren echte Pioniere, zäh und schwer zu narren, die so tief in der Polarwelt begraben gewesen waren, daß sie nichts von dem Sturm auf Klondike wußten. Die Nachrichten, die er ihnen brachte, waren das erste, was sie davon hörten. Sie lebten fast ausschließlich von Elch- und Renfleisch und geräuchertem Lachs, dazu wilden Beeren und einigen saftigen wilden Wurzeln, von denen sie im Sommer einen Vorrat gesammelt hatten. Sie hatten vergessen, wie Kaffee schmeckt, machten Feuer mit einem Brennglas, führten, wohin sie reisten, natürliche Feuerhölzer mit sich und rauchten in ihren Pfeifen getrocknete Blätter, die die Zunge bissen und in der Nase brannten.

Vor drei Jahren hatten sie von den Hauptstrecken von Koyokuk nordwärts bis zur Mündung des Mackenzie in das Nördliche Eismeer nach Gold gesucht. Dort hatten sie auf den Walfängerschiffen die letzten weißen Männer gesehen und sich mit dem letzten Proviant für weiße Männer versehen, der hauptsächlich aus Salz und Rauchtabak bestand. Auf dem Wege nach Süden und Westen, auf dem weiten Zuge bis zur Vereinigung von Yukon und Porcupine bei Fort Yukon, fanden sie in diesem Bache Gold und blieben hier, um den Boden zu bearbeiten.

Sie begrüßten Tarwaters Ankunft mit Freuden, wurden nie müde, seinen Erzählungen von neunundvierzig zu lauschen, und tauften ihn um zu »alter Held«. Mit Tee aus Tannennadeln, mit einem Gebräu aus Weidenrinde, mit sauren und bitteren Wurzeln und Zwiebeln aus der Erde trieben sie den Skorbut aus ihm heraus, so daß er nicht mehr hinkte und seine knochige Gestalt sich mit Fleisch zu bedecken begann. Er sah immer noch nicht ein, weshalb er nicht einen reichen Goldschatz aus der Erde gewinnen sollte.

»Wir wissen nichts von diesen dreihunderttausend«, sagten sie eines Morgens beim Frühstück, ehe sie zu ihrer Arbeit gingen, zu ihm. »Aber würden hunderttausend nicht genügen, alter Held? Das ist ein Claim unserer Berechnung nach wert; der Boden ist schlecht abgegrenzt, und wir haben schon ein Stück für dich abgesteckt.«

»Na ja, Jungens«, antwortete der alte Tarwater. »Ich danke euch herzlich, und alles, was ich sagen kann, ist, daß hunderttausend hübsch und für einen Anfänger sogar sehr hübsch sein würden. Aber natürlich höre ich nicht auf, ehe ich die dreihunderttausend voll habe. Deshalb bin ich ins Land gekommen.«

Sie lachten, priesen seinen Ehrgeiz und meinten, daß sie dann einen reicheren Bach für ihn ausfindig machen müßten. Und der alte Held meinte, daß er sich selbst, wenn das Frühjahr käme und er sich kräftiger fühlte, ein bißchen umschauen müsse.

»Denn nach allem, was man weiß«, sagte er, indem er auf einen Bergeshang auf der anderen Seite des Tales wies, »kann das Gold vielleicht in Klumpen an den Mooswurzeln dort unter dem Schnee hängen.«

Er sagte nichts mehr, als aber die Sonne stieg und die Tage wärmer und länger wurden, starrte er oft nach dem Bach und nach der deutlichen Terrassenformation in halber Höhe des Berges hinüber. Und eines Tages, als die Schneeschmelze schon in vollem Gange war, setzte er über den Fluß und erklomm die Terrasse. Wo der Boden der Sonne ausgesetzt war, war er schon einen Zoll tief geschmolzen. An einer solchen Stelle legte er sich nieder, nahm eine Handvoll Moos in seine großen, knorrigen Hände und zerrte die Wurzeln auseinander. Die Sonne schien auf mattschimmerndes Gold. Er schüttelte das Moos, und derbe Klumpen wie Kies fielen auf die Erde. Es war das Goldne Vlies, zum Scheren bereit.

 

Nicht vergessen in den Annalen Alaskas ist der Sommer 1898, in dem die Goldgräber von Fort Yukon nach den Minen bei den Terrassen von Tarwater Hill strömten. Und als Tarwater seinen Besitz für rund eine halbe Million an die Bowdie-Gesellschaft verkaufte und die Nase nach Kalifornien kehrte, ritt er auf einem Maultier auf einem neu angelegten Wege mit behaglichen Häusern bis zur Dampferanlegestelle von Fort Yukon.

Bei der ersten Mahlzeit auf dem Ozeandampfer von St. Michaels wurde er von einem grauhaarigen Steward bedient, dessen Gesicht von Sorgen verheert und dessen Körper vom Skorbut verrenkt war. Der alte Tarwater mußte ihn zweimal in Augenschein nehmen, um sich zu vergewissern, daß es Charles Crayton war.

»Schlecht gegangen, mein Sohn, was?« fragte Tarwater.

»So viel Glück habe ich gehabt«, klagte der andere, als er ihn erkannt und begrüßt hatte. »Nur einer von der Gesellschaft wurde vom Skorbut gepackt. Ich habe Höllenqualen erduldet. Die anderen drei arbeiten alle, sind gesund und bekommen Proviant und Ausrüstung, um im Winter am Weißen Fluß nach Gold zu suchen. Anson verdient fünfundzwanzig täglich als Zimmermann. Liverpool schlägt Holz für die Sägemühle und kriegt zwanzig, und der Große Bill hat vierzig täglich als Vorarbeiter der Sägemühle. Ich tat mein Bestes, und wenn der Skorbut nicht gewesen wäre…«

»Sicher, mein Sohn, hast du dein Bestes getan, was viel sein muß, da du von Natur aus reizbar und durch zu viele Geschäfte hart geworden bist. Aber ich will dir etwas sagen. Jetzt bist du so verschandelt, daß du dich nicht mehr zur Arbeit eignest. Ich werde deine Überfahrt beim Kapitän bezahlen, in freundlicher Erinnerung an die Unterstützung, die du mir gewährt hast, und du kannst dich den Rest der Reise ausruhen. Wie steht es mit dir, wenn du in San Franzisko an Land gehst?«

Charles Cray ton zuckte die Achseln.

»Ich will dir etwas sagen«, fuhr Tarwater fort. »Es gibt Arbeit für dich auf meinem Gut, bis du wieder mit Geschäften anfangen kannst.«

»Ich könnte Ihr Geschäft verwalten«, begann Charles eifrig.

»Nein, mein Herr«, erklärte Tarwater mit Nachdruck. »Aber es gibt immer Löcher für Pfosten zu graben und Brennholz zu hacken, und das Klima ist ausgezeichnet…«

Tarwater kam heim als der wahre verlorene Großvater, für den das fette Kalb bereitstand und geschlachtet wurde. Aber ehe er sich zu Tisch setzte, mußte er erst ein wenig umherschweifen. Und Söhne und Töchter sowie Schwiegersöhne und Schwiegertöchter mußten ihn unbedingt begleiten, so widerwärtig es ihnen auch war, aus der knorrigen alten Hand zu essen, die eine halbe Million auszubezahlen hatte. Er schritt an der Spitze, und keine Ansicht, die er heiter aussprach, war so falsch oder unmöglich, daß sie Widerspruch bei seinem Gefolge erregt hätte. Als er bei dem verfallenen Wasserrad stehenblieb, zu dem er das Holz im Hochwald geschlagen hatte, strahlte sein Gesicht, während er den Blick über das Tarwater-Tal und weiter über die fernen Höhen bis zu den Zinnen der Tarwater-Berge schweifen ließ – jetzt wieder alles sein.

Da kam ihm der Einfall, der ihn sich abwenden und die Nase putzen ließ, um das Blinzeln in seinen Augen zu verbergen. Immer noch von der ganzen Familie gefolgt, begab er sich zu der baufälligen Scheuer. Er hob einen alten Knüppel vom Boden auf.

»William«, sagte er, »erinnerst du dich der kleinen Unterhaltung, die wir hatten, ehe ich nach Klondike ging? Du erinnerst dich sicher noch, William. Du erzähltest mir, daß ich verrückt sei. Und ich sagte, mein Vater würde mir das Fell mit einem Knüppel gegerbt haben, wenn ich so mit ihm geredet hätte.«

»Ach, das war ja nur Unsinn«, versuchte William sich zu entschuldigen.

William war ein grauhaariger Mann von fünfundvierzig, und seine Frau und seine erwachsenen Söhne standen dabei und sahen neugierig zu, wie Großvater Tarwater seinen Rock auszog und ihn Mary zu halten gab.

»William, komm her!« befahl er gebieterisch.

William kam, wenn auch äußerst widerstrebend.

»Nur eine Kostprobe, mein Sohn William, von dem, was mein Vater mir oft genug gegeben hat«, brüllte der alte Tarwater, indem er auf Rücken und Schultern seines Sohnes mit dem Knüppel losprügelte. »Ich mache dich darauf aufmerksam, daß ich dich nicht auf den Kopf schlage. Mein Vater war sehr heftig und fragte nicht danach, wenn er prügelte. – Stoß nicht die Ellbogen zurück! Sonst bekommst du noch zufällig einen Schlag darauf. Und nun sag mir nur eines, mein Sohn William: Denkst du noch, daß ich verrückt bin?«

»Nein«, heulte William, vor Schmerzen herumtanzend, »du bist nicht verrückt, Vater! Natürlich bist du nicht verrückt.«

»Gesagt hast du es«, bemerkte der alte Tarwater bündig, indem er den Knüppel wegwarf und sich wieder in den Rock hineinarbeitete. »Und jetzt laßt uns hineingehen und essen.«


9 Die Goldschlucht

Die Goldschlucht

Es war mitten in der grünen Schlucht, wo die Felswände zurückweichen und die starren, harten Linien der Schlucht durch ein stilles, warmes und weichgepolstertes Winkelchen unterbrochen wurden. Hier ruhte alles. Selbst der kleine Bergbach hielt einen Augenblick in seinem eiligen Fall inne und bildete einen ruhigen Teich. Knietief im Wasser stand mit gesenktem Haupt und geschlossenen Augen ein roter, vielzackiger Hirsch.

Auf der einen Seite stieß eine kleine Wiese an den Teich, ein kühler, federnder, grüner Teppich, der sich bis an den Fuß der düsteren Felswand erstreckte. Auf der andern Seite des Teiches zog sich ein Sandhang bis zum Felsen empor. Der Hang war mit feinem Gras bewachsen – Gras, das mit Blumen vermischt war, die hier und dort orangefarbene, purpurne und goldene Flecken bildeten. Abwärts schloß sich die Schlucht und versperrte die Aussicht. Die schroffen Felswände lehnten sich aneinander, die Schlucht endete in einem Chaos bemooster Felsblöcke und wurde von einem grünen Vorhang von Weinranken, Schlinggewächsen und Zweigen verborgen. Fern am oberen Ende der Schlucht erhoben sich ferne Gipfel und Zinnen: die hohen, mit Kiefern bestandenen Randberge. Und weit hinter ihnen ragten wie Wolken weiße Minaretts in den Himmel: Dort funkelte der ewige Schnee der Sierra in der flammenden Sonne.

Nicht ein Stäubchen war in der Schlucht zu sehen. Das Laub und die Blumen waren rein und jungfräulich. Das Gras war wie frischer Samt. Drei Pappeln ließen ihre schneeweißen Daunen durch die stille Luft auf den Teich herabregnen. Auf den freien Stellen des Hanges, wohin selbst die längsten Schatten der Manzanitaranken nicht reichten, erhoben sich die Mariposalilien wie ein Schwarm juwelengeschmückter Nachtfalter, die plötzlich festgehalten werden, sich aber im nächsten Augenblick wieder in die Luft werfen wollen. Hier und da erfüllte der Harlekin der Wälder, die Madrona, deren erbsengrüne Stämme gerade eine krapprote Farbe annahmen, die Luft mit süßem Wohlgeruch aus den wachsbleichen Glocken ihrer großen Blütendolden. Sahnenartig waren diese Glocken, sie glichen in der Form Narzissen, und ihr Duft enthielt die ganze Süße des Frühlings.

Nicht ein Hauch regte sich. Die Luft war schläfrig und von Duft geschwängert. Dieser süße Duft würde drückend gewesen sein, wäre die Luft schwer und feucht gewesen. Aber sie war dünn und scharf wie Sternenlicht, das in Atmosphäre verwandelt und von Sonnenlicht und süßem Blumenatem durchdrungen und durchwärmt ist.

Hin und wieder flatterte ein Schmetterling durch die Licht- und Schattenflecken. Und von allen Seiten hörte man das leise, einschläfernde Summen der Bergbienen – feiernder Sybariten, die sich gutmütig stießen, aber keine Zeit hatten, grob und unhöflich zu sein. So ruhig quoll und rieselte der kleine Bach durch die Schlucht, daß man ihn nur hin und wieder leise murmeln hörte. Die Stimme des Baches erklang wie ein schläfriges Wispern, das durch träumerisches Schweigen unterbrochen wurde, aber immer wieder von neuem erwachte.

Hier im Herzen der Schlucht ging alles seinen stillen Gang. Sonnenschein und Schmetterlinge glitten ein und aus zwischen den Bäumen. Das Summen der Bienen und das Flüstern des Baches bildeten ein anhaltendes gleitendes Geräusch, und die gleitenden Farben verwoben sich zu einem zarten unfaßbaren Gespinst, das der Geist der Stätte war. Dieser Geist war vom Frieden geprägt, nicht vom Frieden des Todes, sondern von dem Frieden, den das Leben schenkt, wenn es leicht und sorglos dahingleitet; er war von einer Ruhe geprägt, die aber nicht Schweigen, von einer Bewegung, die nicht Handlung war, von einer Ruhe, die von Leben überströmte, aber fern von der gewaltsamen Unruhe des Kampfes und der Arbeit war. Der Geist der Stätte war vom Frieden des Lebens geprägt, leichtschläfrig in seinem zufriedenen, sorglosen Wohlbefinden und ganz ungestört von allen Gerüchten von fernem Streit.

Der rote, vielzackige Hirsch unterwarf sich willig dem Geist der Stätte und stand schläfrig bis zu den Knien in dem kühlen, schattigen Teich. Es gab offenbar keine Fliegen, die ihn störten, und er war in tiefe Ruhe versunken. Zuweilen, wenn der Bach erwachte und flüsterte, bewegten sich seine Ohren, aber sie taten es träge, weil er gut wußte, daß es nur der Bach war, der gemerkt hatte, daß er eingeschlafen war, und jetzt plötzlich redselig wurde. Aber es kam ein Augenblick, da der Hirsch gespannt und eifrig lauschend die Ohren spitzte. Er wandte den Kopf und sah die Schlucht hinab. Seine empfindsamen, zitternden Nüstern witterten. Seine Augen vermochten nicht den grünen Vorhang zu durchdringen, unter dem der Bach rieselnd verschwand, aber seine Ohren fingen den Laut einer Menschenstimme auf. Es war eine eintönige, ununterbrochen singende Stimme. Einmal hörte der Hirsch das harte Klingen von Metall, das gegen den Felsen schlug. Als er den Laut hörte, schnaufte er und sprang mit einem Satz aus dem Teich auf die Wiese; seine Füße versanken in dem weichen, samtenen Grase, er spitzte die Ohren und sicherte wieder. Dann schritt er still über die kleine Wiese, blieb hin und wieder stehen, um zu lauschen, und verschwand leichtfüßig und geräuschlos wie ein Schatten aus der Schlucht.

Der harte Klang von eisenbeschlagenen Stiefelsohlen gegen den Felsen wurde allmählich stärker und die Männerstimme lauter und deutlicher. Es war eine Art Singen und wurde beim Näherkommen allmählich so deutlich, daß man die Worte unterscheiden konnte:

»Lasse deine Augen sehen

Lieblich waldbedeckte Höhen

(Achte nicht der Sünde Macht).

Schau dich um die Kreuz und Quere,

Deinen Sündensack entleere

(Triffst du doch den Herrn bei Nacht).«

Ein rasselndes Geräusch begleitete den Gesang, und der Geist der Stätte floh auf der Fährte des Hirsches. Der grüne Vorhang wurde beiseite gerissen, und ein Mann spähte über Wiese, Teich und Bergeshang. Es war ein vorsichtiger, ruhiger Mann. Er warf einen schnellen Blick durch die Schlucht und ließ dann seine Augen forschend auf allen Einzelheiten weilen, wie um seinen ersten Eindruck zu vervollständigen. Dann, aber auch nicht eher, öffnete er den Mund und sagte zugleich lebhaft und mit feierlicher Anerkennung: »Weiß Gott! Das ist ein Anblick! Wald und Wasser und Gras und ein Bergeshang! Eine Freude für jedes Goldgräberauge und ein Paradies für ein Präriepony! Kühles Grün, eine Erquickung für müde, wehe Augen! Eine einsame Weide für Goldgräber und eine Erholungsstätte für erschöpfte Viecher, der Teufel soll mich holen!«

Er hatte einen sandfarbenen Teint, und sein Gesicht, das sehr beweglich und von wechselndem Ausdruck war, zeigte als hervorstechende Eigenschaften Lebhaftigkeit und Humor. Wenn er dachte, konnte man es ihm direkt ansehen. Die Gedanken fuhren sozusagen über sein Gesicht wie Windstöße über einen Wasserspiegel. Sein dünnes, ungekämmtes Haar hatte dieselbe unbestimmbare Farblosigkeit wie sein Teint. Es sah aus, als hätte sich aller Farbstoff in ihm in seinen Augen gesammelt, die erstaunlich blau waren. Es waren zudem lachende, frohe Augen, die sich nicht wenig von dem verwunderten, naiven Ausdruck des Kindes bewahrt hatten, dabei aber gleichzeitig seltsam unbewußt in ruhigem Selbstvertrauen und einer Festigkeit leuchteten, die, wie man ahnte, in persönlichen Erfahrungen in der Erkenntnis von Welt und Leben wurzelten.

Aus dem dichten Gewirr von Ranken und Schlingpflanzen holte er eine Hacke, eine Schaufel und eine Goldgräberpfanne heraus und warf die Sachen vor sich auf den Boden. Dann kroch er selbst aus seinem Versteck heraus und trat ins Freie. Er trug verblichene Überziehhosen, ein schwarzes Baumwollhemd, an den Füßen nägelbeschlagene Transtiefel und auf dem Kopf einen Hut, der mit seinen vielen Beulen und Flecken davon zeugte, daß er lange Wind und Wetter, Regen und Sonne und dem Rauch der Lagerfeuer ausgesetzt gewesen war. Er blieb stehen, betrachtete mit offenen Augen die ruhige Stätte und sog mit friedlich zitternden Nasenflügeln den süßen Blütenhauch der Vegetation ein. Er kniff die Augen zu, so daß sie zu zwei lachenden blauen Spalten wurden, sein Gesicht verzog sich vor Freude, und seine Lippen kräuselten sich in einem Lächeln, während er laut rief: »Donnerwetter, der Duft ist was für mich! Laß die andern ihre Parfüm- und Eau-de-Cologne-Fabriken behalten! Hier können sie nicht mit!«

Er hatte die Gewohnheit, laute Selbstgespräche zu halten. Zwar verrieten seine beweglichen Züge alle seine Gedanken und Stimmungen, aber seine Zunge kam gleich hinterher und sprach die Gedanken aus.

Der Mann legte sich am Rande des Teiches nieder und trank tief und lange vom Wasser. »Das schmeckt«, murmelte er, hob den Kopf und blickte über den Teich auf den Bergeshang, während er sich den Mund mit dem Handrücken wischte. Der Hang hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Immer noch auf dem Bauche liegend, studierte er die Gebirgsformation lange und sorgsam. Es war ein geübtes Auge, das den Hang bis zu der verwitterten Felswand hinauf und wieder herab zum Ufer des Teiches durchforschte. Dann erhob er sich und untersuchte den Hang noch einmal.

»Sieht gut aus«, sagte er schließlich und hob Hacke, Schaufel und Pfanne auf.

Er überschritt den Bach unterhalb des Teiches, indem er gewandt von Stein zu Stein sprang. An einer Stelle, wo der Hang direkt bis ans Wasser reichte, hob er eine Schaufel voll Erde aus und schüttete sie in die Pfanne. Er hockte mit der Pfanne nieder und tauchte sie halb in den Bach. Dann setzte er die Pfanne in schnell kreisende Bewegung, die das Wasser über Erde und Kies ein- und ausströmen ließ. Die größeren und leichteren Teile kamen an die Oberfläche, und durch gewandte schaukelnde Bewegungen mit der Pfanne ließ er sie über den Rand gleiten. Hin und wieder hielt er in der Bewegung inne und suchte, um das Auswaschen zu beschleunigen, die größeren Steine und Felsklumpen mit den Fingern heraus.

Der Inhalt der Pfanne verringerte sich schnell, und zuletzt waren nur noch Sand und die allerkleinsten Kiesteilchen übrig. Jetzt begann er sehr vorsichtig und sorgsam zu waschen, und er wusch immer vorsichtiger, sah genau nach und drehte die Pfanne mit ganz kleinen, behutsamen Bewegungen. Zuletzt schien die Pfanne nur noch Wasser zu enthalten, aber mit einer schnellen, halbkreisförmigen Bewegung schleuderte er das Wasser über den Rand der Pfanne hinweg, und jetzt zeigte sich eine Schicht schwarzen Sandes auf dem Boden der Pfanne. Die Schicht war so dünn, daß sie wie ein feiner Anstrich wirkte. Er untersuchte sie genau. Mittendarin war ein winziger goldener Punkt. Er ließ ein wenig Wasser über den abwärts gehaltenen Rand der Pfanne laufen. Mit einer schnellen Bewegung ließ er das Wasser über den Boden spülen und die schwarzen Sandkörner umkehren. Ein neuer goldener Punkt war das Ergebnis seiner Mühe. Das Waschen wurde jetzt sehr sorgfältig – viel sorgfältiger, als Goldwaschen im allgemeinen zu sein braucht. Er arbeitete mit dem schwarzen Sand, nahm immer ein wenig auf einmal davon und untersuchte es auf dem gebogenen Rand der Pfanne. Jedesmal durchforschte er es so scharf, daß er jedes Körnchen gesehen hätte, ehe er es über den Rand gleiten ließ. Körnchen für Körnchen ließ er, genau aufpassend, den schwarzen Sand fortgleiten. Ein Goldkorn, nicht größer als eine Stecknadelspitze, zeigte sich auf dem Rande, aber durch eine kleine Bewegung mit dem Wasser spülte er es wieder in die Pfanne. Und auf diese Weise entdeckte er ein neues Goldkörnchen und wieder eines. Er achtete genau auf sie. Wie ein Hirt hütete er seine Herde von Goldkörnchen, daß keines von ihnen verlorenging. Zuletzt war nichts mehr in der Pfanne als seine goldene Herde. Er zählte sie und schleuderte sie dann mit dem letzten Wasser aus der Pfanne, trotz aller Arbeit, die er darauf verwandt hatte.

Aber seine blauen Augen schimmerten vor Verlangen, als er sich erhob. »Sieben«, murmelte er laut, mit Bezug auf die Zahl der Goldkörnchen, für die er so schwer gearbeitet und die er soeben so nachlässig fortgeworfen hatte. »Sieben«, wiederholte er mit einem Nachdruck, als wollte er sich die Zahl seinem Gedächtnis unverlöschlich einprägen. Er stand eine Weile still und betrachtete den Bergeshang. Ein Ausdruck von brennender Neugier war in seinen Augen. Seine ganze Haltung drückte Frohlocken aus, dabei aber eine Wachsamkeit, an ein jagendes Tier erinnernd, das soeben die Beute gewittert hat.

Er ging ein paar Schritte am Bach entlang und füllte seine Pfanne wieder mit Erde.

Wieder wusch er die Erde sorgfältig aus, wachte eifersüchtig über seine goldenen Körnchen und schleuderte sie, als er sie gezählt hatte, wieder ohne weiteres in den Bach.

»Fünf«, murmelte er und wiederholte: »Fünf!«

Noch einmal mußte er den Berghang studieren, ehe er seine Pfanne ein wenig weiter abwärts am Bache füllte. Seine goldene Herde nahm ab. »Vier, drei, zwei, zwei, eins«, wiederholte er bei sich, während er den Bach abwärts kam. Als sich nach einer Wäsche nur noch ein einziges Körnchen vorfand, hielt er inne und zündete ein kleines Feuer an. Er warf die Pfanne auf das Feuer und ließ sie in Flammen liegen, daß sie ganz blauschwarz wurde, dann holte er sie heraus und untersuchte sie kritisch. Er nickte beifällig. Bei dieser Farbe konnte auch nicht das kleinste Goldkörnchen seiner Aufmerksamkeit entgehen.

Er ging das Bachbett weiter hinab und wusch wieder eine Pfanne aus. Das Ergebnis war ein einziges Goldkörnchen. Die dritte Pfanne enthielt gar kein Gold. Er begnügte sich jedoch nicht damit, sondern wusch noch drei Pfannen aus, und zwar waren die Stellen, an denen er die Erde mit der Schaufel entnahm, nicht mehr als je einen Fuß voneinander entfernt. Keinmal war Gold in der Pfanne, aber diese Tatsache schien ihn nicht zu entmutigen, sondern eher zu befriedigen. Sein Siegesstolz wuchs jedesmal, wenn die Wäsche ein niedrigeres Ergebnis brachte, und zuletzt erhob er sich und rief freudestrahlend: »Wenn das nicht das richtige ist, dann mag der liebe Gott mir den Kopf mit sauren Äpfeln zerschlagen.«

Er kehrte zu seinem Ausgangspunkt zurück und begann am oberen Lauf des Baches Probepfannen auszuwaschen. Anfangs wuchs seine goldene Ernte an Zahl – wuchs erstaunlich. »Vierzehn, achtzehn, einundzwanzig, sechsundzwanzig«, wiederholte er bei sich. Am Oberlauf des Baches wusch er seine reichste Pfanne aus – »fünfunddreißig Körner«. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel. Der Mann arbeitete weiter. Er ging das Bachbett hinauf und wusch eine Pfanne nach der andern aus, und die Ergebnisse wurden immer geringer.

»Direkt großartig, mit welcher Gleichmäßigkeit es abnimmt!« rief er triumphierend, als seine Pfanne schließlich nicht mehr als ein einziges Goldkörnchen enthielt. Und als sich zuletzt in mehreren Pfannen keine Goldkörnchen mehr gezeigt hatten, richtete er sich auf und warf einen zuversichtlichen Blick auf den Bergeshang.

»Aha, eine Tasche!« rief er, als wendete er sich an einen Zuhörer, der irgendwo unter der Oberfläche des Hanges versteckt lag. »Aha, eine Tasche! Ich komme, ich komme, und ich werde sie erwischen, so wahr ich hier stehe.«

Er wandte sich um und warf einen forschenden Blick auf die Sonne, die gerade über ihm an dem azurblauen Himmel stand. Dann schritt er durch die Schlucht, an der Reihe von Löchern entlang, die er jedesmal beim Füllen der Pfanne mit der Schaufel gegraben hatte. Unterhalb des Baches überschritt er den Teich und verschwand hinter dem grünen Vorhang.

Der Geist der Stätte konnte noch nicht mit seiner Ruhe wiederkehren, denn die Stimme des Mannes ertönte mit ihrem trällernden Singen immer noch durch die Schlucht.

Nach einer kleinen Weile kehrte er zurück, und man hörte ein stärkeres Trampeln eisenbeschlagener Füße gegen den Felsen als zuvor. Der grüne Vorhang geriet in heftige Bewegung. Er wogte hin und her wie in einem qualvollen Kampfe. Man hörte den laut klirrenden Klang von Metall. Die Stimme des Mannes schrillte noch heftiger und nahm einen scharfen, gebieterischen Klang an. Ein schwerer Körper fiel, und man hörte Schnaufen und Stöhnen. Aus dem Gebüsch kam ein Schnappen, Zerren und Reißen, und unter einer Woge fallender Blätter brach ganz plötzlich ein Pferd durch den Vorhang.

Es trug ein Bündel auf dem Rücken und schleppte abgerissene Ranken und Schlingpflanzen hinter sich her. Das Tier starrte äußerst erstaunt die Umgebung an, in die es hineingestürzt war, senkte aber einen Augenblick darauf den Kopf ins Gras und begann zufrieden zu weiden.

Ein zweites Pferd taumelte plötzlich aus dem Gebüsch heraus, glitt auf den moosigen Felsblöcken aus, kam aber wieder auf die Füße, als seine Hufe in die weiche Oberfläche der Wiese einsanken. Es trug keinen Reiter, hatte aber auf dem Rücken einen hohen mexikanischen Sattel, der von langem Gebrauch abgenutzt und mitgenommen war.

Zuletzt kam der Mann. Er warf Bündel und Sattel ab, sah sich nach einem passenden Lagerplatz um und ließ die Tiere frei weiden. Dann packte er Proviant sowie eine Bratpfanne und eine Kaffeekanne aus. Hierauf sammelte er einen Armvoll trockenen Reisigs und errichtete mit einem Armvoll Steinen eine Feuerstatt.

»Lieber Gott«, sagte er, »wie hungrig ich bin! Ich könnte Eisenspäne und Hufeisennägel fressen und sogar mehrere Portionen, wenn es sein sollte.«

Er richtete sich auf, und während er in der Hosentasche nach einer Schachtel Streichhölzer suchte, ließ er seinen Blick über den Teich und den Hang schweifen. Seine Finger hatten schon nach den Streichhölzern gefaßt, ließen sie aber wieder los, und als er die Hand aus der Tasche zog, war sie leer.

Der Mann zögerte unentschlossen. Sein Blick schweifte von den Vorbereitungen zum Mittagessen nach den Bergen.

»Ich glaube, ich will noch einen Versuch machen«, sagte er schließlich und ging über den Bach.

»Es hat nicht viel Sinn, das weiß ich«, murmelte er, sich gleichsam entschuldigend. »Aber ich glaube nicht, daß es mir jemand übelnehmen wird, wenn ich das Mittagessen um eine Stunde verschiebe.«

Wenige Fuß hinter der Lochreihe, wo er seine Probepfannen gefüllt hatte, begann er eine neue Reihe zu graben. Die Sonne sank im Westen, und die Schatten wurden immer länger, aber der Mann arbeitete weiter. Er begann eine dritte Reihe von Probelöchern. Allmählich zum Berg hinaufsteigend, legte er eine Reihe von Probelöchern quer über den Hang. Das mittlere Loch in jeder Reihe ergab die reichste Ausbeute, während die Löcher zu beiden Enden der Reihe nicht das geringste Goldkörnchen in der Pfanne ergaben. Und je höher er stieg, desto kürzer wurden die Reihen. Die Regelmäßigkeit, mit der sie sich abkürzten, zeigten deutlich, daß die letzte Reihe irgendwo oben auf dem Hang so kurz wurde, daß man überhaupt nicht mehr von einer Länge sprechen konnte und daß sie schließlich in einem Punkt enden mußten. Die Zeichnung nahm die Form eines umgekehrten V an. Die zusammenlaufenden Linien dieses V bildeten die Grenzen des Gebietes, innerhalb dessen sich die goldhaltige Erde befand.

Die Spitze dieses V war offenbar das Ziel des Mannes. Er ließ seinen Blick oft die konvergierenden Linien entlang und weiter den Hang hinauf schweifen, um zu erraten, wo die Spitze des umgekehrten V, der Punkt, wo der goldhaltige Boden aufhörte, sein würde. Dort war die »Tasche«, und der Mann rief: »Komm her, Tasche! Sei brav und komm herunter!«

»Also schön!« sagte er kurz darauf in resigniertem, aber festem Ton. »Also schön, Tasche, ich merke schon, daß ich ganz hinaufkommen und dich an den Ohren zupfen muß. Aber dazu bin ich auch der Rechte. Verlaß dich drauf«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu.

Jede Pfanne brachte er ans Wasser hinunter und wusch sie aus, und je höher er den Hang hinaufkam, desto reicher wurde der Inhalt der Pfannen, so daß er schließlich begann, das Gold in eine leere Backpulverdose zu schütten, die er nachlässig in die Hosentasche steckte. Er war so von seiner Arbeit in Anspruch genommen, daß er nicht die Dämmerung bemerkte, die den Eintritt des Abends verkündete. Erst als er die Goldkörner auf dem Boden der Pfanne nicht mehr erkennen konnte, merkte er, daß es spät geworden war. Er richtete sich plötzlich auf und sagte zögernd, mit einem komisch verwunderten und erschrockenen Gesichtsausdruck: »Gottverdammich! Vor lauter Arbeit hab‘ ich ganz das Mittagessen vergessen!«

Er stolperte in der Dunkelheit über den Bach und zündete das Reisig an, das er lange zuvor gesammelt und zurechtgelegt hatte. Das Abendessen bestand aus Pfannkuchen, Speck und aufgewärmten Bohnen. Hinterher rauchte er an dem ausgehenden Feuer eine Pfeife, lauschte auf die Laute der Nacht und freute sich über den Mondschein, der die Schlucht erleuchtete. Schließlich packte er das Bettzeug aus, zog sich die schweren Stiefel von den Füßen und wickelte sich gut in die Decke ein. Sein Gesicht leuchtete weiß im Mondlicht und erinnerte an das einer Leiche. Aber es war eine Leiche, die nach Wunsch aufstehen konnte, denn plötzlich stützte sich der Mann auf den einen Ellbogen und starrte nach dem Hang hinüber.

»Gute Nacht, Tasche«, murmelte er schläfrig. »Gute Nacht!«

Er schlief die ganze Nacht und die ersten grauen Morgenstunden. Erst als die fast senkrechten Strahlen der Morgensonne auf seine geschlossenen Lider fielen, erwachte er mit einem Ruck und sah sich um, bis ihm klar war, wer und wo er war.

Seine Toilette bestand hauptsächlich darin, daß er sich die Stiefel anzog. Er ließ den Blick von der Feuerstätte nach der Bergwand streifen, schwankte unschlüssig einen Augenblick, überwand aber die Versuchung und machte sich daran, das Feuer anzuzünden.

»Immer ruhig, Bill, immer ruhig«, ermahnte er sich. »Wozu die Eile? Es hat ja keinen Zweck, sich zu erhitzen und zu schwitzen. Die Tasche wartet schon noch auf dich. Die läuft nicht weg, ehe du dein Frühstück gegessen hast. Nein, Bill, was du brauchst, ist ein bißchen Abwechslung auf der Speisekarte. Da mußt du wohl sehen, etwas zu fassen zu kriegen.«

Am Ufer des Teiches schnitt er sich einen kurzen Stock ab und zog eine Schnur sowie eine ramponierte Fliege, die einst bessere Tage gesehen hatte, aus einer seiner Taschen.

»Früh am Morgen beißen sie vielleicht an«, murmelte er, indem er die Schnur auswarf. Und einen Augenblick später rief er freudestrahlend: »Hab ich’s nicht gesagt? Hab ich’s nicht gesagt?« Er hatte keine Rolle an der Schnur, und um nicht mehr Zeit als notwendig zu vergeuden, zog er schnell mit den bloßen Händen eine schimmernde, zehn Zoll lange Forelle aus dem Wasser. Sie und noch drei, die er schnell hintereinander fing, machten sein Frühstück aus. Als er auf dem Wege nach dem Hang zu den Steinen am Bach kam, hatte er einen Einfall, der ihn plötzlich stillstehen ließ.

»Es wäre vielleicht gut, ein Stückchen den Bach hinunterzugehen«, sagte er. »Man kann nie ‚wissen, ob nicht irgendein Kerl in der Nähe herumschleicht.«

Aber er ging weiter über die Steine, und mit einem »Eigentlich müßte ich ja die kleine Untersuchungsexpedition unternehmen«, schlug er die Anwandlung in den Wind und machte sich an seine Arbeit.

Bei Eintritt der Dunkelheit richtete er sich auf. Seine Lenden waren steif, weil er so lange gebückt gearbeitet hatte, und indem er die Hand auf den Rücken legte, um die schmerzenden Muskeln zu beschwichtigen, sagte er: »So was hab‘ ich doch, Gottverdammich, noch nicht erlebt! Jetzt hab‘ ich das Mittagessen rein vergessen! Wenn ich nicht aufpasse, endet es noch damit, daß ich wie diese durchgedrehten Kerle werde, die nur zweimal täglich essen.«

»Taschen haben eine verfluchte Art, einen abzulenken«, sagte er bei sich am Abend, als er sich in seine Decken rollte. Und er vergaß auch nicht, zum Hang hinauf zurufen: »Gute Nacht, Tasche! Gute Nacht!«

Mit der Sonne stand er auf, aß eilig sein Frühstück und machte sich an seine Arbeit. Er war wie von einem Fieber ergriffen, und die Tatsache, daß die Probepfannen immer reicher ausfielen, war nicht dazu angetan, sein Fieber zu beschwichtigen! Die Röte seiner Wangen kam nicht allein von der Hitze der Sonne, und er vergaß Müdigkeit und Zeit. Wenn er eine Pfanne mit Erde gefüllt hatte, lief er den Hang hinab, um sie auszuwaschen; und er konnte sich nicht halten, sondern lief schnaufend und stolpernd den Hang hinauf, um die Pfannen von neuem zu füllen. Er war jetzt etwa hundert Meter vom Wasser entfernt, und das umgekehrte V begann endgültige Form anzunehmen. Das Terrain, das den hinreichend goldhaltigen Kies enthielt, wurde immer schmaler, und der Mann verlängerte im Geiste die Seiten des umgekehrten V bis zu ihrem Schnittpunkt, hoch oben auf dem Hange. Die Spitze dieses V war sein Ziel, und er wusch viele Probepfannen aus, um sie festzustellen.

»Genau zwei Meter oberhalb des Manzanitastrauchs und einen Meter rechts«, sagte er schließlich.

Dann packte ihn die Versuchung. »Es ist ja sonnenklar«, sagte er, gab sein mühseliges Graben quer über den Hang auf und kletterte zu der Stelle, wo er die Spitze des umgekehrten V annahm. Er füllte seine Pfanne und trug sie den Hang hinunter, um sie auszuwaschen. Sie enthielt nicht ein einziges Goldkörnchen. Er grub tiefer, und er grub an der Oberfläche, füllte und wusch ein Dutzend Pfannen aus, erhielt aber nicht ein einziges Goldkörnchen für all seine Mühe. Er ärgerte sich, daß er der Versuchung erlegen war, wütete und verfluchte sich auf die gotteslästerlichste Art. Schließlich schritt er den Hang hinab und nahm seine Arbeit nach dem ursprünglichen Plan wieder auf.

»Langsam, aber sicher, Bill, langsam, aber sicher«, murmelte er. »Für dich gibt es keinen Richtweg zum Glück, das solltest du doch bald wissen. Sei vernünftig, Bill, sei vernünftig. Die langsame, sichere Methode ist die einzige, auf die du dich verstehst. Halt dich an sie.«

Je kürzer die Querlinien wurden und je mehr sich die Seitenlinien ihrem Schnittpunkt näherten, um so mehr vertiefte sich das V. Die Goldkörner lagen in immer größerer Tiefe. Dreißig Zoll unter der Oberfläche erhielt er kleine Goldkörnchen in die Pfanne. Der Kies, den er aus fünfundzwanzig und fünfunddreißig Zoll Tiefe holte, enthielt nicht die geringste Andeutung von Gold. An der Basis des umgekehrten V, unten am Wasser, hatte er die Goldkörner zwischen den Graswurzeln gefunden. Je höher er den Hang hinauf kam, desto tiefer sank das Gold. Es war eine recht mühselige Arbeit, ein drei Fuß tiefes Loch zu graben, nur um eine Probepfanne zu füllen, und bis zur Spitze des V mußten noch unzählige derartige Löcher gegraben werden. »Und kein Mensch kann wissen, wie tief es später noch geht«, seufzte er, als er einen Augenblick innehielt, um sich seinen schmerzenden Rücken zu reiben.

Mit fieberhafter Gier, wehem Rücken und steifen Muskeln arbeitete sich der Mann mit Hacke und Schaufel in dem weichen braunen Boden langsam den Hang hinan. Vor ihm lag der ebenmäßige Hang, mit Blumen bestreut, die mit ihrem süßen Duft die Luft erfüllten. Hinter ihm war Vernichtung. Es sah aus, als sei die glatte Oberfläche des Hanges einem furchtbaren vulkanischen Ausbruch zum Opfer gefallen. Seine langsam vorschreitende Arbeit erinnerte an die Schnecke, die die Schönheit mit ihren abscheulichen Spuren besudelt.

Die immer tiefere Lage der Goldader vermehrte die Arbeit des Mannes, doch er tröstete sich mit dem immer reicheren Goldinhalt der Pfannen. Der Wert des Goldes in den Pfannen wechselte zwischen zwanzig, dreißig und fünfzig Cent, und als er bei Anbruch der Dunkelheit seine letzte Pfanne auswusch, gab sie ihm in einer einzigen Schaufel Erde für einen Dollar Goldstaub.

»Ich möchte wetten, daß irgendein zudringlicher Bursche auf meine kleine Weide angestiegen kommt«, murmelte er schläfrig, als er sich am Abend in die Decke wickelte.

Plötzlich setzte er sich auf. »Bill!« rief er scharf. »Hör jetzt, was ich sage, Bill, verstehst du? Du wirst morgen zeitig aufstehen müssen und dich ein wenig umgucken, ob du jemand entdecken kannst. Verstanden? Zeitig morgen früh, vergiß es nicht!« Er gähnte und warf einen Blick nach seinem Bergeshang. »Gute Nacht, Tasche«, rief er.

Am Morgen kam er der Sonne zuvor, denn als ihre ersten Strahlen auf ihn fielen, hatte er längst gefrühstückt und war im Begriff, die Felswand an einer Stelle zu erklimmen, wo ihm die Verwitterung des Gesteins ermöglichte, Fuß zu fassen. Als er den Gipfel erreicht hatte und umherspähte, sah er sich von allen Seiten von Öde und Einsamkeit umgeben. Eine Bergeskette erhob sich hinter der anderen, so weit er sehen konnte. Im Osten wurde sein Blick, der so leicht und schnell über die zahlreichen, meilenweit auseinanderliegenden Bergesketten hinwegglitt, doch zuletzt von den weißen, himmelanragenden Zinnen der Sierra – des Hauptgebirges, dem Rückgrat des Westlandes – aufgehalten. Im Norden und Süden sah er deutlich die Ketten, die quer durch dieses endlose Meer von Bergen liefen. Im Westen wurden die Berge immer kleiner und niedriger und gingen schließlich in die weichgeschwungenen Randhügel über, die sich ihrerseits wiederum zu dem großen Tal hinabsenkten, das er nicht sehen konnte.

Und in diesem ganzen mächtigen Gebiet sah er keine Spur von Menschen oder von der Arbeit von Menschen – mit Ausnahme des aufgewühlten Hanges zu seinen Füßen. Lange durchforschte der Mann spähend die Landschaft. Einmal kam ihm vor, als sähe er eine schwache Andeutung von Rauch weit unten in seiner eigenen Schlucht. Er blickte mit geschärfter Aufmerksamkeit nach diesem Phänomen und kam zu dem Ergebnis, daß es der violette Bergnebel sei, den die dahinterliegende Felswand der Schlucht dunkel und wogend wie eine Rauchspirale erscheinen ließ.

»Heda, Tasche!« rief er in die Schlucht hinab. »Heraus mit dir! Jetzt komme ich, Tasche! Jetzt komme ich!«

Die schweren Transtiefel, die der Mann trug, behinderten ihn anscheinend, aber dennoch schwang er sich leicht und gewandt wie eine Bergziege von der schwindelnden Höhe hinab. Ein Felsblock, der am Rande des Abgrundes unter seinen Füßen fortglitt, brachte ihn nicht aus der Fassung. Er schien genau zu wissen, wann der kritische Augenblick eintreffen würde, und benutzte unterdessen den trügerischen Boden als Stützpunkt, um sich in Sicherheit zu bringen. Dort, wo die Wand so steil abfiel, daß er nicht eine Sekunde aufrecht stehen konnte, zögerte er keinen Augenblick. Nur einen Bruchteil der verhängnisvollen Sekunde berührte sein Fuß die gefährliche Oberfläche, aber gerade lange genug, um ihm den Sprung, der ihn weiterbrachte, zu ermöglichen. Dort wo er selbst diesen Bruchteil einer Sekunde nicht Fuß fassen konnte, schwang er seinen Körper vorbei, indem er blitzschnell nach einem Felsvorsprung, einem Spalt oder einem nicht sehr festsitzenden Strauch griff. Zuletzt ließ er die Wand fahren, sprang desperat ab, rutschte mit einem lauten Geheul abwärts und endete seine Niederfahrt inmitten mehrerer Tonnen gleitender Erde.

Heute ergab seine erste Probepfanne für über zwei Dollar grobkörniges Gold. Die Erde war genau aus der Mitte des Winkels des umgekehrten V entnommen. Nach beiden Seiten von dieser Stelle nahm der Goldinhalt der Pfannen schnell ab. Die Löcherreihen, die er grub, waren allmählich sehr kurz geworden. Die Seiten des umgekehrten V waren jetzt nur noch wenige Meter voneinander entfernt. Der Schnittpunkt befand sich wenige Schritte über ihm. Aber das goldhaltige Material mußte er aus immer größeren Tiefen schürfen. Früh am Nachmittag mußte er die Probelöcher fünf Fuß tief machen, ehe die Pfannen auch nur das geringste Gold aufwiesen.

Im übrigen waren es nicht mehr Goldkörner; der Boden bestand fast aus reinem Golde, und der Mann beschloß, hierher zurückzukehren und den Boden zu bearbeiten, sobald er die Tasche gefunden hatte. Aber der steigende Goldgehalt der Pfannen begann ihn zu ärgern. Spät am Nachmittag war der Goldinhalt der Pfannen auf drei bis vier Dollar gestiegen. Der Mann kratzte sich bedenklich den Kopf und ließ seinen Blick über die Felswand nach dem Manzanitastrauch schweifen, der ungefähr angab, wo die Spitze des umgekehrten V war. Er nickte und sagte in tiefsinnigem Orakelton: »Es gibt zwei Möglichkeiten, Bill. Zwei Möglichkeiten. Entweder hat die Tasche sich selbst über den ganzen Bergeshang verstreut, oder sie ist so verdammt reich, daß du vielleicht nicht imstande bist, sie auf einmal mit nach Haus zu nehmen. Und das wäre doch eine verfluchte Geschichte, nicht wahr?« Er lachte und belustigte sich bei dem Gedanken, möglicherweise vor einem so angenehmen Dilemma zu stehen.

Als die Dunkelheit hereinbrach, saß er am Ufer des Baches und starrte sich bei der schnell zunehmenden Dämmerung fast die Augen aus dem Kopfe bei dem Versuch, eine Probepfanne auszuwaschen, die für fünf Dollar Gold enthielt.

»Wenn ich nur elektrisches Licht hätte, um weiterarbeiten zu können«, sagte er.

In dieser Nacht wurde es ihm schwer, zu schlafen. Immer wieder veränderte er seine Lage und schloß die Augen, um einzuschlafen, aber sein Blut klopfte wild und fieberhaft, und immer wieder öffnete er seine Augen und murmelte müde: »Wenn die Sonne doch bald aufginge!«

Schließlich schlief er doch ein, als aber die ersten Sterne zu erblassen begannen, schlug er die Augen auf, und als die graue Morgendämmerung eintrat, hatte er schon gefrühstückt und war im Begriff, den Bergeshang zu erklimmen, um das Versteck der Tasche zu finden.

In der ersten Querreihe, die der Mann grub, war nur Raum für drei Löcher, so schmal war das goldhaltige Gebiet geworden und so nahe war er der Quelle des goldenen Stromes gekommen, die er seit vier Tagen suchte.

»Ruhig, Bill, nur ruhig«, ermahnte er sich, als er das letzte Loch dort grub, wo die Seiten des umgekehrten V schließlich in ihrem Schnittpunkt zusammenliefen.

»Jetzt hab‘ ich dich zu fassen gekriegt, Tasche, und du entkommst mir nicht«, sagte er immer wieder, während er tiefer und tiefer grub.

Vier, fünf, sechs Fuß grub er in den Boden. Das Graben wurde immer schwieriger. Zuletzt klirrte seine Hacke auf den reinen Felsgrund. Er untersuchte den Felsen. »Verrotteter Quarz«, erklärte er, während er mit der Schaufel den Boden des Loches von losem Kies reinigte. Er bearbeitete den zermürbten Quarz mit der Hacke und schlug mit jedem Schlage etwas von dem verwitterten Felsgrund ab. Er setzte die Schaufel in die lose Masse. Seine Augen sahen einen goldenen Schimmer. Plötzlich warf er die Schaufel fort und hockte sich nieder. Und wie ein Bauer vor ausgegrabenen Kartoffeln, begann er von einem verwitterten Quarzstück, das er in beiden Händen hielt, die Erde zu reiben.

»Heiliger Himmel!« rief er. »Hier sind ja ganze Klumpen. Wahrhaftig, ganze Klumpen!«

Nur die Hälfte dessen, was er in der Hand hielt war Quarz. Das andere war reines Gold. Er ließ es in die Pfanne fallen und untersuchte ein anderes Stück. Von außen schien es nur wenig gelb, aber mit seinen starken Fingern zerrieb er den verwitterten Quarz, bis seine beiden Hände voll von schimmerndem Golde waren. Ein Stück nach dem anderen rieb er von Erde rein und warf es in die Goldpfanne. Das Loch war die reine Schatzkammer. Der Quarz war so verwittert, daß es weniger Quarz als Gold war. Hin und wieder fand er ein Stück, das ganz frei von Quarz – ein Stück, das durch und durch Gold war. Ein großer Klumpen, den die Hacke zerbrochen hatte, leuchtete wie eine Handvoll gelber Edelsteine. Mit schiefem Kopf betrachtete er ihn und drehte ihn langsam, um das strahlende Spiel des Lichtes darin zu beobachten.

»Die Leute reden so oft von reichen Goldfunden«, sagte er höhnisch. »Hiermit verglichen sind die meisten derartigen Funde nur armselige Dreißig-Cent-Funde. Dies hier ist ja durch und durch Gold. Daher taufe ich denn auch auf der Stelle und in diesem heiligen Augenblick diese Schlucht auf den Namen ›Goldschlucht‹, weiß Gott, das tue ich!«

Immer noch hockend, untersuchte er weiter die Quarzstücke und warf sie in die Pfanne. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß ihm irgendeine Gefahr drohte. Es war, als fiele ein Schatten auf ihn. Aber es war kein Schatten. Es war, als hätte er einen Klumpen in den Hals bekommen und sollte ersticken. Im nächsten Augenblick gefror ihm das Blut in den Adern, und er fühlte, wie sein verschwitztes Hemd ihm kalt auf dem Körper klebte. Er sprang nicht auf und sah sich auch nicht um. Er rührte sich nicht. Er überlegte, was für eine Warnung es wohl sein mochte, die er empfangen hatte, versuchte herauszufinden, von wo die mystische Kraft, die ihn gewarnt, ausgegangen, und bemühte sich, die Anwesenheit des unsichtbaren Wesens, das ihn bedrohte, zu spüren. Feindliche Mächte strahlen eine Aura aus, die sich in so ätherischer Form offenbart, daß die gewöhnlichen Sinne sie nicht zu unterscheiden vermögen; er hatte das Gefühl, daß eine solche Aura sich in seiner Nähe befand, war sich aber nicht klar darüber, auf welche Weise er sie eigentlich fühlte und spürte. Er hatte ein Gefühl, wie man es etwa bekommt, wenn eine Wolke die Sonne verdunkelt. Es war von derselben verstimmenden und drohenden Art; es war, als ob etwas Finsteres sich zwischen ihn und das Dasein geschoben hätte, das Leben mit seinem Würgegriff bedrohte und den Tod – seinen Tod – verkündete. Jede Fiber, jeder Nerv in ihm war gespannt und bereit für den Fall, daß er sich entschloß, aufzuspringen und Angesicht zu Angesicht der unsichtbaren Gefahr zu begegnen; aber seine Seelenstärke bezwang den panischen Schrecken, und er blieb, einen Goldklumpen in den Händen, sitzen. Er wagte nicht sich umzusehen, aber er wußte jetzt, daß etwas hinter und über ihm war. Er tat, als wäre er ganz von dem Golde in seiner Hand in Anspruch genommen. Er untersuchte es kritisch, wendete und drehte es und reinigte es von der Erde. Aber die ganze Zeit fühlte er, daß ein Wesen hinter ihm stand, ihm über die Schulter blickte und das Gold betrachtete.

Er lauschte angespannt und tat dabei weiter, als wäre er ganz mit dem Golde in seiner Hand beschäftigt, und jetzt hörte er ein Wesen hinter sich atmen. Sein Blick glitt suchend über den Boden vor ihm, um eine Waffe zu entdecken, aber er sah nur das ausgegrabene Gold, das in seiner jetzigen Lage wertlos für ihn war. Er hatte allerdings seine Hacke, die bei gewissen Gelegenheiten eine ganz brauchbare Waffe gewesen wäre, nicht aber jetzt. Der Mann erkannte plötzlich, wie gefährlich seine Lage war. Er befand sich in einem engen, sieben Fuß tiefen Loch. Mit seinem Kopf reichte er nicht bis zur Erdoberfläche. Er saß in einer Falle.

Er blieb sitzen. Er war ganz ruhig und gefaßt; aber sein Verstand, der alle Möglichkeiten überdachte, sagte ihm, daß seine Lage hoffnungslos war. Er rieb weiter die Erde von den Quarzstücken und warf das Gold in die Pfanne. Es war nichts anderes zu tun. Und doch wußte er, daß er früher oder später gezwungen war, sich zu erheben und Angesicht zu Angesicht der Gefahr zu begegnen, die ihm hinter seinem Rücken drohte. Die Minuten vergingen, und er wußte, daß er sich mit jeder Minute, die schwand, mehr dem Zeitpunkt näherte, da er sich erheben mußte, wenn er nicht – sein nasses Hemd klebte bei dem Gedanken an seinem Körper – den Tod, über seinen Schatz gebeugt, hinnehmen wollte. Immer noch saß er da, rieb die Erde vom Golde und überlegte gleichzeitig, wie er es machen sollte, um sich zu erheben. Er konnte es plötzlich tun, aus dem Loch springen und dem, was ihm drohte, auf gleichem Fuße draußen begegnen. Oder er konnte sich langsam aufrichten und tun, als entdeckte er zufällig das Wesen, das hinter seinem Rücken atmete. Sein Instinkt und jede kampflustige Fiber in seinem Körper sagten ihm, daß er die erste, desperate Lösung wählen und sich mit Händen und Füßen so schnell wie möglich aus dem Loch herausarbeiten sollte. Sein Verstand hingegen riet ihm, sich langsam und vorsichtig dem Wesen zu nähern, das ihn bedrohte und das er nicht sehen konnte. Während er aber alles das überdachte, ertönte plötzlich ein lauter Knall an seinem Ohr. Im selben Augenblick erhielt er einen lähmenden Schlag auf die linke Seite des Rückens, und von der Stelle, wo er getroffen war, verbreitete sich ein brennender Schmerz durch seinen Körper. Er sprang hoch, brach aber zusammen, ehe er halb auf den Füßen war. Sein Körper krümmte sich wie ein Blatt, das in plötzlicher heftiger Hitze welkt. Er fiel mit der Brust gegen die Pfanne und bohrte das Gesicht in Kies und Quarzstücke, während sich seine Beine wegen des beschränkten Raumes auf dem Boden des Loches verrenkten. Seine Glieder zitterten mehrmals krampfhaft, seinen Körper durchfuhr es wie ein heftiger Kälteschauer. Die Lungen weiteten sich langsam, und man hörte einen tiefen Seufzer. Dann ließ er langsam, ganz langsam wieder die Luft ausströmen, und ebenso langsam fiel sein Körper schlaff zusammen.

Von oben guckte ein Mann, der einen Revolver in der Hand hielt, über den Rand des Loches hinweg. Er starrte lange auf den bäuchlings ausgestreckten, unbeweglichen Körper unter ihm. Nach einer Weile setzte der Fremde sich auf den Rand des Loches, so daß er hinabsehen konnte, und legte gleichzeitig den Revolver auf seine Knie. Er steckte die Hand in die Tasche und zog einen Streifen braunes Papier heraus. Er streute ein bißchen Tabak auf das Papier, und das Ergebnis wurde eine braune kurze Zigarette mit eingeschlagenen Enden. Unaufhörlich starrte er dabei den ausgestreckten Körper auf dem Boden des Loches an. Er zündete sich die Zigarette an und sog in stillem Genuß den Rauch in die Lungen. Er rauchte langsam. Einmal ging die Zigarette aus, aber er zündete sie wieder an. Und die ganze Zeit saß er da und starrte auf den unbeweglichen Körper drunten.

Zuletzt warf er den Zigarettenstummel fort und erhob sich. Er trat an den Rand des Loches. Die Hände auf den Rand gestützt, den Revolver noch in der Rechten, spannte er seinen Körper und arbeitete sich in das Loch hinunter. Als seine Füße noch einen halben Meter vom Boden entfernt waren, ließ er sich hinabfallen.

Im selben Augenblick, als seine Füße den Boden berührten, sah er den Arm des Goldgräbers hervorschießen und fühlte einen festen Griff an seinem Bein; dann wurde er umgerissen. Die Hand, in der er den Revolver hielt, befand sich infolge der Stellung, die er beim Herabspringen eingenommen hatte, über seinem Kopfe. Aber er senkte sie blitzschnell, sobald er den Griff an seinem Bein fühlte. Er hatte den Boden noch nicht erreicht, als er auch schon schoß. Der Knall ertönte ohrenbetäubend in dem engen Loch, und der Rauch füllte es, so daß man nichts sehen konnte. Er fiel rücklings auf den Boden des Loches, und wie eine Katze sprang der Goldgräber über ihn. Der Fremde beugte den rechten Arm, um zu schießen, aber in derselben Sekunde stieß der Goldgräber mit einem schnellen Ellbogenstoß sein Handgelenk beiseite. Der Revolver fuhr hoch, und die Kugel schlug klatschend in die Erdwand des Loches.

Im selben Augenblick fühlte der Fremde, wie die Hand des Goldgräbers sein Handgelenk packte. Jetzt galt der Kampf dem Revolver. Jeder wollte ihn gegen den andern benutzen. Der Rauch im Loche begann sich zu verziehen, und der Fremde, der auf dem Rücken lag, konnte allmählich wieder etwas sehen. Plötzlich aber wurde er von einer Handvoll Erde geblendet, die sein Gegner ihm kaltblütig in die Augen warf. Bei dem Schreck darüber löste sich sein Griff um den Revolver. Im nächsten Augenblick spürte er, daß eine überwältigende Finsternis sein Hirn verschleierte, und mitten in der Finsternis hörte die Finsternis selbst auf.

Aber der Goldgräber feuerte immer wieder, bis der Revolver leer war. Dann schleuderte er ihn fort und setzte sich atemlos auf die Beine des Toten.

Der Goldgräber stöhnte und schnappte nach Luft. »Elender Schuft!« keuchte er. »Schleicht mir nach, läßt mich die Arbeit tun und schießt mich dann in den Rücken.«

Er weinte fast vor Wut und Erschöpfung. Er starrte forschend dem Toten ins Gesicht. Das war halb von Erde und Kies bedeckt, und er konnte die Züge nur schwer erkennen.

»Hab‘ ihn noch nie gesehen«, sagte der Goldgräber, als er ihn ein wenig angesehen hatte, »ein ganz gewöhnlicher Dieb, der Teufel soll ihn holen! Mich in den Rücken zu schießen! In den Rücken!«

Er öffnete sein Hemd und befühlte seine linke Seite vorn und hinten.

»Ist glatt hindurchgegangen, hat aber nichts getan!« rief er triumphierend. »Ich möchte wetten, daß er gut zielte, hat nur beim Abdrücken den Revolver bewegt – der elende Bursche! Aber ich hab’s ihm gegeben!«

Er befühlte das Loch, das die Kugel ihm in der linken Seite geschlagen hatte, und ein Schatten von Kummer glitt über sein Gesicht. »Das wird mich verdammt steif machen«, sagte er. »Und es ist wohl am besten, daß ich einen Verband kriege und sehe, von hier fortzukommen.«

Er kroch aus dem Loch hinaus und ging den Hang hinab zu seinem Lagerplatz. Eine halbe Stunde später kam er mit seinem Packpferd zurück. Unter seinem offenen Hemd sah man den primitiven Verband, den er sich gemacht hatte. Die Bewegungen seiner linken Hand waren langsam und unbeholfen, aber das hinderte ihn nicht, den Arm zu gebrauchen. Mit Hilfe eines Stricks, den er dem Toten unter den Armen hindurchzog, glückte es ihm, die Leiche aus dem Loch zu ziehen. Dann machte er sich daran, sein Gold aufzusammeln. Er arbeitete mehrere Stunden, mußte aber oft innehalten, um seine steife Schulter ausruhen zu lassen, wobei er murmelte: »Mich in den Rücken zu schießen, der elende Kerl! Mich in den Rücken zu schießen!«

Als er seinen ganzen Schatz in seine Decken und eine Menge Bündel gepackt hatte, überschlug er, wieviel er wohl wert sein mochte. »Vierhundert Pfund – oder ich will mich hängen lassen«, erklärte er. »Sagen wir, daß zweihundert Pfund Quarz und Erde sind – dann bleiben mir noch zweihundert Pfund Gold übrig. Bill, wach auf! Zweihundert Pfund Gold! Vierzigtausend Dollar! Und das ist dein – alles dein!«

Er kratzte sich vergnügt den Kopf, und seine Finger gerieten plötzlich in eine Furche, die er nicht kannte. Untersuchend befühlte er sie mehrere Zoll weit. Es war eine Furche, die die zweite Kugel in seine Kopfhaut gepflügt hatte.

Ärgerlich trat er zu dem Toten.

»Du hättest mich gern um die Ecke gebracht, was?« sagte er triumphierend. »Das hättest du gern getan, nicht wahr? Aber ich hab‘ dir dein Teil gegeben, und obendrein sollst du ein hübsches Begräbnis haben. Das ist mehr, als du für mich getan hättest.« Er schleppte die Leiche an den Rand des Loches und ließ sie hinunterfallen. Mit einem dumpfen Krach schlug sie unten auf und fiel auf die Seite, so daß sie das Gesicht zum Licht wandte. Der Goldgräber guckte hinunter.

»Mich in den Rücken zu schießen!« sagte er vorwurfsvoll.

Mit Hacke und Schaufel füllte er das Loch. Dann belud er sein Pferd mit dem Golde. Die Last war zu schwer für das Tier, und als er sein Lager erreichte, lud er einen Teil davon auf sein Reitpferd. Aber selbst dann noch war er gezwungen, einen Teil seiner Ausrüstung, Hacke, Schaufel und Pfanne, seine eiserne Ration, Kochgeschirre und verschiedene Kleinigkeiten zurückzulassen. Die Sonne stand im Zenit, als der Mann die Pferde durch den Ranken- und Schlingpflanzenvorhang trieb. Um über die großen Felsblöcke und Steine zu klettern, mußten die Tiere sich auf die Hinterbeine stellen und sich ihren Weg blind durch das Gewirr von Pflanzen bahnen. Einmal stürzte das Reitpferd schwer zu Boden, und der Mann mußte es von seiner Last befreien, um es wieder auf die Füße zu bringen. Als es sich wieder in Gang setzte, steckte der Mann den Kopf durch das Laub und blickte nach dem Bergeshang zurück.

»Der elende Kerl!« sagte er und verschwand.

Man hörte ein Brechen und Reißen in den Ranken und Schlingpflanzen. Die Bewegungen der Tiere ließen die Bäume hin und her schwanken. Die eisenbeschlagenen Hufe klangen auf dem Felsboden, und hin und wieder hörte man einen Fluch oder einen scharfen, kommandierenden Ruf. Zuletzt erhob der Mann seine Stimme und sang:

»Lasse deine Augen sehen

Lieblich waldbedeckte Höhen

(Achte nicht der Sünde Macht).

Schau dich um die Kreuz und Quere,

Deinen Sündensack entleere

(Triffst du doch den Herrn bei Nacht).«

Der Gesang wurde immer schwächer, und der Geist der Stätte schlich sich durch die Stille zurück. Der Bach flüsterte wieder schläfrig. Das einschläfernde Summen der Bergbienen ertönte wieder, und die schneeweißen Daunen der Pappeln sanken durch die duftende Luft herab. Die Schmetterlinge glitten zwischen den Bäumen ein und aus, und über dem Ganzen flammte der ruhige Sonnenschein. Nur die Spuren von den Pferdehufen auf der Wiese und der aufgewühlte Bergeshang erinnerten noch daran, daß heftige Wogen des Lebens den Frieden der Stätte gebrochen hatten und jetzt anderswohin wanderten.

 

 

ENDE


Einleitung

JACK LONDON

In den Wäldern des Nordens

Erzählungen

Über das Buch

Zwei Welten prallten aufeinander, als die ersten Weißen über die frostigen, baumlosen Einöden zu den ungeahnten, riesigen Wäldern des Nordens vorstießen und bis dahin unbekannte Eskimostämme entdeckten. Die Titelgeschichte erzählt von einem Moschusjäger, der als einziger Überlebender seiner Gruppe zu Tode erschöpft bei einem jener Stämme Aufnahme fand und bei diesen unkomplizierten Menschen blieb. Nach fünf Jahren wird er von einer Expedition gefunden. Seine Entscheidung, wieder in die Zivilisation zurückzukehren, wird für ihn zum Schicksal. Dasselbe Thema wird – mit umgekehrten Vorzeichen – in der Erzählung ›Nam-Bok, der Lügner‹ wieder aufgenommen. In ein Fischerdorf im Yukon-Delta, dessen Bewohner in ihrem ganzen Leben nur zwei Weiße – den Volkszählungsbeamten und einen verirrten Jesuitenpater – gesehen haben, kehrt der jahrelang verschollene und für tot gehaltene Nam-Bok zurück. Seine Geschichten von riesigen Kanus, die aus Eisen gemacht sind, und von dem Ungeheuer, das Rauch ausspeit und auf eisernen Stangen läuft, können nach Ansicht des Häuptlings nur Lügen sein oder aus der Schattenwelt stammen. Nam-Bok verliert erneut seine Heimat. Ergreifend ist die Geschichte ›Das Gesetz des Lebens‹, in der sich ein alter, blinder Mann, von seinem Sohn nur mit einem Häufchen Reisig im Schnee zurückgelassen, aufs Sterben vorbereitet. Mit unterkühltem Humor erzählt Jack London dagegen, wie ein Schamane mit einem kriminalistischen Trick das Vertrauen seines Stammes wiedergewinnt. In der Vielfalt ihrer Motive und Formen illustrieren die Geschichten dieses Bandes Jack Londons Erzählkunst ebenso packend wie überzeugend.

 

Über den Autor

Jack London wurde am 12. 1. 1876 in San Franzisko geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er schlägt sich als Fabrikarbeiter, Austernpirat, Landstreicher und Seemann durch, holt das Abitur nach, beginnt zu studieren, geht dann als Goldsucher nach Alaska, lebt monatelang im Elendsviertel von London, gerät als Korrespondent im russisch-japanischen Krieg in Gefangenschaft und bereist die ganze Welt. Am 22. 11. 1916 setzt der berühmte Schriftsteller auf seiner Farm in Kalifornien seinem zuletzt von Alkohol, Erfolg und Extravaganz geprägten Leben ein Ende.


1 In Den Waeldern Des Nordens

In den Wäldern des Nordens

Nach einer beschwerlichen Reise bis hinter das letzte verkrüppelte Buschwerk und wuchernde Unterholz, hinter tiefen Einöden, wo der karge Norden der Erde alles zu verweigern scheint, stößt man auf weite Waldgebiete und Striche lächelnden Landes. Aber das hat die Welt erst jetzt erfahren. Einige Forschungsreisende haben es gewußt, aber keiner von ihnen kehrte bisher zurück, um es der Welt zu verraten.

Einöden – ja, es sind Einöden, dieses traurige Land des Nordens, diese Wüsten des Polarkreises, sie, die frostige, rauhe Heimat des Moschusochsen, die unfruchtbare, karge Stätte des mageren Steppenwolfes. So fand Avery van Brunt sie, baumlos und freudlos, kaum mit Moos und Flechten bewachsen und so gar nicht einladend. So fand er sie wenigstens, bis er zu den weißen Stellen auf der Landkarte vordrang und auf ungeahnte reiche Fichtenwälder und auf nirgends verzeichnete Eskimostämme stieß. Er hatte die Absicht – und den Ehrgeiz – gehabt, diese weißen Stellen auf der Karte auszufüllen, indem er in buntem Wechsel Gebirgsketten, Seen und Flußbetten, sich schlängelnde Ströme einzeichnete, und mit wachsendem Entzücken malte er sich die Möglichkeit eines Gürtels von Nutzholz und heimischen Dörfern aus.

Avery van Brunt, oder mit seinem vollen Titel: A. van Brunt, Professor am Geologischen Vermessungsinstitut, war Nächstkommandierender der Expedition und Führer der Unterexpedition, die er selbst auf einem Abstecher 500 Meilen weit durch die Täler des Thelon hinaufgeleitet hatte und jetzt in eines der nicht verzeichneten Dörfer führte. Hinter ihm mühten sich unverdrossen auf seiner Fährte acht Männer: zwei französisch-kanadische Reisende, die übrigen stämmige Crees von der Manitoba-Straße. Er allein war Vollblut-Angelsachse, und das Blut rollte, durch die Tradition seiner Rasse geheiligt, stolz durch seine Adern. Mit ihm schritten Clive und Hastings, Drake und Raleigh, Hengist und Horsa. Als erster aller Männer seiner Rasse sollte er dies weltabgeschiedene Dorf des Nordlandes betreten. Bei diesem Gedanken überkam ihn ein Triumphgefühl, eine frohe Erregung, und seine Kameraden bemerkten, wie seine Müdigkeit wich und wie er unversehens seinen Schritt beschleunigte.

Das Dorf leerte sich, und eine buntscheckige Menge zog ihm dichtgeschart entgegen. Voran die Männer, Bogen und Speere drohend in den Fäusten, als Nachtrab schüchtern Frauen und Kinder. Van Brunt hob den rechten Arm und gab das übliche Friedenszeichen, ein Zeichen, das alle Völker verstehen, und die Dorfbewohner antworteten mit dem Zeichen des Friedens. Aber da lief zu seinem Kummer ein fellbekleideter Mann vor und streckte die Hand mit einem vertraulichen »Hallo« aus. Es war ein bärtiger Mann, Wangen und Stirn bronzefarbig verbrannt, und in ihm erkannte van Brunt einen seiner eignen Rasse.

»Wer sind Sie?« fragte er, die ausgestreckte Hand ergreifend. »Andrée?«

»Wer ist Andrée?« fragte der Mann seinerseits.

Van Brunt sah ihn schärfer an. »Bei Gott, Sie müssen eine gute Weile hier gelebt haben.«

»Fünf Jahre«, antwortete jener, und ein düsterer Schimmer von Stolz leuchtete in seinen Augen. »Aber kommen Sie, lassen Sie uns plaudern. – Lassen Sie sie hier lagern«, beantwortete er den fragenden Blick, den van Brunt auf seine Leute warf. »Der alte Tant latch wird für Sie sorgen. Kommen Sie.«

Mit langen Schritten ging er. Van Brunt folgte ihm auf dem Fuße durch das ganze Dorf. Unregelmäßig, wo sich gerade eine günstige Stelle bot, waren die Zelte aus Elchfellen aufgeschlagen. Van Brunt ließ seinen erfahrenen Blick darüber hingleiten und berechnete.

»Zweihundert außer den Kindern«, schätzte er.

Der Mann nickte. »So ungefähr. Aber hier wohne ich, etwas außerhalb, wissen Sie – mehr für mich. Nehmen Sie Platz. Ich esse mit Ihnen, wenn Ihre Leute abkochen. Ich habe ganz vergessen, wie Tee schmeckt. – Fünf Jahre, und weder geschmeckt noch gerochen. – Etwas Tabak? – Ah, danke, und eine Pfeife? Gut. Und nun noch ein Zündholz, und dann wollen wir sehen, ob das alte Kraut noch seine Zaubermacht besitzt.«

Mit der peinlichen Vorsicht eines Waldbewohners strich er das Zündholz an, freute sich an der jungen Flamme, als hätte es noch nie etwas Ähnliches in der Welt gegeben, und zog den ersten Mundvoll Rauch ein. Er hielt ihn eine Weile nachdenklich zurück und blies ihn dann mit spitzen Lippen langsam und zärtlich aus. Als er sich zurücklehnte, war sein Ausdruck milder, und ein weicher Schimmer trat in seine Augen. Er seufzte tief und glücklich mit unermeßlicher Zufriedenheit und sagte plötzlich: »Weiß Gott! Das schmeckt!«

Van Brunt nickte verständnisvoll. »Fünf Jahre, sagen Sie?«

»Fünf Jahre.« Der Mann seufzte wieder. »Und ich nehme an, Sie möchten darüber hören, sind natürlich neugierig; es ist ja auch eine seltsame Situation, das stimmt. Aber es ist nicht viel zu erzählen. Ich kam von Edmonton auf der Jagd nach Moschusochsen, hatte Pech wie Pike und die andern und verlor meine Leute und meine Ausrüstung. Hunger, Entbehrung, die alte Geschichte, wissen Sie, der einzige Überlebende und so weiter, bis ich auf Händen und Füßen hier bei Tant latch angekrochen kam.«

»Fünf Jahre«, murmelte van Brunt nachdenklich und suchte in seiner Erinnerung.

»Im Februar waren es fünf Jahre. Anfang Mai kam ich über den Great Slave…«

»Und Sie sind – Fairfax?« unterbrach van Brunt ihn.

Der Mann nickte.

»Warten Sie… John, nicht wahr, John Fairfax.«

»Woher wissen Sie?« fragte Fairfax träge und mit seinen Gedanken beschäftigt, während er Rauchspiralen in die stille Luft steigen ließ.

»Die Zeitungen waren voll davon, als Prevanche…«

»Prevanche!« Fairfax setzte sich, plötzlich munter geworden, auf. »Er verschwand in den Smoke Mountains.«

»Ja, aber er arbeitete sich durch und kam dann heraus.«

Fairfax lehnte sich zurück und wandte sich von neuem seinen Rauchspiralen zu. »Das freut mich«, meinte er nachdenklich. »Prevanche war ein Prachtkerl, wenn er auch seine eigenen Ideen über das Zaumzeug von Zugtieren hatte, das Biest. Und er kam wirklich durch? Wahrhaftig, das freut mich.«

Fünf Jahre – das fuhr van Brunt immer wieder durch den Sinn, und irgendwie schien Emily Southwaithes Antlitz vor ihm aufzutauchen und lebendig zu werden. Fünf Jahre. – Ein Keil von Wildgänsen schwebte niedrig über ihnen, und beim Anblick des Lagers schwenkten sie schnell nach Norden ab in die glimmende Sonne.

Es war eine Stunde nach Mitternacht. Die Wolken im Norden färbten sich plötzlich blutig, dunkelrote Strahlen schossen südwärts, und die düsteren Wälder brannten in einem blassen Feuer. Die Luft hing in atemloser Stille, keine Nadel zitterte, und die letzten Töne vom Lager kamen klar und deutlich herüber wie Trompetenschall. Crees und Reisende spürten einen Hauch davon, murmelten leise und träumerisch, und der Koch dämpfte unbewußt das Rasseln der Töpfe und Pfannen. Irgendwo weinte ein Kind, und aus der Tiefe des Waldes erhob sich wie das Klingen einer silbernen Saite das Klagelied einer Frauenstimme: »O-o-o-o-o-o-a-haa-ha-a-ha-aa-a-a, O-o-o-o-o-o-a-ha-a-ha-a.«

Van Brunt erschauerte, und er rieb sich kräftig seine Handrücken.

»Und sie gaben mich auf, dachten, ich sei tot?« fragte sein Genosse langsam.

»Ja, Sie kamen nie zurück, und da haben Ihre Freunde…«

»Mich prompt vergessen.« Fairfax lachte hart und verächtlich.

»Warum kamen Sie nicht wieder?«

»Teils aus Widerwillen, denke ich, und teils aus Ursachen, über die ich keine Macht hatte. Sehen Sie, Tant latch hatte sich den Fuß gebrochen, als ich seine Bekanntschaft machte – und es war ein häßlicher Bruch –, und ich renkte ihn ein und bekam ihn wieder zurecht. Ich blieb einige Zeit und kam wieder zu Kräften. Ich war der erste Weiße, den er gesehen hatte, und natürlich erschien ich ihm sehr weise, und tatsächlich zeigte ich seinem Volke unendlich viele Dinge. Unter anderm paukte ich ihnen Strategie ein, so daß sie die vier andern zum Stamme gehörenden Dörfer, die Sie noch nicht gesehen haben, besiegten und Herren des Landes wurden. Und natürlich hielten sie viel von mir, so viel, daß sie nichts davon hören wollten, als ich daran dachte, wieder aufzubrechen. Sie waren wirklich sehr gastfrei, stellten ein paar Wächter an und bewachten mich Tag und Nacht. Und dann gebrauchte Tant latch gewissermaßen Lockmittel – er überredete mich sozusagen, und da es so oder so doch keinen großen Unterschied machte, so fand ich mich damit ab und blieb.«

»Ich kannte Ihren Bruder in Freiburg. Ich bin van Brunt.«

Fairfax streckte impulsiv die Hand aus und schüttelte die des andern. »Wie, Sie sind der Freund Billys? Armer Billy. Er sprach oft von Ihnen. – Und ausgerechnet hier müssen wir uns treffen«, fügte er hinzu, ließ seinen Blick über die urweltliche Landschaft schweifen und lauschte einen Augenblick auf die Trauerklage der Frau. »Ihr Mann ist von einem Bären zerrissen worden, und sie kommt schwer darüber hinweg.«

»Scheußliches Leben!« Van Brunt schnitt eine Grimasse des Ekels. »Ich denke, nach fünf Jahren muß Zivilisation süß schmecken? Was meinen Sie?«

Das Gesicht von Fairfax nahm einen schlaffen Ausdruck an. »Ach, ich weiß nicht. Schließlich sind es ehrliche Menschen, und sie leben ihrer Einsicht gemäß. Und dazu sind sie bewundernswert einfach. Nichts Kompliziertes, nicht tausend feine Verästelungen jeder Gefühlsregung. Sie lieben, fürchten, hassen, und ärgern und freuen sich in gewöhnlichen, offenen, unfehlbaren Ausdrücken. Es mag ein scheußliches Leben sein, aber es lebt sich wenigstens leicht. Keine Liebelei, keine Zeitvergeudung. Wenn eine Frau Sie liebt, wird sie nicht zögern, es Ihnen zu sagen. Haßt sie Sie, so wird sie es auch sagen, und wenn Sie dann Lust dazu haben, können Sie sie schlagen. Die Hauptsache ist, daß sie genau weiß, was Sie meinen und umgekehrt. Keine Irrtümer, keine Mißverständnisse. Das hat seinen Reiz nach dem krampfhaften Fieber der Zivilisation. Verstehen Sie das? – Nein, es ist ein ganz gutes Leben«, fuhr er nach einer Pause fort, »gut genug, wenigstens für mich, und ich gedenke es fortzusetzen.«

Van Brunt senkte nachdenklich den Kopf, und ein unmerkliches Lächeln spielte auf seinen Lippen. Keine Liebelei, keine Tändelei, kein Mißverständnis. – Nun, Fairfax nimmt es auch nicht leicht, dachte er, eben weil Emily Southwaithe versehentlich in die Klauen eines Bären geriet. Und er war auch kein schlechter Bär, dieser Carlton Southwaithe.

»Aber Sie werden doch mit mir kommen«, meinte van Brunt vorsichtig.

»Nein.«

»Doch.«

»Das Leben ist zu leicht hier, wie gesagt.« Fairfax sprach mit Entschiedenheit. »Sommer und Winter wechseln wie das Flammen der Sonne durch die Latten eines Zaunes, die Jahreszeiten sind ein nebelhaftes Etwas zwischen Licht und Schatten, die Zeit flieht, und das Leben zerrinnt und dann… Eine Klage im Walde und die Finsternis. Hören Sie!« Er streckte die Hand in die Höhe, und durch die Stille und Einsamkeit ertönte die silberne Saite von der Trauer des Weibes. Fairfax stimmte leise mit ein.

»O-o-o-o-o-a-haa-ha-a-aa-a-a, O-o-o-o-o-a-ha-a-ha-a«, sang er. »Hören Sie nicht? Sehen Sie nicht? Die Klage eines Weibes? Das Totenlied? Meine Haare weißlockig und ehrwürdig? Die rauhe Pracht meiner Pelze, in die ich gehüllt bin? Der Jagdspeer an meiner Seite? Wer kann da sagen, es sei nicht gut so?«

Van Brunt blickte ihn kühl an: »Fairfax, Sie sind ein Narr. Fünf solche Jahre genügen, um einen Mann zu knicken, und Sie befinden sich in einer ungesunden, krankhaften Verfassung. Übrigens: Carlton Southwaithe ist tot.«

Van Brunt stopfte seine Pfeife, steckte sie an und beobachtete den andern vorsichtig und mit fast berufsmäßigem Interesse. Einen Augenblick blitzten Fairfax‘ Augen auf, seine Fäuste ballten sich, und er erhob sich halb. Dann erschlafften seine Muskeln, er schien zu grübeln. Michael, der Koch, meldete, daß das Essen fertig sei, aber van Brunt winkte ihm, daß er noch warten wolle. Das Schweigen war drückend, und er hatte den Einfall, die Gerüche des Waldes zu analysieren, diese Düfte modernder und verwesender Vegetation, dann die harzigen der Tannenzapfen und Nadeln, den aromatischen Rauch von vielen Lagerfeuern. Zweimal blickte Fairfax auf, ohne etwas zu sagen, und dann kam es: »Und – Emily…?«

»Seit drei Jahren Witwe, und noch immer Witwe.«

Wieder Schweigen, ein langes Schweigen, das Fairfax endlich mit naivem Lächeln brach. »Sie haben wohl recht, van Brunt. Ich komme mit.«

»Ich wußte es.« Van Brunt legte Fairfax die Hand auf die Schulter. »Man kann natürlich nicht wissen, aber ich glaube – eine Frau in ihrer Lage – sie hatte Anträge…«

»Wann brechen Sie auf?« unterbrach Fairfax ihn.

»Wenn die Leute etwas geschlafen haben. Dabei fällt mir ein, daß Michael böse wird; kommen Sie, wir wollen essen.«

Nach dem Abendbrot, nachdem die Crees und die Reisenden sich in ihre Decken gehüllt hatten und schnarchten, saßen die beiden Männer noch an dem erlöschenden Feuer. Sie hatten viel zu reden – von Kriegen und Politik, Forschungsreisen, Männertaten und Ereignissen, Freunden, Heiraten und Todesfällen – von fünfjährigem Geschehen, auf das Fairfax brannte.

»So wurde die spanische Flotte bei Santiago erledigt«, sagte van Brunt gerade, als eine junge Frau mit leichtem Schritt zu ihnen trat und neben Fairfax stehenblieb. Sie blickte ihm rasch ins Gesicht und warf einen verwirrten Blick auf van Brunt.

»Die Tochter des Häuptlings Tant latch, eine Art Prinzessin«, erklärte Fairfax mit ehrlichem Erröten. »Um es gleich zu gestehen, eines von den Lockmitteln, die mich hierbleiben ließen. Thom, das ist mein Freund, van Brunt.«

Van Brunt streckte die Hand aus, aber die Frau verharrte in ihrer starren Ruhe, die über ihrer ganzen Erscheinung lag. Weder wurde eine Linie in ihrem Antlitz sanfter, noch entspannten sich ihre Züge. Ihr Blick begegnete dem seinen durchdringend, fragend, suchend.

»Köstlich, sie versteht es!« lachte Fairfax. »Ihre erste Vorstellung, wissen Sie. Aber wie sagten Sie, die spanische Flotte wurde bei Santiago vernichtet?«

Thom kauerte neben ihrem Gatten nieder, reglos wie eine Bronzestatue, nur ihre Blicke wanderten unaufhörlich spähend von Angesicht zu Angesicht. Und während Avery van Brunt immer weiter sprach, spürte er unter dem stummen Blick eine gewisse Nervosität. Mitten in malerischen Schlachtenschilderungen fühlte er plötzlich das schwarze Auge auf sich brennen, und dann stotterte und stammelte er, bis er seine Haltung wiedergewann und wieder in Gang kam.

Die Hände um die Knie geschlungen, mit erloschener Pfeife und in tiefem Sinnen trieb Fairfax ihn an, wenn er zögerte, und malte sich die Welt wieder, die er vergessen zu haben glaubte.

Eine oder zwei Stunden vergingen, dann erhob Fairfax sich zaudernd. »Und Cronje wurde in die Enge getrieben, wie? Na ja! Warten Sie einen Augenblick, ich gehe nur schnell zu Tant latch hinüber. Er wird Sie erwarten, und ich werde es so einrichten, daß Sie ihn nach dem Frühstück begrüßen können. Das ist Ihnen doch recht, nicht wahr?«

Er verschwand zwischen den Kiefern, und van Brunt fand sich, wie er in das warme Auge Thoms starrte. Fünf Jahre, überlegte er, und sie kann jetzt nicht älter als zwanzig sein. Ihre Nase war nicht flach und gleichsam breitgedrückt wie die der Eskimofrauen, sondern adlerhaft mit zarten Flügeln und so fein gebildet wie die einer Dame weißer Rasse. – Also irgendwie Indianerblut, verlaß dich drauf, Avery van Brunt. Und sei nicht nervös, Avery van Brunt, sie wird dich nicht auffressen; sie ist nur eine Frau, und noch dazu keine häßliche. Eher orientalisch als arktisch. Große und weit offene Augen mit einer ganz schwachen Andeutung von Mongolentum. Thom, du bist eine Anomalie. Du gehörst nicht zu den Eskimos, selbst wenn dein Vater einer ist. Wo kam deine Mutter her? Oder deine Großmutter? Und Thom, liebes Kind, du bist eine Schönheit, eine eisige, frostige kleine Schönheit mit Alaska-Lava im Blut, und bitte, schau mich nicht so an. – Er lachte und stand auf. Ihr unausgesetztes Starren verwirrte ihn. Ein Hund schnupperte an den Nahrungsmittelsäcken. Er wollte ihn vertreiben und den Proviant in Sicherheit bringen, bis Fairfax wiederkam. Aber Thom hinderte ihn mit einer Handbewegung daran und stand, ihn musternd, auf.

»Du?« sagte sie in einem arktischen Dialekt, der fast ohne Abweichungen von Grönland bis Point Barrow gesprochen wird. »Du?«

Und der Ausdruck, der schnell auf ihr Gesicht trat, verriet alles, was sie mit diesem »Du« meinte: die Frage, warum er hier sei, was er wolle, was er mit ihrem Manne zu schaffen habe – alles.

»Brüder«, antwortete er im selben Dialekt, indem er mit der Hand nach Süden wies. »Brüder sind wir, dein Mann und ich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gut, daß du hier bist.«

»Nach einem Schlaf gehe ich.«

»Und mein Mann?« fragte sie mit zitterndem Eifer.

Van Brunt zuckte die Achseln. Ihn überkam ein gewisses heimliches Schamgefühl, eine Art unpersönlicher Scham, und ein Zorn auf Fairfax. Und als er die junge Wilde ansah, spürte er das heiße Blut, das ihm ins Gesicht stieg. Sie war eben Weib. Das sagte alles – Weib. Wieder einmal die alte niederträchtige Geschichte, immer wieder, so alt wie Eva und so jung wie der letzte Liebeskuß.

»Mein Mann! Mein Mann! Mein Mann!« wiederholte sie heftig, indem sie ihm mit leidenschaftlich gerötetem Gesicht und der unbarmherzigen Milde des ewigen Weibes in die Augen blickte.

»Thom«, sagte er ernst auf englisch, »du bist in den Wäldern des Nordlandes geboren, du hast Fisch und Fleisch gegessen, mit Kälte und Hunger gekämpft und alle deine Tage einfach gelebt. Und es gibt viele Dinge, die wahrlich nicht einfach sind, die du nicht kennst und nicht verstehen kannst. Du weißt nicht, was es heißt, sich nach fernen Fleischtöpfen zu sehnen, du kannst nicht verstehen, was es heißt, Verlangen nach dem Antlitz einer schönen Frau zu tragen. Und die Frau ist schön, Thom, die Frau ist sehr schön. Du warst diesem Manne eine Frau, und du warst ihm alles, was du konntest, aber dein ›Alles‹ ist sehr wenig und sehr einfach. Zu wenig und zu einfach, und er ist ein Mann von einer fremden Rasse. Ihn hast du nie gekannt und wirst ihn nie kennen. Es ist so bestimmt. Du hieltest ihn in deinen Armen, aber du hieltest nie sein Herz, das Herz dieses Mannes, dem die Jahreszeiten wechselnde Farben sind und dessen Träume barbarisch enden. Traum und Traumdunst, das ist er dir gewesen. Du griffst nach einer Gestalt und faßtest einen Schatten, schenktest dich einem Manne und warst die Bettgenossin eines Gespenstes. So ging es in alten Zeiten den Töchtern der Menschen, wenn die Götter sie schön fanden. Und doch, Thom, Thom, ich möchte nicht John Fairfax sein in den schlaflosen Nächten der kommenden Jahre, in den Nächten, da seine Augen nicht den Sonnenglanz von dem Haare der Frau an seiner Seite, sondern die dunklen Flechten einer Gefährtin sehen werden, die er in den Wäldern des Nordens verlassen hat.«

Obwohl sie ihn nicht verstand, hatte sie mit gespannter Aufmerksamkeit gelauscht, als hinge ihr Leben von seinen Worten ab. Aber sie erfaßte den Namen ihres Gatten und rief auf eskimoisch: »Jaja, Fairfax! Mein Mann!«

»Armes Närrchen, wie könnte er dein Mann sein?«

Aber sie verstand seine englische Sprache nicht und glaubte, daß er sich über sie lustig mache. Der triebhafte, unvernünftige Zorn des Weibchens flammte auf ihrem Gesicht, und es schien dem Manne fast, als kröche sie wie ein Panther zum Sprunge zusammen. Er fluchte leise bei sich und sah, wie die Flamme von ihrem Antlitz wich und die weiche strahlende Glut des flehenden Weibes sich entzündete – des flehenden Weibes, das auf Stärke verzichtet und sich wohlweislich mit seiner Schwäche waffnet.

»Er ist mein Mann«, sagte sie sanft. »Ich habe nie einen andern gekannt. Es kann nicht sein, daß ich je einen andern kennen werde. Es kann auch nicht sein, daß er von mir geht.«

»Wer hat gesagt, daß er von dir gehen soll?« fragte er scharf, halb im Zorn, halb in Ohnmacht.

»Du mußt sagen, daß er nicht von mir gehen soll«, antwortete sie sanft und mit Tränen in der Stimme.

Van Brunt stieß zornig mit dem Fuß ins Feuer und setzte sich nieder.

»Du mußt es ihm sagen. Er ist mein Mann. Vor allen Frauen ist er mein Mann. Du bist groß, du bist stark, und sieh, ich bin schwach. Sieh, ich liege zu deinen Füßen. Du hast es in der Hand, mit mir zu tun, was du willst. Es ist deine Sache.«

»Steh auf!« Er riß sie heftig hoch und stand selbst auf. »Du bist ein Weib, und deshalb darfst du nicht zu Füßen eines Mannes liegen.«

»Er ist mein Mann.«

»Dann verzeihe Christus allen Männern!« rief van Brunt leidenschaftlich.

»Er ist mein Mann!« wiederholte sie eintönig und flehend.

»Er ist mein Bruder«, antwortete er.

»Mein Vater ist der Häuptling Tant latch. Er herrscht über fünf Dörfer. Ich will dafür sorgen, daß die fünf Dörfer durchsucht werden nach einem Mädchen, das dir gefällt, so daß du in Wohlbehagen hier bei deinem Bruder leben kannst.«

»Nach einem Schlaf gehe ich fort.«

»Dort kommt mein Mann, sieh!«

Aus dem Dunkel der Fichten erklang Fairfax‘ Stimme in munterm Trällern.

Wie der Tag durch ein Nebelmeer verdrängt wird, so vertrieb sein Gesang das Licht von ihrem Antlitz.

»Es ist die Sprache seines eigenen Volkes«, sagte sie, »die Sprache seines eigenen Volkes.«

Sie wandte sich mit den leichten Bewegungen eines geschmeidigen jungen Tieres und verschwand im Walde.

»Alles in Ordnung!« rief Fairfax im Näherkommen. »Seine Majestät werden Sie nach dem Frühstück empfangen.«

»Haben Sie es ihm gesagt?« fragte van Brunt.

»Nein. Ich will es ihm auch nicht sagen, ehe wir marschfertig sind.«

Van Brunt warf verstimmt einen Blick auf die schlafenden Gestalten seiner Leute.

»Ich werde froh sein, wenn wir hundert Meilen von hier weg sind«, sagte er.

Thom hob den Fellvorhang von der Hütte ihres Vaters. Zwei Männer saßen drinnen bei ihm, und alle drei blickten sie mit lebhaftem Interesse an. Aber ihr Gesicht verriet nichts, als sie eintrat und sich schweigend niederließ. Tant latch trommelte mit den Knöcheln auf einem Speerschaft, den er über seine Knie gelegt hatte, und starrte träge einem Sonnenstrahl nach, der durch ein Schnürloch fiel und eine schimmernde Spur in die trübe Luft der Hütte zeichnete. An seiner rechten Schulter kauerte Chugungatte, der Schamane. Beides waren alte Männer, und die Müdigkeit vieler Jahre nistete in ihren Augen. Ihnen gegenüber aber saß Keen, ein junger und im Stamme sehr beliebter Mann. Er hatte rasche und lebhafte Bewegungen, und seine schwarzen Augen blitzten unaufhörlich forschend und herausfordernd von einem Antlitz zum andern.

Es war still in der Hütte. Hin und wieder drang der Lärm vom Lager herein, und in der Ferne klang schwach wie die Schatten von Stimmen das Zanken von Knaben in dünnen, schrillen Tönen. Ein Hund steckte plötzlich den Kopf zum Eingang herein und blinzelte die Versammelten eine Weile wolfsartig an, während der Geifer von seinen elfenbeinweißen Fangzähnen tropfte. Nach einer Weile knurrte er aufreizend, senkte dann aber, durch die Unbeweglichkeit der menschlichen Gestalten erschreckt, wieder den Kopf und kroch rückwärts hinaus. Tant latch blickte seine Tochter gleichgültig an.

»Und dein Mann, wie steht es mit ihm und dir?«

»Er singt fremdartige Lieder«, antwortete Thom, »und es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht.«

»So? Hat er gesprochen?«

»Nein, aber es ist ein neuer Ausdruck in seinem Gesicht, ein neues Licht in seinen Augen, und er sitzt mit dem Fremden am Feuer, und sie reden und reden, reden ohne Ende.«

Chugungatte flüsterte seinem Herrn etwas ins Ohr, und Keen bog sich in den Hüften vor.

»Irgend etwas ruft ihn aus der Ferne«, fuhr sie fort, »und er scheint zu lauschen und mit einem Lied in der Sprache seines eigenen Volkes zu antworten.«

Wieder flüsterte Chugungatte, Keen bog sich vor, und Thom schwieg, bis ihr Vater ihr zunickte, daß sie fortfahren solle.

»Du weißt, Tant latch, daß Wildgans und Schwan und die kleine Krickente hier im Tieflande geboren werden. Und du weißt, daß sie vor dem Froste in unbekannte Länder fliehen, und ebenso weißt du, daß sie stets zurückkehren, wenn die Sonne über dem Lande steht und die Wasserläufe frei sind. Stets kehren sie dorthin zurück, wo sie geboren sind, damit dort neues Leben entstehen kann. Das Land ruft sie, und sie kommen. Und jetzt ruft ein anderes Land, und es ruft meinen Mann – das Land, in dem er geboren ist –, und er gedenkt, dem Rufe zu folgen. Dennoch ist er mein Mann. Vor allen Frauen ist er mein Mann.«

»Ist das gut, Tant latch? Ist das gut?« fragte Chugungatte mit einer leisen Drohung in der Stimme.

»Ja, es ist gut!« rief Keen dreist. »Das Land ruft seine Kinder, alle Länder rufen ihre Kinder wieder. Wie Wildgans und Schwan und die kleine Krickente gerufen werden, so auch dieser Fremdling, der bei uns verweilt hat und nun gehen muß. Auch das Geschlecht ruft. Die Gans paart sich mit der Gans, und der Schwan paart sich nicht mit der kleinen Krickente. Es tut nicht gut, wenn der Schwan sich mit der kleinen Krickente paart. Und es tut auch nicht gut, wenn Fremdlinge sich ihre Weiber in unsern Dörfern suchen. Daher sage ich, daß der Mann zu seinem eigenen Geschlecht in sein eigenes Land gehen soll.«

»Er ist mein Mann«, antwortete Thom, »und er ist ein großer Mann.«

»Ja, er ist ein großer Mann.« Chugungatte hob den Kopf mit einem leisen Erwachen jugendlicher Kraft. »Er ist ein großer Mann, und er hat deinem Arm Stärke geschenkt, o Tant latch, hat dir Macht gegeben und deinen Namen gefürchtet im Lande gemacht, gefürchtet und geehrt. Er ist sehr weise und seine Weisheit bringt viel Nutzen. Ihm haben wir vieles zu verdanken – die Anwendung von Kriegslisten und die Geheimnisse einer Verteidigung des Dorfes und bei Überfällen im Walde, die Abhaltung von Beratungen, Besiegung des Feindes durch Worte und feierliche Versprechungen, Einkreisung des Wildes, das Stellen von Fallen, die Aufbewahrung von Nahrungsmitteln und die Heilung von Krankheit und Wunden auf der Jagd und im Kampfe. Du, Tant latch, würdest heute ein lahmer alter Mann sein, wäre der Fremdling nicht zu uns gekommen und hätte dich gepflegt. Und stets, wenn wir im Zweifel über eine schwierige Frage waren, sind wir zu ihm gegangen, daß er uns durch seine Weisheit Rat schaffte, und stets hat er uns Rat geschafft. Und es werden immer wieder Fragen kommen, da wir sein Wissen brauchen werden. Wir können ihn deshalb nicht gehen lassen. Es ist nicht gut, ihn gehen zu lassen.«

Tant latch trommelte weiter auf dem Speerschaft und gab kein Zeichen, daß er zugehört hatte. Thom forschte vergebens in seinem Gesicht, Chugungatte schien einzuschrumpfen und zusammenzusinken, als ob die Last der Jahre wieder auf ihn fiele.

»Niemand tötet meine Beute.« Keen schlug sich kräftig vor die Brust. »Ich töte meine Beute selbst. Ich freue mich des Lebens, wenn ich meine Beute töte. Wenn ich mich über den Schnee an den großen Elch anpirsche, so bin ich glücklich. Und wenn ich mit voller Kraft den Bogen spanne und ihm den Pfeil schnell und scharf ins Herz jage, so bin ich glücklich. Und das Fleisch von der Beute, die ein anderer Mann gefällt hat, schmeckt mir nicht so gut wie das von meiner eigenen Beute. Ich freue mich des Lebens, freue mich meiner eigenen List und Kraft, freue mich, daß ich etwas ausrichte, etwas für mich selber. Wozu sollte man sonst wohl leben? Wozu sollte ich leben, wenn ich mich nicht freute über mich selbst und über das, was ich vollbringe? Und weil ich mich freue und glücklich darüber bin, daß ich jage und fische, darum werde ich listig und stark. Der Mann, der in seiner Hütte am Feuer sitzt, wird nicht listig und stark. Er wird nicht froh, wenn er von meiner Beute ißt, und das Leben ist keine Freude für ihn. Er lebt nicht. Und deshalb sage ich: Es ist gut, daß der Fremdling geht. Seine Weisheit macht uns nicht weise. Wenn er listig ist, so brauchen wir es nicht zu sein. Haben wir List nötig, so gehen wir zu ihm und holen sie uns. Wir essen das Fleisch von seiner Beute, und es schmeckt nicht. Wir haben den Nutzen von seiner Stärke, und wir werden nicht glücklich dadurch. Wir leben nicht, wenn er für uns lebt. Wir werden dick und weibisch, wir fürchten uns vor der Arbeit, und wir vergessen, was wir für uns selbst tun müssen. Laß den Mann gehen, o Tant latch, auf daß wir Männer sein können! Ich bin Keen, ein Mann, und ich töte selbst meine Beute!«

Tant latch sandte ihm einen Blick, in dem die Leere der Ewigkeit zu liegen schien. Keen wartete gespannt auf die Entscheidung; aber die Lippen blieben unbeweglich, und der alte Häuptling wandte sich zu seiner Tochter.

»Was gegeben ist, kann nicht zurückgenommen werden«, brach sie los. »Ich war noch ein Kind, als der Fremdling, der mein Mann ist, zu uns kam. Und ich kannte nicht Männer und Männerart, und mein Herz lebte im Spiel der Mädchen, als du, Tant latch, du und kein anderer, mich zu dir riefst und mich in die Arme des Fremdlings legtest. Du und kein anderer, Tant latch! Und wie du mich dem Manne gabst, so gabst du auch den Mann mir. Er ist mein Mann. In meinen Armen hat er geschlafen, und aus meinen Armen kann er nicht gerissen werden.«

»Es wäre gut, o Tant latch«, fügte Keen schnell mit einem bedeutungsvollen Blick auf Thom hinzu, »es wäre gut, daran zu denken: Was gegeben ist, kann nicht zurückgenommen werden.«

Chugungatte richtete sich auf. »Deine Jugend, Keen, gibt deinem Mund diese Worte ein. Aber wir, o Tant latch, wir sind alte Männer, und wir verstehen. Auch wir haben in die Augen von Frauen geblickt und gefühlt, wie unser Blut heiß wurde von seltsamen Wünschen. Aber die Jahre haben uns abgekühlt, und wir haben die Weisheit der Ratsversammlung, die Schlauheit des kühlen Kopfes und der ruhigen Hand gelernt, und wir wissen, daß das heiße Herz allzu heiß ist und zur Unbesonnenheit neigt. Wir wissen, daß Keen Gnade vor deinen Augen fand. Wir wissen, daß Thom ihm in alten Tagen versprochen wurde, als sie noch ein Kind war. Und wir wissen, daß die neuen Tage kamen und mit ihnen der Fremdling und daß um unseres Wissens und unseres Verlangens nach Glück willen Keen Thom verlor und das Versprechen gebrochen ward.«

Der alte Schamane schwieg und sah dem jungen Mann gerade in die Augen.

»Und man mag auch wissen, daß ich, Chugungatte, den Rat gab, das Versprechen zu brechen.«

»Auch nahm ich kein anderes Weib in mein Bett«, fiel Keen ein. »Ich habe selbst mein Feuer entzündet und mein Essen gekocht und in meiner Einsamkeit mit den Zähnen geknirscht.«

Chugungatte winkte mit der Hand, zum Zeichen, daß er noch nicht fertig sei. »Ich bin ein alter Mann, und ich spreche, weil ich verstehe. Es ist gut, stark zu sein und nach Macht zu streben. Es ist besser, auf Macht zu verzichten, auf daß Gutes daraus entstehe. In alten Tagen saß ich neben deiner Schulter, Tant latch, und meine Stimme wurde überall gehört im Rate, und mein Rat wurde in wichtigen Dingen befolgt. Und ich war stark und hatte Macht. Nächst Tant latch war ich der Größte. Da kam der Fremdling, und ich sah, daß er listig und weise und groß war. Und weil er weiser und größer war als ich, wurde es klar, daß größerer Vorteil von ihm kommen würde als von mir. Und ich hatte dein Ohr, Tant latch, und du lauschtest meinen Worten, und der Fremdling erhielt Macht und Stellung und deine Tochter Thom. Und der Stamm gedieh unter den neuen Gesetzen in den neuen Tagen, und so wird er weiter gedeihen, solange wir den Fremdling in unserer Mitte haben. Wir sind alte Männer, wir beiden, o Tant latch, du und ich, und dies ist eine Sache des Kopfes und nicht des Herzens. Hör meine Worte! Laß den Mann hierbleiben.«

Ein langes Schweigen herrschte. Der alte Häuptling grübelte mit der gewichtigen Sicherheit eines Gottes, und Chugungatte schien sich in die Nebel eines hohen Alters zu hüllen. Keen sah verlangend auf das Weib, aber sie achtete nicht darauf, sondern hielt ihre Augen starr auf das Gesicht ihres Vaters geheftet. Der Wolfshund schob wieder den Vorhang beiseite, faßte in der Stille Mut und kroch auf dem Bauche näher. Er schnupperte neugierig an Thoms gleichgültiger Hand, spitzte Chugungatte gegenüber herausfordernd die Ohren und kroch vor Tant latch zusammen. Der Speer fiel rasselnd zu Boden, der Hund sprang mit einem erschrockenen Heulen beiseite, schnappte in die Luft und erreichte mit einem neuen Sprung den Eingang.

Tant latch sah von einem Gesicht auf das andre und betrachtete jedes lange und sorgfältig. Dann hob er den Kopf mit rauher Königswürde und sprach sein Urteil in kaltem, ruhigem Tone: »Der Mann bleibt. Laßt die Jäger zusammenrufen. Schickt einen Läufer in das nächste Dorf mit dem Befehl, die Krieger zu schicken. Ich will den neuen Fremdling nicht sehen. Sprich du mit ihm, Chugungatte. Sag ihm, daß er gleich gehen soll, wenn er in Frieden gehen will. Kommt es aber zum Kampfe, so tötet, tötet, tötet bis zum letzten Mann, aber gebt mein Wort kund, daß nichts Böses unserm Manne widerfahren darf – dem Manne, den meine Tochter geheiratet hat. – Es ist gut.«

Chugungatte erhob sich und stolperte hinaus; Thom folgte ihm. Als Keen sich aber im Eingang bückte, hielt Tant latchs Stimme ihn zurück: »Keen, es ist gut, auf mein Wort zu hören. Der Mann bleibt. Sorge dafür, daß ihm nichts Böses widerfährt.«

Infolge des strategischen Unterrichts von Fairfax kam der Stamm nicht wild und lärmend angestürzt. Vielmehr herrschte große Zurückhaltung und Selbstbeherrschung, die Krieger begnügten sich damit, schweigend, von Deckung zu Deckung kriechend, vorzurücken. Unten am Flusse und teilweise durch eine kleine Lichtung geschützt, lagen zusammengekauert die Crees und die Reisenden. Ihre Augen konnten nichts sehen und ihre Ohren nur undeutlich hören, aber sie fühlten das Leben, daß durch den Wald pulste, die undeutlichen, unbestimmbaren Bewegungen eines vorrückenden Heeres.

»Verflixt!« brummte Fairfax. »Sie hatten noch nie Pulver gerochen, aber ich hab‘ es sie gelehrt.«

Avery van Brunt lachte, klopfte seine Pfeife aus und steckte sie samt dem Tabaksbeutel sorgfältig ein. Dann lockerte er das Jagdmesser in der Scheide an seiner Hüfte.

»Wartet nur«, sagte er, »wir wollen euch die Suppe schon versalzen.«

»Wenn sie an meine Lehre denken, greifen sie uns in einzelnen Abteilungen an.«

»Mögen sie. Unsere Magazingewehre sind bereit. Sie wollen es – gut! So möge das erste Blut fließen! Eine Extraration Tabak, Lom!«

Lom, einer der Crees, hatte eine ungedeckte Schulter entdeckt und ihren Besitzer mit einer brennenden Kugel über seine Entdeckung belehrt.

»Wenn wir sie nur zum Losbrechen reizen könnten«, murmelte Fairfax. »Wenn wir sie nur zum Losbrechen reizen könnten.«

Van Brunt sah hinter einem entfernten Baum einen Kopf hervorlugen und brachte den Mann durch einen schnellen Schuß zu Fall. Er zappelte im Todeskampf auf dem Boden. Michael erledigte einen dritten, und Fairfax beteiligte sich mit den übrigen ebenfalls am Spiel und feuerte, sobald jemand sich eine Blöße gab oder ein Busch sich bewegte. Beim Lauf über eine kleine Niederung, wo es keine Deckung gab, blieben fünf Eingeborene auf ihren Gesichtern liegen, und links, wo die Deckung nur spärlich war, wurde ein Dutzend getroffen. Aber trotzdem behielten sie ihre trotzige Hartnäckigkeit und näherten sich vorsichtig und ruhig, ohne Hast, aber auch ohne Zögern.

Zehn Minuten später, als sie ganz nahe waren, hörten alle Bewegungen auf, der Vormarsch wurde plötzlich eingestellt, und die Stille, die jetzt folgte, war unheilverkündend und drohend. Es waren nur die grünen und goldenen Farben des Waldes und der Büsche zu sehen, die in dem ersten schwachen Hauch des Morgenwindes erschauerten. Die blasse, weiße Morgensonne sprenkelte den Boden mit langen Schatten und Lichtstreifen. Ein Verwundeter hob den Kopf und kroch beschwerlich über die Niederung. Michael folgte ihm mit der Büchse, schoß aber nicht. Ein Pfeifen durchfuhr die unsichtbare Linie von links nach rechts, und ein Schauer von Pfeilen schwirrte durch die Luft.

»Fertig!« kommandierte van Brunt mit einem metallischen Klang in seiner Stimme. »Jetzt!«

Gleichzeitig brachen sie aus der Deckung hervor. Der Wald wurde plötzlich lebendig. Ein mächtiges Geheul ertönte, und die Gewehre kläfften in scharfem Trotz. Die Männer des Stammes begegneten dem Tod mitten im Sprunge, und während sie fielen, fluteten ihre Brüder in einer brüllenden, unwiderstehlichen Woge über sie hinweg. Allen voran, mit flatterndem Haar und die Arme schwingend, über gefallene Bäume springend, kam Thom. Fairfax zielte auf sie und hätte fast abgedrückt, als er sie noch rechtzeitig erkannte.

»Die Frau! Schießt nicht!« rief er. »Seht, sie ist unbewaffnet!«

Die Crees hörten nicht, ebensowenig Michael und sein Kamerad, der andere Reisende, auch nicht van Brunt, der unaufhörlich schoß. Aber Thom lief unverletzt weiter, auf den Fersen eines fellbekleideten Jägers, der von seitwärts vor sie gestürzt war. Fairfax leerte sein Magazin auf die Männer rechts und links von ihr und drehte seinen Gewehrlauf, um den großen Jäger zu treffen. Aber der Mann schien ihn zu erkennen, schwenkte plötzlich ab und rannte Michael einen Speer in den Leib. Im nächsten Augenblick hatte Thom ihren Arm um den Hals ihres Gatten geschlungen und, sich herumwirbelnd, mit Stimme und Bewegung den Schwarm der Angreifer gespalten. Ein Schock Männer stürzte an beiden Seiten vorüber, und Fairfax stand einen Augenblick da und betrachtete sie und ihre bronzefarbene Schönheit. Ergriffen und frohlockend starrte er in unerhörte Tiefen, hatte Gesichte von den seltsamsten Dingen, träumte unsterbliche Träume. Vage Erinnerungen an die Lehrsätze alter Philosophie und neuer Ethik gingen ihm durch den Sinn und wunderbare, greifbare, aber schmerzhaft unzusammenhängende Bilder – Jagdszenen, finstere Waldstrecken, schweigende Schneefelder, Ballsäle mit strahlenden Lichtern, große Galerien und Vorlesungssäle, das undeutliche Blinken schimmernder Reagenzgläser, Regale mit langen Bücherreihen, Maschinengeratter und Straßenlärm, Fragmente eines vergessenen Liedes, Gesichter geliebter Frauen und alter Kameraden, ein einsamer Bach zwischen ragenden Bergspitzen, fette Täler, Duft von Heu. – Ein Jäger stürzte, von einer Kugel zwischen den Augen getroffen, plötzlich leblos vornüber, schoß durch die Wucht seines Falles noch ein Stück über den Boden. Fairfax kam wieder zu sich. Seine Kameraden waren, soweit sie noch lebten, weit zurück zwischen die Bäume getrieben. Er konnte das leidenschaftliche Heia! Heia! der Jäger hören, während sie drauflosgingen und mit ihren Waffen aus Knochen und Elfenbein hieben und stachen. Die Schreie der Gefallenen trafen ihn wie Schläge. Er wußte, daß der Kampf zu Ende und die Schlacht verloren war, aber alle Überlieferungen und die Treue seiner Rasse zwangen ihn, sich ins Getümmel zu stürzen, um wenigstens mit seinen Brüdern zu sterben.

»Mein Mann! Mein Mann!« schrie Thom. »Du bist gerettet!«

Er versuchte, vorwärts zu kommen, aber das Gewicht ihres Körpers hemmte seinen Schritt.

»Es ist unnütz! Sie sind tot, und das Leben ist sehr schön!« Sie hielt seinen Hals fest umschlungen, umwand ihn mit ihren Beinen, so daß er strauchelte, kämpfen mußte, um wieder auf die Füße zu kommen, wieder strauchelte und hintenüberfiel. Im Fallen hatte Thom das Sausen eines gefiederten Pfeiles gehört, der vorbeiflog: sie deckte seinen Leib mit dem ihren wie mit einem Schilde, während sie ihn immer noch fest mit den Armen umschlungen hielt und Gesicht und Lippen gegen seinen Hals preßte.

Da erhob Keen sich aus einem wirren Laubdickicht einige Fuß entfernt. Er blickte sich vorsichtig um. Der Kampf hatte sich verzogen, und der Schrei des letzten Mannes erstarb. Niemand war zu sehen. Er legte einen Pfeil auf die Bogensehne und warf einen Blick auf den Mann und die Frau. Zwischen ihrer Brust und ihrem Arm zeigte sich das weiße Fleisch der Flanke des Mannes. Keen spannte den Bogen und zog den Pfeil bis zur Spitze zurück. Zweimal tat er es, ruhig und um seines Schusses sicher zu sein. Dann ließ er das mit knöchernen Widerhaken versehene Geschoß gerade in das weiße Fleisch fliegen, das nie weißer leuchtete als in der dunkelarmigen, dunkelbrüstigen Umarmung.


Einleitung

Alaska-Kid

 

Über das Buch

 

San Francisco, O’Hara und seine Zeitschrift, für die er Erzählungen in wöchentlichen Fortsetzungen schrieb, die Redaktion, die Klubs, in denen er verkehrte, all die Nichtigkeiten jener tatenlosen Tage scheinen einer unbeschreiblich fernen Vergangenheit anzugehören. Nur mit Schaudern denkt Kid Bellew daran, wie er einst Zeit und Kraft in dem Bohèmeleben der großen Stadt vergeudet hat, ohne zu wissen, was Nahrung, Schlaf und Gesundheit in Wirklichkeit bedeuten. Aus einer Laune heraus hat er sich Goldgräbern auf dem Wege nach Alaska angeschlossen, hat ungeheure körperliche Strapazen auf sich genommen und schließlich Gefallen am harten Leben in den endlosen Wäldern, den unnahbaren, zerklüfteten Gebirgen und den wild schäumenden Wassern gefunden. Gemeinsam mit Jack Kurz, einem prächtigen Kameraden, schlägt er sich quer durch Alaska, zu Fuß, im Boot, auf Schneeschuhen und mit dem Hundeschlitten. Aus dem ehemaligen Chechaquo, dem Grünschnabel, wird der erfahrene Waldläufer, Hundeführer und Goldsucher Alaska-Kid.

 

 

 

Über den Autor

 

Jack London (eig. John Griffith, später J. G. London nach seinem Stiefvater) wurde am 12.01.1876 in San Francisco geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Er schlägt sich als Fabrikarbeiter, Austernpirat, Landstreicher und Seemann durch, holt das Abitur nach, beginnt zu studieren, geht dann als Goldsucher nach Alaska, lebt monatelang im Elendsviertel von London, gerät als Korrespondent im russisch-japanischen Krieg in Gefangenschaft und bereist die ganze Welt. Am 22.11.1916 setzt der berühmte Schriftsteller auf seiner Farm in Kalifornien seinem zuletzt von Alkohol, Erfolg und Extravaganz geprägten Leben ein Ende.

 

Kapitel 4

Kapitel 4

 

»Komisch, daß du gar nicht spielst«, sagte Kurz eines Abends im „Elch“ zu Kid. »Liegt es dir denn gar nicht im Blut?«

 

»Natürlich«, antwortete Kid. »Aber ich habe auch die Zahlen im Kopf. Ich will was Reelles für mein Geld haben.«

 

Der ganze große Schankraum um sie her hallte wider von dem Knattern und Rasseln und Rumpeln der zwölf Roulette, an denen pelzgekleidete Männer in Mokassins ihr Glück versuchten. Kid machte eine Handbewegung, die all diese Leute umfaßte.

 

»Schau sie dir an«, sagte er. »Die nüchternen Zahlen erzählen mir, daß sie heute nacht mehr verlieren als gewinnen werden und daß die meisten von ihnen in diesem Augenblick im Verlust sitzen.«

 

»Du bist sicher ein guter Rechner«, murmelte Kurz bewundernd. »Und meistens hast du ja auch recht. Aber es gibt auch so etwas wie Tatsachen! Und es ist eine Tatsache, daß es ganze Glückssträhnen geben kann. Es gibt Augenblicke, in denen jeder Idiot, der nur spielt, gewinnen muß. Das weiß ich, denn ich habe selbst Spiele genug mitgemacht und mehr als einmal erlebt, daß die Bank gesprengt wurde. Die einzige Methode, zu gewinnen, ist, ruhig abzuwarten, bis man eine Vorahnung bekommt, daß jetzt die Glückssträhne angesaust kommt, und sie dann bis zum letzten auszunutzen.«

 

»Das klingt ja sehr einfach«, sagte Kid kritisch, »so einfach, daß ich gar nicht begreifen kann, wie man überhaupt verlieren kann.«

 

»Der Fehler ist ja eben«, gab Kurz zu, »daß die meisten Leute ihre Vorahnungen mißverstehen. Es ist natürlich hin und wieder auch geschehen, daß ich mich in meinen Vorahnungen geirrt habe. Man muß eben versuchen, es herauszukriegen.«

 

Kid schüttelte den Kopf.

 

»Das ist auch nur eine Art Berechnung, Kurz. Die meisten Männer irren sich aber in ihren Ahnungen.«

 

»Aber hast du denn nie so ein todsicheres Gefühl gehabt, daß du nur dein Geld hinzulegen brauchtest, um den Gewinn in die Tasche zu stecken?«

 

Kid lachte.

 

»Ich bin zu ängstlich, wenn ich an die vielen Prozent Chancen denke, die ich gegen mich habe. Aber ich will dir was sagen, Kurz: Ich werde jetzt einen Dollar auf die „Hohe Karte“ setzen und sehen, ob ich so viel gewinne, daß wir einen dafür trinken können.«

 

Kid wollte sich den Weg zum Pharaotisch bahnen, aber Kurz hielt ihn am Arm zurück.

 

»Laß mal, du. Ich habe eben eine von meinen Ahnungen. Setz lieber deinen Dollar an dem Roulett.«

 

Sie gingen zum Roulettisch neben der Bar.

 

»Warte, bis ich es dir sage«, riet Kurz.

 

»Welche Nummer?« – »Das mußt du selbst bestimmen. Aber warte, bis ich es dir sage.«

 

»Du willst doch nicht behaupten, daß ich gerade an diesem Tisch eine besondere Chance hätte?« wandte Kid ein.

 

»Eine ebenso gute wie am nächsten.«

 

»Aber jedenfalls keine so gute wie die Bank.«

 

»Wart ab und sieh«, erklärte Kurz eindringlich. »Jetzt – jetzt los!«

 

Der Bankhalter hatte soeben die kleine elfenbeinerne Kugel auf ihre wirbelnde Fahrt über den glatten Rand des rollenden Rades mit den vielen Löchern hinausfliegen lassen.

 

Kid, der am unteren Tischende stand, lehnte sich über einen der Spieler und warf seinen Dollar achtlos auf den Tisch. Er rollte über das glatte grüne Tuch und blieb dann säuberlich in der Mitte von „34“ liegen.

 

Die Kugel hielt an, und der Bankhalter rief: »Vierunddreißig gewinnt.« Er strich das Geld vom Tisch und legte fünfunddreißig Dollar vor Kid hin. Als Kid das Geld in die Tasche steckte, klopfte Kurz ihm auf die Schulter.

 

»Na, da siehst du, was eine Ahnung bedeutet, Kid! Wie ich es wissen konnte? Das kann ich dir nicht erklären. Ich wußte einfach, daß du gewinnen würdest. Denn, siehst du, wenn dein Dollar auf eine andere Zahl gefallen wäre, dann hätte die gewonnen. Wenn die Ahnung richtig ist, mußt du einfach gewinnen.«

 

»Aber wenn nun Doppelzero herausgekommen wäre, was dann?« fragte Kid, während sie sich zur Bar begaben.

 

»Dann wäre dein Dollar auf zwei Nullen liegengeblieben«, antwortete Kurz. »Das ist einfach unvermeidlich. Ahnung ist und bleibt Ahnung. Da kannst du sagen, was du willst – nichts zu machen. Aber komm jetzt wieder an den Tisch. Ich habe eine neue Ahnung bekommen, daß ich jetzt, nachdem ich dir gewinnen half, selbst ein paar Treffer kriege.«

 

»Spielst du denn nach einem bestimmten System?« fragte Kid zehn Minuten später, als sein Kamerad schon hundert Dollar verloren hatte.

 

Kurz schüttelte empört den Kopf, während er seine Spielmarken auf „3“ und auf „17“ legte. Außerdem legte er eine Marke, die er noch übrig hatte, auf Grün.

 

»Die Hölle ist vollgepfropft mit Idioten, die nach Systemen gespielt haben«, bemerkte er noch, als der Bankhalter das Geld an sich raffte.

 

Kid, der zuerst nur zugesehen hatte, wurde allmählich ganz bezaubert. Er verfolgte mit dem größten Interesse jede Einzelheit des Spieles von der wirbelnden Kugel bis zur Ein- und Auszahlung der Einsätze. Er selbst spielte nicht mit, sondern begnügte sich mit dem Zusehen. Aber es interessierte ihn so, daß Kurz, der erklärte, jetzt genug vom Spiel bekommen zu haben, ihn kaum vom Tisch wegziehen konnte.

 

Der Bankhalter gab Kurz den Goldsack wieder, den er als Sicherheit hinterlegt hatte, um mitspielen zu dürfen, und gleichzeitig bekam er einen Schein, worauf stand: Verloren 350 Dollar.

 

Kurz ging mit dem Sack und dem Schein quer durch den Raum, um beides dem Mann zu geben, der dort hinter einer großen Goldwaage saß. Er wog für dreihundertfünfzig Dollar Goldstaub ab und tat sie in den Goldbehälter des Hauses.

 

»Diese Ahnung war wohl auch eine von deinen Berechnungen«, spottete Kid.

 

»Ich mußte doch zu Ende spielen, nicht wahr? Nur um zu sehen, wie es zusammenhing«, gab Kurz zurück. »Und ich denke, ich mußte es auch durchführen, um zu beweisen, daß es so was wie Ahnungen gibt.«

 

»Macht nichts, Kurz«, lachte Kid. »Ich habe selbst eben so etwas wie eine Ahnung bekommen.«

 

Kurz‘ Augen strahlten, und er rief eifrig: »Was denn, Kid? Dann nur gleich hinein und spiel!«

 

»Es ist nichts dergleichen, Kurz. Meine Ahnung sagt mir nur, daß ich eines schönen Tages ein System ausarbeiten werde, das den ganzen Tisch da drinnen sprengen wird.«

 

»System…«, seufzte Kurz. Dann betrachtete er seinen Partner mit tiefem Mitleid. »Kid, höre auf den guten Rat deines Stallbruders und laß alle Systeme schießen. Systeme gehen todsicher zum Teufel. Bei Systemen gibt es keine Ahnungen.«

 

»Deshalb liebe ich sie ja gerade«, antwortete Kid. »Ein System hat eine ordentliche Basis. Wenn du das richtige System findest, kannst du nie verlieren, und darin liegt der Unterschied zwischen Systemen und Ahnungen. Du weißt nie, wann die richtige Ahnung zum Teufel geht.«

 

»Aber ich weiß von unzähligen Systemen, die zum Teufel gegangen sind, und ich habe noch nie eins gesehen, das zum Gewinn geführt hat.«

 

Kurz schwieg einen Augenblick und seufzte tief. »Weißt du, Kid, wenn du anfängst, dich in Systeme zu verlieben, dann ist hier nicht der rechte Platz für dich. Dann ist es wirklich Zeit, daß wir wieder auf die Reise gehen.«

 

 

 

In den folgenden Wochen schienen die beiden Partner entgegengesetzte Ziele zu verfolgen. Kid wollte noch immer die meiste Zeit im „Elch“ verbringen, wo er dem Roulettspiel zusah, während Kurz ebenso eifrig verlangte, daß sie auf die Reise gehen sollten. Als Kurz schließlich vorschlug, daß sie zweihundert Meilen weit den Yukon hinab auf die Goldsuche gehen wollten, setzte Kid sich auf die Hinterbeine.

 

»Siehst du, Kurz«, sagte er. »Ich will nicht gehen. Die Fahrt würde mindestens zehn Tage in Anspruch nehmen, und ich hoffe mein System schon vorher in die Tat umzusetzen. Ich könnte beinahe schon jetzt damit anfangen und gewinnen. Aber warum in aller Welt willst du mich überhaupt in dieser Weise durch das Land schleppen?«

 

»Kid, ich muß mich ja ein bißchen deiner annehmen«, erwiderte Kurz. »Bei dir geht eine kleine Schraube los. Ich würde dich bis nach Jericho oder nach dem Nordpol schleppen, wenn ich dich nur von dem verdammten Tisch losreißen könnte.«

 

»Das mag ja alles ganz gut sein, Kurz, aber schließlich bin ich ja verhältnismäßig erwachsen und noch dazu ein guter Fleischesser. Das einzige, was du schleppen sollst, ist das Gold, das ich durch mein System gewinnen werde, und ich glaube, daß du ein Hundegespann brauchen wirst.«

 

Kurz antwortete nur mit einem Stöhnen.

 

»Und ich möchte auch nicht, daß du auf eigene Faust spielst«, fuhr Kid fort. »Wir werden den Gewinn teilen, aber ich brauche all unser Geld, um es durchzuführen. Das System ist ja noch nicht ausprobiert, und es ist sehr gut möglich, daß ich einige Verluste haben werde, ehe ich es richtig in Gang kriege.«

 

Nachdem Kid lange Stunden und Tage mit ständiger Beobachtung des Tisches verbracht hatte, kam schließlich der Abend, an dem er erklärte, daß er bereit sei. Düster und pessimistisch begleitete Kurz seinen Kompagnon in den „Elch“, mit einer Miene, als ginge er zu seinem eigenen Begräbnis. Kid kaufte einen Haufen Spielmarken und setzte sich neben den Bankhalter am Ende des Tisches. Immer wieder machte der Ball seinen sausenden Kreislauf durch das Rad, und die andern Spieler gewannen und verloren, aber Kid wagte noch keine einzige Marke zu setzen. Kurz wurde immer ungeduldiger. »Nur los, Kamerad, nur immer los«, drängte er. »Mach bald Schluß mit dem Begräbnis. Was hast du denn? Kalte Füße gekriegt?«

 

Kid schüttelte den Kopf und wartete. Ein Dutzend Spiele wurden beendet, dann warf er plötzlich zehn Ein-Dollar-Marken auf „26“. Die Zahl gewann, und der Bankhalter zahlte Kid dreihundertfünfzig Dollar aus. Wieder ging ein Dutzend Spiele vorüber, als Kid endlich zum zweitenmal zehn Dollar, jetzt aber auf „32“ setzte. Und wiederum erhielt er dreihundertfünfzig Dollar.

 

»Das nenne ich eine Ahnung«, flüsterte ihm Kurz laut und aufgeregt ins Ohr. »Nur festhalten, festhalten!«

 

»Keine Spur von Ahnung«, flüsterte Kid zurück. »Es gehört zum System. Ist es nicht prachtvoll?«

 

»Das kannst du mir nicht weismachen«, behauptete Kurz. »Ahnungen kommen einem oft auf die merkwürdigsten Arten. Vielleicht glaubst du, daß es ein System ist, aber das ist es nicht. Systeme taugen nie etwas. Das gibt es gar nicht! Es ist todsicher eine Ahnung, daß du so spielst…«

 

Kid änderte jetzt sein Spiel.

 

Er setzte etwas öfter, aber stets nur einzelne Marken, warf sie hierhin und dorthin und verlor mehr, als er gewann.

 

»Hör jetzt lieber auf«, riet ihm Kurz. »Steck ein, was du hast. Du hast dreimal ins Schwarze getroffen und immerhin einen Tausender gewonnen. Du kannst jetzt ruhig aufhören.«

 

In demselben Augenblick surrte die Kugel wieder durch das Rad, und Kid warf zehn Dollar auf „26“. Die Kugel fiel in das Loch der „26“, und der Bankhalter zahlte Kid dreihundertfünfzig Dollar aus.

 

»Wenn du also sowieso ganz hirnverbrannt bist und auch noch den großen Treffer deines Lebens bekommen hast, dann setz den Höchstbetrag«, sagte Kurz. »Schmeiß nächstes Mal fünfundzwanzig drauf!«

 

Eine Viertelstunde verging, in dem Kid teils gewann, teils verlor, aber immer nur kleine Beträge auf verschiedene Zahlen. Da setzte er, mit der Plötzlichkeit, die sein ganzes Spiel kennzeichnete, fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero, und der Bankhalter zahlte ihm achthundertfünfundsiebzig Dollar aus.

 

»Weck mich doch, Kid, ich träume ja!« stöhnte Kurz.

 

Kid lächelte, schlug in seinem Notizbuch nach und vertiefte sich in Berechnungen. Immer wieder zog er sein Notizbuch aus der Tasche, und hin und wieder schrieb er Zahlen auf.

 

Es hatte sich eine ganze Menge von Leuten um den Tisch gesammelt, während die Spieler selbst versuchten, dieselben Zahlen zu belegen wie er. Da änderte er mit einem Schlage wieder seine Taktik. Zehnmal nacheinander setzte er zehn Dollar auf »18« und verlor. Jetzt hätte selbst der Kühnste ihn im Stich gelassen. Da wechselte er wieder die Nummer und gewann zum fünften Male dreihundertfünfzig Dollar. Im selben Augenblick kehrten die anderen Spieler reumütig zu seinen Zahlen zurück, ließen ihn aber wieder allein, als er aufs neue eine Reihe von Verlusten zu verbuchen hatte.

 

»Laß das Ding jetzt, Kid, laß es«, warnte Kurz. »Selbst die beste Strähne von Ahnungen hat nur eine bestimmte Länge, und deine ist jetzt fertig. Du machst keinen Treffer mehr.«

 

»Ich werde nur noch einmal ins Schwarze treffen, ehe ich meinen Gewinn zusammenraffe«, antwortete Kid.

 

Einige Minuten warf er noch Spielmarken mit wechselndem Glück auf verschiedene Zahlen, dann setzte er plötzlich fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero. »Jetzt werde ich Schluß machen«, sagte er zu dem Bankhalter, nachdem er gewonnen hatte.

 

»Oh, du brauchst es mir nicht zu zeigen«, sagte Kurz, als sie zusammen zur Waage gingen. »Ich habe selbst nachgerechnet. Du mußt so etwa dreitausendsechshundert gewonnen haben. Stimmt es?«

 

»Dreitausendsechshundertdreißig«, antwortete Kid.

 

»Und jetzt mußt du den Goldstaub nach Hause tragen. So haben wir es abgemacht.«

 

 

 

»Fordere das Glück nicht heraus«, flehte Kurz am nächsten Abend in der Hütte, als er bemerkte, daß Kid Vorbereitungen traf, wieder in den „Elch“ zu gehen. »Du hast gestern eine gewaltig lange Strähne von Ahnungen gehabt, aber du hast sie auch bis zum letzten Tropfen ausgepreßt. Wenn du wieder anfängst, wirst du deinen ganzen Gewinn zusetzen.«

 

»Aber ich sage dir ja, daß es keine Ahnungen sind, Kurz. Es ist Berechnung. Ein System. Man kann überhaupt nicht verlieren.«

 

»Zur Hölle mit allen Systemen. So etwas wie ein System kann es gar nicht geben. Ich habe mal siebzehn solche Strähnen in „Schwarz und Rot“ gehabt. War es System? Quatsch! Es war blödes, blindes Schwein; aber ich hatte kalte Füße bekommen und wagte nicht, zu Ende zu spielen. Wenn ich durchgehalten und mich nicht nach der dritten Runde zurückgezogen hätte, würde ich mit dem ursprünglichen Einsatz von einem viertel Dollar dreißigtausend Dollar gewonnen haben.«

 

»Das ist ja auch schnuppe, Kurz. Hier handelt es sich um ein richtiges System.«

 

»Na, das mußt du mir erst beweisen.«

 

»Werd‘ ich schon. Komm jetzt mit, ich zeig‘ es dir heute wieder.«

 

Als sie den Schankraum des „Elch“ betraten, richteten sich alle Augen auf Kid, und die Spieler am Tisch machten ihm Platz, als er sich wie am vorhergehenden Tage neben den Bankhalter setzte. Sein Spiel war indessen heute ganz anders. Im Laufe von anderthalb Stunden setzte er im ganzen nur viermal, aber jedesmal fünfundzwanzig Dollar, und gewann stets. Er steckte dreitausendfünfhundert Dollar ein. Und Kurz trug wieder den Goldstaub nach Hause.

 

»Jetzt ist es aber Zeit, Schluß mit dem Spaß zu machen«, riet Kurz, als er auf dem Bettrand saß und sich die Mokassins auszog.

 

»Du hast siebentausend Dollar gewonnen. Der Mann muß verrückt sein, der sein Schicksal noch weiter herausfordert.«

 

»Lieber Kurz, ein Mann würde ganz und himmelschreiend hirnverbrannt sein, wenn er nicht ein solches System, wie meines ist, ausnützt.«

 

»Hör mal, Kid. Du bist ein verdammt gescheiter Kerl. Du hast die Universität besucht. Du kannst in einer Minute mehr begreifen als ich in vierzigtausend Jahren. Aber trotzdem bist du mehr als verrückt, wenn du behauptest, daß dein Glück ein System sei. Ich bin viel in der Welt herumgekommen, und ich kann dir geradeheraus und vertraulich und mit absoluter Sicherheit erklären, daß es kein System gibt, das eine Bank sprengen kann.«

 

»Aber ich werde es dir beweisen. Es ist einfach eine Schatzkammer.«

 

»Nein, das ist es nicht, Kid. Es ist nur der Traum von einer Schatzkammer. Ich schlafe einfach. Plötzlich wache ich wieder auf und mache Feuer und Frühstück.«

 

»Gut, mein ungläubiger Freund, hier ist der Goldstaub. Greif zu!«

 

Und Kid warf seinem Partner den schweren Beutel mit dem Goldstaub aufs Knie. Er wog fünfunddreißig Pfund, und Kurz mußte zugeben, daß er es spürte, als der Beutel sein Bein traf.

 

»Hm, ich habe freilich einige verdammt lebendige Träume in meinem Leben gehabt. Im Traum ist alles möglich. Im wirklichen Leben sind Systeme nicht möglich. Nun, ich bin ja nie auf der Universität gewesen, aber trotzdem habe ich vollkommen recht, wenn ich diese Spielorgie als einen Traum betrachte.«

 

»Hamiltons Gesetz der Kargheit«, lachte Kid.

 

»Ich habe nie was von dem Herrn gehört, aber sein Mittel wird schon das richtige sein. Ich träume, Kid, und du schleichst in meinem Traum herum und quälst mich mit Systemen. Wenn du mich, gern hast, wenn du mich wirklich im Ernst gern hast, dann brüllst du jetzt: Wach auf, Kurz… und dann werde ich wach werden und das Frühstück machen.«

 

 

 

Als Kid am dritten Spielabend seinen Einsatz auf den Tisch legte, schob der Bankhalter ihm fünfzehn Dollar zurück.

 

»Mehr als zehn dürfen Sie nicht mehr setzen«, sagte er. »Die Höchstgrenze ist herabgesetzt worden.«

 

»Wollt ihr nur Kleingeld haben?« spottete Kurz.

 

»Wir zwingen niemand, an diesem Tisch zu spielen, wenn er keine Lust hat«, antwortete der Bankhalter. »Und ich sage Ihnen offen und ehrlich, daß es uns lieber wäre, Ihr Partner würde nicht an unserm Tisch spielen.«

 

»Furcht vor seinem System, was?« neckte Kurz den Bankhalter, als er Kid dreihundertfünfzig Dollar auszahlte.

 

»Ich will nicht sagen, daß ich an Systeme glaube, das tue ich nicht. Es hat noch kein System gegeben, das die Bank eines Rouletts oder eines Spiels von der Art gesprengt hätte. Aber ich habe auch manchmal seltsame Glückssträhnen gesehen. Und ich will diese Bank nicht sprengen lassen, solange ich es verhindern kann.«

 

»Kalte Füße?«

 

»Bankhalten ist ein Geschäft genau wie jedes andere, mein Freund. Wir sind keine Philanthropen.«

 

Abend für Abend gewann Kid. Seine Spieltaktik wechselte beständig.

 

Die Sachverständigen drängten sich um den Tisch, und einer nach dem andern notierte sich seine Einsätze und Nummern und versuchte vergebens, hinter sein System zu kommen. Sie mußten gestehen, daß sie nicht imstande waren, den Schlüssel zu dem Geheimnis zu finden. Sie schworen, daß es nur Glück wäre… wenn auch freilich das ungeheuerlichste Glück, das sie je gesehen hätten.

 

Es war der Wechsel in Kids Methoden, der sie verwirrte. Zuweilen schlug er in seinem Notizbuch nach oder vertiefte sich in lange Berechnungen, und dann konnte eine ganze Stunde vergehen, ohne daß er einen einzigen Einsatz wagte. Dann wieder konnte er drei Spiele mit Höchsteinsätzen nacheinander gewinnen und im Laufe von fünf oder zehn Minuten tausend Dollar oder mehr einstecken. Und hin und wieder geschah es auch, daß seine Taktik einfach darin bestand, einzelne Spielmarken in verblüffender Verschwendung über den Tisch auszustreuen. Das konnte dann zehn Minuten bis eine halbe Stunde anhalten – und dann warf er plötzlich, wenn die Kugel nur noch wenige Runden übrig hatte, den Höchsteinsatz auf Reihe, Farbe und Zahl und gewann alle drei. Einmal geschah es sogar, daß er vierzig Spiele nacheinander zum Höchsteinsatz verlor, so daß er eine allgemeine Verwirrung in den Köpfen all derer anrichtete, die sich bemühten, sein System zu durchschauen.

 

Aber so scheinbar regellos er auch spielte, trug Kurz doch jeden Abend dreitausendfünfhundert Dollar nach Hause.

 

»Es ist kein System«, erklärte Kurz bei einer ihrer Diskussionen während des Ausziehens. »Ich passe auf wie ein Schießhund; aber es ist mir nicht möglich, die Sache herauszufinden. Du spielst nie dasselbe Spiel zweimal. Du steckst nur den Gewinn ein, wenn du Lust dazu hast. Und wenn du nicht willst, tust du es absichtlich nicht.«

 

»Vielleicht bist du jetzt der Lösung näher, als du denkst, Kurz. Manchmal muß ich eben auf Nummern setzen, die verlieren. Es gehört mit zum System.«

 

»System – geh zur Hölle damit! Ich habe mich mit jedem erfahrenen Spieler in der ganzen Stadt unterhalten. Und sie sind sich alle wie ein Mann einig, daß es so was wie ein System nicht gibt.«

 

»Und dabei tue ich doch nichts anderes, als es ihnen zeigen.«

 

»Schau mal her, Kid.« Kurz beugte sich über die Kerze, um sie auszublasen, zögerte aber einen Augenblick. »Ich bin wirklich ärgerlich. Vielleicht denkst du, das hier sei eine Kerze… aber das ist es nicht. Und ich bin auch nicht ich. Ich wandere irgendwo herum, liege, in meine Decken gehüllt, auf dem Rücken und träume mit offenem Munde alles, was hier geschieht. Du bist es gar nicht, der zu mir spricht, sowenig wie die Kerze hier eine richtige Kerze ist.«

 

»Das ist aber doch komisch, daß ich genau dasselbe träume wie du«, behauptete Kid.

 

»Gar nichts ist komisch. Du bist ja ein Teil von meinem Traum, das ist die ganze Geschichte. Ich habe viele Männer im Schlaf reden hören. Und ich möchte dir etwas sagen, Kid: Ich beginne blöd und verrückt zu werden. Wenn dieser Traum noch lange andauert, werde ich mir zum Schluß die Adern aufbeißen und laut heulen.«

 

 

 

Am sechsten Spielabend wurde der Höchsteinsatz im „Elch“ auf fünf Dollar herabgesetzt.

 

»Meinetwegen!« versicherte Kid dem Bankhalter. »Ich will heute abend wie immer dreitausendfünfhundert Dollar gewinnen, und Sie zwingen mich nur, etwas länger zu spielen. Ich muß nur auf doppelt so viele Gewinnummern halten wie sonst – das ist alles.«

 

»Warum können Sie nicht ebensogut einen andern Tisch unsicher machen?« fragte der Bankhalter ärgerlich.

 

»Weil mir dieser besonders sympathisch ist!« Kid warf einen Blick auf den prasselnden Ofen, der nur einige Schritte von ihm entfernt stand. »Außerdem zieht es hier nicht. Es ist so schön warm und behaglich hier.«

 

Als Kurz am neunten Abend den Goldstaub nach Hause getragen hatte, bekam er einen Anfall.

 

»Ich bin fertig, Kid, durch und durch fertig«, begann er. »Ich weiß, wann ich genug bekommen habe. Ich träume tatsächlich nicht! Ich laufe vollständig wach und mit weit offenen Augen herum. Es gibt kein System, und doch hast du eins. Die ganze Rechenkunst kann sich zu Bett legen. Der Kalender kann sich begraben lassen, mit oder ohne Predigt. Die ganze Welt ist verrückt geworden. Es gibt nichts mehr, das Regel und Einheitlichkeit heißt. Das große Einmaleins kann dahin gehen, wo der Pfeffer wächst. Zwei ist acht, und acht ist elf, und zweimal zwei ist achthundertsechsundvierzig, und… noch eineinhalb dazu. – Eins ist das andere, und nichts ist alles, und zweimal alles ist Hautcreme, Milchfieber und ausgestopfte Kattunpferde. Du hast ein System gefunden! Mit deinen Zahlen schlägst du alle andern Zahlen. Was nicht ist, ist doch, und wenn es nicht ist, muß es sein. Die Sonne geht im Westen auf, der Mond ist eine Goldader, die Sterne sind aus Rindfleisch gemacht. Skorbut ist ein Segen Gottes, wer stirbt, spukt; die Berge schwimmen, Wasser ist Gas, und ich bin nicht ich, und du bist irgend jemand anders als du, und vielleicht sind wir überhaupt Zwillinge, wenn wir nicht Bratkartoffeln in spinatgrüner Soße sind! – Weck mich auf, lieber Freund, weck mich, wer will! Wenn ich nur wach werde!«

 

 

 

Am nächsten Morgen kam Besuch in die Hütte. Kid kannte den Herrn – es war Harvey Moran, der Inhaber aller Spieltische im „Tivoli“. Es lag etwas wie eine Bitte in seiner tiefen, barschen Stimme, als er auf das Geschäftliche zu sprechen kam.

 

»Die Sache ist die, Kid«, begann er. »Sie haben uns alle aus dem Häuschen gebracht. Ich vertrete neun andere Spieltischbesitzer, also alle Konzessionsinhaber hier in der Stadt. Wir begreifen es einfach nicht. Wir wissen alle, daß es nie ein System gegeben hat, das etwas gegen das Roulett ausrichten konnte. Alle mathematischen Sachverständigen an den Universitäten haben dasselbe gesagt. Sie sagten, daß das Roulett an sich ein System sei, das einzige System, das es von dieser Art gibt, und deshalb könne es von keinem andern System geschlagen werden, denn das würde bedeuten, daß die Algebra zum Teufel gegangen wäre.«

 

Kurz nickte energisch mit dem Kopf.

 

»Wenn ein System ein anderes System schlagen könnte, dann gäbe es gar nicht so was wie ein System«, fuhr der Roulettbesitzer fort. »Dann wäre alles möglich… eine Sache könnte gleichzeitig an zwei Stellen sein, oder zwei Sachen könnten an einer Stelle sein, die eigentlich nur für eine Platz hat.«

 

»Nun gut…«, antwortete Kid überlegen. »Sie haben ja mein Spiel gesehen, und wenn Sie denken, daß es nur eine Glückssträhne ist, dann verstehe ich nicht, warum Sie sich den Kopf darüber zerbrechen.«

 

»Das ist ja eben das Verfluchte. Wir können nicht anders, als über die Sache nachdenken. Es ist offenbar ein System, das Sie gefunden haben, und doch wissen wir, daß es kein System gibt. Jetzt habe ich Sie fünf Abende lange beobachtet, und alles, was ich herausgekriegt habe, ist, daß Sie einige Nummern vorziehen und daß Sie immer gewinnen. Jetzt haben wir zehn Inhaber uns zusammengetan und wollen Ihnen in aller Freundschaft einen Vorschlag machen. Wir wollen ein Roulett in dem Hinterraum des „Elch“ aufstellen, und dann halten wir die Bank gegen Sie, und Sie sprengen unsere Bank. Es wird ganz privatim und vertraulich sein. Nur Sie, Kurz und wir. Was sagen Sie dazu?«

 

»Ich finde das reichlich umständlich«, antwortete Kid. »Sie können kommen und sehen, wie ich es mache. Ich werde heute abend im Schankraum des „Elch“ spielen. Sie können ja dort ebensogut beobachten wie anderswo.«

 

Als Kid am Abend seinen Platz am Tisch einnahm, hörte der Bankhalter auf zu spielen. »Das Spiel ist geschlossen«, sagte er. »Auftrag des Chefs.«

 

Die versammelten Spieltischbesitzer ließen sich aber nicht so abweisen. Im Laufe weniger Minuten hatten sie eine Bank auf die Beine gestellt. Jeder schoß tausend Dollar ein, und dann übernahmen sie den Tisch.

 

»Jetzt versuchen Sie mal die Bank zu sprengen«, sagte Harvey Moran herausfordernd, als der Bankhalter die Kugel auf ihre erste Rundfahrt sandte.

 

»Räumen Sie mir einen Höchsteinsatz von fünfundzwanzig Dollar ein!« schlug Kid vor.

 

»Selbstverständlich – nur los!«

 

Kid setzte sofort fünfundzwanzig Dollar auf Doppelzero und gewann.

 

Moran wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Immer herein in die gute Stube«, sagte er. »Wir haben zehntausend in die Bank gesteckt.«

 

Nach anderthalb Stunden gehörten die zehntausend Dollar Kid.

 

»Die Bank ist gesprengt«, teilte der Bankhalter mit.

 

»Haben Sie jetzt genug davon?« fragte Kid.

 

Die Spieltischbesitzer sahen sich an. Sie hatten tatsächlich Respekt bekommen; sie, die wohlgenährten Schützlinge der Gesetze des Zufalls, waren endlich einmal klein geworden. Sie hatten einen Gegner gefunden, der entweder mit diesen Gesetzen in besserer Verbindung stand als sie oder höhere und bisher unbekannte Gesetze angerufen hatte.

 

»Wir geben es auf!« sagte Moran. »Bist du einverstanden, Burke?«

 

Der dicke Burke, dem die Spieltische in der Kneipe von M. u. G. gehörten, nickte.

 

»Das Unmögliche ist Tatsache geworden«, sagte er. »Dieser Kid hat ein richtiges System erfunden. Wenn wir ihn weitermachen lassen, plündert er uns alle aus. Wenn wir überhaupt unsere Tische in Betrieb halten wollen, sehe ich keinen anderen Ausweg, als daß wir die Höchstgrenze der Einsätze auf einen Dollar oder auf zehn Cent oder gar auf einen Cent herabsetzen. Bei den Sätzen kann er an einem Abend nicht viel gewinnen.«

 

Alle sahen Kid erwartungsvoll an. Er zuckte die Achseln.

 

»In diesem Falle würde ich eine ganze Bande von Leuten anstellen, um an Ihren Tischen zu spielen. Ich kann ihnen zehn Dollar für vier Stunden zahlen und noch gut dabei verdienen.«

 

»Dann müssen wir einfach unsere Läden zumachen«, antwortete der dicke Burke. »Wenn Sie nicht…«, er zögerte und ließ seine Augen über die Gesichter seiner Kollegen schweifen, um festzustellen, ob sie mit ihm einig wären, »wenn Sie nicht bereit sein sollten, die Sache von einem rein geschäftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Zu welchem Preis wollen Sie Ihr System verkaufen?«

 

»Für dreißigtausend«, antwortete Kid. »Das macht nur dreitausend Dollar für jeden.«

 

Sie besprachen seinen Vorschlag miteinander und nickten dann zustimmend.

 

»Und Sie werden uns Ihr System verraten?«

 

»Selbstverständlich.«

 

»Und Sie werden uns versprechen, in Dawson nicht mehr Roulett zu spielen?«

 

»Fällt mir gar nicht ein«, erklärte Kid bestimmt. »Aber ich will versprechen, nicht mehr nach diesem System zu spielen.«

 

»Gott bewahre«, rief Moran entsetzt. »Sie haben also noch andere Systeme erfunden?«

 

»Einen Augenblick«, rief Kurz. »Ich muß mit meinem Partner sprechen. Komm mal, Kid… gehen wir ein bißchen abseits.«

 

Kid folgte ihm in eine ruhige Ecke der Schankstube, während Hunderte von neugierigen Blicken ihn und Kurz betrachteten.

 

»Hör mal, Kid…«, flüsterte Kurz mit seiner heiseren Stimme, »vielleicht ist es doch kein Traum. Und in dem Falle würdest du wahnsinnig sein, es so billig zu verkaufen. Du hast die Kerle jetzt da, wo du sie haben wolltest. Es stecken Millionen in dieser Sache. Aber quetsch‘ sie bis aufs Blut, bis aufs Blut, Kid!«

 

»Aber wenn es doch nur ein Traum wäre?« fragte Kid freundlich.

 

»Dann mußt du um des Traumes und des heiligen Michaels willen eine tüchtige Menge Pinke aus den verfluchten Spieltischbesitzern herausquetschen. Was, zum Deibel, hilft dir alles Träumen, wenn du dich nicht zu dem richtigen, wirklichen, todsicheren, endgültigen Schluß durchträumen kannst?«

 

»Gott sei Dank ist es kein Traum, Kurz.«

 

»Dann verzeih ich’s dir nie, wenn du die Sache für dreißigtausend abgibst.«

 

»Wenn ich sie für dreißigtausend verkaufen kann, wirst du mir um den Hals fallen, wach werden und feststellen, daß du gar nicht geträumt hast. Es ist nämlich kein Traum, Kurz. In einigen Minuten wirst du entdecken, daß du die ganze Zeit wach gewesen bist. Ich will dir was sägen: Wenn ich es jetzt für dreißigtausend verkaufe, dann tue ich es, weil ich muß.«

 

Als Kid an den Tisch zurückgekehrt war, teilte er den Spielbesitzern mit, daß er an seinem Angebot festhalte. Sie wollten ihm Anweisungen über je dreitausend Dollar geben.

 

»Verlange gleich Goldstaub«, riet ihm Kurz.

 

»Ich möchte bemerken, daß ich den Betrag nur in Goldstaub nehme«, sagte Kid.

 

Der Besitzer des „Elch“, bekam die Anweisungen, und Kid nahm den Goldstaub in Empfang.

 

»Jetzt will ich gar nicht mehr aufwachen«, kicherte er, als er das Gewicht der einzelnen Beutel nachprüfte. »Alles in allem macht es ungefähr siebzigtausend Dollar. Es ist ein teurer Spaß geworden, jetzt die Augen aufzumachen, aus den Decken zu kriechen und das Frühstück zuzubereiten.«

 

»Worin besteht nun Ihr System?« fragte der dicke Burke. »Wir haben jetzt bezahlt, und wir wollen es auch haben.«

 

Kid führte sie an den Tisch zurück.

 

»Jetzt, meine Herren, müssen Sie ein bißchen Geduld haben. Es ist kein gewöhnliches System. Es kann vielleicht kaum ein gesetzmäßiges System genannt werden, aber sein großer Vorteil liegt darin, daß es Erfolg bringt. Ich hege freilich gewisse Zweifel, aber darauf kommt es ja nicht an. Sie werden selbst sehen. Herr Bankhalter, wollen Sie sich bereit halten! Warten Sie, bitte, ich werde „26“ nehmen. Denken Sie, daß ich darauf setze! Halten Sie sich bereit… jetzt!«

 

Die Kugel wirbelte über das Rad.

 

»Sie haben wohl bemerkt, daß „9“ gerade gegenüberliegt.«

 

Die Kugel blieb auf „26“ liegen.

 

Der dicke Burke fluchte kräftig in den Bart hinein.

 

Alle warteten gespannt.

 

»Wenn Doppelzero gewinnen soll, muß „11“ gegenüberliegen. Versuchen Sie es bitte selbst…«

 

»Aber das System?« fragte Moran ungeduldig. »Wir wissen schon, daß Sie die Nummern finden können, die gewinnen, und wir wissen selbst, was die Nummern bedeuten… aber wie machen Sie das?«

 

»Indem ich mir die Reihenfolge gemerkt habe. Durch einen Zufall bemerkte ich zweimal, wie die Kugel lief, wenn „9“ gegenüberstand… beide Male gewann „26“. Dann sah ich, daß es sich wiederholte. Weiter beobachtete ich andere Reihenfolgen und stellte sie allmählich fest. Wenn Doppelzero gegenüberliegt, gibt es „32“, und „11“ gibt Doppelzero. Es gelingt nicht immer, aber meistens. Sie werden bemerkt haben, daß ich meistens sage. Wie ich vorhin schon sagte, hege ich einen gewissen Verdacht, aber ich will ja nichts behaupten…«

 

Plötzlich schien dem dicken Burke ein Licht aufzugehen, und er beugte sich über den Tisch, brachte das Rad zum Stillstand und untersuchte es eingehend. Die Köpfe der neun anderen Spieltischbesitzer beugten sich ebenfalls vor, und alle beteiligten sich eifrig an der Untersuchung. Dann richtete sich der dicke Burke wieder auf und warf einen schnellen Blick auf den Ofen, der ganz in der Nähe stand.

 

»Tod und Teufel!« sagte er. »Es war überhaupt kein System. Der Tisch steht nur zu nahe am Feuer, und das verfluchte Rad ist infolge der Wärme verbogen. Und wir sind gründlich hereingefallen! Kein Wunder, daß er immer diesen Tisch nahm! An den anderen Tischen wäre es ihm schwergeworden, die Bank zu sprengen!«

 

Harvey Moran atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

 

»Na, Gott sei Dank!« sagte er. »Und eigentlich ist es nicht teuer bezahlt, wenn festgestellt ist, daß es kein System war.« Sein Gesicht begann zu zucken, und dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. Er schlug Kid freundlich auf die Schulter und sagte: »Kid, Donnerwetter, Sie haben uns einen Schrecken eingejagt! Und dabei haben wir uns schon beglückwünscht, daß Sie unsere Tische in Ruhe ließen! Hören Sie, ich habe einige Flaschen richtigen Schum gekriegt, denen werde ich den Hals abschlagen, wenn ihr mit mir ins „Tivoli“ gehen wollt.«

 

Als sie später zu ihrer Hütte zurückgekehrt waren, zählte Kurz die gesamten Beutel mit Goldstaub nach und prüfte ihr Gewicht. Dann stellte er sie in Reih und Glied auf den Tisch, setzte sich auf den Bettrand und begann sich die Mokassins auszuziehen. »Siebzigtausend«, rechnete er nach. »Und sie wiegen dreihundertfünfzig Pfund. Und alles nur dank einem verbogenen Rad und einem scharfen Blick! Kid, du frißt sie roh, du frißt sie bei lebendigem Leibe, du schwimmst unter Wasser! Du hast mir’s nach allen Regeln der Kunst gegeben; aber doch weiß ich, daß es ein Traum ist. Es ist nur ein Traum, daß das Gute in Erfüllung geht. Ich hab‘ verdammt wenig Lust, wieder aufzuwachen. Ich hoffe sogar, daß ich nie aufgeweckt werde.«

 

»Nur Mut!« antwortete Kid. »Du wachst nicht auf. Es gibt eine ganze Menge Philosophen, die der Ansicht sind, daß wir Menschen alle Schlafwandler sind. Du befindest dich also in der besten Gesellschaft.«

 

Kurz stand auf, trat an den Tisch, wählte sich den schwersten Beutel aus und wiegte ihn in seinen Armen, als wäre er ein Wickelkind.

 

»Mag sein, daß ich ein Schlafwandler bin«, sagte er, »aber jedenfalls befinde ich mich – wie du sagst – in verflucht guter Gesellschaft.«

 

Kapitel 2

Kapitel 2

 

Fast ununterbrochen stürmte es, während Kid mühselig gegen den Wind nach dem Strande ankämpfte. In der grauen Morgendämmerung sah er einige Männer im Begriff, ein halbes Dutzend Boote mit den kostbaren Ausrüstungen, die über den Chilcoot getragen worden waren, zu beladen. Es waren nur schwerfällige, selbstgebaute Boote, von Männern zusammengezimmert, die keine Schiffsbauer waren und rohe Planken verwendet hatten, welche sie selbst mit eigenen Händen aus frischen, geschälten Baumstämmen gesägt hatten. Ein fertig beladenes Boot war schon zur Abfahrt bereit, und Kid blieb stehen, um sich die Sache anzusehen.

 

Der Wind, der auf dem See günstig war, wehte hier gerade gegen das Ufer und peitschte das Wasser der seichten Pfützen zu schmutzigen Spritzern. Die Männer, die zu dem abfahrenden Boot gehörten, schoben es, in hohen Gummistiefeln watend, in das tiefere Wasser. Zweimal taten sie das. Dann kletterten sie schwerfällig hinein. Da sie aber nicht mit den Riemen umzugehen verstanden, wurde das Boot wieder an den Strand getrieben und stieß auf. Kid bemerkte, daß die Schaumspritzer an den Seiten des Bootes fast sofort zu Eis wurden. Der dritte Versuch führte immerhin zu einem Teilerfolg. Die beiden Männer, die zuletzt ins Boot kletterten, waren bis zum Leib durchnäßt, aber das Boot war jetzt jedenfalls flott. Sie arbeiteten ungeschickt mit den schweren Riemen, und langsam gelang es ihnen, von der Küste abzukommen.

 

Dann setzten sie ein Segel, das aus Bettdecken zusammengenäht war; aber ein einziger Windstoß zerriß es, und sie wurden zum drittenmal an die Küste getrieben.

 

Kid lachte vor sich hin und ging weiter. Alles das würde ihm vielleicht selbst bald passieren, denn auch er sollte – in seiner neuen Rolle als Angestellter eines feinen Herrn – in den nächsten Stunden in einem ähnlichen Boot von derselben Küste abfahren.

 

Rings wurde mit der Kraft der Verzweiflung gearbeitet, denn der Winter mit seinem Eis stand vor der Tür. Es war deshalb das reine Hasardspiel, ob es ihnen gelingen würde, die große Kette von Seen zu durchqueren, bevor alles zufror. Als Kid das Zelt der Herren Sprague und Stine oben erreichte, war hier dennoch kein Anzeichen von Eifer und Arbeit zu bemerken.

 

Am Feuer, im Schutz einer Persenning, saß ein kleiner vierschrötiger Mann und rauchte behaglich eine Zigarette aus Packpapier.

 

»Hallo«, sagte er, »Sie sind wohl der neue Mann von Herrn Sprague?«

 

Kid nickte zur Bestätigung, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, daß der andere absichtlich die Worte »Herr« und »Mann« besonders betont hatte. Er war auch überzeugt, eine Andeutung von Blinzeln in den Augen des andern bemerkt zu haben.

 

»Na, und ich bin der Mann von Doktor Stine«, fuhr der Fremde fort. »Ich bin nur fünf Fuß und zwei Zoll lang, und ich heiße Kurz, Abkürzung von Jack Kurz, und manchmal heiße ich auch „Hansdampf in allen Gassen“.«

 

Kid reichte ihm die Hand.

 

»Bist du mit Bärenfleisch aufgezogen worden?« fragte er.

 

»Todsicher«, antwortete der andere, »wenn mein erstes Frühstück, soweit ich mich entsinne, auch aus Büffelmilch bestand. Setz dich her und steck dir was ins Gesicht. Die Chefs pennen noch.«

 

Obgleich Kid schon einmal gefrühstückt hatte, setzte er sich doch hinter die Persenning und verzehrte sein zweites Frühstück mit dreifachem Appetit. Die schwere Arbeit, die seinen ganzen Körper gereinigt hatte, hatte ihm auch den Magen und den Hunger eines Wolfs geschenkt. Er konnte essen, was und soviel es sein sollte, und fand dabei gar keine Gelegenheit zu merken, daß er eine sogenannte Verdauung besaß. Er stellte fest, daß Kurz eine ebenso beredte wie pessimistische Persönlichkeit war, und er erhielt von ihm nicht nur etliche ziemlich überraschende Auskünfte über ihre beiden Chefs, sondern auch einige düstere Prophezeiungen in bezug auf ihr Unternehmen. Thomas Stanley Sprague war angehender Mineningenieur und Sohn eines Millionärs. Doktor Adolphe Stine war ebenfalls der Sohn eines wohlhabenden Vaters. Mit Hilfe der beiden Väter war es ihnen gelungen, eine Gesellschaft zu gründen, die ihr Klondike-Abenteuer finanzierte.

 

»Sie sind einfach aus lauter Moneten gemacht«, erklärte Kurz. »Als sie in Dyea landeten, betrug der Frachtpreis schon siebzig Cent, doch es gab keine Indianer. Es gab aber eine Gesellschaft aus Oregon, richtiggehende Minenarbeiter – die hatten das Schwein gehabt, ein Gespann von Indianern für siebzig Cent zusammenzubringen. Die Indianer hatten schon die Traggurte angelegt – die Ausrüstung wog alles in allem dreitausend Pfund -, als Sprague und Stine ankamen. Die boten den Indianern achtzig und neunzig Cent, und als sie auf einen Dollar gekommen waren, sprangen die Indianer von ihrem Vertrag ab und ließen die dreitausend Pfund der Minenarbeiter liegen. Sprague und Stine sind also durchgekommen, mußten aber den Spaß mit dreitausend Dollar bezahlen. Und die Leute aus Oregon liegen noch heute am Strand. Sie werden erst nächstes Jahr weiterkommen.

 

O ja, es sind ein paar richtige Biester, dein Chef und meiner auch. Wenn es heißt, mit Geld um sich zu schmeißen oder andern Leuten auf die Zehen zu treten, dann sind sie tüchtig. Was haben sie zum Beispiel gemacht, als sie an den Linderman kamen? Die Zimmerleute waren eben dabei, ein Boot zu bauen, das sie vertraglich verpflichtet waren, einer Gesellschaft aus San Franzisko für sechshundert Dollar zu liefern. Sprague und Stine boten ihnen einen runden Tausender, und auch die sprangen dann aus ihrem Vertrag. Das Boot sieht ganz gut aus, aber die andere Gesellschaft ging dadurch kaputt. Jetzt hat sie ihre Ausrüstung hier liegen, aber kein Boot, um sie weiterzuschaffen. Und sie muß die Weiterfahrt nun auch aufs nächste Jahr verschieben.

 

Na, nimm noch ’n Pott Kaffee und laß mich dir sagen, daß ich nichts mit den Biestern zu tun haben möchte, wenn ich nicht um jeden Preis nach Klondike wollte. Sie haben das Herz nicht auf dem rechten Fleck. Sie würden den Trauerflor vom Sarg wegnehmen, wenn es ihrem Geschäft nützen täte. Hast du ’n Vertrag unterschrieben?«

 

»Sie haben versprochen…«, begann Kid.

 

»Mündlich, jawohl«, unterbrach Kurz ihn. »Da steht also nur dein Wort gegen das ihrige, das ist alles. Na, in Gottes Namen! Wie heißt du übrigens, Kamerad?«

 

»Kannst mich Kid nennen, Alaska-Kid.«

 

»Schön, also Kid – du wirst schon deinen Ärger kriegen mit deinem mündlichen Vertrag. Jetzt sollst du mal ein Beispiel hören, was du von ihnen zu erwarten hast. Mit dem Geld können sie um sich schmeißen, aber arbeiten können sie nicht. Auch nicht morgens aus der Falle kriechen. Wir hätten schon vor einer Stunde laden und abfahren sollen. Du und ich, wir müssen die ganze verfluchte Schufterei allein besorgen. Jetzt wirst du sie bald nach Kaffee brüllen hören – vom Bett aus natürlich, weißt du, und dabei sind sie doch erwachsene Männer. Was verstehst du übrigens vom Segeln auf dem Wasser? Ich bin ein alter Viehzüchter und Goldsucher, aber auf dem Wasser bin ich der reine Grünschnabel, und die beiden da haben auch keinen Schimmer. Was weißt du denn?«

 

»Einen Dreck weiß ich«, antwortete Kid und schmiegte sich enger an die Persenning, als ein starker Windstoß den Schnee aufwirbelte. »Seit meiner Kindheit bin ich in keinem Boot gewesen. Aber ich denke, wir werden es schon lernen.«

 

Ein Zipfel der Zeltbahn riß sich los, und Kid bekam eine tüchtige Portion Schnee in den Kragen.

 

»Ja, lernen können wir es schon«, knurrte er mürrisch.

 

»Natürlich können wir es lernen. Lernen kann jedes Wickelkind. Aber ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß wir heute nicht von hier wegkommen.«

 

Es war schon acht Uhr geworden, als eine Stimme aus dem Zelt nach Kaffee rief, und es wurde neun, ehe die beiden Unternehmer auftauchten.

 

»Hören Sie«, sagte Sprague, ein gutgenährter, rotwangiger junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, »es ist Zeit, daß wir abfahren, Kurz. Sie und…«, bei diesen Worten schaute er Kid fragend an, »… ich habe Ihren Namen gestern abend nicht recht verstanden.«

 

»Kid.«

 

»Gut, Kurz, Sie und Herr Kid machen sich jetzt wohl daran, das Boot zu beladen.«

 

»Nur Kid – lassen Sie das „Herr“ ruhig fort«, schlug Kid vor.

 

Sprague nickte kurz und verschwand zwischen den Zelten. Doktor Stine, ein hagerer, bleicher junger Mann, folgte ihm.

 

Kurz sah seinen Kameraden vielsagend an.

 

»Mehr als anderthalb Tonnen, und die rühren keine Hand dabei.«

 

»Vermutlich werden wir bezahlt, um die Arbeit zu tun«, antwortete Kid gut gelaunt. »Und wir können ebensogut gleich damit anfangen.«

 

Es ist durchaus kein Spaß, dreitausend Pfund hundert Schritt weit auf den Schultern schleppen zu müssen. Da es außerdem stürmte und die beiden in schweren Gummistiefeln durch den Schnee waten mußten, wurden sie ganz erschöpft. Dann mußten sie auch noch das Zelt abbrechen und das Lagergerät verpacken. Hierauf blieb noch das Verstauen der ganzen Ausrüstung im Boot übrig. Und da es dabei immer tiefer sackte, mußten sie es immer weiter in das Wasser hinausschieben und auch eine immer weitere Strecke waten. Gegen zwei Uhr war die Arbeit vollbracht, und Kid war völlig zermürbt vom Hunger, obgleich er zweimal gefrühstückt hatte. Die Knie zitterten ihm. Kurz, der sich in einem ähnlichen Zustand befand, wühlte in den Töpfen und Pfannen, bis er eine große Büchse fand, in der kalte gekochte Bohnen mit großen Happen Räucherspeck aufbewahrt waren. Sie hatten nur einen einzigen Löffel mit einem langen Stiel, und den tauchten sie jetzt abwechselnd in die Büchse.

 

Kid war vollkommen überzeugt, noch nie in seinem Leben etwas gegessen zu haben, das ihm so herrlich geschmeckt hatte.

 

»Großer Gott«, murmelte er zwischen zwei Bissen, »ich habe noch nie so einen Appetit gehabt wie auf dieser Reise.«

 

Während sie sich noch dieser angenehmen Tätigkeit hingaben, erschienen Sprague und Stine.

 

»Worauf warten wir denn?« murrte Sprague. »Sollen wir denn nie von hier fort?«

 

Kurz war gerade an der Reihe; er tauchte den Löffel in die Büchse und gab ihn dann Kid zurück. Und keiner von ihnen sagte ein Wort, ehe sie die Büchse ausgekratzt hatten.

 

»Natürlich haben wir gar nichts getan«, sagte Kurz, während er seinen Mund mit dem Handrücken abwischte. »Wir haben nicht das geringste getan. Und Sie haben natürlich auch nichts zu essen gekriegt. Es war wirklich sehr nachlässig von mir.«

 

»Ja doch«, sagte Stine schnell. »Wir aßen in einem andern Zelt – bei einigen Freunden.«

 

»Hab‘ ich mir gedacht«, grunzte Kurz.

 

»Aber jetzt sind Sie ja fertig, da können wir vielleicht abfahren«, schlug Sprague vor.

 

»Da ist das Boot«, sagte Kurz. »Beladen ist es schon. Aber wie haben Sie sich eigentlich gedacht, daß wir damit wegkommen sollen?«

 

»Wir klettern hinein und stoßen ab. Kommen Sie.« Sie wateten alle ins Wasser, und die Chefs kletterten an Bord, während Kid und Kurz das Boot vom Ufer abschoben. Als die Wellen den oberen Rand ihrer hohen Stiefel erreichten, kletterten auch sie ins Boot. Aber die beiden andern hatten natürlich ihre Riemen nicht bereit, und deshalb wurde das Boot zurückgetrieben und saß gleich wieder fest. Mit einer ungeheuren Kraftverschwendung wiederholten sie das Manöver ein dutzendmal.

 

Kurz setzte sich verzweifelt auf den Dollbord, nahm einen soliden Priem und rief das Weltall zum Zeugen ihres Elends an, während Kid das Wasser aus dem Boot schöpfte und die beiden Chefs unfreundliche Bemerkungen untereinander austauschten.

 

»Wenn ihr meinen Befehlen gehorchen wollt, werde ich das Boot schon klarmachen«, sagte Sprague schließlich.

 

Der Versuch war gut gemeint, ehe es ihm aber gelang, ins Boot zu klettern, war er bis zum Gürtel durchnäßt.

 

»Wir werden ins Lager zurückkehren und Feuer machen«, sagte er, als das Boot wieder festsaß. »Mich friert.«

 

»Sei doch nicht wasserscheu«, schalt Stine. »Andere Leute sind heute auch schon abgefahren und waren nasser als du. Jetzt will ich es euch zeigen.«

 

Diesmal war er es, der naß wurde und mit klappernden Zähnen erklärte, daß er ein Feuer nötig hätte.

 

»Ein paar Spritzer wie da haben nichts zu sagen«, rief Sprague höhnisch. Auch ihm klapperten freilich die Zähne im Munde. »Wir wollen weiter.«

 

»Kurz, sehen Sie nach, wo mein Kleidersack steckt, und machen Sie dann ein Feuer«, befahl der andere.

 

»Sie wagen es nicht!« rief Sprague.

 

Kurz sah von einem zum andern und spuckte aus, rührte sich aber nicht.

 

»Er ist mein Angestellter, und ich denke, daß er meinen Befehlen gehorchen wird«, antwortete Stine. »Kurz, schaffen Sie meinen Sack an Land.«

 

Kurz gehorchte, während Sprague zitternd vor Kälte im Boot blieb. Da Kid keinen Befehl erhalten hatte, blieb er ruhig sitzen. Er war zufrieden, daß er sich einen Augenblick ausruhen konnte.

 

»Ein Boot, das auseinanderfällt, kann nicht schwimmen«, murmelte er vor sich hin.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« schnauzte Sprague ihn an.

 

»Ich hielt Selbstgespräche, eine liebe alte Gewohnheit«, antwortete Kid.

 

Sein Unternehmer beehrte ihn mit einem barschen Blick und schmollte weiter. Nach einigen Minuten gab er jedoch nach.

 

»Suchen Sie meinen Sack heraus, Kid«, befahl er, »und helfen Sie beim Feuermachen. Wir fahren erst morgen früh ab.«

 

 

 

Am nächsten Tage stürmte es immer noch. Der Linderman-See war eigentlich nur eine enge, mit Wasser gefüllte Schlucht. Der Wind, der von den Bergen herab in diesen Trichter wehte, war sehr unregelmäßig. Bald kam er in heftigen und stürmischen Stößen, bald besänftigte er sich und wurde zu einer leichten Brise.

 

»Wenn Sie die Sache mir überlassen, glaube ich, daß ich es schaffe«, sagte Kid, als wieder alles zur Abfahrt bereit war.

 

»Was verstehen Sie denn davon?« kläffte Stine ihn an.

 

»Nichts verstehe ich«, antwortete Kid und setzte sich wieder.

 

Es war das erste Mal, daß er für Lohn arbeitete, aber er war schon auf dem besten Wege, die notwendige Unterordnung zu lernen. Gehorsam und liebenswürdig hatte er sich an den vergeblichen Versuchen, vom Ufer abzukommen, beteiligt.

 

»Wie würden Sie es denn machen?« fragte Sprague schließlich, halb seufzend, halb klagend.

 

»Ich würde mich ruhig hinsetzen und warten, bis der Sturm für eine Weile nachläßt, und dann aus allen Kräften losschieben.«

 

So einfach war seine Idee, aber er war doch der erste, der darauf kam. Und gleich das erste Mal, als sie seine Methode versuchten, hatten sie Erfolg. Dann hißten sie eine Decke als Segel und glitten auf den See hinaus. Stine und Sprague gerieten gleich in eine bessere Stimmung. Kurz war trotz seines Pessimismus sowieso immer gut aufgelegt, und Kid interessierte sich zu sehr für die ganze Sache, um schlechter Laune sein zu können. Sprague quälte sich eine Viertelstunde mit der Ruderpinne ab, dann sah er Kid ermunternd an, bis er ihn ablöste.

 

»Meine Arme sind wie zerbrochen, so schwer ist es«, murmelte Sprague, wie um sich zu entschuldigen.

 

»Sie haben wohl nie Bärenfleisch gegessen?« fragte Kid liebenswürdig.

 

»Was, zum Teufel, meinen Sie damit?«

 

»Gar nichts – ich fragte nur.«

 

Aber hinter dem Rücken der beiden Chefs erwischte Kid ein verständnisvolles Grinsen von Kurz, der den tieferen Sinn des Gleichnisses verstanden hatte.

 

Kid steuerte das Boot durch den ganzen Linderman-See und erwies sich dabei als so tüchtig, daß die beiden jungen Männer, die ebensoviel Geld wie Unlust zur Arbeit hatten, ihn einstimmig zum Steuermann ernannten. Kurz war nicht weniger zufrieden damit und überließ die Bootsarbeit gern dem andern, während er selbst freiwillig das Kochen übernahm. Zwischen dem Linderman- und dem Bennet-See kam eine Strecke, wo die Ausrüstung wieder getragen werden mußte. Nachdem sie den größten Teil gelöscht hatten, wurde das Boot den engen, aber reißenden Strom hinabgelotst, und bei dieser Gelegenheit erweiterte Kid sein Wissen von Wasser und Booten um ein Bedeutendes. Als sie aber die Ausrüstung tragen sollten, verschwanden Sprague und Stine spurlos, und die beiden Männer schufteten zwei Tage lang wie nie zuvor, um das ganze Gepäck zur neuen Ladestelle zu schaffen. Und dasselbe wiederholte sich ein Mal über das andere. Kid und Kurz arbeiteten bis zur völligen Erschöpfung, während ihre Herren und Meister sich regelmäßig drückten und auch noch Bedienung von ihnen verlangten.

 

Aber der unerbittliche arktische Winter rückte immer näher, und immer wieder wurden sie von allen möglichen Verzögerungen, die sehr gut zu vermeiden gewesen wären, zurückgehalten. Als sie am »Windigen Arm« waren, nahm Stine eigenmächtig Kid die Ruderpinne aus der Hand, und es dauerte keine Stunde, so war es ihm schon gelungen, das Boot gegen das sturmgepeitschte Felsufer zu fahren, so daß es schwere Schäden erlitt.

 

Die Reparatur kostete sie zwei Tage. Als sie dann wieder am Morgen abfahren sollten und an den Strand hinunterkamen, sahen sie, daß am Bug und Heck des Bootes mit Holzkohle in großen Buchstaben ein böses Wort geschrieben war: Chechaquo.

 

Kid amüsierte sich über den boshaften Bootsnamen, der hier so außerordentlich passend erschien.

 

»Aber hören Sie mal!« sagte Kurz, als Stine ihn beschuldigte, das verbrecherische Wort geschrieben zu haben. »Lesen kann ich freilich und auch zur Not buchstabieren, und ich weiß sogar, daß Chechaquo „Grünschnabel“ bedeutet, aber meine Erziehung ist doch noch nicht so weit gediehen, daß ich so ein verfluchtes schweres Wort schreiben könnte.«

 

Beide Unternehmer sandten Kid durchbohrende Blicke, denn die Beleidigung saß. Und Kid hielt es nicht für nötig, zu erwähnen, daß Kurz ihn letzte Nacht gefragt hatte, wie eben dieses Wort buchstabiert würde.

 

»Das ist wenigstens ebenso schlimm wie deine Frage nach dem Bärenfleisch«, vertraute Kurz ihm später am Tage an.

 

Kid lachte. Während er immer wieder neue Fähigkeiten an sich selbst feststellte, gefielen ihm gleichzeitig die beiden Chefs immer weniger. Es war eigentlich nicht so sehr Ärger – den hatte er anfangs empfunden – wie Widerwillen. Er hatte selbst Bärenfleisch gekostet, und es schmeckte ihm herrlich, die beiden aber zeigten ihm, wie man es nie essen durfte. In seinem Herzen dankte er Gott, daß er nicht so geschaffen war wie sie. Er faßte einen Widerwillen gegen sie, der fast an Haß grenzte. Ihre Faulheit reizte ihn aber weniger als ihre hoffnungslose Unfähigkeit. Irgendwo tief in ihm wollte sich die Art des alten Isaac Bellew und all der andern abgehärteten Bellews durchsetzen.

 

»Du, Kurz«, sagte er eines Tages, als sie wieder wie gewöhnlich die Abfahrt verschoben hatten. »Weißt du, die beiden sind keine Liebhaber von Bärenfleisch. Ich möchte ihnen am liebsten eins mit dem Riemen über den Kopf versetzen und sie in den Fluß schmeißen.«

 

»Geht mir genauso«, stimmte Kurz ihm bei. »Sie sind keine Fleischesser. Richtige Fischfresser sind sie. Und es ist gar kein Zweifel, daß sie stinken.«

 

Endlich erreichten sie die Stromschnellen. Zuerst den »Büchsen-Cañon« und dann, einige Meilen weiter abwärts, das »Weiße Roß«. Der Büchsen-Cañon entsprach völlig seinem Namen. Er war eine Büchse, in der man fast steckenblieb, wenn man erst einmal hineingekommen war – eine richtige Falle. Wollte man wieder heraus, so mußte man durch den Boden hindurch. Zu beiden Seiten standen senkrechte Felswände. Der Fluß schrumpfte zu einem Bruchteil seiner bisherigen Breite ein und stürzte brüllend und mit einer so wahnsinnigen Schnelligkeit durch diesen dunklen Schacht, daß das Wasser in der Mitte zu einem Kamm schwoll, der gut acht Fuß höher war als das Wasser an den Felswänden. Und dieser Kamm war wieder von steifen, aufrechten Wellen gekrönt, die sich über ihm kräuselten, aber unveränderlich an ihrem Platze blieben. Dieser Cañon war sehr gefürchtet, denn er hatte seinen Todeszoll von den durchfahrenden Goldsuchern erhoben.

 

Kid und seine Begleiter legten am oberen Ufer bei, wo sie bereits eine Menge anderer Boote trafen, die dort in Ängsten warteten. Zu Fuß begaben sie sich dann weiter, um die Verhältnisse an Ort und Stelle nachzuprüfen. Sie krochen bis an den Rand des Cañons und blickten in das wirbelnde Wasser hinunter. Sprague zog sich schaudernd zurück.

 

»Mein Gott!« rief er. »Ein Schwimmer hätte nicht die geringste Chance dort unten.«

 

Kurz gab Kid einen leisen Stoß mit dem Ellbogen und flüsterte ihm zu: »Er hat schon kalte Füße. Ich halte Dollars gegen Pfeffernüsse, daß sie nicht mitfahren.«

 

Kid hörte kaum, was er sagte. Von Anfang der Reise an hatte er sich bemüht, die Hartnäckigkeit und unfaßbare Böswilligkeit der Elemente zu erforschen, und der flüchtige Eindruck, den er jetzt gewann, als er dort hinabblickte, erschien ihm als eine Herausforderung.

 

»Wir müssen auf dem Kamm reiten«, sagte er. »Wenn wir nicht auf ihm hängenbleiben, schleudert die Flut uns gegen die Wände.«

 

»Und wir werden nie erfahren, was mit uns geschah«, lautete Kurz‘ Urteil.

 

»Kannst du schwimmen, Kid?«

 

»Wenn es uns dort unten schiefgeht, möchte ich es lieber nicht können.«

 

»Dasselbe sag‘ ich«, erklärte schwermütig ein Fremder, der neben ihnen stand und in den Cañon hinunterstarrte. »Und ich wünschte, ich wäre schon durch.«

 

»Ich würde meine Chance, durchzukommen, nicht verkaufen«, antwortete Kid.

 

Er meinte es aufrichtig, sagte es aber eigentlich nur, um dem Mann Mut zu machen. Er schickte sich an, nach dem Boot zurückzukehren.

 

»Wollen Sie es versuchen?« fragte der Mann.

 

Kid nickte.

 

»Ich möchte, ich hätte auch den Mut«, gestand der andere. »Ich bin schon seit einigen Stunden hier. Je länger ich hinuntergucke, um so mehr Angst bekomme ich. Ich habe nie etwas mit Booten zu tun gehabt, und außerdem habe ich nur meinen Neffen, der ein junger Bursche ist, und meine Frau mit. Wenn Sie heil durchgekommen sind, wollen Sie dann auch mein Boot durch den Cañon lotsen?«

 

Kid sah Kurz an, der mit der Antwort zögerte.

 

»Er hat seine Frau mit«, sagte Kid, um Eindruck zu machen. Er hatte sich auch nicht in seinem Kameraden geirrt.

 

»Selbstverständlich«, sagte Kurz. »Ich zögerte eben, weil ich daran dachte. Ich wußte, daß es einen Grund gab, weshalb wir es tun müssen.«

 

Wieder schickten sie sich an weiterzugehen, aber Sprague und Stine rührten sich nicht vom Fleck.

 

»Glückliche Fahrt!« rief Sprague Kid nach. »Ich werde… werde…«, er zögerte einen Augenblick, »ich werde hier stehenbleiben und zusehen, wie es Ihnen geht.«

 

»Wir brauchen drei Mann im Boot, zwei an den Riemen und einen im Ruder«, sagte Kid ruhig.

 

Sprague warf Stine einen Blick zu.

 

»Fällt mir nicht im Traum ein«, erklärte dieser Herr. »Wenn Herr Sprague sich nicht fürchtet, hier stehenzubleiben und zuzugucken, tue ich es auch nicht.«

 

»Wer fürchtet sich?« fragte Sprague erregt.

 

Stine antwortete ihm im selben Ton, und als ihre Leute sie verließen, zankten sich die beiden Chefs aus Leibeskräften.

 

»Wir kommen schon ohne sie durch«, sagte Kid zu Kurz. »Du setzt dich vorn mit einem Riemen hin, und ich nehme das Ruder. Alles, was du tun kannst, ist, das Boot geradeaus zu halten. Wenn wir erst losgehen, wirst du nicht mehr hören können, was ich dir sage. Aber du sollst immer nur das Boot gerade voraus halten.«

 

Sie machten das Boot flott und arbeiteten sich in die Mitte des reißenden Stromes hinaus. Aus dem Cañon ertönte ein Brüllen, das immer stärker wurde. Der Fluß war so glatt wie geschmolzenes Glas, bevor er in die Mündung des Cañons hineingezogen wurde, und Kurz benutzte die Gelegenheit, um einen Priem zu nehmen. Dann steckte er seinen Riemen ins Wasser. Das Boot sprang sofort in die gekräuselten Wellen auf dem Kamm. Der Lärm, der donnernd von den engen hohen Felswänden widerhallte, war so stark, daß sie nichts anderes mehr hören konnten. Sie erstickten fast, so heftig schlugen die fliegenden Schaumspritzer ihnen ins Gesicht. Es gab Augenblicke, da Kid seinen Kameraden vorn im Bug kaum sehen konnte. Die ganze Geschichte dauerte zwar nur zwei Minuten, aber in dieser kurzen Zeit durchsausten sie auf dem Rücken des Wellenkammes eine Strecke von dreiviertel Meilen. Als sie heil hindurchgeschlüpft waren, legten sie das Boot im stillen Wasser hinter dem Cañon bei.

 

Kurz, der während der Fahrt vergessen hatte zu spucken, entleerte jetzt seinen Mund vom Priemsaft und spie kräftig aus.

 

»Das nenne ich Bärenfleisch!« rief er begeistert. »Richtiges Bärenfleisch! Weißt du, da fehlte aber nicht viel, nicht wahr, Kid? Im Vertrauen kann ich dir ja ganz ruhig erzählen, daß ich, ehe wir losfuhren, die allerjämmerlichste, lausigste Memme diesseits der Rocky-Mountains war. Aber jetzt hab‘ ich Bärenfleisch gegessen. Und jetzt los, jetzt wollen wir das andere Boot durchbringen.«

 

Auf dem Rückwege zu Fuß trafen sie ihre beiden Unternehmer, die ihre wilde Fahrt von oben beobachtet hatten.

 

»Da kommen die Fischfresser«, sagte Kurz. »Wollen wir uns nicht lieber in Lee halten?«

 

 

 

Als sie das Boot des Fremden, der Breck hieß, durch den Cañon gelotst hatten, lernten sie auch seine Frau kennen. Es war eine schlanke, mädchenhafte Frau, deren blaue Augen mit Tränen der Dankbarkeit gefüllt waren. Breck selbst versuchte, Kid fünfzig Dollar in die Hand zu stecken, und als es mißlang, wiederholte er den Versuch bei Kurz.

 

»Fremder«, sagte der, als er das Geld ablehnte, »ich kam hierher, um Gold aus dem Boden zu kratzen, nicht um es meinen Kollegen aus der Tasche zu ziehen.«

 

Breck suchte in seinem Boot und holte eine Flasche mit Whisky hervor. Kurz streckte schon die Hand aus, um sie zu nehmen, zog sie aber plötzlich wieder zurück. Dabei schüttelte er den Kopf und sagte: »Wir haben noch dieses verdammte „Weiße Roß“ vor uns, und man sagt, daß es noch schlimmer ist als die „Büchse“. Ich glaube, es ist besser, wenn ich mir jetzt keinen Affen anschaffe.«

 

Einige Meilen weiter abwärts liefen sie wieder an den Strand und legten bei. Dann gingen sie alle vier weiter, um sich das gefährliche Gewässer anzusehen. Der Fluß, der hier lauter Stromschnellen bildete, wurde durch ein Felsriff nach rechts gezwungen. Die ganze Wassermasse wurde in einem scharfen Bogen in den engen Durchgang gedrückt, so daß die Strömung furchtbar gesteigert und der Fluß zu mächtigen Wogen gepeitscht wurde, die grimmig ihre weißen Schaumspritzer gegen den Himmel schleuderten. Das war die gefürchtete „Mähne“ des „Weißen Rosses“, und hier gab es noch eine reichere Todesernte. Auf der einen Seite der „Mähne“ war der Strom fast wie ein Korkenzieher, der teils emporschleuderte, teils hinabzog, auf der andern Seite der „Mähne“ befand sich ein großer Wirbel. Um durchzukommen, mußte man folglich auf der „Mähne“ selbst bleiben.

 

»Gegen dieses Aas ist der „Büchsen-Cañon“ ja die reine Sonntagsschule«, sagte Kurz schließlich.

 

Als sie noch dastanden und das Gewässer betrachteten, fuhr ein Boot in die erste Stromschnelle hinein. Es war ein großes Boot, gut dreißig Faden lang, mit mehreren Tonnen Ausrüstung und sechs Mann an Bord. Bevor es die „Mähne“ erreichte, tauchte es in die Wellen hinab und wurde dann wieder in die Luft geschleudert. Hin und wieder hüllten Schaum und Spritzer es vollständig ein, so daß es gar nicht mehr zu sehen war.

 

Kurz warf Kid einen langen Seitenblick zu und sagte: »Es saust tüchtig und hat dabei noch nicht mal die schlimmste Stelle erreicht. Jetzt holen sie die Riemen ein. Und jetzt sind sie mittendrin… Gott im Himmel… das Boot ist ja ganz weg! Nein, da ist es wieder…«

 

Trotz seiner Größe verschwand das Boot doch zuweilen ganz hinter dem Schaumwirbel der Wellenköpfe. Im nächsten Augenblick war es aber auf der „Mähne“, wurde von einem Wellenkamm hochgeschleudert und dadurch wieder sichtbar.

 

Zu seiner größten Verwunderung sah Kid den ganzen langen Boden des Bootes mit dem Kiel sich deutlich vom Hintergrund abzeichnen.

 

Einen Augenblick – den Bruchteil einer Sekunde nur – schwebte das Boot in der Luft, die Männer saßen untätig auf ihren Plätzen, nur der Mann achtern hielt die Ruderpinne umklammert. Dann stürzte es ins Wellental hinab und entschwand für eine Sekunde den Blicken der Zuschauer. Dreimal sprang das Boot in die Höhe, und dreimal vergrub es sich wieder in den Wogen, dann sah man am Ufer, wie es aus der „Mähne“ hinausglitt und der Bug in die Wirbel hineingezogen wurde. Der Mann am Steuer versuchte vergebens, es zu verhindern; er warf sein ganzes Gewicht gegen die Ruderpinne, überließ sich dann aber völlig dem Stromwirbel und suchte nur das Boot im Kreis zu halten.

 

Dreimal lief es im Wirbel herum, jedesmal so nahe an den Felsen, wo Kid und Kurz standen, daß sie ohne Mühe hätten an Bord springen können. Der Rudergast, ein Mann mit einem roten Bart, den er offenbar erst seit kurzem stehen ließ, winkte ihnen mit der Hand zu. Das Boot konnte nur aus dem Wirbel herauskommen, wenn es wieder in die „Mähne“ hineingeriet. Bei der letzten Runde geriet es auch wirklich in die „Mähne“ hinein, unglücklicherweise aber quer zum oberen Ende. Offenbar aus Angst vor dem furchtbaren Sog des Stromwirbels versäumte es der Steuermann, das Boot wieder auf den richtigen Kurs zu bringen, und als er es endlich versuchte, war es zu spät. Bald oben in der Luft, bald tief in den Wellen begraben, durchquerte das große Boot die „Mähne“, um in den Schlund des Korkenziehers auf der anderen Seite des Kammes eingesogen zu werden. Einige hundert Fuß weiter abwärts begannen Kisten, Schachteln und Warenballen an die Oberfläche zu kommen. Dann tauchten der Kiel des Bootes und die Köpfe der Männer auf. Zweien von ihnen gelang es, im stillen Wasser unten das Ufer zu erreichen. Die anderen wurden hinabgezogen, das ganze Wrackgut wurde von der starken Strömung fortgetragen und entschwand bald den Blicken.

 

Eine lange Minute schwiegen sie alle. Dann ergriff Kurz als erster das Wort: »Los«, sagte er. »Wir können ebensogut gleich losgehen. Wenn ich noch länger hier stehenbleibe, kriege ich bloß kalte Füße.«

 

»Das wird eine stürmische Fahrt werden«, grinste Kid.

 

»Es ist ja nicht deine erste«, lautete die Antwort. Hierauf wandte sich Kurz an die Chefs. »Kommen Sie mit?« fragte er.

 

Vielleicht war das dumpfe Brüllen des Flusses schuld daran, daß die Einladung überhört wurde.

 

Kurz und Kid wanderten jetzt durch den fußhohen Schnee zu ihrem Boote zurück, das dort lag, wo die Stromschnellen begannen. Dann stießen sie ab. Zwei Erwägungen schossen Kid dabei durch den Kopf, erstens, daß sein Kamerad ein prachtvoller Kerl war – und natürlich wirkte dieser Umstand auch anspornend auf ihn -, zweitens – und das wirkte ebenfalls als Anreiz -, daß der alte Isaac Bellew und alle andern Bellews ähnliches vollbracht hatten, als sie nach dem Westen wanderten. – Was sie getan haben, kann ich auch tun! Es war das Bärenfleisch, das starke Bärenfleisch, das sie kräftig und hart gemacht hatte, aber er wußte auch – und besser als je -, daß nur Männer, die schon stark waren, Fleisch dieser Art essen konnten.

 

»Du hältst dich natürlich oben auf der „Mähne“«, rief Kurz ihm zu. Er nahm sich einen Priem, als das Boot in dem stärker werdenden Strom schneller zu gleiten begann und bereits in die erste Schnelle hineinsauste. Kid nickte, warf versuchsweise sein ganzes Gewicht mit voller Kraft gegen die Ruderpinne und hielt das Boot zum Sprung auf die „Mähne“ bereit.

 

Einige Minuten später lagen sie, halb im Wasser begraben, im stillen Wasser unterhalb des »Weißen Rosses« am Ufer. Kurz spie einen Mundvoll Tabaksoße aus und drückte Kid die Hand.

 

»Bärenfleisch! Bärenfleisch!« sang er dabei. »Wir essen es roh! Wir essen es lebendig!«

 

Oben trafen sie Breck – seine Frau blieb in einiger Entfernung von ihnen stehen. Kid drückte ihm die Hand.

 

»Ich fürchte, daß Ihr Boot nicht durchhält«, sagte er. »Es ist kleiner als unseres und kentert leichter.«

 

Der Mann zog ein Bündel Geldscheine aus der Tasche. »Ich gebe jedem von Ihnen hundert Dollar, wenn Sie es durchs „Roß“ bringen.«

 

Kid warf einen Blick auf die schäumende „Mähne des Weißen Rosses“. Die graue Dämmerung, die hier im Norden lange dauerte, brach schon herein. Es begann kälter zu werden, und die ganze Landschaft bekam allmählich ein wildes und trostloses Aussehen.

 

»Darum handelt es sich nicht«, sagte Kurz. »Wir wollen Ihr Geld gar nicht. Wollen es nicht anrühren. Aber mein Kamerad weiß mit Booten Bescheid, und wenn er sagt, daß Ihr Boot nicht sicher ist, dann weiß er, was er sagt.«

 

Kid nickte bestätigend, aber im selben Augenblick fiel sein Blick auf Frau Breck. Ihre Augen waren auf ihn gerichtet, und er fühlte, wenn er je die Augen einer Frau hatte flehen sehen, so jetzt. Kurz folgte seinem Blick und sah dasselbe wie er. Die beiden sahen sich unsicher an, sagten aber kein Wort. Dann nickten sie sich, beide von demselben Gedanken ergriffen, zu und schlugen den Weg ein, der zu den Stromschnellen führte. Sie waren kaum hundert Schritt weit gegangen, als sie Stine und Sprague trafen, die ihnen entgegenkamen.

 

»Wo gehen Sie hin?« fragte Sprague.

 

»Wir wollen das andere Boot durch das „Roß“ lotsen«, antwortete Kurz.

 

»Nein, das dürfen Sie nicht! Es fängt an, dunkel zu werden, und Sie müssen das Lager in Ordnung bringen.«

 

So stark war der Widerwille Kids, daß er kein Wort herausbringen konnte.

 

»Er hat seine Frau mit«, sagte Kurz.

 

»Das ist seine Sache«, bemerkte Stine.

 

»Und ebensosehr Kids und meine«, gab Kurz zurück.

 

»Ich verbiete es euch«, erklärte Sprague barsch. »Kid, wenn Sie einen Schritt weitergehen, entlasse ich Sie.«

 

»Und ich Sie, Kurz«, fügte Stine hinzu.

 

»Da werdet ihr euch was Schönes einbrocken, wenn ihr uns entlaßt«, antwortete Kurz. »Wie, zum Teufel, wollt ihr denn euer Dreckboot nach Dawson bringen? Wer soll euch den Kaffee im Bett servieren und euch die Nägel maniküren? Los, Kid! Sie werden uns nicht entlassen. Außerdem haben wir ja unsere Verträge. Wenn Sie uns entlassen, müssen Sie uns so viel Proviant geben, daß wir durch den Winter kommen.«

 

Kaum hatten sie das Boot Brecks hinausgeschoben und das erste grobe Wasser erreicht, als die Wellen auch schon die Reling überspülten. Es waren zunächst nur kleine Wellen, aber sie zeigten ernst genug, was kommen würde. Kurz warf einen launigen Blick zurück, während er seinen unvermeidlichen Priem nahm, und Kid fühlte, wie ein warmer Strom durch sein Herz lief, als er diesen Mann betrachtete, der nicht schwimmen konnte und, wenn sie kenterten, keine Chance hatte, sich zu retten.

 

Die Stromschnellen wurden immer wilder, und der Schaum begann sie zu bespritzen. In der zunehmenden Dämmerung sah Kid die schimmernde „Mähne“ und den gewundenen Weg des reißenden Stromes. Er steuerte hinein und empfand eine brennende Befriedigung, als das Boot gerade auf die Mitte der „Mähne“ geriet. Dann aber folgten die schäumenden Spritzer, das Boot wurde hoch empor und wieder in die Tiefe geschleudert und vom Wasser begraben, aber von alledem hatte er keinen klaren Eindruck. Er wußte nur, daß er sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Ruderpinne warf und daß er wünschte, sein Onkel wäre dabei und könnte ihn sehen. Dann tauchten sie wieder auf, atemlos, bis auf die Haut durchnäßt, das Boot bis zum Dollbord mit Wasser gefüllt. Die leichteren Gepäckstücke schwammen frei im Boot herum. Kurz holte ein paarmal weit mit dem Riemen aus, und das Boot glitt durch das stille Wasser, bis es unversehrt das Ufer anlief. Auf dem Hang stand Frau Breck – ihr Gebet war erhört, und die Tränen strömten ihr über das Gesicht.

 

»Es ist einfach eure Pflicht, das Geld zu nehmen!« rief Breck ihnen zu.

 

Kurz stand auf, stolperte und setzte sich mitten ins Wasser, während das Boot den einen Dollbord in die See tauchte, sich aber gleich wieder aufrichtete.

 

»Zum Teufel mit dem Geld!« rief er. »Aber geben Sie uns den Whisky. Jetzt fange ich an, kalte Füße zu kriegen, und ich fürchte schon, daß es ein richtiger Schnupfen wird.«

 

Am nächsten Morgen waren sie, wie gewöhnlich, unter den letzten, die ihr Boot zur Abfahrt brachten. Selbst Breck, der nichts vom Segeln verstand, und nur seine Frau und seinen jungen Neffen zur Hilfe hatte, brach schon beim ersten Tagesgrauen sein Zelt ab, belud sein Boot und segelte ab. Aber Stine und Sprague hatten keine Eile. Sie schienen gar nicht zu erfassen, daß die Seen jeden Augenblick zufrieren konnten. Sie drückten sich, wo sie konnten, standen überall im Wege, verzögerten alles und bekrittelten die Arbeit von Kid und Kurz.

 

»Ich werde bald meine Achtung vorm lieben Gott verlieren, wenn ich daran denke, daß er diesen beiden Mißverständnissen menschliche Gestalt gegeben hat.« Mit diesen lästerlichen Worten drückte Kurz seine Verachtung aus.

 

»Nun, dann gehörst du jedenfalls zur richtigen Sorte«, antwortete Kid grinsend. »Um so mehr muß ich Gott achten, wenn ich dich angucke.«

 

»Na ja, verschiedenes ist ihm schon gelungen«, gab Kurz zurück, um seine Verlegenheit über die Schmeichelei zu verbergen.

 

Der Wasserweg nach Dawson führte auch durch den Le-Barge-See. Hier war kaum eine reißende Strömung, aber die ganze Strecke von vierzig Meilen mußte man rudern, wenn nicht zufällig ein günstiger Wind wehte. Die Zeit dieser günstigen Winde war jedoch schon vorbei, und eine eisige Kühle aus dem Norden blies ihnen ins Gesicht und schuf eine grobe See, gegen die anzurudern fast unmöglich war. Das Schneegestöber vermehrte noch ihre Schwierigkeiten um ein Beträchtliches. Dazu kam, daß das Wasser auf den Ruderblättern sofort gefror, so daß ein Mann die ganze Zeit reichlich zu tun hatte, um das Eis mit einer Axt loszuschlagen. Wenn Sprague und Stine gezwungen wurden, beim Rudern zu helfen, versuchten sie ganz offensichtlich, sich zu drücken. Kid hatte gelernt, sein Gewicht beim Rudern richtig auszunutzen, aber er bemerkte, daß die Chefs nur so taten, als gebrauchten sie ihre vollen Kräfte, in Wirklichkeit aber die Riemen flach durchs Wasser strichen.

 

Als drei Stunden vergangen waren, zog Sprague seinen Riemen ein und erklärte, daß sie umkehren müßten, um in der Mündung des Flusses Schutz zu suchen. Stine stellte sich auf seine Seite, und damit war die harte Arbeit, die sie mehrere Meilen vorwärts gebracht hatte, wieder vergebens gewesen. Am zweiten und dritten Tage wurden ähnliche vergebliche Versuche gemacht. In der Mündung des Flusses bildeten die vielen, beständig vom »Weißen Roß« herkommenden Boote eine Flottille von über zweihundert Stück. Mit jedem Tage kamen vierzig oder fünfzig neue an, und nur zwei oder drei erreichten das Nordwestufer des Sees und kehrten nicht wieder zurück.

 

Das stille Wasser vereiste, und es bildeten sich dünne Eisbänder um die Landzungen herum. Jeden Augenblick konnte man gewärtig sein, daß der See ganz zufror. »Wir könnten es noch schaffen, wenn sie ein bißchen vernünftiger wären«, sagte Kid zu Kurz, als sie ihre Mokassins am Abend des dritten Tages am Feuer trockneten. »Wir würden es sogar heute geschafft haben, wenn sie nicht verlangt hätten, daß wir umkehrten. Nur noch eine Stunde, und wir hätten das andere Ufer erreicht. Sie sind ein paar richtige Wickelkinder.«

 

»Ja, wahrhaftig«, stimmte Kurz ihm bei.

 

Er hielt seine Mokassins ans Feuer und überlegte einen Augenblick.

 

»Hör mal, Kid. Es sind noch mehr als hundert Meilen bis Dawson. Wenn wir hier nicht einfrieren wollen, müssen wir irgend etwas tun. Was meinst du?«

 

Kid sah ihn an und wartete, daß er fortfahren sollte. »Wir haben allmählich die beiden Wickelkinder gehörig an die Strippe gekriegt«, erklärte Kurz. »Sie können nur Befehle geben und Geld hinausschmeißen, sonst aber sind sie, wie du richtig sagst, die reinen Wickelkinder. Wenn wir wirklich nach Dawson wollen, müssen wir das Kommando hier im Laden übernehmen.«

 

Sie sahen sich an.

 

»Gemacht«, sagte Kid und reichte Kurz die Hand, um das Übereinkommen feierlich zu bestätigen.

 

Früh am nächsten Morgen ließ Kurz, lange ehe es hell geworden war, seine Stimme hören.

 

»Raus«, brüllte er, »’raus aus dem Bett! Hier ist der Kaffee, ihr Langschläfer! Los! Wir fahren gleich ab.«

 

Knurrend und murrend krochen Stine und Sprague aus dem Zelt und mußten es sich gefallen lassen, daß sie zwei Stunden früher als je zuvor aufbrachen. Der Wind war noch steifer geworden, und es dauerte nicht lange, so waren alle Gesichter von einer Eiskruste bedeckt, während das Eis die Riemen noch schwerer machte als sonst. Drei Stunden lang kämpften sie sich vorwärts und noch eine vierte dazu. Ein Mann saß am Ruder, ein anderer schlug das Eis von den Riemen, die beiden übrigen lösten einander regelmäßig ab. Die Nordwestküste kam immer näher. Aber der Wind wurde auch immer steifer, und schließlich warf Sprague seinen Riemen in das Boot zum Zeichen, daß er den Kampf aufgab. Kurz griff zu, obgleich er soeben erst abgelöst war.

 

»Dann hauen Sie wenigstens das Eis ab«, sagte er und reichte Sprague die Axt.

 

»Aber wozu denn?« wimmerte der andere. »Wir schaffen es ja doch nicht. Wir wollen wieder umkehren.«

 

»Wir fahren weiter«, sagte Kurz. »Hauen Sie das Eis von den Riemen. Und wenn Sie sich erholt haben, können Sie mich wieder ablösen.«

 

Es war eine herzzerbrechende Quälerei, aber sie erreichten die Küste – freilich nur, um festzustellen, daß überall Klippen und Felsen waren, so daß sie nirgends landen konnten.

 

»Das hab‘ ich euch ja gesagt«, jammerte Sprague.

 

»Sie haben das Ufer ja nie gesehen«, antwortete Kurz.

 

»Wir kehren um.«

 

Keiner sprach. Kid steuerte das Boot gegen die Wellen, als sie an dem ungastlichen Ufer entlangsegelten. Zuweilen schafften sie mit einem Riemenzug einen Fuß, aber es gab auch Augenblicke, in denen drei oder vier Riemenzüge kaum genügten, das Boot auf derselben Stelle zu halten. Kid tat sein Bestes, um den beiden Schwächlingen Mut einzuflößen. Er erinnerte sie daran, daß die Boote, die erst einmal die Küste erreicht hatten, nie wieder zurückgekehrt waren – also, erklärte er ihnen, hatten sie irgendwo einen Hafen gefunden. Und sie arbeiteten noch eine Stunde und eine zweite.

 

»Wenn ihr beide nur ein bißchen von dem vielen Kaffee, den ihr in euren Betten getrunken habt, in die Riemen hineinschwitzen würdet, dann schafften wir es schon«, sagte Kurz, um sie anzutreiben. »Aber ihr macht nur die Bewegungen und rudert nicht für einen Heller.«

 

Einige Minuten später warf Sprague die Riemen hin.

 

»Ich bin fertig«, sagte er, und ein Schluchzen war in seiner Stimme.

 

»Das sind wir alle«, antwortete Kid, der selbst schon so erschöpft war, daß er jeden Augenblick hätte weinen oder einen Mord begehen können. »Aber wir arbeiten trotzdem weiter.«

 

»Wir wollen zurück. Wenden Sie gleich.«

 

»Kurz, wenn er nicht mehr rudern will, dann nimmst du seinen Riemen«, kommandierte Kid.

 

»Selbstverständlich«, lautete die Antwort. »Er kann Eis hauen.«

 

Aber Sprague lehnte es ab, den Riemen abzugeben. Stine hatte aufgehört zu rudern, und das Boot begann schon zurückzutreiben.

 

»Wendet das Boot!« befahl Sprague.

 

Und Kid, der noch nie in seinem Leben einen Mann verflucht hatte, wunderte sich über sich selber.

 

»Zuerst sollst du zur Hölle gehen«, antwortete er. »Nimm den Riemen und rudere los!«

 

Es gibt Augenblicke, in denen Männer so erschöpft sind, daß sie alle Hemmungen, die die Kultur sie gelehrt hat, abstreifen.

 

Ein solcher Augenblick war jetzt gekommen.

 

Alle ohne Ausnahme waren sie jetzt auf dem Punkt angelangt, wo es biegen oder brechen hieß. Sprague zog seinen Fäustling aus, zog den Revolver aus der Tasche und zielte auf den Mann am Steuer.

 

Das war ein neues Erlebnis für Kid – er hatte noch nie ein Schießeisen auf sich gerichtet gesehen. Und jetzt schien es ihm, zu seinem großen Erstaunen, eine ganz belanglose Angelegenheit. Er fand, daß es etwas ganz Selbstverständliches war.

 

»Wenn du das Schießeisen nicht sofort weglegst«, sagte er, »nehme ich es dir weg und haue dir damit über die Finger.«

 

»Wenn Sie das Boot nicht wenden, schieße ich«, drohte Sprague.

 

Da mischte Kurz sich hinein. Er hörte auf, das Eis abzuschlagen, und stellte sich hinter Sprague.

 

»Jetzt schieß nur ruhig los«, sagte Kurz und schwang die Axt. »Ich sehne mich direkt nach einer Gelegenheit, dir den Schädel einzuschlagen. Nur los, laß das Festessen sofort beginnen.«

 

»Das ist ja die reine Meuterei«, begann Stine. »Sie sind angestellt, um unseren Befehlen zu gehorchen.«

 

Kurz wandte sich zu ihm.

 

»Na, Sie kriegen auch Ihr Teil, wenn ich erst mit Ihrem Kompagnon fertig bin, Sie kleiner schweineprügelnder Schleicher.«

 

»Sprague«, sagte Kid, »ich gebe Ihnen genau dreißig Sekunden, um das Schießeisen wegzustecken und den Riemen wieder aufzunehmen.«

 

Sprague zögerte einen Augenblick, lachte hysterisch auf, steckte den Revolver in die Tasche und begann wieder zu rudern.

 

Dann erkämpften sie sich abermals zwei Stunden lang, Zoll für Zoll, ihren Weg an den schaumgepeitschten Klippen entlang, bis Kid allmählich zu fürchten begann, daß er eine Dummheit gemacht hatte. Und da, als er schon an die Umkehr dachte, sahen sie unmittelbar vor sich eine enge Öffnung, die kaum zwanzig Fuß breit war und in einen kleinen Hafen führte, wo selbst die stärksten Windstöße kaum die Oberfläche des Wassers kräuselten. Das war der Hafen, den die Boote, die früher abgefahren waren, ohne zurückzukehren, ebenfalls erreicht hatten. Sie landeten an einem allmählich ansteigenden Ufer. Die beiden Chefs blieben ganz erschöpft im Boot liegen, während Kid und Kurz das Zelt aufschlugen, Feuer machten und zu kochen begannen.

 

»Du, Kurz, was meinst du eigentlich mit dem Ausdruck „schweineprügelnder Schleicher“?« fragte Kid.

 

»Der Deibel soll mich holen, wenn ich eine Ahnung habe, was es bedeutet«, lautete die Antwort, »aber das ist ja auch ganz schnuppe.«

 

Der Wind, der schnell wieder abgeflaut war, legte sich bei Anbruch der Nacht völlig, und das Wetter wurde klar und kalt. Eine Tasse Kaffee, die zum Abkühlen beiseite gestellt und vergessen war, fanden sie wenige Sekunden später mit einer Eiskruste überzogen. Als Sprague und Stine sich gegen acht Uhr schon in ihre Decken gewickelt hatten und den Schlaf völliger Erschöpfung schliefen, kam Kid von einem Besuch beim Boot zurück.

 

»Es friert jetzt, Kurz«, sagte er. »Es liegt schon eine Eisschicht über dem ganzen See.«

 

»Was willst du tun?«

 

»Es ist nur eins zu tun. Der See friert natürlich zuerst zu. Die reißende Strömung wird den Fluß jedenfalls noch einige Tage offenhalten. Von heute an muß jedes Boot, das noch im Le-Barge-See ist, bis nächstes Jahr dableiben.«

 

»Du meinst also, daß wir schon heute nacht abfahren müssen?«

 

Kid nickte.

 

»Raus, ihr Langschläfer!« lautete Kurz‘ Antwort, die er mit gewaltiger Stimme brüllte, während er schon begann, das Zelt abzubrechen.

 

Die beiden andern erwachten. Sie stöhnten, teils weil ihre überanstrengten Muskeln schmerzten, teils weil sie so brutal aus dem Schlaf der Erschöpfung herausgerissen wurden.

 

»Wie spät ist es denn?« fragte Stine.

 

»Halb neun.«

 

»Aber es ist ja noch ganz dunkel«, wandte er ein.

 

Kurz löste die Zeltschnüre, so daß das Zelt zusammenzufallen begann.

 

»Es ist gar nicht Morgen«, sagte er. »Es ist immer noch Abend. Aber der See friert zu. Wir müssen durch.« – Stine erhob sich. Sein Gesicht zeigte Zorn und Empörung.

 

»Laß ihn zufrieren. Wir rühren uns nicht vom Fleck.«

 

»Schön«, erklärte Kurz. »Dann fahren wir eben allein mit dem Boot weiter.«

 

»Sie sind angestellt…«

 

»… um Sie nach Dawson zu bringen«, unterbrach ihn Kurz. »Und wir bringen Sie ja auch hin, nicht wahr?«

 

Er verlieh seiner Frage einen besonderen Nachdruck, indem er das Zelt über ihren Köpfen zusammenstürzen ließ.

 

Sie bahnten sich den Weg durch das dünne Eis des kleinen Hafens und gelangten in den See hinaus, wo das Wasser, das schon breiig und glasig wurde, am Riemen gefror. Es vereiste immer mehr, so daß die Bewegungen der Riemen behindert wurden, und wenn das Wasser von ihnen herabträufelte, bildeten sich lange Eiszapfen. Dann begann das Eis eine feste Decke zu bilden, und das Boot kam immer langsamer vorwärts.

 

Später dachte Kid oft an diese Nacht, aber es gelang ihm nie, sich etwas anderes ins Gedächtnis zurückzurufen, als daß sie wie ein Nachtmahr gewesen war. Und er fragte sich unwillkürlich, welch furchtbare Leiden Stine und Sprague bei dieser Gelegenheit hatten durchmachen müssen. Als eines eigenen Erlebnisses erinnerte er sich, wie er sich durch die schneidende Kälte und durch schier unerträgliche Entbehrungen von solchem Ausmaß hindurchgekämpft hatte, daß ihm schien, sie hätten tausend Jahre oder noch länger gedauert.

 

Als der Morgen kam, saßen sie schon fest. Stine klagte, daß seine Finger erfroren wären, und Sprague tat die Nase weh, während die Schmerzen in Kids Wangen und Nase ihm zeigten, daß es auch ihn getroffen hatte.

 

Als das Tageslicht allmählich stärker wurde, erweiterte sich ihr Ausblick, und so weit sie überhaupt sehen konnten, war die ganze Oberfläche des Sees zu Eis geworden.

 

Das offene Wasser war verschwunden. Hundert Meter entfernt lag das Nordufer. Kurz behauptete, daß die Mündung des Flusses dort sein müßte und daß er offenes Wasser sehen könnte. Nur er und Kid waren noch imstande zu arbeiten. Mit ihren Riemen zerschlugen sie das Eis und schoben das Boot durch die so geschaffene schmale Rinne. Mit einer letzten Anspannung aller Kräfte gelang es ihnen, die Mündung des schnell strömenden Flusses zu erreichen.

 

Als sie sich umblickten, sahen sie mehrere Boote, die sich während der ganzen Nacht weitergekämpft hatten, jetzt aber hilflos und hoffnungslos festsaßen. Dann schwenkten sie um eine Landspitze und wurden von der Strömung erfaßt, die sie mit einer Schnelligkeit von sechs Meilen in der Stunde weitertrug.

 

Tag für Tag trieben sie den schnell strömenden Fluß hinab, und Tag für Tag rückte das Eisfeld von der Küste her näher. Wenn sie abends lagern wollten, mußten sie zuerst ein großes Loch in das Eis schlagen, in dem sie das Boot die Nacht über liegenlassen konnten, und dann das gesamte Lagergerät mehrere hundert Fuß weit über die Eisfläche bis zum Ufer tragen. Und morgens mußten sie wieder das Eis, das sich inzwischen um das Boot gebildet hatte, zerschlagen, bevor sie die eisfreie Strömung in der Mitte des Flusses erreichen konnten. Kurz stellte den kleinen Blechofen im Boot auf, und Sprague und Stine lungerten dann die endlosen Stunden, die sie den Fluß hinabtrieben, um ihn herum. Die beiden hatten sich völlig in ihr Schicksal ergeben. Sie erteilten keine Befehle mehr, und ihr ganzes Trachten ging nur darauf aus, Dawson zu erreichen. Kurz, pessimistisch und unermüdlich wie immer, grölte heiter mit kurzen Zwischenräumen drei Verszeilen von der ersten Strophe eines alten Liedes, von dem er sich sonst an nichts mehr erinnerte. Je kälter es wurde, um so eifriger und häufiger sang er:

 

 

 

»Wie den alten Argonauten

 

Kann uns keiner heut verwehren

 

Auszuziehen, tum – tum – tum,

 

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

 

 

 

Als sie die Mündung der Hootalinqua und des Großen und des Kleinen Lachsflusses passierten, entdeckten sie, daß sich große Mengen Packeis in den Hauptarm des Yukon hineinschoben. Dieses Packeis staute sich um das Boot zusammen und hielt es fest, so daß sie jetzt sogar gezwungen wurden, es jeden Abend aus der vereisten Strömung herauszuschlagen. Auch morgens mußten sie sich dann wieder einen Weg durch das Eis bahnen, um das Boot in die Strömung zu bringen.

 

Die letzte Nacht am Ufer verbrachten sie zwischen den Mündungen des Weißen Flusses und des Stewarts. Gegen Morgen sahen sie, daß der Yukon in seiner ganzen Breite von fast einer halben Meile wie ein weißes Band zwischen den vereisten Ufern lag. Da verfluchte Kurz das gesamte Weltall mit weniger überströmender Laune als sonst. Dann warf er Kid einen verzweifelten Blick zu.

 

»Wir werden das letzte Boot sein, das dieses Jahr Dawson erreicht«, sagte Kid.

 

»Aber es ist ja überhaupt kein Wasser mehr da, Kid.«

 

»Dann müssen wir eben das Eis zerschlagen und Wasser schaffen. Nur los.«

 

Sprague und Stine protestierten vergeblich – sie wurden ohne weiteres im Boot verstaut, während Kid und Kurz eine halbe Stunde lang mit den Äxten arbeiteten, um die schnell fließende, aber vereiste Strömung zu erreichen. Als es ihnen gelungen war, das Boot vom Küsteneis frei zu machen, wurde es vom Treibeis der Strömung einige hundert Meter weiter am Rand des Eisfeldes entlanggetrieben. Bei dieser Gelegenheit wurde der eine Dollbord abgerissen und das Boot selbst schwer beschädigt.

 

Erst unterhalb der Landspitze, auf der sie die Nacht verbracht hatten und die sich weit in den Fluß hinausschob, gelangten sie richtig in die Strömung hinein. Jetzt arbeiteten sie sich immer tiefer in sie hinein. Aber es war schwerer als je, denn die Eissplitter hatten großen Schollen Platz gemacht, und das Treibeis, das es noch dazwischen gab, verwandelte sich schnell in eine feste Fläche.

 

Mit den Riemen schoben sie die Schollen beiseite, hin und wieder sprangen sie auf das Eis, um das Boot weiterschieben zu können, und als sie in dieser Weise eine Stunde gearbeitet hatten, erreichten sie die Mitte des Flusses. Fünf Minuten, nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten, war das Boot eingefroren. Der ganze Fluß wurde im Weiterströmen zu Eis. Die Schollen wurden allmählich zu einer festen Fläche, bis das Boot schließlich mitten in einem Eisblock steckte, der fünfundsiebzig Fuß im Durchmesser maß. Zuweilen trieben sie seitwärts, zuweilen wieder geradeaus; das Boot zerriß durch sein Gewicht die unsichtbaren Fesseln, mit denen die Eismasse, die sich in stetiger Bewegung befand, es festzuhalten suchte, wurde aber immer wieder von noch stärkeren Kräften gebunden. In dieser Weise verlief Stunde auf Stunde, während Kurz den Ofen heizte, die Mahlzeiten zubereitete und seinen Kriegsgesang hinausschmetterte.

 

Es wurde Nacht. Und nach vielen vergeblichen Bemühungen gaben sie den Versuch auf, das Boot an die Küste zu bringen. Hilflos trieben sie weiter durch die eisige Dunkelheit.

 

»Und was geschieht, wenn wir an Dawson vorbeitreiben?« fragte Kurz.

 

»Dann müssen wir eben zu Fuß zurückgehen«, antwortete Kid, »wenn wir nicht vorher das Pech haben, im Packeis zerquetscht zu werden.«

 

Der Himmel war klar, und beim kalten Schein der Sterne sahen sie hin und wieder flüchtig die Silhouetten der Berge, die zu beiden Seiten in weiter Ferne emporragten. Gegen elf Uhr hörten sie unter sich ein dumpfes Knarren und Brüllen. Ihre Fahrt begann sich zu verlangsamen. Eisschollen stellten sich ihnen in den Weg, schoben sich übereinander, türmten sich auf und rutschten auf sie herab. Das Packeis drohte sie zu zerquetschen; eine Scholle, die nach oben geschoben wurde, zerriß die eine Seite des Bootes. Es versank zwar nicht, denn es wurde von dem Floß getragen, in dem es feststeckte, aber eine Sekunde lang sahen sie das schwarze Wasser kaum einen Fußbreit von der zerschlagenen Seite des Bootes auftauchen. Dann hörte jede Bewegung auf. Nach einer halben Stunde begann die ganze Eisdecke des Flusses sich zu bewegen, und fast eine Stunde lang glitt das Boot dann mit der ganzen Eisfläche weiter den Fluß hinab, bis neues Packeis eine Stockung verursachte. Wieder kam das Boot dann ins Treiben, und diesmal lief die Strömung schnell und wild; man hörte immerfort das Scheuern und Knarren der Schollen und Flöße. Bald darauf entdeckten sie Lichter an Land, und gerade als sie schon daran vorbeilaufen wollten, gaben das Gesetz der Schwere und der Yukon das Spiel auf, und der Fluß legte sich für sechs Monate zur Ruhe. Einige Neugierige, die bei Dawson am Ufer standen, um zu sehen, wie der Fluß zufror, hörten durch die Dunkelheit Kurz‘ Schlachtlied:

 

 

 

»Wie den alten Argonauten

 

Kann uns keiner heut verwehren

 

Auszuziehen, tum – tum – tum,

 

Um das Goldne Vlies zu scheren.«

 

 

 

Drei Tage schufteten Kid und Kurz dann wieder, um die anderthalb Tonnen Gepäck von der Mitte des Flusses zu dem Bretterverschlag zu schaffen, den Stine und Sprague auf dem Hügel gemietet hatten, von dem aus man ganz Dawson überblicken konnte. Als die Arbeit beendet war und alle in der warmen Hütte saßen, rief Sprague Kid zu sich. Draußen zeigte das Thermometer fünfundsechzig Grad Fahrenheit unter Null.

 

»Ihr Monat ist freilich noch nicht ganz um«, sagte Sprague. »Aber hier haben Sie Ihren vollen Monatslohn. Und ich wünsche Ihnen guten Erfolg.«

 

»Aber wie steht es denn mit unserem Vertrag?« fragte Kid. »Sie wissen ja, daß hier Hungersnot herrscht. Man kann nicht einmal, wenn man seinen eigenen Proviant hat, in den Minen Arbeit bekommen. Sie haben sich ja einverstanden…«

 

»Ich weiß nichts von einem Vertrag«, unterbrach ihn Sprague. »Du doch auch nicht, Stine?«

 

»Wir haben Sie für einen Monat engagiert, und hier haben Sie Ihr Geld. Wollen Sie die Quittung unterschreiben oder nicht?«

 

Kid ballte die Fäuste, und ihm wurde einen Augenblick rot vor Augen. Die beiden wichen erschrocken zurück. Noch nie hatte Kid einen Mann im Zorn geschlagen, aber er fühlte sich so sicher, Sprague niederschlagen zu können, daß es ihm einfach widerstrebte, es zu tun.

 

Kurz, der die schwierige Lage Kids erkannte, legte sich ins Mittel.

 

»Schau mal her, Kid, ich arbeite sowieso nicht weiter bei dem schäbigen Gesindel. Jetzt hab‘ ich auch mehr als genug und mach‘ mich dünne. Du und ich, wir halten zusammen, nicht? Nimm deine Decken und marschier geradewegs in den „Elch“. Ich begleiche nur noch die Rechnung hier. Nehme mir, was mir zusteht, und gebe ihnen, was ihnen gebührt. Auf dem Wasser tauge ich ja nicht viel, aber hier, mit festem Boden unter den Füßen, fühle ich mich eher zu Hause. Jetzt werde ich mal Sturm blasen…«

 

Eine halbe Stunde später erschien Kurz im „Elch“. Nach seinen blutigen Knöcheln und einer Hautabschürfung auf der rechten Wange zu schließen, hatte er den Herren Sprague und Stine offenbar gegeben, was ihnen gebührte.

 

»Du hättest nur die Hütte sehen sollen«, grinste er, als sie zusammen an der Bar standen. »Eine Rumpelkammer ist ein Staatssalon dagegen. Ich halte Menschendollars gegen Pfeffernüsse, daß keiner von ihnen sich die nächste Woche auf der Straße zeigen wird. Und jetzt wollen wir mal sehen, wie es für uns beide steht. Lebensmittel kosten anderthalb Dollar das Pfund. Arbeit kriegt man nicht, wenn man sich nicht selbst beköstigen kann. Elchfleisch verkaufen sie für zwei Dollar das Pfund – wenn sie es haben, aber sie haben nichts. Wir haben Geld genug, um uns Munition und Proviant für einen Monat zu kaufen, und dann marschieren wir den Klondike hinauf nach dem Hinterland. Wenn wir da keine Elche finden, bleiben wir einfach bei den Indianern. Aber wenn wir nicht binnen sechs Wochen mindestens fünftausend Pfund Elchfleisch gekriegt haben, dann…ja, dann kehre ich reumütig zu unsern verflossenen Chefs zurück und bitte um gutes Wetter. Einverstanden?«

 

Kid gab dem Kameraden die Hand. Dann aber kamen ihm Bedenken.

 

»Ich habe ja keine Ahnung von der Jagd«, sagte er. Kurz hob sein Glas.

 

»Du bist ein Fleischesser – und ich werde dein Lehrmeister sein.«

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

Ursprünglich hieß er Christoffer Bellew. Als er die Universität besuchte, wurde er zu Chris Bellew. Später bekam er in den Kreisen der San Franziskoer Bohème den Namen Kid Bellew. Und schließlich kannte man ihn nur noch unter »Alaska-Kid«. Und die Geschichte, wie sich sein Name entwickelte, ist zugleich die Geschichte seiner eigenen Entwicklung. Es wäre aber nie so geworden, hätte er nicht eine nachgiebige, schwache Mutter und einen eisenharten Onkel gehabt und wäre kein Brief von Gillet Bellamy gekommen.

 

»Ich lese soeben eine Nummer der Woge«, schrieb Gillet aus Paris. »Selbstverständlich wird O’Hara sich damit durchsetzen. Er macht aber, scheint’s mir, einige Schnitzer.« (Hier folgte eine genaue Aufstellung aller Verbesserungen, die ihm für die neue mondäne Zeitschrift notwendig erschienen.) »Besuch ihn doch mal. Laß ihn aber in dem seligen Glauben, daß es Deine Anregungen seien – er darf um Gottes willen nicht ahnen, daß sie von mir stammen! Sonst macht er mich zu seinem Pariser Korrespondenten, und das kann ich mir nicht leisten, weil die großen Magazine mir ja menschenwürdige Honorare für meine Aufsätze zahlen. Vor allem darfst Du nicht vergessen, ihm zu sagen, daß er den langweiligen Affen, der die Musik- und Kunstkritiken schreibt, hinausschmeißen soll. Und noch eins: San Franzisko hatte früher immer seine eigene Literatur von besonderem Charakter. Das ist augenblicklich nicht der Fall. Sage ihm, daß er irgendeinen gutmütigen Trottel ausfindig machen muß, der eine lange, lebendige Erzählung schreiben soll, in die er den ganzen romantischen Zauber und die schillernde Farbenpracht San Franziskos hineindichten kann.«

 

Seinen Instruktionen getreu, wanderte Kid brav und bieder zum Redaktionsbüro der Woge. O’Hara lauschte mit Interesse auf seine Ausführungen und erklärte sich mit ihnen einverstanden. Er entließ auch sofort den langweiligen Affen, der die Kritiken schrieb. Aber O’Hara hatte außerdem seine ganz besondere Art, die Gillet selbst in Paris, so weit vom Schuß, fürchtete. Wenn O’Hara sich nämlich etwas in den Kopf setzte, war keiner seiner Freunde imstande, es ihm auszureden. Er war so liebenswürdig und gleichzeitig so eindringlich, daß man ihm einfach nicht widerstehen konnte. Noch ehe Kid Bellew die Redaktion verließ, war er Mitredakteur geworden, hatte versprochen, einige Kritiken zu schreiben, bis man eine brauchbare Feder gefunden hätte, und hatte sich endlich verpflichtet, eine lange, spannende San Franziskoer Erzählung in wöchentlichen Fortsetzungen von je tausend Zeilen zu schreiben… alles, ohne einen Heller dafür zu erhalten. Die Woge könne noch nichts zahlen, erklärte O’Hara. Und ebenso überzeugend legte er dar, daß nur ein einziger in ganz San Franzisko imstande sei, diese Erzählung zu schreiben… und daß dieser einzige zufällig Kid Bellew sei…

 

»Du mein Gott, ich bin also selbst der gutmütige Trottel gewesen«, seufzte Kid vor sich hin, als er die schmale Treppe hinabstieg.

 

Und damit begann seine Sklaverei für O’Hara und für die unersättlichen Spalten der Woge. Woche für Woche saß er auf seinem Stuhl in der Redaktion, hielt dem Blatt mühselig die Gläubiger vom Leibe, schlug sich mit den Druckereien herum und schüttelte jede Woche zweitausendfünfhundert Zeilen verschiedensten Inhalts aus dem Ärmel. Und seine Arbeit wurde durchaus nicht leichter mit der Zeit. Die Woge war nämlich ein ehrgeiziges Blatt. Sie verlegte sich auf Bebilderung. Leider aber waren die Reproduktionsverfahren recht kostspielig. Folglich hatte das Blatt nie Geld, um Kid Bellew zu bezahlen, und aus eben demselben Grunde konnte es sich auch keine Erweiterung des Redaktionsstabes leisten.

 

»So geht es, wenn man ein guter Kerl ist«, brummte Kid Bellew eines Tages.

 

»Gott sei Dank, daß es gute Kerle gibt!« rief O’Hara und drückte Kid Bellew mit Tränen in den Augen die Hand. »Du allein, wirklich nur du allein, Kid, hast mich gerettet. Wärest du nicht gewesen, so wäre ich schon längst pleite gegangen. Jetzt gilt es nur noch ein bißchen durchzuhalten, lieber Junge, dann wird alles schon leichter werden.«

 

»Nie«, klagte Kid. »Ich kann mein Schicksal schon voraussehen. Ich werde mein Leben lang hierbleiben müssen.«

 

Kurz darauf glaubte er einen Weg gefunden zu haben, auf dem er entschlüpfen konnte.

 

Er benutzte einen Augenblick, da O’Hara zugegen war, um über einen Stuhl zu stolpern. Einige Minuten später stieß er gegen eine Ecke des Schreibtisches und griff mit unsicher suchenden Händen nach dem Kleistertopf. »Spät nach Haus gekommen?« fragte O’Hara.

 

Kid rieb sich die Augen und starrte ihn ängstlich an, ehe er antwortete.

 

»Nee, das ist es leider nicht… es ist etwas mit den Augen… sie sind, scheint’s, nicht mehr so gut wie früher. Das ist alles.«

 

Mehrere Tage stolperte er herum und stieß gegen die gesamte Einrichtung im Büro. Aber O’Haras Herz ließ sich nicht erweichen.

 

»Ich will dir mal was sagen, Kid«, meinte er eines Tages. »Du mußt sehen, daß du zu einem Augenarzt kommst. Geh zu Dr. Hassdapple – das ist ein verdammt tüchtiger Bursche. Und es braucht dich nichts zu kosten – wir werden ihm ein paar Inserate dafür geben. Ich werde selbst mit ihm sprechen.«

 

Und seinem Versprechen getreu, schickte er Kid zu dem Doktor.

 

»Ihre Augen sind ja ganz in Ordnung«, lautete das Urteil des Arztes, nachdem er ihn eingehend untersucht hatte. »Ihre Augen sind tatsächlich ganz hervorragend… nicht ein Paar unter einer Million sind so wie die Ihrigen.«

 

»Bitte, erzählen Sie das nicht O’Hara«, bat Kid. »Und verschreiben Sie mir eine Brille.«

 

Die Folge war nur, daß O’Hara sehr liebenswürdig wurde und mit glühender Begeisterung von dem Tage sprach, an dem die Woge imstande sein würde, auf eigenen Beinen zu stehen.

 

Glücklicherweise besaß Kid Bellew eigenes Vermögen. Wenn es auch nur klein war – im Vergleich mit vielen andern -, so war es doch jedenfalls groß genug, um ihm zu ermöglichen, Mitglied verschiedener Klubs zu sein und sich ein eigenes Atelier im Künstlerviertel zu leisten. Seit er Mitredakteur der Woge geworden war, hatten sich seine Ausgaben zweifellos bedeutend verringert. Er hatte nämlich einfach keine Zeit mehr, Geld auszugeben. Er besuchte nie mehr sein Atelier und lud nie mehr die Künstler des Viertels zu seinen berühmten und sehr lustigen Abendessen ein. Und dennoch war er jetzt völlig auf den Hund gekommen, denn die Woge, die immer am Rand der Pleite stand, zog nicht nur Vorteil aus seinem Gehirn, sondern auch aus seiner Brieftasche. Da waren die Zeichner, die in bösartiger Stimmung ablehnten, weiterzuzeichnen, die Buchdrucker, die es ebenfalls hin und wieder ablehnten zu drucken, und endlich der Bürojunge, der sehr häufig erklärte, die Arbeit niederlegen zu wollen. Bei all diesen Gelegenheiten verließ sich O’Hara auf Kid, und Kid tat, was von ihm erwartet wurde.

 

Als der Dampfer »Exzelsior« aus Alaska kam und die ersten Nachrichten von den Goldfunden in Klondike brachte, die das ganze Land verrückt machten, unterbreitete Kid O’Hara einen durchaus nicht ernst gemeinten Vorschlag.

 

»Sieh mal, O’Hara«, sagte er. »Jetzt wird es ganz toll werden mit der Jagd nach dem Golde – genau wie in der guten alten Zeit von 49. Was meinst du dazu, wenn ich für die Woge mitmache? Ich würde es natürlich auf eigene Kosten tun.«

 

O’Hara schüttelte den Kopf.

 

»Unmöglich… ich kann dich nicht in der Schriftleitung entbehren, Kid. Wir brauchen ja auch die Erzählung. Außerdem habe ich vor kaum einer Stunde Jackson gesehen. Er fährt morgen nach Klondike und hat sich bereit erklärt, uns jede Woche Briefe und Fotos zu senden. Ich ließ nicht locker, bis er es mir fest versprochen hatte. Und das beste ist, daß es uns nicht einen Heller kostet.«

 

Als Kid am selben Nachmittag in den Klub kam, hörte er wieder Neuigkeiten aus Klondike. In der Bibliothek traf er seinen Onkel.

 

»Tag, lieber Onkel«, grüßte Kid, ließ sich in einen Ledersessel fallen und streckte die Beine aus. »Trinkst du ein Glas mit?«

 

Er bestellte sich einen Cocktail, während der Onkel sich mit dem dünnen einheimischen Landwein begnügte, den er stets trank.

 

Er betrachtete mit erbosten und mißbilligenden Blicken erst den Cocktail und dann das Gesicht des Neffen. Kid merkte, daß sich ein Gewitter vorbereitete.

 

»Ich habe leider nur wenige Minuten Zeit«, sagte er schnell. »Ich muß noch etwas besorgen und mir auch die Keith-Ausstellung bei Ellery angucken und eine halbe Spalte darüber schreiben.«

 

»Was ist eigentlich mit dir los?« fragte der andere. »Du bist ja ganz blaß. Das reine Wrack.«

 

Kid antwortete nur mit einem Seufzer.

 

»Ich werde noch das Vergnügen haben, dich zu begraben, sehe ich schon.«

 

Kid schüttelte traurig den Kopf. »Ich will nichts mit den Würmern zu tun haben. Für mich Verbrennung!«

 

John Bellew gehörte zu der eisernen, abgehärteten Generation, die in den Fünfzigern mit ihrem Ochsengespann über die Prärie gezogen war. Er besaß noch die Härte dieser Männer, und eine strenge Kindheit, während der Eroberung des neuen Landes, hatte ihn noch härter gemacht.

 

»Du führst auch kein vernünftiges Leben, Christoffer«, sagte er. »Ich schäme mich deiner.«

 

»Weil ich den Blumenpfad des Lasters schreite, meinst du?« kicherte Kid.

 

Der alte Mann zuckte die Achseln.

 

»Schüttle nicht deine blutbesudelten Locken, lieber Onkel. Ich möchte, ich schritte den Blumenpfad. Aber das ist alles schon vorbei. Ich habe einfach keine Zeit mehr.«

 

»Was ist es denn?«

 

»Überanstrengung.«

 

John Bellew lachte barsch und ungläubig.

 

»Wahrhaftig.«

 

Wieder lachte er.

 

»Wir Menschen sind das Resultat unserer Umgebung«, erklärte Kid feierlich und wies auf das Glas des anderen. »Deine Heiterkeit ist dünn und herb wie dein Getränk.«

 

»Überanstrengung!« höhnte der Onkel. »Du hast ja noch nie in deinem Leben einen Heller durch Arbeit verdient.«

 

»Du kannst schwören, daß ich es getan habe… ich bekomme nur das Geld nie. Augenblicklich verdiene ich sogar fünfhundert Dollar die Woche und leiste die Arbeit von vier Männern.«

 

»Bilder, die du nicht verkaufen kannst? Oder… oder… hm… sonst etwas Verrücktes? Kannst du schwimmen?«

 

»Ich habe es jedenfalls gekonnt.«

 

»Auf einem Pferderücken sitzen?«

 

»Hab‘ ich mehrmals ausprobiert…«

 

John Bellew rümpfte mißbilligend die Nase.

 

»Es freut mich, daß dein Vater nicht erlebt hat, dich im Glanz deiner Verderbtheit zu sehen«, sagte er. »Dein Vater war ein Mann, jeder Zoll ein Mann! Verstehst du, was das heißt? Ein Mann… Ich glaube, er hätte den ganzen künstlerischen und musikalischen Blödsinn aus dir herausgepeitscht.«

 

»Ach ja, unsere verderbte, heruntergekommene Zeit«, seufzte Kid.

 

»Ich könnte es noch verstehen und dulden«, fuhr der andere grimmig fort, »wenn du wenigstens Erfolg damit erzieltest. Aber du hast noch nie in deinem Leben einen Heller verdient und nicht ein Lot anständiger Männerarbeit geleistet.«

 

»Radierungen, Gemälde und Fächer«, bemerkte Kid in einer Weise, die nicht gerade besänftigend wirkte.

 

»Du bist ein Pfuscher und ein mißratenes Subjekt. Was für Bilder hast du denn gemalt? Verrückte Aquarelle und Plakate, die die reinen bösen Träume sind. Du hast noch nie ein Bild ausgestellt – nicht ein einziges Mal hier in San Franzisko.«

 

»Oh, du vergißt ganz, daß ein Bild von mir sogar in den Festräumen dieses Klubs hängt.«

 

»Eine ganz plumpe Zeichnung. Und Musik? Deine liebe närrische Mutter hat dir Hunderte von Stunden geben lassen. Du bist nur ein Pfuscher und ein Taugenichts geworden. Du hast nie auch nur einen Fünfdollarschein durch Begleiten in einem Konzert verdienen können. Deine Lieder? Mist, der nie gedruckt worden ist und den nur das verdrehte Künstlergesindel singt und spielt.«

 

»Ich habe auch ein Buch veröffentlicht… die Sonette, du weißt doch«, unterbrach ihn Kid sehr bescheiden.

 

»Und was hast du dafür bezahlen müssen?«

 

»Nur ein paar hundert.«

 

»Und welche Taten hast du sonst vollbracht?«

 

»Man hat ein Stück von mir auf der Freilichtbühne aufgeführt.«

 

»Und was hast du damit verdient?«

 

»Ruhm.«

 

»Und du hast früher schon mal geschwommen und versucht, auf einem Pferderücken zu sitzen?« John Bellew stellte sein Glas mit ungewohnter Heftigkeit auf den Tisch. »Was bist du denn für ein Kerl? Du hast eine ausgezeichnete Erziehung genossen, aber selbst auf der Universität hast du nicht Fußball gespielt! Du hast nicht rudern gelernt… du hast nicht…«

 

»Ich habe boxen und auch fechten gelernt, doch immerhin etwas.«

 

»Wann hast du das letztemal geboxt?«

 

»Seit damals nicht… aber man hat mir immer gesagt, daß ich Zeit und Abstand gut zu schätzen verstände… nur fand man, daß… ich…«

 

»Nur weiter.«

 

»Nur, daß ich ein bißchen… launisch war…«

 

»Faul – meinst du wohl. Mein Vater, dein Großvater also, junger Mann, Isaac Bellew, tötete einen Mann mit einem Hieb seiner bloßen Faust, als er schon neunundsechzig Jahre alt war.«

 

Der andere fragte: »Wer? Der Mann?«

 

»Nein, dein Großvater, du gottverlassener Lump… aber du wirst nicht einmal mehr eine Mücke töten können, wenn du neunundsechzig bist.«

 

»Die Zeiten haben sich eben geändert, lieber Onkel. Heute steckt man einen Mann ins Zuchthaus, wenn er jemanden tötet.«

 

Er lächelte überlegen.

 

»Dein Vater hat einen Ritt von hundertfünfundachtzig Meilen gemacht, ohne zu schlafen, und hat dabei drei Pferde zuschanden geritten.«

 

»Hätte er heute noch gelebt, so wäre er im Pullman gefahren und hätte über der Kursliste geschnarcht.«

 

Der alte Herr platzte fast vor Wut, aber er schluckte seinen Zorn hinunter, und es gelang ihm, zu fragen: »Wie alt bist du eigentlich?«

 

»Ich habe Grund zu glauben, daß ich…«

 

»Weiß schon. Siebenundzwanzig. Mit Zweiundzwanzig warst du mit der Universität fertig. Fünf Jahre hast du gepfuscht und Kinkerlitzchen und Dummheiten gemacht. Und was bist du heute wert? Als ich in deinem Alter war, hatte ich nur eine Garnitur Unterwäsche. Ich ritt mit dem Vieh in Colusa. Ich war hart wie Stahl und konnte auf dem bloßen Felsen schlafen. Ich lebte von Dörrfleisch und Bärenschinken. Ich bin in körperlicher Beziehung heute noch ein besserer Mann als du. Du wiegst über hundertfünfundsechzig Pfund. Ich kann dich noch heute zu Boden schlagen, dich mit meinen bloßen Fäusten verprügeln.«

 

»Man braucht eben kein Wunderkind an Körperkraft zu sein, um einen Cocktail oder eine Tasse Tee zu trinken«, murmelte Kid zu seiner Entschuldigung. »Siehst du denn nicht ein, lieber Onkel, daß die Zeiten sich geändert haben? Außerdem bin ich vielleicht auch nicht in der richtigen Weise erzogen. Meine liebe närrische Mutter…«

 

John Bellew sah ihn zornig an.

 

»… war, wie du ja soeben sagtest, zu gut zu mir. Sie packte mich in Watte ein. Na, und wenn ich damals, als ich noch ein Jüngling war, an diesen besonders männlichen Ferienausflügen, für die du dich einsetzt, teilgenommen hätte… ja, ich frage mich, warum in aller Welt hast du mich denn nie dazu eingeladen? Du hast Hal und Robbie über die Sierras und nach Mexiko mitgenommen.«

 

»Ich glaubte, du fühltest dich zu sehr als der junge Lord Fauntleroy.«

 

»Das ist dein Fehler, lieber Onkel… und der Fehler meiner lieben… hm… lieben Mutter. Wie sollte ich wissen, was es hieß, hart zu sein? Ich war immer nur das verwöhnte Mutterkind. Was blieb mir übrig, als Radierungen und ähnliches zu machen? Ist es mein Fehler, daß ich nie schwitzen gelernt habe?«

 

Der Ältere betrachtete seinen Neffen mit unverhohlenem Unwillen. Er war nicht imstande, diese leichtfertige Sprache eines Schwächlings mit Nachsicht anzuhören.

 

»Nun, ich bin jetzt eben im Begriff, einen von diesen besonders männlichen Ferienausflügen – wie du sie nennst – zu unternehmen«, sagte er. »Was würdest du sagen, wenn ich dich einlüde mitzukommen?«

 

»Du kommst leider zu spät. Wohin geht es denn?«

 

»Hal und Robert wollen nach Klondike gehen, ich fahre mit, um zu sehen, wie sie über den Paß nach den Seen hinunterkommen, und kehre dann zurück…«

 

Er kam nicht weiter, denn der junge Mann war aufgesprungen und hatte seine Hand ergriffen.

 

»Mein Retter!«

 

John Bellew wurde sofort mißtrauisch. Er hatte sich keinen Augenblick träumen lassen, daß seine Einladung angenommen würde.

 

»Es ist ja gar nicht dein Ernst«, sagte er.

 

»Wann fahren wir ab?«

 

»Es wird eine schwere Reise werden. Du wirst uns nur im Wege sein.«

 

»Nein, das werde ich nicht. Ich will auch arbeiten. Seit ich bei der Woge bin, weiß ich, was arbeiten heißt.«

 

»Jeder muß Lebensmittel für ein ganzes Jahr tragen. Der Zustrom wird so groß werden, daß die indianischen Träger nicht imstande sein werden, die Arbeit zu bewältigen. Hal und Robert werden ihre Ausrüstung selbst schleppen müssen. Das ist auch der Grund, warum ich mitgehe: um ihnen behilflich zu sein, das Gepäck zu tragen. Wenn du mitkommst, mußt du es also ebenso machen!«

 

»Zerbrich dir nicht den Kopf!«

 

»Du kannst ja nichts schleppen.«

 

»Wann fahren wir ab?«

 

»Morgen.«

 

»Du brauchst dir nicht einzubilden, daß deine Predigt schuld daran ist«, sagte Kid, als er Abschied nahm. »Ich mußte sowieso fort von O’Hara… irgendwie und irgendwohin.«

 

»Wer ist O’Hara? Ein Japaner?«

 

»Nein – ein Irländer und ein richtiger Sklaventreiber und dazu mein bester Freund. Er ist Schriftleiter, Besitzer und in jeder Beziehung der große Tyrann der Woge. Was er sagt, geschieht. Selbst Gespenster tanzen nach seiner Pfeife.«

 

Am selben Abend schrieb Kid Bellew einen Zettel an O’Hara.

 

»Es handelt sich nur um einen Urlaub von einigen Wochen«, erklärte er. »Du mußt sehen, irgendeinen gutmütigen Esel zu finden, der ein paar Fortsetzungen unserer Erzählungen fertigbringen kann. Du tust mir ja leid, alter Freund, aber meine Gesundheit macht die Sache notwendig. Wenn ich wieder da bin, kann ich sicher doppelt so kräftig schuften.«

 

 

 

Eine tolle Verwirrung herrschte am Strande von Dyea, wo Kid Bellew an Land ging. Ausrüstungen, die mehr als tausend Männern gehörten, lagen hier im Gewicht von vielen Tonnen aufgestapelt. Diese ungeheuren Mengen von Gepäck und Nahrungsmitteln, die von den Dampfern haufenweise an Land geworfen wurden, begannen jetzt langsam durch das Dyea-Tal und über den Chilcoot weiterzuwandern. Es waren nicht weniger als zwanzig Meilen, die man die Waren transportieren mußte – und es war nur auf Männerrücken möglich. Obgleich die indianischen Träger den Frachtpreis bereits von fünf auf vierzig Cent per Pfund getrieben hatten, konnten sie die Arbeit doch nicht bewältigen. Und man war sich schon darüber klar, daß der Winter den größten Teil dieser Ausrüstungen noch diesseits der Grenzpässe einholen würde.

 

Der grünste von allen Grünschnäbeln war Kid. Wie so viele hundert andere trug auch er einen schweren Revolver, der an einem Patronengürtel hing. Sein Onkel, der mit Erinnerungen an die alten gesetzlosen Tage erfüllt war, tat freilich dasselbe. Aber Kid Bellew war ein romantischer Träumer. Es war von dem Rauschen und Glitzern des Goldstroms verzaubert und sah das ganze Leben und Tosen mit den Augen des Künstlers. Er nahm es gar nicht ernst. Wie er auf dem Dampfer gesagt hatte, wollte er ja nicht sein ganzes Leben dort verbringen – es handelte sich nur um einen Ferienaufenthalt, und er hatte lediglich die Absicht, einen kurzen Blick über die Pässe zu werfen, um »einen Eindruck zu erhalten« und dann wieder umzukehren.

 

Er verließ seine Begleiter, die im Sand liegenblieben, wo sie warten wollten, bis ihr Gepäck an Land gebracht wurde, und schlenderte den Strand entlang bis zu der alten Handelsstation. Er ging nicht prahlerisch und breitspurig, obgleich er sah, daß viele von den mit Revolvern bewehrten Männern es taten. Ein gewaltiger, zwei Meter langer Indianer, der eine ungewöhnlich große Last auf dem Buckel trug, überholte ihn. Kid folgte ihm. Er betrachtete voller Bewunderung die kräftigen Waden des Indianers und die Anmut und Leichtfüßigkeit, womit er sich trotz der schweren Bürde bewegte. Der Indianer ließ seine Last auf die Treppenstufen vor dem Stationsgebäude gleiten, und Kid schloß sich der Gruppe von Goldsuchern an, die den Indianer bewundernd umringten. Das Bündel hatte ein Gewicht von hundertzwanzig Pfund, und diese Tatsache wurde von allen Seiten in ehrfurchtsvollem Ton besprochen. Das ist allerhand, dachte Kid, und er fragte sich, ob er überhaupt ein solches Gewicht heben, gar nicht davon zu reden, ob er es tragen könne.

 

»Gehen Sie damit zum Linderman-See, alter Freund?« fragte er.

 

Der Indianer, der vor Stolz ganz aufgeblasen war, grunzte bestätigend.

 

»Wieviel nehmen Sie für so ein Bündel?«

 

»Fünfzig Dollar.«

 

Aber jetzt erregte etwas anderes die Aufmerksamkeit Kids. Er bemerkte nämlich eine junge Frau, die in der Tür des Stationsgebäudes stand. Im Gegensatz zu den meisten Frauen, die von den Dampfern an Land gesetzt wurden, trug sie weder kurze Röcke noch Hosen. Sie war gekleidet, wie jede andere Frau sich auf Reisen kleiden würde. Was ihn überraschte, war das Gefühl, wie selbstverständlich ihm ihre Anwesenheit hier vorkam. Sie schien ihm irgendwie hierher zu gehören. Außerdem war sie jung und hübsch. Die strahlende, helle Schönheit ihres ovalen Gesichts fesselte ihn, und er starrte sie länger an, als die Höflichkeit eigentlich erlaubte, starrte sie so lange an, bis sie es unwillig bemerkte und ihn mit ihren dunklen, sich hinter langen Wimpern bergenden Augen kühl und kritisch betrachtete. Von seinem Gesicht glitt ihr Blick dann, sichtlich erheitert, zu dem schweren Revolver an seiner Hüfte. Wieder kehrte ihr Blick zu seinen Augen zurück, und Kid las darin spöttische Geringschätzung. Er hatte die Empfindung, als ob sie ihn geschlagen hätte. Sie wandte sich indessen ruhig zu einem Mann, der neben ihr stand, und machte ihn auf Kid aufmerksam. Der Mann betrachtete ihn mit demselben heiteren Spott.

 

»Chechaquo«, sagte das Mädchen.

 

Der Mann, der in seinen billigen Überziehhosen und der mitgenommenen Jacke wie ein Vagabund aussah, grinste trocken, und Kid fühlte sich ganz vernichtet, obgleich er nicht wußte, warum. Aber sie war auf jeden Fall ein hübsches Mädchen, wie er feststellte, als die beiden sich entfernten. Ihm fiel ihr Gang auf, und er fällte das endgültige Urteil, daß er sie selbst nach tausend Jahren wiedererkennen würde.

 

»Sehen Sie den Mann mit dem jungen Mädchen drüben?« fragte ganz aufgeregt der Kid am nächsten Stehende. »Wissen Sie, wer das ist?«

 

Kid schüttelte den Kopf.

 

»Das ist Charibo Charley. Er wurde mir eben gezeigt. Er hat Dusel gehabt in Klondike. Gehört zu den Alten hier. War schon zwölf Jahre am Yukon. Jetzt ist er eben angekommen.«

 

»Was bedeutet Chechaquo?« fragte Kid.

 

»Sie sind einer, und ich auch«, lautete die Antwort.

 

»Mag sein, aber deshalb weiß ich ja nicht, was es ist. Also was bedeutet es?«

 

»Grünschnabel.«

 

Auf dem Rückwege zum Strand dachte Kid immer wieder darüber nach. Es wurmte ihn, von einem solchen Mädelchen »Grünschnabel« genannt zu werden.

 

Den Kopf noch ganz voll von dem Bilde des Indianers, der das riesige Bündel getragen hatte, trat Kid an die Ecke eines Güterhaufens, um einen Versuch zu machen, seine eigene Kraft zu erproben. Er wählte einen Mehlsack, von dem er wußte, daß er genau hundert Pfund wog. Er stellte sich breitbeinig über den Sack, bückte sich und versuchte ihn auf die Schulter zu heben. Sein erster Gedanke war, daß hundert Pfund immerhin ein ansehnliches Gewicht, der nächste, daß sein Rücken nicht sehr kräftig sei. Dann schloß er seine Gedankenreihe mit einem Fluch, nachdem er sich fünf Minuten vergeblich bemüht hatte, und schließlich fiel er auf den Sack hin.

 

Er wischte sich die Stirn, als er John Bellew bemerkte, der ihn über einen Haufen Proviantsäcke hinweg mit kaltem Spott anblickte.

 

»Gott im Himmel«, rief der Apostel der Abhärtung. »Aus unsern Lenden ist ein Geschlecht von Weichlingen geboren. Als ich sechzehn Jahre alt war, spielte ich mit solchen Dingern.«

 

»Du vergißt, lieber Onkel«, antwortete Kid, »daß ich nicht mit Bärenfleisch aufgefüttert worden bin.«

 

»Und ich werde noch mit den Dingern spielen, wenn ich sechzig bin.«

 

»Es wäre nett, wenn du mir zeigen würdest, wie man es macht.«

 

John Bellew tat es. Er war achtundvierzig, aber er bückte sich über den Sack, packte ihn, änderte seinen Griff, so daß er das Gleichgewicht fand, und warf sich mit einem schnellen Schwung den Sack über die Schulter. Dann stand er aufrecht da.

 

»Ein Dreh, mein Junge, nur ein Dreh… und dazu ein kräftiges Rückgrat!«

 

Kid nahm ehrfürchtig den Hut ab.

 

»Du bist das reinste Wunder, Onkel, ein weithin leuchtendes Wunder. Glaubst du, daß ich den Dreh auch herauskriege?«

 

John Bellew zuckte die Achseln. »Du? Du wirst nach Hause trotten, ehe wir überhaupt losgehen.«

 

»Keine Angst, lieber Onkel«, seufzte Kid. »Zu Hause wartet O’Hara wie ein brüllender Löwe auf mich! Ich kehre erst um, wenn ich muß.«

 

Kids erster Gang als Träger wurde ein Erfolg. Es war ihnen gelungen, Indianer zu dingen, um die ganze Ausrüstung von zweitausendvierhundert Pfund bis zu Finnegans‘ Kreuzweg zu schleppen. Von dort aus mußten sie das Gepäck selbst auf den Buckel nehmen. Sie hatten gedacht, eine Meile täglich zu machen… Auf dem Papier sah die ganze Sache auch leicht genug aus. Da John Bellew im Lager bleiben und das Essen kochen sollte, konnte er nur hin und wieder beim Tragen behilflich sein – die jungen Männer mußten also täglich je achthundert Pfund eine Meile weit schleppen. Wenn sie das Gepäck auf Bündel von fünfzig Pfund verteilten, hieß das, daß sie täglich sechzehn Meilen voll beladen und fünfzehn Meilen ohne Last laufen mußten, »denn das letztemal brauchen wir ja nicht wieder zurückzugehen«, sagte Kid, als er diese angenehme Entdeckung machte. Wenn sie die Bündel achtzig Pfund schwer machten, brauchten sie nur neunzehn Meilen und mit Bündeln von je hundert Pfund sogar nur fünfzehn Meilen täglich zu laufen.

 

»Ich liebe das viele Laufen nicht«, sagte Kid. »Ich werde also jedesmal hundert Pfund tragen.« Er bemerkte ein ungläubiges Grinsen auf dem Gesicht des Onkels und fügte deshalb schnell hinzu: »Selbstverständlich werde ich es erst allmählich dahin bringen. Ein junger Bursche muß erst all die verschiedenen Drehs und Kniffe kennenlernen. Ich werde mit fünfzig anfangen.«

 

Er tat, wie er es gesagt hatte, und machte sich heiter auf den Weg. Er warf den Sack auf dem nächsten Lagerplatz ab und spazierte zurück. Die Sache war leichter, als er es sich gedacht hatte. Aber die zwei Meilen hatten immerhin die dünne Schicht von Ausdauer abgeschält und die Weichlichkeit, die darunterlag, bloßgelegt. Sein nächstes Bündel wog bereits fünfundsechzig Pfund. Es fiel ihm schon bedeutend schwerer, und er spazierte nicht mehr so flott daher. Er tat wie alle anderen, die ihr Gepäck trugen, und setzte sich hin und wieder auf den Boden, um sein Bündel gegen einen großen Stein oder einen Baumstumpf zu stützen. Als er das dritte Bündel nehmen sollte, war er schon ganz übermütig geworden. Er legte die Traggurte um einen Bohnensack von fünfundneunzig Pfund und marschierte los damit. Er war kaum hundert Schritt weit gekommen, als er schon fühlte, daß er am Zusammenbrechen war. Er setzte sich deshalb und wischte sich den Schweiß vom Gesicht.

 

»Kurzes Schleppen und kurze Pausen«, murmelte er vor sich hin. »Darin besteht der ganze Dreh.«

 

Zuweilen gelang es ihm kaum, hundert Schritt zu laufen, und jedesmal, wenn er mit unendlicher Mühe wieder auf die Füße gekommen war, um ein kleines Stück weiter zu schleppen, war das Bündel unleugbar schwerer geworden. Er schnappte nach Luft, und der Schweiß rann ihm in Strömen über den ganzen Körper. Er hatte noch keine Viertelmeile zurückgelegt, als er sich schon die wollene Jacke auszog und sie an einen Baum hängte. Bald darauf trennte er sich von seinem Hut. Als er die halbe Meile hinter sich hatte, war er sich darüber klar, daß er erledigt war.

 

Noch nie in seinem Leben hatte er in dieser Weise geschuftet, und er verschwieg sich durchaus nicht, daß er überhaupt nicht weiterkonnte. Wie er keuchend dasaß, fiel sein Blick zufällig auf den großen Revolver und den schweren Patronengürtel.

 

»Zehn Pfund überflüssigen Krams«, knurrte er und schnallte ihn ab.

 

Er gab sich nicht einmal die Mühe, die Sachen an einen Baum zu hängen, sondern schleuderte sie ins Gebüsch. Und als er die Gepäckträger beobachtete, die in einem stetigen Strom auf ihrem Wege hin und zurück an ihm vorüberglitten, stellte er fest, daß die andern Grünschnäbel ebenfalls begannen, ihre Schießeisen wegzuwerfen.

 

Seine kurzen Wege wurden indessen immer noch kürzer. Zuweilen konnte er nicht mehr als hundert Fuß bewältigen – dann zwangen ihn das verhängnisvolle Herzklopfen, das er schmerzhaft in den Ohren vernahm, und die widerliche Schwäche in seinen Knien zu einer neuen Ruhepause. Und diese Pausen wurden länger und länger. Seine Gedanken arbeiteten indessen unermüdlich weiter. Es handelte sich alles in allem um einen Transport von achtundzwanzig Meilen, was also eine Arbeit von ebenso vielen Tagen bedeutete. Dazu kam, daß dieser Abschnitt – nach dem, was alle sagten – unbedingt der leichteste des ganzen Weges war.

 

»Warten Sie nur, bis Sie zum Chilcoot kommen«, erzählten einige, die neben ihm saßen und sich mit ihm unterhielten, »dort werden Sie auf allen vieren kriechen müssen.«

 

»Es wird überhaupt keinen Chilcoot geben«, lautete seine Antwort. »Jedenfalls nicht für mich. Ehe wir soweit sind, werde ich längst in aller Ruhe in meinem kleinen Bett unter dem Rasen liegen.«

 

Ein Straucheln – und die ungeheure Anstrengung, die er machen mußte, um wieder auf die Beine zu kommen, erfüllten ihn mit Angst. Er hatte die Empfindung, als ob sein ganzes Innere in Fetzen zerrissen war.

 

»Wenn ich mit diesem Bündel auf dem Buckel stürze, bin ich ein für allemal erledigt«, sagte er zu einem anderen, der auch ein Bündel schleppte.

 

»Das ist noch gar nichts«, lautete die Antwort. »Warte nur, bis du zum Cañon kommst. Da wirst du einen reißenden Strom auf einem sechzig Fuß langen Fichtenstamm überqueren müssen. Da gibt’s kein Geländer, gar nichts, und in der Mitte, wo der Stamm sich biegt, reicht dir das Wasser bis zu den Knien. Wenn du mit deinem Bündel auf dem Buckel da ‚runterfällst, kommst du nicht mehr aus den Traggurten heraus. Du bleibst drin und versäufst.«

 

»Schöne Aussichten«, erwiderte er. Und aus dem Abgrund einer völligen Erschöpfung heraus meinte er es beinahe buchstäblich.

 

»Da versaufen täglich drei oder vier Mann«, versicherte der andere. »Neulich war ich selbst mit dabei. Wir fischten einen Schweden heraus. Er hatte viertausend Dollar in schönen Scheinen bei sich.«

 

»Wirklich sehr ermutigend«, meinte Kid, während er sich mühsam aufraffte und weiterwankte.

 

Er und sein Bohnensack wurden allmählich zu einer wandernden Tragödie. Unwillkürlich erinnerte er sich des Märchens von dem alten Mann auf dem Rücken Sindbad des Seefahrers. – Das ist also so ein besonders männliches Ferienvergnügen, dachte er. Im Vergleich mit dieser Schufterei war selbst die Sklavenarbeit bei O’Hara süß und angenehm. Immer wieder wollte er der Versuchung nachgeben, den verfluchten Sack im Gebüsch liegenzulassen, in das Lager zu schlüpfen und in aller Stille mit einem Dampfer in zivilisiertere Gegenden zurückzukehren.

 

Aber er tat es nicht. Irgendwo in ihm erklang eine harte Saite, und ein Mal über das andere wiederholte er sich, daß, was andere Männer konnten, auch er können müßte. Der Transport gestaltete sich für ihn zu einem wahren Alpdruck, und er klagte jedem, der ihn unterwegs überholte, sein Leid. In anderen Augenblicken beobachtete er, wenn er sich ausruhte, die stumpfsinnigen Indianer, die unter ihren viel schwereren Lasten so leicht und sicher wie die Maultiere dahintrotteten, und er beneidete sie. Sie schienen nie zu ruhen, sondern gingen hin und zurück mit einer Ausdauer und einer Regelmäßigkeit, die ihn verblüfften.

 

Er saß da und fluchte – solange er schleppte, hatte er nicht Luft genug, um es zu können -, während er einen verzweifelten Kampf mit der Versuchung ausfocht, sich nach Franzisko zurückzuschleichen. Bevor er seine Meile mit dem Bündel gewandert war, hatte er indessen schon aufgehört zu fluchen und begann statt dessen zu heulen. Die Tränen, die ihm über die Wangen liefen, waren Tränen der Erschöpfung und der Selbstverachtung. Wenn je ein Mann ein Wrack war, so war er es. Als das Ziel des Transports in Sicht kam, nahm er sich mit der Kraft der Verzweiflung zusammen, erreichte den Lagerplatz und schlug, so lang er war, mit dem Bündel auf dem Rücken hin. Er starb nicht, aber er blieb immerhin eine Viertelstunde liegen, ehe er so viel Energie zusammengerafft hatte, daß er sich von den Traggurten befreien konnte. Dann wurde ihm tödlich übel, und in diesem Zustand fand ihn Robbie, dem es genauso ging wie ihm. Eigentlich war es Robbies jämmerlicher Zustand, der ihn bewog, sich zusammenzunehmen.

 

»Was andere Männer können, können wir auch«, sagte Kid zu ihm. In seinem Innersten wußte er freilich nicht recht, ob er dabei aufschnitt oder nicht.

 

»Und ich bin erst siebenundzwanzig Jahre alt und ein Mann«, wiederholte er sich immer und immer wieder in den folgenden Tagen. Er hatte es aber auch wirklich nötig. Denn am Ende der Woche war es ihm zwar gelungen, seine achthundert Pfund täglich um eine Meile weiterzuschleppen, aber dabei hatte er von seinem eigenen Gewicht fünfzehn Pfund verloren. Sein Gesicht war mager und ausgemergelt geworden. Alle Spannkraft war aus seinem Körper und seiner Seele verschwunden. Er spazierte nicht länger, er schleppte sich mühevoll dahin. Und wenn er ohne Last zum Lager zurückging, zog er die Füße schlurfend nach, ganz, als wenn er seine Last trüge.

 

Er war ein richtiges Arbeitstier geworden. Beim Essen nickte er ein, und sein Schlaf war tief und tierisch mit Ausnahme der Augenblicke, da Krämpfe in den Beinen ihn wach hielten und er vor Schmerz laut aufschrie. Sein ganzer Körper war wund und schmerzte. Er hatte Blasen, die nicht verschwinden wollten, und doch war selbst das noch leichter zu ertragen als die furchtbaren Quetschungen, die er sich an den Füßen holte, als er über die vom Wasser scharfgeschliffenen Klippen der Dyea-Watten wandern mußte, durch die der Weg zwei Meilen weit führte. Diese beiden Meilen entsprachen in Wirklichkeit achtunddreißig Meilen gewöhnlichen Wanderns auf glattem Wege. Er wusch sich jetzt nur einmal täglich das Gesicht. Seine Nägel waren zerrissen, abgebrochen und voller Niednägel, und er reinigte sie überhaupt nicht mehr. Seine Schultern und seine Brust, deren Haut von den Traggurten abgescheuert wurde, ließen ihn zum erstenmal in seinem Leben mit Ehrfurcht und Verständnis an die Pferde denken, die er so oft gleichgültig in den Straßen der Städte gesehen hatte.

 

Eine Prüfung, die ihn zuerst fast ganz vernichtet hätte, bedeutete das Essen. Die ungewohnte Schufterei, die ihm hier auferlegt wurde, erforderte natürlich auch eine außergewöhnliche Heizung unter dem Kessel, aber sein Magen war nicht an die großen Mengen von Speck und die groben, sehr schwer verdaulichen braunen Bohnen gewöhnt. Die Folge war, daß er sich dagegen auflehnte und daß Kid vor Schmerzen und Ärger und auch vor Hunger nahe daran war zusammenzubrechen. Bis endlich der glückliche Tag kam, an dem er wie ein ausgehungertes Tier aß und sogar mit gierigen Wolfsaugen immer mehr verlangte.

 

Als sie die Ausrüstung über die schmale Brücke am Eingang des Cañons geschafft hatten, änderten sie ihre Pläne. Von jenseits des Passes kam das Gerücht, daß man die letzten Bäume am Linderman-See fällte, um Boote daraus zu verfertigen. Die beiden Vettern gingen mit Werkzeug, Bandsägen, Decken und Lebensmitteln auf dem Buckel los und überließen es Kid und seinem Onkel, sich mit dem gesamten Gepäck abzuquälen. John Bellew teilte sich jetzt mit Kid in das Kochen, so daß sie beide Schulter an Schulter schleppen konnten. Die Zeit verging schnell, und in den Bergen begann schon der erste Schnee zu fallen. Der Ältere nahm hundert Pfund auf seinen eisernen Rücken. Kid bekam einen Schrecken, aber er biß die Zähne zusammen und legte seine Traggurte ebenfalls um ein zentnerschweres Bündel. Angenehm war es nicht, aber er hatte den Dreh schon heraus, und außerdem war sein Körper jetzt von aller Weichlichkeit und vom überflüssigen Fett befreit und abgehärtet, und die Muskeln wurden eckig und hart. Er verstand auch zu beobachten und nachzudenken. Er hatte die Kopfriemen der Indianer gesehen und verfertigte sich jetzt selbst einen, den er in Verbindung mit den gewöhnlichen Schultergurten gebrauchen wollte. Das erleichterte die Arbeit wesentlich, so daß er allmählich begann, einige nicht zu schwere, sonst lästige Gegenstände oben auf das Bündel zu legen. Dadurch wurde es ihm bald möglich, nicht nur die hundert Pfund in den Traggurten zu schleppen, sondern noch weitere fünfzehn oder zwanzig Pfund, die er dicht am Halse lose auf das Bündel legte. Und zu alledem trug er noch eine Axt oder ein paar Riemen in der einen und einige ineinandergestülpte Kochtöpfe in der andern Hand.

 

Aber so fleißig sie auch schufteten – die Arbeit wurde immer schwieriger. Der Weg wurde schlechter und schlechter, die Lasten schwerer und schwerer, und mit jedem Tage rückte die Schneegrenze um ein kleines Stückchen weiter bergab. Gleichzeitig schnellten die Frachtpreise bis sechzig Cent empor. Von den Vettern auf der anderen Seite hörten sie kein Wort; die waren sicher schon an der Arbeit, Bäume zu fällen und sie zu Bootsplanken zu zersägen. Allmählich wurde John Bellew jedoch ängstlich. Als ein Haufen Indianer vom Linderman-See zurückkehrte, hielt er sie an, und es gelang ihm, sie zu überreden, die Ausrüstung weiterzutransportieren. Sie forderten nicht weniger als dreißig Cent, um das Gepäck bis auf die Paßhöhe des Chilcoot zu bringen, was John Bellew an den Rand der Pleite brachte.

 

Aber selbst da blieben noch gut vierhundert Pfund – Säcke mit Kleidern und Zeltbahnen – übrig, die sie nicht mitnehmen konnten. Der Alte blieb deshalb selbst zurück, um diese Sachen weiterzuschaffen, während er Kid mit den Indianern vorausschickte.

 

Auf der Paßhöhe sollte Kid dann allein bleiben und seine zwanzig Zentner Gepäck langsam weiterschieben, bis er von den vierhundert Pfund, die sein Onkel zu transportieren versprach, eingeholt wurde.

 

Mühselig schleppte sich Kid mit den Indianern weiter. Da es sich um einen sehr weiten Weg handelte, nämlich ganz bis zur Paßhöhe des Chilcoot, hatte er sich vernünftigerweise nur mit achtzig Pfund beladen. Die Indianer gingen ebenfalls mühsam mit den schweren Lasten auf dem Rücken, aber ihr Gang war schneller als der, welchen er gewohnt war. Dennoch befürchtete er nichts, denn er war allmählich soweit gekommen, daß er sich als ebenso tüchtig wie die Indianer betrachtete.

 

Als die erste Viertelmeile zurückgelegt war, hoffte er, daß sie eine Ruhepause machen würden. Aber die Indianer gingen weiter. Er blieb deshalb bei ihnen und hielt sich auf seinem Platz in der Reihe. Als sie eine halbe Meile gegangen waren, war er überzeugt, daß er keinen Schritt weitergehen konnte, aber er biß die Zähne zusammen und hielt sich immer noch auf seinem Platz. Als aber eine ganze Meile hinter ihm lag, wunderte er sich, daß er noch am Leben war. Dann trat der eigentümliche Zustand ein, den man als »zweites Stadium« bezeichnen könnte: die nächste Meile war viel leichter als die erste. Aber die dritte tötete ihn fast. Obgleich er jedoch beinahe verrückt vor Schmerz und Müdigkeit war, ließ er keinen Klagelaut hören. Und als er schließlich feststellte, daß er jetzt bald vollkommen versagen mußte, kam die Rast. Aber statt die Gurte umzubehalten, wie die weißen Träger es taten, nahmen die Indianer Schulter- und Kopfriemen ab und machten es sich bequem, schwatzten und rauchten.

 

Es dauerte eine halbe Stunde, bevor sie weitergingen, und zu Kids größtem Befremden fühlte er sich völlig frisch und erholt. Sein neuester Leitspruch war deshalb von jetzt an: langes Schleppen und langes Rasten. Die Paßhöhe des Chilcoot entsprach genau den Schilderungen, die man ihm gemacht hatte. Es gab mehrere Stellen, wo er tatsächlich auf allen vieren klettern und kriechen mußte. Als er aber in einem stiebenden Schneesturm die Höhe erreichte, hielt er sich trotz allem immer noch auf seinem Platz unter den Indianern. In der Tiefe seines Herzens war er auch sehr stolz darauf, daß er ihnen die Stange gehalten und sich weder beklagt noch schlappgemacht hatte. Fast ebenso gut wie ein Indianer zu sein – das war jetzt das Ziel seines Ehrgeizes geworden.

 

Als er die Indianer entlohnt hatte und sie weggehen sah, wurde es dunkel. Der Sturm wehte noch immer, und er war ganz allein hier oben, tausend Fuß über der Baumgrenze, auf der Höhe des Bergrückens.

 

Sein ganzer Oberkörper war durchnäßt, er war hungrig und erschöpft, und er hätte die Einnahmen eines ganzen Jahres für ein Feuer und eine Tasse heißen Kaffees gegeben. Statt dessen mußte er sich mit einigen kalten Eierkuchen begnügen; dann kroch er in die Falten einer zusammengelegten Zeltbahn hinein. Bevor er einnickte, hatte er nur noch Zeit, John Bellew einen flüchtigen Gedanken zu opfern, und er lachte schadenfroh vor sich hin, als er sich ausmalte, wie der die folgenden Tage zu tun haben mußte, um die vierhundert Pfund auf seinem männlichen Buckel bis zur Paßhöhe des Chilcoot zu schleppen. Er selbst hatte freilich zweitausend Pfund zu schleppen, aber sein Weg ging doch bergab.

 

Am nächsten Morgen war er noch ganz steif vor Müdigkeit und halb erstarrt vor Kälte, als er aus den Falten der Zeltbahn kroch. Dann aß er etliche Pfund kalten Speck, legte seine Traggurte um einen Zentner Gepäck und marschierte den steinigen Weg bergab. Ein paar hundert Schritte weiter hin führte der Weg über einen schmalen Gletscher zum Krater-See hinab. Mehrere Männer waren gerade dabei, ihr Gepäck über den Gletscher zu tragen.

 

Den ganzen Tag über legte Kid alles, was er herbeischleppte, am oberen Rande des Gletschers nieder, und da der Weg, den er zu gehen hatte, nur kurz war, lud er sich jedesmal hundertundfünfzig Pfund auf.

 

Sein Erstaunen, daß er hierzu imstande war, hielt sich unverändert auf derselben Höhe. Für zwei Dollar kaufte er einem Indianer drei steinharte Schiffszwiebacke ab, und hieraus sowie aus einer ansehnlichen Menge rohen Specks bereitete er sich verschiedene Mahlzeiten. Ungewaschen, durchfroren und in Kleidern, die von seinem Schweiß ganz feucht waren, verbrachte er auch die zweite Nacht in den Falten seiner Zeltbahn.

 

Früh am nächsten Morgen breitete er eine Persenning auf dem Eis aus, lud einfach sein ganzes Gepäck darauf und begann sie zu ziehen. Als der Gletscherhang steiler wurde, begann seine Ladung schneller zu gleiten und überholte ihn sogar bald, so daß er sich auf das mächtige Bündel setzen mußte, das mit ihm weiter hinuntersauste.

 

Mehr als hundert Männer, die ihre Ausrüstung mühsam schleppten, blieben stehen, um ihm nachzusehen. Er stieß wilde Warnungsschreie aus, und alle, die ihm im Wege standen, sprangen erschrocken beiseite, um ihm schnell Platz zu machen.

 

Unten, wo der Gletscher aufhörte, stand ein kleines Zelt, und es sah aus, als ob es ihm entgegenliefe, so schnell rutschte er den Berg hinab. Er schwenkte von dem festgetretenen Wege ab, dem die Gepäckträger folgten und der nach links führte, und sauste durch den frisch gefallenen Schnee, der ihn wie eine eisige Wolke umstob, ihn aber gleichzeitig bremste.

 

Plötzlich sah er das Zelt wieder vor sich auftauchen, aber erst im selben Augenblick, als er dagegenflog. Er saß noch immer auf dem mächtigen Haufen von Lebensmitteln auf der Persenning, als er die Eckpflöcke umwarf und die vor dem Eingang hängende Zeltbahn beiseite riß. Er kam erst wieder zu sich, als er sich schon im Zelt befand, das wie ein Betrunkener hin und her schwankte. In dem eiskalten Dampf fand er sich plötzlich Angesicht zu Angesicht mit einer ziemlich verblüfften jungen Dame, die aufrecht in ihrem Bett saß und ihn anstarrte… und es war ausgerechnet dieselbe Dame, die ihn in Dyea einen Grünschnabel genannt hatte!

 

»Haben Sie gesehen, wie ich gesaust bin… wie der Sturm?« fragte er vergnügt.

 

Sie sah ihn mißbilligend an.

 

»Das hier ist was anderes als der Wunderteppich im Märchen«, erklärte er.

 

»Würden Sie vielleicht den Sack da von meinen Füßen wegnehmen?« fragte sie sehr kühl.

 

Er sah sie an und stand schnell auf. »Es war gar kein Sack – es war mein Ellenbogen. Verzeihen Sie bitte.«

 

Diese Berichtigung störte sie nicht im geringsten, und der kühle Empfang wirkte wie eine Herausforderung.

 

»Noch ein Glück, daß Sie nicht den Ofen umgeworfen haben«, sagte sie.

 

Er folgte ihrem Blick und bemerkte einen eisernen Ofen und darauf eine Kaffeekanne, die eine junge Indianerin überwachte.

 

Er sog den Kaffeegeruch ein und wandte sich wieder zu dem Mädchen.

 

»Ich bin ein Chechaquo«, sagte er.

 

Ihr gelangweilter Blick zeigte ihm, daß es offenbar überflüssig gewesen war, das in Worten festzustellen. Er war indessen nicht kleinzukriegen.

 

»Ich habe mein Schießeisen schon weggeworfen«, fügte er hinzu.

 

Jetzt erst erkannte sie ihn wieder, und ihre Augen wurden etwas lebhafter.

 

»Ich hätte nie gedacht, daß Sie so weit kommen würden«, teilte sie ihm freundlich mit.

 

Er sog wieder den Kaffeeduft ein, diesmal mit sichtbarer Gier.

 

»So wahr ich lebe… Kaffee!« Er drehte sich um und redete sie direkt an. »Ich gebe Ihnen meinen kleinen Finger, ich haue ihn mir auf der Stelle ab, ich tue, was Sie wollen, ich werde Ihr Sklave für ein Jahr und einen Tag sein oder für jeden anderen blöden Zeitraum, wenn Sie mir eine einzige winzige Tasse aus dem Pott da geben wollen.«

 

Und als sie beim Kaffee saßen, nannte er ihr seinen Namen und erfuhr den ihren. Joy Gastell hieß sie. Er erfuhr auch, daß sie zu den »Alten« im Lande gehörte. Sie war in einer alten Handelsstation am Großen Sklavensee zur Welt gekommen und als Kind mit ihrem Vater über die Rocky Mountains nach dem Yukon gegangen.

 

Jetzt war sie unterwegs ins Innere des Landes – mit ihrem Vater, der von Geschäften in Seattle aufgehalten, dann mit der unseligen »Chanter« verunglückt und von dem Dampfer, der ihnen zu Hilfe kam, wieder nach Puget Sund zurückgebracht worden war.

 

Da sie noch immer im Bett lag, zog er die Unterhaltung nicht in die Länge. Er lehnte heldenmütig eine zweite Tasse Kaffee ab und entfernte sich und seine dreiviertel Tonne Proviant aus dem Zelt.

 

Außerdem nahm er noch verschiedene Erkenntnisse von dort mit, zunächst die, daß sie einen bezaubernden Namen und ein Paar noch bezauberndere Augen hatte. Auch, daß sie höchstens zwanzig oder ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt sein konnte. Ferner, daß ihr Vater offenbar Franzose war und daß sie selbst einen energischen Willen und ein bemerkenswertes Temperament besaß. Und schließlich, daß sie ihre Erziehung jedenfalls nicht im Grenzland genossen hatte.

 

Der Weg führte über vom Eis glattgescheuerte Felsen oberhalb der Baumgrenze um den Krater-See herum bis zu dem Bergpaß, über den man Glückslager und die ersten verkrüppelten Fichtenbäume erreichte. Wenn Kid sein schweres Gepäck um den ganzen See herum schleppen mußte, bedeutete das mehrere Tage unbeschreiblich harten Schuftens.

 

Auf dem See lag freilich ein Boot aus Segelleinen, das als Fähre benutzt wurde. Zwei Fahrten damit, nur zwei Stunden im ganzen – und er war mit seinem Gepäck von zwanzig Zentnern Gewicht drüben. Aber er war vollkommen abgebrannt, und der Fährmann forderte vierzig Dollar für jede Tonne!

 

»Sie haben ja eine Goldmine in dem mistigen Boot, lieber Freund«, sagte er zu dem Fährmann. »Aber haben Sie nicht Lust auf noch eine Goldmine?«

 

»Zeigen Sie sie mir«, lautete die Antwort.

 

»Ich will sie Ihnen verkaufen, wenn Sie meine Ausrüstung übersetzen. Es ist freilich nur eine Idee, und ich habe kein Patent darauf, aber Sie können ja abspringen, wenn sie Ihnen nicht zusagt. Einverstanden?«

 

Der Fährmann nickte, und Kid fand sein Gesicht hinreichend vertrauenerweckend.

 

»Also hören Sie: Sie sehen die Gletscher da? Nehmen Sie jetzt eine Axt und gehen Sie damit hin. An einem Tage können Sie eine ganz ordentliche Rinne vom Gipfel bis zur Sohle machen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Die Vereinigten Rutschbahnen von Chilcoot und Krater-See, Aktiengesellschaft! Sie können fünfzig Cent je hundert Pfund verlangen und hundert Tonnen täglich schaffen… und Sie haben nichts anderes zu tun, als die Pinke in die Tasche zu stecken.«

 

Zwei Stunden später stand Kid schon mit seinem Gepäck auf der anderen Seite des Sees und war seinen Berechnungen um drei Tage voraus. Und als John Bellew ihn endlich einholte, war er schon ein gutes Stück nach dem »Tiefen See« unterwegs, der gleichfalls von einem mit Eiswasser gefüllten vulkanischen Krater gebildet wurde.

 

 

 

Das letzte Stück Weges, das sie den Proviant noch tragen mußten, nämlich vom »Langen See« bis zum Linderman-See, betrug nur drei Meilen. Aber der Weg (wenn man ihn überhaupt so nennen konnte) kletterte erst über einen tausend Fuß hohen Bergkamm, schlängelte sich dann durch ein Gewirr von glatten Felsen in die Tiefe hinab und überquerte schließlich einen ausgedehnten Sumpf. John Bellew protestierte, als er sah, wie Kid mit hundert Pfund in den Traggurten aufstand und dann noch einen Mehlsack von fünfzig Pfund oben auf das große Bündel legte.

 

»Nur los, du Apostel der Abhärtung!« antwortete Kid. »Jetzt kannst du zeigen, was du leisten kannst… du mit deinem Bärenfutter und deiner einen Garnitur Unterwäsche.«

 

Aber John Bellew schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, ich werde doch alt, Christoffer.«

 

»Du bist erst achtundvierzig. Vergiß nicht, daß mein Großvater, also dein Vater, der alte Isaac Bellew, noch mit neunundsechzig einen Mann mit der Faust zu Boden schlug.«

 

John Bellew grinste und schluckte heldenmütig die bittere Pille.

 

»Lieber Onkel, ich will dir mal was Wichtiges sagen: Ich bin erzogen wie der kleine Lord Fauntleroy, aber ich kann mehr tragen als du, besser gehen als du, ich kann dich sogar werfen oder dich mit meinen bloßen Fäusten vertrimmen.«

 

John Bellew streckte die Hand aus und sagte feierlich: »Ich glaube tatsächlich, daß du recht hast, Christoffer, mein Junge. Ich glaube sogar, daß du es mit der Last da auf dem Buckel schaffen kannst. Du hast dich gut entwickelt, mein Junge, obgleich ich es nie von dir erwartet hätte.«

 

Auf dieser letzten Strecke machte Kid den Weg viermal am Tag hin und zurück – das heißt, daß er täglich vierundzwanzig Meilen im Gebirge herumkletterte, davon zwölf Meilen unter einer Last von hundertfünfzig Pfund. Er war stolz und müde, aber glänzend in Form. Er aß und schlief, wie er noch nie in seinem Leben gegessen und geschlafen hatte. Und als das Endziel ihrer Reise in Sicht kam, war er ganz traurig darüber.

 

Ein Problem quälte ihn immer noch. Er hatte schon die Erfahrung gemacht, daß er mit hundert Pfund auf dem Rücken hinfallen konnte, ohne sich das Genick zu brechen. Aber er war davon überzeugt, daß er es sich bräche, wenn er mit dem Extrabündel von fünfzig Pfund obendrauf stürzen würde. In alle Wege, die durch den Sumpf führten, wurden von den Tausenden von Gepäckträgern sehr schnell tiefe Löcher getreten, und man mußte deshalb immer neue Wege ausfindig machen. Bei der Suche nach einem solchen neuen Weg hatte Kid Gelegenheit, das Problem mit der Extralast von fünfzig Pfund persönlich zu lösen.

 

Der weiche, nasse Boden unter ihm gab nach, so daß er strauchelte und kopfüber hinfiel. Die fünfzig Pfund drückten sein Gesicht in den Schlamm, glitten aber vom Hals weg, ohne ihm das Genick zu brechen. Mit den übrigen hundert Pfund auf dem Rücken gelang es ihm, auf Hände und Knie zu kommen – weiter aber nicht. Der eine Arm sank bis zur Schulter ein, so daß seine Backe tief in den Schlamm gedrückt wurde. Als er den Arm mit großer Mühe wieder herauszog, versank der andere bis zur Schulter. In dieser Lage war es ihm unmöglich, die Traggurte zu lösen, andererseits aber konnte er nicht daran denken, aufzustehen, solange er die hundert Pfund auf dem Rücken hatte. Er machte einen Versuch, auf Händen und Knien zu der Stelle zu kriechen, wo der Mehlsack lag, aber bald versank der eine, bald der andere Arm im Schlamm. Er erschöpfte seine Kräfte, ohne vorwärts zu kommen. Und bei seinen heftigen Bewegungen zerschlug und zerriß er die mit Gras bewachsene Oberfläche des Sumpfes derart, daß sich allmählich unmittelbar vor seinem Mund und seiner Nase eine Pfütze von schlammigem Wasser zu bilden begann, die ihm sehr gefährlich zu werden drohte.

 

Er versuchte, sich auf den Rücken zu werfen, so daß das Bündel unten läge, aber der einzige Erfolg war, daß beide Arme gleichzeitig im Sumpf versanken und er einen kleinen Vorgeschmack des Ertrinkens bekam.

 

Mit unsäglicher Geduld zog er langsam erst den einen, dann den anderen Arm aus dem Schlamm und streckte sie dann gerade über dem Boden aus, so daß er sein Kinn stützen konnte. Jetzt begann er um Hilfe zu rufen. Bald darauf hörte er Schritte im tiefen Schlamm schlabbern, und jemand näherte sich ihm von hinten.

 

»Reich mir eine Hand, Kamerad«, sagte er. »Oder wirf mir eine Leine zu oder sonst etwas.«

 

Eine Frauenstimme antwortete ihm, und er erkannte sie sofort wieder.

 

»Wenn Sie nur die Riemen aufschnallen wollen, kann ich aufstehen«, sagte er.

 

Die hundert Pfund rollten mit einem nassen Klatschen in den Schlamm, und es gelang ihm, langsam auf die Beine zu kommen.

 

»Eine nette Patsche«, lachte Fräulein Gastell als sie sein schlammbedecktes Gesicht sah.

 

»Durchaus nicht«, antwortete er überlegen. »Es ist meine beliebteste Turnübung. Sie müssen es mal versuchen. Es ist besonders gut für die Brustmuskeln und das Rückgrat.«

 

Er wischte sich das Gesicht ab und schleuderte dann den Schlamm mit einer raschen Bewegung von der Hand.

 

»Großer Gott!« rief sie, als sie ihn erkannte. »Das ist… das ist ja Herr… Herr Alaska-Kid!«

 

»Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihre rechtzeitige Hilfe und für diesen Namen«, antwortete er. »Jetzt bin ich zum zweiten Male getauft – künftig werde ich darauf bestehen, daß man mich stets Alaska-Kid nennt. Das ist ein klangvoller Name und nicht ohne Vorbedeutung.«

 

Er machte eine Pause. Dann wurden sein Gesicht und seine Stimme plötzlich grimmig: »Wissen Sie, was ich jetzt muß?« fragte er. »Nach den Staaten zurückkehren. Ich soll heiraten. Ich werde eine große Kinderschar erziehen. Und abends werde ich dann die Kinder um mich versammeln und ihnen von den Leiden und Entbehrungen erzählen, die ich auf dem Wege nach dem Chilcoot durchgemacht habe. Und wenn sie dann nicht dabei heulen… ich wiederhole es: wenn sie nicht dabei heulen, dann werde ich sie gehörig verdreschen.«

 

 

 

Jetzt näherte sich der arktische Winter mit schnellen Schritten. Der Schnee, der den ganzen Winter über liegenbleiben sollte, lag schon sechs Zoll hoch, und auf geschützt liegenden Gewässern bildete sich trotz der heftigen Stürme schon Eis. Es war spät am Abend, als John Bellew und Kid eine kurze Pause während eines solchen Sturmes benutzten, um den beiden Vettern beim Verstauen des Gepäcks im Boot behilflich zu sein. Dann blieben sie am Strande stehen und sahen sie im Schneegestöber auf dem See verschwinden.

 

»Und jetzt werden wir die Nacht durchschlafen und morgen ganz früh abfahren«, sagte John Bellew. »Wenn uns der Sturm nicht auf der Paßhöhe festhält, können wir schon morgen abend Dyea erreichen. Und haben wir dann das Glück, gleich den Dampfer zu bekommen, so können wir schon in einer Woche in San Franzisko sein.« – »Warst du zufrieden mit deinen Ferien?« fragte Kid geistesabwesend.

 

Ihr Lager am Linderman-See bot diese letzte Nacht einen traurigen Anblick dar. Die beiden Vettern hatten alles mitgenommen, was irgendwie brauchbar war, selbst das Zelt. Eine zerfetzte Persenning, die sie ausgebreitet hatten, schützte sie nur zum Teil gegen das Schneegestöber. Ihr Abendbrot kochten sie in ein paar zerbeulten und zerschlagenen Töpfen über dem offenen Feuer. Sonst waren ihnen nur ein paar Decken und Proviant für wenige Mahlzeiten geblieben.

 

Von dem Augenblick an, da das Boot abgefahren war, schien Kid seltsam unruhig und geistesabwesend geworden zu sein. Sein Onkel hatte seinen Zustand bemerkt, dachte aber, es käme nur daher, daß es jetzt mit der Schufterei vorbei war.

 

Einige Minuten später entfernte sich Kid in der Richtung des Zeltdorfes, wo die Goldgräber, die noch im Begriff waren, ihre Boote zu bauen oder zu beladen, Schutz gegen den Sturm suchten. Er blieb mehrere Stunden fort. Als er wiederkam und sich in seine Decken hüllte, war John Bellew schon eingeschlafen.

 

Es war ein dunkler, stürmischer Morgen, als Kid aus seinen Decken kroch und, nur in Strümpfen, ein Feuer zu machen begann, bei dem er zunächst seine gefrorenen Stiefel auftaute. Dann kochte er Kaffee und briet Speck. Es war dennoch eine kalte und ungemütliche Mahlzeit. Sobald sie vorbei war, legten die beiden ihre Decken zusammen.

 

Als John Bellew sich dann anschickte, den Rückweg über den Chilcoot anzutreten, reichte Kid ihm die Hand und sagte: »Auf Wiedersehen, lieber Onkel.«

 

John Bellew sah ihn an und fluchte vor lauter Überraschung.

 

»Aber was in aller Welt hast du vor?«

 

Kid zeigte unbestimmt mit der Hand nach dem Norden über den sturmgepeitschten See hinaus.

 

»Was für einen Sinn hat es umzukehren, wenn ich schon so weit gekommen bin?« fragte er. »Außerdem habe ich Geschmack an Bärenfleisch gefunden. Ich esse es sehr gern. Deshalb gehe ich los.«

 

»Aber du bist ja ganz abgebrannt«, entgegnete ihm John Bellew, »und hast keine Ausrüstung.«

 

»Ich habe eine Stellung gefunden. Guck dir mal deinen Neffen Christoffer Bellew an! Er hat jetzt eine Stellung! Er ist Angestellter bei einem feinen Herrn! Er hat eine Stellung mit hundertfünfzig Dollar monatlich und freier Beköstigung. Er geht nach Dawson mit zwei Trotteln und einem anderen Angestellten dieses feinen Herrn – als Lagerkoch, Bootsführer und Mädchen für alles. Und O’Hara und die Woge können zum Teufel gehen! Auf Wiedersehen.«

 

John Bellew war immer noch ganz aus dem Häuschen und konnte nur stottern: »Aber ich verstehe nicht…«

 

»Man sagt, daß es eine Menge von Grizzlybären im Yukon-Tal gibt«, erklärte Kid. »Na – und ich habe nur eine Garnitur Unterwäsche und Lust auf Bärenfleisch, das ist alles.«