Kapitel 10

Vierter Teil

Zehntes Buch

Die Jungen

1. Kolja Krassotkin

Es war Anfang November. Wir hatten elf Grad Kälte und damit auch Glatteis. Auf die gefrorene Erde war in der Nacht etwas trockener Schnee gefallen, und der trockene, scharfe Wind hob ihn auf und fegte ihn durch die langweiligen Straßen unseres Städtchens und besonders über den Marktplatz. Der Morgen war trüb, aber der Schneefall hatte aufgehört. Nicht weit vom Marktplatz, nahe bei Plotnikows Laden, stand das kleine, außen wie innen sehr saubere Häuschen der Beamtenwitwe Krassotkina. Der Gouvernementssekretär Krassotkin selbst war schon vor langer Zeit gestorben, vor fast vierzehn Jahren; seine Witwe, eine zweiunddreißigjährige, immer noch recht hübsche Frau, lebte in dem sauberen Häuschen von ihren Renten. Sie lebte ehrbar und zurückgezogen und besaß einen sanften, ziemlich heiteren Charakter. Im Alter von achtzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, nachdem sie mit ihm nur ein Jahr lang zusammengelebt und ihm eben erst einen Sohn geboren hatte. Seitdem widmete sie sich ganz der Erziehung ihres Sohnes Kolja, ihres größten Schatzes, und die ganzen vierzehn Jahre hatte sie in ihrer maßlosen Liebe zu ihm unvergleichlich mehr Leid als Freude erlebt, da sie fast täglich vor Angst zitterte, er könnte sich erkälten, krank werden, Dummheiten machen, auf einen Stuhl steigen und herunterfallen, und so weiter und so fort. Als Kolja die Vorschule und dann unser Progymnasium besuchte, begann die Mutter mit ihm zusammen eifrig zu lernen, um ihm bei seinen Aufgaben helfen und sie ihm abfragen zu können. Sie bemühte sich, mit den Lehrern und ihren Frauen bekannt zu werden, und suchte sogar durch Freundlichkeit und Schmeicheleien die Gunst von Koljas Schulkameraden zu gewinnen, damit ihr Kolja nicht verspottet und nicht geschlagen wurde. Sie brachte es dahin, daß sich die Jungen ihretwegen wirklich über ihn lustig machten und ihn neckten, er sei ein Muttersöhnchen. Doch Kolja verstand sich zu wehren. Er war ein mutiger Junge, »furchtbar stark«, wie es von ihm in der Klasse hieß und bald bestätigt wurde; er war gewandt, frech, dreist und unternehmungslustig und besaß einen energischen Charakter. Er lernte gut, und es hieß sogar, daß er im Rechnen und in Weltgeschichte mehr leistete als der Lehrer Dardanelow selbst. Obgleich er auf alle herabsah und das Näschen hoch trug, war er doch ein guter Kamerad und nicht überheblich. Den Respekt seiner Mitschüler nahm er als etwas Gebührendes hin, verkehrte mit ihnen jedoch freundschaftlich. Die Hauptsache war, er wußte maßzuhalten, verstand sich zur rechten Zeit zu beherrschen und überschritt in seinen Beziehungen zu den Lehrern niemals jene äußerste, gerade noch erkennbare Grenze, hinter der das Benehmen ungehörig und ungesetzlich wird und nicht geduldet werden kann.

Dennoch war er ganz und gar nicht abgeneigt, bei jeder geeigneten Gelegenheit Streiche zu verüben, und zwar nicht bloß dabei mitzutun, sondern selbst etwas zu erfinden und auszuklügeln, etwas besonders »Feines«, Großartiges einzufädeln, womit er paradieren konnte. Vor allem war er sehr ehrgeizig. Er hatte es sogar verstanden, sich seine Mama untertan zu machen, er behandelte sie beinahe despotisch. Sie ordnete sich ihm auch wirklich unter, schon seit langer Zeit, und konnte nur einen Gedanken absolut nicht ertragen: daß der Knabe sie »zuwenig lieben« könnte. Es schien ihr immer, Kolja sei ihr gegenüber »gefühllos«, und manchmal machte sie ihm, krampfhaft schluchzend, Vorwürfe wegen seiner Kälte. Der Junge konnte das nicht leiden, und je mehr Herzensergüsse die Mutter von ihm verlangte, desto zurückhaltender wurde er, anscheinend absichtlich. Und doch geschah das von seiner Seite nicht absichtlich, sondern unwillkürlich; das lag nun einmal in seinem Charakter. Die Mutter irrte sich: er liebte sie sehr; was er nur nicht liebte, waren diese »kalbrigen Zärtlichkeiten«, wie er sich in seinem Schülerjargon ausdrückte. Der Vater hatte einen Schrank mit einer Anzahl von Büchern hinterlassen; Kolja liebte diese Bücher und hatte schon mehrere von ihnen still für sich gelesen. Die Mutter beunruhigte sich darüber nicht, wunderte sich nur manchmal, daß er, statt spielen zu gehen, stundenlang mit einem Buch am Schrank stand. Auf diese Weise las Kolja manches, was man ihm in seinem Alter noch nicht hätte zum Lesen geben dürfen. Obgleich er es vermied, mit seinen Streichen eine gewisse Grenze zu überschreiten, hatte er in letzter Zeit doch einzelne Streiche verübt, die die Mutter nicht wenig erschreckten, freilich keine unmoralischen, wohl aber tollkühne, halsbrecherische. Es hatte sich in diesem Sommer in den Ferien, im Juli, ergeben, daß die Mama mit ihrem Sohn für eine Woche siebzig Werst weit in einen anderen Kreis gefahren war auf Besuch zu einer entfernten Verwandten, deren Mann auf einer Eisenbahnstation angestellt war; es war dies von unserer Stadt aus die nächste Station, dieselbe, von der Iwan Fjodorowitsch Karamasow einen Monat später nach Moskau reiste. Dort besah sich Kolja gleich von vornherein die Eisenbahn aufs genaueste und studierte alle ihre Einrichtungen; denn er sagte sich, daß er zu Hause vor seinen Kameraden auf dem Progymnasium mit seinen neuen Kenntnissen würde glänzen können. Es traf sich, daß er dort einige andere Jungen kennenlernte, manche von ihnen wohnten auf der Station, andere in der Nachbarschaft: lauter junges Volk von zwölf bis fünfzehn Jahren, sechs oder sieben an der Zahl, darunter zufällig auch zwei aus unserem Städtchen. Die Jungen spielten zusammen und trieben allerhand Unfug, bis es dann nach vier oder fünf Tagen unter ihnen zu einer unerhörten Wette um zwei Rubel kam, nämlich: Kolja, der beinahe der jüngste von allen war und darum von den älteren ein bißchen verachtet wurde, vermaß sich aus Ehrgeiz oder unverzeihlicher Tollkühnheit, er wolle sich nachts, wenn der Elfuhrzug komme, mit dem Gesicht nach unten zwischen die Schienen legen und regungslos liegenbleiben, bis der Zug mit Volldampf über ihn hinweggefahren war. Allerdings waren vorher Versuche angestellt worden, aus denen sich ergeben hatte, daß es tatsächlich möglich war, sich zwischen den Schienen so platt hinzulegen, daß der Zug über den Liegenden hinwegfuhr, ohne ihn zu streifen – trotzdem, welche Leistung, so dazuliegen! Kolja behauptete mit aller Bestimmtheit, er werde liegenbleiben. Zuerst lachten die anderen über ihn und nannten ihn einen Aufschneider und Prahlhans, doch dadurch wurde er nur noch mehr angereizt; diese Fünfzehnjährigen waren ihm gegenüber gar zu hochmütig und wollten ihn, den »Kleinen«, zuerst nicht einmal als ihren Kameraden gelten lassen, was denn doch in unerträglichem Grad beleidigend war. So wurde also beschlossen, sich am Abend eine Werst weit von der Station wegzubegeben, damit der Zug nach dem Verlassen der Station schon seine volle Geschwindigkeit erreicht hatte. Die Jungen versammelten sich. Es war eine mondlose, dunkle, fast schwarze Nacht. Zur richtigen Zeit legte sich Kolja zwischen die Schienen. Die fünf übrigen Jungen, die mit ihm gewettet hatten, warteten mit Herzklopfen und zuletzt mit Angst und Reue unten am Bahndamm im Gebüsch. Endlich war von fern der Zug zu hören, der die Station verlassen hatte. In der Dunkelheit blitzten zwei rote Laternen auf; das Ungeheuer nahte lärmend. »Schnell weg von den Schienen!« schrien die Jungen aus dem Gebüsch, halbtot vor Furcht, aber es war schon zu spät. Der Zug jagte heran und sauste vorüber. Die Knaben stürzten zu Kolja: Er lag da und rührte sich nicht. Sie schüttelten ihn und bemühten sich, ihn aufzuheben. Da stand er plötzlich auf und ging schweigend den Bahndamm hinunter. Unten erklärte er, er habe absichtlich wie besinnungslos dagelegen, um ihnen einen Schrecken einzujagen. Die Wahrheit war jedoch, daß er wirklich das Bewußtsein verloren hatte, wie er später, erst lange danach, seiner Mutter auch gestand. Auf diese Weise hatte er den Ruhm der Tollkühnheit als festen Besitz für immer erworben. Leichenblaß kehrte er zur Station zurück. Am anderen Tag erkrankte er an einem leichten Nervenfieber, war aber seelisch sehr heiter, froh und zufrieden. Die Kunde von dem Vorfall verbreitete sich nicht sogleich, sondern erst nach der Rückkehr in unsere Stadt, wo sie auch dem Direktor zu Ohren kam. Koljas Mama eilte schleunigst zu ihm, um für ihren Sohn zu bitten, und erreichte schließlich, daß der allgemein geachtete, einflußreiche Lehrer Dardanelow für ihn eintrat und Fürbitte einlegte; so ließ man denn die Sache auf sich beruhen, als ob nichts geschehen wäre. Dieser Dardanelow übrigens, ein noch nicht alter Junggeselle, war schon seit vielen Jahren leidenschaftlich in Frau Krassotkina verliebt und hatte schon einmal, vor einem Jahr, in der respektvollsten Weise und fast vergehend vor Angst und Zartgefühl gewagt, ihr seine Hand anzubieten; doch sie hatte seinen Antrag rundweg abgelehnt, obwohl Dardanelow, nach einigen geheimen Anzeichen zu schließen, vielleicht sogar ein gewisses Recht hatte zu glauben, daß er der reizenden, aber infolge ihrer Mutterzärtlichkeit allzu ehescheuen Witwe durchaus nicht zuwider sei. Koljas Streich schien nun das Eis gebrochen zu haben, und Dardanelow wurde zum Dank für sein Eintreten mit einem Hoffnungsschimmer belohnt, allerdings nur mit einem sehr entfernten; doch auch Dardanelow war ein Muster an Reinheit und Zartgefühl, und daher genügte dieser Schimmer vorläufig, um ihn vollkommen glücklich zu machen. Den Jungen mochte er sehr gern, jedoch hätte er es für unwürdig gehalten, sich um seine Gunst zu bemühen. Er behandelte ihn in der Klasse streng und stellte an ihn hohe Anforderungen. Kolja selbst hielt sich auch in respektvoller Entfernung, lernte seine Aufgaben vorzüglich, war in der Klasse der zweitbeste Schüler und verkehrte mit Dardanelow in einem trockenen Ton. Und die ganze Klasse glaubte fest, in Weltgeschichte könne Kolja sogar Dardanelow »schlagen«. Und in der Tat hatte Kolja ihm einmal die Frage vorgelegt, wer Troja gegründet habe. In seiner Antwort hatte Dardanelow nur allgemein von den Bewegungen und Wanderungen der Völker gesprochen; das liege im Dunkel der Vorzeit und gehöre ins Reich der Sage. Wer aber nun eigentlich Troja gegründet hatte, das heißt, welche Personen, das hatte er nicht sagen können; daher hatte er die Frage als müßig und gegenstandslos bezeichnet. Und die Jungen blieben bei der Überzeugung, Dardanelow wüßte nicht, wer Troja gegründet hatte. Kolja aber hatte von den Gründern Trojas in Smaragdows Weltgeschichte gelesen, die sich im Schrank unter den von seinem Vater hinterlassenen Büchern befand. Die Sache endete damit, daß sich schließlich alle Schüler dafür zu interessieren begannen, wer eigentlich Troja gegründet habe; Krassotkin enthüllte sein Geheimnis jedoch nicht, und der Ruhm seines Wissens blieb unerschüttert.

Nach dem Vorfall mit der Eisenbahn trat in Koljas Verhältnis zu seiner Mutter eine gewisse Veränderung ein. Als Frau Anna Fjodorowna von der Tat ihres Sohnes hörte, verlor sie vor Schreck beinahe den Verstand. Sie bekam so furchtbare hysterische Anfälle, die mit Unterbrechungen mehrere Tage dauerten, daß der ernstlich erschrockene Kolja ihr sein Ehrenwort gab, solche Streiche nie wieder zu begehen. Er schwor es auf den Knien vor dem Heiligenbild und beim Andenken an seinen Vater, so wie es Frau Krassotkina selbst verlangt hatte, wobei der »mannhafte« Kolja selbst wie ein sechsjähriger Knabe vor Rührung in Tränen zerfloß; diesen ganzen Tag über umarmten sich Mutter und Sohn immer wieder und weinten erschüttert. Als Kolja am anderen Tag erwachte, war er wieder wie früher »gefühllos«, nur wurde er von nun an schweigsamer, bescheidener, ernster, nachdenklicher. Allerdings wurde er anderthalb Monate später wieder bei einem Streich erwischt, und sein Name wurde sogar unserem Friedensrichter bekannt. Aber dieser Streich war doch schon von ganz anderer Art, sogar lächerlich und ein bißchen dumm; auch hatte er ihn, wie sich herausstellte, nicht selbst ausgeführt, sondern war nur beteiligt gewesen. Aber davon später einmal. Die Mutter ängstigte und quälte sich weiter, und Dardanelow schöpfte immer mehr Hoffnung, je mehr sie sich beunruhigte. Es muß vermerkt werden, daß Kolja Dardanelows diesbezügliche Absichten erriet und ihn selbstverständlich wegen seiner »Gefühle« tief verachtete. Früher war er sogar so unzart gewesen, diese Verachtung seiner Mutter gegenüber zum Ausdruck zu bringen, indem er andeutete, er wisse sehr wohl, was Dardanelow im Schilde führe. Aber nach dem Vorfall mit der Eisenbahn änderte er auch in dieser Hinsicht sein Benehmen; solche Andeutungen erlaubte er sich nicht mehr, auch nicht die entferntesten. Von Dardanelow sprach er in Gegenwart der Mutter jetzt respektvoller, was die feinfühlige Anna Fjodorowna sofort mit grenzenloser Dankbarkeit in ihrem Herzen empfand. Dafür wurde sie bei der unbedeutendsten, zufälligsten Bemerkung über Dardanelow, sogar von seiten irgendeines fernen Besuchers, vor Scham plötzlich rot wie eine Rose, wenn Kolja dabei war. Und Kolja sah in solchen Augenblicken entweder mit finsterer Miene aus dem Fenster oder betrachtete angelegentlich seine Stiefelspitzen oder rief zornig Pereswon, einen struppigen, ziemlich großen, räudigen Hund, den er vor einem Monat irgendwie erworben und mit nach Hause gebracht hatte und nun aus irgendeinem Grund in der Wohnung verborgen hielt und keinem seiner Kameraden zeigte. Er tyrannisierte den Hund furchtbar, indem er ihm alle möglichen Späße und Kunststücke beibrachte; doch der arme Köter liebte seinen Herrn unsäglich: Er heulte, wenn Kolja nicht zu Hause, sondern in der Schule war, er winselte vor Freude, wenn Kolja wiederkam, sprang wie toll umher, machte Männchen, wälzte sich auf der Erde, stellte sich tot und so weiter – kurz, er produzierte alle Kunststücke, die ihm beigebracht worden waren, und zwar nicht auf Verlangen, sondern einzig und allein aus Freude und aus dankbarem Herzen.

Apropos, ich habe vergessen, daran zu erinnern, daß Kolja Krassotkin jener Junge war, den der dem Leser bereits bekannte Iljuscha, der Sohn des Stabskapitäns a. D. Snegirjow, mit dem Messer in die Hüfte gestochen hatte, weil die Schüler seinen Vater mit dem Spitznamen »Bastwisch« verspottet hatten.

2. Kinder

Also an jenem kalten, windigen Novembermorgen saß Kolja Krassotkin zu Hause. Es war Sonntag und somit keine Schule. Aber es hatte schon elf geschlagen, und er mußte »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« dringend von zu Hause weggehen. Nun war er jedoch ganz allein zu Hause, und zwar ausdrücklich, um es zu hüten, da alle älteren Hausgenossen das Haus infolge eines ungewöhnlichen Vorfalls verlassen hatten. Im Haus der Witwe Krassotkina befand sich außer der Wohnung der Hausbesitzerin nur noch eine aus zwei kleinen Zimmern bestehende Wohnung, die an eine Arztfrau mit zwei kleinen Kindern vermietet war. Diese Arztfrau war gleichaltrig mit Anna Fjodorowna und ihre beste Freundin. Der Doktor selbst war seit etwa einem Jahr abwesend; zuerst war er nach Orenburg gefahren und dann nach Taschkent, und schon ein halbes Jahr war von ihm keinerlei Nachricht gekommen. Und wäre nicht durch die Freundschaft mit Frau Krassotkina der Kummer der verlassenen Frau einigermaßen gelindert worden, wäre diese wohl in Tränen zerflossen. Um die Schicksalsschläge vollzählig zu machen, mußte Katerina, die einzige Dienerin der Arztfrau, ausgerechnet in dieser Nacht vom Sonnabend zum Sonntag plötzlich und ganz unerwartet ihrer Herrin erklären, sie werde am Morgen ein Kind gebären. Wie es zugegangen war, daß davon vorher niemand etwas gemerkt hatte, war für alle beinahe ein Wunder. Die überraschte Frau beschloß, Katerina, solange es noch Zeit war, in eine Anstalt zu bringen, die eine Hebamme in unserer Stadt für solche Fälle unterhielt. Da sie der Dienerin sehr zugetan war, führte sie ihre Absicht unverzüglich aus, brachte sie dorthin und blieb außerdem bei ihr. Dann wurde am Morgen noch die freundschaftliche Beihilfe von Frau Krassotkina erforderlich, die in diesem Fall irgend jemand um irgend etwas bitten und so die Magd irgendwie unterstützen konnte. Auf diese Weise waren die beiden Damen abwesend; Frau Krassotkinas eigene Dienerin, die alte Agafja, war währenddessen auf den Markt gegangen, und Kolja war somit für eine gewisse Zeit der Hüter und Wächter der »Knirpse«, des Knaben und des Töchterchens der Arztfrau, die sonst mutterseelenallein geblieben wären. Das Haus zu bewachen, davor fürchtete sich Kolja nicht; außerdem war ja noch Pereswon bei ihm, dem er befohlen hatte, im Vorzimmer unter einer Bank »ohne Bewegung« auf dem Bauch zu liegen und der gerade deswegen jedesmal, wenn Kolja bei seinen Rundgängen ins Vorzimmer kam, mit dem Kopf zuckte und zwei kräftige, bittende Schläge mit dem Schwanz vollführte – doch leider ertönte der rufende Pfiff nicht. Kolja warf dem unglücklichen Hund einen drohenden Blick zu, und dieser erstarrte wieder zu gehorsamem Scheintod. Wenn etwas Kolja in Verlegenheit brachte, so waren es einzig und allein die »Knirpse«. Für das unerwartete Ereignis mit Katerina hatte er selbstverständlich nur tiefste Verachtung, aber die verwaisten »Knirps« mochte er sehr gern, er hatte ihnen bereits ein Kinderbuch gebracht. Nastja, die ältere, die schon acht Jahre alt war, konnte lesen; und der jüngere »Knirps«, der siebenjährige Kostja, hörte gern zu, wenn Nastja ihm etwas vorlas. Selbstverständlich hätte Kolja sie auf interessantere Weise beschäftigen können, er hätte sie zum Beispiel beide nebeneinanderstellen und mit ihnen Soldaten spielen oder mit ihnen im ganzen Haus Versteck spielen können. Das hatte er früher schon wiederholt getan, und das war durchaus nicht unter seiner Würde, so daß sich in seiner Klasse sogar einmal das Gerücht verbreitet hatte, Krassotkin spiele bei sich zu Hause mit seinen kleinen Hausgenossen Pferdchen. Kolja hatte diese Beschuldigung jedoch stolz widerlegt, indem er darlegte, mit Gleichaltrigen, Dreizehnjährigen Pferdchen zu spielen, das wäre »in unserem Jahrhundert« allerdings wirklich eine Schande; er aber tue das für die »Knirpse«, weil er sie gern habe, und im übrigen habe niemand das Recht, ihn über seine Gefühle zur Rechenschaft zu ziehen! Dafür vergötterten ihn denn auch die beiden »Knirpse«. Diesmal stand sein Sinn nicht nach solchen Spielen. Er hatte eine sehr wichtige eigene Angelegenheit vor sich, an der sogar etwas Geheimnisvolles zu sein schien; inzwischen aber verstrich die Zeit, und Agafja, der er die Kinder hätte übergeben können, wollte noch immer nicht vom Markt zurückkehren. Er war schon mehrere Male über den Flur gegangen, hatte die Tür zur Wohnung der Arztfrau geöffnet und sorgenvoll nach den »Knirpsen« gesehen, die nach seiner Weisung über einem Buch saßen und ihn jedesmal, wenn er die Tür aufmachte, schweigend anlächelten, in der Erwartung, daß er nun hereinkäme und etwas Hübsches und Amüsantes mit ihnen unternähme. Doch Kolja war innerlich unruhig und ging nicht hinein. Da schlug es elf, und er beschloß fest und endgültig, das Haus zu verlassen, wenn die »verfluchte« Agafja nicht in zehn Minuten zurück sein würde, und nicht länger auf sie zu warten; selbstverständlich wollte er sich vorher von den »Knirpsen« versprechen lassen, daß sie in seiner Abwesenheit keine Dummheiten machen und nicht aus Angst weinen würden. Mit diesem Gedanken zog er seinen wattierten Winterüberzieher mit dem Kragen aus Seehundsfell an und hängte sich seine Büchertasche über die Schulter. Seine Mutter hatte ihn zwar früher oft gebeten, er möchte immer die Überschuhe anziehen, wenn er »bei solcher Kälte« von Hause wegging; doch als er durchs Vorzimmer kam, warf er nur einen verächtlichen Blick auf sie und ging in bloßen Stiefeln hinaus. Als Pereswon ihn ausgehbereit sah, begann er angestrengt mit dem Schwanz auf den Fußboden zu schlagen, zuckte nervös mit dem ganzen Körper und schickte sich sogar an, ein klägliches Geheul auszustoßen; aber Kolja war der Ansicht, daß ein sofortiges Nachgeben der Disziplin schaden würde, und ließ ihn wenigstens noch ein Weilchen unter der Bank liegen. Erst als er die Tür zum Flur öffnete, pfiff er ihm plötzlich. Der Hund sprang wie verrückt auf und sprang wild vor Freude umher. Kolja durchschritt den Flur und öffnete die Tür zu den »Knirpsen«. Beide saßen wie vorher an ihrem Tischchen; sie lasen jedoch nicht mehr, sondern stritten hitzig über irgend etwas. Sie stritten sich oft über verschiedene sich aufdrängende Lebensfragen, wobei Nastja als die ältere immer die Oberhand behielt; Kostja hingegen wandte sich, wenn er ihr nicht zustimmen mochte, fast immer hilfesuchend an Kolja, und wie dieser entschied, dabei blieb es dann auch: Das war für beide Teile ein unanfechtbarer Urteilsspruch. Diesmal erweckte der Streit der »Knirpse« bei Kolja ein gewisses Interesse, und er blieb in der Tür stehen, um zuzuhören.

Als die Kinder sahen, daß er zuhörte, fuhren sie um so eifriger in ihrem Streitgespräch fort.

»Niemals werde ich glauben«, sagte Nastja hitzig, »daß die Hebammen die kleinen Kinder in den Gemüsegärten auf den Kohlbeeten finden. Jetzt ist es Winter, und es gibt gar keine Kohlbeete, und die Hebamme konnte unserer Katerina das Töchterchen nicht von da bringen!«

Kolja stieß einen Pfiff aus.

»Oder es ist so. Sie holen die Kinder irgendwo, bringen sie aber nur zu solchen Frauen, die verheiratet sind.«

Kostja blickte seine Schwester unverwandt an, hörte tiefsinnig zu und dachte nach.

»Nastja, wie dumm du doch bist«, sagte er endlich ruhig und entschieden. »Dann könnte doch Katerina gar kein Kindchen haben. Sie ist ja nicht verheiratet.«

Nastja geriet furchtbar in Eifer.

»Du verstehst aber auch gar nichts«, fiel sie gereizt ein. »Vielleicht hat sie einen Mann gehabt, und er sitzt bloß im Gefängnis, und sie hat nun ein Kindchen bekommen.«

»Hat sie wirklich einen Mann, der im Gefängnis sitzt?« erkundigte sich der gründliche Kostja mit wichtiger Miene.

»Oder es ist so«, unterbrach ihn Nastja eifrig, wobei sie ihre erste Hypothese völlig fallenließ und vergaß. »Sie hat keinen Mann, darin hast du recht. Aber sie will heiraten, und da hat sie nun nachgedacht, wie sie das machen soll, und hat immer nachgedacht und nachgedacht, und so lange nachgedacht, daß sie nun keinen Mann, sondern ein Kindchen bekommen hat.«

»Ja, das könnte sein«, stimmte Kostja völlig überzeugt zu. »Aber das hast du vorhin nicht gesagt, daher konnte ich es auch nicht wissen.«

»Na, Kinder«, sagte Kolja und trat zu ihnen ins Zimmer. »Ich sehe, ihr seid ein gefährliches Völkchen!«

»Dafür haben Sie ja auch Pereswon«, sagte Kostja lächelnd und begann mit den Fingern zu schnipsen und Pereswon zu rufen.

»Ihr Knirpse, ich bin in Verlegenheit«, begann Kolja würdevoll. »Und ihr müßt mir helfen. Agafja hat sich wohl ein Bein gebrochen, weil sie noch immer nicht zurück ist, das steht bombenfest. Ich muß aber dringend weg. Werdet ihr mich weglassen?«

Die Kinder sahen sich ängstlich an, ihre Gesichter drückten nun Unruhe aus. Sie begriffen allerdings noch nicht recht, was Kolja von ihnen verlangte.

»Werdet ihr auch keine Dummheiten machen, wenn ich weg hin? Nicht auf die Kommode steigen, euch nicht die Beine brechen? Werdet ihr auch nicht aus Angst weinen, wenn ihr allein seid?«

Auf den Gesichtern der Kinder malte sich eine schreckliche Angst.

»Ich könnte euch zum Lohn dafür ein hübsches Spielzeug zeigen, eine kleine Bronzekanone, aus der man mit richtigem Pulver schießen kann.«

Die Gesichter der Kinder wurden im Nu wieder hell.

»Zeigen Sie doch mal die kleine Kanone!« sagte Kostja, der übers ganze Gesicht strahlte.

Krassotkin holte aus seiner Büchertasche eine kleine Bronzekanone heraus und stellte sie auf den Tisch.

»Na schön, zeigen wir doch mal! Sieh nur, sie hat Räder … «Er rollte das Spielzeug über den Tisch. »Und schießen kann man damit. Man kann sie mit Schrot laden und damit schießen.«

»Kann man damit auch einen totschießen?«

»Alle kann man damit totschießen, man braucht bloß ordentlich zu zielen.«

Und er erklärte ihnen, wohin man das Pulver tun und wie man das Schrotkorn hineinstecken muß, zeigte ihnen ein kleines Loch in Gestalt eines Zündloches und erzählte ihnen, daß die Kanone nach dem Schuß zurückläuft. Die Kinder hörten mit gewaltigem Interesse zu. Besonders beeindruckte sie, daß die Kanone zurückläuft.

»Haben Sie auch Pulver?« erkundigte sich Nastja.

»Ja.«

»Zeigen Sie uns doch auch das Pulver!« sagte sie mit einem bittenden Lächeln.

Kolja griff noch einmal in die Büchertasche und holte ein kleines Fläschchen heraus, in dem tatsächlich noch etwas Pulver war, in einem zusammengewickelten Stück Papier fanden sich außerdem mehrere Schrotkörner. Er öffnete sogar das Fläschchen und schüttete sich ein bißchen Pulver auf die flache Hand.

»Da! Es darf nur kein Feuer daran kommen, sonst explodiert das Pulver, und wir sind alle tot«, sagte er warnend; er übertrieb um des Effektes willen.

Die Kinder betrachteten das Pulver mit einer andächtigen Furcht, durch die der Genuß noch gesteigert wurde. Dem kleinen Kostja gefiel am meisten das Schrot.

»Und das Schrot brennt nicht?« fragte er.

»Nein, das Schrot brennt nicht.«

»Schenken Sie mir ein paar Schrotkörner!« bettelte er.

»Ein bißchen Schrot werde ich dir schenken. Da, nimm. Aber zeig es deiner Mama nicht, bevor ich wieder hier bin. Sonst denkt sie, es ist Pulver, und stirbt vor Angst und haut euch mit der Rute.«

»Mama haut uns nie mit der Rute!« bemerkte Nastja sofort.

»Das weiß ich. Ich habe es auch nur gesagt, weil es gut klingt. Und eurer Mama dürft ihr nie etwas verheimlichen – bloß diesmal, bis ich wieder da bin … Also, ihr Knirpse, darf ich weggehen? Werdet ihr auch nicht vor Angst weinen, wenn ich weg bin?«

»Doch, wir wer-den wei-nen«, sagte Kostja gedehnt und wollte schon in Tränen ausbrechen.

»Wir werden weinen, wir werden bestimmt weinen!« fiel Nastja ängstlich ein.

»Ach, Kinder, Kinder, ihr seid ja in einem gefährlichen Alter. Na, dann ist nichts zu machen, ihr Würmer, dann muß ich eben

Gott weiß wie lange bei euch sitzen. Aber wie sollen wir uns bloß die Zeit vertreiben?«

»Lassen Sie doch Pereswon sich tot stellen«, bat Kostja.

»Ja, da ist nichts zu machen, da müssen wir wohl unsere Zuflucht zu Pereswon nehmen. Ici, Pereswon!«

Kolja kommandierte, und der Hund machte alles vor, was er konnte. Er war ein struppiger Hund, von der Größe eines gewöhnlichen Hofhundes, mit grau-lila Fell. Das rechte Auge war ihm ausgelaufen, und das linke Ohr wies einen tiefen Riß auf. Er winselte und sprang, machte Männchen, ging auf den Hinterbeinen, warf sich auf den Rücken mit allen vier Pfoten nach oben und lag wie tot da. Während des letzten Kunststückes öffnete sich die Tür, und Agafja, die dicke Dienerin von Frau Krassotkina, eine pockennarbige Frau von ungefähr vierzig Jahren, erschien auf der Schwelle; sie kehrte mit einem Beutel voll Lebensmittel vom Markt zurück. Sie blieb stehen und sah dem Hund zu, ohne den Beutel aus der Hand zu legen. So sehnsüchtig Kolja auch auf Agafja gewartet hatte – er brach die Vorstellung dennoch nicht ab; er ließ Pereswon sich noch eine bestimmte Zeitlang tot stellen und pfiff ihm dann endlich. Der Hund sprang auf und tollte vor Freude, daß er seine Pflicht erfüllt hatte, ausgelassen umher.

»Nun sieh mal einer den Hund an!« sagte Agafja anerkennend.

»Warum bist du denn so spät zurückgekommen, du Weibsbild?« fragte Krassotkin ärgerlich.

»Weibsbild! Nun hör sich das einer an! Dieser Stift!«

»Stift?«

»Jawohl, Stift. Was geht es dich an, daß ich so spät zurückgekommen bin? Wenn ich erst so spät gekommen bin, wird es wohl nötig gewesen sein«, brummte Agafja und machte sich daran, den Ofen zu besorgen. Sie sagte das alles keineswegs unzufrieden oder ärgerlich, sondern vielmehr in sehr zufriedenem Ton, als ob sie sich über die Gelegenheit freute, sich mit dem lustigen jungen Herrn ein bißchen herumzubeißen.

»Hör mal, du leichtfertiges altes Weib«, sagte Kolja und stand vom Sofa auf. »Kannst du mir bei allem, was dir auf dieser Welt heilig ist, und bei sonst noch etwas schwören, daß du in meiner Abwesenheit ständig auf die Knirpse aufpassen wirst? Ich will nämlich weggehen.«

»Wozu soll ich dir das erst noch schwören?« erwiderte Agafja lachend. »Ich werde auch so auf sie aufpassen.«

»Nein, du mußt mir bei deiner ewigen Seligkeit schwören. Sonst gehe ich nicht.«

»Na, dann geh nicht! Was stört es mich? Draußen ist es kalt, bleib zu Hause!«

»Ihr Knirpse«, wandte sich Kolja an die Kinder. »Diese Frau wird bei euch bleiben, bis ich wiederkomme oder bis eure Mama wiederkommt, denn auch die müßte eigentlich längst zurück sein. Sie wird euch ein Frühstück geben. Oder gibst du ihnen etwas, Agafja?«

»Das kann ich schon machen.«

»Auf Wiedersehen, ihr Kleinen! Nun kann ich beruhigt gehen … Und du, Großmutter«, sagte er halblaut und würdevoll, als er an Agafja vorbeiging, »wirst ihnen hoffentlich nicht eure üblichen Weiberdummheiten über Katerina auftischen? Hab Respekt vor ihrem Alter! Ici, Pereswon!«

»Mach, daß du ‚rauskommst«, knurrte Agafja, die sich jetzt wirklich ärgerte. »Lächerlicher Patron! Müßtest selber die Rute bekommen für solche Reden!«

3. Schüler

Doch Kolja hörte schon nicht mehr. Endlich konnte er gehen. Als er aus dem Tor trat, blickte er sich um, schüttelte die Schultern und sagte: »Kalt!« Dann ging er die Straße hinunter und danach rechts durch eine Seitengasse auf den Marktplatz zu. Am Torweg des letzten Hauses blieb er vor dem Platz stehen, zog eine kleine Pfeife aus der Tasche und pfiff darauf aus Leibeskräften, als gäbe er ein verabredetes Signal. Er brauchte nicht länger als eine Minute zu warten; dann kam plötzlich ein rotbackiger Junge herausgerannt. Er mochte etwa elf Jahre alt sein und trug ebenfalls einen warmen, sauberen und sogar eleganten kleinen Überzieher. Es war der kleine Smurow, der die Vorbereitungsklasse besuchte (während Kolja Krassotkin schon zwei Klassen höher saß), der Sohn eines wohlhabenden Beamten. Seine Eltern hatten ihm offenbar den Umgang mit Krassotkin verboten, da der allgemein als verwegener Unfugtreiber bekannt war; Smurow hatte daher das Haus offenbar heimlich verlassen. Dieser Smurow war, vielleicht erinnert sich der Leser, einer von den Jungen, die vor zwei Monaten mit Steinen nach Iljuscha geworfen hatten; er war es gewesen, der Aljoscha Karamasow damals etwas über Iljuscha erzählt hatte.

»Ich warte schon eine ganze Stunde auf dich, Krassotkin«, sagte Smurow streng, dann gingen sie zum Marktplatz.

»Ja, ich habe mich verspätet«, antwortete Krassotkin. »Aber das hat seine Gründe. Kriegst du nicht Prügel, wenn du mit mir gehst?«

»Was redest du da? Als ob ich überhaupt Prügel bekomme! Du hast Pereswon bei dir?«

»Ja.«

»Willst du ihn auch mitnehmen?«

»Ja.«

»Ach, wenn es doch Shutschka wäre!«

»Das ist unmöglich. Shutschka existiert nicht mehr, Shutschka ist verschwunden. Wo er geblieben ist, das ist ein dunkles Rätsel.«

»Könnten wir es nicht so machen«, sagte Smurow und blieb plötzlich stehen. »Iljuscha sagt ja, Shutschka ist auch so struppig gewesen und so dunkelgrau wie Pereswon. Könnten wir da nicht sagen, daß es jener Shutschka ist? Vielleicht wird er es glauben.«

»Schüler, verabscheue die Lüge! Numero eins. Sogar zu einem guten Zweck; Numero zwei. Aber was die Hauptsache ist: ich hoffe, du hast dort nichts von meinem Besuch erwähnt?«

»Gott behüte, ich weiß doch, worum es sich handelt. Mit Pereswon wirst du ihn aber nicht trösten«, sagte Smurow seufzend. »Weißt du was? Sein Vater, der Bastwisch, hat gesagt, er will ihm heute einen jungen Hund bringen, einen echten Bullenbeißer mit schwarzer Nase. Er meint, daß er Iljuscha damit trösten wird, aber das wird ihm wohl kaum gelingen.«

»Wie geht es denn ihm selbst, ich meine Iljuscha?«

»Ach, schlecht! Ich glaube, er hat die Schwindsucht. Er ist bei vollem Bewußtsein, aber wie er atmet, wie er atmet! Neulich bat er, sie möchten ihn ein bißchen im Zimmer herumführen. Sie zogen ihm seine Stiefel an, und er versuchte zu gehen, aber er fiel hin. ›Ach, Papa‹, sagte er, ›ich habe dir ja gesagt, daß die Stiefel, die ich früher hatte, nichts taugen! In denen war es auch früher unbequem zu gehen.‹ Er dachte, die Stiefel seien daran schuld, daß er umgefallen war. Dabei ist es einfach aus Schwäche geschehen. Er wird keine Woche mehr leben. Doktor Herzenstube besucht ihn. Sie sind jetzt wieder reich, sie haben viel Geld.«

»Schwindler sind sie.«

»Wen meinst du?«

»Die Ärzte und das ganze medizinische Gesindel. Ich bin gegen die Medizin. Sie ist eine nutzlose Einrichtung. Ich werde das übrigens alles noch näher untersuchen. Was ist denn jetzt für ein gefühlvolles Treiben bei euch? Ich glaube, eure ganze Klasse geht da immer hin?«

»Die ganze Klasse nicht, sondern etwa zehn von uns gehen hin. Immer, jeden Tag. Weiter nichts.«

»Ich wundere mich nur über die Rolle, die Alexej Karamasow dabei spielt. Morgen oder übermorgen findet die Gerichtsverhandlung gegen seinen Bruder wegen dieses großen Verbrechens statt, und er hat noch Zeit zu rührenden Szenen mit Jungen?«

»Rührende Szenen gibt es da überhaupt nicht. Du gehst ja jetzt selber hin, um dich mit Iljuscha zu versöhnen.«

»Um mich mit ihm zu versöhnen? Lächerlich! Ich erlaube übrigens niemandem, meine Handlungen zu kritisieren.«

»Aber wie sich Iljuscha freuen wird! Er hat keine Ahnung, daß du kommst. Warum hast du denn so lange nicht kommen wollen? Warum nicht?« rief Smurow.

»Lieber Junge, das ist meine Sache und nicht deine. Ich gehe aus eigenem Antrieb hin, weil das so mein Wille ist. Aber euch hat alle Alexej Karamasow hingeschleppt, das ist der Unterschied. Und woher weißt du das? Vielleicht gehe ich überhaupt nicht hin, um mich mit ihm zu versöhnen? Ein dummer Ausdruck!«

»Karamasow hat uns überhaupt nicht hingeschleppt, ganz und gar nicht. Die von uns gingen einfach von selbst hin, allerdings zuerst mit Karamasow. Erst ging einer hin, dann ein anderer. Der Vater freute sich schrecklich darüber. Weißt du, er wird glattweg den Verstand verlieren, wenn Iljuscha stirbt. Aber wie er sich freut, daß wir uns mit Iljuscha versöhnt haben! Iljuscha hat nach dir gefragt, aber dann kein Wort weiter gesagt. Er fragte nur und schwieg dann. Aber sein Vater wird den Verstand verlieren oder sich aufhängen. Er hat sich ja auch früher schon wie ein Geistesgestörter benommen. Weißt du, er ist ein anständiger Mensch, und das damals war ein Fehler. An allem ist dieser Vatermörder schuld, der ihn damals geschlagen hat.«

»Trotzdem ist Karamasow für mich ein Rätsel. Ich hätte schon längst mit ihm bekannt sein können, aber ich bin in manchen Fällen gern stolz. Außerdem habe ich mir über ihn eine gewisse Meinung gebildet, die ich erst noch überprüfen und klären muß.«

Kolja schwieg würdevoll, Smurow ebenfalls. Smurow empfand Kolja Krassotkin gegenüber die größte Ehrfurcht und wagte nicht im entferntesten sich mit ihm zu vergleichen. Jetzt aber war sein Interesse lebhaft geworden, weil Kolja erklärt hatte, er gehe aus eigenem Antrieb hin, es steckte gewissermaßen ein Rätsel darin, daß Kolja gerade heute auf den Gedanken gekommen war hinzugeben. Sie gingen über den Marktplatz, wo diesmal viele Fuhren von auswärts standen und viel Geflügel angeboten wurde. Die Marktweiber handelten unter ihren Zeltdächern mit Kringeln, Zwirn und so weiter. Solche Sonntagsmärkte wurden bei uns naiverweise Jahrmärkte genannt, und solche »Jahrmärkte« gab es viele im Jahr. Pereswon lief in der vergnügtesten Stimmung mit, bog jedoch unaufhörlich nach rechts und links ab, um irgendwo an etwas zu riechen. Begegnete er anderen Hunden, beschnüffelte er sich mit ihnen nach allen Regeln der Hunde-Etikette.

»Ich beobachte gern das wirkliche Leben, Smurow«, begann Kolja plötzlich. »Hast du bemerkt, wie die Hunde sich beriechen, wenn sie einander begegnen? Dem liegt ein allgemeines Naturgesetz zugrunde.«

»Ja, ein lächerliches.«

»Lächerlich ist es eigentlich nicht, da hast du unrecht. In der Natur gibt es nichts Lächerliches, wenn es dem Menschen mit seinen Vorurteilen auch so scheinen mag. Könnten die Hunde philosophieren und kritisieren, dann würden sie in den gegenseitigen sozialen Beziehungen ihrer Gebieter, der Menschen, sicher ebensoviel finden, was ihnen lächerlich erscheint, wenn nicht weit mehr. Wenn nicht weit mehr, ich wiederhole das, weil ich fest überzeugt bin, daß die Dummheiten bei uns weit zahlreicher sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin, ein beachtenswerter Gedanke. Ich bin Sozialist, Smurow.«

»Was ist das, Sozialist;« fragte Smurow.

»Das ist, wenn alle gleich sind und alle dieselbe Meinung haben, wenn es keine Ehre gibt und die Religion und alle Gesetze so sind, wie es jedem beliebt – na und anderes mehr. Du bist noch nicht alt genug, für dich ist das noch zu früh … Oh, es ist aber kalt!«

»Ja, zwölf Grad. Mein Vater hat vorhin nach dem Thermometer gesehen.«

»Hast du schon bemerkt, Smurow, daß es einem mitten im Winter, bei fünfzehn oder gar achtzehn Grad, nicht so kalt vorkommt wie zum Beispiel jetzt zu Anfang des Winters, wenn plötzlich die Kälte einsetzt wie jetzt mit zwölf Grad und wenn noch wenig Schnee gefallen ist? Das kommt daher, daß sich die Menschen noch nicht daran gewöhnt haben. Bei den Menschen ist alles Gewohnheitssache, in jeder Hinsicht, sogar in ihren staatlichen und politischen Beziehungen. Die Gewohnheit ist die wichtigste Triebkraft … Was ist denn das für ein komischer Bauer?«

Kolja zeigte auf einen hochgewachsenen Bauern mit gutmütigem Gesicht, der in einem Schafpelz neben seiner Fuhre stand und seine in Fausthandschuhen steckenden Hände aneinanderschlug, um sich zu erwärmen. Sein langer blonder Bart war von der Kälte ganz bereift.

»Dem Bauern ist der Bart gefroren!« sagte Kolja tiefsinnig mit lauter Stimme, als sie an ihm vorbeigingen.

»Das ist heute vielen passiert«, antwortete der Bauer ruhig und bedächtig.

»Zieh ihn bloß nicht auf!« bemerkte Smurow.

»Das tut nichts, er wird es nicht übelnehmen, er ist ein guter Mensch. Lebe wohl, Matwej!«

»Lebe wohl!«

»Heißt du denn Matwej?«

»Ja. Hast du das nicht gewußt?«

»Nein, ich hab es aufs Geratewohl gesagt.«

»Na, sieh mal an! Du bist wohl Schüler?«

»Ja.«

»Kriegst du auch Prügel?«

»Nicht allzuviel, nur manchmal.«

»Tut das weh?«

»Ohne das geht es nicht!«

»Ja, ja, so ist es im Leben!« seufzte der Bauer aus tiefstem Herzen.

»Lebe wohl, Matwej!«

»Lebe wohl! Du bist ein liebes Kerlchen, jawohl.« Die Jungen gingen weiter.

»Der war freundlich«, sagte Kolja zu Smurow. »Ich rede gern mit einfachen Leuten, und es macht mir immer Freude, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«

»Warum hast du ihm vorgelogen, daß bei uns geschlagen wird?« fragte Smurow.

»Ich mußte ihm doch ein Vergnügen machen.«

»Inwiefern denn?«

»Siehst du, Smurow, ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nicht gleich versteht und Fragen stellt. Manches kann man einfach nicht klarmachen. Nach Meinung des Bauern bekommt ein Schüler Schläge und muß Schläge bekommen. Was wäre das für ein Schüler, der keine Schläge bekommt, denkt er. Und wenn ich ihm nun auf einmal sage, daß bei uns nicht geschlagen wird, würde ihn das betrüben. Aber du hast dafür kein Verständnis. Man muß es verstehen, mit den einfachen Leuten zu reden.«

»Fang bloß keinen Streit an, sonst kommt am Ende wieder so eine Geschichte heraus wie damals mit der Gans.«

»Hast du Angst?«

»Lach mich nicht aus, Kolja, aber ich habe wirklich Angst. Mein Vater wäre furchtbar böse. Er hat mir streng verboten, mit dir zu gehen.«

»Keine Sorge, diesmal wird nichts passieren … Guten Tag, Natascha«, rief er einer Händlerin zu, die unter ihrer Markise saß.

»Wie kannst du mich denn Natascha nennen? Ich heiße Marja! schrie die Händlerin, eine ziemlich junge Frau, ärgerlich zurück.

»Das ist schön, daß du Marja heißt. Lebe wohl!«

»Ach, du Taugenichts! So ein Dreikäsehoch, und schon so unverschämt!«

»Ich habe keine Zeit für dich. Nächsten Sonntag kannst du es mir erzählen«, sagte Kolja und winkte ab, als ob sie mit ihm angebunden hätte und nicht er mit ihr.

»Was soll ich dir denn Sonntag erzählen? Du hast selber angefangen, nicht ich, du Rotznase!« kreischte Marja. »Durchprügeln müßte man dich, daß du es weißt! Ein stadtbekannter Frechdachs bist du, daß du es weißt!«

Die anderen Händlerinnen, die mit ihren Waren neben Marja saßen, fingen an zu lachen. Doch plötzlich stürzte aus dem Bogengang, an dem die Läden lagen, ein aufgeregter Mensch mit einem langschößigen, blauen Kaftan und Schirmmütze, jung, mit blondem, lockigem Haar und einem langen, blassen, pockennarbigen Gesicht, wohl eine Art Ladendiener, aber kein einheimischer, sondern einer von auswärts. Er schien ebenso dumm wie aufgeregt zu sein und drohte Kolja sofort mit der Faust.

»Ich kenne dich!« schrie er wütend. »Ich kenne dich!«

Kolja musterte ihn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er mit diesem Menschen Streit gehabt haben sollte. Er hatte freilich unzählige Streitereien auf der Straße gehabt; die alle im Gedächtnis zu behalten war unmöglich.

»Du kennst mich?« fragte er ihn ironisch.

»Ja, ich kenne dich! Ich kenne dich!« wiederholte der Ladendiener wie ein Verrückter.

»Na, dann kannst du dich freuen. Aber ich habe keine Zeit, lebe wohl!«

»Was treibst du für Unfug?« rief der Ladendiener. »Willst du wieder Unfug treiben? Ich kenne dich! Willst du wieder Unfug treiben?«

»Das geht dich gar nichts an, lieber Freund, ob ich Unfug treibe«, erwiderte Kolja, blieb stehen und musterte ihn wieder.

»Wieso soll mich das nichts angehen?«

»Ganz einfach, es geht dich nichts an.«

»Aber wen geht es denn an? Wen geht es an? Na, wen geht es an?«

»Das geht Trifon Nikititsch etwas an, aber nicht dich.«

»Was für einen Trifon Nikititsch?« fragte der Bursche und glotzte Kolja mit dummer Verwunderung und immer noch wütend an. Kolja maß ihn mit seinem würdevollen Blick.

»Bist du zur Himmelfahrt gegangen?« fragte er ihn auf einmal in strengem, nachdrücklichem Ton.

»Zu was für einer Himmelfahrt? Warum? Nein, dahin bin ich nicht gegangen«, erwiderte der Bursche etwas verdutzt.

»Kennst du Trifon Nikititsch Sabanejew?« fuhr Kolja noch nachdrücklicher und strenger fort.

»Was für einen Sabanejew? Nein, den kenne ich nicht.«

»Na, dann hol‘ dich der Teufel!« schnitt Kolja das Gespräch ab, drehte sich kurz um und ging davon, als wäre es unter seiner Würde, mit so einem Tölpel, der nicht einmal Sabanejew kannte, auch nur zu reden.

»Halt mal, he! Was für einen Sabanejew?« rief der Bursche, als ob er zu sich käme; er war wieder ganz aufgeregt. »Wen hat er eigentlich gemeint?« wandte er sich an die Händlerinnen und sah sie dumm an.

Die Weiber lachten.

»Ein pfiffiger Patron!« sagte eine.

»Von was für einem Sabanejew hat er denn bloß gesprochen?« wiederholte der Bursche; er war immer noch wütend und fuchtelte mit dem rechten Arm.

»Das ist sicher der Sabanejew, der bei Kusmitschews im Dienst stand, der muß wohl gemeint sein«, vermutete eine Frau.

Der Bursche sah sie verblüfft an.

»Bei Kus-mi-tschews?« mischte sich eine andere Frau ein. »Was soll da für ein Trifon gewesen sein? Der da im Dienst stand, hieß Kusma und nicht Trifon, und der Bengel redete von einem Trifon Nikititsch. Also ist der nicht gemeint.«

»Nun seht mal an, der hieß nicht Trifon und nicht Sabanejew; der hieß Tschishow«, fiel auf einmal eine dritte Frau ein, die bisher geschwiegen und mit ernster Miene zugehört hatte. »Der hieß Alexej Iwanowitsch, mit seinem vollen Namen Alexej Iwanowitsch Tschishow.«

»Das ist richtig, er hieß Tschishow«, bestätigte eine vierte energisch.

Der verdutzte Bursche blickte von einer zur anderen.

»Aber warum hat er denn gefragt, liebe Leute: ›Kennst du Sabanejew?‹?« rief er beinahe schon verzweifelt. »Weiß der Teufel, was das für ein Sabanejew ist!«

»Du bist ein Dummkopf! Du hörst, daß es nicht Sabanejew ist, sondern Tschishow. Alexej Iwanowitsch Tschishow, nun weißt du es!« schrie ihm eine Händlerin belehrend zu.

»Was denn für ein Tschishow? Na, was für einer? Sprich, wenn du es weißt!«

»So ein langer, rotznasiger Bursche. Er hat im Sommer hier auf dem Markt gesessen.«

»Was geht mich euer Tschishow an, ihr lieben Leute?«

»Woher soll ich wissen, was dich Tschishow angeht?«

»Wer kann denn wissen, was er dich angeht!«, fiel eine andere ein. »Das mußt du selber wissen, was er dich angeht, wenn du hier so ein Geschrei machst. Er hat es doch zu dir gesagt und nicht zu uns, du dummer Mensch! Oder kennst du ihn wirklich nicht?«

»Wen?«

»Den Tschishow.«

»Der Teufel hole deinen Tschishow und dich dazu! Verprügeln werde ich ihn, nun weißt du es! Er hat sich über mich lustig gemacht!«

»Du willst Tschishow verprügeln? Oder er dich! Ein Dummkopf bist du, nun weißt du es!«

»Nicht Tschishow will ich verprügeln, du boshaftes Weib, sondern den Bengel, nun weißt du es! Gebt ihn nur her! Er hat sich über mich lustig gemacht!«

Die Frauen lachten. Kolja aber lief schon in weiter Entfernung mit der Miene des Siegers. Smurow ging neben ihm und sah sich mehrmals nach der schreienden Gruppe um. Auch er war sehr fröhlich, obwohl er noch immer fürchtete, mit Kolja in irgendeinen Skandal hineinzugeraten.

»Was ist denn das für ein Sabanejew, nach dem du ihn gefragt hast?« fragte er Kolja, dessen Antwort er im voraus ahnte.

»Woher soll ich wissen, was das für einer ist? Jetzt werden sie sich bis zum Abend anschreien. Ich bringe die Dummköpfe in allen Schichten der Gesellschaft in Bewegung. Da steht noch so ein Tölpel, dieser Bauer da. Ach übrigens, man sagt: ›Es gibt nichts Dümmeres als einen dummen Franzosen.‹ Aber auch die russische Physiognomie ist ein Spiegel der Seele. Na, steht es diesem Kerl nicht im Gesicht geschrieben, daß er ein Dummkopf ist?«

»Laß ihn in Ruhe, Kolja! Wir wollen weitergehen.«

»Auf keinen Fall werde ich ihn in Ruhe lassen, ich bin jetzt in Fahrt gekommen. Heda! Guten Tag, Bauer!«

Der kräftige Bauer, der langsam an ihnen vorbeiging und wohl schon etwas getrunken hatte, mit rundem, schlichtem Gesicht und graumeliertem Bart, hob den Kopf und blickte das Bürschchen an.

»Na, guten Tag, wenn du nicht bloß Spaß, machst«, antwortete er langsam.

»Und wenn ich nun bloß Spaß mache?« erwiderte Kolja lachend.

»Na, wenn du bloß Spaß machst, auch gut, in Gottes Namen. Da ist nichts dabei, das darf man. Ein Späßchen darf man schon mal machen.«

»Entschuldige, lieber Freund, ich habe wirklich bloß Spaß gemacht.«

»Nun, Gott wird es dir verzeihen.«

»Und du selber, verzeihst du mir?«

»Von Herzen! Geh nur weiter!«

»Sieh mal an, du bist ja am Ende ein ganz verständiger Bauer.«

»Verständiger als du«, lautete die überraschende Antwort, die wie alle bisherigen mit ruhigem Ernst gegeben wurde.

»Das doch wohl kaum«, versetzte Kolja etwas betroffen.

»Es ist bestimmt so, wie ich sage.«

»Na, am Ende ist es wirklich so.«

»Gewiß, mein Lieber!«

»Lebe wohl, Bauer!«

»Lebe wohl!«

»Die Bauern sind doch recht verschieden«, bemerkte Kolja nach einigem Schweigen. »Woher sollte ich aber auch wissen, daß ich da auf einen klugen Menschen stoße? Ich bin immer gern bereit, Klugheit beim einfachen Volk anzuerkennen.«

In der Ferne schlug die Domuhr halb zwölf. Die Jungen beeilten sich und legten den noch ziemlich langen Rest des Weges zur Wohnung des Stabskapitäns Snegirjow schnell und fast schweigend zurück. Zwanzig Schritte vor dem Haus blieb Kolja stehen und forderte Smurow auf, vorauszugehen und Karamasow herauszuschicken.

»Wir müssen uns erst einmal beriechen«, bemerkte er.

»Wozu willst du ihn erst herausrufen lassen?« wandte Smurow ein. »Komm doch einfach mit hinein, sie werden sich sehr freuen. Warum willst du seine Bekanntschaft hier in der Kälte machen?«

»Ich weiß, warum ich ihn hier in der Kälte sprechen will«, schnitt Kolja despotisch jede Widerrede ab (diesem »Kleinen« gegenüber tat er das außerordentlich gern), und Smurow ging hinein, den Auftrag zu erfüllen.

4. Shutschka

Kolja lehnte sich mit würdevoller Miene an einen Zaun und wartete auf Aljoscha. Er hatte schon seit längerer Zeit gewünscht, mit ihm zusammenzukommen. Von den anderen hatte er viel über ihn gehört, sich jedoch bisher immer geringschätzig und gleichgültig gegeben, wenn die Rede auf Aljoscha kam; ja, er hatte ihn sogar oft »kritisiert«, sobald von ihm berichtet wurde. Aber im stillen trug er ein großes Verlangen, seine Bekanntschaft zu machen: In allen Erzählungen über Aljoscha war etwas gewesen, was ihn sympathisch berührt und angezogen hatte. So war denn der jetzige Augenblick für ihn von großer Bedeutung. Vor allem durfte er sich nicht blamieren, sondern mußte seine geistige Selbständigkeit an den Tag legen. ›Sonst sagt er sich, daß ich erst dreizehn Jahre alt bin, und behandelt mich als kleinen Jungen wie die anderen. Was hat er an diesen kleinen Jungen? Danach will ich ihn fragen, wenn ich mit ihm in Kontakt treten sollte. Unangenehm ist nur, daß ich so klein gewachsen bin. Tusikow ist jünger als ich, aber einen halben Kopf größer. Dafür habe ich ein kluges Gesicht. Ich bin nicht hübsch, ich weiß, daß ich ein häßliches Gesicht habe, aber das Gesicht ist klug. Ich darf mich bloß nicht zu sehr aufknöpfen, sonst kommen gleich Umarmungen, und er könnte denken … Pfui Teufel, das wäre ja schrecklich, wenn er so etwas denkt …‹

So regte sich Kolja auf, während er sich nach Kräften bemühte, eine recht selbstbewußte Miene zu machen. Am meisten ärgerte ihn seine kleine Statur, weniger sein »häßliches« Gesicht als vielmehr seine Größe. Zu Hause hatte er schon im vorigen Jahr in einer Ecke an der Wand einen Bleistiftstrich gemacht, der seine Größe angab, und seitdem war er alle zwei Monate in großer Erregung herangetreten, um wieder zu messen, wieviel er gewachsen war. Doch leider wuchs er nur sehr wenig, und das brachte ihn manchmal geradezu zur Verzweiflung. Und sein Gesicht war überhaupt nicht »häßlich«, sondern ziemlich hübsch, weiß, etwas blaß, sommersprossig. Die kleinen, aber lebhaften grauen Augen blickten keck in die Welt und spiegelten oft klar und leuchtend seine innersten Gefühle. Seine Backenknochen waren etwas breit, die Lippen klein, nicht dick, aber sehr rot, die Nase klein und erheblich nach oben gebogen. »Die reinste Stupsnase, die reinste Stupsnase!« murmelte Kolja vor sich hin, wenn er in den Spiegel sah, und ging immer mit einem Gefühl der Entrüstung vom Spiegel weg. ›Ist denn mein Gesicht auch wirklich klug?‹ dachte er manchmal sogar zweifelnd. Man braucht jedoch nicht zu glauben, daß die Sorge um sein Gesicht und um seine Größe ihn ganz ausgefüllt hätte. Nein, so peinlich auch die Augenblicke vor dem Spiegel waren, er vergaß sie schnell wieder, und dann sogar für lange Zeit, da er sich ganz »den Ideen und dem wirklichen Leben« hingab, wie er selbst seine Tätigkeit charakterisierte.

Aljoscha erschien bald und ging rasch auf Kolja zu, der schon aus einiger Entfernung sah, daß Aljoscha ein freudiges Gesicht machte. ›Freut er sich wirklich so über mein Kommen?‹ dachte Kolja froh. Wir bemerken bei dieser Gelegenheit, daß sich Aljoscha seit der Zeit, da wir ihn verließen, sehr verändert hatte. Er hatte die Kutte abgelegt und trug jetzt einen gutgearbeiteten Rock, einen weichen, runden Hut und kurzgeschnittenes Haar. Alles dies stand ihm sehr gut, und er sah jetzt geradezu hübsch aus. Sein freundliches Gesicht hatte immer einen heiteren Ausdruck; es war eine stille, ruhige Heiterkeit. Zu Koljas Erstaunen kam Aljoscha zu ihm heraus, wie er im Zimmer gesessen hatte, ohne Überzieher; er hatte sich offensichtlich beeilt. Er reichte Kolja ohne Umstände die Hand.

»Da sind Sie ja endlich, wir haben Sie alle schon sehnsüchtig erwartet.«

»Mein Ausbleiben hatte seine Gründe, die Sie gleich erfahren werden. Jedenfalls freue ich mich, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe schon längst auf eine Gelegenheit gewartet und viel von ihnen gehört«, murmelte Kolja etwas mühsam.

»Wir hätten uns ja ohnedies kennengelernt. Ich habe auch viel von ihnen gehört. Aber hierher hätten Sie viel früher kommen sollen.«

»Sagen Sie, wie steht es hier?«

»Iljuscha geht es sehr schlecht, er wird bestimmt sterben.«

»Was sagen Sie! Da müssen Sie doch zugeben, Karamasow, daß dir ärztliche Wissenschaft ein Humbug ist!« rief Kolja erregt.

»Iljuscha hat Sie oft, sehr oft erwähnt, wissen Sie, sogar im Schlaf, beim Phantasieren. Offenbar hat er Sie früher sehr, sehr gemocht … Vor dieser Geschichte mit dem Messer. Aber da ist auch noch ein anderer Grund … Sagen Sie, ist das ihr Hund?«

»Ja, er heißt Pereswon.«

»Nicht Shutschka?« Aljoscha sah Kolja bedauernd an. »Der ist wohl ganz und gar verschwunden?«

»Ich weiß, daß Sie alle gern Shutschka wiederhaben möchten, ich habe alles gehört«, erwiderte Kolja mit rätselhaftem Lächeln.

»Hören Sie, Karamasow, ich werde ihnen die ganze Sache auseinandersetzen. Ich bin hauptsächlich zu diesem Zweck gekommen und habe Sie deswegen herausrufen lassen, um ihnen die ganze Geschichte zu erklären, bevor wir hineingehen«, begann er lebhaft. »Sehen Sie, Karamasow, im Frühjahr trat Iljuscha in die Vorbereitungsklasse ein. Na, man weiß ja, wie unsere Vorbereitungsklasse beschaffen ist – da sitzen kleine Jungen drin, Kindervolk. Sie fingen sofort an, Iljuscha zu necken. Ich sitze zwei Klassen höher und erlebte das alles nur so aus der Ferne mit, wie etwas, das mich nichts anging. Ich sah, er war ein kleiner, schwächlicher Junge; aber er ließ sich nichts gefallen und prügelte sich sogar mit ihnen, er hatte seinen Stolz, die Augen funkelten ihm nur so. Ich liebe solche Charaktere. Sie trieben es immer schlimmer. Der Hauptgrund war, er trug damals so schlechte Sachen, seine Hosen waren zu klein und die Stiefel zerrissen. Deswegen hänselten sie ihn, es war geradezu entwürdigend. Nein, so etwas kann ich nicht leiden! Ich griff also ein und verabreichte ihnen das Nötige. Ich verprügele sie, und sie vergöttern mich trotzdem, wissen Sie das, Karamasow?« prahlte Kolja mitteilsam. »Und ich mag Kindervolk eigentlich gern leiden. Bei mir zu Hause habe ich jetzt auch zwei solche Knirpse auf dem Hals, die haben mich sogar heute aufgehalten … Sie hörten also endlich auf, Iljuscha zu schlagen, und ich nahm ihn unter meinen Schutz. Ich sah, daß er stolz war, ich kann ihnen sagen: wie stolz! Schließlich aber unterwarf er sich mir sklavisch, erfüllte alle meine Befehle, gehorchte mir, als ob ich sein Gott wäre, und bemühte sich, mir alles nachzutun. In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden kam er immer sofort zu mir, und wir gingen dann zusammen. Ebenso sonntags. Bei uns auf dem Gymnasium spotten sie, wenn ein älterer Schüler so mit einem jüngeren verkehrt, aber das sind veraltete Anschauungen. Ich will es eben so – und damit basta, nicht wahr? Ich belehrte und bildete ihn – sagen Sie selbst, warum soll ich ihn nicht bilden, wenn es mir gefällt? Sie selber, Karamasow, sind ja auch mit diesen Knirpsen in Kontakt getreten, offenbar weil auch Sie auf die junge Generation einwirken, sie bilden und ihr nutzen möchten. Und ich muß gestehen, gerade dieser Zug ihres Charakters, von dem ich erfahren habe, interessiert mich am allermeisten. Zur Sache: ich bemerkte, daß der Junge empfindsam und sentimental wurde – doch ich bin ein Feind aller kalbrigen Zärtlichkeiten, wissen Sie, schon von meiner Geburt an. Und dann diese Widersprüche! Er war stolz und mir trotzdem sklavisch ergeben. Er war mir sklavisch ergeben, und trotzdem funkelten manchmal plötzlich seine Augen, und er wollte mir nicht zustimmen und stritt hartnäckig. Wenn ich ihm manchmal irgendwelche Ideen auseinandersetzte, so sah ich, daß er nicht eigentlich die Ideen bekämpfte, sondern sich geradezu gegen mich persönlich auflehnte, weil ich auf seine Zärtlichkeiten nur kühl antwortete. Um ihn nun zu erziehen, benahm ich mich um so kühler, je zärtlicher er wurde. Ich tat das absichtlich, nach meiner Überzeugung war das richtig. Ich wollte seinen Charakter bilden und festigen, einen Menschen aus ihm machen … Na, Sie verstehen mich ja auch in Andeutungen. Da bemerkte ich, daß er an einem Tag und auch am folgenden und am dritten ganz verstört war und sich grämte, aber nicht wegen der Zärtlichkeiten, sondern aus irgendeinem anderen, stärkeren Grund. Ich dachte: ›Na, was für eine Tragödie steckt da wohl dahinter?‹ Ich drang in ihn und erfuhr dann auch die Geschichte. Er war irgendwie mit Smerdjakow, dem Diener ihres verstorbenen Vaters, zusammengekommen, und der hatte dem dummen kleinen Kerl einen dummen Streich beigebracht, das heißt einen bestialischen Streich, einen gemeinen Streich: ein Stück Brot zu nehmen, eine Stecknadel hineinzustecken und diesen Bissen einem Hofhund hinzuwerfen, einem jener Hunde, die vor Hunger alles verschlingen, was ihnen hingeworfen wird, und dann aufzupassen, was daraus wird. Sie fabrizierten also einen solchen Bissen und warfen ihn dem struppigen Shutschka hin, um den jetzt so viel Wesens gemacht wird, einem Hofhund, der auf seinem Hof nicht das geringste zu fressen bekam und den ganzen Tag bellte … Mögen Sie dieses dumme Gebell leiden, Karamasow? Ich kann es nicht ausstehen. Der Hund stürzte sich gierig auf den Bissen, verschlang ihn, winselte, drehte sich ein paarmal um sich selbst und rannte dann davon, er lief und lief und verschwand – so hat es mir Iljuscha selbst geschildert. Er gestand mir die Sache, weinte, umarmte mich und war tief erschüttert. ›Er lief und winselte, er lief und winselte‹, wiederholte er immer wieder. Dieses Bild hatte einen sehr starken Eindruck auf ihn gemacht! Na, ich sah, daß er Gewissensbisse hatte. Ich nahm die Sache ernst. Hauptsächlich wollte ich ihn auch für das Frühere bestrafen, und daher verstellte ich mich, wie ich gestehen muß, und heuchelte so eine starke Entrüstung, wie ich sie vielleicht gar nicht empfand. ›Du hast eine unwürdige Handlung begangen!‹ sagte ich. ›Du bist ein Schuft, ich werde es natürlich nicht weitersagen, aber bis auf weiteres breche ich den Verkehr mit dir ab. Ich werde über die Sache nachdenken und dich durch Smurow wissen lassen, ob ich in Zukunft die Beziehungen zu dir beibehalte oder dich als Schuft für immer links liegenlasse!‹ Das machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Ich fühlt es gleich damals, daß ich vielleicht zu streng war; zugegeben – doch was sollte ich machen? Mein damaliger Plan verlangte das eben. Am nächsten Tag schickte ich Smurow zu ihm und ließ ihm sagen, daß es zwischen uns ›gespannt‹ sei – so drücken wir uns nämlich aus, wenn zwei Kameraden den Verkehr miteinander abbrechen. Meine geheime Absicht war, ihn nur ein paar Tage lang in dieser peinlichen Lage zu lassen und ihm wieder die Hand zu reichen, wenn ich seine Reue sah. Das war mein fester Vorsatz. Aber was meinen Sie: Als er diese Botschaft vernommen hatte, begannen seine Augen auf einmal zu funkeln: ›Bestell Krassotkin von mir‹, rief er, ›daß ich jetzt allen Hunden Bissen mit Stecknadeln hinwerfen werde, allen!‹ Aha, dachte ich, er ist eigensinnig geworden, den Eigensinn müssen wir ihm austreiben! Und ich fing an, ihm meine vollständige Verachtung zu zeigen; bei jeder Begegnung wandte ich mich von ihm ab oder lächelte ironisch. Und da passierte auf einmal die Sache mit seinem Vater, Sie erinnern sich, die Geschichte mit dem Bastwisch. Sie können sich denken, daß er schon vorher furchtbar nervös geworden war. Als die Kameraden sahen, daß ich mich von ihm abgewandt hatte, fielen sie über ihn her und verhöhnten ihn: ›Bastwisch! Bastwisch!‹ Und dann begannen zwischen ihnen die Kämpfe, die ich schrecklich bedaure, weil sie ihn wohl sehr schmerzhaft verprügelt haben. Einmal stürzte er sich auf dem Hof auf sie, als sie aus den Klassen kamen; ich stand zufällig zehn Schritte entfernt und beobachtete ihn. Und ich schwöre, ich kann mich nicht erinnern, daß ich damals gelacht hätte! Im Gegenteil, er tat mir damals sehr, sehr leid; noch eine Sekunde, und ich wäre hingestürzt, um ihn zu schützen. Doch plötzlich trafen sich unsere Blicke. Was er in meinem zu sehen glaubte, weiß ich nicht – jedenfalls nahm er sein Federmesser heraus, warf sich auf mich und stieß es mir in die Hüfte, hier am rechten Bein. Ich rührte mich nicht; ich bin nämlich manchmal tapfer, Karamasow. Ich sah ihn nur verächtlich an, als wollte ich sagen: Wenn du das zum Dank für meine Freundschaft noch einmal tun willst, stehe ich zu deinen Diensten! Aber er stach nicht zum zweitenmal zu, er konnte es wohl nicht. Er hatte selbst einen Schreck bekommen, warf das Messer hin, fing laut an zu heulen und lief weg. Ich habe selbstverständlich nicht gepetzt und befahl auch allen anderen, darüber zu schweigen, damit es den Lehrern nicht zu Ohren kam; sogar meiner Mutter habe ich es erst gesagt, als alles wieder geheilt war. Außerdem war die Wunde unbedeutend, eine Schramme. Noch am selben Tag hat er dann, wie ich hörte, mit anderen Schülern ein Steinbombardement gehabt und Sie in den Finger gebissen – aber Sie können sich ja selber denken, in welchem Gemütszustand er sich befand! Na, was ist da zu machen? Ich habe mich dumm benommen! Als er krank wurde, ging ich nicht zu ihm, um ihm zu verzeihen, ich wollte sagen, um mich mit ihm zu versöhnen – jetzt bereue ich das. Und inzwischen hatte ich auch schon ganz bestimmte Absichten. So, das ist also die ganze Geschichte … Ich glaube, ich habe mich wirklich dumm benommen!«

»Wie schade«, rief Aljoscha erregt, »daß ich von ihren Beziehungen zu ihm nicht schon früher gewußt habe! Sonst wäre ich schon längst von selbst zu ihnen gekommen und hätte Sie gebeten, mit mir zusammen zu ihm zu gehen. Ob Sie es glauben oder nicht: in seiner Krankheit, im Fieber, hat er von ihnen phantasiert! Ich wußte nicht, wieviel Sie ihm bedeuten! Und Sie haben diesen Shutschka wirklich nicht gefunden? Sein Vater und alle Kameraden haben in der ganzen Stadt nach ihm gesucht. Wissen Sie, daß er auf seinem Krankenbett in meiner Gegenwart schon dreimal unter Tränen gesagt hat: ›Meine Krankheit kommt daher, Papa, daß ich damals Shutschka getötet habe! Dafür hat Gott mich gestraft.‹ Von diesem Gedanken läßt er sich einfach nicht abbringen! Wenn man jetzt nur diesen Shutschka auftreiben und ihm zeigen könnte, daß er nicht tot ist – so würde er, ich glaube, er würde vor Freude wie neubelebt sein! Wir haben alle auf Sie gehofft!«

»Sagen Sie, warum haben Sie eigentlich gehofft, daß ich Shutschka finden würde? Ich meine, daß gerade ich ihn finden würde?« fragte Kolja neugierig. »Warum haben Sie gerade auf mich gerechnet und nicht auf einen anderen?«

»Es gab ein Gerücht, daß Sie ihn suchen und, sollten Sie ihn finden, zu ihm bringen. Smurow hat so etwas gesagt. Wir geben uns alle Mühe, den Kranken zu überzeugen, daß Shutschka lebt und irgendwo gesehen worden ist. Die Jungen hatten schon ein lebendiges Häschen beschafft; er aber lächelte nur matt und bat, sie möchten es wieder aufs Feld bringen. Das haben wir denn auch getan. Eben ist sein Vater nach Hause gekommen und hat ihm einen jungen Bullenbeißer mitgebracht, den er ebenfalls irgendwo beschafft hat. Er dachte, ihn damit zu trösten, aber sein seelischer Zustand scheint dadurch nur noch schlimmer geworden zu sein.«

»Noch eins, Karamasow. Was für ein Mensch ist sein Vater? Ich kenne ihn, aber was ist er nach ihrem Urteil: ein Possenreißer, ein Hanswurst?«

»O nein. Es gibt tiefempfindende Menschen, die jedoch vom Schicksal niedergedrückt worden sind. Ihre Possenreißerei ist eine Art boshafter Ironie denen gegenüber, denen sie aus einer langjährigen, erniedrigenden Furcht die Wahrheit nicht ins Gesicht zu sagen wagen. Glauben Sie, Krassotkin, so eine Possenreißerei ist manchmal höchst tragisch. Für ihn konzentrieren sich jetzt alle Interessen, die er auf der Welt hat, in der Person Iljuschas, und wenn Iljuscha stirbt, wird er entweder den Verstand verlieren oder sich das Leben nehmen. Davon bin ich beinahe überzeugt, wenn ich ihn mir jetzt ansehe!«

»Ich verstehe Sie, Karamasow. Ich sehe, Sie sind ein Menschenkenner«, sagte Kolja nicht ohne Ergriffenheit.

»Als ich Sie eben mit dem Hund sah, dachte ich, Sie bringen diesen Shutschka.

»Warten Sie nur, Karamasow, vielleicht werden wir ihn noch finden. Das hier ist Pereswon. Ich werde ihn jetzt ins Zimmer lassen und Iljuscha durch ihn vielleicht mehr erfreuen als durch den kleinen Bullenbeißer. Warten Sie, Karamasow, Sie sollen gleich noch etwas erfahren … Ach, mein Gott, wie kann ich Sie nur so aufhalten!« rief Kolja plötzlich eifrig. »Sie sind ja nur im Rock bei dieser Kälte, und ich halte Sie auf! Da sehen Sie, was ich für ein Egoist bin! Oh, wir alle sind Egoisten, Karamasow!«

»Beunruhigen Sie sich nicht. Allerdings ist es kalt, doch ich erkälte mich nicht so leicht. Aber wollen wir nicht hineingehen. Übrigens, wie ist ihr Name? Ich weiß, daß Sie Kolja heißen, aber wie weiter?«

»Nikolai lwanowitsch Krassotkin oder wie es offiziell auf dem Gymnasium lautet: Schüler Krassotkin«, erwiderte Kolja lachend, und dann fügte er plötzlich hinzu: »Ich hasse den Namen Nikolai.«

»Warum denn?«

»Er ist so trivial, so allgemein üblich,«

»Sie sind dreizehn Jahre alt?« fragte Aljoscha.

»Das heißt vierzehn, in zwei Wochen werde ich vierzehn, also sehr bald. Ich will ihnen gleich von vornherein eine Schwäche gestehen, Karamasow – das soll der Anfang unserer Bekanntschaft sein, damit Sie gleich mit einemmal mein ganzes Wesen kennenlernen. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand nach meinem Alter fragt; und der Ausdruck ›nicht leiden können‹ ist dabei eigentlich noch viel zu schwach … Und ferner … Da wird zum Beispiel über mich die Verleumdung verbreitet, ich hätte in der vorigen Woche mit den Vorschülern ›Räuber‹ gespielt. Daß ich gespielt habe, ist eine Tatsache; doch daß ich um meinetwillen gespielt hätte, um mir selbst dadurch ein Vergnügen zu bereiten, ist eine Verleumdung. Ich habe Grund zu glauben, daß dies auch ihnen zu Ohren gekommen ist. Ich habe aber nicht um meinetwillen gespielt, sondern um der Kinder willen, weil sie ohne meine Hilfe keine Einfälle hatten. Bei uns werden immer solche albernen Gerüchte ausgesprengt. Unsere Stadt ist ein richtiges Klatschnest, glauben Sie mir.«

»Und selbst wenn Sie zu ihrem eigenen Vergnügen gespielt hätten – was wäre denn dabei?«

»Na, zu meinem eigenen Vergnügen … Sie werden doch nicht Pferdchen spielen wollen?«

»Betrachten Sie doch die Sache einmal so«, erwiderte Aljoscha lächelnd. »Die Erwachsenen gehen ins Theater. Im Theater werden ebenfalls die Abenteuer aller möglichen Helden dargestellt, und manchmal kommen dabei auch Räuber und Krieg vor, ist das in seiner Art nicht dasselbe? Und wenn die jungen Leute in den Unterrichtspausen Krieg oder Räuber spielen, dann ist das auch in der Entwicklung begriffene Kunst, ein erwachendes Kunstbedürfnis. Und diese Spiele sind manchmal sogar besser arrangiert als die Vorstellung im Theater. Der Unterschied besteht nur darin, daß man ins Theater geht, um Schauspieler zu sehen, während hier die jungen Leute selbst die Schauspieler sind. Aber das macht die Sache erst recht natürlich.«

»Denken Sie so darüber? Ist das ihre Überzeugung?« sagte Kolja und sah ihn unverwandt an. »Wissen Sie, Sie haben da einen sehr interessanten Gedanken ausgesprochen. Wenn ich jetzt nach Hause komme, werde ich ihn durchdenken. Ich muß gestehen, ich hatte auch erwartet, daß ich von ihnen manches lernen kann … Ich bin gekommen, um von ihnen zu lernen, Karamasow«, schloß Kolja aufrichtig und offenherzig.

»Und ich von ihnen«, erwiderte Aljoscha lächelnd und drückte ihm die Hand.

Kolja war mit Aljoscha höchst zufrieden. Es gefiel ihm sehr, daß dieser mit ihm auf gleichem Fuß verkehrte und mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach.

»Ich werde ihnen gleich ein Kunststück zeigen, Karamasow! Auch eine Theatervorstellung«, sagte er nervös lachend. »Zu diesem Zweck bin ich hergekommen.«

»Wir wollen zuerst zu den Wirtsleuten gehen, dort haben ihre Kameraden ihre Mäntel gelassen, weil es in der anderen Stube eng und heiß ist.«

»Oh, ich bin nur für einen Augenblick gekommen, ich werde den Mantel anbehalten und so dasitzen. Pereswon wird hier auf dem Flur bleiben und sterben. Ici, Pereswon, leg dich und stirb! – Sehen Sie, nun ist er gestorben … Ich will erst einmal hineingehen und mir die Situation ansehen, und dann, wenn der richtige Moment da ist, werde ich pfeifen, und Sie werden sehen, Pereswon wird sofort wie toll hereingestürmt kommen. Nur darf Smurow nicht vergessen, rechtzeitig die Tür aufzumachen. Nun, ich werde schon alles arrangieren, und Sie werden ein famoses Kunststück sehen …«

5. An Iljuschas Bett

In der uns bereits bekannten Stube, in der die Familie des Stabskapitäns a. D. Snegirjow wohnte, war es in diesem Augenblick infolge des zahlreichen Besuchs schwül und eng. Eine ganze Anzahl Jungen saßen diesmal bei Iljuscha, und obgleich sie alle sowie Smurow bestritten hätten, daß Aljoscha sie hergebracht und mit Iljuscha versöhnt habe, war es doch so. Seine ganze Kunst hatte in diesem Fall darin bestanden, daß er sie nacheinander zu Iljuscha geführt hatte, ohne »kalbrige Zärtlichkeiten« und anscheinend ganz unabsichtlich und zufällig. Dem Kranken hatte dies eine große Erleichterung gebracht. Er war gerührt, als er die beinahe zärtliche Teilnahme und Freundschaft aller dieser seiner früheren »Feinde« sah. Nur Krassotkin fehlte noch, und das lag ihm wie eine schwere Last auf dem Herzen. Wenn in Iljuschetschkas Erinnerungen etwas besonders Bitteres war, so dieser Vorfall mit Krassotkin, seinem früheren einzigen Freund und Beschützer, auf den er sich mit dem Messer gestürzt hatte. So dachte auch der kluge Knabe Smurow; er war als erster zu Iljuscha gekommen, um sich mit ihm zu versöhnen. Krassotkin selbst hatte allerdings, als Smurow ihm andeutete, Aljoscha wolle »in einer gewissen Angelegenheit« zu ihm kommen, sogleich kurz abgebrochen und den Plan zunichte gemacht, indem er Karamasow bestellen ließ, er, Krassotkin, wisse selber, was er zu tun habe; er bitte niemanden um Rat und werde schon selber den richtigen Zeitpunkt wählen, wenn er zu dem Kranken gehen wolle: er habe »seinen eigenen Plan«. Das war etwa zwei Wochen vor diesem Sonntag. Hierin war auch der Grund zu suchen, weshalb Aljoscha nicht selbst zu ihm gegangen war, wie er anfänglich beabsichtigt hatte. Statt dessen hatte er den kleinen Smurow noch einmal und dann noch einmal zu Krassotkin geschickt. Aber diese beiden Male hatte Krassotkin schon mit einer sehr schroffen Absage geantwortet und Aljoscha bestellen lassen, sollte er ihn persönlich abholen kommen, würde das bewirken, daß er dann überhaupt nie zu Iljuscha gehen würde; man möge ihn also nicht weiter belästigen. Sogar kurz vorher hatte Smurow noch nicht gewußt, daß Kolja sich entschlossen hatte, an diesem Vormittag zu Iljuscha zu gehen. Erst am Abend zuvor hatte Kolja, als er sich von Smurow verabschiedete, auf einmal in barschem Ton gesagt, er solle am nächsten Vormittag zu Hause auf ihn warten, da er mit ihm zusammen zu Snegirjows gehen wolle; er solle sich aber nicht unterstehen, jemand von seinem bevorstehenden Besuch zu benachrichtigen; denn er wolle überraschend kommen. Smurow hatte gehorcht. Die Hoffnung, daß Kolja den verschollenen Shutschka mitbringen würde, hegte Smurow auf Grund einiger flüchtig hingeworfener Bemerkungen Koljas: »Sie sind sämtlich Esel, wenn sie einen Hund nicht auffinden können, falls er überhaupt noch am Leben ist!« Als jedoch Smurow bei einer passenden Gelegenheit seine Vermutung wegen des Hundes Krassotkin gegenüber schüchtern angedeutet hätte, war dieser plötzlich furchtbar ärgerlich geworden: »Wie werde ich denn so ein Esel sein, fremde Hunde in der ganzen Stadt zu suchen, wenn ich meinen Pereswon habe? Kann man denn überhaupt glauben, daß ein Hund, der eine Stecknadel verschluckt hat, am Leben geblieben ist? Eine rührselige Idee, weiter nichts!«

Iljuscha hatte inzwischen sein Bett in der Ecke bei den Heiligenbildern schon zwei Wochen fast nicht mehr verlassen. Zur Schule war er seit jenem Tag nicht mehr gegangen, da er Aljoscha in den Finger gebissen hatte. Von da an hatte er gekränkelt, wenn er auch noch etwa einen Monat lang ab und zu aufstehen und ein wenig in der Stube und auf dem Flur umhergehen konnte. Zuletzt war er ganz kraftlos geworden, so daß er sich ohne Hilfe des Vaters nicht mehr bewegen konnte. Der Vater zitterte um ihn, hatte sogar aufgehört zu trinken und war beinahe wahnsinnig vor Angst, daß sein Sohn sterben könnte. Wenn er ihn manchmal am Arm in der Stube umhergeführt und dann wieder aufs Bett gelegt hatte, lief er plötzlich auf den Flur hinaus, stellte sich in eine dunkle Ecke, lehnte sich mit der Stirn gegen die Wand, weinte und schluchzte in eigentümlich hohen Tönen, wobei er sich jedoch Mühe gab, seine Stimme zu unterdrücken, damit Iljuschetschka sein Schluchzen nicht hörte.

Wenn er dann in die Stube zurückkehrte, versuchte er gewöhnlich, seinen lieben Jungen irgendwie zu zerstreuen und zu trösten, er erzählte ihm Märchen und komische Anekdoten oder stellte allerlei lächerliche Menschen dar, mit denen er einmal zusammengetroffen war, ja er ahmte sogar Tiere nach, wie sie heulten oder schrien. Aber Iljuscha hatte es nicht gern, wenn sein Vater Grimassen schnitt und sich zum Hanswurst machte. Der Junge suchte zwar zu verbergen, daß ihm das unangenehm war; aber er war sich schmerzlich dessen bewußt, daß sein Vater in der Gesellschaft degradiert war, und mußte immer unwillkürlich an den »Bastwisch« und jenen schrecklichen Tag denken. Ninotschka, Iljuschetschkas gelähmte, sanfte Schwester, mochte es ebenfalls nicht, wenn der Vater Possen trieb; Warwara NikoIajewna war schon längst wieder nach Petersburg zurückgekehrt, um weiterzustudieren; die schwachsinnige Mama dagegen amüsierte sich sehr und lachte von ganzem Herzen, wenn ihr Mann anfing, irgend etwas vorzuspielen oder irgendwelche komischen Gebärden zu machen. Das war das einzige, wodurch sie sich aufheitern ließ; die ganze übrige Zeit weinte und klagte sie, alle Menschen hätten sie jetzt vergessen, niemand achte sie, man beleidige sie, und so weiter und so fort. Doch in den allerletzten Tagen schien auch mit ihr plötzlich eine Veränderung vorgegangen zu sein. Sie schaute häufig in die Ecke nach Iljuscha und war nachdenklich geworden. Sie war jetzt viel stiller, und wenn sie weinte, dann leise, um nicht gehört zu werden. Der Stabskapitän hatte traurig und verwundert diese Veränderung wahrgenommen. Die Besuche der Kameraden hatten ihr anfangs mißfallen und sie nur geärgert; aber dann zerstreuten sie das lustige Geschrei und die Erzählungen der Kinder und gefielen ihr jetzt so sehr, daß sie sich schrecklich gegrämt hätte, wären die Jungen nicht mehr gekommen. Wenn die Kinder etwas erzählten oder spielten, lachte sie und klatschte in die Hände. Manche von ihnen rief sie zu sich heran und küßte sie. Den kleinen Smurow hatte sie besonders liebgewonnen. Den Stabskapitän hatten die Besuche der Kinder gleich von Anfang an froh und glücklich gestimmt, er hatte sogar Hoffnung geschöpft, Iljuscha könnte nun aufhören, traurig zu sein, und infolgedessen vielleicht schneller wieder gesund werden. Trotz aller Angst um Iljuscha hatte er bis zuletzt keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sein Sohn plötzlich genesen würde. Er empfing die kleinen Besucher ehrerbietig, war ihnen gegenüber betulich und diensteifrig und ließ sie auf seinem Rücken reiten; Iljuscha gefielen diese Spiele jedoch nicht, und so wurden sie wieder aufgegeben. Er kaufte für sie allerlei Leckereien wie Pfefferkuchen und Nüsse, bewirtete sie mit Tee und strich ihnen Butterbrote. Er litt in dieser Zeit übrigens keinen Mangel an Geld. Die zweihundert Rubel von Katerina Iwanowna hatte er angenommen, wie es Aljoscha vorausgesagt hatte. Und als Katerina Iwanowna schließlich Näheres über die Lage der Familie und über Iljuschas Krankheit erfahren hatte, war sie selbst zu einem Besuch in die Wohnung gekommen, hatte sich mit der ganzen Familie bekannt gemacht und sogar die schwachsinnige Mutter zu bezaubern vermocht. Seitdem hatte sie mit Unterstützungen nicht gegeizt, und der Stabskapitän selbst, bedrückt durch den schrecklichen Gedanken, sein Sohn könnte sterben, hatte seine früheren Bedenken über eine mögliche Verletzung seiner Ehre vergessen und nahm die Gaben willig an. Die ganze Zeit hatte Doktor Herzenstube auf Katerina Iwanownas Veranlassung den Kranken ständig besucht, und zwar pünktlich jeden Tag. Nutzen brachten seine Besuche allerdings nur wenig, obgleich er den Patienten mit Arzneien vollstopfte. Dafür wurde an diesem Sonntagvormittag beim Stabskapitän ein neuer Arzt erwartet, der aus Moskau gekommen war, wo er als Kapazität galt. Katerina Iwanowna hatte ihn für eine große Summe extra aus Moskau kommen lassen – nicht um Iljuschas willen, sondern zu einem anderen Zweck, von dem später noch die Rede sein wird; da er aber nun einmal da war, hatte sie ihn gebeten, auch Iljuschetschka zu besuchen, und den Stabskapitän im voraus davon benachrichtigt. Von Kolja Krassotkins Kommen hingegen hatte der Stabskapitän nicht die geringste Ahnung, obgleich er schon lange wünschte, daß dieser Junge, der eine Ursache für Iljuschetschkas Kummer war, endlich kam. In dem Augenblick, als Krassotkin die Tür öffnete und in der Stube erschien, standen alle dicht gedrängt um das Bett des Kranken und betrachteten einen winzig kleinen jungen Bullenbeißer, den der Vater soeben mitgebracht hatte; er war erst am vorigen Tag geboren, doch der Stabskapitän hatte ihn schon vor einer Woche bestellt, um Iljuschetschka zu zerstreuen und zu trösten, der dauernd dem verschwundenen und sicherlich schon toten Shutschka nachtrauerte. Iljuscha, der schon vor drei Tagen gehört hatte, daß er ein kleines Hündchen geschenkt bekommen würde, und zwar kein gewöhnliches, sondern einen echten Bullenbeißer, zeigte zwar aus Zartgefühl, daß er sich über das Geschenk freute, aber alle spürten deutlich, daß das neue Hündchen vielleicht nur noch stärker die Erinnerung an den unglücklichen Shutschka wachrief. Das Hündchen lag neben ihm auf dem Bett und krabbelte herum, und er streichelte es, schmerzlich lächelnd, mit seinen blassen, abgemagerten Händchen; man konnte sogar sehen, daß ihm das Hündchen gefiel, aber … Shutschka war es doch nicht, es war doch nicht Shutschka! Ja, wenn Shutschka und das Hündchen zusammen … Dann wäre das Glück vollkommen gewesen.«

»Krassotkin!« rief plötzlich einer, der den eintretenden Kolja zuerst erblickt hatte. Es entstand eine merkliche Erregung; die Jungen traten auseinander und stellten sich an beide Seiten des Bettes, so daß Iljuschetschka auf einmal frei zu sehen war.

Der Stabskapitän stürzte dem Ankömmling eifrig entgegen.

»Treten Sie näher, treten Sie näher … teurer Gast!« stammelte er. »Iljuschetschka, Herr Krassotkin ist zu dir gekommen …«

Doch Krassotkin bewies, nachdem er dem Stabskapitän rasch die Hand gegeben hatte, unverzüglich seine Kenntnis der Umgangsformen. Er wandte sich mit einer korrekten Verbeugung zuerst an die Gattin des Stabskapitäns, die auf ihrem Lehnstuhl saß und gerade in diesem Augenblick sehr unzufrieden war und darüber murrte, daß die Jungen Iljuschas Bett umlagerten und sie hinderten, das neue Hündchen zu sehen. Dann verbeugte er sich auch vor Ninotschka wie vor einer Dame. Dieses höfliche Benehmen machte auf die kranke Dame einen außerordentlich angenehmen Eindruck.

»Da sieht man doch gleich, daß es ein gut erzogener junger Mann ist«, sagte sie laut. »Aber unsere übrigen Gäste, die kommen einer auf dem anderen herein.«

»Wieso denn einer auf dem anderen, Mamachen, wie meinst du das?« fragte der Stabskapitän zwar freundlich, aber doch ein bißchen besorgt um »Mamachen«.

»Ja, so kommen sie hereingeritten. Auf dem Flur setzt sich einer dem anderen auf die Schulter und reitet so zu einer anständigen Familie herein. Wie kann ein Gast sich so benehmen?«

»Wer ist denn so hereingeritten, Mamachen?«

»Dieser hier ist heute auf diesem hereingeritten und jener auf jenem …«

Aber Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Der Kranke war sichtlich blaß geworden. Er richtete sich auf und blickte starr und unverwandt Kolja an. Dieser hatte seinen früheren kleinen Freund etwa zwei Monate nicht gesehen und stand nun ganz bestürzt vor ihm; er hatte nicht geahnt, daß er so ein abgemagertes, gelb gewordenes Gesicht, so fieberhaft brennende und schrecklich groß scheinende Augen, so ausgemergelte Hände zu sehen bekommen würde. Mit traurigem Staunen bemerkte er, daß Iljuscha tief und hastig atmete und ganz trockene Lippen hatte. Er reichte ihm die Hand und sagte beinahe fassungslos: »Nun, Alter … Wie geht es dir?«

Die Stimme versagte ihm, er vermochte den ungezwungenen Ton nicht beizubehalten, sein Gesicht verzog sich plötzlich, und um seine Lippen zuckte es. Iljuscha lächelte ihm schmerzlich zu; er war noch immer nicht imstande, ein Wort zu sagen. Kolja hob plötzlich die Hand und strich mit der Handfläche über Iljuschas Haar.

»Na, das … macht … nichts!« flüsterte er ihm zu, teils, um ihn zu ermutigen, teils, ohne selbst recht zu wissen, warum er das sagte. Ein Weilchen schwiegen beide.

»Was ist denn das? Du hast ja einen neuen kleinen Hund?« fragte Kolja plötzlich in völlig teilnahmslosem Ton.

»Ja-a-a!« antwortete Iljuscha gedehnt und flüsternd; er konnte kaum atmen.

»Er hat eine schwarze Nase, also gehört er zu den bösen Hunden, zu den Kettenhunden«, bemerkte Kolja wichtig mit fester Stimme, als ging es jetzt um nichts anderes als um den kleinen Hund und seine schwarze Nase. Aber die Hauptsache war, daß er sich immer noch bemühte, seine Rührung zu unterdrücken, um nicht wie ein »kleiner Junge« loszuweinen, ihrer aber immer noch nicht Herr werden konnte. »Wenn er heranwächst, wird er an die Kette müssen, ich verstehe mich darauf.«

»Er wird riesengroß!« rief einer aus dem Schwarm.

»Das ist bekannt. Ein Bullenbeißer, das ist ein riesiges Tier, so groß wie ein Kalb!« riefen mehrere durcheinander.

»So groß wie ein Kalb, wie ein richtiges Kalb!« fiel der Stabskapitän ein, der schnell hinzugesprungen war. »Ich habe absichtlich so einen ausgesucht, einen recht bösen, und auch seine Eltern sind riesige, böse Tiere, so hoch vom Fußboden … Aber setzen Sie sich doch bitte. Hier, auf das Bett zu Iljuscha oder auch hier auf die Bank! Bitte schön, Sie teurer, lang erwarteter Gast … Sind Sie mit Alexej Fjodorowitsch zusammen gekommen?«

Krassotkin setzte sich auf Iljuschas Bett, an das Fußende. Obgleich er sich unterwegs gewiß überlegt hatte, wie er das Gespräch ungezwungen beginnen könnte, hatte er jetzt gänzlich den Faden verloren.

»Nein … Ich bin mit Pereswon gekommen … Ich habe jetzt so einen Hund, Pereswon. Das ist ein altslawischer Name. Er wartet draußen … Wenn ich pfeife, kommt er hereingelaufen … Ich bin auch mit einem Hund gekommen«, wandte er sich auf einmal an Iljuscha, »denkst du noch an Shutschka, Alter?« Die Frage wirkte auf Iljuscha wie ein Schlag auf den Kopf. Sein Gesicht verzerrte sich; er blickte mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes Kolja an. Aljoscha, der an der Tür stand, machte ein finsteres Gesicht und winkte Kolja verstohlen, er möchte nicht von Shutschka reden, doch der bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.

»Wo ist denn … Shutschka?« fragte Iljuscha mit versagender Stimme.

»Na, Bruder, dein Shutschka ist flötengegangen! Dein Shutschka ist krepiert!«

Iljuscha schwieg, sah aber Kolja noch einmal eindringlich an.

Aljoscha fing einen Blick Koljas auf und winkte ihm wieder aus Leibeskräften, der aber tat, als ob er es nicht bemerkt hätte.

»Der ist weggelaufen und krepiert. Wie sollte er auch nach so einem Bissen nicht krepieren«, fuhr Kolja erbarmungslos fort, atmete jedoch dabei selbst aus irgendeinem Grund mühsam. »Ich habe dafür Pereswon … Das ist ein altslawischer Name … Ich habe ihn dir mitgebracht …«

»Ich möchte ihn nicht sehen«, sagte Iljuschetschka plötzlich.

»Doch, doch, du sollst ihn sehen, du mußt ihn unbedingt sehen … Er wird dir Freude machen. Ich habe ihn absichtlich mitgebracht … Er ist genauso struppig wie der andere … Erlauben Sie, gnädige Frau, daß ich meinen Hund rufe?« wandte er sich an Frau Snegirjowa; er befand sich jetzt in unbegreiflicher Erregung.

»Ich möchte ihn nicht sehen, ich möchte ihn nicht sehen!« rief Iljuscha schmerzerfüllt. Seine brennenden Augen blickten, vorwurfsvoll.

»Möchten Sie nicht …«, rief plötzlich der Stabskapitän und sprang auf, »möchten Sie nicht … zu anderer Zeit …«

Aber Kolja bestand hartnäckig auf seinem Willen, rief eilig Smurow zu: »Smurow, mach die Tür auf!« und pfiff dann laut auf seiner Pfeife. Pereswon stürmte hastig herein.

»Spring, Pereswon! Steh!« schrie Kolja, und der Hund stellte sich auf die Hinterfüße und machte vor Iljuschas Bett Männchen. Da geschah etwas, was niemand erwartet hatte; Iljuscha fuhr zusammen, beugte plötzlich heftig den ganzen Oberkörper nach vorn zu Pereswon und blickte ihn, starr vor Staunen, an.

»Das … ist Shutschka« schrie er auf einmal; und die Stimme zitterte ihm vor Schmerz und Glückseligkeit.

»Wer soll es denn sonst sein?«schrie Krassotkin aus voller Kehle mit heller Stimme; dann bückte er sich zu dem Hund hinunter, packte ihn und hob ihn zu Iljuscha hinauf.

»Sieh nur, Alter, sieh her! Das eine Auge ist ausgelaufen, und das linke Ohr ist eingerissen! Genau die Merkmale, die du mir angegeben hast. Nach diesen Merkmalen habe ich ihn auch gefunden. Ich habe ihn gleich damals gefunden, sehr bald. Er gehörte ja niemandem!« fügte er zur Erläuterung hinzu, wobei er sich schnell zu dem Stabskapitän, zu dessen Gattin, zu Aljoscha und dann wieder zu Iljuscha wandte. »Er lebte bei Fedotows auf dem Hinterhof, wollte sich da heimisch machen. Aber die gaben ihm nichts zu fressen, er war ja aus irgendeinem Dorf weggelaufen … So machte ich ihn also ausfindig… Siehst du, Alter, er hat deinen Bissen damals offenbar gar nicht hintergeschlungen. Hätte er ihn hintergeschlungen, wäre er natürlich gestorben, das ist sicher. Da er jetzt noch lebt, hat er ihn offenbar noch rechtzeitig ausgespuckt. Du hast es bloß nicht bemerkt, daß er ihn ausgespuckt hat. Er hat ihn ausgespuckt und sich dabei in die Zunge gestochen, darum hat er damals gewinselt. Er lief davon und winselte, und du dachtest, er hätte den Bissen verschluckt. Er mußte so sehr winseln, denn ein Hund hat eine zarte Haut im Mund … zarter als der Mensch, viel zarter!« rief Kolja in höchster Erregung, und sein Gesicht glühte und strahlte nur so.

Iljuscha konnte gar nicht reden. Mit großen Augen und offenem Mund sah er Kolja an; er war bleich wie Leinen. Wenn der ahnungslose Krassotkin gewußt hätte, welche Qual dieser Augenblick dem kranken Kameraden bereitete, ja daß er ihm tödlich werden konnte, hätte er sich um keinen Preis entschlossen, ein Stückchen wie dieses auszuführen. Doch von den Anwesenden war Aljoscha vielleicht der einzige, der das begriff. Der Stabskapitän schien sich förmlich in einen kleinen Jungen verwandelt zu haben.

»Shutschka! Also das ist Shutschka!« schrie er ganz selig. »Iljuschetschka, das ist Shutschka, dein Shutschka! Mamachen, das ist Shutschka!«

Er fing beinahe zu weinen an.

»Und ich bin nicht darauf gekommen!« rief Smurow betrübt. »Nein, dieser Krassotkin! Ich habe es gleich gesagt, daß er Shutschka findet – und er hat ihn auch wirklich gefunden!«

»Er hat ihn wirklich gefunden!« wiederholte einer der Jungen fröhlich.

»Ein Prachtkerl, der Krassotkin!« rief ein dritter.

»Ein Prachtkerl, ein Prachtkerl! »riefen alle und klatschten Beifall.

»Wartet mal, wartet mal!« bemühte sich Krassotkin alle zu überschreien. »Ich will euch erzählen, wie es zugegangen ist – nur darin liegt ja der Witz, wie es zugegangen ist! Also als ich ihn gefunden hatte, schleppte ich ihn zu mir nach Hause, versteckte ihn hinter Schloß und Riegel und zeigte ihn bis zum letzten Tag niemandem. Nur Smurow erfuhr vor zwei Wochen von ihm; aber ich redete ihm ein, es sei Pereswon, und er erriet die Wahrheit nicht. Und in der Zwischenzeit hatte ich dem Hund allerlei Kunststücke beigebracht, seht nur, was er alles kann! Meine Absicht war, Alter, ihn dir wohldressiert und gut genährt zu bringen und zu sagen: ›Sieh mal, Alter, wie sich dein Shutschka jetzt macht!‹ Habt ihr hier nicht ein Stückchen Fleisch? Dann wird er euch gleich ein Kunststück vormachen, daß ihr vor Lachen umfallt … Ein Stückchen Fleisch! Na, ist denn keins da?«

Der Stabskapitän lief eilfertig über den Flur in die Stube der Wirtsleute, wo auch für seine Familie das Essen gekocht wurde. Kolja aber rief, um keine kostbare Zeit zu verlieren, inzwischen dem Hund in aller Eile zu: »Stirb!« Und dieser drehte sich plötzlich um, legte sich auf den Rücken und lag wie tot da, alle vier Pfoten nach oben. Die Jungen lachten; Iljuscha sah mit seinem schmerzlichen Lächeln zu, und am meisten amüsierte sich »Mamachen«, daß Pereswon gestorben war. Sie lachte laut und rief: »Pereswon, Pereswon!«

»Um keinen Preis wird er aufstehen, um keinen Preis!« rief Kolja triumphierend. »Die ganze Welt könnte ihn rufen! Nur wenn ich ihn rufe, springt er auf! Ici, Pereswon!«

Der Hund sprang auf und vollführte, vor Freude winselnd, die tollsten Sprünge. Der Stabskapitän kam mit einem Stück Fleisch herein.

»Ist es auch nicht zu heiß?« fragte Kolja, als er den gekochten Bissen in Empfang nahm. »Nein, es ist nicht zu heiß. Die Hunde mögen nämlich nichts Heißes. Jetzt seht alle her! Iljuschetschka, so sieh doch her, sieh her, Alter! Warum siehst du denn nicht her? Nun habe ich ihm den Hund mitgebracht, und er sieht nicht her!«

Das neue Kunststück bestand darin, daß dem Hund das appetitliche Stückchen Fleisch auf die Nase gelegt wurde. Der unglückliche Köter mußte so lange bewegungslos mit dem Bissen auf der Nase dastehen, wie sein Herr befahl; er durfte sich nicht rühren, selbst wenn es eine halbe Stunde dauerte. Aber Pereswon brauchte diesmal nur eine knappe Minute auszuhalten.

»Faß!« rief Kolja, und sofort flog der Bissen von der Nase in Pereswons Schnauze.

Das Publikum drückte selbstverständlich sein begeistertes Staunen aus.

»Und Sie sind wirklich die ganze Zeit nicht hergekommen, nur um den Hund abzurichten?« rief Aljoscha mit unwillkürlichem Vorwurf.

»Genau deswegen!« rief Kolja harmlos. »Ich wollte ihn in seinem ganzen Glanz präsentieren.«

»Pereswon! Pereswon!« lockte Iljuscha und schnipste dabei mit seinen mageren Fingern.

»Du brauchst ihn nicht erst zu locken. Er soll von selbst zu dir aufs Bett springen. Ici, Pereswon!« rief Kolja und klopfte mit der flachen Hand auf das Bett.

Und Pereswon flog wie ein Pfeil zu Iljuscha hinauf. Dieser umschlang hastig seinen Kopf, und Pereswon leckte ihm zum Dank die Backe. Iljuschetschka schmiegte sich an ihn, streckte sich wieder auf seinem Bett aus und verbarg sein Gesicht in dem struppigen Fell des Tieres.

»O Gott, o Gott!« rief der Stabskapitän.

Kolja setzte sich wieder zu Iljuscha aufs Bett.

»Iljuscha, ich kann dir noch ein Kunststück zeigen. Ich habe dir eine kleine Kanone mitgebracht. Erinnerst du dich, ich habe dir schon damals von ihr erzählt, und du hast gesagt: ›Ach, die möchte ich gern mal sehen!‹ Na, da habe ich sie eben mitgebracht!«

Und Kolja holte die kleine Bronzekanone aus seiner Büchertasche. Er beeilte sich, weil er selbst schon sehr glücklich war; zu anderer Zeit hätte er gewartet, bis der erste Eindruck über Pereswon vorüber war, doch jetzt verschmähte er jeden Aufschub und sagte sich: ›Wenn ihr schon durch das Bisherige so glücklich seid, sollt ihr noch glücklicher werden!‹ Er selbst war schon geradezu berauscht.

»Ich hatte dieses Ding schon vor längerer Zeit bei dem Beamten Morosow gesehen und für dich in Aussicht genommen, Alter. Bei ihm stand es nutzlos herum, er hatte es von seinem Bruder geerbt. Ich erwarb es durch Tausch, indem ich ihm dafür ein Buch aus Papas Bücherschrank gab: ›Der Verwandte Mahomeds‹ oder ›Die heilsame Dummheit‹. Die Schwarte ist hundert Jahre alt und taugt nichts, sie ist in Moskau erschienen, als es noch keine Zensur gab, Morosow ist ein Liebhaber solcher Dinge. Er bedankte sich noch dafür …«

Kolja hielt die kleine Kanone so in der Hand, daß alle sie sehen und sich daran erfreuen konnten. Iljuscha, den rechten Arm noch immer um Pereswon, richtete sich auf und betrachtete voll Entzücken das kleine Spielzeug. Der Effekt erreichte den Höhepunkt, als Kolja erklärte, er habe auch Pulver und man könne sogleich aus der Kanone einen Schuß abfeuern, »falls das die Damen nicht beunruhigt«. »Mamachen« bat sogleich, ihr das Spielzeug aus der Nähe zu zeigen, was ihr auch sofort erfüllt wurde. Die kleine Kanone mit ihren Rädern gefiel ihr ausnehmend, und sie begann sie auf ihren Knien hin und her zu rollen. Der Bitte, damit schießen zu dürfen, stimmte sie bereitwilligst zu, allerdings ohne zu verstehen, um was sie gebeten worden war. Kolja zeigte das Pulver und das Schrot. Der Stabskapitän übernahm selbst das Laden, indem er eine ganze kleine Portion Pulver hineinschüttete; das Schießen mit Schrot bat er auf ein andermal zu verschieben. Die Kanone wurde auf den Fußboden gestellt, mit der Mündung nach einer Seite, wo niemand stand; in das Zündloch wurden drei Pulverkörnchen gesteckt und mit einem Streichholz angezündet. Es erfolgte ein glänzender Schuß. »Mamachen« fuhr zwar zusammen lachte jedoch sogleich vor Freude auf. Die Jungen hatten mit schweigsamem Triumphgefühl zugesehen, am glücklichsten war – mit Blick auf Iljuscha – der Stabskapitän. Kolja hob die kleine Kanone auf … und schenkte sie Iljuscha mitsamt Schrot und Pulver.

»Die ist für dich! Das hatte ich mir schon lange vorgenommen!« wiederholte er noch einmal ganz glückselig.

»Ach, schenkt sie mir! Nein, schenkt die kleine Kanone lieber mir!« begann »Mamachen« auf einmal wie ein kleines Kind zu bitten. Auf ihrem Gesicht malte sich die ängstliche Besorgnis, man könnte ihr das Geschenk verweigern; Kolja wurde verlegen. Der Stabskapitän geriet in Unruhe und sprang zu ihr hin.

»Mamachen, Mamachen«, rief er, »die Kanone gehört dir. Erlaube jedoch, daß sie bei Iljuscha bleibt, weil er sie geschenkt bekommen hat. Aber sie gehört trotzdem dir, Iljuschetschka wird sie dir immer zum Spielen geben; ihr sollt sie beide gemeinsam besitzen, gemeinsam …«

»Nein, ich will nicht, daß wir sie gemeinsam besitzen! Nein, sie soll ganz mir gehören und nicht Iljuscha«, fuhr »Mamachen« fort und machte Anstalten loszuweinen.

»Mama, nimm sie für dich, da, nimm sie für dich«, rief Iljuscha. »Krassotkin, darf ich sie meiner Mama schenken?« wandte er sich bittend an Krassotkin, als fürchtete er, dieser könnte sich gekränkt fühlen, wenn er sein Geschenk einem anderen gab.

»Natürlich darfst du das«, erwiderte Krassotkin sogleich. Er nahm die kleine Kanone aus Iljuschas Händen und überreichte sie mit einer höflichen Verbeugung dem »Mamachen«.

Diese brach vor Rührung in Tränen aus.

»Lieber Iljuschetschka, da sieht man, wer sein Mamachen liebhat!« rief sie gerührt und rollte die kleine Kanone sofort wieder auf ihren Knien hin und her.

»Mamachen, erlaube, daß ich dir die Hand küsse«, sagte ihr Gatte, eilte zu ihr und führte seine Absicht sogleich aus.

»Und auch noch der liebenswürdigste junge Mensch ist dieser nette Junge hier!« sagte die dankbare Frau, auf Krassotkin deutend.

»Und Pulver werde ich dir bringen, Iljuscha, soviel wie du nur haben willst. Wir fabrizieren jetzt selber welches. Borowikow hat die Zusammensetzung erfahren: vierundzwanzig Teile Salpeter, zehn Teile Schwefel und sechs Teile Birkenkohle. Das muß man alles zusammenreiben, dann Wasser zugießen, es zu einem Brei mischen und ihn durch ein Trommelfell reiben – dann ist das Pulver fertig.«

»Mir hat schon Smurow von eurem Pulver erzählt. Nur sagt Papa, daß das kein richtiges Pulver ist«, versetzte Iljuscha.

»Wieso kein richtiges Pulver?« erwiderte Kolja; er war ganz rot geworden. »Es brennt bei uns. Ich weiß übrigens nicht …«

»Nein, ich sage nichts dagegen«, fiel der Stabskapitän mit einem entschuldigenden Gesicht ein. »Ich habe allerdings gesagt, daß das richtige Pulver anders hergestellt wird. Aber das widerspricht dem nicht, man kann es auch so machen.«

»Ich verstehe davon nichts, Sie wissen das besser. Wir haben es in einer Steingutkruke angezündet, und es hat prächtig gebrannt, ganz verbrannt ist es, nur ein ganz klein wenig Ruß ist übriggeblieben. Aber das war nur der Pulverbrei, und wenn man den noch durch ein Fell reibt … Aber Sie wissen das besser, ich verstehe davon ja nichts … Bulkin hat jedenfalls von seinem Vater wegen unseres Pulvers Prügel bekommen, hast du das gehört?« wandte er sich auf einmal an Iljuscha.

»Ja, ich habe es gehört«, antwortete Iljuscha. Er hörte seinem Freund mit grenzenlosem Interesse und Genuß zu.

»Wir hatten eine ganze Flasche Pulver hergestellt, und er bewahrte sie unter seinem Bett auf. Der Vater bekam sie zu sehen. Er sagte, das könnte explodieren. Und dann hat er ihn auch gleich durchgehauen. Er wollte sich im Gymnasium über mich beschweren. Seinem Sohn hat er den Umgang mit mir verboten; und das haben jetzt alle Eltern mit ihren Söhnen gemacht … Auch dem kleinen Smurow haben es die Eltern verboten. Sie sagen, ich sei allgemein als tollkühner Bursche berüchtigt«, fügte Kolja mit einem verächtlichen Lächeln hinzu. »Das kommt alles von der Geschichte mit der Eisenbahn.«

»Ja, wir haben auch von diesem Abenteuer gehört!« rief der Stabskapitän. »Wie haben Sie es nur fertiggebracht, so still zu liegen? Haben Sie sich wirklich gar nicht gefürchtet, als Sie unter dem Zug lagen? War ihnen nicht bange?«

»Nicht sonderlich!« erwiderte Kolja lässig. »Am meisten hat meinen Ruf die Geschichte mit der verfluchten Gans verdorben«, sagte er, wieder an Iljuscha gewandt. Und obgleich er sich beim Erzählen Mühe gab, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, hatte er sich doch nicht in der Gewalt und fiel fortwährend aus dem Ton.

»Ach ja, von der Gans habe ich auch gehört!« sagte Iljuscha, über das ganze Gesicht strahlend. »Die Geschichte ist mir erzählt worden, aber ich habe sie nicht ganz verstanden. Hast du wirklich vor den Friedensrichter gemußt?«

»Es ist eine ganz sinnlose Geschichte, eine Bagatelle! Man hat wie gewöhnlich aus einer Mücke einen Elefanten gemacht«, begann Kolja ungezwungen. »Ich ging einmal über den Marktplatz, als gerade Gänse aufgetrieben wurden. Ich blieb stehen und besah mir die Gänse. Plötzlich musterte mich ein Kerl aus unserer Stadt, Wischnjakow, ein Laufbursche im Laden von Plotnikow, und sagte zu mir: ›Was siehst du dir die Gänse an?‹ ich blickte ihn an: eine dumme, runde Fratze, ein Bursche von zwanzig Jahren. Wissen Sie, ich verschmähe eigentlich nie den Verkehr mit dem einfachen Volk, ich mag den Umgang mit ihm … Wir sind nämlich in einen Abstand vom Volk geraten, das ist eine Tatsache … Sie lachen, Karamasow?«

»Nicht doch, Gott bewahre! Ich höre ihnen aufmerksam zu«, antwortete Aljoscha mit der harmlosesten Miene, und der mißtrauische Kolja beruhigte sich sofort wieder.

»Meine Theorie, Karamasow, ist klar und einfach«, beeilte er sich fortzufahren. »Ich glaube an das einfache Volk und freue mich immer, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Aber ich verwöhne es nicht, das ist die Conditio sine qua non … Ach so, ich wollte ja von der Gans erzählen. Ich drehte mich also zu diesem Dummkopf um und antwortete ihm: ›Ich denke eben darüber nach, woran wohl so eine Gans denkt.‹ Er sah mich blöde an. ›Woran denkt denn so eine Gans?‹ fragte er. ›Siehst du‹, sagte ich, ›da steht ein Wagen mit Hafer. Aus dem einen Sack läuft Hafer heraus, und eine Gans hat den Hals direkt unterm Rad vorgestreckt und pickt die Körner auf, siehst du das?‹ – ›Das sehe ich sehr gut‹, antwortete er. ›Na also‹, sagte ich, ›wenn man diesen Wagen jetzt ein bißchen nach vorn schiebt, wird er dann der Gans mit dem Rad den Hals durchschneiden oder nicht?‹ – ›Ganz sicher‹, sagte er und schmunzelte schon breit und war ganz entzückt. ›Na, dann komm, Bursche‹, sagte ich. ›Los!‹ – ›Los‹, sagte er. Wir brauchten uns nicht lange zu bemühen. Er trat unauffällig an den Zaum des Pferdes, und ich stellte mich seitwärts, um die Gans zu dirigieren. Der Bauer hielt gerade Maulaffen feil und redete mit jemandem, so daß ich überhaupt nichts zu arrangieren hatte. Die Gans streckte ganz von selbst den Hals nach dem Hafer unter dem Wagen aus. Ich blinzelte dem Burschen zu, er zog am Zaum, und k-krach! schnitt das Rad der Gans den Hals quer durch! Und ausgerechnet in diesem Augenblick mußten alle Bauern zu uns herübersehen, und nun brüllten sie alle: ›Das hast du mit Absicht getan.‹ – ›Nein, nicht mit Absicht!‹ – ›Doch, mit Absicht! Zum Friedensrichter!‹ Auch mich packten sie. Du bist auch dabeigewesen‹, schrien sie, ›du bist ein Helfershelfer, dich kennt ja der ganze Markt!‹ Und wirklich kennt mich merkwürdigerweise der ganze Markt«, füge Kolja stolz hinzu. »Wir zogen nun alle zum Friedensrichter, auch die Gans wurde hingetragen. Ich sah, der Bursche hatte Angst bekommen und fing an zu heulen wie ein altes Weib. Und der Gänsehändler schrie: ›Auf die Art kann man ja wer weiß wie viele Gänse zu Tode bringen!‹ Selbstverständlich wurden die Zeugen vernommen. Der Friedensrichter erledigte die Sache im Handumdrehen. Für die Gans mußte der Bursche dem Gemüsehändler einen Rubel zahlen und konnte dann die Gans behalten; künftig sollte er sich solche Streiche jedoch nicht wieder erlauben. Der Bursche heulte wie ein altes Weib: ›Ich habe es nicht von selber getan!‹ sagte er. ›Der hier hat mich angestiftet!‹ Und dabei zeigte er auf mich. Ich antwortete kaltblütig, ich hätte ihn durchaus nicht angestiftet, sondern nur die Grundidee zum Ausdruck gebracht und von einem bloßen Projekt gesprochen. Der Friedensrichter Nefedow lächelte und ärgerte sich dann gleich, daß er gelächelt hatte. ›Ich werde Sie‹, sagte er, ›sogleich bei ihrem Direkter anzeigen, damit Sie sich künftig nicht auf solche Projekte einlassen, statt bei den Büchern zu sitzen und ihre Aufgaben zu lernen!‹ Na, beim Direktor hat er mich nicht angezeigt, das war nur Scherz von ihm; doch die Geschichte sprach sich tatsächlich herum und kam auch den Lehrern und dem Direktor zu Ohren – diese Herren haben ja lange Ohren! Besonders entrüstet war der Altsprachler Kolbasnikow, aber Dardanelow trat wieder für mich ein. Kolbasnikow ist sowieso auf uns alle wütend wie ein grüner Esel. Hast du das gehört, Iljuscha, er hat geheiratet! Er hat von den Michailows tausend Rubel Mitgift erhalten, und die junge Frau hat dafür einen Rüssel erster Güte, prima Qualität! Die aus seiner Klasse haben gleich ein Gedicht verfaßt:

Die Heirat des Ekels Kolbasnikow
gibt der Klasse zum Lachen Stoff …

Na und so weiter, es ist sehr komisch, ich werde es dir später einmal mitbringen. Über Dardanelow sage ich nichts, er ist ein Mann, der Kenntnisse besitzt, gediegene Kenntnisse. Solche Männer schätze ich, und nicht etwa, weil er für mich eingetreten ist …«

»Trotzdem hast du ihn mit der Frage, wer Troja gegründet hat, in Verlegenheit gebracht!« mischte sich Smurow ein, der in diesem Augenblick sehr stolz auf Krassotkin war. Die Geschichte von der Gans hatte ihm außerordentlich gefallen.

»Haben Sie ihn damit wirklich in Verlegenheit gebracht?« fiel der Stabskapitän schmeichlerisch ein. »Mit der Frage, wer Troja gegründet hat? Ja, davon haben wir schon gehört. Iljuschetschka hat es mir damals gleich erzählt …«

»Er weiß alles, Papa! Er weiß bei uns alles am besten!« ergriff Iljuschetschka, hingerissen das Wort. »Er tut nur so, als ob er nichts Besonderes wäre. In Wirklichkeit ist er bei uns der beste Schüler, in allen Fächern …«

Iljuscha blickte seinen Freund grenzenlos glücklich an.

»Na, das von Troja ist dummes Zeug, eine Lappalie. Ich selbst halte diese Frage für ganz unerheblich«, erwiderte Kolja mit stolzer Bescheidenheit.

Es war ihm jetzt gelungen, in den beabsichtigten Tonfall hineinzukommen. Dennoch befand er sich in einer gewissen Unruhe: Er fühlte, daß er sehr erregt war und zum Beispiel die Geschichte von der Gans zu hingerissen erzählt hatte. Aljoscha hatte während der ganzen Erzählung geschwiegen und seine ernste Miene beibehalten, und den ehrgeizigen Jungen quälte nun schon allmählich der Gedanke: ›Schweigt er etwa, weil er mich verachtet und meint, ich wäre scharf auf sein Lob? Wenn er wagen sollte, so etwas zu denken, dann würde ich …‹

»Ich halte diese Frage entschieden für unerheblich«, bemerkte er noch einmal kurz und stolz.

»Aber ich weiß, wer Troja gegründet hat«, sagte auf einmal ganz unerwartet ein Junge, der bis dahin kaum ein Wort gesprochen hatte. Es war Kartaschow, ein schweigsames und offenbar schüchternes Bürschchen, ziemlich hübsch und etwa elf Jahre alt; er saß dicht an der Tür.

Kolja sah ihn erstaunt und würdevoll an. Die Frage: »Wer hat eigentlich Troja gegründet?« war nämlich in allen Klassen geradezu eine Preisfrage geworden, zu deren Lösung man in Smaragdows Weltgeschichte nachlesen mußte. Diese Weltgeschichte besaß aber niemand außer Kolja. Und nun hatte der kleine Kartaschow einmal, als Kolja nicht hinsah, flink und verstohlen zwischen dessen Büchern den Smaragdow aufgeschlagen und sofort die Stelle von den Gründern Trojas gefunden. Das war schon vor ziemlich langer Zeit geschehen; doch er war immer ängstlich gewesen und hatte nicht gewagt, öffentlich auszusprechen, daß auch er wisse, wer Troja gegründet hatte; er hatte gefürchtet, das könnte für ihn unangenehme Folgen haben, Kolja könnte ihn zur Strafe irgendwie in Verlegenheit bringen. Jetzt kannte er es aber auf einmal nicht mehr aushalten und sagte es: Er hatte es schon längst gewollt.

»Na, wer hat es denn gegründet?« fragte Kolja von oben herab; er hatte schon am Gesicht des anderen erkannt, daß der es tatsächlich wußte, und sich selbstverständlich sofort auf alle Folgen vorbereitet. In der allgemeinen Stimmung trat, wie man das so nennt, eine Dissonanz ein.

»Troja gründeten Teukros, Dardannos, Ilus und Tros«, sagte der Junge klar und deutlich und wurde dann plötzlich so rot, daß er einem leid tun konnte. Die anderen blickten ihn lange starr an, dann wandten sich alle zu Kolja um. Kolja maß den Kleinen noch immer mit seinem geringschätzigen Blick.

»Und wie haben sie es denn gegründet?« ließ er sich endlich herab zu fragen. »Und was bedeutet das überhaupt: eine Stadt oder einen Staat gründen? Was haben sie denn gemacht? Sind sie hingekommen und haben jeder einen Ziegelstein hingelegt, ja?«

Es erscholl Gelächter. Die Röte des Jungen steigerte sich zu dunklem Purpur; er schwieg und war nahe daran loszuweinen.

Kolja ließ ihn noch ungefähr eine Minute lang in dieser unangenehmen Situation.

»Wenn man von solchen historischen Ereignissen sprechen will, wie es die Gründung von Nationen ist, muß man vor allen Dingen verstehen, was das bedeutet«, sagte er streng und gemessen in belehrendem Ton. »Ich messe übrigens allen diesen Altweibergeschichten keinen Wert bei und schätze überhaupt die Weltgeschichte nicht sehr hoch ein«, fügte er dann, an alle gewandt, lässig hinzu.

»Die Weltgeschichte, sagten Sie?« fragte der Stabskapitän, der einen richtigen Schreck bekommen hatte.

»Jawohl, die Weltgeschichte. Sie ist die wissenschaftliche Erforschung einer Reihe menschlicher Dummheiten, weiter nichts. Ich schätze nur die Mathematik und die Naturwissenschaften«, verkündete Kolja und warf einen flüchtigen Blick auf Aljoscha; der war hier der einzige, dessen Urteil er fürchtete.

Doch Aljoscha blieb ernst und stumm wie vorher. Hätte Aljoscha jetzt gleich etwas gesagt, hätte die Sache damit ihren Abschluß finden können; aber Aljoscha schwieg, und sein Schweigen konnte geringschätzig sein. So wurde denn Kolja ganz nervös.

»Und dann diese klassischen Sprachen! Der reine Blödsinn, weiter nichts … Sie scheinen wieder nicht meiner Meinung zu sein, Karamasow?«

»Nein, ich bin nicht ihrer Meinung«, erwiderte Aljoscha zurückhaltend und lächelte.

»Wenn Sie meine ganze Meinung über die klassischen Sprachen hören wollen, so muß ich sagen: Sie sind eine Polizeimaßregel. Das ist der einzige Zweck, zu dem sie eingeführt worden sind!« sagte Kolja, dem allmählich wieder das Atmen schwer wurde. »Sie sind eingeführt worden, weil sie langweilig sind und die Fähigkeiten abstumpfen. Es war ohnehin schon langweilig, und da überlegten die Regierenden: Was sollen wir tun, damit es noch langweiliger wird? Es war schon sinnlos, und da überlegten sie: Was sollen wir tun, damit es noch sinnloser wird? So verfielen sie auf die klassischen Sprachen. Das ist meine ganze Meinung darüber, und ich hoffe, daß ich sie nie ändern werde«, schloß Kolja scharf.

Auf seinen Backen waren rote Flecke erschienen.

»Das ist wahr«, stimmte ihm Smurow, der eifrig zugehört hatte, mit seiner hellen Stimme überzeugt zu.

»Und dabei ist er selber der beste in Latein!« rief einer aus der Gruppe.

»Ja, Papa, das sagt er so. Aber er ist in seiner Klasse der beste in Latein«, fiel auch Iljuscha ein.

»Was hat das damit zu tun?« erwiderte Kolja, der es für nötig hielt, sich zu verteidigen, obgleich ihm auch dieses Lob sehr angenehm war. »Ich ochse Latein, weil es notwendig ist und weil ich meiner Mutter versprochen habe, das Gymnasium zu absolvieren, und meiner Ansicht nach muß man das, was man sich einmal vorgenommen hat, auch gut machen. Aber im Grunde meines Herzens verachte ich das klassische Altertum und diese ganze Gemeinheit … Sie sind nicht meiner Meinung, Karamasow?«

»Nun, warum soll das eine Gemeinheit sein?« fragte Aljoscha und lächelte wieder.

»Ich bitte Sie, die Klassiker sind sämtlich in alle Sprachen übersetzt, also brauchten die Regierenden das Latein gar nicht zum Studium der Klassiker, sondern einzig und allein als Polizeimaßregel und zur Abstumpfung der Fähigkeiten. Unter diesen Umständen verdient es doch wohl eindeutig den Namen ›Gemeinheit‹?«

»Wer hat Sie das alles bloß gelehrt?« rief Aljoscha erstaunt.

»Erstens bin ich selbst imstande, das zu begreifen, ohne daß es mich jemand lehrt, und zweitens hat das, was ich eben über die übersetzten Klassiker sagte, der Lehrer Kolbasnikow selber laut vor der ganzen Klasse gesagt …«

»Der Doktor ist gekommen!« rief auf einmal Ninotschka, welche die ganze Zeit geschwiegen hatte.

In der Tat war Frau Chochlakowas Equipage vorgefahren. Der Stabskapitän, der den ganzen Vormittag auf den Doktor gewartet hatte, lief Hals über Kopf zum Tor, um ihn zu empfangen. »Mamachen« machte sich zurecht und nahm eine würdevolle Miene an. Aljoscha trat zu Iljuscha und brachte ihm sein Kopfkissen in Ordnung. Ninotschka verfolgte es

von ihrem Lehnstuhl aus mit unruhigem Blick. Die Jungen verabschiedeten sich eilig; einige von ihnen versprachen, am Abend wiederzukommen. Kolja rief Pereswon, und der sprang vom Bett herunter.

»Ich gehe nicht weg«, sagte Kolja hastig zu Iljuscha. »Ich werde auf dem Flur warten und wieder hereinkommen, sobald der Doktor weg ist. Ich werde auch Pereswon wieder mitbringen.«

Aber schon trat der Arzt ein – eine würdevolle Gestalt in einem Bärenpelz, mit langem, dunklem Backenbart und glänzend ausrasiertem Kinn. Als er über die Schwelle getreten war, blieb er auf einmal verdutzt stehen. »Was ist das? Wo bin ich?« murmelte er, ohne den Bärenpelz von den Schultern zu werfen und ohne die Schirmmütze aus Seehundsfell vom Kopf zu nehmen. Die vielen Menschen, die Ärmlichkeit der Stube, die an einem Strick aufgehängte Wäsche verblüfften ihn. Der Stabskapitän konnte sich an tiefen Verbeugungen vor ihm gar nicht genugtun.

»Sie sind gekommen«, murmelte er in knechtischer Untertänigkeit. »Sie sind zu mir gekommen, Sie haben die Güte, zu mir …«

»Herr Sne-gi-riow?« fragte der Doktor würdevoll. »Sind Sie das?«

»Ich bin es.«

»Ah!«

Der Doktor blickte sich noch einmal geringschätzig im Zimmer um und warf den Pelz ab. Allen blitzte der hohe Orden entgegen, den er um den Hals trug. Der Stabskapitän fing den Pelz im Fallen auf, und der Doktor nahm die Mütze ab. »Wo ist denn der Patient?« fragte er laut und energisch.

6. Frühreife

»Was meinen Sie, was wird der Doktor ihm sagen?« fragte Kolja hastig Aljoscha, als sie auf dem Flur waren. »Was hat der Mensch aber auch für eine widerwärtige Fratze, nicht wahr? Ich kann die Medizin nicht leiden!«

»Iljuscha wird sterben. Das ist, glaube ich, bereits sicher«, antwortete Aljoscha traurig.

»Diese Gauner! Die Medizin ist eine Gaunerei! Ich freue mich aber, daß ich Sie kennengelernt habe, Karamasow. Ich habe schon längst gewünscht, Sie kennenzulernen. Schade nur, daß wir uns bei so einem traurigen Anlaß begegnet sind …«

Kolja hätte gern noch etwas Wärmeres, Herzlicheres gesagt, doch es war, als ob ihm ein Krampf die Zunge lähmte. Aljoscha bemerkte das, lächelte und drückte ihm die Hand.

»Ich habe Sie schon lange als eine seltene Persönlichkeit schätzengelernt«, murmelte Kolja wieder verlegen. »Ich habe gehört, Sie sind Mystiker und waren im Kloster, aber dadurch habe ich mich nicht abhalten lassen. Die Berührung mit dem wirklichen Leben wird Sie kurieren … Bei Naturen wie Sie kann das nicht anders sein.«

»Was meinen Sie mit dem Ausdruck ›Mystiker‹? Und wovon soll ich kuriert werden?« fragte Aljoscha einigermaßen verwundert.

»Nun, ich meine Gott und das übrige.«

»Glauben Sie etwa nicht an Gott?«

»O doch, ich habe nichts gegen Gott. Zwar ist Gott nur eine Hypothese, aber ich gestehe, daß er notwendig ist, für die Ordnung … Für die Weltordnung und so weiter … Und wenn er nicht existierte, müßte man ihn erfinden«, fügte Kolja errötend hinzu. Ihm war plötzlich der Gedanke gekommen, Aljoscha könnte glauben, er wolle nur seine Kenntnisse zur Schau stellen und zeigen, daß er schon erwachsen war. ›Ich habe durchaus nicht die Absicht, meine Kenntnisse zur Schau zu stellen!‹ dachte Kolja empört. Und er ärgerte sich auf einmal gewaltig.

»Zugegeben, es widerstrebt mir, auf alle diese Streitigkeiten einzugehen«, sagte er abbrechend. »Man kann ja, auch ohne an Gott zu glauben, die Menschheit lieben, meinen Sie nicht auch? Voltaire zum Beispiel hat nicht an Gott geglaubt und trotzdem die Menschheit geliebt!« ›Schon wieder, schon wieder‹, dachte er bei sich.

»Voltaire hat an Gott geglaubt, aber, wie es scheint, nur wenig. Und wie es scheint, hat er auch die Menschheit nur wenig geliebt«, versetzte Aljoscha leise, ruhig und in ganz natürlichem Ton, als spräche er mit einem Gleichaltrigen oder gar einem Älteren.

Kolja beeindruckte besonders Aljoschas scheinbare Unsicherheit in seinem Urteil über Voltaire und der Umstand, daß er ihm, Kolja, gewissermaßen die Entscheidung dieser Frage anheimgab.

»Haben Sie denn Voltaire gelesen?« schloß Aljoscha.

»Nein, eigentlich nicht … Das heißt, ›Candide‹ habe ich gelesen, in einer russischen Übersetzung … In einer alten, gräßlichen Übersetzung …« ›Schon wieder, schon wieder!‹

»Und haben Sie alles verstanden?«

»O ja, alles … Das heißt … Warum sollte ich es nicht verstanden haben? Es sind zwar viele Unsauberkeiten enthalten … Doch ich bin natürlich imstande zu begreifen, daß es ein philosophischer Roman ist, der geschrieben wurde um einer Idee willen …« Kolja war bereits vollständig verwirrt. »Ich bin Sozialist, Karamasow! Ich bin ein unverbesserlicher Sozialist«, fügte er plötzlich ohne verständlichen Grund übergangslos hinzu.

»Sozialist?« erwiderte lachend Aljoscha. »Wann haben Sie denn das geschafft? Sie sind doch erst dreizehn, glaube ich?«

Kolja wand sich innerlich geradezu.

»Erstens nicht dreizehn, sondern vierzehn, in zwei Wochen vierzehn«, erwiderte er mit feuerrotem Kopf. »Und zweitens verstehe ich absolut nicht, was mein Alter damit zu tun hat. Es handelt sich darum, welche Ansichten ich habe – und nicht, wie alt ich bin, nicht wahr?«

»Wenn Sie älter sind, werden Sie selbst einsehen, welche Bedeutung das Alter für die Ansichten hat. Mir schien sogar, Sie gäben die Worte anderer wieder«, antwortete Aljoscha bescheiden und ruhig; doch Kolja unterbrach ihn hitzig.

»Ich bitte Sie, Sie verlangen Gehorsam und Mystizismus! Sie müssen doch selbst zugeben, daß zum Beispiel das Christentum den Reichen und Vornehmen nur dazu gedient hat, die niedere Klasse in Sklaverei zu halten, nicht wahr?«

»Ach, ich weiß, wo Sie das gelesen haben! Oder jemand hat ihnen diese Lehren vorgetragen!« rief Aljoscha.

»Ich bitte Sie, warum soll ich das unbedingt gelesen haben? Auch hat mir niemand diese Lehren vorgetragen. Ich kann doch auch selbst … Und meinetwegen – ich bin nicht gegen Christus. Er war eine durchaus humane Persönlichkeit, und wenn er zu unserer Zeit lebte, würde er sich geradewegs den Revolutionären anschließen und vielleicht eine bedeutende Rolle spielen … Das ist sogar sicher.«

»Na, wo haben Sie denn das aufgeschnappt? Mit welchem Dummkopf haben Sie sich denn abgegeben?« rief Aljoscha.

»Ich bitte Sie, die Wahrheit kann man nicht verbergen. Ich rede allerdings aus bestimmten Gründen häufig mit Herrn Rakitin, aber, … Das soll auch schon Belinski gesagt haben.«

»Belinski, ich erinnere mich nicht. Das hat er nirgends geschrieben.«

»Wenn er es nicht geschrieben hat, war es vielleicht ein mündlicher Ausspruch von ihm. Ich habe es von jemandem gehört … Ach, weiß der Teufel …«

»Belinski haben Sie jedenfalls gelesen?«

»Sehen Sie, nein … Ich habe ihn nicht ganz gelesen … Aber die Stelle über Tatjana, warum sie nicht mit Onegin in intimen Verkehr trat, die habe ich gelesen.«

»Sie sagen: ›Warum sie nicht mit Onegin in intimen Verkehr trat!‹ Verstehen Sie das etwa schon?«

»Ich bitte Sie! Sie scheinen mich für den kleinen Smurow zu halten!« lächelte Kolja gereizt. »Glauben Sie übrigens bitte nicht, daß ich ein allzu schlimmer Revolutionär wäre. Ich bin sehr oft anderer Meinung als Herr Rakitin. Wenn ich das über Tatjana sage, so bin ich durchaus nicht für die Emanzipation der Frau. Ich gebe zu, daß die Frau ein untergeordnetes Wesen ist und gehorchen muß. Les femmes tricotent, wie Napoleon sagte … Zumindest in diesem Punkt teile ich vollkommen die Anschauung dieses pseudogroßen Mannes. Ich glaube zum Beispiel auch, daß es eine Gemeinheit ist, aus dem Vaterland nach Amerika zu gehen, oder schlimmer als eine Gemeinheit, eine Dummheit. Warum nach Amerika gehen, wo man auch bei uns der Menschheit viel Nutzen bringen kann? Besonders jetzt. Es bietet sich einem doch eine Masse fruchtbringender Tätigkeit an. In diesem Sinne habe ich auch geantwortet.«

»Geantwortet? Wem? Hat Sie schon jemand aufgefordert, nach Amerika zu gehen?«

»Ich muß gestehen, daß man mich dazu veranlassen wollte, doch ich habe abgelehnt. Dies natürlich nur unter uns, Karamasow, hören Sie! Davon zu niemandem ein Wort! Das sage ich nur ihnen. Ich habe kein Verlangen, in die Klauen der Dritten Abteilung zu fallen und Lektionen an der Kettenbrücke zu nehmen.

Das Bauwerk an der Kettenbrücke vergißt,
wer drinnen war, nicht leicht!

Erinnern Sie sich an die Stelle? Großartig gesagt! Worüber lachen Sie? Sie denken doch wohl nicht, daß ich Ihnen das alles vorgeschwindelt habe?« ›Wie, wenn er erfährt, daß im Bücherschrank meines Vaters nur diese eine Nummer des »Kolokol« vorhanden ist und ich weiter nichts davon gelesen habe?‹ ging es Kolja flüchtig durch den Kopf; und er zuckte bei diesem Gedanken zusammen.

»O nein, ich lache nicht und glaube durchaus nicht, daß Sie mit etwas vorgeschwindelt haben. Und zwar deshalb nicht, weil das alles leider tatsächlich wahr ist! Aber sagen Sie mal, Puschkin haben Sie doch gelesen, den Onegin? Sie sprachen ja soeben von Tatjana?«

»Nein, ich habe ihn noch nicht gelesen, ich will ihn lesen. Ich bin frei von vorgefaßten Meinungen, Karamasow. Ich will die eine wie die andere Partei hören. Warum haben Sie danach gefragt?«

»Ich fragte nur so.«

»Sagen Sie, Karamasow, Sie verachten mich wohl sehr?« sagte Kolja unvermittelt und richtete sich vor Aljoscha auf, als wollte er sich in Kampfpositur stellen. »Tun Sie mir den Gefallen und antworten Sie ohne Umschweife?«

»Ich soll Sie verachten?« fragte Aljoscha verwundert. »Warum sollte ich das tun? Es tut mir nur leid, daß eine prächtige Natur wie Sie schon von diesem groben Unsinn verdorben ist, ehe sie richtig angefangen hat zu leben.«

»Wegen meiner Natur machen Sie sich bitte keine Sorgen!« unterbrach ihn Kolja nicht ohne Selbstgefälligkeit. »Und daß ich mißtrauisch bin, das ist nun einmal so. Das ist eine Dummheit von mir, eine Grobheit. Sie lächelten eben, und da schien es mit, als ob Sie …«

»Ach, ich lächelte über etwas ganz anderes. Ich will ihnen sagen, worüber. Ich las kürzlich einen Ausspruch, den ein in Rußland lebender Deutscher über unsere heutige Schuljugend getan hat. ›Zeigen Sie‹, schreibt er, ›einem russischen Schüler eine Karte des Sternenhimmels, von der er bisher nicht die geringste Kenntnis gehabt hat, und er wird ihnen morgen diese Karte korrigiert zurückgeben.‹ Keine Kenntnisse und ein grenzenloses Selbstbewußtsein – das ist es, was dieser Deutsche über den russischen Schüler aussagen wollte.

»Aber das ist ja vollkommen richtig!« rief Kolja lachend. »Bravo, Deutscher! Nur hat der Deutsche die gute Seite übersehen, meinen Sie nicht auch? Selbstbewußtsein, das mag sein, das kommt von dem jugendlichen Alter, das bessert sich, wenn eine Besserung überhaupt erforderlich ist. Aber dafür haben wir die Unabhängigkeit des Denkens gleich von Kindheit an, dafür haben wir die Kühnheit der Ideen und der Anschauungen, und nicht den deutschen Geist sklavischer Kriecherei vor Autoritäten … Trotzdem hat der Deutsche das gut gesagt! Bravo, Deutscher! Allerdings muß man die Deutschen trotzdem erwürgen. Mögen sie auch in der Wissenschaft stark sein, erwürgen muß man sie trotzdem …«

»Wofür muß man sie denn erwürgen?« fragte Aljoscha lächelnd.

»Na, ich habe vielleicht Unsinn geschwatzt, ich gebe es zu. Ich bin manchmal ein schrecklicher Kindskopf, und wenn ich mich über etwas freue, kann ich mich nicht beherrschen und fange an, Unsinn zu schwatzen … Hören Sie mal, wir schwatzen hier beide dummes Zeug, aber dieser Doktor hält sich schon ziemlich lange auf. Womöglich untersucht er noch das ›Mamachen‹ und die gelähmte Ninotschka. Wissen Sie, diese Ninotschka hat mir gefallen. Als ich hereinkam, flüsterte sie mir zu: ›Warum sind Sie nicht früher gekommen?‹ Und so vorwurfsvoll! Ich glaube, sie hat ein sehr gutes Herz und verdient das größte Mitleid.«

»Ja, ja! Und wenn Sie nun öfter kommen, werden Sie sehen, was für ein herrliches Wesen sie ist! Es wird für Sie sehr nützlich sein, solche Wesen kennenzulernen, damit Sie auch vieles andere schätzenlernen, was Sie aus dem Umgang mit ihnen erfahren«, sagte Aljoscha warm. »Das wird am meisten zu ihrer Wandlung beitragen.«

»Oh, wie sehr ich es bedauere und mit mir schimpfe, daß ich nicht früher gekommen bin!« rief Kolja aufrichtig betrübt.

»Ja, das ist sehr schade. Sie haben selbst gesehen, wie sehr sich der arme Kleine über ihr Kommen freute. Wie hat er sich gequält, als er auf Sie wartete!«

»Sprechen Sie nicht weiter! Sie zerreißen mir das Herz. Aber es geschieht mir ganz recht! Ich blieb fern aus egoistischem Ehrgeiz und gemeiner Herrschsucht, von der ich mich einfach nicht frei machen kann, obgleich ich mich mein Leben lang bemühe. Ich sehe jetzt ein, daß ich in vieler Hinsicht ein Schuft bin, Karamasow!«

»Nein, Sie sind eine prächtige Natur, allerdings verdorben, und ich begreife durchaus, warum Sie einen solchen Einfluß auf diesen empfindsamen Jungen gewinnen konnten!« antwortete Aljoscha eifrig.

»Und das sagen Sie mir, Sie!« rief Kolja. »Stellen Sie sich vor, ich habe gedacht, gerade jetzt mehrere Male gedacht, Sie verachten mich! Wenn Sie wüßten, welchen großen Wert ich auf ihr Urteil lege!«

»Sind Sie wirklich so mißtrauisch? In ihrem Alter? Denken Sie: Als ich Sie dort im Zimmer ansah, habe ich gedacht, Sie müßten wohl sehr mißtrauisch sein.«

»Sie haben das schon gedacht? Was haben Sie für gute Augen, sehen Sie mal! Ich möchte wetten, daß es an der Stelle war, wo ich von der Gans erzählte. An dieser Stelle schien es mir, als ob Sie mich tief verachteten, weil ich mich als forschen Kerl hinzustellen suchte! Ich hatte sogar plötzlich einen Haß auf Sie und begann Unsinn zu reden. Später, als wir schon hier draußen waren, an der Stelle, wo ich sagte: ›Wenn Gott nicht existierte, müßte man ihn erfinden‹, da schien es mir, als sei ich zu sehr bemüht, meine Bildung herauszukehren, zumal ich diese Phrase in einem Buch gelesen habe! Aber ich versichere ihnen, ich versuchte nicht aus Eitelkeit meine Bildung herauszukehren, sondern nur so, ich weiß nicht weshalb, vor Freude, weiß Gott, sozusagen vor Freude … Obgleich das auch wieder ein beschämender Charakterzug ist, wenn sich jemand allen Leuten vor Freude an den Hals wirft. Ich weiß das. Dafür bin ich nun aber überzeugt, daß Sie mich nicht verachten und ich mir das alles nur eingebildet habe … Oh, Karamasow, ich bin sehr unglücklich! Ich stelle mir manchmal Gott weiß was vor: daß alle Leute über mich lachen, daß die ganze Welt über mich lacht, und dann möchte ich am liebsten die ganze Weltordnung vernichten!«

»Und dann quälen Sie die Menschen ihrer Umgebung«, bemerkte Aljoscha lächelnd.

»Und dann quäle ich die Menschen meiner Umgebung, besonders meine Mutter … Sagen Sie mal, Karamasow, bin ich jetzt sehr lächerlich?«

»Denken Sie doch nicht so etwas!« rief Aljoscha. »Und was hat es denn auf sich, wenn man lächerlich ist? Als ob es so selten vorkäme, daß ein Mensch lächerlich ist oder lächerlich scheint! Heutzutage haben fast alle befähigten Menschen eine große Furcht, lächerlich zu erscheinen, und werden dadurch unglücklich. Ich wundere mich nur, daß Sie so früh dahin gekommen sind, so zu fühlen; allerdings bemerke ich das schon länger an jungen Leuten, nicht an ihnen allein. Heutzutage leiden sogar viele, die fast noch Kinder sind, unter dieser Furcht. Das ist beinahe eine Manie … In diesem Ehrgeiz hat sich der Teufel verkörpert und in die ganze Generation eingeschlichen, jawohl der Teufel!« fügte Aljoscha hinzu, ohne das geringste Lächeln, das Kolja eigentlich erwartet hatte. »Sie sind eben wie alle«, schloß Aljoscha. »Das heißt wie sehr viele. Man muß aber nicht so sein wie alle: darum geht es!«

»Obwohl alle so sind?«

»Ja, obwohl alle so sind. Seien Sie doch der einzige, der nicht so ist! Sie sind doch in der Tat anders als alle: Sie haben sich nicht geschämt zu bekennen, daß Sie schlecht und sogar lächerlich sind. Wer gesteht denn heutzutage so etwas ein? Niemand, die Menschen fühlen nicht einmal mehr das Bedürfnis nach Selbstkritik. Seien Sie anders als alle! Und wenn Sie der einzige sind, der anders ist – seien Sie anders!«

»Großartig! Ich habe mich in ihnen nicht getäuscht! Sie sind imstande, einen zu trösten. Oh, wie es mich zu ihnen hingezogen hat, Karamasow! Wie lange habe ich mir schon eine Begegnung mit ihnen gewünscht! Hatten Sie auch schon an mich gedacht? Vorhin sagten Sie, Sie hätten auch schon an mich gedacht.«

»Ja, ich hatte von ihnen gehört und habe ebenfalls an Sie gedacht … Wenn es auch zum Teil Ehrgeiz ist, was Sie jetzt zu dieser Frage veranlaßt, das macht nichts.«

»Wissen Sie, Karamasow, unsere Aussprache hat Ähnlichkeit mit einer Liebeserklärung«, sagte Kolja verschämt. »Ist das auch nicht lächerlich, nein?«

»Das ist ganz und gar nicht lächerlich. Und selbst wenn es lächerlich wäre, würde das nichts schaden, weil es gut ist und schön«, erwiderte Aljoscha heiter.

»Wissen Sie, Karamasow, geben Sie doch zu, daß Sie sich jetzt auch ein bißchen schämen … Ich sehe ihnen das an den Augen an«, sagte Kolja mit einem schlauen, aber beinahe glückseligen Lächeln.

»Weswegen sollte ich mich denn schämen?«

»Warum sind Sie denn rot geworden?«

»Daran sind Sie schuld, daß ich rot geworden bin!« erwiderte Aljoscha lachend und errötete wirklich über das ganze Gesicht. »Nun ja, ein bißchen schäme ich mich, Gott weiß weswegen, ich weiß es nicht …«, murmelte er, auch ein wenig verlegen.

»Oh, wie ich Sie in diesem Moment mag und verehre – eben dafür, daß Sie sich auch ein bißchen schämen! Denn Sie sind von derselben Art wie ich!« rief Kolja in heller Begeisterung.

Seine Backen glühten, und seine Augen leuchteten.

»Hören Sie, Kolja, Sie werden allerdings im Leben ein sehr unglücklicher Mensch sein«, sagte Aljoscha auf einmal ohne ersichtlichen Zusammenhang.

»Das weiß ich, das weiß ich. Wie Sie das alles im voraus wissen!« stimmte ihm Kolja sogleich zu.

»Aber im ganzen werden Sie das Leben doch als einen Segen empfinden.«

»Gewiß! Hurra! Sie sind ein Prophet! Oh, wir werden uns näherkommen, Karamasow. Wissen Sie, am meisten begeistert mich, daß Sie mit mir wie mit ihresgleichen verkehren. Und doch sind wir einander nicht gleich, nein, wir sind einander nicht gleich, Sie stehen über mir! Aber wir werden uns näherkommen. Wissen Sie, ich habe mir den ganzen letzten Monat gesagt: Entweder werden wir gleich Freunde fürs Leben – oder gleich von der ersten Begegnung an Feinde bis zum Grab!«

»Und als Sie sich das sagten, da mochten Sie mich natürlich schon!« sagte Aljoscha und lachte fröhlich.

»Ja, ich mochte Sie, ich mochte Sie sehr und malte mir unsere Freundschaft aus! Wie können Sie bloß alles vorher wissen? … Ah, da ist ja der Doktor! Herrgott, was wird er sagen? Sehen Sie doch, was er für ein Gesicht macht!«

7. Iljuscha

Der Doktor, bereits wieder in seinen Pelz gehüllt und mit der Mütze auf dem Kopf, trat aus der Stube. Sein Gesicht drückte einen beinahe zornigen Ekel aus, als befürchtete er immerzu, sich an etwas zu beschmutzen. Er erfaßte mit einem schnellen, flüchtigen Blick den Flur und sah dabei Aljoscha und Kolja streng an. Aljoscha gab dem Kutscher einen Wink, und die Equipage, die den Doktor hergebracht hatte, fuhr vor. Der Stabskapitän kam nach dem Arzt aus der Stube und versuchte ihn unter tiefen, entschuldigenden Verbeugungen zurückzuhalten und noch ein letztes Wort von ihm zu hören. Sein Gesicht wirkte sehr niedergeschlagen, sein Blick war voller Angst.

»Exzellenz, Exzellenz … Ist es denn wirklich …«, begann er; doch er sprach nicht aus, sondern rang nur verzweifelt die Hände und richtete einen letzten flehenden Blick auf den Doktor, als könnte das Todesurteil über den Sohn tatsächlich durch ein Wort des Doktors noch umgeändert werden.

»Was ist da zu machen? Ich bin nicht Gott«, antwortete der Doktor lässig und zugleich gewohnheitsgemäß energisch. »Doktor! Exzellenz! Und wird er bald, sehr bald … ?«

»Sei-en Sie auf al-les ge-faßt!« erwiderte der Doktor bestimmt und mit überdeutlicher Aussprache und schickte sich an, zum Wagen zu gehen.

»Exzellenz, um Christi willen!« hielt ihn der Stabskapitän noch einmal in seiner Angst zurück. »Exzellenz, kann ihn denn nichts mehr retten, wirklich nichts, gar nichts? …«

»Das hängt jetzt nicht von mir ab«, sagte der Doktor ungeduldig. »Indes, hm …?« überlegte er plötzlich. »Wenn Sie ihren Patienten zum Beispiel sofort und ohne die geringste Verzögerung nach Sy-ra-kus bringen könnten, dann wäre es … Infolge der neuen gün-sti-gen kli-ma-ti-schen Ver-hält-nis-se … vielleicht möglich, daß …« Die Worte »sofort« und »ohne die geringste Verzögerung« sprach der Doktor nicht nur streng, sondern fast zornig aus.

»Nach Syrakus!« rief der Stabskapitän, als ob er gar nichts verstanden hätte.

»Syrakus, das liegt in Sizilien«, warf Kolja erklärend dazwischen.

Der Doktor sah ihn an.

»Nach Sizilien! Väterchen, Exzellenz!« rief der Stabskapitän ganz fassungslos. »Aber Sie haben ja doch gesehen!« Und er deutete heftig gestikulierend auf alles, was ihn umgab. »Und die Mama, und die Tochter?«

»N-nein, ihre Familie gehört nicht nach Sizilien, sondern in den Kaukasus. Zu Beginn des Frühjahrs muß ihre Tochter in den Kaukasus. Ihre Gattin muß zuerst ebenfalls im Kaukasus eine Badekur gegen ihren Rheumatismus durchstehen und dann unverzüglich nach Paris in die Heilanstalt des Psychiaters Lepelletier gebracht werden. Ich könnte ihnen einen Brief an ihn mitgeben, und dann … Möglicherweise … »

»Doktor, Doktor! Aber Sie sehen ja doch!« rief der Stabskapitän, fuchtelte wieder mit den Armen umher und deutete auf die kahlen Balkenwände des Flurs.

»Ja, das ist nun nicht meine Sache«, versetzte der Doktor lächelnd. »Ich habe nur gesagt, was die Wis-sen-schaft auf ihre Frage nach den letzten möglichen Mitteln antworten kann. Das übrige jedoch … Zu meinem Bedauern …«

»Seien Sie unbesorgt, Arzt! Mein Hund wird Sie nicht beißen«, unterbrach ihn Kolja laut, da er bemerkte, wie der Doktor beunruhigt nach Pereswon schielte. Er sagte, wie er später erklärte, absichtlich »Arzt« statt »Doktor«, um »den Betreffenden zu ärgern«.

»Was soll das heißen?« fragte der Doktor, warf den Kopf zurück und sah Kolja erstaunt an. »Wer ist das?« wandte er sich dann auf einmal an Aljoscha, als wollte er diesen zur Rechenschaft ziehen.

»Das ist der Herr des Hundes Pereswon, Arzt. Beunruhigen Sie sich nicht um meine Persönlichkeit!« sagte Kolja wieder dreist. »Leben Sie wohl, Arzt! In Syrakus sehen wir uns wieder!« fügte er hinzu.

»Wer ist das? Wer ist das?« fragte der Doktor aufbrausend.

»Ein Schüler von hier, Doktor. Er ist ungezogen, beachten Sie ihn nicht weiter!« sagte Aljoscha eilig mit finsterer Miene. »Schweigen Sie, Kolja!« rief er diesem zu. »Sie sollten ihn wirklich nicht weiter beachten, Doktor!« sagte er noch einmal, in etwas heftigerem Ton.

»Durchprügeln müßte man ihn, durchprügeln!« rief der Doktor und stampfte wütend mit den Füßen.

»Wissen Sie, Arzt, mein Pereswon beißt am Ende doch!« sagte Kolja mit bebender Stimme; er war ganz blaß geworden, und seine Augen funkelten. »Ici, Pereswon!«

»Kolja, wenn Sie noch ein einziges Wort sagen, sind wir für immer geschiedene Leute!« rief Aljoscha gebieterisch.

»Arzt, es gibt nur ein Wesen auf der ganzen Welt, von dem sich Nikolai Krassotkin etwas befehlen läßt!« Kolja wies auf Aljoscha. »Dieser Mensch hier. Ihm gehorche ich. Leben Sie wohl!«

Er ging schnell zurück ins Zimmer, Pereswon stürzte ihm hinterher. Der Doktor stand noch etwa fünf Sekunden wie erstarrt da und blickte Aljoscha an; dann spuckte er aus und eilte zum Wagen, wobei er laut vor sich hin sagte: »Das, ich verstehe nicht, was das …«

Der Stabskapitän lief ihm nach, um ihm beim Einsteigen behilflich zu sein. Aljoscha folgte Kolja ins Zimmer. Kolja stand schon an Iljuschas Bett. Iljuscha hielt seine Hand und rief nach dem Vater. Kurz darauf kehrte auch der Stabskapitän zurück.

»Papa, Papa, komm … Wir…«, stammelte Iljuscha in höchster Erregung; da er aber offenbar nicht imstande war fortzufahren, streckte er plötzlich seine mageren Ärmchen aus und umschlang Kolja und seinen Vater, so fest er nur konnte, und schmiegte sich an sie.

Der Stabskapitän bebte plötzlich von stummem Schluchzen, und auch Koljas Lippen und Kinn zuckten.

»Papa, Papa! Wie leid du mir tust, Papa!« stöhnte Iljuscha traurig.

»Iljuschetschka … Täubchen… Der Doktor hat gesagt, du wirst gesund … Wir werden glücklich sein … Der Doktor …

stammelte der Stabskapitän.

»Ach, Papa! Ich weiß doch, was der neue Doktor über mich gesagt hat … Ich habe es ja gesehen!« rief Iljuscha, drückte sie wieder beide an sich und verbarg das Gesicht an der Schulter seines Vaters. »Papa, weine nicht … Und wenn ich gestorben bin, nimm dir einen guten Jungen, einen anderen … Such dir selbst einen aus, nenn ihn Iljuscha und hab ihn an meiner Statt lieb …«

»Sei still, Alter! Du wirst wieder gesund!« rief Krassotkin und tat, als ob er böse würde.

»Aber du darfst mich nicht vergessen, Papa, niemals!« fuhr Iljuscha fort. »Komm an mein Grab! Weißt du was, Papa? Begrabt mich an unserem großen Stein, zu dem wir beide so oft spazierengegangen sind, und komm dann mit Krassotkin zu mir, am Abend … Auch mit Pereswon … Ich werde euch erwarten … Papa, Papa!«

Die Stimme versagte ihm; alle drei hielten sich umarmt und schwiegen. Auch Ninotschka weinte still in ihrem Lehnstuhl, und auch die Mama brach plötzlich in Tränen aus, als sie alle weinen sah.

»Iljuschetschka Iljuschetschka!« rief sie.

Krassotkin machte sich auf einmal aus Iljuschas Armen los.

»Lebe wohl, Alter! Meine Mutter erwartet mich zum Mittagessen«, sagte er hastig. »Schade, daß ich sie nicht vorher benachrichtigt habe! Sie wird sich sehr beunruhigen … Aber nach dem Mittagessen komme ich gleich wieder zu dir, den ganzen Tag! Ich werde dir so viel erzählen! Auch Pereswon werde ich mitbringen, aber jetzt muß ich ihn mitnehmen, denn er würde in meiner Abwesenheit zu heulen anfangen und dich stören! Auf Wiedersehen!«

Er lief auf den Flur hinaus. Er hatte nicht weinen wollen, aber auf dem Flur brach er doch in Tränen aus. In diesem Zustand fand ihn Aljoscha.

»Kolja, Sie müssen unbedingt Wort halten und wiederkommen, sonst wird er furchtbar traurig sein«, sagte Aljoscha eindringlich.

»Unbedingt! Oh, wie ich mich selbst verfluche, daß ich nicht früher gekommen bin!« murmelte Kolja, ohne sich seiner Tränen zu schämen.

In diesem Augenblick kam der Stabskapitän aus dem Zimmer gestürzt und machte die Tür hinter sich zu. Sein Gesicht war verzerrt, die Lippen zuckten. Er blieb vor den beiden stehen und warf die Arme in die Höhe. »Ich will keinen anderen guten Jungen!« flüsterte er gepreßt. »Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde …«

Er sprach nicht zu Ende und sank kraftlos vor einer hölzernen Bank auf die Knie. Mit beiden Fäusten seinen Kopf pressend, begann er zu schluchzen und absonderlich zu kreischen, versuchte sich jedoch mit aller Gewalt zu beherrschen, damit sein Kreischen in der Stube nicht zu hören war. Kolja lief auf die Straße hinaus.

»Leben Sie wohl, Karamasow! Kommen Sie auch wieder?« rief er Aljoscha in scharfem Ton zu.

»Am Abend bin ich unter allen Umständen wieder hier.«

»Was hat er da von Jerusalem gesagt? Was bedeutet das?«

»Das ist aus der Bibel. ›Vergesse ich dein, Jerusalem‹ – das bedeutet: Wenn ich vergesse, was mir das Allerteuerste ist, es für etwas anderes hingebe, dann soll mich der Blitz treffen.«

»Ich verstehe … Daß Sie aber auch wiederkommen! Ici, Pereswon!« schrie er dem Hund beinahe wütend zu und ging mit großen, schnellen Schritten nach Hause.

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Kapitel 11

Elftes Buch

Der Bruder Iwan Fjodorowitsch

1. Bei Gruschenka

Aljoscha machte sich auf den Weg nach dem Kirchplatz, zum Haus der Kaufmannswitwe Morosowa, zu Gruschenka. Sie hatte Fenja am Morgen mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, er möchte doch bei ihr vorbeikommen. Aljoscha hatte von Fenja erfahren, daß das gnädige Fräulein schon seit dem vorigen Tag besonders erregt war.

In den zwei Monaten seit Mitjas Festnahme war Aljoscha häufig bei ihr gewesen, und zwar aus eigenem Antrieb wie auch in Mitjas Auftrag. Drei Tage nach Mitjas Verhaftung war Gruschenka heftig erkrankt und hatte fast fünf Wochen lang krank gelegen, davon eine Woche ohne Bewußtsein. Sie hatte sich im Gesicht stark verändert, war mager und gelb geworden, doch konnte sie schon seit zwei Wochen wieder ausgehen. Nach Aljoschas Ansicht war ihr Gesicht noch anziehender geworden als vorher, und wenn er zu ihr kam, machte es ihm Freude, ihrem Blick zu begegnen. Es schien, als habe ihr Blick an Festigkeit gewonnen und etwas Durchgeistigtes bekommen; in ihm äußerte sich ein seelischer Wandel zu demütiger Freundlichkeit und zugleich unerschütterlicher Entschlossenheit. Zwischen ihren Brauen hatte sich eine kleine, senkrechte Falte gebildet, die ihrem lieben Gesicht den Ausdruck in sich gekehrter, auf den ersten Blick sogar etwas mürrischer Nachdenklichkeit verlieh. Von der früheren Launenhaftigkeit war nicht die Spur zurückgeblieben. Eigenartig berührte Aljoscha auch, daß sie trotz allen Unglücks, das sie heimgesucht hatte, als man Mitja gerade in dem Augenblick unter dem Verdacht eines furchtbaren Verbrechens festnahm, da sie seine Braut geworden war, und trotz der anschließenden Krankheit ihre frühere jugendliche Heiterkeit dennoch nicht verloren hatte. In ihren einstmals stolzen Augen schimmerte jetzt eine gewisse Sanftmut, obwohl manchmal schon wieder ein boshaftes Feuer in ihnen aufflammte, wenn nämlich eine frühere Sorge sie überkam, eine Sorge, die in ihrem Innern nicht erstorben, sondern noch gewachsen war. Der Gegenstand dieser Sorge war immer derselbe: Katerina Iwanowna, an die sich Gruschenka sogar in ihren Fieberträumen erinnert hatte. Aljoscha ahnte, daß Gruschenka wegen Mitja auf sie eifersüchtig war, obgleich Katerina Iwanowna ihn in seiner Haft nicht ein einziges Mal besucht hatte, was sie nach Belieben hätte tun können. Durch alles dies wurde Aljoscha vor eine schwierige Aufgabe gestellt, denn Gruschenka gewährte nur ihm Einblick in ihr Innerstes und fragte ständig um Rat; er aber war bisweilen einfach nicht imstande, ihr etwas Zweckdienliches zu sagen.

Sorgenvoll betrat er ihre Wohnung; sie war vor einer halben Stunde von Mitja zurückgekehrt. Schon an der schnellen Bewegung, mit der sie von ihrem Lehnsessel am Tisch aufsprang und ihm entgegeneilte, erkannte er, daß sie ihn mit großer Ungeduld erwartet hatte. Auf dem Tisch lagen Spielkarten, es war gerade gegeben worden. Auf dem Ledersofa an der anderen Seite des Tisches war ein Bett zurechtgemacht, auf dem im Schlafrock und baumwollener Nachtmütze, offenbar krank und matt, obwohl auch jetzt süßlich lächelnd, Maximow halb lag und halb saß. Dieser heimatlose alte Mann war, als er vor einem Monat mit Gruschenka aus Mokroje gekommen war, einfach bei ihr geblieben. Als er damals mit ihr in Regen und Schmutz angekommen war, setzte er sich, durchnäßt und ängstlich, auf das Sofa und blickte sie schweigend mit einem schüchternen, bittenden Lächeln an. Gruschenka, die großen Kummer hatte und bei der sich schon das Fieber ankündigte, vergaß ihn in der ersten halben Stunde nach der Ankunft fast gänzlich; dann sah sie ihn sich an; und er kicherte ihr kläglich und fassungslos ins Gesicht. Sie rief Fenja und befahl ihr, ihm etwas zu essen zu geben. Den ganzen Tag saß er auf seinem Platz, ohne sich zu rühren; als es dunkel wurde und die Fensterläden zugemacht wurden, fragte Fenja ihre Herrin: »Wie ist es, gnädiges Fräulein, wird er auch die Nacht hierbleiben?«

»Ja, mach ihm ein Bett auf dem Sofa zurecht!« antwortete Gruschenka.

Auf genauere Fragen erfuhr Gruschenka von ihm, daß er tatsächlich nicht wußte, wo er jetzt bleiben sollte! »Mein Wohltäter, Herr Kalganow«, sagte er, »hat mir geradeheraus erklärt, er wolle mich nicht mehr aufnehmen, und hat mir fünf Rubel geschenkt.«

»Na, dann bleib in Gottes Namen hier!« entschied Gruschenka und lächelte ihm mitleidig zu. Der Alte bekam davon ein Zucken im Körper, seine Lippen bebten, und er fing vor Dankbarkeit an zu weinen. So blieb also der vagabundierende Schmarotzer bei ihr. Selbst während ihrer Krankheit verließ er das Haus nicht. Fenja und ihre Mutter, Gruschenkas Köchin, jagten ihn nicht weg, sondern gaben ihm weiter zu essen und machten ihm weiterhin ein Bett auf dem Sofa zurecht. Allmählich gewöhnte sich Gruschenka sogar an ihn, und wenn sie von Mitja zurückkam (den sie, kaum genesen, ja noch ehe sie ordentlich gesund war, sofort besuchen ging), setzte sie sich hin und begann mit »Maximuschka« über allerlei Nichtigkeiten zu reden, nur um ihren Schmerz zu betäuben. Es stellte sich heraus, daß der Alte manchmal auch leidlich zu erzählen wußte, so daß er ihr schließlich unentbehrlich wurde. Außer Aljoscha, der jedoch nicht täglich und immer nur auf kurze Zeit kam, empfing Gruschenka fast niemand. Ihr alter Kaufmann lag zu dieser Zeit schon schwerkrank darnieder; er »war im Abgehen«, wie man in der Stadt sagte, und starb tatsächlich eine Woche nach der Gerichtsverhandlung über Mitja. Drei Wochen vor seinem Tode, als er fühlte, daß sein Ende nahe war, rief er endlich seine Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich nach oben und befahl ihnen, nicht mehr von ihm wegzugehen. Ferner gab er den Dienern strengen Befehl, Gruschenka von nun an nicht mehr vorzulassen und ihr zu sagen: »Der Herr läßt Ihnen ein langes, fröhliches Leben wünschen, und Sie möchten ihn ganz und gar vergessen,« Doch Gruschenka schickte fast täglich hin, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

»Endlich ist er da!« rief sie, warf die Karten hin und begrüßte Aljoscha freudig! »Und Maximuschka hatte mir schon einen Schreck eingejagt, du würdest am Ende gar nicht kommen. Ach, ich brauche dich so! Setz dich an den Tisch. Was möchtest du, Kaffee?«

»Meinetwegen«, erwiderte Aljoscha, während er am Tisch Platz nahm! »Ich bin sehr hungrig.«

»Das ist ja schön. Fenja, Fenja, den Kaffee!« rief Gruschenka! »Er kocht schon lange und wartet auf dich … Und bringt auch die Pasteten herein, du mußt sie aber vorher heiß machen! Weißt du, Aljoscha, mit diesen Pasteten habe ich heute einen großen Krach erlebt. Ich brachte sie ihm ins Gefängnis, aber er schob sie zurück und hat keine davon gegessen. Eine Pastete warf er sogar auf den Fußboden und trat mit den Füßen darauf. Ich sagte zu ihm: ›Ich werde sie beim Wächter lassen. Wenn du sie bis zum Abend nicht ißt, bedeutet das, du nährst dich von deiner giftigen Bosheit.‹ Und mit diesen Worten ging ich weg. Wir haben uns wieder gezankt, kannst du dir das vorstellen? Sooft ich zu ihm komme, zanken wir uns!«

Gruschenka sprudelte das alles in ihrer Erregung nur so heraus. Maximow lächelte sofort ängstlich und schlug die Augen nieder.

»Weswegen habt ihr euch diesmal gezankt?« fragte Aljoscha.

»Aus einem ganz unerwarteten Grund! Stell dir vor, er ist auf meinen ›Früheren‹ eifersüchtig geworden. Er sagt: ›Warum unterstützt du ihn? Du hast angefangen, ihn zu unterstützen?‹ Immer ist er eifersüchtig, immerzu meinetwegen eifersüchtig! Selbst wenn er schläft und ißt, ist er eifersüchtig. Sogar auf Kusma war er vorige Woche einmal eifersüchtig.«

»Aber er hat doch über den ›Früheren‹ Bescheid gewußt?«

»Na, natürlich! Von Anfang an bis zum heutigen Tag hat er alles gewußt, aber heute kam es ihm auf einmal in den Sinn, darüber zu schimpfen. Ich schäme mich zu wiederholen, was er alles sagte. Der Dummkopf! Rakitka kam gerade zu ihm, als ich ging … Vielleicht hetzt der ihn auf, wie? Was meinst du?« fügte sie zerstreut hinzu.

»Er liebt dich, das ist es. Er liebt dich sehr. Und jetzt ist er ganz besonders aufgeregt.«

»Wie sollte er nicht aufgeregt sein, wo morgen die Gerichtsverhandlung über ihn stattfindet? Ich war extra mit der Absicht zu ihm gegangen, ihm für morgen ein ermunterndes Wort zu sagen; denn es ist schrecklich, auch nur daran zu denken, was morgen geschehen wird, Aljoscha! Du sagst, er ist aufgeregt. Aber wie aufgeregt bin ich selbst! Und da redet er von dem Polen! So ein Dummkopf! Auf Maximuschka hier wird er ja wohl nicht eifersüchtig sein?«

»Meine Frau war meinetwegen auch sehr eifersüchtig«, schaltete sich Maximow bescheiden ein.

»Na, dazu bist du gerade der Richtige!« rief Gruschenka, die unwillkürlich lachen mußte! »Auf wen war sie denn eifersüchtig?«

»Auf die Stubenmädchen.«

»Ach, sei still, Maximuschka, mir ist jetzt nicht nach Lachen zumute, ich bin wütend. Und wirf keine begehrlichen Blicke auf die Pasteten. Ich werde dir keine geben, sie bekommen dir nicht. Und den geliebten Lebensbalsam werde ich dir auch nicht geben … Da muß ich mich nun auch noch mit ihm abplagen als ob hier bei mir ein Armenhaus wäre«, fügte sie lachend hinzu.

»Ich verdiene Ihre Wohltaten nicht, ich bin auf der Welt zu nichts nutze«, sagte Maximow weinerlich! »Sie sollten Ihre Wohltaten besser denen zuwenden, die nützlicher sind als ich.«

»Ach was, jeder ist nützlich, Maximuschka, und woher soll man wissen, wer nützlicher ist als ein anderer? Wenn doch dieser Pole überhaupt nicht auf der Welt wäre, Aljoscha! Heute ist er nun ebenfalls auf den Einfall gekommen, krank zu werden. Ich bin bei ihm gewesen. Nun werde ich zum Trotz auch ihm Pasteten schicken. Ich hatte ihm keine geschickt, aber Mitja beschuldigte mich, ich hätte es getan. Nun werde ich ihm welche schicken, zum Trotz! Ach, da ist ja Fenja mit einem Brief! Na natürlich, wieder von den Polen, sie bitten wieder um Geld!«

Pan Mussialowicz hatte tatsächlich einen außerordentlich langen und wie immer schwülstigen Brief geschickt, in dem er bat, ihm drei Rubel zu leihen. Dem Brief war eine Quittung mit der Verpflichtung beigelegt, das Darlehen innerhalb von drei Monaten zurückzuzahlen; diese Quittung hatte auch Pan Wroblewski unterschrieben.

Solche Briefe, und immer mit Quittungen, hatte Gruschenka von ihrem »Früheren« schon viele erhalten. Angefangen hatte es gleich nach Gruschenkas Genesung, etwa vor zwei Wochen. Sie wußte jedoch, daß die beiden Polen auch während ihrer Krankheit häufig gekommen waren, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der erste Brief, auf einen Briefbogen größten Formats geschrieben und mit einem großen Familiensiegel verschlossen, war sehr lang, furchtbar dunkel und hochtrabend gewesen, so daß Gruschenka nur die Hälfte gelesen und ihn dann weggeworfen hatte, da sie absolut nichts begriff. Auch hatte sie damals andere Gedanken im Kopf gehabt. Auf diesen ersten Brief war am nächsten Tag ein zweiter gefolgt, in dem Pan Mussialowicz bat, ihm für ganz kurze Zeit zweitausend Rubel zu leihen. Gruschenka hatte auch diesen Brief unbeantwortet gelassen. Dann war eine ganze Reihe von Briefen gefolgt, täglich einer, alle gleichermaßen hochtrabend und schwülstig; die als Darlehen erbetene Summe war jedoch allmählich kleiner geworden und auf zweihundert, dann fünfundzwanzig, dann zehn Rubel gesunken – zuletzt hatte Gruschenka einen Brief erhalten, in welchem die beiden Polen sie um einen einzigen Rubel baten und eine von ihnen beiden unterschriebene Quittung beilegten. Da hatte Gruschenka plötzlich Mitleid verspürt und war in der Dämmerung selbst zu Pan Mussialowicz gelaufen. Sie hatte die beiden Polen in äußerster Armut, in einer wahren Bettlerarmut, angetroffen, ohne Essen, ohne Feuerung, ohne Zigaretten und bei der Wirtin tief in Schulden. Die zweihundert Rubel, die sie Mitja in Mokroje abgewonnen hatten, waren schnell draufgegangen. Gruschenka hatte sich jedoch besonders darüber gewundert, daß die beiden Polen sie mit hochmütiger Grandezza, stolzem Selbstbewußtsein, größter Etikette und aufgeblasenen Phrasen empfingen. Gruschenka hatte darüber nur gelacht und ihrem »Früheren« zehn Rubel gegeben. Sie hatte diese Geschichte sofort lachend Mitja erzählt, und er war nicht im geringsten eifersüchtig geworden. Seitdem nun hatten sich die Polen an Gruschenka geklammert und sie tagtäglich mit Bettelbriefen bombardiert, und sie hatte ihnen jedesmal eine Kleinigkeit geschickt. Und heute war es Mitja plötzlich eingefallen, eifersüchtig zu werden.

»Ich Idiotin war auch wirklich bei ihm, nur für ein Augenblickchen, bevor ich zu Mitja ging; denn er, mein Früherer, war ebenfalls krank geworden«, begann Gruschenka wieder hastig! »Und ich erzählte Mitja das lachend. ›Stell dir vor‹, sagte ich, ›mein Pole hat mir zur Gitarre die Lieder von früher vorgesungen! Er denkt wohl, ich werde gerührt und heirate ihn?‹ Da sprang Mitja wütend auf und fing an zu schimpfen … Nun werde ich zum Trotz den Polen Pasteten schicken! Fenja, haben sie wieder das kleine Mädchen hergeschickt? Hier, gib ihr diese drei Rubel, wickle zehn Pasteten in Papier und sag ihr, sie soll sie ihnen bringen. Und du, Aljoscha, mußt Mitja auf alle Fälle erzählen, daß ich ihnen Pasteten geschickt habe!«

»Das werde ich ihm auf keinen Fall erzählen!« erwiderte Aljoscha lächelnd.

»Ach, glaubst du etwa, daß er sich quält? Er stellt sich nur absichtlich eifersüchtig, in Wirklichkeit ist ihm alles ganz gleichgültig«, sagte Gruschenka bitter.

»Er stellt sich nur so?« fragte Aljoscha.

»Du bist dumm, Aljoschenka. Weißt du, bei all deinem Verstand verstehst du hiervon nichts. Mich kränkt es nicht, daß er meinetwegen eifersüchtig ist, kränken würde es mich vielmehr, wenn er überhaupt nicht eifersüchtig wäre. Das liegt so in meinem Charakter. Durch Eifersucht fühle ich mich nicht gekränkt; ich habe selber ein wildes Herz und bin selber eifersüchtig. Kränkend ist nur, daß er mich überhaupt nicht liebt und sich absichtlich eifersüchtig stellt! Bin ich etwa blind? Sehe ich nicht, was vorgeht? Er fängt jetzt auf einmal an, mir von diesem Fräulein, von Katka, zu erzählen, was sie für ein gutes Wesen ist. ‹Einen Arzt hat sie für mich aus Moskau geholt, um mich zu retten, und auch den berühmtesten, geschicktesten Rechtsanwalt hat sie kommen lassen.‹ Also liebt er sie, wenn er sie vor mir so schamlos lobt! Er selber ist mir untreu geworden, und nun sucht er Streit mit mir, um die Sache so darzustellen, als wäre ich ihm schon vorher untreu geworden, und um mir allein die Schuld zuzuschreiben! ›Du hast es schon vorher mit dem Polen getrieben, also ist es mir jetzt auch mit Katka erlaubt!‹ So steht die Sache! Er will die ganze Schuld auf mich abwälzen. Absichtlich sucht er Streit, absichtlich, sage ich dir! Aber ich werde …«

Gruschenka sprach nicht zu Ende, was sie tun würde. Sie bedeckte die Augen mit dem Taschentuch und schluchzte heftig.

»Er liebt Katerina Iwanowna nicht«, sagte Aljoscha mit Bestimmtheit.

»Ob er sie liebt oder nicht, werde ich bald selbst erfahren«, antwortete Gruschenka in einem leicht drohenden Ton und nahm das Tuch von den Augen.

Ihr Gesicht sah ganz entstellt aus; Aljoscha sah betrübt, wie sich ihr Gesicht aus einem sanften, ruhig-heiteren plötzlich in ein finsteres und böses verwandelt hatte.

»Nun genug von diesen Dummheiten!« brach sie kurz ab! »Ich habe dich aus einem ganz anderen Grund hergebeten. Aljoscha, Täubchen, morgen, was wird morgen geschehen? Das ist es, was mich quält! Und ich bin die einzige, die das quält! Ich sehe sie alle an: Kein Mensch denkt daran, keinen scheint es etwas anzugehen. Denkst du wenigstens daran? Morgen wird das Urteil über ihn gefällt! Erkläre du mir, wie sie über ihn zu Gericht sitzen können! Den Mord hat doch der Diener begangen, der Diener! O Gott! Werden sie wirklich ihn an Stelle des Dieners verurteilen? Und wird ihn niemand verteidigen? Sie haben ja wohl den Diener überhaupt nicht behelligt, wie?«

»Man hat ihn streng verhört«, sagte Aljoscha trüb! »Aber alle kamen zu der Überzeugung, daß er es nicht gewesen ist. Jetzt liegt er schwerkrank darnieder. Er ist seit damals krank, seit dem epileptischen Anfall. Er ist tatsächlich krank«, fügte Aljoscha hinzu.

»O Gott, du solltest doch selber zu diesem Rechtsanwalt gehen und ihm alles persönlich erzählen. Er soll doch für dreitausend Rubel extra aus Petersburg geholt worden sein …«

»Die dreitausend Rubel haben wir zu dritt gegeben: ich, mein Bruder Iwan und Katerina Iwanowna; den Moskauer Arzt hat sie allein für zweitausend Rubel engagiert. Der Rechtsanwalt Fetjukowitsch hätte eigentlich mehr verlangt; doch dieser Prozeß hat in ganz Rußland Berühmtheit erlangt und wird in allen Zeitungen und Journalen besprochen, da hat Fetjukowitsch mehr um des Ruhmes und des Aufsehens willen eingewilligt zu kommen. Ich habe ihn gestern gesehen.«

»Nun, und? Hast du mit ihm gesprochen?« rief Gruschenka hastig.

»Er hörte mich an und sagte nichts. Er sagte, er habe sich schon eine bestimmte Meinung gebildet. Aber er versprach, meine Worte in Erwägung zu ziehen.«

»In Erwägung zu ziehen! Diese Gauner! Sie werden ihn zugrunde richten! Na und den Arzt, warum hat sie den hergeholt?«

»Als Sachverständigen. Sie wollen beweisen, daß mein Bruder verrückt ist und den Mord in geistiger Umnachtung begangen hat«, sagte Aljoscha mit einem leisen Lächeln! »Aber mein Bruder ist damit nicht einverstanden.«

»Aber das wäre doch die Wahrheit – wenn er überhaupt den Mord begangen hätte!« rief Gruschenka! »Er war damals geistesgestört, völlig geistesgestört, und ich war daran schuld! Aber er hat den Mord ja gar nicht begangen! Und alle sagen sie gegen ihn aus, daß er ihn begangen hat, die ganze Stadt. Sogar Fenja, die hat auch so ausgesagt, daß es herauskommt, als ob er den Mord begangen hätte. Und die in dem Kaufladen und dieser Beamte! Und schon vorher im Restaurant haben es alle gehört! Alle, alle sind sie gegen ihn, sie lärmen und toben nur so!«

»Ja, die belastenden Aussagen haben sich schrecklich vermehrt«, bemerkte Aljoscha finster.

»Und Grigori Wassiljewitsch, der bleibt auch dabei, daß die Tür offengestanden habe! Er behauptet steif und fest, das gesehen zu haben, und läßt sich davon nicht abbringen. Ich bin zu ihm gelaufen und habe selber mit ihm geredet. Er beschimpft einen sogar!«

»Ja, das ist vielleicht die belastendste Aussage gegen den Bruder«, sagte Aljoscha.

»Und was Mitjas Geistesgestörtheit betrifft – er ist ja jetzt noch genauso«, begann Gruschenka auf einmal mit besonders sorgenvoller und geheimnisvoller Miene! »Weißt du, Aljoschenka, ich wollte mit dir schon längst darüber sprechen. Ich gehe alle Tage zu ihm und bin geradezu starr vor Staunen. Was meinst du, wovon er jetzt immerzu redet? Er redet und redet – ich kann nichts verstehen! Ich habe schon gedacht, er redet womöglich etwas Gescheites, und ich kann es in meiner Dummheit nicht verstehen! Er sprach auf einmal von einem ›Kindelein‹, von einem kleinen Kind. ‹Warum‹, sagte er, ›ist das ›Kindelein‹ arm? Für dieses Kindelein werde ich jetzt nach Sibirien gehen. Ich habe nicht gemordet, aber ich muß nach Sibirien gehen!‹ Was das bedeuten soll, was das für ein ›Kindelein‹ sein soll, das ist mir völlig unverständlich. Ich brach in Tränen aus, als er das sagte, weil er es so schön sagte! Er selber weinte, und ich weinte auch. Was bedeutet das, Aljoscha? Erkläre mir das, was ist das für ein ›Kindelein‹?«

»Rakitin hat jetzt, ich weiß nicht warum, angefangen, ihn zu besuchen«, erwiderte Aljoscha lächelnd! »Aber das hat doch wohl nichts mit Rakitin zu tun … Ich bin gestern nicht bei ihm gewesen, heute will ich wieder zu ihm gehen.«

»Nein, das hat nichts mit Rakitin zu tun; das setzt ihm sein Bruder Iwan Fjodorowitsch in den Kopf, der besucht ihn, das ist es …«, sagte Gruschenka, verstummte dann jedoch plötzlich. Aljoscha starrte sie erstaunt an.

»Er besucht ihn? Tut er das wirklich? Mitja hat mir gesagt, Iwan wäre noch kein einziges Mal zu ihm gekommen.«

»Na ja, da sieht man, was ich für eine bin! Ich habe mich verschnappt!« rief Gruschenka verlegen; sie war auf einmal ganz rot geworden! »Wart mal, Aljoscha, wo ich mich nun doch verschnappt habe, will ich auch die ganze Wahrheit sagen. Er ist zweimal bei ihm gewesen. Das erstemal, gleich nachdem er damals aus Moskau gekommen war, ich war da noch nicht bettlägerig; und das zweitemal besuchte er ihn eine Woche später. Er verbot Mitja aber, dir etwas davon zu sagen, das verbot er ihm ausdrücklich. Er sollte es überhaupt niemandem sagen. Er wollte, daß seine Besuche ein Geheimnis bleiben.«

Aljoscha saß gedankenversunken da und überlegte. Diese Nachricht hatte auf ihn offenbar starken Eindruck gemacht.

»Iwan spricht mit mir nicht über Mitjas Angelegenheit«, sagte er langsam! »Und überhaupt hat er mit mir in diesen ganzen zwei Monaten nur sehr wenig gesprochen. Wenn ich zu ihm kam, war er über mein Kommen immer so mißvergnügt, daß ich seit drei Wochen gar nicht mehr zu ihm gehe. Hm … Wenn er vor einer Woche da war, dann … In dieser Woche ist mit Mitja tatsächlich eine Veränderung vorgegangen …«

»Jawohl eine Veränderung!« fiel Gruschenka schnell ein! »Sie haben ein Geheimnis! Mitja hat mir selbst gesagt, daß es da ein Geheimnis gibt. Weißt du, es ist so ein Geheimnis, daß er sich gar nicht mehr beruhigen kann. Aber er war doch früher heiter, und er ist es eigentlich auch jetzt noch – nur, weißt du, wenn er anfängt, den Kopf zu schütteln, und dann im Zimmer auf und ab geht und sich mit dem rechten Zeigefinger und dem Daumen hier an der Schläfe am Haar zupft, dann weiß ich schon, daß eine Unruhe ihn gepackt hat, das weiß ich dann schon! Er war doch sonst heiter, und auch jetzt ist er es noch!«

»Aber du sagtest doch, er sei aufgeregt?«

»Er ist sehr aufgeregt, aber auch heiter. Er ist vorwiegend aufgeregt, aber für Augenblicke wird er heiter, und dann gerät er auf einmal wieder in Aufregung. Und weißt du, Aljoscha, ich muß mich immer über ihn wundern: Ihm steht etwas Furchtbares bevor, und trotzdem lacht er manchmal über nichtige Dinge wie ein kleines Kind!«

»Und es ist wahr, daß er dir verboten hat, mir etwas von Iwans Besuchen zu sagen? Hat er ausdrücklich gesagt: ›Sag ihm nichts davon‹?«

»Ja, so hat er gesagt: ›Sag ihm nichts davon!‹ Vor dir hat Mitja ganz besonders Angst. Denn ein Geheimnis gibt es, das hat er selber gesagt … Aljoscha, Täubchen, geh hin und bring es heraus, was sie für ein Geheimnis miteinander haben, und dann komm und sag es mir!« fuhr Gruschenka plötzlich flehend auf Aljoscha los! »Klär mich auf, damit ich mein Schicksal erfahre! Deswegen habe ich dich rufen lassen!«

»Du meinst, daß sich dieses Geheimnis irgendwie auf dich bezieht? Wenn dem so wäre, hätte er dir doch überhaupt nichts von einem Geheimnis gesagt.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte er es gerade mir sagen und wagt es nur nicht. Er bereitet mich vor. Er sagt: ›Es gibt da ein Geheimnis.‹ Nur was für ein Geheimnis, das sagt er nicht.«

»Was denkst du selbst davon?«

»Was ich davon denke? Daß mein Ende gekommen ist, das denke ich. Alle drei sind eifrig bemüht gewesen, mir mein Ende zu bereiten; denn Katka steckt auch dahinter. Katka ist dabei die Hauptperson, von ihr geht alles aus. ‹Was ist sie für ein gutes Wesen‹ – das bedeutet, daß ich keins bin. Das sagt er, um mich vorzubereiten. Er will sich von mir lossagen, das ist das ganze Geheimnis! Das haben sich alle drei zusammen ausgedacht: Mitka, Katka und Iwan Fjodorowitsch. Aljoscha, ich wollte dich schon längst fragen: Vor einer Woche hat er mir auf einmal auch eröffnet, Iwan müsse in Katka verliebt sein, weil er so oft zu ihr gehe. Hat er mir da die Wahrheit gesagt oder nicht? Sag es mir bei deinem Gewissen, schenk mir reinen Wein ein!«

»Ich werde dich nicht belügen. Iwan ist nicht in Katerina Iwanowna verliebt, das ist meine Überzeugung.«

»Na, das habe ich mir gleich gedacht! Er lügt mir etwas vor, der Schamlose, so steht die Sache! Und er tut jetzt meinetwegen eifersüchtig, um mir nachher die Schuld zuzuschieben. Er ist ja ein Dummkopf und kann nichts verheimlichen, so offenherzig ist er … Aber ich werde es ihm zeigen. Er sagt: ›Du glaubst, daß ich den Mord begangen habe.‹ Das sagt er zu mir, mir macht er so einen Vorwurf! Gott möge es ihm verzeihen! Na warte, das werde ich Katka vor Gericht heimzahlen! Ich werde da etwas sagen, was ihr nicht gefallen wird … Ich werde alles sagen!«

Und sie fing wieder bitterlich an zu weinen.

»Hör zu, zweierlei kann ich dir mit aller Bestimmtheit versichern, Gruschenka«, sagte Aljoscha und stand auf! »Erstens, daß er dich liebt, mehr als alles auf der Welt, und nur dich, das kannst du mir glauben. Ich weiß es. Ich weiß es genau. Zweitens will ich dir sagen, daß ich ihm sein Geheimnis nicht entlocken werde; sollte er es mir von selber sagen, werde ich ihm geradeheraus erklären, daß ich versprochen habe, es dir mitzuteilen. Dann werde ich zu dir kommen und es dir sagen. Nur scheint mir, von Katerina Iwanowna ist dabei gar nicht die Rede, das Geheimnis wird sich auf etwas ganz anderes beziehen. Es sieht nicht danach aus, daß es Katerina Iwanowna betrifft – das ist meine Ansicht. Einstweilen lebe wohl!«

Aljoscha drückte ihr die Hand, Gruschenka weinte immer noch. Er sah, daß sie seinen Tröstungen wenig Glauben schenkte, sich aber schon dadurch erleichtert fühlte, daß sie wenigstens jemandem ihr Leid geklagt und sich ausgesprochen hatte. Es tat ihm weh, sie in diesem Zustand verlassen zu müssen, aber er hatte es eilig. Er hatte noch vieles zu erledigen.

2. Das kranke Füßchen

Zuerst eilte er in das Haus von Frau Chochlakowa; er wollte dort möglichst schnell fertig werden und nicht zu spät zu Mitja kommen. Frau Chochlakowa kränkelte seit drei Wochen, ein Fuß war ihr, Gott weiß woher, geschwollen; sie lag zwar nicht gerade im Bett, verbrachte jedoch den Tag in einem reizenden, aber anständigen Negligé auf einer Chaiselongue in ihrem Boudoir. Aljoscha hatte bereits im stillen darüber gelächelt, daß Frau Chochlakowa trotz ihrer Krankheit angefangen hatte, sich ein bißchen zu putzen. Da waren allerlei Coiffüren, Schleifen und Morgenröcke zum Vorschein gekommen, und er durchschaute die Absicht, obwohl er diesen Gedanken als müßig verscheuchte. In den letzten zwei Monaten war, unter den anderen Besuchern, auch der junge Perchotin oft zu Frau Chochlakowa gekommen.

Aljoscha war schon seit vier Tagen nicht dagewesen und wollte schnell geradewegs zu Lisa gehen; denn sie hatte am vorigen Tag das Dienstmädchen mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, er möchte »in einer sehr wichtigen Angelegenheit« unverzüglich zu ihr kommen, was aus gewissen Gründen Aljoschas Interesse erregt hatte. Doch während das Mädchen zu Lisa ging, um ihn anzumelden, hatte Frau Chochlakowa bereits irgendwie von seiner Ankunft erfahren und ließ ihn »nur auf ein Augenblickchen« zu sich bitten. Nach kurzer Überlegung sagte sich Aljoscha, daß es das beste wäre, zunächst den Wunsch der Mutter zu erfüllen; sonst würde sie, solange er bei Lisa saß, alle Augenblicke zu ihnen schicken. Frau Chochlakowa lag, besonders festlich gekleidet, auf der Chaiselongue und befand sich augenscheinlich in einer außerordentlich nervösen Erregung. Sie empfing Aljoscha mit Ausrufen des Entzückens.

»Eine Ewigkeit, eine ganze Ewigkeit habe ich Sie nicht gesehen! Eine ganze Woche nicht, ich bitte Sie! Ach, übrigens waren Sie erst vor vier Tagen hier, am Mittwoch. Sie wollen zu Lise? Ich bin überzeugt, daß Sie direkt zu ihr gehen wollten, auf den Zehen, damit ich es nicht merke. Lieber Alexej Fjodorowitsch, wenn Sie wüßten, wie sie mich beunruhigt! Aber davon nachher! Das ist zwar das Allerwichtigste, aber davon nachher! Lieber Alexej Fjodorowitsch, ich vertraue Ihnen meine Lise vollständig an. Nach dem Tode des Starez Sossima – Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe! – betrachte ich Sie gewissermaßen als seinen Nachfolger im strengen Mönchtum, obwohl Ihr neuer Anzug Sie vorzüglich kleidet. Wo haben Sie hier nur so einen guten Schneider aufgetrieben? Aber nein, das ist nicht die Hauptsache, davon nachher! Verzeihen Sie, daß ich Sie manchmal Aljoscha nenne, ich bin eine alte Frau, mir ist alles erlaubt«, sagte sie, kokett lächelnd! »Aber davon nachher! Die Hauptsache ist, daß ich nicht die Hauptsache vergesse. Bitte, erinnern Sie mich, sobald ich ins Plaudern gerate! Sie brauchen nur zu sagen: ›Und die Hauptsache?‹ Ach, woher soll ich denn wissen, was jetzt die Hauptsache ist? Seit Lise das Versprechen wieder zurückgenommen hat, ihr kindisches Versprechen, Alexej Fjodorowitsch, Sie zu heiraten, haben Sie natürlich eingesehen, daß das alles nur die kindische Laune eines kranken, gar zu lange an den Rollstuhl gefesselten Mädchens war – Gott sei Dank, jetzt kann sie ja wieder gehen. Dieser neue Arzt, den Katja aus Moskau hat kommen lassen, für Ihren unglücklichen Bruder, der morgen … Nun, wozu sollen wir über morgen sprechen! Ich sterbe schon von dem bloßen Gedanken an morgen! Hauptsächlich vor Neugierde … Kurz, dieser Arzt ist gestern bei uns gewesen und hat Lise gesehen … Ich habe ihm fünfzig Rubel für den Besuch bezahlt. Aber das ist alles nicht das, was ich eigentlich sagen wollte. Sehen Sie, ich bin jetzt schon ganz aus dem Konzept gekommen. Ich habe es zu eilig. Warum habe ich es eigentlich so eilig? Das verstehe ich gar nicht. Überhaupt läßt mein Verständnis für dies und das jetzt erschreckend nach. Alles wirrt sich für mich zu einem unauflöslichen Knäuel. Ich fürchte, daß Sie vor Langeweile einfach aufspringen und gehen. Ach mein Gott, was sitzen wir denn so, ich müßte doch erst mal Kaffee … Julija, Glafira, Kaffee!«

Aljoscha dankte und erklärte rasch, er habe soeben erst Kaffee getrunken.

»Bei wem denn?«

»Bei Agrafena Alexandrowna.«

»Ach … Bei dieser Frauensperson! Sie ist es, die alle zugrunde gerichtet hat, aber ich weiß nicht, es heißt ja, sie sei jetzt eine Heilige geworden, obgleich wohl etwas spät. Das hätte sie lieber früher tun sollen, als es nötig war! Aber jetzt, was hat es jetzt für einen Nutzen? Seien Sie still, seien Sie still, Alexej Fjodorowitsch, ich habe Ihnen so viel zu sagen, daß ich, wie es scheint, überhaupt nicht dazu komme, Ihnen irgend etwas zu sagen. Dieser schreckliche Prozeß! Ich werde unbedingt hinfahren, ich bereite mich darauf vor, ich werde mich im Lehnsessel in den Saal tragen lassen, dort kann ich ja sitzen, ich werde meine Leute mitnehmen. Sie wissen ja, ich gehöre zu den Zeugen. Wie werde ich nur reden, wie werde ich nur reden! Ich weiß nicht, was ich da sagen soll. Man muß ja wohl einen Eid schwören, nicht wahr?«

»Ja, aber ich glaube nicht, daß es Ihnen möglich sein wird, dort zu erscheinen.«

»Ich kann ja sitzen! Ach, Sie bringen mich aus dem Konzept! Dieser Prozeß, diese Tat, und dann gehen alle nach Sibirien, und andere verheiraten sich, und alles geht so schnell, und alles ändert sich, und zuletzt ist nichts mehr übrig, und alle sind alt geworden und blicken in ihr Grab. Na, in Gottes Namen, ich bin müde … Diese Katja, cette charmante personne, hat alle meine Hoffnungen zunichte gemacht! Jetzt wird sie einem Ihrer Brüder nach Sibirien folgen, und Ihr anderer Bruder wiederum wird ihr folgen und in einer benachbarten Stadt leben, und alle werden sich gegenseitig quälen. Mich macht das alles ganz verrückt, besonders aber diese Publizität! In allen Petersburger und Moskauer Zeitungen sind eine Million Artikel darüber gedruckt worden. Ach ja, stellen Sie sich das vor, auch von mir haben sie geschrieben, ich sei eine liebe Freundin Ihres Bruders gewesen! Ich will ja keinen häßlichen Ausdruck gebrauchen, aber stellen Sie sich das vor, stellen Sie sich das vor!«

»Das ist nicht möglich! Wo ist denn das gedruckt worden?«

»Ich werde es Ihnen zeigen. Gestern habe ich es bekommen und gleich gelesen. Sehen Sie, hier in der Zeitung ›Gerüchte‹, sie kommt in Petersburg heraus. Diese ›Gerüchte‹ erscheinen erst seit diesem Jahr. Ich bin eine große Freundin von Gerüchten und habe sie abonniert, zu meinem eigenen Unglück! Sehen Sie nur, als was sich diese ›Gerüchte‹ entpuppt haben! Sehen Sie, hier, an dieser Stelle. Lesen Sie.«

Sie reichte Aljoscha ein Zeitungsblatt, das sie unter ihrem Kopfkissen liegen hatte.

Sie war nicht etwa nur verstimmt, sondern in ihrem Kopf hatte sich vielleicht wirklich alles zu einem wirren Knäuel zusammengeballt. Die Zeitungsmeldung war sehr treffend und mußte auf sie tatsächlich einen recht peinlichen Eindruck machen; doch sie war vielleicht zu ihrem Glück nicht imstande, in diesem Augenblick ihre Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren, und brachte es daher schon eine Minute später fertig, die Zeitung sogar zu vergessen und auf etwas ganz anderes überzugehen. Daß sich die Kunde von dem Prozeß schon überall in Rußland verbreitet hatte, wußte Aljoscha längst – was für tolle Nachrichten und Korrespondenzen hatte er unter anderen, wahren Nachrichten in diesen zwei Monaten schon über seinen Bruder, über die Karamasows im allgemeinen und sogar über sich selbst gelesen! In einer Zeitung war sogar geschrieben worden, er sei nach dem Verbrechen seines Bruders vor Entsetzen Einsiedler geworden und habe sich von der Welt abgeschlossen; in einer anderen Zeitung war diese Meldung als falsch bezeichnet und statt dessen behauptet worden, er habe zusammen mit seinem Starez Sossima die Klosterkasse erbrochen und sei dann mit ihm geflohen. Die Nachricht in der Zeitung »Gerüchte« nun hatte die Überschrift: »Zum Karamasow-Prozeß. Neues aus Skotoprigonewsk« – leider heißt unser Städtchen so, ich habe seinen Namen lange verschwiegen. Der Artikel war nur kurz, und über Frau Chochlakowa war darin nichts direkt gesagt, wie überhaupt alle Namen weggelassen waren. Es wurde nur mitgeteilt, der Verbrecher, zu dessen Aburteilung jetzt dieser aufsehenerregende Prozeß anberaumt sei, ein Hauptmann a. D., ein frecher Wüstling, Müßiggänger und Verteidiger der Leibeigenschaft, habe sich ständig mit Liebschaften abgegeben und einen besonderen Einfluß auf einige »einsame Damen« ausgeübt. Eine derartige Dame, »eine sich langweilende Witwe«, die gern die Jugendliche spiele, obwohl sie schon eine erwachsene Tochter habe, sei so in ihn verliebt gewesen, daß sie ihm zwei Stunden vor dem Verbrechen dreitausend Rubel angeboten habe, unter der Bedingung, daß er sogleich mit ihr in die Goldbergwerke ginge. In der Hoffnung, ungestraft zu bleiben, habe es der Bösewicht jedoch vorgezogen, lieber seinen Vater totzuschlagen und ihm dreitausend Rubel zu rauben, als mit den vierzigjährigen Reizen einer sich langweilenden Dame nach Sibirien zu gehen. Diese humoristische Korrespondenz schloß, wie es sich gehört, mit dem Ausdruck edler Entrüstung über die Unsittlichkeit des Vatermordes und der früheren Leibeigenschaft.

Nachdem Aljoscha den Artikel gelesen hatte, faltete er das Blatt zusammen und gab es Frau Chochlakowa zurück.

»Nun, bin ich das etwa nicht?« schwatzte sie weiter! »Das bin ich, denn ich habe ihn ja eine Stunde vorher auf die Goldbergwerke hingewiesen, und nun heißt es da auf einmal ›vierzigjährige Reize‹! Habe ich etwa in diesem Sinn davon gesprochen? Das hat er aus Bosheit getan! Möge ihm der Ewige Richter die vierzigjährigen Reize verzeihen, so wie ich sie ihm verzeihe! Aber wissen Sie, wer es war, wer das geschrieben hat? Ihr Freund Rakitin!«

»Das kann schon sein«, erwiderte Aljoscha, »Obgleich ich nichts davon gehört habe.«

»Er ist es, er ist es! Von ›kann schon sein‹ ist nicht die Rede! Ich habe ihn ja hinausgeworfen … Sie kennen doch wohl diese ganze Geschichte?«

»Ich weiß, daß Sie ihn ersucht haben, Sie künftig nicht mehr zu besuchen, aber weswegen eigentlich, das habe ich, wenigstens von Ihnen, nicht gehört.«

»Also haben Sie es von ihm gehört! Nun, wie ist es? Schimpft er auf mich? Schimpft er sehr?«

»Ja, er schimpft. Aber er schimpft ja auf alle Menschen. Doch aus welchem Grund Sie ihm Ihr Haus verboten haben, habe ich auch von ihm nicht gehört. Überhaupt komme ich jetzt nur selten mit ihm zusammen. Wir sind keine Freunde.«

»Nun, dann will ich Ihnen das alles erzählen, und ich muß es leider so nennen, reuevoll beichten, denn es ist da ein Punkt, in dem ich vielleicht selbst schuldig bin. Nur ein kleines kleines Pünktchen, ein ganz kleines, so daß es vielleicht überhaupt nicht existiert. Sehen Sie, mein Täubchen ..,« Frau Chochlakowa setzte plötzlich eine eigentümlich schalkhafte Miene auf, und um ihre Lippen spielte ein liebenswürdiges und etwas rätselhaftes Lächeln! »Sehen Sie, ich vermutete … Sie verzeihen mir, Aljoscha, ich rede zu Ihnen wie eine Mutter, o nein, im Gegenteil, ich rede zu Ihnen jetzt wie zu meinem Vater, denn der Ausdruck Mutter paßt hier überhaupt nicht her … Nun, ich rede zu Ihnen wie zum Starez Sossima in der Beichte, und das paßt durchaus, ich habe Sie ja auch vorhin einen Einsiedler genannt … Nun also, dieser arme junge Mensch, Ihr Freund Rakitin, o Gott, ich kann ihm einfach nicht böse sein, das heißt, ich bin auf ihn böse, aber nicht sehr, kurz, dieser leichtsinnige junge Mann kam auf einmal, denken Sie sich nur, auf den Einfall, sich in mich zu verlieben. Ich merkte es erst später; zuerst, das heißt ungefähr vor einem Monat, begann er mich häufiger zu besuchen, fast täglich, obwohl wir auch schon früher miteinander bekannt waren. Ich ahnte nichts, dann kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich, und ich wunderte mich sehr. Sie wissen, daß ich schon vor zwei Monaten angefangen hatte, den hiesigen Beamten Pjotr Iljitsch Perchotin, diesen bescheidenen, liebenswürdigen, soliden jungen Mann, bei mir zu empfangen. Sie sind ja oftmals selbst mit ihm zusammengetroffen. Und nicht wahr, er ist so solide und gesetzt. Er kommt alle drei Tage, nicht täglich, obwohl ich auch dagegen nichts hätte, und ist immer so gut gekleidet, und überhaupt habe ich die jungen Leute gern, solche talentvollen, bescheidenen jungen Leute wie Sie zum Beispiel. Und er hat ja beinahe einen staatsmännischen Verstand, er spricht so allerliebst, und ich werde mich unbedingt, unbedingt für ihn verwenden, das ist ein künftiger Diplomat! Er hat mich an jenem furchtbaren Tag gewissermaßen vom Tode errettet, indem er in der Nacht zu mir kam. Aber Ihr Freund Rakitin kommt immer mit so häßlichen Stiefeln und streckt sie auf dem Teppich aus … Kurz, er begann mir Andeutungen zu machen und drückte mir einmal beim Gehen auffallend fest die Hand. Und kaum hatte er mir die Hand gedrückt, wurde auf einmal mein Fuß schlimm! Rakitin hatte schon früher manchmal Pjotr Iljitsch bei mir getroffen, und immer stichelte und stichelte er gegen ihn und brummte ihn wegen irgend etwas an. Ich sah mir die beiden an, wenn sie aneinandergerieten, und lachte innerlich. Wie ich nun einmal allein dasaß, das heißt nein, ich lag damals schon, wie ich nun einmal allein dalag, da kam Michail Iwanowitsch, und denken Sie sich, er brachte ein eigenes Gedicht mit, nur ganz kurz, auf meinen kranken Fuß, das heißt, er hatte meinen kranken Fuß in Versen besungen. Warten Sie einmal, wie war es doch?

Ach, geschwollen ist das liebe Füßchen,
und die Ärzte suchen es zu heilen…

Oder so ähnlich, ich kann mir Verse absolut nicht merken. Ich habe das Gedicht dort liegen, na, ich werde es Ihnen nachher zeigen, aber es ist reizend, ganz reizend, und wissen Sie, es handelt nicht nur von dem Füßchen, es hat auch einen tieferen Inhalt, mit einer reizenden Idee, nur habe ich sie vergessen, kurz, man hätte es ohne weiteres in ein Album schreiben können. Na, ich lobte es natürlich, und er fühlte sich offenbar durch mein Lob geschmeichelt. Ich war mit dem Loben noch nicht fertig, da trat Pjotr Iljitsch ins Zimmer. Michail Iwanowitschs Gesicht wurde urplötzlich finster wie die Nacht. Ich merkte gleich, daß Pjotr Iljitsch ihm irgendwie in die Quere gekommen war, denn Michail Iwanowitsch hatte wohl gleich im Anschluß an die Verse etwas sagen wollen, das hatte ich schon geahnt, und nun war ihm also Pjotr Iljitsch dazwischengekommen. Ich zeigte das Gedicht sogleich Pjotr Iljitsch, ohne jedoch den Verfasser zu nennen. Aber ich bin überzeugt, daß er ihn sofort erriet, obgleich er es bis auf den heutigen Tag nicht zugibt, aber das tut er absichtlich. Pjotr Iljitsch fing an zu lachen und das Gedicht zu kritisieren. ›Ganz jämmerliche Verse!‹ sagte er. ›Die wird wohl irgendein Seminarist verbrochen haben.‹ Und wissen Sie, das sagte er so zornig! Und Ihr Freund, statt darüber zu lachen, wurde auf einmal ganz wütend … O Gott, ich dachte sie würden sich prügeln! ›Ich‹, sagte er, ›bin der Verfasser des Gedichts. Ich habe es nur zum Scherz geschrieben, denn ich halte es für unwürdig, Verse zu schreiben. Aber meine Verse sind gut. Ihrem Puschkin will man für sein Lob der Frauenfüßchen ein Denkmal setzen, bei mir ist mit diesem Lob jedoch eine bestimmte Tendenz verbunden. Sie hingegen‹, sagte er, ›sind ein Verteidiger der Leibeigenschaft. Sie besitzen keine Humanität, Sie haben keinerlei aufgeklärte Gefühle, Sie sind von der neuzeitlichen Entwicklung unberührt geblieben, Sie sind Beamter und nehmen Bestechungen an!‹ Da fing ich an zu schreien und flehte die beiden an. Doch Pjotr Iljitsch, wissen Sie, ist durchaus nicht auf den Mund gefallen, er schlug sofort einen feinen Ton an, sah ihn spöttisch an, hörte zu und entschuldigte sich. ›Ich habe nicht gewußt‹, sagte er, ›daß Sie der Verfasser sind. Hätte ich es gewußt, dann hätte ich nicht so geredet, sondern das Gedicht gelobt. Die Dichter sind alle so reizbar …‹ Kurz, lauter solche Spöttereien, unter dem feinsten Tonfall versteckt. Er hat mir nachher selbst gestanden, daß alles nur Spott war, und ich hatte gedacht, er hätte im Ernst gesprochen! So lag ich nun da, wie ich jetzt vor Ihren Augen daliege, und dachte: ›Schickt es sich oder schickt es sich nicht, daß ich Michail Iwanowitsch zur Strafe dafür die Tür weise, daß er in meinem Haus meinen Gast unanständig angeschrien hat?‹ So lag ich da, hielt die Augen geschlossen und dachte: ›Schickt es sich, oder schickt es sich nicht?‹ Ich konnte zu keiner Entscheidung kommen und quälte mich und quälte mich, und das Herz klopfte mir: Soll ich schreien oder nicht? Eine Stimme in mir sagte: ›Schrei!‹ Und eine andere sagte: ›Schrei nicht!‹ Aber kaum hatte diese andere Stimme das gesagt, da schrie ich auf und fiel in Ohnmacht. Na, natürlich war große Aufregung. Ich erhob mich und sagte zu Michail Iwanowitsch: ›Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß ich Sie nicht mehr in meinem Haus zu empfangen wünsche.‹ Ja, so habe ich ihn vor die Tür gesetzt … Ach, Alexej Fjodorowitsch! Ich weiß selbst, daß ich häßlich gehandelt habe, es war alles nur Verstellung, ich war gar nicht böse auf ihn, mir kam bloß auf einmal in den Kopf, das könnte eine hübsche Szene werden. Aber diese Szene war doch echt und natürlich, denn ich brach sogar in Tränen aus, noch mehrere Tage danach habe ich geweint, aber dann nach dem Mittagessen hatte ich auf einmal alles vergessen. Nun hat er mich schon seit zwei Wochen nicht mehr besucht, und ich dachte: ›Wird er wirklich gar nicht mehr kommen?‹ Das dachte ich noch gestern, und dann, am Abend, bekam ich diese ›Gerüchte‹. Ich las sie und stöhnte auf. Wer hat das wohl geschrieben? Das ist er gewesen, er ist damals nach Hause gekommen, hat sich hingesetzt, diesen Artikel geschrieben, ihn eingesandt – und nun ist er gedruckt worden! Unser Zerwürfnis war ja vor zwei Wochen. Aber es ist schrecklich, was ich da alles rede, Aljoscha, und ausgerechnet von dem Wichtigsten rede ich nicht. Ach, man kommt ganz von selbst ins Reden!«

»Es liegt mir heute außerordentlich viel daran, rechtzeitig zu meinem Bruder zu kommen«, bemerkte Aljoscha.

»Richtig, das war es! Sie haben mich an alles erinnert! Hören Sie, was ist das: ein Affekt?«

»Was für ein Affekt?« fragte Aljoscha erstaunt.

»Ein gerichtlicher Affekt. Einer, dessentwegen einem alles verziehen wird. Man mag getan haben, was man will, es wird einem verziehen.«

»Was meinen Sie denn eigentlich?«

»Das will ich Ihnen sagen. Diese Katja… Ach, sie ist so ein liebes Wesen, ich weiß nur nicht, in wen sie eigentlich verliebt ist. Neulich saß sie bei mir, und ich konnte es absolut nicht herausbekommen. Um so weniger, da sie jetzt immer von so

nebensächlichen Dingen redet, kurz, sie spricht immer nur von meiner Gesundheit und von weiter nichts, und sie hat sogar einen eigentümlichen Tonfall angenommen, aber ich habe mir gedacht: ›Na, laß sie, Gott verzeihe ihr!‹ … Ach ja, nun also dieser Affekt. Sie wissen, daß jener Arzt angekommen ist, der Arzt, der sich auf die Irrsinnigen versteht? Nun, wie sollten Sie das nicht wissen, Sie haben ihn ja selbst hergerufen, das heißt, nicht Sie, sondern Katja! Immer Katja! Also, da ist ein Mensch, der ganz und gar nicht irrsinnig ist, doch auf einmal hat er einen Affekt. Er ist bei vollem Bewußtsein und weiß, was er tut, aber dabei befindet er sich in einem Affekt. Na, wahrscheinlich ist auch Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch so ein Affekt passiert. Als die neuen Gerichte eingeführt wurden, hat man auch gleich das mit dem Affekt entdeckt, der ist eine Wohltat der neuen Gerichte. Jener Arzt war also bei mir und fragte mich über den Abend aus, über die Goldbergwerke und so und was er auf mich für einen Eindruck gemacht hat. Natürlich muß er in einem Affekt gewesen sein, er kam und schrie: ›Geld, Geld, dreitausend Rubel, geben Sie mir dreitausend Rubel!‹ Und dann ging er und verübte den Mord. Ich will nicht morden sagte er sich. Ich will nicht morden! Und auf einmal mordete er doch. Und deswegen wird man ihm die Tat auch verzeihen weil er sich selbst dagegen gesträubt und sie doch begangen hat.«

»Aber er hat den Mord doch gar nicht begangen«, unterbrach Aljoscha sie in etwas scharfem Ton. Unruhe und Ungeduld bemächtigten sich seiner mehr und mehr.

»Ich weiß, den Mord hat dieser alte Grigori begangen …«

»Was? Grigori?« rief Aljoscha.

»Ja der. Grigori ist es gewesen. Als Dmitri Fjodorowitsch ihn niedergeschlagen hatte, lag er zunächst da, dann stand er auf, sah die Tür offen, ging hinein und ermordete Fjodor Pawlowitsch.«

»Aber warum denn?«

»Er hat einen Affekt bekommen. Nachdem er von Dmitri Fjodorowitsch den Schlag über den Kopf erhalten und das Bewußtsein verloren hatte, kam er wieder zu sich, bekam einen Affekt, ging hin und verübte den Mord. Und wenn er selbst sagt, er hätte ihn nicht begangen, so erinnert er sich vielleicht bloß nicht. Aber sehen Sie, weit besser wird es sein, wenn Dmitri Fjodorowitsch den Mord begangen hat! Und so ist es auch gewesen. Ich sage zwar, daß es Grigori war, doch es ist bestimmt Dmitri Fjodorowitsch gewesen, und das ist auch viel, viel besser! Nicht deswegen, weil der Sohn den Vater ermordet hat, so etwas lobe ich nicht, die Kinder sollen ihre Eltern ehren, trotzdem ist es besser, wenn er es gewesen ist, weil Sie dann keinen Grund zu weinen haben, da er den Mord im Unterbewußtsein begangen hat, oder richtiger gesagt, mit Bewußtsein, aber ohne zu wissen, was in ihm vorging … Nein, mögen sie ihm verzeihen, das ist so human, dann wird man auch sehen, welche Wohltat die neuen Gerichte mit sich bringen. Ich hatte das ja gar nicht gewußt, dabei heißt es, diese Einrichtung bestehe schon lange! Als ich es gestern erfuhr, machte das auf mich einen solchen Eindruck, daß ich Sie sogleich rufen lassen wollte. Und später, wenn er freigesprochen ist, dann bringen Sie ihn bitte direkt vom Gericht zu mir zum Mittagessen, ich werde meine Bekannten einladen, und wir werden auf die neuen Gerichte trinken. Ich glaube nicht, daß er gefährlich wird, außerdem werde ich so viele Gäste einladen, daß man ihn gleich hinausführen kann, falls er irgend etwas anrichten sollte. Und später kann er irgendwo in einer anderen Stadt Friedensrichter oder so etwas werden, denn wer selbst Unglück erlebt hat, ist für das Richteramt am besten geeignet.

Vor allem, wer befindet sich jetzt nicht in einem Affekt? Sie, ich, wir alle befinden uns in einem Affekt, dafür gibt es unzählige Beispiele! Da war ein Mensch, der sang gerade ein Liebeslied, auf einmal mißfiel ihm irgend etwas, er nahm eine Pistole und schoß den ersten besten nieder, dann wurde er aber einstimmig freigesprochen. Ich habe das kürzlich gelesen, alle Ärzte haben es bescheinigt. Die Ärzte bescheinigen jetzt so etwas, alle bescheinigen es. Ich bitte Sie, meine Lise befindet sich ebenfalls in einem Affekt, ich habe noch gestern über sie geweint, und auch vorgestern habe ich geweint, und heute bin ich darauf gekommen, daß das bei ihr einfach ein Affekt ist … Ach, Lise macht mir so viel Sorge! Ich glaube, sie ist geistesgestört. Warum hat sie Sie rufen lassen? Hat sie Sie rufen lassen, oder sind Sie von selber gekommen?«

»Sie hat mich rufen lassen, und ich werde jetzt zu ihr gehen«, antwortete Aljoscha und stand entschlossen auf.

»Ach, lieber, lieber Alexej Fjodorowitsch, da ist ja noch das Allerwichtigste!« rief Frau Chochlakowa und brach in Tränen aus! »Gott weiß, daß ich Ihnen Lise von ganzem Herzen anvertraue, und es ist weiter nichts dabei, daß sie Sie ohne Wissen ihrer Mutter hat rufen lassen. Aber Ihrem Bruder Iwan Fjodorowitsch, nehmen Sie mir das nicht übel, kann ich meine Tochter nicht mit so leichtem Herzen anvertrauen, obgleich ich ihn nach wie vor für einen ehrenhaften jungen, Mann halte. Aber denken Sie, er ist bei Lise gewesen und ich habe nichts davon gewußt.«

»Wie? Was? Wann?« fragte Aljoscha erstaunt; er hatte sich nicht wieder gesetzt, sondern hörte stehend zu.

»Ich werde es Ihnen erzählen, gerade deswegen habe ich Sie vielleicht rufen lassen, ach, ich weiß selbst nicht mehr, warum ich Sie eigentlich rufen ließ. Also hören Sie! Iwan Fjodorowitsch ist nach seiner Rückkehr aus Moskau nur zweimal bei mir gewesen, das erstemal, um als Bekannter eine Visite zu machen, das zweitemal, das ist noch nicht lange her, saß Katja bei mir, und da kam er vorbei, weil er das erfahren hatte. Ich verlangte selbstverständlich keine häufigen Besuche von ihm, da ich weiß, wieviel Mühe und Sorge er ohnedies schon hat, vous comprenez, cette affaire et la mort terrible de votre papa, plötzlich erfuhr ich, daß er wieder hier war, aber nicht bei mir, sondern bei Lise, vor nun schon sechs Tagen. Er war gekommen, hatte fünf Minuten gesessen und war wieder weggegangen! Ich erfuhr es erst volle drei Tage danach von Glafira und es frappierte mich nicht wenig! Ich ließ Lise sogleich rufen, aber die fing an zu lachen. ›Er dachte‹, sagte sie, ›Sie schliefen, und kam zu mir, um sich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.‹ Natürlich war es auch so gewesen. Aber Lise, o Gott, was macht sie mir für Sorgen! Denken Sie sich, einmal, vor vier Tagen, gleich nachdem Sie zum letztenmal hiergewesen und wieder gegangen waren, da bekam sie in der Nacht einen Anfall, sie schrie und kreischte, ganz hysterisch! Warum bekomme ich denn niemals hysterische Anfälle? Dann am folgenden Tag wieder ein Anfall, und dann auch am dritten Tag – und gestern, gestern stellte sich dann dieser Affekt ein. Sie schrie mich auf einmal an: ›Ich hasse Iwan Fjodorowitsch! Ich verlange, daß Sie ihn nicht mehr empfangen, daß Sie ihm das Haus verbieten!‹ Ich war vor Überraschung ganz starr und erwiderte ihr: ›Mit welchem Recht könnte ich so einem vortrefflichen jungen Mann das Haus verbieten, noch dazu, wo er so viele Kenntnisse besitzt und solches Unglück hat?‹ Denn alle diese Geschichten, das ist doch ein Unglück und kein Glück, nicht wahr? Sie lachte laut über meine Worte, und zwar so kränkend, wissen Sie. Na, ich freute mich, ich dachte, ich hätte sie zum Lachen gebracht, und die Anfälle würden jetzt vorübergehen, zumal ich selbst beabsichtigte, Iwan Fjodorowitsch wegen seiner sonderbaren heimlichen Besuche das Haus zu verbieten und eine Erklärung von ihm zu verlangen. Aber heute morgen hat sich Lise nach dem Aufwachen über Julija geärgert und sie mit der Hand ins Gesicht geschlagen, denken Sie! Das ist ja ein monströses Verhalten, ich rede meine Dienstmädchen mit ›Sie‹ an! Und eine Stunde danach hat sie Julija wieder umarmt und ihr die Füße geküßt. Mir ließ sie sagen, sie würde überhaupt nicht mehr zu mir kommen, jetzt nicht und in Zukunft nicht, und als ich mich selbst zu ihr hinschleppte, stürzte sie auf mich zu, küßte mich, weinte und drängte mich unter Küssen, ohne ein Wort zu sagen, geradezu hinaus, so daß ich absolut nichts erfahren habe. Jetzt, lieber Alexej Fjodorowitsch, ruhen alle meine Hoffnungen auf Ihnen, und das Schicksal meines ganzen Lebens liegt in Ihren Händen. Ich bitte Sie, zu Lise zu gehen, von ihr alles herauszubringen, wie nur Sie das verstehen, und dann wieder herzukommen und es mir, der Mutter, zu erzählen. Sie werden das begreifen, ich werde einfach sterben, wenn das so weitergeht, oder ich werde aus dem Haus laufen. Ich kann nicht mehr, ich habe Geduld, aber ich kann sie verlieren, und dann … Dann wird etwas Schreckliches geschehen. Ach, mein Gott, Pjotr Iljitsch, endlich!« rief Frau Chochlakowa, als sie den eintretenden Pjotr Iljitsch Perchotin erblickte, und Ihr ganzes Gesicht erstrahlte plötzlich.

»Sie kommen so spät! Nun, setzen Sie sich, reden Sie, entscheiden Sie über mein Schicksal! Nun, wie steht es mit diesem Rechtsanwalt? Wohin wollen Sie denn, Alexej Fjodorowitsch?«

»Ich will zu Lisa.«

»Ach ja! Also vergessen Sie nicht, worum ich Sie gebeten habe! Davon hängt mein Schicksal ab, mein Schicksal!«

»Gewiß, ich werde es nicht vergessen, wenn es irgend möglich ist … Ich habe mich so schon verspätet«, murmelte Aljoscha, sich schnell zurückziehend.

»Nein, kommen Sie bestimmt wieder zu mir! Bestimmt, nicht ›wenn es möglich ist‹, sonst ist das mein Tod!« rief ihm Frau Chochlakowa nach. Aljoscha aber hatte das Zimmer bereits verlassen.

3. Ein Teufelchen

Als er bei Lisa eintrat, fand er sie halb liegend auf ihrem Rollstuhl, in dem sie früher gefahren war, als sie noch nicht laufen konnte. Sie machte keine Bewegung, ihn zu begrüßen, sondern sah ihn nur scharf und durchdringend an. Ihr Blick war etwas fieberhaft, ihr Gesicht gelblich. Aljoscha war erstaunt, wie sie sich in den drei Tagen verändert hatte; sie war sogar magerer geworden. Sie reichte ihm nicht die Hand. Er berührte selbst ihre feinen, schlanken Finger, die regungslos auf ihrem Kleid lagen, und setzte sich dann schweigend ihr gegenüber.

»Ich weiß, daß Sie es eilig haben, ins Gefängnis zu kommen«, sagte Lisa in scharfem Ton! »Aber Mama hat Sie zwei Stunden lang aufgehalten und Ihnen auch gleich die Geschichte von mir und Julija erzählt.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Aljoscha.

»Ich habe an der Tür gehorcht. Warum sehen Sie mich so an? Ich will horchen, und ich horche, da ist nichts Böses dabei. Ich bitte nicht um Verzeihung.«

»Hat Sie irgend etwas verstimmt?«

»Im Gegenteil, ich bin sehr vergnügt. Eben habe ich mir zum dreißigstenmal überlegt: Wie gut, daß ich Ihnen eine Absage erteilt habe und nicht Ihre Frau werde. Sie taugen nicht zum Ehemann. Wenn ich Ihre Frau würde und Ihnen ein Briefchen für meinen Geliebten übergäbe, würden Sie es nehmen und peinlich genau bestellen und mir sogar noch eine Antwort bringen. Und noch mit vierzig würden Sie derartige Briefchen von mir überbringen.«

Sie lachte plötzlich auf.

»In Ihnen steckt etwas Boshaftes und zugleich etwas Treuherziges«, sagte Aljoscha lächelnd.

»Die Treuherzigkeit besteht darin, daß ich mich vor Ihnen nicht schäme. Und ich will mich auch gar nicht schämen, besonders vor Ihnen nicht! Aljoscha, warum achte ich Sie nicht? Ich liebe Sie sehr, aber ich achte Sie nicht. Würde ich Sie achten, würde ich doch nicht so sprechen, ohne mich zu schämen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Glauben Sie auch, daß ich mich vor Ihnen nicht schäme?«

»Nein, das glaube ich nicht.«

Lisa lachte wieder nervös auf, dann sprach sie schnell und hastig weiter! »Ich habe Ihrem Bruder Dmitri Fjodorowitsch Konfekt ins Gefängnis geschickt … Aljoscha, wissen Sie, Sie sind doch ein netter Mensch! Ich liebe Sie schrecklich zum Dank dafür, daß Sie mir so schnell erlaubt haben, Sie nicht zu lieben.«

»Wozu haben Sie mich heute rufen lassen, Lisa?«

»Ich wollte Ihnen einen Wunsch mitteilen. Ich möchte, daß mich jemand quält. Mich heiratet und dann quält. Daß er mich betrügt, verläßt und davongeht. Ich will nicht glücklich sein!«

»Lieben Sie jetzt die Abweichung von der Ordnung?«

»O ja, ich liebe die Abweichung von der Ordnung. Ich möchte immerzu das Haus anzünden. Ich male mir aus, wie ich es heimlich anzünde, es muß unbedingt heimlich sein. Die Leute versuchen zu löschen, doch es brennt weiter. Ich aber weiß es und schweige. Ach, Dummheiten! Und wie langweilig alles ist!«

Sie winkte angewidert ab.

»Sie leben im Reichtum«, sagte Aljoscha leise.

»Wäre es besser, wenn ich arm wäre?«

»Ja.«

»Das hat Ihnen Ihr verstorbener Mönch gesagt. Es ist aber nicht wahr. Und wenn ich reich bin und alle anderen arm, dann werde ich Konfekt essen und Sahne trinken und den anderen nichts abgeben … Ach, sagen Sie nichts. Sie haben mir das alles schon früher gesagt, ich weiß das alles auswendig. Es ist langweilig. Wenn ich arm wäre, würde ich jemand totschlagen, und auch wenn ich reich sein werde, schlage ich vielleicht jemand tot – wozu so still dasitzen! Wissen Sie, ich will mähen, Roggen mähen. Ich werde Sie heiraten, und Sie werden Bauer, ein richtiger Bauer, wir werden ein Füllen haben, wollen Sie? Kennen Sie Kalganow?«

»Ja.«

»Er geht und träumt. Er sagt: ›Wozu soll man in der Wirklichkeit leben? Es ist schöner zu träumen. Wenn man träumt, kann man sich das Lustigste ausdenken, doch das Leben ist langweilig.‹ Aber er wird ja bald heiraten, er hat mir auch schon eine Liebeserklärung gemacht. Können Sie Kreisel spielen?«

»Ja.«

»Na, sehen Sie, er ist wie ein Kreisel. Man muß ihn in Drehung versetzen und loslassen und mit der Peitsche schlagen, immerzu mit der Peitsche schlagen. Wenn ich ihn heirate, werde ich ihn sein Leben lang wie einen Kreisel behandeln. Sie schämen sich nicht, hier bei mir zu sitzen?«

»Nein.«

»Sie sind sehr verärgert, daß ich nicht von frommen Dingen rede. Aber ich will nicht fromm sein. Was passiert einem denn in der anderen Welt für die größte Sünde? Das müßten Sie doch genau wissen?«

»Gott wird richten«, antwortete Aljoscha und blickte sie unverwandt an.

»Das wäre mir gerade recht. Ich würde hinkommen, und man würde mich richten, und ich würde ihnen allen mitten ins Gesicht lachen. Ich habe schreckliche Lust, ein Haus anzuzünden, Aljoscha, unser Haus, glauben Sie mir das?«

»Warum sollte ich Ihnen das nicht glauben? Es gibt sogar Kinder, zwölfjährige Kinder, die etwas anzünden möchten, und sie tun es auch. Das ist eine Art Krankheit.«

»Das ist nicht wahr! Es mag solche Kinder geben, aber davon spreche ich nicht.«

»Sie halten das Böse für gut, das ist eine vorübergehende Krisis, daran ist vielleicht Ihre frühere Krankheit schuld.«

»Sie verachten mich ja! Ich will einfach nichts Gutes tun, ich will Schlechtes tun! Von Krankheit ist dabei keine Rede.«

»Warum wollen Sie Schlechtes tun?«

»Damit nirgendwo etwas übrigbleibt. Ach, wie schön wäre das! Wissen Sie, Aljoscha, ich nehme mir manchmal vor, furchtbar viel Schlechtes zu tun, lauter häßliche Sachen. Ich werde es lange, ganz lange im stillen tun, und auf einmal werden es alle erfahren. Sie werden mich umringen und mit Fingern auf mich zeigen, und ich werde sie ansehen. Das ist sehr angenehm. Warum ist das so angenehm, Aljoscha?«

»Das ist nun einmal so. Das Bedürfnis, etwas Gutes zu zerstören oder, wie Sie sagten, etwas anzuzünden. Das kommt vor.«

»Ich habe es nicht nur gesagt, ich werde es auch tun.«

»Das glaube ich.«

»Ach, wie ich Sie dafür liebe, daß Sie sagen: ›Ich glaube es.‹! Und Sie lügen ja nie. Aber vielleicht denken Sie, daß ich Ihnen das alles absichtlich sage, um Sie zu ärgern?«

»Nein, das denke ich nicht … Obgleich vielleicht auch dieses Bedürfnis ein wenig mitwirkt.«

»Ein wenig wohl … ich sage Ihnen nie die Unwahrheit«, sagte sie, und dabei funkelte in ihren Augen ein eigentümliches Feuer. Was auf Aljoscha den größten Eindruck machte, war ihr Ernst. Keine Spur von Spott und Scherz war jetzt in ihrem Gesicht zu sehen, obgleich Heiterkeit und Spottlust sie früher auch in ihren »ernstesten« Augenblicken nicht verlassen hatten.

»Es gibt Augenblicke, in denen die Menschen das Verbrechen lieben«, sagte Aljoscha nachdenklich.

»Ja, ja! Da haben Sie meinen eigenen Gedanken ausgesprochen! Man liebt das Verbrechen, alle lieben es, und zwar immer, nicht nur in gewissen Augenblicken. Wissen Sie, es ist, als wären alle einmal übereingekommen, in diesem Punkt zu lügen, und nun lügen sie auch wirklich allesamt. Alle sagen, daß sie das Schlechte hassen, aber im stillen lieben sie es.«

»Lesen Sie immer noch schlechte Bücher?«

»Ja. Mama liest sie und versteckt sie unter ihrem Kopfkissen, und da stehle ich sie.«

»Schämen Sie sich denn nicht, sich selber zu zerstören?«

»Ich will mich zerstören, ich will es. Hier gibt es einen Jungen, der hat zwischen den Schienen gelegen, während die Waggons über ihn hinwegfuhren. Der Glückliche! Hören Sie, jetzt wird man über Ihren Bruder Gericht halten, weil er seinen Vater totgeschlagen hat – und doch finden es alle gut, daß er es getan hat.«

»Alle finden es gut, daß er seinen Vater totgeschlagen hat?«

»Ja, sie finden es gut, alle finden es gut! Alle sagen, das sei schrecklich, aber im stillen finden sie es gut. Ich bin die erste, die es gut findet.«

»An dem, was Sie da sagen, ist etwas Wahres«, sagte Aljoscha leise.

»Ach, was haben Sie für Gedanken!« kreischte Lisa entzückt! »Und dabei sind Sie ein Mönch! Sie glauben gar nicht, Aljoscha, wie sehr ich Sie dafür achte, daß Sie niemals lügen. Ich werde Ihnen einen lächerlichen Traum erzählen: Ich träume manchmal von Teufeln. Ich träume, daß es Nacht ist und ich bei einem brennenden Licht in meinem Zimmer sitze, und auf einmal sind überall Teufel, in allen Ecken und unter dem Tisch, sie öffnen die Tür, und hinter der Tür steht ein ganzer Haufen, sie wollen hereinkommen und mich packen. Und sie nähern sich schon und packen mich. Ich aber schlage auf einmal ein Kreuz, da weichen sie zurück, sie fürchten sich. Sie gehen jedoch nicht ganz hinaus, sondern bleiben an der Tür stehen und warten in den Ecken. Und plötzlich bekomme ich gewaltige Lust, laut Gott zu lästern, und tue das auch wirklich. Da dringen sie auf einmal wieder in dichten Scharen auf mich ein, sie freuen sich gewaltig. Und da packen sie mich schon wieder, ich aber schlage ganz schnell noch ein Kreuz – und sie fliehen alle wieder. Das ist sehr lustig; der Atem stockt einem dabei.«

»Ich habe manchmal denselben Traum gehabt«, sagte Aljoscha plötzlich.

»Wirklich?« schrie Lisa erstaunt auf! »Hören Sie, Aljoscha, lachen Sie nicht, das ist außerordentlich wichtig! Ist denn das möglich, daß zwei verschiedene Personen ein und denselben Traum haben?«

»Gewiß ist das möglich.«

»Aljoscha, ich sage Ihnen, das ist außerordentlich wichtig«, fuhr Lisa maßlos erstaunt fort! »Nicht der Traum ist wichtig, sondern der Umstand, daß Sie dasselbe träumen konnten wie ich. Sie lügen mir nie etwas vor, lügen Sie bitte auch jetzt nicht! Ist das wahr? Machen Sie sich auch nicht über mich lustig?«

»Es ist wahr.«

Lisa war ganz ergriffen und schwieg lange.

»Aljoscha, besuchen Sie mich! Besuchen Sie mich oft!« sagte sie auf einmal flehend.

»Ich werde immer zu Ihnen kommen, mein ganzes Leben lang!« antwortete Aljoscha mit Festigkeit.

»Ich sage das alles nur Ihnen«, begann Lisa von neuem! »Ich sage es nur mir selbst und dann noch Ihnen, Ihnen allein in der ganzen Welt. Und ich sage es lieber Ihnen als mir selbst. Ich schäme mich gar nicht vor Ihnen, gar nicht. Aljoscha, warum schäme ich mich gar nicht vor Ihnen? Aljoscha, ist es wahr, daß die Juden zu Ostern Kinder stehlen und schlachten?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich habe da ein Buch, darin habe ich von einer Gerichtsverhandlung irgendwo gelesen. Ein Jude hatte einem vierjährigen Jungen erst alle Finger abgeschnitten und ihn dann mit gespreizten Armen an die Wand genagelt. Vor Gericht erklärte er, der Knabe sei bald gestorben, schon nach vier Stunden. ›Bald!‹ Er sagte, das Kind hätte gestöhnt, immerzu gestöhnt, und er hätte dagestanden und sich an dem Anblick geweidet … Das war schön!«

»Schön?«

»Ja, schön. Ich stelle mir manchmal vor, daß ich selbst den Knaben angenagelt habe. Er hängt da und stöhnt, und ich sitze ihm gegenüber und esse Ananaskompott … Ich esse nämlich Ananaskompott sehr gern. Sie auch?«

Aljoscha schwieg und blickte sie an. Ihr gelbliches Gesicht verzerrte sich plötzlich, die Augen glühten auf.

»Wissen Sie, als ich das von den Juden gelesen hatte, habe ich die ganze Nacht so geweint, daß mein ganzer Körper zitterte. Ich stellte mir vor, wie das Kind geschrien und gestöhnt haben mag, so ein vierjähriges Kind begreift ja schon, was man ihm antut – trotzdem konnte ich den Gedanken an das Kompott nicht loswerden. Am Morgen schickte ich einem gewissen Menschen einen Brief und bat ihn, unter allen Umständen zu mir zu kommen. Er kam, und ich erzählte ihm sogleich von dem Jungen und dem Kompott, alles erzählte ich ihm, alles, auch, daß das schön sei. Er lachte und sagte, das sei in der Tat schön. Dann stand er auf und ging. Er hatte nur fünf Minuten bei mir gesessen. Ob er mich verachtet, wie? Sagen Sie mir, Aljoscha, sagen Sie mir! Hat er mich verachtet oder nicht?« Sie richtete sich auf dem Rollstuhl auf, ihre Augen funkelten.

»Sagen Sie«, erwiderte Aljoscha erregt! »Haben Sie ihn selbst rufen lassen, diesen Menschen?«

»Ja.«

»Haben Sie ihm einen Brief geschrieben?«

»Ja.«

»Speziell, um ihn wegen des Kindes zu fragen?«

»Nein, nicht deswegen, durchaus nicht. Aber als er eintrat, fragte ich ihn gleich danach. Er antwortete, lachte, stand auf und ging.«

»Dieser Mensch hat sich ehrenhaft Ihnen gegenüber benommen«, sagte Aljoscha leise.

»Und hat er mich verachtet? Hat er sich über mich lustig gemacht?«

»Nein, denn er glaubt vielleicht selbst an das Ananaskompott. Auch er ist jetzt sehr krank, Lisa.«

»Ja, er glaubt daran!« rief Lisa mit funkelnden Augen.

»Er verachtet niemanden«, fuhr Aljoscha fort! »Er traut nur niemandem. Wenn er aber nicht traut, so verachtet er natürlich.«

»Also auch mich?«

»Auch Sie.«

»Das ist schön«, sagte Lisa und schien dabei mit den Zähnen zu knirschen! »Als er so gelacht hatte und gegangen war, fühlte ich, daß es schön ist, verachtet zu werden. Der Junge mit den abgeschnittenen Fingern ist etwas Schönes und verachtet werden ist auch etwas Schönes …«

Sie lachte boshaft und erregt Aljoscha ins Gesicht.

»Wissen Sie, Aljoscha, ich möchte … Aljoscha, retten Sie mich!« rief sie, sprang plötzlich von ihrem Rollstuhl auf, stürzte zu ihm und umschlang ihn fest mit den Armen. Retten Sie mich!« stöhnte sie! »Niemandem in der Welt sage ich das, was ich Ihnen gesagt habe! Ich habe die Wahrheit gesagt, die Wahrheit! Ich werde mich töten, mich ekelt alles an! Ich will nicht weiterleben, denn mich ekelt alles an. Alles, alles! Aljoscha, warum lieben Sie mich so ganz und gar nicht?« schloß sie verzweifelt.

»Doch, ich liebe Sie!« erwiderte Aljoscha feurig.

»Und werden Sie über mich weinen, ja?«

»Ja, das werde ich.«

»Nicht deswegen, weil ich nicht Ihre Frau werden wollte, sondern ganz einfach, werden Sie mich ganz einfach beweinen?«

»Ja, das werde ich.«

»Ich danke Ihnen. Weiter verlange ich nichts. Sollen alle übrigen mich verurteilen und mit Füßen treten, alle, niemand ausgenommen! Denn ich liebe niemanden. Hören Sie, nie-man-den! Im Gegenteil, ich hasse alle! Gehen Sie jetzt, Aljoscha! Es ist Zeit, daß Sie zu Ihrem Bruder gehen!« rief sie und riß sich plötzlich von ihm los.

»Wie kann ich Sie denn in diesem Zustand zurücklassen?« fragte Aljoscha beunruhigt.

»Gehen Sie zu Ihrem Bruder, sonst wird das Gefängnis zugeschlossen. Hier ist Ihr Hut! Küssen Sie Mitja, gehen Sie, gehen Sie!«

Und sie drängte Aljoscha fast mit Gewalt zur Tür. Er sah sie betrübt und ratlos an, da fühlte er plötzlich in seiner rechten Hand einen Brief, ein kleines Briefchen, fest zusammengefaltet und versiegelt. Er warf einen Blick darauf und las in aller Eile: »An Iwan Fjodorowitsch Karamasow,« Rasch sah er Lisa an, ihr Gesicht bekam einen fast drohenden Ausdruck.

»Geben Sie ihn ab, geben Sie ihn bestimmt ab!« befahl sie außer sich. Sie zitterte am ganzen Körper! »Heute noch, gleich! Sonst vergifte ich mich! Nur deswegen habe ich Sie rufen lassen!«

Sie schlug die Tür zu. Klappernd fiel der Sperrhaken in die Öse. Aljoscha steckte den Brief ein und ging, ohne noch einmal bei Frau Chochlakowa vorbeizugehen: Er hatte sie völlig vergessen. Doch kaum hatte sich Aljoscha entfernt, schob Lisa sogleich den Sperrhaken wieder auf, öffnete die Tür ein wenig, steckte ihren Finger in den Spalt und klemmte ihn, die Tür zuschlagend, mit aller Kraft ein. Nach etwa zehn Sekunden befreite sie ihre Hand, ging langsam zurück zu ihrem Rollstuhl, setzte sich, richtete sich gerade auf und starrte unverwandt auf ihren schwarz gewordenen Finger und das unter dem Nagel hervorgepreßte Blut. Mit zitternden Lippen flüsterte sie hastig vor sich hin: »Ein gemeines Wesen bin ich, ein gemeines Wesen, ein gemeines Wesen!«

4. Eine Hymne und ein Geheimnis

Es war schon recht spät – ein Novembertag ist ja nicht lang – als Aljoscha am Gefängnistor läutete; es begann sogar schon zu dämmern. Aber Aljoscha wußte, daß man ihn ungehindert zu Mitja lassen würde. Es war in unserem Städtchen so wie überall. Nach Abschluß der Voruntersuchung war der Zutritt für Mitjas Verwandte und andere Personen, die ihn zu sehen wünschten, anfangs allerdings mit gewissen, notwendigen Formalitäten verknüpft; später wurden diese Formalitäten zwar im großen und ganzen nicht abgeschwächt, aber für einige Personen, die zu Mitja kamen, bildeten sich doch wie von selbst gewisse Ausnahmen heraus, so daß die Zusammenkünfte mit dem Gefangenen in dem dazu bestimmten Zimmer manchmal sogar fast unter vier Augen stattfanden. Der Kreis dieser Personen war übrigens sehr klein: Gruschenka, Aljoscha und Rakitin. Gruschenka erfreute sich des besonderen Wohlwollens des Bezirkshauptmanns Michail Makarowitsch. Dieser alte Mann hatte Gewissensbisse, weil er sie in Mokroje so angeschrien hatte. Als er später erkannt hatte, wie die Sache lag, hatte er seine Meinung über sie vollständig geändert. Und seltsam: Obgleich er von Mitjas Schuld fest überzeugt war, wurde sein Urteil über ihn seit der Inhaftierung immer milder. ›Dieser Mensch hat vielleicht eine gute Seele gehabt‹, dachte er, ›ist aber durch Trunk und Ausschweifungen zugrunde gegangen!‹ An die Stelle des früheren Entsetzens war in seinem Herzen eine Art Mitleid getreten. Aljoscha wiederum mochte der Bezirkshauptmann sehr; er war schon lange mit ihm bekannt. Rakitin schließlich, der später sehr oft zu dem Gefangenen kam, war ein naher Bekannter der »jungen Damen des Herrn Bezirkshauptmanns«, wie er sie nannte; er verkehrte alle Tage in ihrem Haus. Außerdem gab er bei dem Gefängnisinspektor, einem gutmütigen, im Dienst allerdings strengen alten Mann, zu Haus Privatstunden. Aljoscha war ein besonders guter alter Bekannter des Gefängnisinspektors, der gern mit ihm allgemein über die Weisheit Gottes plauderte. Vor Iwan Fjodorowitsch hatte der Gefängnisinspektor großen Respekt und sogar eine gewisse Furcht; er fürchtete besonders dessen Urteile über die Weltordnung, obgleich er selbst ein großer Philosoph war – natürlich einer, der »durch seinen eigenen Verstand dahin gelangt war«. Zu Aljoscha jedenfalls fühlte er sich unwiderstehlich hingezogen. Im letzten Jahr hatte sich der alte Mann intensiv mit den apokryphen Evangelien befaßt und berichtete seinem jungen Freund nun alle Augenblicke von seinen Eindrücken. Früher war er sogar zu ihm ins Kloster gekommen und hatte mit ihm und den Priestermönchen stundenlange Gespräche geführt. Selbst wenn er zu spät zum Gefängnis kam, brauchte Aljoscha nur zum Inspektor zu gehen, und die Sache wurde dann sofort arrangiert. Außerdem hatten sich im Gefängnis alle bis hinab zum untersten Wächter an Aljoscha gewöhnt. Die Schildwache machte natürlich keine Schwierigkeiten, sobald er Erlaubnis von den Beamten hatte. Mitja kam gewöhnlich aus seiner Zelle herunter, in das für Besuche bestimme Zimmer, sobald er gerufen wurde.

Als Aljoscha in dieses Zimmer trat, stieß er auf Rakitin, der gerade von Mitja fortging. Beide redeten noch laut miteinander. Mitja, der ihn zur Tür begleitete, lachte über etwas, und Rakitin schien vor sich hin zu brummen. Rakitin traf vor allem in letzter Zeit nicht allzugern mit Aljoscha zusammen; er sprach fast nicht mit ihm und grüßte ihn nur widerwillig. Als er jetzt Aljoscha eintreten sah, machte er ein besonders finsteres Gesicht und blickte zur Seite, als sei er ganz mit dem Zuknöpfen seines großen, warmen, mit einem Pelzkragen versehenen Überziehers beschäftigt. Dann suchte er nach seinem Schirm.

»Daß ich nur nichts von meinen Sachen vergesse!« murmelte er, lediglich um etwas zu sagen.

»Vergiß nur nichts von den Sachen anderer Leute!« witzelte Mitja und lachte selber über seinen Witz.

Rakitin brauste auf.

»Empfiehl das deinen Karamasows, die ihr so eine Familie von Verteidigern der Leibeigenschaft seid, aber nicht einem Mann wie mir!« schrie er außer sich vor Wut.

»Was hast du denn? Ich habe ja nur einen Scherz gemacht!« rief Mitja! »Pfui Teufel! Aber so sind sie alle«, wandte er sich an Aljoscha und deutete mit dem Kopf auf den sich entfernenden Rakitin! »Die ganze Zeit hat er hier gesessen, hat gelacht und ist vergnügt gewesen, und nun auf einmal braust er so auf! Dir hat er nicht einmal zugenickt, seid ihr denn ganz auseinandergekommen? Warum kommst du so spät? Ich habe dich nicht bloß erwartet, sondern mich den ganzen Vormittag richtig nach dir gesehnt. Na, macht nichts! Wir bringen es schon wieder ein.«

»Warum kommt er denn so oft zu dir? Hast du dich mit ihm angefreundet, ja?« fragte Aljoscha, wobei er ebenfalls mit dem Kopf nach der Tür deutete, durch die Rakitin verschwunden war.

»Mit Michail soll ich mich angefreundet haben? Nein, das ist nicht der Fall … Wie werde ich, er ist ein gemeiner Kerl! Er hält mich für einen Schuft. Spaß versteht er auch nicht, das ist bei solchen Leuten eine besonders hervorstechende Eigenschaft. Sie verstehen nie Spaß. Und ihre Seelen sind so kahl und öde; sie erregen in mir jene Empfindung von damals, als ich hier beim Gefängnis vorfuhr und die Gefängnismauern sah. Aber ein gescheiter Mensch ist er, das muß man ihm lassen. Na, Alexej, jetzt ist mein Kopf verloren!«

Er setzte sich auf eine Bank und ließ Aljoscha sich daneben setzen.

»Ja, morgen ist die Gerichtsverhandlung. Hast du denn gar keine Hoffnung mehr, Bruder?« fragte Aljoscha schüchtern und teilnahmsvoll.

»Wovon sprichst du?« fragte Mitja und sah ihn verständnislos an! »Ach, du sprichst von der Gerichtsverhandlung! Na, hol‹ sie der Teufel! Ich habe mit dir bisher immer nur über Kleinigkeiten gesprochen, über dieses Gerichtsverfahren und so weiter, doch, über das Wichtigste habe ich dir nichts gesagt. Ja, morgen ist die Gerichtsverhandlung, aber die meine ich nicht, wenn ich sage, daß mein Kopf verloren ist. Mein Kopf selbst ist auch nicht verloren – das, was in meinem Kopf drin war, das ist verloren. Warum siehst du mich so prüfend an?«

»Wovon redest du eigentlich, Mitja?«

»Von den Ideen, die Ideen, darauf kommt es an. Die Ethik. Was ist das: Ethik?«

»Ethik?« fragte Aljoscha erstaunt.

»Ja, es ist wohl eine Wissenschaft, aber was für eine?«

»Ja, so eine Wissenschaft gibt es … Nur … Ich muß gestehen, ich kann dir nicht sagen, was es für eine Wissenschaft ist.«

»Rakitin weiß es. Der weiß vieles, hol‹ ihn der Teufel! Mönch wird der nicht. Er hat vor, nach Petersburg zu gehen. Dort will er die Kritik zu seinem Beruf machen, wie er sagt, aber mit einer edlen Tendenz. Na, vielleicht wird er etwas Nützliches leisten und Karriere machen. O ja, auf das Karrieremachen verstehen sie sich! Hol‹ der Teufel die Ethik! Ich für meine Person bin verloren, Alexej, du Gottesmann! Du bist mir der liebste Mensch auf der Welt. Mein Herz zieht mich zu dir, so ist das. Wer war denn Karl Bernard?«

»Welcher Karl Bernard?« fragte Aljoscha wieder erstaunt.

»Nein, nicht Karl, warte, ich habe Unsinn geredet. Claude Bernard. In welche Richtung gehört der? Chemie, nicht wahr?«

»Ja, er muß ein Gelehrter sein«, antwortete Aljoscha! »Aber ich muß dir gestehen, daß ich über ihn nicht viel zu sagen weiß. Ich habe nur gehört, daß er Gelehrter ist, was für einer, weiß ich nicht.«

»Na, hol‹ ihn der Teufel, ich weiß es auch nicht«, schimpfte Mitja! »Höchstwahrscheinlich ein Schuft, denn Schufte sind sie alle. Rakitin jedoch wird sich durchschlängeln. Rakitin kriecht durch ein Schlüsselloch, der ist auch so ein Bernard. Ja, ja, diese Bernards! Die haben sich jetzt gewaltig vermehrt!«

»Was hast du bloß?« fragte Aljoscha eindringlich.

»Er will über mich und meinen Prozeß einen Artikel schreiben und damit seine Rolle in der Schriftstellerei beginnen; in dieser Absicht kommt er auch zu mir, er hat es mir selbst auseinandergesetzt. Er will mit einer bestimmten Tendenz schreiben. ›Die Umgebung, in der er lebte, hat ihn so verdorben, daß er nichts anderes konnte, als einen Mord begehen‹, und so weiter, er hat es mir genau erklärt. ›Es wird eine Nuance von Sozialismus bekommen‹, sagt er. Na, hol‹ ihn der Teufel mitsamt seiner Nuance! Also meinetwegen mit einer Nuance, ist mir ganz gleich. Unseren Bruder Iwan kann er nicht leiden, er haßt ihn. Und dir ist er auch nicht sehr zugetan. Na, ich jage ihn aber nicht weg, weil er ein gescheiter Mensch ist. Allerdings trägt er die Nase sehr hoch. Ich habe ihm eben gesagt: ›Die Karamasows sind keine Schufte, sondern Philosophen, weil alle echten Russen Philosophen sind. Du aber bist, wenn du auch etwas gelernt hast, trotzdem kein Philosoph, sondern ein Ekel!‹ Er lachte ziemlich boshaft. Da sagte ich zu ihm: ›De Gedankibus non est disputandum.‹ Ein guter Witz, nicht wahr? Wenigstens hatte auch ich mich klassisch ausgedrückt«, schloß Mitja lachend.

»Warum bist du denn verloren? Du sagtest vorhin so etwas?« unterbrach ihn Aljoscha.

»Warum ich verloren bin? Hm! Eigentlich … Genaugenommen, Gott tut mir leid, das ist der Grund!«

»Was soll das heißen, Gott tut dir leid?«

»Stell dir das mal vor: In den Nerven, im Kopf, das heißt da im Gehirn, gibt es so eine Art Schwänzchen, die Nerven haben solche Schwänzchen … Und sobald die zu zittern anfangen … Das heißt, ich sehe etwas mit meinen Augen, siehst du, so! Da fangen sie an zu zittern, die Schwänzchen … Und wenn sie anfangen zu zittern, erscheint ein Bild, es erscheint nicht gleich, da ist noch ein Augenblick dazwischen, etwa eine Sekunde, dann erscheint sozusagen ein gewisses Moment, das heißt nicht ein Moment, sondern ein Bild, das heißt ein Gegenstand oder ein Ereignis, na, hol‹ es der Teufel! Und das ist der Grund, weshalb ich eine Anschauung habe und dann denke! Weil da so ein Schwänzchen ist – und gar nicht deswegen, weil ich eine Seele habe, und ein Ebenbild Gottes bin, das sind alles Dummheiten! Das hat mir Michail schon gestern auseinandergesetzt, Bruder, und mir war, als würde ich mit heißem Wasser übergossen. Es ist etwas Großartiges um diese Wissenschaft, Aljoscha! Ein neuer Mensch wird daraus hervorgehen, das verstehe ich … Trotzdem tut es mir leid um Gott!«

»Nun, auch das ist gut!« sagte Aljoscha.

»Daß es mir um Gott leid tut? Die Chemie, Bruder, die Chemie! Es hilft nichts, Euer Ehrwürden, rücken Sie ein bißchen zur Seite: die Chemie kommt! Rakitin hingegen liebt den lieben Gott nicht, nein, er liebt ihn nicht! Das ist bei diesen Leuten der wundeste Punkt! Aber sie verheimlichen das. Sie lügen. Sie verstellen sich. ›Sag mal‹, fragte ich ihn, ›wirst du das bei deiner schriftstellerischen Tätigkeit so vortragen?‹ – ›Na, so offen wird man das wohl nicht dürfen‹, antwortete er und lachte. – ›Aber‹, fragte ich weiter, ›wie steht es unter solchen Umständen mit dem Menschen? Ohne Gott und ohne ein zukünftiges Leben? Dann ist jetzt also alles erlaubt, und man kann alles tun, was man will?‹ – ›Hast du das noch nicht gewußt?‹ sagte er und lachte wieder. ›Ein kluger Mensch‹, sagte er, ›kann alles tun, ein kluger Mensch versteht, seine Krebse zu fangen. Du dagegen hast einen Mord begangen und bist dabei hereingefallen und wirst im Gefängnis verfaulen!‹ Das gab er mir zur Antwort. Ein grundgemeiner Kerl! Früher habe ich solche Subjekte hinausgeschmissen, und jetzt höre ich ihnen zu. Er sagt auch viel Brauchbares. Er schreibt auch klug. Vor einer Woche hat er mir einen Artikel vorgelesen, ich habe mir damals drei Zeilen aufgeschrieben. Warte mal, da sind sie.«

Mitja zog eilig ein Zettelchen aus der Westentasche und las: »›Um diese Streitfrage zu entscheiden, muß man vor allem seine Persönlichkeit in Gegensatz zu seiner Realität stellen.‹ Verstehst du das?«

»Nein, das verstehe ich nicht«, erwiderte Aljoscha.

Mit lebhaftem Interesse betrachtete er Mitja und hörte ihm zu.

»Ich auch nicht. Es ist dunkel und unklar, aber klug. ›Alle schreiben jetzt so‹, sagt er, ›weil die Mitwelt das verlangt.‹ Sie fürchten sich vor der Mitwelt. Auch Verse schreibt er, der Schuft. Er hat Frau Chochlakowas Füßchen besungen, hahaha!«

»Davon habe ich gehört«, sagte Aljoscha.

»Hast du davon gehört? Aber hast du auch die Verse gehört?«

»Nein.«

»Ich habe sie, da sind sie, ich werde sie dir vorlesen. Du weißt noch nicht alles, ich habe es dir noch nicht erzählt, es ist eine ganze Geschichte. Der Gauner! Vor drei Wochen wollte er mich verspotten. ›Du bist wegen dieser dreitausend Rubel wie ein Dummkopf hereingefallen!‹ sagte er. ›Ich werde hundertfünfzigtausend Rubel einheimsen. Ich werde eine Witwe heiraten und mir in Petersburg ein Steinhaus kaufen!‹ Und er erzählte mir, daß er der verwitweten Frau Chochlakowa den Hof mache. Sie sei von jung auf nicht sehr klug gewesen, habe jedoch nun mit vierzig völlig den Verstand verloren. ›Sie ist sehr gefühlvoll‹, sagte er, ›unter Ausnutzung dieser Schwäche werde ich sie herumkriegen. Ich werde sie heiraten, mit ihr nach Petersburg ziehen und dort eine Zeitung herausgeben.‹ Und dabei trat ihm vor widerwärtiger Begehrlichkeit der Speichel auf die Lippen, vor Begehrlichkeit nicht nach Frau Chochlakowa, sondern nach den hundertfünfzigtausend Rubeln. Und er versicherte mir täglich, denn er kommt täglich zu mir, sie werde sich ergeben. Er strahlte nur so vor Freude. Und nun hat sie ihm auf einmal das Haus verboten! Perchotin, Pjotr Iljitsch Perchotin hat den Sieg errungen, ein famoser Bursche! Küssen möchte ich diese Närrin dafür, daß sie diesen Rakitin rausgeschmissen hat! Vorher also war er einmal bei mir und hatte dieses Gedicht verfaßt. ›Zum erstenmal‹, sagte er, ›beschmutze ich meine Hände mit dem Schreiben von Versen; aber ich tue es, um eine Dame zu bezaubern – also zu einem nützlichen Zweck. Wenn ich der Närrin ihr Kapital abgenommen habe, kann ich damit ja dem Gemeinwohl nützen! Das Gemeinwohl dient diesen Leuten zur Rechtfertigung jeder Schändlichkeit!‹ ›Und trotzdem habe ich etwas Besseres geschrieben als dein Puschkin, denn ich habe es verstanden, auch in ein scherzhaftes Gedicht einen weltlichen Schmerz einzuflechten.‹ Was er da von Puschkin sagt, verstehe ich; aber was schadet es, wenn der tatsächlich ein befähigter Dichter war und doch nur Füßchen besungen hat? Wie stolz war Rakitin auf seine Verschen! Eine Eitelkeit besitzen diese Leute! ›Auf die Heilung des kranken Füßchens einer von mir hochverehrten Dame‹, das ist die Überschrift, die er sich ausgedacht hat, der dreiste Kerl!

Ach, das liebe Füßchen ist geschwollen,
und die dienstbeflißnen Ärzte wollen
nun mit Binden und dergleichen Dingen
diesem lieben Füßchen Heilung bringen.

Puschkin pries die Füße holder Schönen
einst begeistert in erhabnen Tönen,
doch wenngleich das Füßchen ich bedaure,
mehr ich dennoch um das Köpfchen traure.

Schon begann das Köpfchen zu begreifen,
welche Wünsche mir im Busen reifen.
Und verständnisvoll zu lächeln schienen
– oh, nicht Täuschung war’s! – die teuren Mienen.

Ach, des Köpfchens einziger Gedanke
ist das Füßchen jetzt, das liebe, kranke!
Möge Heilung ihm der Himmel schenken,
und das Köpfchen möge mein gedenken.

Ein gemeiner Kerl ist er, ein grundgemeiner Kerl, aber es ist bei ihm doch ziemlich humoristisch herausgekommen! Und er hat wirklich etwas Weltschmerz eingeflochten. Doch wie wütend er war, als sie ihn ›rausschmiß! Er knirschte geradezu mit den Zähnen!«

»Er hat sich bereits gerächt«, sagte Aljoscha! »Er hat über Frau Chochlakowa einen Zeitungsartikel geschrieben.«

Und Aljoscha erzählte ihm kurz von dem Artikel in der Zeitung »Gerüchte«.

»Das ist er gewesen, das ist er gewesen!« stimmte ihm Mitja, mit finsterer Miene zu! »Diese Artikel kenne ich … Das heißt, ich weiß, wie viele Gemeinheiten schon geschrieben worden sind, über Gruscha zum Beispiel. Und auch über die andere, über Katja … Hm!«

Er ging sorgenvoll im Zimmer auf und ab.

»Bruder, ich kann nicht mehr lange hierbleiben«, sagte Aljoscha nach kurzem Schweigen! »Morgen ist für dich ein schrecklicher, ein wichtiger Tag. Gottes Gericht wird sich an dir vollziehen … Und da wundere ich mich, daß du statt von dem Wichtigsten von wer weiß was redest …«

»Nein, wundere dich darüber nicht!« unterbrach ihn Mitja hitzig! »Wozu sollen wir von diesem stinkenden Hund, dem Mörder, reden? Davon haben wir beide schon genug gesprochen. Ich will von dem stinkenden Sohn der Stinkenden nichts mehr hören! Gott wird ihn töten, das wirst du sehen! Kein Wort mehr über ihn!«

Er trat in großer Erregung zu Aljoscha und küßte ihn plötzlich. Seine Augen brannten.

»Rakitin würde das nicht begreifen«, fuhr er fort, dabei schien er ganz erfüllt von einer eigenartigen Begeisterung! »Aber du, du wirst alles begreifen. Deswegen habe ich mich so nach dir gesehnt. Siehst du, ich wollte dir hier in diesen kahlen Mauern schon längst vieles mitteilen, doch das Wichtigste habe ich dir verschwiegen. Immerzu schien mir die rechte Zeit dafür noch nicht gekommen. So ist jetzt, vor lauter Warten, der letzte Augenblick da, wo ich dir mein Herz ausschütten kann … Bruder, ich habe in diesen letzten zwei Monaten einen neuen Menschen in mir gespürt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Er war in mir eingeschlossen, und er wäre nie zutage getreten, wäre nicht dieses Unwetter über mich niedergegangen. Es ist furchtbar! Was liegt mir daran, daß ich in den Bergwerken zwanzig Jahre lang Erz klopfen werde – davor fürchte ich mich nicht! Etwas anderes ist es, was mich ängstigt: Dieser auferstandene Mensch könnte aus mir entweichen! Man kann auch dort, in den Bergwerken, unter der Erde, neben sich, in einem Sträfling und Mörder ein menschliches Herz finden und ihm nähertreten, auch dort kann man leben und lieben und leiden! Man kann in diesem Sträfling das erstarrte Herz auferwecken und wiederbeleben, man kann ihn jahrelang liebevoll pflegen und endlich eine hohe Seele und einen Geist aus der dunklen Höhle zum Licht emporheben, der sich seines Märtyrertums bewußt ist, man kann einen Engel aus dem Grab erwecken und einen Helden auferstehen lassen! Und ihrer sind viele, ihrer sind Hunderte – und wir alle sind an ihren Sünden schuld! Warum habe ich damals, in einem solchen Augenblick, von dem ›Kindelein‹ geträumt? Warum ist das ›Kindelein‹ arm? Das war seinerzeit für mich eine Prophezeiung! Für das ›Kindelein‹ werde ich nach Sibirien gehen. Denn alle sind wir für alle schuldig. Für alle ›Kindelein‹: es gibt kleine Kinder und große Kinder. Alle sind ›Kindelein‹. Für alle werde ich nach Sibirien gehen, denn einer muß doch für alle hingehen. Ich habe den Vater nicht getötet, trotzdem muß ich hingehen. Ich nehme es auf mich! Mir ist hier diese Erkenntnis aufgegangen … Hier in diesen kahlen Mauern. Aber es sind ihrer ja viele, es sind ihrer Hunderte dort unter der Erde, mit Hämmern in den Händen. O ja, wir werden in Ketten und ohne Freiheit sein, doch wir werden in unserem großen Leid von neuem zur Freude auferstehen, ohne die der Mensch nicht leben, ja ohne die selbst Gott nicht sein kann, denn Gott spendet Freude: Das ist sein großes Vorrecht … O Gott, der Mensch muß weich werden im Gebet! Wie könnte ich dort unter der Erde ohne Gott sein? Rakitin lügt: Wenn sie Gott von der Erde vertreiben, werden wir Ihn unter der Erde finden! Für einen Sträfling ist es unmöglich, ohne Gott zu leben, noch unmöglicher als für jemand, der kein Sträfling ist. Und dann werden wir dort unter der Erde unserem Gott aus den Eingeweiden der Erde eine tragische Hymne anstimmen, Ihm, unserem Gott, bei dem die Freude ist! Es lebe Gott und seine Freude! Ich liebe Ihn!«

Während dieser erregten Worte war Mitja ganz außer Atem gekommen. Er war blaß geworden, seine Lippen zitterten, und Tränen traten ihm in die Augen.

»Nein, das Leben hat einen reichen Inhalt, es gibt ein Leben auch unter der Erde!« begann er von neuem! »Du glaubst gar nicht, Alexej, wie mich jetzt verlangt zu leben, was für Durst nach Dasein und Erkenntnis ich gerade innerhalb dieser kahlen Mauern bekommen habe! Rakitin hat dafür kein Verständnis, der will weiter nichts, als sich ein Haus bauen und Mieter hineinnehmen! Was ist schon das Leiden? Ich fürchte es nicht mehr, früher habe ich es gefürchtet. Weißt du, vielleicht werde ich vor Gericht überhaupt keine Antwort geben … Ich glaube, ich besitze jetzt so viel von dieser Kraft, daß ich alles überwinden werde, alles Leid, nur um mir fortwährend sagen zu können: ich bin! In tausend Qualen bin ich doch! Ich krümme mich unter der Folter, aber ich bin! Ich sitze im Gefängnis, aber ich lebe und sehe die Sonne! Und selbst wenn ich die Sonne nicht sehe, weiß ich doch, daß sie da ist. Und zu wissen, daß die Sonne da ist – das ist schon Leben. Aljoscha, die verschiedenen Philosophien bringen mich um, hol‹ sie alle der Teufel! Bruder Iwan dagegen …«

»Was ist mit Iwan?« unterbrach ihn Aljoscha, doch Mitja hörte nicht auf ihn.

»Siehst du, früher habe ich von allen diesen Zweifeln nichts gewußt, aber, da lag alles in mir verborgen. Vielleicht gerade weil diese unbestimmten Ideen in mir tobten, trank ich und randalierte und wütete. Um sie in mir zur Ruhe zu bringen, randalierte ich, um sie zu beschwichtigen, zu unterdrücken. Iwan ist anders als Rakitin, er verbirgt seine Ideen. Iwan ist eine Sphinx und schweigt, immerzu schweigt er. Aber mich quält der Gedanke an Gott. Das ist das einzige, was mich quält. Was ist, wenn Er nicht existiert? Wenn Rakitin recht hat, daß das bei der Menschheit nur eine künstliche Idee ist? Wenn Er nicht existiert, ist der Mensch der Herr der Erde und des Weltgebäudes. Ausgezeichnet! Nur: wie will er tugendhaft sein ohne Gott? Das ist die Frage! Daran muß ich immerzu denken. Wen wird er dann lieben, der Mensch? Wem wird er dankbar sein, wem wird er Loblieder singen? Rakitin lacht. Rakitin sagt, man kann die Menschheit auch ohne Gott lieben. Dieser rotzige Schwächling mag das zwar behaupten, doch ich verstehe es nicht. Für Rakitin ist das Leben eine leichte Sache, er sagte heute zu mir: ›Arbeite lieber an der Erweiterung der sozialen Rechte der Menschheit mit oder wirke wenigstens darauf hin, daß der Fleischpreis nicht steigt! Dadurch kannst du auf einfachere, näherliegende Weise der Menschheit deine Liebe beweisen als durch Philosophien.‹ Ich habe ihm darauf gehörig geantwortet: ›Und du, der du keinen Gott hast, wirst selber noch den Fleischpreis in die Höhe treiben, wenn dir das vorteilhaft ist, und einen Rubel auf die Kopeke aufschlagen!‹ Da wurde er ärgerlich. Denn was ist Tugend? Beantworte du mir diese Frage, Alexej! Ich habe eine Tugend, und der Chinese eine andere – also ist sie etwas Relatives. Oder nicht? Ist sie nicht relativ? Das ist eine heikle Frage! Du wirst mich nicht auslachen, wenn ich sage, daß ich deswegen zwei Nächte nicht geschlafen habe. Ich wundere mich jetzt nur darüber, daß die Leute so dahinleben, ohne daran zu denken. Das kommt von ihrer Geschäftigkeit. Iwan hat keinen Gott. Er hat nur seine Idee. Das geht über mein Fassungsvermögen. Aber er schweigt. Ich glaube, er ist Freimaurer. Ich habe ihn gefragt, er schweigt. Ich wollte an seinem Brunnen einen Schluck Wasser trinken, er schweigt. Nur ein einziges Mal hat er ein Wörtchen gesagt.«

»Was hat er gesagt?« fragte Aljoscha eilig.

»Ich sagte zu ihm: ›Dann ist also alles erlaubt, wenn das so ist?‹ Er machte ein finsteres Gesicht. ›Fjodor Pawlowitsch, unser Papa‹, sagte er, ›war ein Schwein, doch geurteilt hat er richtig.‹ Das ist alles, was er mir erwiderte. Weiter sagte er nichts. Das ist hinterhältiger als Rakitins Reden.«

»Ja«, stimmte ihm Aljoscha bitter zu! »Wann ist er bei dir gewesen?«

»Davon später. Jetzt noch etwas anderes. Ich habe bisher mit dir fast gar nicht über Iwan gesprochen. Ich schob es bis zum Schluß auf. Sobald diese meine Geschichte hier zu Ende ist und sie das Urteil gefällt haben, werde ich dir etwas erzählen, alles werde ich dir erzählen. Da ist eine seltsame Sache. Und in der sollst du mein Richter sein. Jetzt aber fang nicht davon an, jetzt schweig! Du redest von morgen, von der Gerichtsverhandlung. Doch ob du es glaubst oder nicht – von der weiß ich gar nichts.«

»Hast du mit diesem Rechtsanwalt gesprochen?«

»Was kann mir der helfen? Ich habe ihm alles mitgeteilt. Ein Spitzbube, ein Großstädter, ein Bernard! Er glaubt nicht das geringste von dem, was ich sage. Er glaubt, ich hätte den Mord begangen, stell dir das vor! ›Warum sind Sie dann hergekommen, um mich zu verteidigen?‹ habe ich ihn gefragt. Ich spucke auf diese Kerle! Auch einen Arzt hat man gerufen, der soll mich für verrückt erklären. Aber ich dulde das nicht! Katerina Iwanowna will ›ihre Pflicht‹ bis zum Schluß erfüllen. Sie zwingt sich dazu!« Mitja lächelte bitter! »Eine Katze ist sie! Ein grausames Herz hat sie! Sie weiß, daß ich damals in Mokroje über sie gesagt habe, sie sei eine Frau, die eines gewaltigen Zornes fähig ist! Das ist ihr wiedergesagt worden. Ja, die belastenden Aussagen sind zahlreich geworden wie der Sand am Meer! Grigori bleibt bei seiner Aussage. Grigori ist ein ehrenhafter Mann, aber ein Dummkopf. Viele Menschen sind nur deswegen ehrenhaft, weil sie Dummköpfe sind. Das ist ein Gedanke von Rakitin. Grigori ist mir feindlich gesinnt. Manch einen hat man mit größerem Nutzen zum Feind als zum Freund: Das sage ich mit Bezug auf Katerina Iwanowna. Ich fürchte, sie wird vor Gericht von ihrer tiefen Verbeugung nach Empfang der viertausendfünfhundert Rubel erzählen. Restlos wird sie es mir zurückzahlen, bis auf den letzten Heller. Ich will ihr Opfer nicht! Sie wird mich vor Gericht beschämen! Wie soll ich das aushalten! Geh zu ihr, Aljoscha, und bitte sie, sie möchte das vor Gericht nicht sagen. Oder ist das nicht zulässig? Na, zum Teufel, egal, ich werde es schon aushalten! Sie selbst tut mir nicht leid. Sie will es selber so. Wer sich nach eigenem Willen zu Schaden bringt, hat keinen Anspruch auf Mitleid! Ich werde meine Rede halten, Alexej!« Er lächelte wieder bitter! »Nur … Nur Gruscha, Gruscha, o Gott! Warum nimmt sie jetzt so eine Qual auf sich?« rief er plötzlich unter Tränen! »Der Gedanke an Gruscha tötet mich geradezu! Sie war heute bei mir …«

»Sie hat es mir erzählt. Du hast sie heute sehr gekränkt.«

»Ich weiß. Hol‹ der Teufel meinen verdammten Charakter! Ich war eifersüchtig. Als sie wegging, bereute ich es und küßte sie. Aber ich bat sie nicht um Verzeihung.«

»Warum hast du das nicht getan?« rief Aljoscha.

Mitja schlug ein beinahe vergnügtes Gelächter an.

»Gott bewahre dich lieben Jungen davor, jemals eine geliebte Frau wegen eines Verschuldens um Verzeihung zu bitten. Und besonders eine heißgeliebte Frau, ganz besonders so eine darfst du nicht um Verzeihung bitten, sosehr du dich auch gegen sie vergangen hast! Eine Frau, lieber Bruder, ist ein eigentümliches Wesen; wenigstens darüber weiß ich Bescheid! Versuch nur einmal, dich vor einer schuldig zu bekennen, und sag: ›Ich habe mich vergangen, entschuldige, verzeih!‹ Schon wirst du sehen, was für ein Hagel von Vorwürfen auf dich niedergeht! Um keinen Preis wird sie dir einfach und ohne weiteres verzeihen, sondern sie wird dich hundsgemein herunterputzen, wird dir Dinge vorhalten, die niemals geschehen sind, wird alles hervorholen, ohne etwas zu vergessen, sondern eher noch Erfundenes hinzufügen – erst dann wird sie dir verzeihen. Und die es so machen, sind noch die besten von ihnen, die besten! Den letzten Fetzen Haut wird dir so ein Weib abkratzen, eine solche Lust zur Schinderei steckt in ihnen, kann ich dir sagen, in allen ohne Ausnahme, in diesen Engeln, ohne die wir nicht leben können! Siehst du, mein Täubchen, ich will frei und offen reden: Jeder ordentliche Mann muß unter dem Pantoffel wenigstens einer Frau stehen. Das ist meine Überzeugung oder mehr noch: mein Gefühl. Der Mann muß sich großmütig fügen, und das gereicht ihm nicht zur Schande, nicht einmal einem Helden, nicht einmal einem Cäsar! Aber um Verzeihung darfst du trotzdem nicht bitten, niemals und um keinen Preis! Vergiß diese Regel nicht, sie hat dich dein Bruder Mitja gelehrt, der durch die Weiber zugrunde gegangen ist. Nein, ich will Gruscha lieber auf irgendeine andere Weise wieder besänftigen, ohne um Verzeihung zu betteln. Ich verehre sie in Demut, Alexej, ja, das tue ich! Sie sieht das nur nicht; sie meint immer, meine Liebe zu ihr wäre nicht groß genug. Und so quält sie mich, durch ihre Liebe quält sie mich. Früher war das anders. Früher quälten mich nur ihre teuflisch schönen Formen, doch jetzt habe ich ihre ganze Seele in mich aufgenommen und bin selber erst durch sie ein Mensch geworden! Ob es zugelassen wird, daß wir uns heiraten? Sonst werde ich vor Eifersucht sterben. So etwas träume ich alle Tage … Was hat sie über mich gesagt?«

Aljoscha wiederholte alles, was er von Gruschenka gehört hatte. Mitja hörte aufmerksam zu, stellte viele Fragen und war schließlich zufrieden.

»Also ist sie mir nicht böse, daß ich eifersüchtig bin?« rief er aus! »Eine echte Frau! ›Ich habe selber ein wildes Herz‹ hat sie gesagt. Oh, ich liebe solche Frauen mit wilden Herzen, obwohl ich es nicht leiden kann, wenn sie meinetwegen eifersüchtig sind. Nein, das kann ich gar nicht leiden! Wir werden uns gegenseitig prügeln, aber lieben, lieben werde ich sie grenzenlos! Wird es gestattet, daß wir uns heiraten? Dürfen Sträflinge heiraten? Das ist die Frage. Aber ohne sie kann ich nicht leben …«

Mitja ging mit finsterer Miene auf und ab. Es war fast dunkel im Zimmer geworden. Auf einmal wurde er sehr sorgenvoll.

»Also ein Geheimnis, sagt sie? Sie meint, wir hätten zu dritt eine Verschwörung gegen sie geplant, und Katka sei daran beteiligt? Nein, Bruder! Nein, Gruschenka! Das ist nicht so. Da hast du einen Fehler gemacht, einen typisch weiblichen dummen Fehler! Aljoscha, Täubchen, ach was – mag daraus werden, was will! Ich werde dir unser Geheimnis enthüllen!«

Er sah sich nach allen Seiten um, trat dann hastig dicht an Aljoscha heran und flüsterte mit geheimnisvoller Miene auf ihn ein, obwohl sie in Wirklichkeit niemand belauschen konnte, denn der alte Wächter schlummerte in der Ecke auf einer Bank, und bis zu den wachestehenden Soldaten konnte kein verständliches Wort gelangen.

»Ich werde dir unser ganzes Geheimnis enthüllen!« flüsterte Mitja eilig! »Ich wollte es dir später ja sowieso enthüllen; ohne dich kann ich doch keinen Entschluß fassen. Du bist für mich die höchste Autorität. Wenn ich auch sage, daß Iwan höher steht als wir, ist doch nur deine Entscheidung maßgebend. Und vielleicht stehst du doch am höchsten, und nicht Iwan … Siehst du, es handelt sich um eine Gewissenssache, im höchsten Sinne um eine Gewissenssache! Es ist so ein wichtiges Geheimnis, daß ich selbst nicht damit zurechtkommen kann und die Entscheidung aufgehoben habe, bis ich dich befragt habe. Trotzdem ist es jetzt noch zu früh, eine Entscheidung zu treffen, denn wir müssen erst den Urteilsspruch abwarten. Sobald das Urteil verkündet ist, sollst du mein Schicksal entscheiden. Fäll jetzt noch keine Entscheidung. Ich werde dir sogleich sagen, worum es sich handelt; du wirst zuhören, aber fäll noch keine Entscheidung. Steh da und schweig! Ich werde dir nicht alles enthüllen, sondern nur den Hauptgedanken, ohne auf Einzelheiten einzugehen, du aber schweig! Keine Frage, keine Bewegung – einverstanden? Doch o Gott, was soll ich mit deinen Augen anfangen? Ich fürchte, in deinen Augen wird deine Entscheidung zu lesen sein, auch wenn du schweigst. O weh, das fürchte ich! Aljoscha, höre. Iwan hat mir vorgeschlagen zu fliehen. Die Einzelheiten lasse ich weg; es ist alles vorbereitet, es wird sich alles machen lassen. Schweig, entscheide noch nichts! Nach Amerika soll ich gehen, mit Gruscha. Ohne Gruscha kann ich ja nicht leben. Und wenn man sie in Sibirien nicht zu mir läßt? Dürfen Sträflinge heiraten? Iwan sagt, nein. Aber ohne Gruscha, was soll ich da unter der Erde mit dem Hammer? Ich werde mir mit diesem Hammer nur den Kopf zerschmettern! Und auf der anderen Seite das Gewissen! Ich bin ja dann vor dem Leiden geflohen! Es war ein Fingerzeig Gottes, den ich in dem Fall verschmähte! Mir war ein Weg zur Läuterung gezeigt, ich aber wandte mich von ihm weg nach links. Iwan sagt, man könnte in Amerika ›mit guten Vorsätzen‹ mehr Nutzen bringen als in Sibirien unter der Erde. Aber unsere unterirdische Hymne, was wird aus der? Was ist Amerika? Amerika, das bedeutet wieder hastige Geschäftigkeit! Und auch Gaunerei gibt es in Amerika viel, glaube ich. Ich bin dann vor der Kreuzigung geflohen! Dir, Alexej, sage ich das, weil du allein das verstehen kannst, sonst niemand! Für andere ist das, was ich dir über die Hymne gesagt habe, alles nur Dummheit und Fieberwahn. Sie würden sagen, ich bin verrückt oder ein Dummkopf. Aber ich bin nicht verrückt geworden, und ich bin kein Dummkopf! Auch Iwan versteht das von der Hymne, o ja, er versteht es! Doch er antwortet nicht darauf, er schweigt! Er glaubt nicht an die Hymne. Sprich nicht, ich sehe ja, was du für ein Gesicht machst! Du hast deine Entscheidung schon getroffen! Triff sie noch nicht, schone mich, ich kann ohne Gruscha nicht leben, warte bis zum gerichtlichen Urteil!«

Mitja verstummte; er war wie von Sinnen. Er packte Aljoscha mit beiden Händen an den Schultern und bohrte seinen dürstenden, brennenden Blick gleichsam in dessen Augen hinein.

»Darf ein Sträfling heiraten?« fragte er zum drittenmal flehentlich.

Aljoscha hatte verwundert zugehört und war tief erschüttert! »Sag mir nur das eine«, antwortete er! »Dringt Iwan sehr auf die Ausführung dieses Planes? Und wer hat ihn sich ausgedacht?«

»Er, er hat ihn sich ausgedacht, und er dringt sehr darauf! Er war die ganze Zeit nicht zu mir gekommen; auf einmal, vor einer Woche, kam er und fing unvermittelt damit an. Er dringt gewaltig auf die Ausführung. Er bittet nicht, er befiehlt. Er zweifelt nicht daran, daß ich ihm gehorchen werde, obgleich ich ihm ebenso wie dir mein ganzes Herz ausgeschüttet und ihm auch von der Hymne erzählt habe. Er hat mir auch auseinandergesetzt, wie die Sache organisiert werden muß; er hat sich nach allem aufs genaueste erkundigt, doch davon später! Er wünscht es mit geradezu krankhaftem Eifer. Die Hauptsache ist das Geld. ›Zehntausend Rubel‹, sagt er, ›bekommst du zur Bewerkstelligung der Flucht und zwanzigtausend für Amerika. Für die zehntausend Rubel werden wir eine großartige Flucht zuwege bringen.‹ «

»Und er hat dir ausdrücklich verboten, es mir mitzuteilen?« fragte Aljoscha von neuem.

»Er sagte, ich soll es niemandem mitteilen, am wenigsten dir. Dir unter keinen Umständen! Er fürchtet offenbar, du würdest als mein Gewissen vor mir stehen. Sag ihm nichts davon, daß ich es dir berichtet habe! Sag es ihm ja nicht!«

»Du hast recht«, erwiderte Aljoscha! »Vor dem Urteilsspruch des Gerichts kann man keine Entscheidung treffen. Nach dem Urteilsspruch wirst du selber entscheiden. Dann wirst du selbst in dir einen neuen Menschen vorfinden: Der wird die Entscheidung treffen.«

»Einen neuen Menschen! Oder einen Bernard, und der wird dann à la Bernard entscheiden! Denn ich glaube, ich bin selbst so ein verächtlicher Bernard!« sagte Mitja mit bitterem Lächeln.

»Aber Bruder, hoffst du wirklich gar nicht mehr auf einen Freispruch?«

Mitja hob krampfhaft die Schultern und schüttelte verneinend den Kopf.

»Aljoscha, Täubchen, es ist Zeit, daß du gehst!« sagte er plötzlich eilig! »Der Inspektor hat auf dem Hof gerufen, er wird gleich herkommen. Wir haben die Zeit schon überschritten, das ist ein Verstoß gegen die Ordnung. Umarme mich schnell, küsse mich und bekreuzige mich, Täubchen! Bekreuzige mich für mein morgiges Leiden!«

Sie umarmten und küßten sich.

Dann sagte Mitja auf einmal: »Iwan rät mir zu fliehen und glaubt dabei selber, daß ich den Mord begangen habe!«

Ein trauriges Lächeln erschien auf seinen Lippen.

»Hast du ihn gefragt, ob er es glaubt?« fragte Aljoscha.

»Nein, gefragt habe ich ihn nicht. Ich wollte ihn fragen, bekam es aber nicht fertig; ich fand nicht die Kraft dazu. Doch ich sehe es ihm schon an den Augen an. Nun, lebe wohl!«

Sie küßten sich noch einmal eilig, und Aljoscha wollte schon hinausgehen, als Mitja ihn plötzlich wieder zurückrief:

»Stell dich vor mich, so!«

Und er faßte Aljoscha wieder mit beiden Händen fest an den Schultern. Sein Gesicht wurde auf einmal so blaß, daß es selbst in der Dunkelheit zu bemerken war. Seine Lippen verzerrten sich, sein Blick haftete starr auf Aljoscha.

»Aljoscha, sag mir die volle Wahrheit, wie vor Gott dem Herrn: Glaubst du, daß ich den Mord begangen habe, oder glaubst du es nicht? Du, du selbst: Glaubst du es oder nicht? Sag die volle Wahrheit, lüg nicht!« schrie er außer sich.

Aljoscha hatte das Gefühl, als ob alles um ihn herum schwankte und ihm ein Stich durchs Herz ging.

»Hör auf, was hast du…«, stammelte er fassungslos.

»Die ganze Wahrheit, die ganze Wahrheit! Lüg nicht!« wiederholte Mitja.

»Nicht eine Sekunde habe ich geglaubt, daß du der Mörder bist!« kam es plötzlich mit zitternder Stimme aus Aljoschas Brust, und er hob die rechte Hand, als wollte er Gott zum Zeugen seiner Worte anrufen.

Mitjas Gesicht leuchtete augenblicklich vor Glückseligkeit auf! »Ich danke dir«, sagte er gedehnt, und es klang wie ein Seufzer nach einer Ohnmacht! »Du hast mir ein neues Leben geschenkt … Ob du es glaubst oder nicht – bis jetzt habe ich mich davor gefürchtet, dich zu fragen! So, nun geh, geh! Du hast mich für morgen gestärkt, Gott segne dich dafür! Nun geh und hab Iwan lieb!« Das war das letzte Wort, das aus seiner Brust kam.

Aljoscha ging tränenüberströmt hinaus. So viel Argwohn von seiten Mitjas, so viel Mißtrauen sogar ihm, Aljoscha, gegenüber, das zeugte von hoffnungslosem Kummer und so tiefer Verzweiflung in der Seele seines unglücklichen Bruders, wie er es nicht geahnt hatte. Unendliches Mitleid packte ihn und quälte ihn plötzlich sehr; sein zerrissenes Herz schmerzte unerträglich.

Er mußte an die Worte denken, die Mitja eben gesprochen hatte: »Hab Iwan lieb!« Und nun ging er zu diesem Iwan. Er hatte ihn schon am Vormittag dringend sprechen wollen. Nicht weniger Sorge als Mitja bereitete ihm Iwan, erst recht jetzt, nach der Begegnung mit dem ältesten Bruder.

5. Nicht du, nicht du!

Auf dem Weg zu Iwan mußte er an dem Haus vorbei, wo Katerina Iwanowna wohnte. Die Fenster waren hell. Er blieb plötzlich stehen und beschloß hineinzugehen. Katerina Iwanowna hatte er schon über eine Woche nicht gesehen. Doch ihm ging vor allem der Gedanke durch den Kopf, Iwan könnte vielleicht bei ihr sein, gerade jetzt, am Vorabend eines solchen Tages. Er klingelte, und als er die von einer chinesischen Laterne matt erleuchtete Treppe hinaufstieg, sah er jemand von oben herunterkommen. Als sie einander näher gekommen waren, erkannte er seinen Bruder. Der kam also bereits von Katerina Iwanowna.

»Ach, du bist es nur«, sagte Iwan Fjodorowitsch trocken.

»Na, lebe wohl. Du willst zu ihr?«

»Ja.«

»Ich rate dir nicht dazu. Sie ist erregt, und du machst das nur noch schlimmer.«

»Nein, nein!« rief plötzlich eine Stimme von oben aus einer Tür, die schnell geöffnet wurde! »Alexej Fjodorowitsch, kommen Sie von ihm?«

»Ja, ich war bei ihm.«

»Läßt er mir etwas sagen? Kommen Sie herein, Aljoscha. Und auch Sie, Iwan Fjodorowitsch, kommen Sie noch einmal zurück, ich bitte dringend darum, hören Sie?«

Katjas Stimme klang so gebieterisch, daß sich Iwan Fjodorowitsch nach kurzem Zögern dennoch entschloß, zusammen mit Aljoscha wieder hinaufzugehen.

»Sie hat gelauscht!« flüsterte er gereizt vor sich hin; Aljoscha hörte es.

»Gestatten Sie mir, den Überzieher anzubehalten«, sagte Iwan Fjodorowitsch, als er in den Salon trat! »Ich möchte mich auch nicht setzen. Ich werde nur eine Minute bleiben.«

»Setzen Sie sich, Alexej Fjodorowitsch«, sagte Katerina Iwanowna, blieb jedoch selbst stehen.

Sie hatte sich in der Zwischenzeit wenig verändert, nur in ihren dunklen Augen funkelte jetzt ein böses Feuer. Aljoscha erinnerte sich später, daß sie ihm in diesem Augenblick sehr schön erschienen war.

»Was läßt er mir sagen?«

»Nur eines«, antwortete Aljoscha und blickte ihr offen ins Gesicht! »Sie möchten Rücksicht auf sich selber nehmen und vor Gericht nichts darüber aussagen … Was zwischen Ihnen … Bei Ihrer ersten Bekanntschaft… vorgegangen ist …«

»Ah, er meint die Verbeugung, die ich vor ihm aus Dankbarkeit für das Geld machte!« unterbrach sie ihn und lachte stolz auf! »Wie ist das, hat er da Angst um sich oder um mich? Er hat gesagt, ich möchte Rücksicht nehmen – auf wen soll ich Rücksicht nehmen? Auf ihn oder auf mich? Reden Sie, Alexej Fjodorowitsch!«

Aljoscha, bemüht, sie zu verstehen, blickte sie unverwandt an.

»Auf sich und auch auf ihn«, sagte er leise.

»Soso!« sagte sie scharf und zornig und errötete plötzlich! »Sie kennen mich noch nicht, Alexej Fjodorowitsch«, fuhr sie in drohendem Ton fort! »Und auch ich selbst kenne mich noch nicht. Vielleicht werden Sie mich morgen nach der Zeugenvernehmung mit den Füßen zerstampfen wollen.«

»Sie werden ehrlich aussagen«, erwiderte Aljoscha! »Weiter ist gar nichts nötig.«

»Eine Frau ist oft unehrlich«, antwortete sie! »Noch vor einer Stunde dachte ich, es müßte schrecklich sein, mit diesem Unmenschen in Berührung zu kommen … wie mit einem häßlichen Reptil … Aber nein, er ist für mich doch noch ein Mensch! Hat er nun den Mord begangen? Hat er es getan?« rief sie kreischend, wobei sie sich schnell zu Iwan Fjodorowitsch umwandte.

Aljoscha begriff sofort, daß sie Iwan diese Frage schon vorher gestellt hatte, vielleicht erst kurz bevor er selbst gekommen war, und zwar nicht zum ersten-, sondern wohl zum hundertstenmal, und daß dieses Gespräch mit einem Streit geendet hatte.

»Ich bin bei Smerdjakow gewesen«, fuhr sie fort, noch immer an Iwan Fjodorowitsch gewandt! »Du bist es gewesen, der mich zu der Überzeugung gebracht hat, daß er ein Vatermörder ist. Nur dir habe ich geglaubt!«

Iwan lächelte gezwungen. Aljoscha zuckte zusammen, als er dieses Du hörte; ein solches Verhältnis zwischen den beiden hatte er nicht ahnen können.

»Nun aber genug«, schnitt Iwan das Gespräch ab! »Ich gehe. Morgen werde ich wiederkommen,« Nach diesen Worten drehte er sich um, verließ das Zimmer und ging hinaus auf die Treppe.

Katerina Iwanowna ergriff plötzlich mit einer herrischen Gebärde Aljoschas Hand.

»Gehen Sie ihm nach! Verlassen Sie ihn keinen Augenblick!« flüsterte sie ihm zu! »Er ist wahnsinnig. Wissen Sie nicht, daß er wahnsinnig ist? Er hat Fieber, ein Nervenfieber! Der Arzt hat es mir gesagt. Gehen Sie, laufen Sie ihm nach …«

Aljoscha sprang auf und stürzte Iwan Fjodorowitsch hinterher. Dieser war noch nicht fünfzig Schritte entfernt.

»Was willst du?« fragte er, als er merkte, daß Aljoscha ihm folgte! »Sie hat dir befohlen, mir nachzulaufen, weil ich verrückt sein soll. Ich weiß es, ohne daß mir das jemand sagt«, fügte er gereizt hinzu.

»Sie irrt sich selbstverständlich. Aber daß du krank bist, darin hat sie recht«, sagte Aljoscha! »Ich habe eben dein Gesicht gesehen, du siehst sehr krank aus, Iwan!«

Iwan blieb nicht stehen. Aljoscha lief neben ihm.

»Weißt du, Alexej Fjodorowitsch, wie man den Verstand verliert?« fragte Iwan ganz plötzlich mit leiser, gar nicht mehr gereizter Stimme, aus der nur harmlose Neugier herauszuhören war.

»Nein, das weiß ich nicht. Ich denke mir, daß es viele verschiedene Arten von Verrücktheit gibt.«

»Und kann man an sich selbst beobachten, wie man den Verstand verliert?«

»Ich glaube, es ist nicht möglich, das an sich selbst deutlich zu verfolgen«, antwortete Aljoscha.

Iwan schwieg lange.

»Wenn du mit mir über etwas reden willst, dann wechsle bitte das Thema«, sagte er plötzlich.

»Ehe ich es vergesse; da ist ein Brief an dich«, sagte Aljoscha schüchtern, zog Lisas Brief aus der Tasche und gab ihn Iwan. Sie waren gerade an einer Laterne. Iwan erkannte die Handschrift sofort.

»Ah, das ist von diesem Teufelchen«, sagte er mit boshaftem Lachen, dann zerriß er, ohne das Kuvert zu öffnen, den ganzen Brief in mehrere Stücke und warf sie in den Wind. Die Fetzen flogen auseinander.

»Noch keine sechzehn Jahre alt, glaube ich, und bietet sich schon an!« sagte er verächtlich und lief weiter.

»Was heißt das, sie bietet sich an?« fragte Aljoscha.

»Das ist doch bekannt, wie sich liederliche Weiber anbieten!«

»Was redest du da, Iwan, was redest du da?« sagte Aljoscha betrübt, aber entschieden! »Sie ist ein Kind, du beleidigst ein Kind! Sie ist krank, sie ist selbst sehr krank, auch sie wird vielleicht den Verstand verlieren … Ich mußte dir doch ihren Brief übergeben … Ich hätte vielmehr gern etwas von dir erfahren, um sie zu retten.«

»Du wirst nichts von mir erfahren. Wenn sie ein Kind ist, bin ich nicht ihre Wärterin. Schweig, Alexej! Sprich nicht mehr davon! Ich denke überhaupt nicht mehr an diese Geschichte.«

Sie schwiegen wieder eine längere Zeit.

»Jetzt wird sie die ganze Nacht zur Muttergottes beten, damit diese ihr kundtut, wie sie morgen vor Gericht auftreten soll«, sagte er wieder in scharfem, boshaftem Ton.

»Du sprichst von Katerina Iwanowna?«

»Ja. Ob sie Mitja retten oder vernichten soll! Sie wird die Muttergottes bitten, ihrer Seele darüber eine Erleuchtung zukommen zu lassen. Sie selbst weiß es noch nicht, sie ist sich darüber noch nicht klargeworden. Auch sie möchte mich zur Kinderfrau haben, damit ich sie einlulle.«

»Katerina Iwanowna liebt dich, Bruder«, sagte Aljoscha bekümmert.

»Kann sein. Aber ich mag sie nicht.«

»Sie leidet. Warum sagst du ihr manchmal Worte, derentwegen sie sich Hoffnungen macht?« fuhr Aljoscha mit schüchternem Vorwurf fort! »Ich weiß, daß du Hoffnungen bei ihr erweckt hast … Verzeih, daß ich so rede«, fügte er hinzu.

»Ich kann bei ihr nicht so verfahren, wie ich eigentlich müßte, das heißt, mit ihr brechen und es ihr geradeheraus sagen!« erwiderte Iwan gereizt! »Ich muß warten, bis das Gericht das Urteil über den Mörder gefällt hat. Wenn ich jetzt mit ihr breche, wird sie diesen Unmenschen morgen vor Gericht vernichten, um sich an mir zu rächen, denn sie haßt ihn und ist sich ihres Hasses bewußt. Hier ist alles Unwahrhaftigkeit und Lüge! Jetzt aber, solange ich noch nicht mit ihr gebrochen habe, hofft sie immer noch und wird diesen Unmenschen nicht zugrunde richten, weil sie weiß, wie sehr ich ihm aus der Patsche helfen möchte. Wann wird nur endlich dieses verfluchte Urteil gefällt!«

Die Wörter »Mörder« und »Unmensch« ließen Aljoschas Herz schmerzlich zusammenzucken.

»Wodurch könnte sie denn den Bruder zugrunde richten?« fragte er und dachte über Iwans Worte nach! »Was kann sie denn so Belastendes aussagen, daß er dadurch ohne weiteres vernichtet werden kann?«

»Du weißt das noch nicht. Sie hat ein Schriftstück von Mitja in Händen, welches mit mathematischer Sicherheit beweist, daß er Fjodor Pawlowitsch totgeschlagen hat.«

»Das ist nicht möglich!« rief Aljoscha.

»Wieso nicht möglich? Ich habe es selbst gelesen.«

»Ein solches Schriftstück kann es nicht geben!« wiederholte Aljoscha mit Wärme! »Das ist unmöglich, weil er nicht der Mörder ist. Er hat den Vater nicht ermordet, er nicht!«

Iwan Fjodorowitsch blieb plötzlich stehen.

»Wer ist denn deiner Ansicht nach der Mörder?« fragte er äußerlich kalt; in der Frage lag sogar ein gewisser Hochmut.

»Du weißt selbst, wer es gewesen ist«, antwortete Aljoscha leise und nachdrücklich.

»Wer es gewesen ist? Meinst du das Märchen von diesem verrückten Idioten, dem Epileptiker? Von Smerdjakow?«

Aljoscha fühlte auf einmal, wie er am ganzen Körper zitterte! »Du weißt selbst, wer es gewesen ist!« entfuhr es ihm matt und kraftlos.

Er rang mühsam nach Atem.

»Wer denn nun, wer denn?« schrie Iwan nun schon sehr wütend. Seine ganze Selbstbeherrschung war auf einmal verschwunden.

»Ich weiß nur das eine«, sagte Aljoscha noch immer leise, beinahe flüsternd! »Nicht du hast den Vater ermordet.«

»Nicht du! Was soll das heißen, nicht du?« fragte Iwan und blieb wie erstarrt stehen.

»Nicht du hast den Vater ermordet, nicht du!« wiederholte Aljoscha mit fester Stimme.

Das Schweigen dauerte fast eine halbe Minute.

»Das weiß ich selber, daß ich es nicht getan habe! Redest du im Fieber?« sagte Iwan; sein Gesicht war blaß und hatte ein verkrampftes Lächeln. Er starrte Aljoscha unverwandt an.

Sie standen wieder an einer Laterne.

»Nein, Iwan! Du hast dir selbst mehrere Male gesagt, daß du der Mörder bist.«

»Wann habe ich das gesagt? Ich bin in Moskau gewesen … Wann soll ich das gesagt haben?« stammelte Iwan fassungslos.

»Du hast dir das oft gesagt, wenn du in diesen schrecklichen zwei Monaten allein warst«, fuhr Aljoscha leise und bestimmt

fort. Er sprach jetzt wie in einer Art Verzückung, gewissermaßen nicht nach seinem eigenen Willen, sondern einem unwiderstehlichen Befehl gehorchend! »Du hast dich beschuldigt und vor dir bekannt, daß kein anderer der Mörder ist als du. Aber nicht du hast ihn ermordet, da irrst du dich. Nicht du bist der Mörder, hörst du, was ich sage? Nicht du! Mich hat Gott geschickt, dir das zu sagen.«

Beide schwiegen wieder. Eine ganze lange Minute dauerte dieses Schweigen. Beide standen da, blaß, Auge in Auge. Auf einmal ging eine heftige Erschütterung durch Iwans Körper, und er packte Aljoscha an der Schulter.

»Du bist bei mir gewesen!« flüsterte er zähneknirschend! »Du bist in der Nacht bei mir gewesen, als er kam … Gib es zu! Du hast ihn gesehen, ja?«

»Von wem redest du? Von Mitja?« fragte Aljoscha erstaunt.

»Von dem rede ich nicht, hol‹ der Teufel diesen Unmenschen!« schrie Iwan wütend! »Du weißt also, daß er immer zu mir kommt? Wie hast du es erfahren? Sprich!«

»Wer denn? Ich weiß nicht, von wem du sprichst«, stotterte Aljoscha, der jetzt ganz ängstlich wurde.

»Nein, du weißt es! Wie könntest du sonst … Unmöglich, daß du es nicht wissen solltest …«

Doch auf einmal schien er seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Er stand da und überlegte. Ein seltsames Lächeln verzog seine Lippen.

»Bruder!« begann Aljoscha mit zitternder Stimme von neuem! »Ich habe dir das gesagt, weil du meinen Worten glauben wirst, das weiß ich. Ich habe dir das für dein ganzes Leben gesagt: ›Nicht du!‹ Hörst du, für dein ganzes Leben! Gott hat es mir auf die Seele gelegt, dir das zu sagen, selbst wenn du mich von dieser Stunde an für immer hassen solltest …«

Iwan Fjodorowitsch schien sich aber schon wieder ganz in der Gewalt zu haben.

»Alexej Fjodorowitsch!« sagte er mit einem kalten Lächeln! »Ich kann Propheten und Epileptiker nicht ausstehen, und am allerwenigsten Abgesandte Gottes, das wissen Sie sehr wohl. Von diesem Augenblick an breche ich mit Ihnen, und ich glaube, für immer. Ich bitte Sie, mich sofort, gleich an dieser Straßenkreuzung, zu verlassen. Der Weg zu Ihrer Wohnung führt sowieso durch diese Quergasse! Und hüten Sie sich besonders, heute zu mir zu kommen! Hören Sie?«

Er wandte sich von ihm ab und ging mit festen Schritten davon, ohne sich umzusehen.

»Bruder!« rief ihm Aljoscha nach! »Wenn heute irgend etwas mit dir geschieht, dann denk vor allen Dingen an mich!«

Aber Iwan antwortete nicht mehr. Aljoscha blieb so lange unter der Laterne an der Straßenkreuzung stehen, bis Iwan ganz in der Dunkelheit verschwunden war. Dann drehte er sich um und ging durch die Seitengasse langsam zu seiner Wohnung. Er und Iwan Fjodorowitsch wohnten für sich, in verschiedenen Wohnungen; keiner von ihnen hatte in dem leeren Haus von Fjodor Pawlowitsch bleiben mögen. Aljoscha hatte ein möbliertes Zimmer bei einer Kleinbürgerfamilie gemietet, und Iwan Fjodorowitsch wohnte, ziemlich weit von ihm, in einer geräumigen, recht komfortablen Wohnung im Seitenflügel eines schönen Hauses, das einer wohlhabenden Beamtenwitwe gehörte. Zu seiner Bedienung hatte er in dem ganzen Seitenflügel nur eine völlig taube alte Frau, die stark an Rheuma litt und sich um sechs Uhr abends hinlegte und um sechs Uhr morgens aufstand. Er war in diesen zwei Monaten erstaunlich anspruchslos geworden und war am liebsten ganz allein. Er räumte sogar das Zimmer, das er benutzte, selbst auf; in die übrigen Zimmer seiner Wohnung kam er überhaupt nur selten. Als Iwan am Tor seines Hauses angelangt war und schon den Klingelgriff berührte, hielt er auf einmal inne. Er fühlte, daß er vor Wut noch immer am ganzen Körper zitterte. Plötzlich ließ er die Klingel wieder los, spuckte aus, drehte sich um und ging schnell zum entgegengesetzten Ende der Stadt, etwa zwei Werst von seiner Wohnung entfernt, zu einem winzigen, schiefen Häuschen aus unverschalten Balken, in dem Marja Kondratjewna wohnte, die ehemalige Nachbarin Fjodor Pawlowitschs, die früher oft in dessen Küche gekommen war, um Suppe zu holen, und der damals Smerdjakow seine Lieder zur Gitarre vorgesungen hatte. Ihr früheres Häuschen hatte sie verkauft, und sie wohnte jetzt mit ihrer Mutter in dieser Hütte; der sterbenskranke Smerdjakow war gleich nach Fjodor Pawlowitschs Tod zu ihnen gezogen. Smerdjakow war es, zu dem sich Iwan Fjodorowitsch jetzt begab, getrieben von einem unvermittelten, unabweisbaren Gedanken.

6. Erster Besuch bei Smerdjakow

Eigentlich war es seit seiner Rückkehr aus Moskau schon das drittemal, daß Iwan Fjodorowitsch zu Smerdjakow ging, um mit ihm zu sprechen. Zum erstenmal nach der Katastrophe hatte er ihn gleich am Tag seiner Ankunft gesehen und gesprochen; dann hatte er ihn noch einmal, zwei Wochen später, besucht. Doch nach diesem zweiten Treffen stellte er seine Besuche bei Smerdjakow ein; er hatte ihn jetzt schon über einen Monat nicht mehr gesehen und fast nichts von ihm gehört. Aus Moskau war Iwan Fjodorowitsch damals erst am fünften Tag nach dem Tod seines Vaters zurückgekehrt, so daß er dessen Sarg nicht mehr vorfand. Die Beerdigung hatte einen Tag vor seiner Ankunft stattgefunden. Iwan Fjodorowitschs Verspätung entstand dadurch, daß Aljoscha seine Moskauer Adresse nicht genau wußte und erst Katerina Iwanowna befragen mußte, um ein Telegramm absenden zu können, diese nun, ebenfalls in Unkenntnis der richtigen Adresse, telegrafierte an ihre Schwester und ihre Tante, da sie annahm, Iwan Fjodorowitsch hätte ihnen gleich nach seiner Ankunft in Moskau einen Besuch gemacht. Aber er war erst am vierten Tag nach seiner Ankunft zu ihnen gekommen und dann, nachdem er das Telegramm gelesen hatte, natürlich sogleich in unsere Stadt geeilt. Hier war er zuerst mit Aljoscha zusammengetroffen. Nach dem Gespräch mit ihm hatte er sich sehr darüber gewundert, daß Aljoscha nicht einmal einen Verdacht auf Mitja werfen wollte, sondern Smerdjakow als den Mörder bezeichnete, was im schroffen Gegensatz zur Meinung aller anderen Leute in unserer Stadt stand. Nachdem er dann vom Bezirkshauptmann und vom Staatsanwalt nähere Einzelheiten über die Beschuldigung und die Verhaftung gehört hatte, hatte er über Aljoscha noch mehr gestaunt und seine Ansicht nur auf Brudergefühl und Mitleid für Mitja zurückgeführt, denn daß Aljoscha diesen sehr liebte, wußte Iwan. Bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Worte über Iwans Gefühle für seinen Bruder Dmitri Fjodorowitsch. Er liebte ihn ganz und gar nicht und hatte höchstens manchmal mit ihm Mitleid; aber auch dieses Mitleid war mit starker Verachtung gemischt, die bis zum Ekel reichte. Mitja war ihm höchst unsympathisch, schon durch sein Äußeres. Für Katerina Iwanownas Liebe zu ihm hatte Iwan nur Entrüstung übrig. Dennoch hatte er den in Untersuchungshaft befindlichen Mitja ebenfalls gleich am Tag seiner Ankunft besucht, und dieses Zusammensein hatte bei ihm die Überzeugung von dessen Schuld nicht verringert, sondern eher noch verstärkt. Er hatte seinen Bruder damals in Unruhe und krankhafter Erregung vorgefunden. Mitja redete viel, aber zerstreut, unzusammenhängend und in scharfem Ton; er beschuldigte Smerdjakow und war überhaupt sehr konfus. Am meisten sprach er von den dreitausend Rubeln, die ihm der Verstorbene angeblich »gestohlen« hatte! »Es war mein Geld, es gehörte mir!« behauptete Mitja! »Selbst wenn ich es gestohlen hätte, wäre ich im Recht gewesen,« Alle gegen ihn sprechenden Beweise bestritt er so gut wie nicht, und wenn er Tatsachen zu seinen Gunsten auslegte, so auch wieder in konfuser, törichter Weise, als wollte er sich vor Iwan oder sonst jemandem gar nicht rechtfertigen; er wurde vielmehr zornig, reagierte auf die Anschuldigungen nur geringschätzig und stolz und schimpfte. Über Grigoris Aussage von der offenen Tür lachte er nur verächtlich und sagte, »der Teufel muß sie aufgemacht haben!«. Irgendeine vernünftige Erklärung für diese Tatsache konnte er jedoch nicht vorbringen. Er brachte es sogar fertig, Iwan Fjodorowitsch bei diesem ersten Besuch zu beleidigen, indem er in rüdem Ton bemerkte, er lasse sich nicht von Personen verdächtigen und verhören, die selber behaupten, daß »alles erlaubt sei«. Überhaupt hatte er sich Iwan Fjodorowitsch gegenüber äußerst unfreundlich benommen. Gleich nach diesem Besuch bei Mitja also hatte sich Iwan Fjodorowitsch damals zu Smerdjakow begeben.

Schon bei der Heimfahrt aus Moskau hatte er immerzu an Smerdjakow und das letzte Gespräch denken müssen, das er mit ihm am Abend vor seiner Abreise gehabt hatte. Vieles hatte ihn stutzig gemacht, vieles war ihm verdächtig erschienen. Doch als er vor dem Untersuchungsrichter seine Aussagen machte, hatte Iwan Fjodorowitsch von diesem Gespräch vorläufig geschwiegen; er wollte erst ein Wiedersehen mit Smerdjakow abwarten. Dieser befand sich damals im städtischen Krankenhaus. Doktor Herzenstube und der Arzt Warwinski, den Iwan Fjodorowitsch im Krankenhaus traf, antworteten auf Iwan Fjodorowitschs diesbezügliche Fragen mit aller Bestimmtheit, Smerdjakows epileptischer Anfall sei zweifellos echt; sie wunderten sich sogar über seine Frage, ob er am Tag der Katastrophe nicht simuliert habe. Sie gaben ihm zu verstehen, daß es ein ungewöhnlicher Anfall gewesen sei, der sehr lange gedauert und sich mehrere Tage wiederholt habe, so daß das Leben des Patienten in großer Gefahr gewesen sei und man erst jetzt, nach Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen, positiv sagen könne, der Kranke werde am Leben bleiben, obgleich sein Geist möglicherweise, fügte Doktor Herzenstube hinzu, zum Teil gestört bleiben werde, »wenn nicht für das ganze Leben, so doch längere Zeit«. Auf Iwan Fjodorowitschs ungeduldige Frage, ob er also jetzt verrückt sei, wurde ihm geantwortet, im vollen Sinn des Wortes noch nicht, doch seien gewisse abnorme Erscheinungen wahrnehmbar. Iwan Fjodorowitsch nahm sich vor, selbst festzustellen, was das für abnorme Erscheinungen sein mochten. Im Krankenhaus wurde ihm ein Besuch bei dem Kranken sogleich gestattet. Smerdjakow lag im Bett. In dem Raum stand noch ein Bett, das ein gelähmter einheimischer Kleinbürger innehatte; er war von Wassersucht ganz geschwollen, und sein Ableben war offenbar für den nächsten oder übernächsten Tag zu erwarten; stören konnte er bei dem Gespräch nicht. Smerdjakow lächelte mißtrauisch, als er Iwan Fjodorowitsch erblickte, und schien im ersten Augenblick sogar ängstlich zu sein. Wenigstens hatte Iwan Fjodorowitsch kurz diesen Eindruck. Aber das dauerte nur einen Moment. Die ganze übrige Zeit versetzte ihn Smerdjakow durch seine Ruhe geradezu in Erstaunen. Gleich beim ersten Blick gewann Iwan Fjodorowitsch die unzweifelhafte Überzeugung, daß er wirklich schwerkrank war. Er war sehr schwach, sah mager und gelb aus, redete langsam und schien die Zunge nur mit Mühe zu bewegen. Während der zwanzig Minuten, die der Besuch dauerte, klagte er ständig über Kopfschmerzen und über Reißen in allen Gliedern. Sein trockenes, kastratenhaftes Gesicht schien ganz klein geworden zu sein, die Schläfenhaare waren wirr und unordentlich, statt der früheren Tolle ragte nur ein dünner Haarbüschel in die Höhe. Aber das zusammengekniffene linke Auge, das so aussah, als wolle es jemandem zuzwinkern, verriet noch den ehemaligen Smerdjakow! »Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil!« Diese Bemerkung kam Iwan Fjodorowitsch sofort ins Gedächtnis. Er setzte sich am Fußende des Bettes auf einen Schemel.

Smerdjakow drehte sich unter Schmerzen mit dem ganzen Körper auf dem Bett herum, begann jedoch nicht als erster zu reden, sondern schwieg und machte ein Gesicht, als sei er nicht sonderlich neugierig.

»Bist du imstande, mit mir zu reden?« fragte Iwan Fjodorowitsch! »Ich werde dich nicht sehr anstrengen.«

»Dazu bin ich sehr wohl imstande«, stammelte Smerdjakow mit schwacher Stimme! »Sind Sie schon vor längerer Zeit angekommen?« fügte er in freundlichem Ton hinzu, als gelte es, einen verlegenen Besucher aufzumuntern.

»Ich bin erst heute eingetroffen … Um die Suppe auszulöffeln, die ihr eingerührt habt.«

Smerdjakow seufzte.

»Warum seufzst du? Du hast es gewußt!« polterte Iwan Fjodorowitsch los.

Smerdjakow schwieg in aller Ruhe eine Weile.

»Wie hätte ich das auch nicht wissen sollen? Das war ja im voraus klar. Nur, wie konnte man wissen, daß es eben diesen Verlauf nehmen werde?«

»Was für einen Verlauf? Mach keine Winkelzügel Du hast doch selber vorausgesagt, du würdest einen epileptischen Anfall bekommen, sowie du in den Keller hinabsteigst. Gerade auf den Keller hast du hingewiesen.«

»Haben Sie das schon bei der Vernehmung ausgesagt?« erkundigte sich Smerdjakow ruhig.

Iwan Fjodorowitsch wurde auf einmal ärgerlich.

»Nein, noch nicht, aber ich werde es bestimmt tun. Du wirst mir jetzt vieles erklären müssen, Freundchen. Und das eine sollst du wissen, mein Lieber: Ich lasse mich nicht zum besten haben!«

»Wozu sollte ich Sie denn zum besten haben, wo ich doch auf Sie allein meine ganze Hoffnung setze, wie auf Gott den Herrn?« erwiderte Smerdjakow mit derselben Ruhe, nur daß er einen Augenblick lang die Augen geschlossen hatte.

»Erstens«, rückte ihm Iwan Fjodorowitsch zu Leibe, »weiß ich, daß man einen epileptischen Anfall nicht vorhersagen kann. Ich habe mich danach erkundigt, versuch nicht erst Ausflüchte! Tag und Stunde kann man nicht vorhersagen. Wie kam es also, daß du mir damals Tag und Stunde vorhergesagt hast, und noch dazu das von dem Keller? Wie konntest du im voraus wissen daß du bei einem Anfall ausgerechnet in diesen Keller fallen würdest – wenn du den Anfall nicht absichtlich simuliert hast?«

»In den Keller mußte ich sowieso gehen, mehrmals an jedem Tag«, antwortete Smerdjakow gedehnt und ohne jede Eile! »Genauso bin ich vor einem Jahr vom Dachboden heruntergefallen. Sicherlich kann man einen epileptischen Anfall nicht auf Tag und Stunde voraussagen, doch ein Vorgefühl kann man immer haben.«

»Aber du hast Tag und Stunde vorausgesagt!«

»Über meine Epilepsie, ob sie echt war oder nicht, werden Sie sich am besten bei den Ärzten erkundigen, gnädiger Herr. Daß ich mit Ihnen weiter über dieses Thema rede, ist zwecklos.«

»Und der Keller? Wie hast du das mit dem Keller vorhergewußt?«

»Immer kommen Sie mit diesem Keller! Als ich damals in den Keller hinunterstieg, hatte ich Angst und Sorgen, Angst besonders deshalb, weil ich Sie nicht mehr in meiner Nähe hatte und mir von niemand mehr Schutz und Hilfe versprechen konnte. Ich stieg also damals in den Keller hinab und dachte: ›Jetzt wird es gleich kommen, jetzt wird es gleich passieren! Werde ich hinunterstürzen oder nicht?‹ Und eben infolge dieser Unruhe packte mich der unvermeidliche Krampf in der Kehle – na, und da fiel ich hinunter. Das alles und mein ganzes Gespräch mit Ihnen am Tag vor dem Verbrechen, als ich Ihnen meine Befürchtungen und auch das von dem Keller mitteilte – das habe ich mit allen Einzelheiten dem Doktor Herzenstube und dem Untersuchungsrichter Nikolai Parfjonowitsch mitgeteilt, und es ist alles zu Protokoll genommen worden. Und der hiesige Arzt, Herr Warwinski, hat im Beisein aller besonders darauf aufmerksam gemacht, daß es eben von diesem Gedanken so gekommen sein muß, das heißt von dieser Besorgnis: Werde ich fallen oder nicht! Deswegen hat mich denn auch der Krampf gepackt. So haben sie es auch niedergeschrieben, daß es so vorgegangen sein müsse, das heißt infolge meiner Besorgnis.«

Nachdem Smerdjakow das gesagt hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus, als sei er von der Anstrengung erschöpft.

»Also das hast du schon bei der Vernehmung ausgesagt?« fragte Iwan Fjodorowitsch etwas verblüfft. Er hatte beabsichtigt, ihn damit zu schrecken, daß er über ihr damaliges Gespräch aussagen wollte, und nun stellte sich heraus, daß der andere es schon selbst getan hatte!

»Was habe ich denn zu fürchten? Sollen sie doch die ganze reine Wahrheit aufschreiben!« sagte Smerdjakow entschieden.

»Und du hast ihnen unser Gespräch am Tor erzählt, ohne etwas wegzulassen?«

»Nein, ganz ohne Auslassungen nicht.«

»Daß du einen epileptischen Anfall simulieren kannst, wie du dich damals mir gegenüber rühmtest, hast du das auch gesagt?«

»Nein, das habe ich nicht gesagt.«

»Sag mir jetzt, warum hast du mir damals zugeredet, nach Tschermaschnja zu fahren?«

»Ich fürchtete, Sie würden nach Moskau fahren. Tschermaschnja war immerhin näher.«

»Du lügst! Du selbst hast mich aufgefordert wegzufahren! Du hast gesagt: ›Fahren Sie weg! Weg von der Sünde!‹«

»Das habe ich damals einzig und allein aus Freundschaft für Sie und aus herzlicher Ergebenheit getan, weil ich ein Unglück im Haus ahnte und Sie mir leid taten. Nur tat ich mir selber noch mehr leid. Darum sagte ich: ›Fahren Sie weg von der Sünde!‹ Denn Sie sollten verstehen, daß zu Hause Unheil drohte, und dableiben, um den Vater zu beschützen.«

»Da hättest du deutlicher sprechen sollen, du Dummkopf!« rief Iwan Fjodorowitsch mit plötzlicher Heftigkeit.

»Wie hätte ich denn damals deutlicher sprechen können? Aus mir sprach ja nur die Angst, und Sie hätten auch wütend werden können. Ich konnte zwar befürchten, daß Dmitri Fjodorowitsch etwas Böses verüben und das Geld stehlen würde, da er es als sein Eigentum betrachtete – aber wer konnte wissen, daß die Sache mit einem Mord endet? Ich dachte, er würde einfach die dreitausend Rubel entwenden, die der Herr in einem Kuvert unter der Matratze liegen hatte, und nun hat er ihn totgeschlagen! Auch Sie hätten das nicht ahnen können, gnädiger Herr!«

»Wenn du also selbst sagst, daß es unmöglich war, das zu ahnen, wie konnte ich es dann ahnen und deswegen hierbleiben? Was redest du für konfuses Zeug?« sagte Iwan Fjodorowitsch nach einigem Nachdenken.

»Sie hätten es schon daraus schließen können, daß ich Ihnen riet, nicht nach Moskau, sondern nur nach Tschermaschnja zu fahren.«

»Wie kann man daraus etwas schließen!«

Smerdjakow schien sehr ermüdet zu sein und schwieg wieder lange.

»Das war aber doch wohl möglich. Wenn ich Sie veranlassen wollte, statt nach Moskau nach Tschermaschnja zu reisen, so war daraus zu ersehen, welchen Wert ich auf Ihre nähere Anwesenheit legte, weil Moskau fern ist und zu erwarten war, daß Dmitri Fjodorowitsch nicht so dreist sein wird, wenn er Sie in der Nähe weiß. Und auch zu meinem eigenen Schutz konnten Sie notfalls schneller dasein, denn ich selbst habe Sie zu diesem Zweck auf Grigori Wassiljewitschs Krankheit hingewiesen und von meiner Angst vor einem epileptischen Anfall gesprochen. Und wenn ich Ihnen von diesen Klopfsignalen erzählt habe, durch die man sich zu dem Verstorbenen Einlaß verschaffen konnte und die Ihr Bruder Dmitri Fjodorowitsch sämtlich von mir erfahren hatte, so habe ich mir gedacht, Sie würden schon selbst auf den Gedanken kommen, daß er sicherlich etwas vorhatte, und würden nicht einmal nach Tschermaschnja fahren, sondern ganz hierbleiben.«

›Er redet durchaus logisch, obwohl er stammelt!‹ dachte Iwan Fjodorowitsch. ›Wie kann Herzenstube da von einer Zerrüttung der geistigen Fähigkeiten sprechen?‹ »Du willst mich überlisten, hol‹ dich der Teufel!« schrie er dann wütend.

»Offen gestanden, ich dachte damals, Sie hätten es schon begriffen«, erwiderte Smerdjakow mit der harmlosesten Miene.

»Wenn ich es begriffen hätte, wäre ich doch hiergeblieben!« rief Iwan Fjodorowitsch, von neuem auffahrend.

»Na, ich glaubte, Sie hätten es begriffen und reisten so schnell wie möglich ab, um von der Sünde wegzukommen. Um nur irgendwohin zu fliehen und sich vor der Angst zu retten.«

»Du dachtest wohl, alle Menschen wären solche Feiglinge wie du?«

»Verzeihen Sie, ich dachte, Sie wären genauso wie ich.«

»Allerdings hätte ich es ahnen müssen«, sagte Iwan erregt! »Und ich vermutete auch, daß irgendeine Schweinerei von deiner Seite dahintersteckte … Aber du lügst, du lügst wieder!« rief er, weil ihm plötzlich etwas einfiel! »Erinnerst du dich, daß du damals an meinen Reisewagen tratest und zu mir sagtest: ›Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil‹? Also hast du dich doch darüber gefreut, daß ich wegfuhr.«

Smerdjakow seufzte einmal und noch einmal. In seinem Gesicht schien sich eine leichte Röte zu zeigen.

»Wenn ich mich freute«, sagte er, etwas mühsam atmend, »so nur deswegen, weil Sie eingewilligt hatten, nicht nach Moskau, sondern nach Tschermaschnja zu fahren. Denn das war immerhin näher. Außerdem sagte ich Ihnen diese Worte nicht als Lob, sondern als Vorwurf. Das haben Sie nicht richtig aufgefaßt.«

»Wieso als Vorwurf?«

»Weil Sie Ihren eigenen Vater verließen und uns nicht schützen wollten, obwohl Sie ein solches Unglück ahnten! Man konnte nämlich auch mich wegen dieser dreitausend Rubel belangen, als ob ich sie gestohlen hätte.«

»Hol‹ dich der Teufel!« schimpfte Iwan wieder! »Sag mal, hast du dem Untersuchungsrichter und dem Staatsanwalt von den Klopfsignalen erzählt?«

»Ich habe alles wahrheitsgemäß angegeben.«

Iwan Fjodorowitsch wunderte sich wieder im stillen.

»Wenn ich damals an etwas dachte«, begann er wieder, »so doch nur an irgendeine Abscheulichkeit von deiner Seite. Dmitri war imstande, einen Totschlag zu begehen; daß er eines Diebstahls fähig wäre, habe ich damals nicht geglaubt. Von deiner Seite aber erwartete ich jede Niedertracht. Du selber hast mir gesagt, du könntest einen epileptischen Anfall simulieren; warum hast du das gesagt?«

»Lediglich aus Offenherzigkeit. Ich habe nie im Leben einen epileptischen Anfall absichtlich simuliert; ich habe nur so gesprochen, um mich vor Ihnen zu rühmen. Aus purer Dummheit. Ich mochte Sie damals sehr und redete zu Ihnen in aller Harmlosigkeit.«

»Mein Bruder beschuldigt dich geradezu, den Mord und den Diebstahl begangen zu haben.«

»Was bleibt ihm auch anderes übrig?« versetzte Smerdjakow bitter lächelnd! »Aber wer wird ihm bei all den belastenden Momenten glauben? Grigori Wassiljewitsch hat die Tür offen gesehen: Was gibt es dagegen für eine Verteidigung? Na, Gott möge ihm verzeihen, er sucht sich in seiner Angst zu retten …«

Er schwieg eine Weile mit ruhiger Miene und fügte dann, als hätte er es sich überlegt, hinzu: »Das ist wieder dieselbe Geschichte. Er will es auf mich abwälzen, so daß es als meine Tat erscheint, das habe ich schon gehört. Aber nehmen Sie schon allein den Umstand, daß ich einen epileptischen Anfall simulieren kann. Hätte ich Ihnen vorher gesagt, daß ich das kann, wenn ich wirklich etwas Böses gegen Ihren Vater im Schilde geführt hätte? Wenn ich einen Mord plante, konnte ich dann so dumm sein, vorher eine mich selbst belastende Aussage zu machen, und noch dazu dem leiblichen Sohn gegenüber? Ich bitte Sie! Hat das die geringste Wahrscheinlichkeit? Das ist, im Gegenteil, vollkommen undenkbar! Sehen Sie, dieses Gespräch jetzt mit Ihnen hört niemand außer der Vorsehung; doch wenn Sie es dem Staatsanwalt und Nikolai Parfjonowitsch mitteilen wollten, könnten Sie mich dadurch entscheidend verteidigen, denn welcher Verbrecher ist vorher so offenherzig? Das alles werden die Herren sehr wohl verstehen können.«

»Hör mal«, sagte Iwan Fjodorowitsch, stand auf und brach das Gespräch ab; Smerdjakows letzte Schlußfolgerung hatte auf ihn einen starken Eindruck gemacht! »Ich habe dich überhaupt nicht im Verdacht und halte es sogar für lächerlich, dich zu beschuldigen … Ich bin dir sogar dankbar, daß du mich beruhigt hast. Jetzt gehe ich, aber ich werde wieder einmal vorbeikommen. Bis dahin lebe wohl, und werde wieder gesund! Brauchst du irgend etwas?«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, aber ich habe alles. Marfa Kondratjewna vergißt mich nicht und versorgt mich mit allem, wenn ich etwas brauche. Sie ist zu mir so gütig wie früher. Es kommen täglich gute Menschen zu mir.«

»Auf Wiedersehen! Ich werde übrigens nichts davon sagen, daß du simulieren kannst. Und auch dir möchte ich raten, nichts darüber auszusagen«, bemerkte Iwan plötzlich aus irgendeinem Grund.

»Ich verstehe. Wenn Sie das nicht angeben, werde auch ich nicht von meinem ganzen Gespräch mit Ihnen damals am Tor berichten.«

Es ergab sich, daß Iwan Fjodorowitsch schnell hinausging und es ihm erst draußen auf dem Korridor zu Bewußtsein kam, daß in Smerdjakows letztem Satz ein beleidigender Sinn enthalten war. Er wollte schon wieder umkehren, doch der Gedanke war nur flüchtig! »Dummheiten«, sagte er vor sich hin, dann verließ er eilig das Krankenhaus. Die Hauptsache war, daß er sich tatsächlich beruhigt fühlte, und zwar gerade durch den Umstand, daß nicht Smerdjakow der Schuldige war, sondern sein Bruder Mitja, obwohl doch das Gegenteil hätte der Fall sein müssen. Warum es so war, das zu überlegen hatte er keine Lust; er empfand sogar einen Widerwillen gegen ein solches Wühlen in seinen Empfindungen. Lieber hätte er dies und jenes so bald wie möglich vergessen. Jedenfalls war er nach einigen Tagen, nachdem er sich näher und gründlicher mit allen Mitja belastenden Momenten bekannt gemacht hatte, vollständig von dessen Schuld überzeugt. Es waren darunter Aussagen ganz einfacher Leute, aber sie wirkten beinahe niederschmetternd, vor allem die Aussagen Fenjas und ihrer Mutter, gar nicht zu reden von Perchotin, von dem Restaurant, von Plotnikows Laden, von den Zeugen in Mokroje. Besonders belasteten ihn auch gewisse Einzelheiten. Die Mitteilung über die geheimen Klopfsignale hatten auf den Untersuchungsrichter und den Staatsanwalt einen fast ebenso starken Eindruck gemacht wie Grigoris Angabe über die offenstehende Tür. Grigoris Frau, Marfa Ignatjewna, erklärte auf Iwan Fjodorowitschs Frage mit aller Bestimmtheit, Smerdjakow habe bei ihnen die ganze Nacht über auf der anderen Seite der Bretterwand gelegen, »keine drei Schritte von unserem Bett entfernt«; sie habe zwar fest geschlafen, sei aber oft aufgewacht und habe gehört, wie er da stöhnte! »Die ganze Zeit stöhnte er, unaufhörlich stöhnte er,« Er hatte eine Unterredung mit Herzenstube und äußerte ihm gegenüber, Smerdjakow komme ihm überhaupt nicht geistig gestört vor, sondern nur körperlich schwach; doch er rief dadurch bei dem alten Mann nur ein feines Lächeln hervor! »Wissen Sie, womit er sich jetzt besonders beschäftigt?« fragte er Iwan Fjodorowitsch! »Er lernt französische Vokabeln auswendig. Unter dem Kopfkissen hat er ein Heft liegen, in das ihm jemand französische Worte mit russischen Buchstaben hineingeschrieben hat, hehehe!« Iwan Fjodorowitsch ließ schließlich alle Zweifel fallen; er konnte an seinen Bruder Dmitri nur noch voller Ekel denken. Nur eines war seltsam: daß Aljoscha immer noch hartnäckig dabei blieb, nicht Dmitri habe den Mord begangen, sondern »mit aller Wahrscheinlichkeit« Smerdjakow. Iwan war sich immer dessen bewußt gewesen, daß Aljoschas Urteil ihm sehr viel galt, daher war er jetzt sehr erstaunt über ihn. Seltsam war auch, daß Aljoscha keine Gelegenheit suchte, mit ihm über Mitja zu sprechen, und selbst nie davon anfing, sondern nur auf seine, Iwans, Fragen antwortete. Übrigens wurde er in dieser Zeit durch etwas ganz anderes abgelenkt. Nach seiner Ankunft aus Moskau hatte er sich in den ersten Tagen rückhaltlos seiner glühenden, sinnlosen Leidenschaft für Katerina Iwanowna hingegeben. Es ist hier nicht der Ort, von dieser neuen Leidenschaft Iwan Fjodorowitschs anzufangen, die für sein ganzes späteres Leben bedeutsam werden sollte; das könnte als Stoff für einen zweiten Roman dienen, von dem ich noch nicht weiß, ob ich ihn jemals in Angriff nehmen werde. Aber eines kann ich auch jetzt nicht verschweigen: Als Iwan Fjodorowitsch mit Aljoscha in der Nacht von Katerina Iwanowna wegging und zu ihm sagte: »Ich mag sie nicht«, log er gewaltig. Er liebte sie unsinnig, obgleich er sie zeitweilig auch dermaßen haßte, daß er sie hätte ermorden können. Es kamen hier viele Ursachen zusammen. Tief erschüttert durch das Ereignis mit Mitja hatte sie sich auf den wieder zu ihr zurückgekehrten Iwan Fjodorowitsch wie auf einen Retter gestürzt. Sie war beleidigt, gekränkt, in ihren Gefühlen gedemütigt. Und da erschien nun wieder der Mensch, der sie früher so geliebt hatte, oh, sie wußte das, und dessen Verstand und Herz sie immer so hoch über sich selbst gestellt hatte. Aber das strengdenkende Mädchen gab sich ihm nicht völlig zum Opfer hin, trotz seines Karamasowschen Ungestüms und des starken Zaubers, den er auf sie ausübte. Sie quälte unaufhörlich die Reue darüber, daß sie Mitja untreu geworden war, und in bösen Augenblicken, wenn sie sich mit Iwan stritt, und solche Augenblicke gab es viele, sagte sie ihm das auch. Das war es, was er in dem Gespräch mit Aljoscha »Unwahrhaftigkeit und Lüge« genannt hatte. Es war allerdings tatsächlich auch viel Unwahrhaftigkeit mit im Spiel, und das war es, was Iwan Fjodorowitsch am meisten aufregte … Doch von alledem später! Kurz, zeitweilig vergaß er Smerdjakow beinahe. Und dennoch begannen ihn zwei Wochen nach seinem ersten Besuch bei Smerdjakow wieder alle jene sonderbaren Gedanken zu peinigen wie früher. Es genügt, wenn ich sage, daß er sich unaufhörlich fragte, warum er damals, in der letzten Nacht, die er vor seiner Abreise in Fjodor Pawlowitschs Haus zubrachte, leise wie ein Dieb auf die Treppe hinausgegangen war und gelauscht hatte, was sein Vater unten tat. Warum hatte er sich später nur angewidert daran erinnert? Warum hatte ihn am anderen Morgen unterwegs eine solche Niedergeschlagenheit überkommen? Und warum hatte er, als er in Moskau ankam, zu sich gesagt: »Ich bin ein Schurke“? Und er stellte sich vor, daß er um dieser quälenden Gedanken willen am Ende sogar Katerina Iwanowna vergessen könnte, mit solcher Stärke hatten sie ihn auf einmal wieder gepackt! Gerade als er darüber nachdachte, begegnete er auf der Straße Aljoscha. Er hielt ihn sofort an und legte ihm ohne weiteren Umstand die Frage vor: »Erinnerst du dich? Als damals nach dem Mittagessen Dmitri ins Haus stürzte und den Vater schlug, damals sagte ich dir auf dem Hof, ich behielte mir das Recht, etwas zu wünschen, vor. Sag mal, hast du damals gedacht, daß ich den Tod des Vaters wünschte, oder hast du es nicht gedacht?«

»Ja, ich habe es gedacht«, antwortete Aljoscha leise.

»Es war übrigens auch so, und war nicht schwer zu erraten. Aber ist dir damals nicht auch der Gedanke gekommen, daß mein Wunsch speziell dahin ging, es sollte ›ein Reptil das andere auffressen‹, das heißt, kein anderer als Dmitri sollte den Vater totschlagen, und zwar so bald wie möglich – wobei ich selbst nicht abgeneigt wäre, dabei Vorschub zu leisten?«

Aljoscha wurde ein wenig blaß und blickte dem Bruder stumm in die Augen.

»Sprich doch!« rief Iwan! »Ich will ganz genau wissen, was du damals gedacht hast. Die Wahrheit will ich hören, die Wahrheit!« Er atmete schwer und starrte Aljoscha schon im voraus böse an.

»Verzeih mir, auch das habe ich damals gedacht«, flüsterte Aljoscha und verstummte, ohne ein milderndes Wort hinzuzufügen.

»Ich danke dir!« antwortete Iwan kurz, ließ Aljoscha stehen und ging mit raschen Schritten davon.

Seitdem bemerkte Aljoscha, daß sich Iwan in schroffer Weise von ihm fernhielt und ihn so gar nicht mehr mochte, so daß er kurz darauf von sich aus die Besuche bei Iwan einstellte. Unmittelbar nach dieser Begegnung mit Aljoscha begab sich Iwan Fjodorowitsch, ohne erst nach Hause zu gehen, plötzlich abermals zu Smerdjakow.

7. Zweiter Besuch bei Smerdjakow

Smerdjakow war damals schon aus dem Krankenhaus entlassen. Iwan Fjodorowitsch kannte seine neue Wohnung in jenem schiefen kleinen Häuschen aus unverschalten Balken, das nur zwei durch einen Flur getrennte Stuben enthielt. In der einen Stube wohnte Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter, in der anderen für sich allein Smerdjakow. Gott weiß, unter welchen Bedingungen er bei ihnen wohnte, ob umsonst oder zur Miete. Später hieß es, er hätte sich als Marja Kondratjewnas Bräutigam bei ihnen niedergelassen und einstweilen gratis gelebt. Mutter wie Tochter schätzten ihn sehr und betrachteten ihn als ein weit über ihnen stehendes Wesen.

Nachdem Iwan Fjodorowitsch geklopft hatte und ihm geöffnet worden war, begab er sich auf Marja Kondratjewnas Weisung direkt in die links gelegene »gute Stube«, die Smerdjakow bewohnte. In dieser Stube stand ein Kachelofen, der jetzt stark geheizt war. Die Wände waren mit himmelblauen, allerdings völlig zerfetzten Tapeten geschmückt, und darunter in den Holzritzen wimmelte es von Schaben in solcher Menge, daß ein unaufhörliches Rascheln zu hören war. Das Mobiliar war nur spärlich: zwei Bänke an den beiden Wänden und zwei Stühle am Tisch. Der Tisch, obwohl nur ein einfacher Holztisch, war mit einer rotgemusterten Decke bedeckt. An den beiden kleinen Fenstern stand ein Blumentopf mit Geranien. In der Ecke war ein Schrein mit Heiligenbildern angebracht. Auf dem Tisch stand ein kleiner, stark verbeulter Samowar aus Messing und ein Präsentierteller mit zwei Tassen. Seinen Tee hatte Smerdjakow jedoch bereits getrunken, und der Samowar war erloschen. Er selbst saß am Tisch auf einer Bank, blickte in ein Heft und schrieb etwas mit der Feder. Ein Fläschchen mit Tinte stand neben ihm, ebenso ein niedriger eiserner Leuchter, letzterer sogar mit Stearinkerze. Iwan Fjodorowitsch sah sofort an Smerdjakows Gesicht, daß er sich von seiner Krankheit wieder völlig erholt hatte. Sein Gesicht war frischer und voller geworden, die Tolle sorgsam in die Höhe gekämmt, die Schläfenhaare pomadisiert. Er saß in einem bunten, wattierten Schlafrock da, der recht schmutzig und abgetragen war. Er trug eine Brille, die Iwan Fjodorowitsch früher an ihm noch nicht gesehen hatte. Dieser unbedeutende Umstand schien Iwan Fjodorowitsch ganz besonders zu ärgern: So eine Kreatur, und trägt eine Brille! – Smerdjakow hob langsam den Kopf und blickte den Eintretenden durch die Brille unverwandt an; dann nahm er sie ruhig ab und erhob sich von der Bank, aber durchaus nicht sehr respektvoll, sondern ziemlich lässig, nur um die allernotwendigste Höflichkeit zu wahren, ohne die es nun einmal nicht geht. Alles das bemerkte Iwan Fjodorowitsch augenblicklich und verstand es sofort. Doch die Hauptsache war Smerdjakows Blick, der zu sagen schien: ›Warum belästigst du mich schon wieder? Wir haben uns doch damals über alles ausgesprochen, warum bist du noch einmal zu mir gekommen?‹ Iwan Fjodorowitsch beherrschte sich nur mit Mühe.

»Es ist heiß bei dir«, sagte er noch im Stehen und knöpfte sich den Überzieher auf.

»Legen Sie doch ab!« sagte Smerdjakow, als erteilte er eine Erlaubnis.

Iwan Fjodorowitsch zog den Überzieher aus und warf ihn auf eine Bank, griff mit zitternden Händen nach einem Stuhl, rückte ihn hastig an den Tisch und setzte sich. Smerdjakow hatte sich schon vorher wieder auf seiner Bank niedergelassen.

»Erstens – sind wir allein?« fragte Iwan Fjodorowitsch streng und nachdrücklich! »Kann uns niemand hören?«

»Niemand. Sie haben ja selbst gesehen: der Flur ist dazwischen.«

»Hör mal zu, Freundchen. Was hast du für einen Unsinn geredet, als ich aus dem Krankenhaus wegging von dir? Daß auch du dem Untersuchungsrichter nicht unser ganzes Gespräch am Tor mitteilst, wenn ich deine Fähigkeit, einen epileptischen Anfall zu simulieren, verschweige? Was sollte das heißen: nicht das ganze Gespräch? Was hast du damit gemeint? War das etwa eine Drohung, wie? Als ob ich mit dir eine Art Bündnis geschlossen hätte und mich vor dir fürchtete, wie?«

Iwan Fjodorowitsch sagte das in voller Wut, wobei er klar und absichtlich zu verstehen gab, daß er alle Winkelzüge und listigen Manöver verachte und offenes Spiel spielen wolle. Smerdjakows Augen funkelten boshaft, und sein linkes Auge zwinkerte; auf diese Weise gab er, obwohl seiner Gewohnheit gemäß ruhig und gemessen, gleich die wortlose Antwort: ›Du willst ein offenes Verfahren? Nun gut, das kannst du haben!‹

»Was ich damals gemeint habe und weswegen ich das gesagt habe, ist folgendes: Daß Sie ihren Vater, obwohl Sie seine Ermordung ahnten, damals als Opfer im Stich ließen und wegreisten, damit die Leute nicht zu üblen Schlußfolgerungen über Ihre Gefühle und vielleicht auch noch über etwas anderes gelangten. Das ist es, wovon ich Ihnen damals versprach, daß ich es den Behörden nicht mitteilen würde.«

Smerdjakow sagte das zwar langsam und offenbar auch mit Selbstbeherrschung; trotzdem war seiner Stimme schon eine gewisse Hartnäckigkeit, etwas Boshaftes und Herausforderndes anzuhören. Dreist starrte er Iwan Fjodorowitsch an, diesem flimmerte es im ersten Moment vor Erstaunen vor den Augen.

»Wie?« rief er! »Was? Bist du verrückt geworden?«

»Ich bin durchaus bei vollem Verstand.«

»Habe ich damals etwa von dem Mord gewußt?« schrie Iwan Fjodorowitsch endlich und schlug mit der Faust heftig auf den Tisch! »Was heißt das: ›Noch über etwas anderes‹? Rede, du Schurke!«

Smerdjakow schwieg und starrte Iwan Fjodorowitsch weiterhin frech an.

»Rede, du stinkende Kanaille! Was meinst du damit. ›Noch über etwas anderes‹?« brüllte er.

»Damit meinte ich, daß Sie am Ende auch selber den Tod Ihres Vaters wünschten.«

Iwan Fjodorowitsch sprang auf und schlug ihn so heftig mit der Faust auf die Schulter, daß er gegen die Wand taumelte. Im nächsten Augenblick war Smerdjakows Gesicht tränenübergossen und schien auszudrücken: ›Schämen Sie sich, mein Herr, einen schwachen Menschen zu schlagen!‹ Er bedeckte die Augen mit seinem blaukarierten, vollgeschneuzten Baumwolltaschentuch und weinte still vor sich hin. So verging etwa eine Minute.

»Nun genug! Hör auf!« sagte Iwan Fjodorowitsch endlich gebieterisch und setzte sich wieder auf seinen Stuhl! »Bring mich nicht um den letzten Rest meiner Geduld!«

Smerdjakow nahm seinen Lappen von den Augen. Jeder Zug seines runzligen Gesichts drückte Kränkung aus.

»Also du Schuft dachtest, ich wollte gemeinsam mit Dmitri den Vater ermorden?«

»Ihre damaligen Gedanken kannte ich nicht«, sagte Smerdjakow mit beleidigter Miene! »Darum hielt ich Sie damals am Tor auf, um Sie über diesen Punkt auszuforschen.«

»Was wolltest du erforschen? Was?«

»Eben diesen Punkt. Ob Sie die Ermordung Ihres Vaters wünschten oder nicht wünschten.«

Was Iwan Fjodorowitsch am meisten empörte, war der freche Ton, den Smerdjakow hartnäckig beibehielt.

»Du hast ihn ermordet!« rief er plötzlich.

Smerdjakow lächelte geringschätzig.

»Daß ich ihn nicht ermordet habe, wissen Sie selber ganz genau. Ich hatte geglaubt, ein kluger Mensch würde es für überflüssig halten, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.«

»Aber warum, warum ist dir damals so ein Verdacht gegen mich in den Sinn gekommen?«

»Wie Ihnen schon bekannt ist, einzig und allein aus Angst. Ich befand mich damals in einer solchen Lage, daß ich, vor Angst zitternd, alle Menschen verdächtigte. Auch Sie beschloß ich auszuforschen; denn ich dachte, falls Sie denselben Wunsch haben sollten wie Ihr Bruder, dann wäre ohnehin alles entschieden, und ich selbst würde mit umkommen wie eine Fliege.«

»Hör mal, vor zwei Wochen hast du das nicht gesagt!«

»Genau dasselbe habe ich auch im Krankenhaus in dem Gespräch mit Ihnen gemeint; nur nahm ich an, daß Sie mich auch ohne überflüssige Worte verstehen würden, und als ein kluger Mensch kein offenes Gespräch wünschten!«

»Nun sieh mal einer an! Aber antworte, antworte, ich will alles wissen! Wodurch habe ich eigentlich in deiner Schurkenseele diesen meiner so unwürdigen Verdacht erwecken können?«

»Selbst den Mord zu begehen – das hätten Sie um keinen Preis fertiggebracht, und das wollten Sie auch nicht. Aber daß ein anderer den Mord beging, das wollten Sie.«

»Und mit welcher Ruhe er das sagt! Warum hätte ich das wünschen sollen? Welchen Anlaß hatte ich, das zu wünschen?«

»Welche Frage! Die Erbschaft!« erwiderte Smerdjakow giftig, ja rachsüchtig! »Sie erbten ja dann zu dritt die Hinterlassenschaft Ihres Vaters, so daß jedem beinahe vierzigtausend Rubel zufielen, vielleicht sogar noch mehr. Hätte aber Fjodor Pawlowitsch damals diese Dame, Agrafena Alexandrowna, geheiratet, hätte die gleich nach der Trauung das ganze Kapital auf sich übertragen lassen, denn sie ist ja eine kluge Person, so daß die drei Brüder zusammen nicht einmal zwei Rubel von der Erbschaft bekommen hätten. Und wieviel fehlte denn damals an der Eheschließung? Nur ein Haarbreit. Diese Dame brauchte nur mit dem kleinen Finger so zu machen, dann wäre er sofort mit heraushängender Zunge hinter ihr her zur Kirche gelaufen.«

Iwan Fjodorowitsch beherrschte sich mit mühsamer Anstrengung! »Nun gut«, sagte er endlich, »du siehst, ich bin nicht aufgesprungen, habe dich nicht verprügelt und nicht totgeschlagen … Rede weiter. Ich habe also deiner Ansicht nach meinen Bruder Dmitri dazu ausersehen und auf ihn gerechnet?«

»Wie hätten Sie denn nicht auf ihn rechnen sollen? Wenn er den Mord verübte, verlor er ja alle Adelsrechte, seinen Rang und sein Vermögen und wurde nach Sibirien verschickt. Dann fiel sein Teil der Erbschaft Ihnen und Ihrem Bruder Alexej Fjodorowitsch zu gleichen Teilen zu; jeder von ihnen bekam also nicht vierzigtausend, sondern sechzigtausend Rubel. Also haben Sie sicherlich auf Dmitri Fjodorowitsch gerechnet!«

»Na, ich lasse mir viel von dir gefallen! Hör zu, du Taugenichts: Wenn ich damals auf jemand gerechnet hätte, so natürlich auf dich und nicht auf Dmitri! Ich muß schon sagen, ich traute dir damals durchaus irgendwelche Schurkereien zu … Ich erinnere mich, welchen Eindruck du auf mich gemacht hast!«

»Auch ich habe damals einen Augenblick lang gedacht, daß Sie auch auf mich rechneten«, erwiderte Smerdjakow mit spöttischem Lächeln! »Und eben dadurch haben Sie sich damals noch mehr vor mir enthüllt! Denn wenn Sie mir so etwas zutrauten und trotzdem wegfuhren, so sagten Sie mir ja dadurch gewissermaßen: Du kannst den Vater totschlagen, ich bin dir nicht hinderlich.«

»Schurke! So hast du das aufgefaßt?«

»Und alles wegen dieses Tschermaschnja. Ich bitte Sie! Sie beabsichtigen, nach Moskau zu reisen, und schlagen alle Bitten Ihres Vaters ab, doch lieber nach Tschermaschnja zu fahren. Und auf ein einziges dummes Wort von mir erklären Sie sich auf einmal einverstanden! Wozu brauchten Sie denn damals in die Fahrt nach Tschermaschnja einzuwilligen? Wenn Sie nämlich nicht nach Moskau, sondern ohne Grund nach Tschermaschnja fuhren, nur infolge eines Wortes, das ich gesagt hatte, so erwarteten Sie doch offenbar etwas von mir!«

»Nein, ich schwöre es, nein! » schrie Iwan zähneknirschend.

»Wie können Sie da nein sagen! Es wäre doch vielmehr in der Ordnung gewesen, wenn Sie als der Sohn Ihres Vaters mich für meine Worte zuallererst auf die Polizei gebracht hätten und mich hätten auspeitschen lassen … Oder wenn Sie mir wenigstens gleich auf der Stelle ein paar in die Schnauze gehauen hätten. Aber ich bitte Sie – im Gegenteil, Sie wurden nicht im geringsten zornig, sondern handelten sofort ganz genau nach meinen sehr dummen Worten und fuhren dorthin, was doch ganz ungereimt war! Es hätte sich nämlich gehört, daß Sie hiergeblieben wären, um das Leben Ihres Vaters zu schützen … Wie hätte ich daraus nicht meine Schlüsse ziehen sollen?«

Iwan saß mit finsterem Gesicht da und stützte krampfhaft beide Fäuste auf die Knie.

»Ja, schade, daß ich dir nicht ein paar in die Schnauze gegeben habe«, sagte er, bitter lächelnd! »Dich damals auf die Polizei zu schleppen war nicht ratsam, wer hätte mir geglaubt, und worauf hätte ich mich berufen können? Na, aber ein paar in die Schnauze … Leider habe ich nicht daran gedacht, das ist zwar verboten, aber ich hätte dir doch deine Fratze zu Brei schlagen sollen!«

Smerdjakow betrachtete ihn mit wahrem Genuß.

»Unter gewöhnlichen Umständen«, sagte er in jenem selbstzufriedenen, lehrhaften Ton, in dem er ehemals an Fjodor Pawlowitschs Tisch mit Grigori Wassiljewitsch über den Glauben disputiert und ihn gehänselt hatte, »unter gewöhnlichen Umständen ist es heutzutage allerdings gesetzlich verboten, jemanden in die Schnauze zu schlagen, und niemand tut das mehr. Na, aber unter außerordentlichen Umständen wird nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt, selbst wo die vollste französische republikanische Freiheit herrscht, immer noch geschlagen wie zu Adams und Evas Zeiten, und das wird auch nie aufhören. Sie jedoch haben es damals auch unter so außerordentlichen Umständen nicht gewagt.«

»Wozu lernst du denn französische Vokabeln?« fragte Iwan und deutete mit dem Kopf auf die Hefte auf dem Tisch.

»Warum sollte ich sie nicht lernen, um meine Bildung zu vervollständigen? Ich denke, daß es vielleicht auch mir noch einmal beschieden sein wird, in jenen glücklichen Gegenden Europas zu leben.«

»Paß auf, du Scheusal!« sagte Iwan; seine Augen funkelten, und er zitterte am ganzen Körper! »Ich fürchte deine Beschuldigungen nicht. Sag gegen mich aus, was du willst! Und wenn ich dich nicht gleich jetzt totgeprügelt habe, so nur deswegen nicht, weil ich dich im Verdacht habe, das Verbrechen begangen zu haben, und dich vor Gericht ziehen werde. Ich werde dich schon entlarven.«

»Aber meiner Ansicht nach werden Sie besser schweigen. Denn was können Sie gegen mich bei meiner völligen Unschuld vorbringen? Und wer wird Ihnen glauben? Sollten Sie jedoch damit anfangen, werde auch ich alles erzählen, denn warum sollte ich mich nicht verteidigen?«

»Meinst du, daß ich dich jetzt fürchte?«

»Mag man auch bei Gericht allem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, keinen Glauben schenken – das Publikum wird es doch tun, und Sie werden sich schämen müssen.«

»Das bedeutet wohl wieder: ›Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil‹, wie?« fragte Iwan zähneknirschend.

»Da haben Sie es ganz genau getroffen. Also, seien Sie denn auch klug!«

Zitternd vor Empörung stand Iwan Fjodorowitsch auf, zog seinen Überzieher an und verließ schnell die Stube und das Haus, ohne Smerdjakow noch weiter zu antworten oder ihn auch nur anzusehen. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Am Himmel schien hell der Mond. Ein beängstigendes Chaos von Gedanken und Gefühlen brodelte in seiner Seele. ›Soll ich gleich hingehen und Smerdjakow anzeigen? Aber was soll ich gegen ihn vorbringen? Er ist ja unschuldig. Er wird im Gegenteil mich anklagen. In der Tat, warum bin ich damals nach Tschermaschnja gefahren? Warum, ja warum?‹ fragte sich Iwan Fjodorowitsch. ›Ja, allerdings, ich erwartete etwas, da hat er recht …‹ Und er erinnerte sich zum hundertstenmal, wie er in der letzten Nacht beim Vater von der Treppe aus gehorcht hatte; und diese Erinnerung war jetzt mit einer solchen Qual für ihn verbunden, daß er wie von einem Dolchstoß getroffen stehenblieb. ›Ja, ich habe das damals erwartet, das ist wahr! Ich wollte den Mord, wollte ihn geradezu! Wollte ich den Mord, wollte ich ihn wirklich? Ich muß Smerdjakow totschlagen! Wenn ich es jetzt nicht wage, Smerdjakow totzuschlagen, hat das Leben für mich keinen Wert mehr!‹ Ohne in seiner Wohnung vorbeizugehen, begab sich Iwan Fjodorowitsch dann geradewegs zu Katerina Iwanowna und erschreckte sie durch sein Benehmen; er war wie von Sinnen. Er berichtete ihr sein ganzes Gespräch mit Smerdjakow, vollständig, bis in die geringste Einzelheit, und konnte sich gar nicht beruhigen, wie sehr sie ihn auch zu beschwichtigen suchte; immerzu lief er im Zimmer auf und ab und führte seltsame, zusammenhanglose Reden.

Zuletzt setzte er sich hin, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und sprach folgende seltsamen Sätze aus: »Wenn nicht Dmitri den Mord begangen hat, sondern Smerdjakow, bin ich natürlich mit ihm solidarisch, denn ich habe ihn angestiftet. Ob ich ihn angestiftet habe, weiß ich noch nicht. Doch wenn er den Mord begangen hat und nicht Dmitri, dann bin natürlich auch ich ein Mörder.«

Als Katerina Iwanowna das hörte, stand sie schweigend von ihrem Platz auf, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine daraufstehende Schatulle, nahm ein Blatt Papier heraus und legte es vor Iwan hin. Dieses Blatt Papier war jenes Schriftstück, von dem Iwan Fjodorowitsch später zu Aljoscha sagte, es beweise mit mathematischer Sicherheit, daß ihr Bruder Dmitri den Vater ermordet habe. Es war ein Brief, den Mitja in betrunkenem Zustand Katerina Iwanowna an jenem Abend geschrieben hatte, als er Aljoscha, der nach der Szene zwischen Katerina Iwanowna und Gruschenka ins Kloster zurückkehrte, auf dem Feld begegnet war. Als Mitja sich damals von Aljoscha getrennt hatte, war er zu Gruschenka geeilt. Ob er sie gesprochen hat, ist unbekannt; spätabends, war er jedenfalls im Restaurant »Zur Residenz« erschienen und hatte sich dort gehörig betrunken. In diesem Zustand hatte er sich Feder und Papier geben lassen und ein wichtiges Beweisstück gegen sich selbst niedergeschrieben. Es war ein rasender, redseliger, unzusammenhängender Brief, eben das, was man einen »betrunkenen« Brief nennt: ähnlich, wie wenn ein Betrunkener bei der Rückkehr nach Hause seiner Frau oder einem Hausgenossen sehr hitzig erzählt, daß man ihn soeben beleidigt habe und was für ein Schuft der Beleidiger und was für ein prächtiger Mensch demgegenüber er selbst sei und daß er es diesem Schuft heimzahlen werde – und das alles in nicht abreißender Rede, zusammenhanglos und aufgeregt, untermalt von Faustschlägen auf den Tisch und vielen Tränen der Betrunkenheit. Das Papier zu diesem Brief, das man ihm im Restaurant gegeben hatte, war ein schmutziges Stück gewöhnlichen, minderwertigen Schreibpapiers; auf der Rückseite stand irgendeine Rechnung. Für die Redseligkeit des Betrunkenen hatte der Raum offenbar nicht ausgereicht, und Mitja hatte nicht nur alle Ränder vollgeschrieben, sondern die letzten Zeilen waren sogar quer über das bereits Geschriebene geschmiert. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:

»Verhängnisvolle Katja! Morgen werde ich mir Geld beschaffen und Dir Deine dreitausend Rubel wiedergeben, und dann leb wohl, Du, die Du eines so gewaltigen Zornes fähig bist, aber auch meiner Liebe sage ich dann Lebewohl! Machen wir ein Ende! Morgen werde ich mir bei allen möglichen Leuten das Geld zu beschaffen versuchen, falls mir das jedoch nicht gelingt, dann, darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort, werde ich zu meinem Vater gehen und ihm den Schädel einschlagen und ihm das Geld unter seinem Kopfkissen wegnehmen, sobald Iwan abgereist ist. Und wenn ich zur Zwangsarbeit nach Sibirien muß – die dreitausend Rubel werde ich Dir zurückgeben! Du selbst aber lebe wohl! Ich verbeuge mich vor Dir bis zur Erde, denn ich habe mich Dir gegenüber wie ein Schuft benommen. Verzeih mir! Nein, verzeih mir lieber nicht, dann wird mir und Dir leichter zumute sein! Lieber die Zwangsarbeit als Deine Liebe, denn ich liebe eine andere! Du aber hast sie heute allzusehr kennengelernt, wie kannst Du verzeihen! Ich werde den totschlagen, der mich bestohlen hat. Ich werde von euch allen nach dem Osten weggehen, um niemand mehr zu kennen. Auch sie will ich nicht mehr kennen, denn nicht allein Du quälst mich, sondern auch sie. Lebe wohl!

P. S. Ich schreibe einen Fluch, doch ich bete Dich an! Das fühle ich in meiner Brust. Da ist noch eine Saite übriggeblieben, und die tönt. Am besten schneide ich mein Herz mittendurch. Ich werde mich töten, vorher aber jenen Hund. Ich werde ihm die dreitausend Rubel entreißen und sie Dir hinwerfen. Ich habe mich Dir gegenüber zwar wie ein Schuft benommen, trotzdem bin ich kein Dieb! Erwarte die dreitausend Rubel! Sie liegen bei dem Hund unter der Matratze, mit einem rosa Bändchen umwickelt. Ich bin kein Dieb, sondern ich töte den, der mich bestohlen hat. Katja, mach kein verächtliches Gesicht: Dmitri ist kein Dieb, sondern ein Mörder! Er hat seinen Vater totgeschlagen und sich zugrunde gerichtet, um aufrecht stehen zu können und Deinen Stolz nicht ertragen zu müssen. Und um Dich nicht lieben zu müssen.

PP. S. Ich küsse Deine Füße, lebe wohl!

PP. SS. Katja, bete zu Gott, daß mir diese Leute das Geld geben. Dann werde ich kein Blut vergießen. Geben Sie es mir aber nicht, dann vergieße ich Blut. Töte mich!

Dein Sklave und Feind D. Karamasow.«

Als Iwan dieses Schriftstück gelesen hatte, stand er überzeugt auf. Also hatte sein Bruder den Mord begangen und nicht Smerdjakow. Und wenn Smerdjakow nicht, dann auch er, Iwan nicht. Dieser Brief erlangte in seinen Augen sofort die Bedeutung eines unwiderleglichen Beweises. An Mitjas Schuld konnte für ihn nun kein Zweifel mehr bestehen. Beiläufig gesagt: daß Mitja den Mord gemeinsam mit Smerdjakow begangen haben könnte, diesen Verdacht hatte Iwan niemals gehegt; das paßte auch nicht zu den Tatsachen. Iwan war vollständig beruhigt. Am anderen Morgen erinnerte er sich nur mit Geringschätzung an Smerdjakow und dessen Spottreden. Ein paar Tage darauf wunderte er sich sogar darüber, daß er dessen Verdächtigungen so qualvoll als beleidigend empfunden hatte. Er nahm sich vor, ihn zu verachten und zu vergessen. So verging ein Monat. Nach Smerdjakow erkundigte er sich bei niemand mehr; er hörte nur ein paarmal flüchtig, daß dieser sehr krank und nicht mehr voll bei Verstand sei! »Er wird im Wahnsinn enden«, hatte der junge Arzt Warwinski einmal gesagt, und Iwan entsann sich dieses Ausspruchs. In der letzten Woche dieses Monats fing Iwan selbst an, sich unwohl zu fühlen. Er war auch schon zu einer Konsultation zu dem Moskauer Arzt gegangen, den Katerina Iwanowna hatte kommen lassen und der kurz vor der Gerichtsverhandlung eingetroffen war. Gerade in dieser Zeit hatten sich seine Beziehungen zu Katerina Iwanowna zugespitzt. Die beiden waren sozusagen zwei ineinander verliebte Feinde. Katerina Iwanownas Rückfälle in ihre Liebe zu Mitja, die zwar immer nur von kurzer Dauer, aber sehr stark waren, hatten Iwan bereits in Raserei versetzt. Merkwürdig, bis zu jener letzten Szene bei Katerina Iwanowna, als Aljoscha in Mitjas Auftrag zu ihr gekommen war, hatte er, Iwan, in dem ganzen Monat von ihr kein einziges Mal einen Zweifel an Mitjas Schuld gehört, trotz ihrer ihm so verhaßten »Rückfälle«. Und noch eines war bemerkenswert: Er fühlte, daß er Mitja mit jedem Tag mehr haßte, und erkannte gleichzeitig, daß es nicht wegen der »Rückfälle« Katjas war, sondern weil er den Vater totgeschlagen hatte! Das fühlte er und war sich dessen vollständig bewußt. Und dennoch ging er zehn Tage vor der Gerichtsverhandlung zu Mitja und legte ihm einen Fluchtplan vor, den er offenbar schon lange überdacht hatte. Außer der Hauptursache, die ihn zu diesem Schritt veranlaßte, war noch eine nicht vernarbte Wunde in seinem Herzen mit im Spiel, eine Wunde, die von der Bemerkung Smerdjakows herrührte, es sei für ihn, Iwan, vorteilhaft, wenn sein Bruder verurteilt würde: dann erhöhe sich sein und Aljoschas Anteil an der Hinterlassenschaft des Vaters von je vierzigtausend auf je sechzigtausend Rubel. Er beschloß daher, seinerseits dreißigtausend Rubel zu opfern, um seinem Bruder Mitja die Flucht zu ermöglichen. Nach seiner Rückkehr von ihm war er sehr traurig und verstört; es war ihm auf einmal zu Bewußtsein gekommen, daß er die Flucht nicht nur deswegen wünschte, um dafür dreißigtausend Rubel zu opfern und so seine Wunde zu heilen, sondern auch noch aus einem anderen Grund. ›Wünsche ich sie deswegen, weil ich im Grunde meiner Seele ein ebensolcher Mörder bin?‹ fragte er sich selbst. Etwas Fernliegendes, Brennendes quälte seine Seele. Vor allen Dingen aber hatte in diesem Monat sein Stolz furchtbar gelitten – doch davon später. Als Iwan Fjodorowitsch nach seinem Gespräch mit Aljoscha schon den Klingelgriff an seiner Wohnung berührt und sich dann doch entschlossen hatte, zu Smerdjakow zu gehen, hatte er einem plötzlich aufsteigendem Gefühl des Unwillens gehorcht. Er hatte sich auf einmal erinnert, wie Katerina Iwanowna ihm soeben in Aljoschas Gegenwart zugerufen hatte: »Nur du allein hast mich zu der Überzeugung gebracht, daß Mitja der Mörder ist!« Bei diesem Gedanken erstarrte Iwan: Nie in seinem Leben hatte er sie zu überzeugen versucht, daß Mitja der Mörder sei; vielmehr hatte er sich damals, von Smerdjakow zurückgekehrt, sogar selbst vor ihr verdächtigt. Im Gegenteil, sie war es gewesen, die ihm damals das Schriftstück vorgelegt und dadurch die Schuld des Bruders bewiesen hatte! Und nun hatte sie auf einmal ausgerufen: »Ich bin selber bei Smerdjakow gewesen!« Wann war sie dagewesen? Iwan wußte nichts davon. Also war sie gar nicht so fest von Mitjas Schuld überzeugt! Und was hatte Smerdjakow ihr sagen können? Und was hatte er ihr wirklich gesagt? Ein schrecklicher Zorn überkam ihn. Er begriff nicht, wie er vor einer halben Stunde diese Worte hatte anhören können, ohne sofort dagegen zu protestieren. Er ließ den Klingelgriff los und machte sich auf den Weg zu Smerdjakow. ›Vielleicht werde ich ihn diesmal totschlagen!‹ dachte er unterwegs.

8. Dritter und letzter Besuch bei Smerdjakow

Er hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sich ein scharfer, trockener Wind erhob, ein Wind wie am Morgen des Tages, und feinen, dichten, trockenen Schnee herabschüttete. Der Schnee fiel auf die Erde, ohne an ihr zu haften; der Wind wirbelte ihn wieder in die Höhe, und bald bildete sich ein richtiger Schneesturm heraus. In dem Stadtteil, wo Smerdjakow wohnte, gibt es bei uns fast keine Laternen. Iwan Fjodorowitsch lief durch die Dunkelheit, ohne den Schneesturm zu beachten, instinktiv seinen Weg suchend. Der Kopf tat ihm weh, und das Blut hämmerte ihm schmerzhaft in den Schläfen, in den Händen fühlte er einen Krampf. Er hatte Marja Kondratjewnas Häuschen noch nicht ganz erreicht, als er vor sich einen einsamen Betrunkenen bemerkte, einen nicht sehr großen Bauern in einem zerlumpten Kittel. Der Bauer ging im Zickzack, brummte vor sich hin und schimpfte; doch auf einmal hörte er auf zu schimpfen und begann mit heiserer, trunkener Stimme zu singen:

»Ach, mein Wanka ging nach Piter,
und er kommt so bald nicht wieder …«

Nach dieser zweiten Zeile brach er immer ab und begann wieder über irgend etwas zu schimpfen; darauf stimmte er dann wieder dasselbe Lied an. Iwan Fjodorowitsch war schon seit einer Weile wütend auf ihn, ohne daß er eigentlich richtig an den armen Kerl gedacht hätte; plötzlich aber wurde er bewußt auf ihn aufmerksam, und sogleich packte ihn ein unwiderstehliches Verlangen, den Bauern durch einen Faustschlag zu Boden zu schmettern. Als er ihn eingeholt hatte, prallte der Bauer, der stark schwankte, mit voller Kraft gegen Iwan. Der stieß ihn wütend zurück. Der Bauer taumelte ein paar Schritte und fiel wie ein Klotz auf die hartgefrorene Erde; er stöhnte nur einmal schmerzlich auf und war dann still. Iwan trat zu ihm. Er lag mit dem Gesicht nach unten da, regungslos und ohne Bewußtsein. ›Sicher wird er erfrieren‹, dachte Iwan und setzte seinen Weg zu Smerdjakow fort.

Marja Kondratjewna, die mit einem Licht in der Hand herauskam, um zu öffnen, flüsterte ihm schon auf dem Flur zu, Pawel Fjodorowitsch, also Smerdjakow, sei sehr krank; er liege zwar nicht im Bett, scheine aber nicht ganz bei Verstand zu sein; auch seinen Tee habe er nicht trinken wollen, sondern ihn wieder hinaustragen lassen.

»Und tobt er etwa auch?« fragte Iwan Fjodorowitsch barsch.

»Nicht doch, im Gegenteil, er ist ganz still. Aber reden Sie mit ihm nur nicht allzu lange!« bat Marja Kondratjewna.

Iwan Fjodorowitsch öffnete die Tür und ging in die Stube.

Geheizt war dort ebenso stark wie das erstemal; in der Stube waren jedoch mehrere Veränderungen eingetreten. Eine der Seitenbänke war hinausgetragen worden, und an ihrer Stelle stand ein großes, altes Ledersofa mit imitiertem Mahagoni. Darauf war ein Bett zurechtgemacht, dessen weiße Kissen ziemlich sauber waren. Auf dem Bett saß Smerdjakow, wieder in demselben Schlafrock. Der Tisch war vor das Sofa gerückt, so daß es in der Stube sehr eng geworden war. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch mit gelbem Umschlag. Smerdjakow las aber nicht darin; er schien untätig dazusitzen. Er empfing Iwan Fjodorowitsch mit einem langen, stummen Blick und wunderte sich offenbar gar nicht über dessen Kommen. Im Gesicht hatte er sich sehr verändert; er war mager und gelb geworden, und seine Augen waren eingesunken und hatten blaue Ränder.

»Bist du ernstlich krank?« fragte Iwan Fjodorowitsch! »Ich werde dich nicht lange aufhalten und nicht einmal den Überzieher ablegen. Wo kann man sich denn bei dir setzen?«

Er ging zum anderen Ende des Tisches, rückte einen Stuhl an den Tisch und setzte sich.

»Warum siehst du mich so stumm an? Ich bin nur mit einer Frage hergekommen, und ich schwöre dir, ich werde dich nicht verlassen, bevor ich eine Antwort erhalten habe! Ist Fräulein Katerina Iwanowna bei dir gewesen?«

Smerdjakow schwieg lange und starrte Iwan weiterhin still an; doch machte er auf einmal eine wegwerfende Handbewegung und wandte das Gesicht ab.

»Was hast du?« rief Iwan.

»Nichts.«

»Was ist das für eine Antwort?«

»Na ja, sie ist hiergewesen. Aber das kann Ihnen doch ganz gleichgültig sein. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Nein, ich werde dich nicht in Ruhe lassen! Rede, wann ist sie hiergewesen?«

»Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern«, sagte Smerdjakow mit einem verächtlichen Lächeln, wandte plötzlich sein Gesicht wieder Iwan zu und warf einen wütenden und haßerfüllten Blick auf ihn, genauso wie bei Iwans Besuch vor einem Monat.

»Sie scheinen ja selber krank zu sein. Was sind Sie mager geworden! Ihr Gesicht sieht ganz entstellt aus!« sagte er zu Iwan.

»Laß mein Befinden beiseite und antworte auf das, wonach du gefragt wirst.«

»Woher sind bloß Ihre Augen so gelb geworden? Die Augäpfel sehen ja ganz gelb aus. Sie quälen sich wohl sehr mit bösen Gedanken?«

Er lächelte herablassend und lachte dann auf einmal laut los.

»Hör mal, ich habe dir gesagt, daß ich dich ohne eine Antwort nicht verlassen werde!« rief Iwan überaus erregt.

»Warum setzen Sie mir so zu? Warum quälen Sie mich?« sagte Smerdjakow mit schmerzerfüllter Miene.

»Hol‹ dich der Teufel! Deine Person ist mir ganz gleichgültig. Antworte auf meine Frage, und ich werde sofort gehen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu antworten!« erwiderte Smerdjakow und schlug die Augen wieder zu Boden.

»Ich versichere dir, daß ich dich zwingen werde, zu antworten!«

»Warum beunruhigen Sie sich denn immerzu?« antwortete Smerdjakow und sah ihn wieder an, jetzt aber nicht nur verächtlich, sondern beinahe schon angeekelt! »Etwa weil morgen die Gerichtsverhandlung stattfindet? Es wird Ihnen ja nichts passieren, glauben Sie das doch endlich! Gehen Sie nach Hause, legen Sie sich ruhig schlafen, und haben Sie keine Angst!«

»Ich verstehe dich nicht … Was sollte ich denn morgen zu fürchten haben?« fragte Iwan erstaunt, und auf einmal wehte ihn wirklich ein kalter Schauder an.

Smerdjakow musterte ihn lange.

»Sie ver-ste-hen nicht?« erwiderte er gedehnt in vorwurfsvollem Ton! »Wie kann es nur einem klugen Menschen Spaß machen, so eine Komödie aufzuführen?«

Iwan blickte ihn schweigend an. Schon der überraschende, unerhört hochmütige Ton, in dem sein früherer Diener jetzt mit ihm verkehrte, war ungewöhnlich. Dieses Tones hatte er sich sogar das vorige Mal nicht bedient.

»Ich sage Ihnen, Sie haben nichts zu fürchten. Ich werde nichts gegen Sie aussagen, also wird gegen Sie nichts Belastendes vorliegen. Nun sehen Sie bloß, wie Ihnen die Hände zittern! Warum fahren denn Ihre Finger so hin und her? Gehen Sie nach Hause – Sie haben den Mord nicht begangen.«

Iwan zuckte zusammen, ihm fielen Aljoschas Worte ein.

»Ich weiß, daß ich ihn nicht …«, begann er.

»Das wis-sen Sie?« unterbrach ihn Smerdjakow.

Iwan sprang auf und packte ihn an der Schulter! »Sag alles, du ekelhaftes Subjekt! Sag alles!«

Smerdjakow war nicht im mindesten erschrocken. Er blickte ihn nur mit wildem Haß unverwandt an.

»Na, wenn ich alles sagen soll: Sie haben den Mord begangen, Sie!« flüsterte er ihm böse zu.

Iwan ließ sich auf den Stuhl zurücksinken und tat, als überlegte er etwas; dabei lächelte er boshaft.

»Du redest immer noch von dem, worüber wir das vorige Mal sprachen?«

»Als Sie das vorige Mal vor mir standen, verstanden Sie alles, und jetzt verstehen Sie es auch.«

»Ich verstehe nur, daß du verrückt bist.«

»Daß Ihnen das nicht zum Halse heraushängt! Wir reden hier unter vier Augen; man möchte meinen, wozu sollten wir uns gegenseitig etwas vormachen und Komödie spielen? Oder wollen Sie immer noch die ganze Schuld auf mich wälzen, und das mir mitten ins Gesicht! Sie haben den Mord begangen, Sie sind der Hauptmörder! Ich bin nur Ihr Handlanger gewesen, Ihr treuer Diener. Ich habe nur die Tat nach Ihrer Anweisung ausgeführt.«

»Ausgeführt? Hast du etwa den Mord begangen?« fragte Iwan. Es überlief ihn kalt.

Es war ihm, als ob in seinem Gehirn eine Erschütterung stattfände, und ein leises, kaltes Zittern ergriff seinen ganzen Körper. Nun staunte selbst Smerdjakow, wahrscheinlich überraschte ihn Iwans Schrecken schließlich durch seine ungeheuchelte Echtheit.

»Aber haben Sie denn wirklich nichts gewußt?« fragte er mißtrauisch, wobei er ihm mit einem schiefen Lächeln in die Augen blickte. Iwan sah ihn immer noch an; er schien die Sprache verloren zu haben.

»Ach, mein Wanka ging nach Piter, und er kommt so bald nicht wieder …«

tönte es auf einmal in seinem Kopf.

»Weißt du was? Ich fürchte, daß du ein Traum bist, daß du als Gespenst vor mir sitzt«, stammelte er.

»Hier ist kein Gespenst. Hier sind nur wir beide und noch ein gewisser Dritter. Ohne Zweifel ist er jetzt hier, dieser Dritte. Er befindet sich zwischen uns beiden.«

»Wer ist es? Wer befindet sich hier? Wer ist der Dritte?« fragte Iwan Fjodorowitsch erschrocken, wobei er sich nach allen Seiten umsah und hastig jemanden suchte.

»Dieser Dritte ist Gott; die Vorsehung selbst. Sie ist jetzt hier neben uns, aber suchen Sie sie nicht, Sie werden sie nicht finden.«

»Du lügst, wenn du behauptest, daß du den Mord begangen hast!« schrie Iwan wütend! »Du bist entweder verrückt, oder du hast mich zum besten wie das vorige Mal!«

Smerdjakow erschrak wieder nicht im geringsten; er sah den anderen weiterhin prüfend an. Er konnte sein Mißtrauen noch immer nicht überwinden; noch immer schien ihm, daß Iwan »alles wußte« und sich nur verstellte, um »die ganze Schuld auf ihn zu wälzen, und das ihm mitten ins Gesicht«.

»Warten Sie mal«, sagte er endlich mit schwacher Stimme, zog sein linkes Bein unter dem Tisch hervor und begann die Hose aufzukrempeln. Das Bein steckte in einem langen, weißen Strumpf; am Fuß saß ein Pantoffel. Ohne jede Eile band Smerdjakow das Strumpfband ab und fuhr mit den Fingern tief in den Strumpf hinein. Iwan Fjodorowitsch sah ihm zu und begann auf einmal vor panischer Angst zu zittern.

»Du Verrückter!« schrie er und sprang von seinem Platz auf. Er taumelte jedoch zurück, so daß er mit dem Rücken gegen die Wand stieß, und blieb nun sozusagen an der Wand kleben, an der er sich in seiner ganzen Länge aufrichtete. Entsetzt starrte er Smerdjakow an.

Dieser wühlte, ohne sich durch Iwan Fjodorowitschs Schreck stören zu lassen, immer noch in seinem Strumpf herum, als bemühte er sich, darin etwas mit den Fingern zu fassen und herauszuziehen. Endlich hatte er es gefaßt und zog es heraus. Iwan Fjodorowitsch sah, daß es irgendwelche Papiere waren oder vielmehr ein Päckchen Papiere. Smerdjakow zog es heraus und legte es auf den Tisch.

»Da ist es!« sagte er leise.

»Was?« fragte Iwan zitternd.

»Sehen Sie doch selber nach!« sagte Smerdjakow ebenso leise.

Iwan trat an den Tisch, nahm das Päckchen und begann es auseinanderzufalten. Auf einmal zog er jedoch die Finger zurück, als hätte er ein ekelhaftes Reptil berührt.

»Die Finger zittern Ihnen ja immer noch krampfhaft«, bemerkte Smerdjakow und faltete selbst den Umschlag auseinander. Es kamen drei Päckchen regenbogenfarbener Hundertrubelscheine zum Vorschein.

»Hier sind sie alle, die ganzen dreitausend Rubel; Sie brauchen nicht nachzuzählen. Nehmen, Sie sie!« forderte er Iwan auf. Dieser ließ sich auf den Stuhl sinken; er war bleich wie Leinwand.

»Du hast mich erschreckt mit diesem Strumpf …«, sagte er mit einem sonderbaren Lächeln.

»Haben Sie es wirklich bis jetzt nicht gewußt, wirklich nicht?« fragte Smerdjakow noch einmal.

»Nein, ich habe es nicht gewußt. Ich habe immer an Dmitri gedacht. Bruder! Bruder!« Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf! »Sag, hast du den Mord allein begangen? Ohne meinen Bruder oder mit meinem Bruder zusammen?«

»Nur mit Ihnen zusammen. Mit Ihnen zusammen habe ich den Mord begangen! Dmitri Fjodorowitsch ist ganz unschuldig.«

»Gut, gut … Zu mir später! Warum zittere ich nur am ganzen Körper? Ich kann kein Wort herausbringen.«

»Damals waren Sie wer weiß wie kühn und sagten: ›Alles ist erlaubt!‹ Und was haben Sie jetzt für einen Schreck bekommen!« sagte Smerdjakow verwundert! »Wollen Sie nicht ein Glas Limonade? Ich werde sofort welche bestellen. Die erfrischt sehr. Nur müssen wir das hier vorher zudecken.«

Er deutete wieder mit dem Kopf auf die Päckchen. Er wollte aufstehen, um aus der Tür Marja Kondratjewna zu rufen, damit sie Limonade brächte, suchte jedoch vorher etwas, womit er das Geld zudecken konnte.

Er zog zuerst sein Taschentuch heraus; aber das war wieder ganz vollgeschneuzt. Deshalb nahm er das dicke, gelbe Buch vom Tisch, das Iwan beim Eintritt bemerkt hatte, und deckte damit das Geld zu. Der Titel des Buches lautete: »Reden unseres heiligen Vaters Isaak Sirin«; Iwan Fjodorowitsch las ihn mechanisch.

»Ich will keine Limonade«, sagte er! »Zu mir später! Setz dich hin und erzähle! Wie hast du das alles ausgeführt? Sag mir alles …«

»Sie sollten wenigstens den Überzieher ausziehen, sonst werden Sie noch ganz in Schweiß geraten.«

Iwan Fjodorowitsch riß sich, als käme ihm dieser Gedanke erst jetzt, den Überzieher vom Körper und warf ihn auf die Bank.

»So rede doch, bitte! Rede!«

Er schien ganz ruhig geworden zu sein. Er erwartete mit Bestimmtheit, daß Smerdjakow jetzt »alles« sagte.

»Wie ich das alles ausgeführt habe?« begann Smerdjakow mit einem Seufzer! »Auf die allernatürlichste Weise habe ich es ausgeführt, ganz nach Ihren Worten von damals …«

»Zu meinen Worten später!« unterbrach ihn Iwan wieder, aber er schrie nicht mehr wie vorher, sondern sprach die Worte fest und bestimmt aus und schien sich wieder ganz in der Gewalt zu haben! »Erzähle ganz genau, wie du es ausgeführt hast. Alles der Reihe nach! Laß nichts aus! Die Einzelheiten sind das Wichtigste, die Einzelheiten. Ich bitte dich darum.«

»Als Sie weggefahren waren, da fiel ich in den Keller …«

»In einem richtigen Anfall, oder hast du simuliert?«

»Selbstverständlich habe ich simuliert. Ich simulierte alles. Ich stieg ruhig die Treppe hinab, bis ganz unten, und legte mich hin; dann erst schrie ich los. Und während sie mich hinaustrugen, schlug ich um mich.«

»Moment! Hast du die ganze Zeit über simuliert, auch nachher im Krankenhaus?«

»Keineswegs. Am anderen Tag bekam ich morgens, noch bevor sie mich ins Krankenhaus brachten, einen echten Anfall, und zwar so stark, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Zwei Tage war ich völlig bewußtlos.«

»Gut, gut. Weiter!«

»Sie legten mich auf das Bett hinter der Bretterwand. Das wußte ich schon vorher, daß sie mich dahin legen würden, weil Marfa Ignatjewna mich jedesmal, wenn ich krank war, dort bei sich bettete. Sie ist immer sehr zärtlich zu mir gewesen, von meiner Geburt an … In der Nacht stöhnte ich, aber nur leise. Ich wartete immer auf Dmitri Fjodorowitsch.«

»Wie meinst du das? Hast du erwartet, daß er zu dir kam?«

»Warum zu mir? Ich erwartete, daß er zum Haus kam; ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß er in dieser Nacht erscheinen würde. Denn da er nun meiner Beihilfe beraubt und ohne Nachrichten war, mußte er unbedingt selber zum Haus kommen, über den Zaun, den er überklettern konnte, und mußte irgend etwas verüben.«

»Und wenn er nun nicht gekommen wäre?«

»Dann wäre auch nichts passiert. Ohne ihn hätte ich mich nicht dazu entschlossen.«

»Gut, gut … Erzähle verständlicher, übereile dich nicht! Und was die Hauptsache ist, laß nichts aus.«

»Ich erwartete, daß er Fjodor Pawlowitsch totschlagen würde, das hielt ich für sicher. Denn ich hatte schon die letzten Tage in diesem Sinn auf ihn eingewirkt – und ihm vor allen Dingen die bewußten Signale mitgeteilt. Bei seinem Mißtrauen und bei der Wut, die sich bei ihm in diesen Tagen angesammelt hatte, war mit Bestimmtheit zu erwarten, daß er mittels der Signale in das Haus eindringen würde. Da war ich mir sicher. Und darum habe ich ihn auch erwartet.«

»Halt«, unterbrach ihn Iwan! »Hätte er ihn nun totgeschlagen, so hätte er sich ja des Geldes bemächtigt und es mitgenommen, das mußtest du doch annehmen? Was hättest du dann von der Tat gehabt? Das sehe ich nicht ein.«

»Er hätte ja das Geld niemals gefunden. Daß das Geld unter der Matratze lag, hatte ich ihm ja nur eingeredet. Aber das stimmte nicht. Ursprünglich hatte es in der Schatulle gelegen, sehen Sie, so war das. Aber dann hatte ich, der einzige Mensch auf der Welt, dem er traute, Fjodor Pawlowitsch dazu überredet, dieses Päckchen mit dem Geld lieber in der Ecke hinter den Heiligenbildern zu verstecken, weil es dort niemand finden würde, vor allem, wenn es einer eilig hatte. So steckte also dieses Päckchen in der Ecke hinter den Heiligenbildern. Es unter der Matratze aufzubewahren, wäre sowieso lächerlich gewesen, eher schon in der Schatulle, die wenigstens verschlossen war. Hier glauben aber jetzt alle, es hätte unter der Matratze gelegen. Eine ganz dumme Annahme … Nach diesem Mord wäre also Dmitri Fjodorowitsch, da er nichts gefunden hätte, entweder eilig davongelaufen, aus Furcht vor jedem Geräusch, wie das immer so bei Mördern ist – oder er wäre festgenommen worden. Dann hätte ich immer noch am nächsten Tag oder vielleicht sogar noch in derselben Nacht hinter die Heiligenbilder greifen und das Geld wegnehmen können – und alles wäre Dmitri Fjodorowitsch zur Last gefallen. Darauf konnte ich immer hoffen.«

»Und, wenn er ihn nun nicht totgeschlagen, sondern nur verprügelt hätte?«

»Dann hätte ich natürlich nicht wagen können, das Geld zu nehmen, und alles wäre vergebens gewesen. Aber ich hatte auch noch darauf spekuliert, daß er ihn bewußtlos schlagen würde; dann hätte ich unterdessen das Geld nehmen und später zu Fjodor Pawlowitsch sagen können, daß Dmitri Fjodorowitsch, nachdem er ihn so geprügelt habe, auch das Geld gestohlen haben müsse.«

»Warte, ich verstehe nicht recht. Also hat doch Dmitri den Mord begangen, und du hast nur das Geld genommen?«

»Nein, er hat den Mord nicht begangen. Nun ja, ich könnte Ihnen auch jetzt noch sagen, daß er der Mörder war, doch ich will Ihnen jetzt nichts vorlügen. Denn wenn Sie auch, wie ich sehe, bisher wirklich nichts verstanden hatten und sich nicht vor mir verstellt haben, um Ihre eindeutige Schuld auf mich abzuwälzen, so sind Sie doch an allem schuld, weil Sie von dem Mord wußten und ihn mir auftrugen, selbst aber wegfuhren, obwohl Sie alles wußten. Darum will ich heute abend Ihnen mitten ins Gesicht beweisen, daß der Hauptmörder hier in jeder Hinsicht einzig und allein Sie sind, ich dagegen nur eine Nebenperson, obwohl ich den Mord begangen habe. Und Sie sind auch im Sinn des Gesetzes der wahre Mörder!«

»Warum, warum bin ich der Mörder? O Gott!« rief Iwan, der sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte und vergaß, daß er alles, was ihn betraf, auf das Ende des Gespräches verschoben hatte! »Alles wegen dieses verdammten Tschermaschnja? Sag mal, wozu brauchtest du denn mein Einverständnis in Form meiner Bereitschaft, nach Tschermaschnja zu fahren, falls du das überhaupt als mein Einverständnis aufgefaßt hast? Wie erklärst du das jetzt?«

»Wenn ich Ihrer Zustimmung sicher gewesen wäre, hätte ich gewußt, daß Sie nach Ihrer Rückkehr über diese verlorenen

dreitausend Rubel kein Geschrei erhoben hätten, falls die Obrigkeit auf den Verdacht gekommen wäre, nicht Dmitri Fjodorowitsch – im Gegenteil, Sie hätten mich dann gegen andere verteidigt … Und nach Empfang der Erbschaft konnten Sie mich auch später, Ihr ganzes Leben lang, belohnen. Denn Sie verdankten dann doch die Erbschaft mir; hätte er dagegen Agrafena Alexandrowna geheiratet, wären sie mit langer Nase abgezogen.«

»Ah! Also du wolltest mich später noch erpressen, mein ganzes Leben lang!« rief Iwan zähneknirschend! »Und wenn ich damals nicht weggefahren wäre, sondern eine Anzeige gegen dich eingereicht hätte?«

»Aber was konnten Sie denn in so einer Anzeige angeben? Daß ich Ihnen zugeredet hatte, nach Tschermaschnja zu fahren? Das sind ja Dummheiten! Außerdem wären Sie nach unserem Gespräch entweder weggefahren oder hiergeblieben. Wären Sie hiergeblieben, so wäre eben nichts geschehen; ich hätte dann ohne weiteres gewußt, daß Sie die Sache nicht wünschten, und hätte nichts unternommen. Wenn Sie aber wegfuhren, lag darin für mich Ihre Versicherung, daß Sie gegen mich keine Anzeige erstatten und mir diese dreitausend Rubel verzeihen würden. Und Sie konnten mich auch später nicht verfolgen, weil ich dann alles vor Gericht erzählt hätte, das heißt, nicht daß ich gestohlen und gemordet habe, das hätte ich nicht gesagt sondern daß Sie mich dazu angestiftet hätten, zu stehlen und zu morden, ich aber nicht eingewilligt hätte. Darum brauchte ich damals Ihre Zustimmung, damit Sie mich nicht in die Enge treiben konnten, denn wo hatten Sie einen Beweis? Ich dagegen konnte Sie immer in die Enge treiben, indem ich verriet, wie Sie den Tod Ihres Vaters herbeisehnten. Und ich gebe Ihnen mein Wort: im Publikum hätten es alle geglaubt, und Sie hätten sich Ihr Leben lang schämen müssen.«

»Also sehnte ich ihn herbei?« sagte Iwan wieder zähneknirschend.

»Das taten Sie zweifellos. Und durch Ihre Zustimmung erlaubten Sie mir stillschweigend diese Tat«, erwiderte Smerdjakow, wobei er Iwan fest anblickte. Er war sehr schwach und sprach leise und müde; aber etwas tief in seinem Innern stachelte ihn an; er verfolgte offensichtlich eine bestimmte Absicht. Iwan spürte das.

»Fahre fort!« sagte er, zu ihm! »Erzähle weiter von jener Nacht.«

»Was ist da weiter zu erzählen? Ich lag also da und glaubte zu hören, daß der Herr einen Schrei ausstieß. Grigori Wassiljewitsch war schon vorher aufgestanden und hinausgegangen, und auf einmal brüllte er los, dann war alles still und dunkel. Ich lag da und wartete, das Herz klopfte mir stark, ich konnte es schließlich nicht länger aushalten. Ich stand auf und ging hinaus, und da sah ich, daß links das Fenster zum Garten offenstand; ich ging hin, um zu horchen, und hörte, wie er im Zimmer hin und her ging und stöhnte; also lebte er. ›Ach was!‹ dachte ich. Ich trat ans Fenster und rief dem Herrn zu: ›Ich bin es.‹ Er antwortete mir: ›Er ist dagewesen! Dagewesen und fortgelaufen!‹ Das sollte heißen, Dmitri Fjodorowitsch war dagewesen. ›Er hat Grigori totgeschlagen!‹ – ›Wo?‹ flüsterte ich. – ›Dort in der Ecke‹, antwortete er ebenfalls flüsternd und zeigte mit der Hand hin. ›Warten Sie!‹ sagte ich. Ich ging suchen und stieß am Zaun auf Grigori Wassiljewitsch; er lag da, ganz von Blut überströmt und ohne Bewußtsein. ›Also ist es richtig, daß Dmitri Fjodorowitsch dagewesen ist!‹ schoß es mir durch den Kopf, und ich beschloß, alles sofort mit einemmal zu Ende zu bringen, da Grigori Wassiljewitsch, selbst wenn er noch lebte, in seiner Bewußtlosigkeit einstweilen doch nichts sehen würde. Es war nur eine Gefahr dabei, nämlich daß Marfa Ignatjewna plötzlich aufwachen konnte. Ich fühlte das in diesem Augenblick, aber der Eifer hatte mich so gepackt, daß mir der Atem stockte. Ich ging wieder unter das Fenster zum Herrn und sagte: ›Sie ist hier! Sie ist gekommen! Agrafena Alexandrowna ist gekommen, sie bittet um Einlaß!‹ Er zuckte zusammen wie ein kleines Kind. ›Wo ist sie, wo?‹ fragte er und stöhnte nur vor Aufregung; er glaubte es noch nicht. ›Dort steht sie‹, sagte ich. ›Machen Sie auf!‹ Er schaute mich durchs Fenster an; halb glaubte er mir, und halb nicht, doch er hatte Angst zu öffnen. ›Nun fürchtet er sich sogar vor mir!‹ dachte ich. Und es ist lächerlich: auf einmal kam mir in den Sinn, das Signal ans Fenster zu klopfen, daß Gruschenka gekommen sei; vor seinen Augen klopfte ich es! Meinen Worten hatte er offenbar nicht geglaubt; als ich jedoch das Signal klopfte, lief er sofort hin, um die Tür zu öffnen. Ich wollte eintreten, aber er stand in der Tür und versperrte mir mit seinem Körper den Weg. ›Wo ist sie? Wo ist sie?‹ fragte er, wobei er mich zitternd ansah. ›Na‹, dachte ich, ›wenn er vor mir solche Angst hat, das ist schlimm!‹ Und da wurden sogar mir die Beine schwach vor Angst, er könnte mich nicht in die Wohnung hineinlassen oder schreien oder Marfa Ignatjewna könnte angelaufen kommen oder es könnte sonst etwas passieren; ich glaube, ich stand damals selber ganz blaß vor ihm. Ich flüsterte ihm zu: ›Dort ist sie, dort unter dem Fenster! Haben Sie sie denn nicht gesehen?‹ – ›So führ sie doch her, führ sie doch her!‹ – ›Sie fürchtet sich‹, sagte ich. ›Sie hat von dem Schrei einen Schrecken bekommen und sich im Gebüsch versteckt. Gehen Sie in Ihr Zimmer und rufen Sie sie selbst vom Fenster aus!‹ Er trat ans Fenster und stellte das Licht auf das Fensterbrett. ›Gruschenka‹, rief er. ›Gruschenka, wo bist du?‹ So rief er; aber sich aus dem Fenster hinausbeugen, das wollte er nicht. Er wollte mich nicht aus den Augen lassen, eben, weil er vor mir so große Angst bekommen hatte; deshalb wagte er nicht, mich aus den Augen zu lassen. ›Da ist sie ja‹, sagte ich; ich war ans Fenster getreten und beugte mich selber ganz weit hinaus. ›Da im Gebüsch ist sie und lacht Ihnen zu, sehen Sie nicht?‹ Auf einmal glaubte er mir, begann am ganzen Körper zu zittern, er war ja so verliebt in sie, und beugte sich auch ganz weit aus dem Fenster hinaus. Da nahm ich den eisernen Briefbeschwerer von seinem Tisch, Sie erinnern sich, er mag vielleicht drei Pfund schwer sein, und schlug ihn von hinten mit der Kante genau auf den Scheitel. Er stieß nicht einmal einen Schrei aus, sondern sank nur plötzlich nach unten. Ich schlug ein zweites und ein drittes Mal zu. Beim dritten Mal fühlte ich, daß ich ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Er fiel plötzlich lang hin, mit dem Gesicht nach oben, und war ganz von Blut überströmt. Ich besah mich selbst: Kein Blut war an mir, es hatte nicht gespritzt. Ich wischte den Briefbeschwerer ab, legte ihn wieder hin, ging zu den Heiligenbildern und nahm das Geld aus dem Kuvert; das Kuvert warf ich auf den Fußboden und das rosa Bändchen daneben. Dann ging ich in den Garten, ich zitterte am ganzen Körper. Ich ging schnurstracks zu dem Apfelbaum mit der Höhlung im Stamm. Sie kennen diese Höhlung, ich hatte sie mir schon längst ausersehen. In ihr lag bereits ein Lappen und ein Blatt Papier, diese Vorbereitungen hatte ich schon lange getroffen. Ich wickelte die Geldscheine in das Papier und dann in den Lappen und schob das Ganze tief in den Baumstamm. Da hat das Geld über zwei Wochen gelegen, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, habe ich es herausgenommen … Ich kehrte in mein Kämmerchen zurück, legte mich wieder ins Bett und dachte voller Angst: Wenn Grigori Wassiljewitsch ganz tot ist, kann die Sache einen recht üblen Verlauf nehmen; wenn er aber nicht tot ist und wieder zu sich kommt, kann alles gut ablaufen, weil er dann bezeugen wird, daß Dmitri Fjodorowitsch dagewesen ist und somit auch den Mord begangen und das Geld weggenommen hat … Da begann ich in meiner Angst und Ungeduld zu stöhnen, damit Marfa Ignatjewna möglichst schnell aufwachte. Endlich stand sie auf und wollte zu mir herumkommen, doch als sie auf einmal sah, daß Grigori Wassiljewitsch nicht da war, lief sie hinaus, und ich hörte, wie sie im Garten losjammerte. Na, und so nahm denn die Sache ihren Lauf, und ich war inzwischen schon vollkommen beruhigt.«

Smerdjakow verstummte. Iwan hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugehört, ohne sich zu rühren und die Augen von ihm abzuwenden. Smerdjakow hatte Iwan beim Erzählen nur ab und zu angesehen, meist jedoch schräg zur Seite geblickt. Als er seinen Bericht beendet hatte, befand er sich offenbar in starker Erregung und atmete schwer. Sein Gesicht war schweißbedeckt, man konnte aber unmöglich erkennen, ob er Reue oder etwas anderes empfand.

»Sag mal«, sagte Iwan nach einigem Nachdenken, »was war mit der Tür? Wenn er sie erst dir geöffnet hat, wie konnte sie dann Grigori schon offen sehen, bevor du kamst? Denn das ist doch wohl der Fall gewesen?« Interessant war, daß Iwan diese Frage ganz friedlich stellte, so daß ein unbefangener Beobachter hätte glauben können, sie säßen da friedlich zusammen und redeten über irgendein gewöhnliches, wenn auch interessantes Thema.

»Was diese Tür anbelangt und Grigoris Aussage, er hätte sie offen gesehen, so ist ihm das nur so vorgekommen«, erwiderte Smerdjakow mit einem schiefen Lächeln! »Der ist ja kein Mensch, sage ich Ihnen, sondern eher ein störrischer Gaul! Er hat es nicht gesehen, aber es ist ihm so vorgekommen – und da läßt er sich nun nicht davon abbringen. Daß er sich das ausgedacht hat, ist Ihnen und mir als besonderer Glückstreffer zugefallen, denn ohne Zweifel wird Dmitri Fjodorowitsch daraufhin schließlich verurteilt!«

»Hör mal!« sagte Iwan Fjodorowitsch, der den Eindruck machte, als ob ihm seine Gedanken wieder durcheinandergerieten und er sich gewaltsam Mühe gäbe, sie zu sammeln! »Hör mal … Ich wollte dich noch vieles fragen, aber ich habe es vergessen … Ich vergesse alles und werde konfus … Ja! Sag mir wenigstens das eine: Warum hast du das Kuvert erbrochen und dort auf dem Fußboden zurückgelassen? Warum hast du das Geld nicht einfach im Kuvert mitgenommen? Als du das erzähltest, schien es mir, als ob du die Sache mit dem Kuvert für notwendig hieltest – doch warum das notwendig gewesen sein soll, kann ich nicht begreifen …«

»Das habe ich aus einem ganz bestimmten Grund gemacht. Denn ein Mensch, der wie ich mit allen Vorgängen im Haus vertraut ist, der dieses Geld vorher gesehen und vielleicht selbst in dieses Kuvert gesteckt und mit eigenen Augen gesehen hat, wie es versiegelt und adressiert wurde – weshalb sollte so einer nach dem Mord das Kuvert erbrechen, noch dazu wenn er in Eile ist, obwohl er doch sowieso weiß, daß das Geld bestimmt drinsteckt? Wäre zum Beispiel jemand von meiner Position der Dieb gewesen, hätte er vielmehr einfach das Kuvert in die Tasche gesteckt, ohne es zu öffnen, und sich damit möglichst schnell davongemacht. Ganz anders lag die Sache bei Dmitri Fjodorowitsch. Er wußte von dem Kuvert nur vom Hörensagen, gesehen hatte er es nicht. Wenn er es also in die Hände bekam, es zum Beispiel unter der Matratze hervorzog, so war natürlich, daß er so schnell wie möglich das Kuvert gleich an Ort und Stelle erbrach, um festzustellen, ob das Geld auch wirklich drin ist. Und daß er das Kuvert dann wegwarf, weil er sich nicht die Zeit nahm, zu überlegen, daß er dadurch ein Indiz gegen sich zurückließ. Er ist eben kein Gewohnheitsdieb und hat vorher noch nie etwas direkt gestohlen, weil er von adliger Herkunft ist. Wenn er sich jetzt zum Stehlen entschloß, so hielt er das eigentlich gar nicht für Diebstahl, sondern glaubte nur, sein Eigentum wieder an sich zu nehmen, weshalb er ja auch die ganze Stadt vorher davon benachrichtigt und sich sogar lauthals gerühmt hatte, daß er hingehen und sich von Fjodor Pawlowitsch sein Eigentum zurückholen werde. Diesen Gedanken habe ich bei meiner Vernehmung dem Staatsanwalt gegenüber nicht gerade deutlich ausgesprochen, sondern nur leise angedeutet, so als ob ich es selber nicht verstünde und er das selber herausgefunden hätte. Dem Herrn Staatsanwalt lief bei diesem meinem Hinweis vor Vergnügen richtig das Wasser im Munde zusammen …«

»Hast du das wirklich alles gleich an Ort und Stelle überlegt, wirklich?« rief Iwan Fjodorowitsch, der vor Erstaunen ganz außer sich war und Smerdjakow wieder entsetzt anstarrte.

»Ich bitte Sie, ist es menschenmöglich, das alles in solcher Eile zu überlegen? Das hatte ich mit alles vorher überlegt.«

»Nun … dann hat dir der Teufel selbst geholfen!« rief Iwan Fjodorowitsch wieder! »Nein, du bist nicht dumm! Du bist viel klüger, als ich dachte …«

Er stand auf, wohl in der Absicht, ein paar Schritte im Zimmer zu tun, denn er war in schrecklicher Erregung. Aber da der Tisch den Weg versperrte und man sich zwischen Tisch und Wand nur eben hindurchdrängen konnte, drehte er sich nur auf dem Fleck um und setzte sich wieder hin. Vielleicht machte ihn dieser Umstand plötzlich so gereizt, daß er wieder mit der früheren Wut losschrie: »Hör zu, du unglücklicher, verächtlicher Mensch! Begreifst du denn wirklich nicht, daß ich dich bis jetzt nur deshalb noch nicht totgeschlagen habe, weil ich dich für die morgige Befragung vor Gericht schone? Gott sieht mein Herz ..,« Iwan hob die Hand! »Vielleicht bin auch ich schuldig gewesen, vielleicht habe auch ich tatsächlich den geheimen Wunsch gehabt, daß mein Vater sterben möchte, aber ich schwöre dir, ich war nicht so schuldig, wie du denkst! Und vielleicht habe ich dich überhaupt nicht zu der Tat angetrieben. Nein, nein, ich habe dich nicht dazu angetrieben! Aber ganz gleich, ich werde gegen mich selber Anzeige erstatten, gleich morgen vor Gericht, dazu bin ich entschlossen! Ich werde alles sagen, alles. Doch ich werde mit dir zusammen erscheinen! Und was du auch vor Gericht gegen mich aussagen magst, ich werde es gelten lassen und dich nicht fürchten! Ich werde alles sogar noch bestätigen! Aber auch du sollst vor Gericht ein Geständnis ablegen! Du mußt es, wir werden zusammen hingehen. So soll es sein!« Iwan sagte das feierlich und energisch, und schon an seinem Blick war zu sehen, daß es ihm Ernst war.

»Sie sind krank, das sehe ich. Krank. Ihre Augen sehen ganz gelb aus«, sagte Smerdjakow ohne jeden Spott, es klang sogar mitleidig.

»Wir werden zusammen hingehen!« wiederholte Iwan! »Wenn du nicht mitkommst – egal, dann werde ich allein alles gestehen.«

Smerdjakow schwieg, als überlegte er.

»Nichts von alledem wird geschehen, und Sie werden auch gar nicht erst hingehen«, sagte er endlich in einem entschiedenen Ton, als sei kein Widerspruch möglich.

»Du verstehst mich nicht!« rief Iwan vorwurfsvoll.

»Sie würden sich viel zu sehr schämen, wenn Sie alles zu Ihren Ungunsten bekennen wollten. Und noch mehr fällt ins Gewicht, daß es nutzlos wäre, völlig nutzlos, denn ich würde geradeheraus erklären, daß ich Ihnen nie etwas Ähnliches gesagt habe, sondern daß Sie entweder krank sind, Sie sehen ja ganz danach aus, oder Ihren Bruder so bemitleiden, daß Sie sich selbst aufopfern und sich diese Anschuldigung gegen mich ausgedacht haben, so wie Sie mich Ihr ganzes Leben lang als eine Mücke angesehen haben und nicht als einen Menschen. Na, und wer würde Ihnen Glauben schenken? Und was haben Sie für Beweise, und wenn es ein einziger wäre?«

»Hör mal, dieses Geld hast du mir jetzt natürlich gezeigt, um mich zu überzeugen.«

Smerdjakow nahm den Isaak Sirin von dem Päckchen herunter und legte ihn beiseite.

»Nehmen Sie dieses Geld an sich! Nehmen Sie es mit!« sagte Smerdjakow mit einem Seufzer.

»Gewiß, ich werde es mitnehmen! Doch warum lieferst du es mir ab, wenn du seinetwegen den Mord begangen hast?« fragte Iwan höchst erstaunt.

»Ich brauche es jetzt nicht mehr«, erwiderte Smerdjakow mit zitternder Stimme und mit einer resignierten Handbewegung! »Ich hatte früher mal so einen Gedanken, daß ich mit einer Summe wie dieser ein neues Leben anfangen könnte, in Moskau oder noch besser im Ausland. Dieser Träumerei überließ ich mich ganz besonders deswegen, weil alles erlaubt ist. Das haben Sie mich gelehrt und mir damals oft auseinandergesetzt: Wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es auch keine Tugend, und die ist dann auch gar nicht nötig. Das haben Sie wirklich gesagt. Und das war auch meine Ansicht.«

»Bist du durch deinen eigenen Verstand dahin gelangt?« fragte Iwan mit einem schiefen Lächeln.

»Unter Ihrer Anleitung.«

»Und jetzt hast du also angefangen, an Gott zu glauben, wenn du das Geld zurückgibst?«

»Nein, nicht zu glauben«, flüsterte Smerdjakow.

»Warum gibst du es also zurück?«

»Lassen Sie es gut sein … Es ist egal!« erwiderte Smerdjakow, wieder mit einer müden Handbewegung! »Sie haben doch selber immer gesagt, alles sei erlaubt – warum sind Sie denn jetzt so aufgeregt? Sie wollen sogar hingehen und sich selber denunzieren … Aber nichts dergleichen wird geschehen! Sie werden nicht hingehen und sich nicht denunzieren!« erklärte Smerdjakow wieder im Ton fester Überzeugung.

»Du wirst es sehen!« antwortete Iwan.

»Das ist unmöglich. Sie sind ein sehr kluger Mensch. Sie lieben das Geld, das weiß ich. Sie lieben auch eine angesehene, geachtete Stellung, denn Sie sind stolz. Weibliche Reize lieben Sie maßlos. Und am allermeisten lieben Sie, in ruhigem Behagen zu leben und sich vor niemand zu verbeugen – das am allermeisten. Sie werden sich Ihr Leben doch nicht dadurch für immer ruinieren wollen, daß Sie vor Gericht so eine Schande auf sich nehmen. Sie sind ein Mensch wie Fjodor Pawlowitsch, von allen seinen Kindern sind Sie am meisten nach ihm geartet: Sie haben dieselbe Seele wie er.«

»Du bist nicht dumm«, sagte Iwan, von diesem Urteil offenbar betroffen; das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen! »Ich habe dich früher für dumm gehalten. Du bist ein Mensch, den man ernst nehmen muß!« bemerkte er, indem er Smerdjakow gleichsam mit neuen Augen ansah.

»Infolge Ihres Stolzes haben Sie mich für dumm gehalten … Nehmen Sie doch das Geld!«

Iwan nahm alle drei Päckchen und steckte sie in die Tasche, ohne sie irgendwie einzuwickeln.

»Morgen werde ich sie vor Gericht vorzeigen«, sagte er.

»Niemand wird Ihnen glauben. Sie und die Ihrigen haben jetzt eine Menge Geld – man wird meinen, Sie hätten es aus der Schatulle genommen.«

Iwan erhob sich von seinem Platz.

»Ich wiederhole: Wenn ich dich nicht totgeschlagen habe, so einzig und allein deshalb, weil ich dich morgen brauche! Denk daran, vergiß es nicht!«

»Nun gut, schlagen Sie mich tot! Schlagen Sie mich jetzt tot!« sagte Smerdjakow auf einmal mit seltsamer Betonung und seltsamem Blick! »Auch das werden Sie nicht wagen«, fügte er bitter lächelnd hinzu! »Nichts wagen Sie, und dabei waren Sie doch früher ein frischer, kecker Mensch!«

»Bis morgen!« rief Iwan und wollte gehen.

»Warten Sie … Zeigen Sie mir das Geld noch einmal!«

Iwan nahm die Banknoten heraus und zeigte sie ihm. Smerdjakow betrachtete sie etwa zehn Sekunden lang.

»So, nun gehen Sie!« sagte er, wieder mit einer abwinkenden Handbewegung! »Iwan Fjodorowitsch!« rief er ihm dann plötzlich wieder nach.

»Was willst du?« fragte Iwan und drehte sich nochmals um.

»Leben Sie wohl!«

»Bis morgen!« rief Iwan wieder und verließ die Stube und das Haus. Der Schneesturm dauerte immer noch an. Die ersten Schritte ging er energisch und rüstig; dann fing er auf einmal an zu taumeln. ›Das ist etwas Physisches!‹ dachte er lächelnd. Eine Art Freude überkam jetzt seine Seele. Er fühlte eine grenzenlose Festigkeit in sich: Zu Ende war das Schwanken, das ihn die ganze letzte Zeit so furchtbar gequält hatte! Sein Entschluß war gefaßt – ›und er wird sich nicht mehr ändern!‹ dachte er beglückt. In diesem Augenblick strauchelte er plötzlich und wäre beinahe hingefallen. Stehenbleibend erkannte er zu seinen Füßen den Bauern, den er vorhin umgestoßen hatte und der immer noch ohne Besinnung regungslos auf demselben Fleck lag. Der Schneesturm hatte ihm schon fast das ganze Gesicht zugeschüttet. Iwan faßte ihn und schleppte ihn ein Ende mit sich. Da er auf der rechten Seite in einem Häuschen Licht sah, ging er hin und klopfte an den Fensterladen; dann bat er den Kleinbürger, dem das Häuschen gehörte, er möchte ihm behilflich sein, den Bauern zur Polizeiwache zu schleppen, wobei er ihm sogleich versprach, ihm dafür drei Rubel zu geben. Der Kleinbürger machte sich fertig und kam heraus. Ich werde nicht eingehend erzählen, wie es Iwan Fjodorowitsch gelang, sein Ziel zu erreichen und den Bauern auf der Polizeiwache unterzubringen, mit der Abmachung, daß er sogleich ärztlich untersucht werden sollte; auch hier spendete er wieder großzügig Geld »für die entstehenden Unkosten«. Ich will nur sagen, daß die Sache beinahe eine ganze Stunde in Anspruch nahm. Doch Iwan Fjodorowitsch war sehr zufrieden. Seine Gedanken waren in Bewegung gekommen und arbeiteten. ›Wenn mein Entschluß für morgen nicht so fest wäre‹, dachte er plötzlich und hatte ein angenehmes Gefühl dabei, ›hätte ich nicht eine ganze Stunde darauf verwandt, den Bauern unterzubringen, sondern wäre an ihm vorbeigegangen und hätte mich nicht darum gekümmert, daß er erfror … Oh, ich bin sehr wohl imstande, mich selbst zu beobachten!‹ dachte er in demselben Moment mit noch größerer Freude. ›Und die glaubten schon, ich verliere den Verstand!‹ Als er an seinem Haus angelangt war, blieb er auf einmal stehen und fragte sich: ›Muß ich nicht jetzt gleich zum Staatsanwalt gehen und Anzeige erstatten?‹ Er beantwortete die Frage, indem er sich wieder zum Haus umdrehte und vor sich hin flüsterte: »Morgen werde ich alles zusammen erledigen,« Doch seltsam: fast die ganze Freude, die ganze Selbstzufriedenheit waren augenblicklich verschwunden. Als er dann in sein Zimmer trat, berührte plötzlich etwas Eiskaltes sein Herz, als wär’s eine Erinnerung – oder besser, eine Mahnung an etwas Qualvolles, Widerwärtiges, das sich jetzt, gleich in diesem Zimmer befinden würde, ja und das auch früher hier war. Er ließ sich müde auf sein Sofa sinken. Die alte Frau brachte ihm den Samowar; er kochte sich Tee, rührte ihn aber nicht an. Die alte Frau schickte er bis morgen weg. Er saß auf dem Sofa und hatte ein Schwindelgefühl im Kopf. Er fühlte sich krank und matt. Er war nahe daran einzuschlafen; aber in seiner Unruhe stand er auf und ging im Zimmer auf und ab, um die Müdigkeit zu verscheuchen. Zeitweilig kam es ihm vor, als phantasiere er im Fieber. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, war nicht seine Krankheit. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, begann er sich von Zeit zu Zeit umzublicken, als hielte er heimlich nach etwas Ausschau. So machte er es mehrere Male. Schließlich konzentrierte sich sein Blick auf einen Punkt. Iwan lächelte, doch Zornesröte überflog sein Gesicht. Er saß lange auf seinem Platz, stützte den Kopf fest in die Hände, schielte aber doch nach dem früheren Punkt, nach dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Offensichtlich befand sich dort etwas, was ihn in gereizte Stimmung versetzte: irgendein Gegenstand, der ihn beunruhigte und quälte,

9. Der Teufel – Iwan Fjodorowitschs Alptraum

Ich bin kein Arzt.; trotzdem fühle ich, daß der Augenblick gekommen ist, wo ich dem Leser etwas über die Krankheit Iwan Fjodorowitschs sagen muß. Ich will vorgreifend nur das eine sagen: Er befand sich jetzt, an diesem Abend, im Vorstadium eines Nervenfiebers, das seinen schon lange zerrütteten, aber der Krankheit hartnäckig widerstehenden Organismus schließlich endgültig überwältigte. Obwohl ich von Medizin nichts verstehe, wage ich doch die Vermutung auszusprechen, daß er es vielleicht tatsächlich durch eine gewaltige Anstrengung seines Willens fertiggebracht hatte, die Krankheit eine Zeitlang aufzuhalten, natürlich in der Hoffnung, ihrer ganz Herr zu werden. Er hatte gewußt, daß er krank war, aber er hatte sich heftig dagegen gesträubt, in dieser Zeit krank zu sein, in den bevorstehenden verhängnisvollen Augenblicken seines Lebens, in denen er persönlich erscheinen, seine Erklärungen kühn und entschieden abgeben und »sich vor sich selbst rechtfertigen« mußte. Er war übrigens einmal zu dem aus Moskau eingetroffenen Arzt gegangen, den Katerina Iwanowna einem bereits erwähnten überraschenden Einfall zufolge hatte kommen lassen. Nachdem dieser ihn angehört und untersucht hatte, war er zu der Ansicht gelangt, daß bei Iwan sogar eine Art Zerrüttung des Gehirns vorlag, und hatte sich gar nicht über ein gewisses Geständnis gewundert, das jener ihm, wenn auch widerstrebend, gemacht hatte! »Halluzinationen sind bei Ihrem Zustand sehr wohl möglich«, hatte der Arzt gesagt! »Man müßte sie allerdings erst genau konstatieren … Überhaupt ist jedoch unbedingt notwendig, daß Sie sich sofort einer ernsthaften Kur unterziehen, sonst könnte die Sache schlimm werden,« Aber Iwan Fjodorowitsch hatte diesen vernünftigen Rat nicht befolgt und verschmäht, sich ins Bett zu legen und sich auszukurieren! »Ich kann ja noch gehen, vorläufig habe ich noch Kraft. Wenn ich zusammenbreche, dann ist es etwas anderes; dann mag mich kurieren, wer da will!« hatte er gesagt und sich über alle Bedenken hinweggesetzt. Und so saß er jetzt da, selbst beinahe schon überzeugt, daß er im Fieber phantasierte, und starrte, wie bereits erwähnt, hartnäckig auf einen gewissen Gegenstand auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Dort sah er jemand sitzen. Derjenige mußte auf eine unerklärliche Weise hereingekommen sein, denn er war noch nicht im Zimmer gewesen, als es Iwan Fjodorowitsch, von Smerdjakow zurückkehrend, betreten hatte. Es war ein Herr, oder besser gesagt, ein russischer Gentleman, nicht mehr jung, »qui frisait la cinquantaine«, wie die Franzosen sagen, mit nicht allzu viel Grau in dem dunklen, ziemlich langen und noch dichten Haar und dem keilförmig geschnittenen Bärtchen. Er trug ein braunes Jackett, das offensichtlich von dem besten Schneider gearbeitet, aber bereits abgetragen war; es mochte vor ungefähr drei Jahren angefertigt sein, war inzwischen jedoch völlig aus der Mode gekommen: Schon seit zwei Jahren trug von den wohlhabenden Herren der besseren Gesellschaft niemand mehr so ein Kleidungsstück. Die Wäsche und die lange, schalartige Krawatte waren wie bei allen eleganten Gentlemen; aber die Wäsche war, wenn man genauer hinsah, etwas unsauber und die breite Krawatte etwas abgewetzt. Die karierten Beinkleider des Gastes saßen vorzüglich, waren allerdings wieder zu hell und zu eng, wie man sie nicht mehr trug; ebenso entsprach auch der weiche weiße Hut, den er mitgebracht hatte, nicht der Jahreszeit. Kurz, der Herr machte den Eindruck einer ziemlich unbemittelten Anständigkeit. Er schien zu der Gattung der einstmals im Müßiggang dahinlebenden Gutsbesitzer zu gehören, wie sie zur Zeit der Leibeigenschaft herrlich und in Freuden lebten. So einer hat die vornehme Welt und die gute Gesellschaft kennengelernt, hat dort früher einmal Beziehungen gehabt und sie vielleicht sogar bis jetzt aufrechterhalten, ist aber infolge eines fidelen Lebens in der Jugend und infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft allmählich verarmt und hat sich in einen vagabundierenden besseren Schmarotzer verwandelt, der bei seinen guten alten Bekannten gnädig aufgenommen wird wegen seines verträglichen Charakters und weil er immerhin doch ein anständiger Mensch ist, dem man sogar in Gesellschaft vornehmer Gäste einen Platz am Tisch anweisen kann, wenn auch nur einen bescheidenen Platz. Solche verträglichen Schmarotzer können meist gut erzählen und beim Kartenspiel ihren Mann stehen, lassen sich jedoch höchst ungern mit irgendwelchen Aufträgen behelligen. Sie sind gewöhnlich alleinstehende Leute, Junggesellen oder Witwer, haben vielleicht auch Kinder; aber ihre Kinder werden immer irgendwo in der Ferne erzogen, bei irgendwelchen Tanten, von denen der Gentleman in anständiger Gesellschaft kaum spricht, als ob er sich einer solchen Verwandtschaft ein bißchen schäme. Von seinen Kindern entwöhnt er sich allmählich ganz; er erhält von ihnen nur ab und zu zum Namenstag und zu Weihnachten Gratulationsbriefe, die er manchmal sogar beantwortet. Der Gesichtsausdruck des unerwarteten Gastes war nicht eigentlich gutmütig, doch verträglich und zeigte die Bereitwilligkeit zu einem entsprechend den Umständen liebenswürdigen Benehmen. Eine Uhr trug er nicht, wohl aber eine Schildpattlorgnette an schwarzem Band. Am Mittelfinger der rechten Hand prangte ein schwerer goldener Ring mit einem billigen Opal. Iwan Fjodorowitsch schwieg ärgerlich und wollte kein Gespräch beginnen. Der Gast wartete und saß wirklich da wie ein Schmarotzer, der soeben von oben, aus dem ihm angewiesenen Zimmer, zum Tee heruntergekommen ist, um dem Hausherrn Gesellschaft zu leisten, aber demütig schweigt, weil er sieht, daß der Hausherr mit seinen Gedanken beschäftigt ist und mit finsterem Gesicht etwas überlegt; doch ist er zu jedem liebenswürdigen Gespräch bereit, sobald nur der Hausherr ein solches beginnen will. Auf einmal schien sein Gesicht eine plötzliche Unruhe auszudrücken.

»Hör mal …«, sagte er zu Iwan Fjodorowitsch,«Entschuldige, ich möchte dich nur an etwas erinnern. Du warst mit der Absicht zu Smerdjakow gegangen, etwas über Katerina Iwanowna zu erfahren, bist aber weggegangen, ohne etwas über sie gehört zu haben. Du hast es gewiß vergessen …«

»Ach ja!« rief Iwan unwillkürlich, und sein Gesicht nahm einen finsteren, besorgten Ausdruck an! »Ja, ich habe es vergessen … Übrigens ist das jetzt ganz egal, ich habe alles auf morgen verschoben«, murmelte er vor sich hin! »Aber du brauchtest das nicht zu sagen«, wandte er sich gereizt an den Gast! »Es wäre mir sicherlich gleich selber eingefallen, weil ich mich ohnehin gerade darüber geärgert habe. Warum drängst du dich vor? Ich soll dir wohl glauben, daß du mich erst darauf gebracht hast und es mir nicht von selber eingefallen ist?«

»Bitte, glaube es nicht!« erwiderte der Gentleman freundlich lächelnd! »Was ist denn das für ein Glaube, zu dem man gezwungen wird? Außerdem helfen zum Glauben keine Beweise, und materielle am wenigsten. Thomas glaubte nicht deswegen, weil er den auferstandenen Christus gesehen hatte, sondern weil er schon vorher den Wunsch gehabt hatte zu glauben. Da sind zum Beispiel die Spiritisten, ich habe sie sehr gern … Stell dir vor, sie meinen, sie seien dem Glauben förderlich, weil ihnen die Teufel aus dem Jenseits die Hörner zeigen. ›Das ist‹, sagen sie, ›sozusagen schon ein materieller Beweis für das Vorhandensein jener Welt.‹ Das Jenseits und materielle Beweise, o weh! Und schließlich, selbst wenn die Existenz des Teufels bewiesen ist, so bleibt doch unbekannt, ob auch die Existenz Gottes bewiesen ist. Ich will in eine idealistische Gesellschaft eintreten und ihnen Opposition machen. ›Ich bin Realist‹, werde ich sagen. ›Und nicht Materialist, hehe!‹ «

»Hör mal!« sagte Iwan Fjodorowitsch und stand plötzlich vom Tisch auf, »ich bin jetzt wie im Fieber … Und ich habe auch wirklich Fieber … Schwatz du, was du willst, mir ist es gleich! Du wirst mich nicht in Harnisch bringen wie das vorige Mal. Ich schämte mich nur wegen einer Sache … Ich will im Zimmer auf und ab gehen … Ich sehe dich manchmal nicht und höre nicht einmal deine Stimme, wie das vorige Mal, doch ich errate immer, was du schwatzt – denn ich selbst bin es, der da spricht, und nicht du! Ich weiß nur nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen, oder habe ich dich in wachem Zustand gesehen? Jetzt werde ich ein Handtuch mit kaltem Wasser befeuchten und mir auf den Kopf legen, vielleicht wirst du dann verschwinden.‹«

Iwan Fjodorowitsch ging in die Ecke, nahm ein Handtuch, tat, wie er gesagt hatte, und begann mit dem feuchten Handtuch auf dem Kopf im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Es gefällt mir, daß wir uns beide so ohne weiteres gleich duzen«, hob der Gast an.

»Dummkopf!« versetzte Iwan lachend! »Wie werde ich denn Sie zu dir sagen! Ich bin jetzt vergnügt, nur in den Schläfen fühle ich einen Schmerz … Und am Scheitel … Bitte, philosophiere bloß nicht wie das vorige Mal! Wenn du dich nicht fortscheren kannst, plaudere über etwas Lustiges! Erzähl Klatschgeschichten! Du bist ein Schmarotzer, also erzähle auch Klatschgeschichten! So ein Aufdringling ist doch nicht loszuwerden! Aber ich fürchte mich nicht vor dir. Ich werde deiner Herr werden. Man wird mich nicht ins Irrenhaus bringen!«

»C’est charmant: ein Schmarotzer! Da bin ich ja gerade in meiner richtigen Gestalt! Was bin ich denn auf der Erde anderes als ein Schmarotzer? Apropos, ich höre dich an und wundere mich ein bißchen. Wahrhaftig, du fängst offenbar allmählich an, mich tatsächlich für ein wirkliches Wesen zu halten und nicht nur für ein Gebilde deiner Phantasie, wozu du mich das vorige Mal hartnäckig erklärt hast.«

»In keinem Augenblick halte ich dich für die reale Wahrheit!« rief Iwan zornig! »Du bist eine Lüge, du bist meine Krankheit, du bist ein Gespenst. Ich weiß nur nicht, wodurch ich dich vernichten könnte, und sehe, daß ich dich eine Weile werde dulden müssen. Du bist meine Halluzination. Du bist eine Verkörperung meines Ichs, doch nur einer Seite desselben … Eine Verkörperung meiner Gedanken und Gefühle, aber der bösesten und dümmsten. In dieser Hinsicht könntest du sogar interessant für mich sein, wenn ich nur Zeit hätte, mich mit dir abzugeben …«

»Erlaube, daß ich dich widerlege! Denk einmal an vorhin unter der Laterne, als du Aljoscha angeschrien hast: ›Du hast es von ihm erfahren! Woher hast du erfahren, daß er zu mir kommt?‹ Damit hast du mich gemeint. Also ein kleines, ganz kleines Augenblickchen hast du doch geglaubt, daß ich tatsächlich existiere«, sagte der Gentleman mit einem sanften Lachen.

»Ja, das war eine physische Schwäche … Doch ich konnte nicht an dich glauben. Ich weiß nicht, habe ich das vorige Mal geschlafen oder bin ich umhergelaufen? Ich habe dich damals vielleicht nur im Traum gesehen und gar nicht in wachem Zustand …«

»Aber warum warst du vorhin so heftig zu ihm, ich meine, zu Aljoscha? Er ist ein liebenswürdiger Mensch!«

»Schweig von Aljoscha! Wie kannst du es wagen, du Knechtsseele!« erwiderte Iwan, lachte jedoch bereits wieder.

»Du schimpfst, lachst aber dabei, das ist ein gutes Zeichen. Du bist übrigens heute viel liebenswürdiger zu mir als das vorige Mal. Und ich verstehe warum: dieser große Entschluß …«

»Schweig von dem Entschluß!« schrie Iwan wütend.

»Ich verstehe, ich verstehe, c’est noble, c’est charmant! Du gehst morgen hin, um deinen Bruder zu verteidigen und dich selbst zu opfern … c’est chevaleresque ..,«

»Schweig, sonst werd‘ ich dir Fußtritte versetzen!«

»Darüber werde ich mich zum Teil freuen, dann habe ich meine Absicht nämlich erreicht. Wenn du mir Fußtritte versetzt, glaubst du an meine Realität, denn einer Vision versetzt man keine Fußtritte. Scherz beiseite – mir ist es ja egal: schimpf, wenn du Lust dazu hast! Aber besser wäre es doch, wenn du ein bißchen höflicher wärst, selbst mir gegenüber. ›Dummkopf, Knechtsseele‹ – na, was sind das für Ausdrücke!«

»Wenn ich dich beschimpfe, beschimpfe ich mich selbst!« antwortete Iwan wieder lachend! »Du bist ich, ich selber, nur mit einer anderen Visage. Du sagst genau das, was auch ich schon denke, und bist nicht imstande, mir etwas Neues zu sagen!«

»Wenn ich mit dir in den Gedanken übereinstimme, macht mir das nur Ehre«, entgegnete der Besucher; dieses Kompliment brachte er in würdiger Form heraus.

»Aber du wählst immer meine häßlichen und vor allem meine dummen Gedanken. Du bist dumm und gemein. Du bist furchtbar dumm. Nein, ich kann dich nicht ertragen! Was soll ich machen, was soll ich machen!« rief Iwan zähneknirschend.

»Mein Freund, ich möchte trotzdem ein Gentleman sein und als solcher behandelt werden«, begann der Gast in einem Anfall von schmarotzerhaftem und von vornherein zur Nachgiebigkeit bereitem gutmütigem Ehrgefühl! »Ich bin arm, aber … Ich will nicht sagen, daß ich sehr ehrenhaft wäre, doch gilt es in der Gesellschaft gewöhnlich als feststehend, daß ich ein gefallener Engel bin. Weiß Gott, ich kann mir nicht vorstellen, wie ich jemals ein Engel sein konnte. Wenn ich es aber wirklich einmal gewesen sein konnte, so ist das schon so lange her, daß es keine Sünde ist, das vergessen zu haben. Jetzt lege ich nur Wert auf den Ruf eines anständigen Menschen und lebe, wie es sich gerade trifft, indem ich mich bemühe, den Leuten angenehm zu sein. Ich liebe die Menschen aufrichtig – oh, man hat mich in vieler Hinsicht verleumdet! Wenn ich zeitweilig zu euch übersiedle, dann fließt hier mein Leben wie etwas Wirkliches dahin, und das gefällt mir am allermeisten. Auch ich selbst leide ja, ebenso wie du, an einer Vorliebe für das Phantastische, und darum liebe ich euren irdischen Realismus. Hier bei euch ist alles klar abgegrenzt, hier gibt es Formeln und eine Mathematik, während bei uns alles Ähnlichkeit mit unbestimmten Gleichungen hat! Ich gehe hier umher und überlasse mich meinen Träumereien. Ich liebe es, mich meinen Träumereien zu überlassen. Außerdem werde ich auf der Erde abergläubisch – bitte, lach nicht: daß ich abergläubisch werde, gefällt mir ja gerade. Ich nehme hier alle eure Gewohnheiten an. Ich habe Geschmack daran gefunden, in die öffentliche Badestube zu gehen und mich in Gesellschaft von Kaufleuten und Popen mit heißem Dampf abzubrühen. Mein Traum ist, mich zu verkörpern in einer siebenpudschweren Kaufmannsfrau, aber endgültig, unwiderruflich, und alles zu glauben, woran sie glaubt. Mein Ideal ist, in die Kirche zu gehen und eine Kerze aufzustellen, reinen Herzens, wahrhaftig. Dann würden meine Leiden ein Ende haben. Auch habe ich bei euch Geschmack daran gefunden, allerlei Kuren auf mich zu nehmen. Im Frühling kamen die Pocken; ich ging hin und ließ mich im Armenhaus impfen – wenn du wüßtest, wie zufrieden ich an jenem Tag war: Ich spendete zehn Rubel für die slawischen Brüder! Aber du hörst ja gar nicht zu! Weißt du, du bist heute wohl nicht recht bei Laune?« Der Gentleman schwieg ein Weilchen! »Ich weiß, du bist gestern zu diesem Arzt gegangen … Nun, wie steht es mit deiner Gesundheit? Was hat dir der Arzt gesagt?«

»Dummkopf!« erwiderte Iwan schroff.

»Dafür bist du um so klüger. Du schimpfst schon wieder? Ich frage ja nicht aus Teilnahme, sondern bloß so. Meinetwegen, antworte nicht! Jetzt gibt es wieder viel Rheumatismus …«

»Dummkopf!« sagte Iwan noch einmal.

»Das ist wohl dein Lieblingswort? Ja, ich hatte im vorigen Jahr so einen Rheumatismus aufgefangen, daß ich noch heute daran denke.«

»Der Teufel hat Rheumatismus?«

»Warum denn nicht, wenn ich mich doch manchmal in jemand verkörpere. Wenn ich mich verkörpere, dann nehme ich auch die Folgen auf mich. Der Satan sum et nihil humanum a ine alienum puto.«

»Wie war das, wie? Der Satan sum et nihil humanum – das ist nicht dumm für den Teufel!«

»Freut mich, daß ich endlich einmal deinen Geschmack getroffen habe.«

»Aber das hast du ja nicht von mir übernommen«, sagte Iwan und blieb plötzlich wie überrascht stehen! »Das ist mir nie in den Kopf gekommen: Sonderbar …«

»C’est du nouveau, n’est-ce pas? Diesmal will ich ehrlich verfahren und es dir erklären. Paß auf. Im Schlaf – und besonders bei Alpdrücken, zum Beispiel infolge einer Magenverstimmung oder aus sonst einem Grund – träumt der Mensch manchmal so kunstvolle Dinge, so eine komplizierte, reale Wirklichkeit, Ereignisse oder sogar eine listig zusammengeknüpfte Welt von Ereignissen, mit unerwarteten Details, angefangen von euren höchsten Offenbarungen bis hinab zum letzten Knopf am Vorhemd, daß selbst ein Leo Tolstoi es nicht so genau schildern könnte und dabei träumen das manchmal Leute, die gar nicht mit großer Phantasie begabt, sondern ganz gewöhnliche Leute sind, Beamte, Feuilletonschreiber, Popen … Manches ist geradezu ein Rätsel. So hat mir sogar ein Minister gestanden, daß ihm seine besten Ideen immer im Schlaf kommen. Na, und so ist es auch jetzt. Ich bin zwar nur deine Halluzination, aber ich rede, wie das auch im Traum der Fall ist, originelle Dinge, die dir bisher nicht in den Kopf gekommen sind, so daß ich nicht mehr bloß deine Gedanken wiederhole. Und dabei bin ich doch nur dein Traumgebilde, weiter nichts.«

»Du lügst. Deine Absicht ist gerade, mir einzureden, daß du ein selbständiges Wesen bist und nicht mein Traumgebilde – und da behauptest du jetzt selber, du wärst das letztere.«

»Mein Freund, heute habe ich eine besondere Methode angewandt, ich werde dir das nachher erläutern … Warte mal, wo war ich stehengeblieben? Ja, wie ich mich damals erkältet hatte, aber nicht bei euch, sondern noch dort …«

»Wo dort? Sag mal, wirst du noch lange bei mir bleiben? Kannst du denn gar nicht verschwinden?« rief Iwan fast verzweifelt. Er hörte auf umherzugehen, setzte sich auf das Sofa, stützte wieder die Ellenbogen auf den Tisch und preßte den Kopf mit den Händen zusammen. Er riß sich das nasse Handtuch ab und warf es ärgerlich von sich; es hatte offenbar nicht geholfen.

»Dein Nervensystem ist zerrüttet«, bemerkte der Gentleman ungeniert und lässig, doch durchaus liebenswürdig! »Du ärgerst dich über mich, weil ich mich habe erkälten können, und dabei hat es sich doch auf die natürlichste Weise von der Welt zugetragen. Ich wollte mich damals eilig zu einer diplomatischen Soiree bei einer hochgestellten Petersburger Dame begeben, die den Ehrgeiz hatte, Frau Minister zu werden. Na, ich hatte schon Frack, weiße Halsbinde und Handschuhe an, befand mich aber noch Gott weiß wo und mußte, um zu euch auf die Erde zu kommen, noch den Weltenraum durchfliegen. Gewiß, das dauert nur einen Augenblick, obwohl auch ein Lichtstrahl von der Sonne ganze acht Minuten braucht – aber stell dir das vor: Ich in Frack und ausgeschnittener Weste! Geister erfrieren zwar nicht, doch da ich mich bereits verkörpert hatte … Kurz, ich war leichtsinnig und machte mich auf den Weg. Aber dort im Weltenraum, im Äther, in diesem ›Wasser über der Feste‹, da ist so eine Kälte, was sage ich, Kälte! Kälte kann man das schon nicht mehr nennen. Kannst du dir das vorstellen – hundertfünfzig Grad unter Null! Es gibt da ein bekanntes Späßchen der Bauernmädchen: Bei dreißig Grad Kälte fordern sie einen Unerfahrenen auf, an einem Beil zu lecken, die Zunge friert sofort an, und der Dumme reißt sich dann unter starkem Bluten die Haut ab. So ist das schon, wenn nur dreißig Grad sind; bei hundertfünfzig Grad braucht man, glaube ich, nur einen Finger an das Beil zu legen, und er ist wie weggeblasen … Falls es dort ein Beil geben sollte …«

»Kann es denn dort ein Beil geben?« unterbrach ihn Iwan Fjodorowitsch zerstreut und angewidert.

Er sträubte sich mit aller Kraft dagegen, seinen Fiebertraum für Wahrheit zu halten und endgültig ins Delirium zu geraten.

»Ein Beil?« fragte der Gast erstaunt zurück.

»Na ja, was wird da aus dem Beil?« schrie Iwan Fjodorowitsch in wütendem, hartnäckigem Eigensinn.

»Was im Weltenraum aus einem Beil wird? Quelle idée! Wenn es weiter von der Erde weggerät, wird es, glaube ich, um die Erde herumfliegen, ohne selber zu wissen, weshalb, nach Art eines Trabanten. Die Astronomen werden Aufgang und Untergang des Beils berechnen, und Gatzuk wird es in seinen Taufkalender eintragen. Das ist alles.«

»Du bist dumm, du bist schrecklich dumm!« sagte Iwan störrisch! »Lüg bitte etwas klüger, sonst werde ich nicht mehr zuhören. Du willst mich durch Realismus überrumpeln und mir einreden, daß du existierst. Ich will aber nicht glauben, daß du existierst! Und ich werde es nicht glauben!«

»Aber ich lüge ja nicht, es ist alles Wahrheit. Leider ist die Wahrheit meist nicht gerade geistreich. Du erwartest, wie ich sehe, von mir etwas Großes und vielleicht auch etwas Schönes. Das ist sehr schade, denn ich gebe nur, was ich kann …«

»Philosophier nicht, du Esel!«

»Was ist daran schon Philosophie, wenn meine ganze rechte Seite gelähmt war, so daß ich ächzte und stöhnte? Ich war bei der ganzen medizinischen Fakultät. Diagnosen stellen können die Herren vortrefflich; alle Momente der Krankheit zählen sie einem an den Fingern auf – bloß zu heilen verstehen sie sie nicht. Da war auch so ein begeisterter junger Student, der sagte: ›Wenn Sie nun auch sterben, so werden Sie doch wenigstens genau wissen, an welcher Krankheit Sie gestorben sind!‹ Und dann ihre Manier, die Kranken zu Spezialisten zu schicken! ›Wir‹, sagen sie, ›stellen nur die Diagnose. Dann müssen Sie zu dem und dem Spezialisten fahren, der wird Sie kurieren.‹ Der Arzt von früher, der alle Krankheiten kurierte, ist heutzutage total verschwunden, sage ich dir; jetzt gibt es nur Spezialisten, und die zeigen sich immer in den Zeitungen an. Wenn dir die Nase weh tut, schicken dich die Ärzte nach Paris. ›Dort‹, sagen sie, ›ist ein europäischer Spezialist, der Nasen kuriert.‹ Du kommst nach Paris, und er untersucht die Nase. ›Ich kann Ihnen‹, sagt er, nur das rechte Nasenloch heilen, linke Nasenlöcher behandle ich nicht, das ist nicht meine Spezialität. Fahren Sie, sobald ich Ihr rechtes Nasenloch geheilt habe, nach Wien, dort wird ein besonderer Spezialist Ihr linkes Nasenloch heilen.‹ Was soll man da machen? Ich nahm meine Zuflucht zu volkstümlichen Mitteln! Ein deutscher Arzt riet mir, mich in der Badestube auf der Schwitzbank mit Honig und Salz einzureiben. Ich ging auch hin, bloß um noch einmal ins Bad zu kommen, und schmierte mich von oben bis unten voll, aber ohne irgendwelchen Nutzen. In meiner Verzweiflung schrieb ich an den Grafen Mattei, einen bekannten Homöopathen in Mailand; der schickte mir ein Buch und Tropfen – wollte Gott, daß sie mir genützt hätten. Und denke dir: Hoffsches Malzextrakt hat mir geholfen! Ich kaufte mir zufällig welches, trank anderthalb Flaschen aus und hätte tanzen können, der Schmerz war weg! Ich beschloß, unter allen Umständen eine Danksagung in den Zeitungen drucken zu lassen, denn das Gefühl der Dankbarkeit war in mir rege geworden. Doch stell dir vor, da passierte eine neue wunderliche Geschichte – bei keiner Redaktion nahm man meine Danksagung an! ›Es wird sich zu reaktionär ausnehmen‹, sagten sie. ›Kein Mensch glaubt mehr daran, le diable n’existe point. Lassen Sie doch die Danksagung anonym drucken.‹ Na, was ist das für eine Danksagung, wenn kein Name daruntersteht! Ich scherzte noch mit den Kontoristen. ›An Gott zu glauben‹, sagte ich, ›das ist in unserem Jahrhundert allerdings reaktionär. Aber ich bin ja der Teufel, an mich darf man glauben.‹ – ›Wir verstehen‹, erwiderten sie. ›Wer glaubt denn nicht an den Teufel? Aber es geht trotzdem nicht. Es könnte unserem Blatt schaden, weil es nicht seiner Richtung entspricht … Oder sollen wir es als Scherz bringen?‹ Na, als Scherz, dachte ich, wäre es nicht sonderlich geistreich. So wurde es eben nicht gedruckt. Und ob du es glaubst oder nicht – das ist mir ein dauernder Schmerz geblieben. Meine besten Gefühle, wie zum Beispiel die Dankbarkeit, sind mir einzig und allein durch meine soziale Stellung verboten.«

»Bist du schon wieder ins Philosophieren geraten?« knirschte Iwan haßerfüllt.

»Gott behüte mich davor! Doch es ist manchmal einfach unmöglich, sich nicht zu beklagen. Ich bin ein arg verleumdeter Mensch. Da sagst du mir alle Augenblicke, ich sei dumm. Daran sieht man, daß du noch jung bist. Mein Freund, der Verstand ist nicht das einzige, worauf es ankommt! Ich habe von Natur ein gutes, fröhliches Herz, ich habe sogar verschiedene kleine Lustspiele verfaßt. Du scheinst mich wohl für einen alt gewordenen Chlestakow zu halten, und doch ist mein Schicksal viel ernster. Durch irgendeine urewige Bestimmung, die ich nie habe begreifen können, ist es zu meinem Beruf gemacht worden, zu ›verneinen‹, während ich doch von Herzen gut und zum Verneinen gänzlich unfähig bin. ›Nein‹, heißt es, ›geh hin und verneine! Ohne Verneinung ist keine Kritik möglich, und was wäre ein Journal ohne eine Abteilung Kritik? Ohne die Kritik gäbe es ja in der Welt nichts weiter als Hosiannarufe. Aber für das Leben reicht das bloße Hosiannarufen nicht aus; das Hosianna muß erst durch den Schmelzofen der anzweifelnden Prüfung hindurchgegangen sein‹ – na, und in dieser Art weiter. Ich mische mich übrigens in diese ganze Geschichte nicht ein; ich habe die Welt nicht geschaffen, ich trage nicht die Verantwortung dafür. Na, und da hat man irgendeinen Sündenbock herausgesucht, ihn gezwungen, in der ›Abteilung Kritik‹ zu schreiben – und so hat man Leben erzielt. Wir durchschauen diese Komödie. Ich zum Beispiel verlange ganz einfach und direkt meine Vernichtung. ›Nein‹, heißt es, ›lebe weiter, denn ohne dich würde alles aufhören. Wenn alles auf der Erde vernünftig wäre, würde sich nichts ereignen. Ohne dich würde es keine Ereignisse geben, es ist aber notwendig, daß es Ereignisse gibt!‹ So unterdrücke ich denn meinen Verdruß und tue meinen Dienst, damit es Ereignisse gibt, und schaffe auf Befehl Unvernünftiges. Die Menschen halten diese ganze Komödie für etwas Ernstes, trotz ihres unbestreitbaren Verstandes. Darin besteht halt ihre Tragödie. Sie leiden nun zwar, doch dafür leben sie ja auch. Sie haben ein wirkliches Leben, nicht nur ein eingebildetes – denn gerade im Leiden besteht das Leben. Ohne Leiden wäre das Leben ohne jeden Genuß; alles würde sich in ein einziges endloses Gebet verwandeln – das wäre gewiß fromm, aber auch ein bißchen langweilig. Na und ich? Ich leide, trotzdem lebe ich nicht. Ich bin das x in einer unbestimmten Gleichung. Ich bin ein Phantom des Lebens, ein Phantom, das alle Enden und Anfänge verloren und schließlich selbst vergessen hat, wie es sich nennen soll. Du lachst … Nein, du lachst nicht, du ärgerst dich wieder. Du ärgerst dich in einem fort, du möchtest, daß alles nur Verstand ist. Doch ich wiederhole, ich würde dieses ganze überirdische Leben und alle Titel und Ehren dafür hingeben, wenn ich mich in einer siebenpudschweren Kaufmannsfrau verkörpern und dem lieben Gott Kerzen in der Kirche aufstellen könnte!«

»Also glaubst auch du nicht mehr an Gott?« sagte Iwan, gehässig lächelnd.

»Wie soll ich dir darauf antworten – falls du überhaupt im Ernst fragst …«

»Gibt es einen Gott oder nicht?« schrie Iwan wieder hartnäckig.

»Ah, also du fragst im Ernst? Mein Täubchen, bei Gott, ich weiß es nicht. Da habe ich ein großes Wort ausgesprochen.«

»Du weißt es nicht, und doch siehst du Gott? Nein, du bist kein selbständiges Wesen, du bist ich! Du bist ich und weiter nichts! Du bist ein Dreck, du bist meine Phantasie!«

»Wenn es dir recht ist, wollen wir sagen: Ich gehöre derselben philosophischen Richtung an wie du – das wäre eine gerechte Ausdrucksweise. Je pense, donc je suis, das weiß ich bestimmt. Alles übrige jedoch, was um mich ist, alle diese Welten, Gott und sogar der Satan selbst – von alledem ist für mich nicht bewiesen, ob es selbständig existiert oder nur eine Emanation von mir ist, eine folgerichtige Entwicklung meines urewig und persönlich existierenden Ichs … Ich breche lieber ab, weil du wahrscheinlich gleich aufspringen wirst, um mich zu prügeln.«

»Du solltest lieber irgendeine Anekdote erzählen!« sagte Iwan gequält.

»Eine Anekdote hätte ich schon, und sogar eine, die zu unserem Thema paßt, das heißt, es ist eigentlich keine Anekdote, sondern mehr so eine Legende. Du wirfst mir Unglauben vor, wenn du sagst: ›Du siehst, und dennoch glaubst du nicht.‹ Aber, mein Freund, es geht nicht nur mir so, bei uns sind jetzt alle ganz konfus geworden, und das infolge eurer Wissenschaften. Solange es noch die Atome gab und die fünf Sinne und die vier Elemente, na, da hielt alles so leidlich zusammen. Atome gab es ja auch schon im Altertum. Doch als man bei uns erfuhr, daß ihr das ›chemische Molekül‹ entdeckt hättet und das ›Protoplasma‹ und Gott weiß was noch, da kniffen sie bei uns die Schwänze zwischen die Beine. Es begann ein wüstes Treiben, besonders Aberglaube, Klatscherei, Klatscherei gibt es ja auch bei uns, soviel wie bei euch, sogar noch ein bißchen mehr und dann noch Denunziation – bei uns gibt es ja auch eine Abteilung, wo gewisse Mitteilungen entgegengenommen werden … Also nun diese absonderliche Legende. Sie stammt noch aus unserem Mittelalter, nicht aus eurem Mittelalter, sondern aus unserem, und selbst bei uns glaubt an sie niemand außer den siebenpudschweren Kaufmannsfrauen, das heißt wieder nicht euren, sondern unseren Kaufmannsfrauen. Alles was es bei euch gibt, gibt es auch bei uns! Ich enthülle dir damit aus Freundschaft eines unserer Geheimnisse, obwohl das verboten ist. Diese Legende handelt vom Paradies. Es war einmal, wird erzählt, bei euch hier auf Erden so ein Denker und Philosoph, der ›alles verneinte. Gesetze, Gewissen und Glauben‹, vor allem aber das zukünftige Leben. Er starb und dachte, nun ginge es geradewegs in Finsternis und Tod hinein, doch da stand vor ihm – das zukünftige Leben. Er war darüber sehr erstaunt und ungehalten. ›Das widerspricht‹, sagte er, ›meinen Überzeugungen.‹ Dafür wurde er nun auch verurteilt … Das heißt, entschuldige bitte, ich gebe ja nur wieder, was ich gehört habe, es ist eben nur eine Legende … Siehst du, er wurde also dazu verurteilt, in der Finsternis eine Quadrillion Kilometer zu gehen, bei uns rechnet man ja jetzt auch nach Kilometern; und wenn er mit dieser Quadrillion fertig war, sollten ihm die Pforten des Paradieses geöffnet und ihm sollte alles verziehen werden …«

»Was gibt es denn in eurer Welt sonst noch für Qualen außer dieser Quadrillion?« unterbrach ihn Iwan mit einer seltsamen Lebhaftigkeit.

»Was es sonst für Qualen gibt? Ach, frag lieber nicht danach! Früher war es damit noch einigermaßen leidlich bestellt, aber jetzt sind immer mehr die seelischen Qualen aufgekommen, die ›Gewissensbisse‹ und all dieser Quatsch. Das ist auch so eine Neuerung von euch, eine Folge der ›Milderung eurer Sitten‹. Na, und wer hat dabei profitiert? Profitiert haben nur die Gewissenlosen, denn was hat so einer für Gewissensbisse, wenn er überhaupt kein Gewissen hat? Gelitten haben dafür die anständigen Leute, bei denen sich noch Gewissen und Ehrgefühl erhalten haben … Ja, so ist das mit Reformen auf unvorbereiteter Grundlage, zumal wenn sie eine Kopie fremder Einrichtungen sind: Es kommt weiter nichts als Schaden dabei heraus! Wir hätten lieber das gute alte Höllenfeuer behalten sollen … Nun, dieser zu einer Quadrillion Kilometer Verurteilte stand ein Weilchen da, blickte vor sich hin und legte sich dann quer über den Weg. ›Ich werde nicht gehen‹, sagte er; ›aus Prinzip werde ich nicht gehen!‹ Nimm die Seele eines gebildeten russischen Atheisten und mische sie mit der Seele des Propheten Jonas, der drei Tage und drei Nächte im Bauch des Walfisches schmollte – da hast du den Charakter dieses Denkers, der sich quer über den Weg gelegt hatte.«

»Worauf hatte er sich denn da gelegt?«

»Na, es wird schon etwas dagewesen sein, worauf er liegen konnte. Machst du dich auch nicht darüber lustig?«

»Ein famoser Kerl!« rief Iwan, noch immer mit derselben seltsamen Lebhaftigkeit. Er hörte jetzt mit überraschendem Interesse zu! »Nun weiter! Liegt er noch da?«

»Das ist es ja eben, daß er nicht mehr daliegt. Er hat fast tausend Jahre dagelegen, dann stand er auf und fing an zu gehen.«

»So ein Esel!« rief Iwan. Er lachte nervös, doch es machte den Eindruck, als dachte er angestrengt über etwas nach! »Ist es nicht ganz egal, ob er ewig daliegt oder eine Quadrillion Werst geht? Daran hat er ja wohl eine Billion Jahre zu gehen?«

»Sogar viel mehr. Ich habe keinen Bleistift und kein Papier zur Hand, sonst ließe sich das ausrechnen. Aber er ist ja schon längst mit seiner Wanderung fertig, und eben da beginnt die Anekdote.«

»Was? Mit seiner Wanderung fertig? Wo hat er denn die Billion Jahre hergenommen?«

»Du denkst immer nur an unsere heutige Erde! Die heutige Erde hat sich ja selbst vielleicht billionenmal wiederholt; sie wurde altersschwach, vereiste, barst, fiel auseinander, zersetzte sich in ihre Elementarbestandteile, dann war sie wieder Wasser unter und über der Feste, dann wieder ein Komet, dann eine Sonne, dann wurde sie aus einer Sonne wieder eine Erde – diese Entwicklung hat sich vielleicht schon unzählige Male wiederholt, und immer auf dieselbe Weise, bis aufs Tüpfelchen. Eine geradezu unanständig langweilige Geschichte …«

»Nun, und was ist dann geschehen, als er mit seiner Wanderung fertig war?«

»Sobald man ihm die Pforten des Paradieses geöffnet hatte und er eingetreten und noch nicht zwei Sekunden drin war, und zwar nach der Uhr, obgleich sich seine Uhr meiner Ansicht nach unterwegs längst in ihre Bestandteile hätte auflösen müssen, kurz, er war also noch nicht zwei Sekunden drin, da rief er, für diese zwei Sekunden könne man nicht nur eine Quadrillion, sondern eine Quadrillion Quadrillionen Kilometer gehen, ja selbst wenn diese Zahl noch zur quadrillionsten Potenz erhoben würde! Kurz, er sang Hosianna und übertrieb das dermaßen, daß von den dort Anwesenden einige mit etwas vornehmerer Denkweise ihm anfangs nicht einmal die Hand geben mochten: Er war allzu eifrig zu den Konservativen übergegangen. Ein echt russischer Charakter! Ich wiederhole, es ist eine Legende; ich gebe sie so wieder, wie ich sie gehört habe. Du siehst also, was für Begriffe dort bei uns über diese Dinge gang und gäbe sind.«

»Jetzt habe ich dich ertappt!« rief Iwan mit einer fast kindlichen Freude, als hätte er sich nun mit Sicherheit an etwas erinnert. Diese Anekdote über die Quadrillion Werst habe ich selbst erfunden! Ich war damals siebzehn Jahre alt und besuchte das Gymnasium. Ich habe diese Anekdote damals erfunden und einem Mitschüler namens Korowkin erzählt; es war in Moskau. Diese Anekdote ist so charakteristisch, daß ich sie von nirgendwoher nehmen konnte. Ich hatte sie beinahe vergessen, doch jetzt ist sie mir unwillkürlich wieder ins Gedächtnis gekommen – mir selbst, hörst du, nicht du hast sie mir erzählt! Wie einem eben tausend Dinge manchmal unwillkürlich ins Gedächtnis kommen, sogar wenn man zum Schafott geführt wird … Im Traum ist sie mir eingefallen. Und du, du bist dieser Traum! Du bist ein Traum und existierst nicht!«

»Nach der Heftigkeit zu urteilen, mit der du mich verneinst«, erwiderte der Gentleman lachend, »bin ich überzeugt, daß du an mich glaubst.«

»Durchaus nicht! Nicht wie eins zu hundert glaube ich!«

»Aber wie eins zu tausend glaubst du. Die homöopathischen Bruchteile sind vielleicht gerade besonders kräftig. Gestehe, daß du glaubst, na, dann eben wie eins zu zehntausend …«

»Nicht eine Sekunde!« rief Iwan hitzig! »Übrigens würde ich ganz gern an dich glauben!« fügte er auf einmal seltsam hinzu.

»Aha! Das ist ja doch ein Geständnis! Aber ich bin gut, ich werde dir auch hier behilflich sein. Weißt du was? Ich habe dich ertappt, nicht du mich! Ich habe dir absichtlich deine eigene Anekdote erzählt, die du schon vergessen hattest, damit du den Glauben an mich endgültig verlierst.«

»Du lügst! Der Zweck deines Erscheinens ist, mich davon zu überzeugen, daß du existierst.«

»Ganz richtig. Aber das Schwanken, die Unruhe, der Kampf zwischen Glauben und Unglauben, das ist ja manchmal für einen gewissenhaften Menschen wie dich so eine Qual, daß er sich am liebsten aufhängen möchte. Gerade weil ich weiß, daß du ein Tröpfchen Glauben an mich besitzt, goß ich dir ein Quantum Unglauben hinzu, indem ich dir diese Anekdote erzählte. Ich führe dich zwischen Glauben und Unglauben unaufhörlich hin und her und habe dabei meine bestimmte Absicht. Das ist meine neue Methode. Sobald du allen Glauben an mich verloren hast, wirst du mir sofort ins Gesicht versichern, daß ich kein Traum bin, sondern wirklich existiere – ich kenne dich doch schon! Dann werde ich mein Ziel erreichen, und mein Ziel ist ein edles. Ich werde in dich nur ein winzig kleines Samenkorn des Glaubens legen; daraus wird eine Eiche wachsen, und zwar eine Eiche von solcher Stärke, daß du wünschen wirst, dich zu ›den frommen Einsiedlern und den makellosen Frauen‹ zu gesellen; denn im geheimen trägst du danach ein großes Verlangen. Du wirst Heuschrecken essen und in die Wüste ziehen, um deine Seele zu retten!«

»Also du Taugenichts bist auf die Rettung meiner Seele bedacht?«

»Man muß doch wenigstens mal ein gutes Werk tun. Du ärgerst dich, wie ich sehe?«

»Witzbold! Hast du denn schon einmal solche Leute in Versuchung geführt, die Heuschrecken essen und siebzehn Jahre lang in einer öden Wüste beten, so daß richtiges Moos auf ihnen wächst?«

»Mein Täubchen, das ist ja meine Hauptbeschäftigung. Die ganze Welt und alle Welten vergißt man und heftet sich an einen einzigen solchen Menschen, denn das ist ein höchst wertvoller Brillant! Eine einzige solche Seele ist manchmal so viel wert wie ein ganzes Sternbild – wir haben ja unsere eigene Arithmetik. Ein solcher Sieg ist wertvoll! Und manche von ihnen stehen dir weiß Gott an Bildung nicht nach, wenn du es auch vielleicht nicht glaubst. Sie können solche Abgründe des Glaubens und des Unglaubens in einem einzigen Augenblick im Geist schauen, daß manchmal wirklich nur ein Haarbreit zu fehlen scheint, und der Mensch stürzt ›mit den Beinen nach oben‹ hinab, wie sich der Schauspieler Gorbunow ausdrückt.«

»Na, und der Erfolg? Bist du mit langer Nase abgezogen?«

»Mein Freund«, antwortete der Gast bedachtsam, »mit langer Nase abziehen ist manchmal besser als ganz ohne Nase, wie erst kürzlich ein kranker Marquis (gewiß hatte ihn ein Spezialist behandelt) zu seinem Beichtvater, einem Jesuiten, sagte. Ich war zugegen – es war geradezu entzückend. ›Geben Sie mir meine Nase wieder!‹ sagte er und schlug sich an die Brust. ›Mein Sohn‹, erwiderte der schlaue Pater, ›alles vollzieht sich nach den unerforschlichen Ratschlüssen der Vorsehung, und ein großes Unglück zieht bisweilen einen außerordentlichen, wenn auch unsichtbaren Vorteil nach sich. Wenn ein strenges Schicksal Sie der Nase beraubt hat, so besteht Ihr Vorteil darin, daß nun niemand in Ihrem ganzen Leben mehr zu Ihnen sagen kann, Sie seien mit langer Nase abgezogen.‹ – ›Frommer Vater, das ist kein Trost!‹ rief der andere verzweifelt. Ich würde im Gegenteil voll Entzücken mein Leben lang täglich mit langer Nase abziehen, wenn sie bei mir nur am richtigen Fleck säße.‹ – ›Mein Sohn‹, antwortete der Pater seufzend, ›alle Güter zugleich darf man nicht verlangen, das wäre Aufmucken wider die Vorsehung, die Sie auch hierbei nicht vergessen hat! Denn wenn Sie wie soeben ausrufen, Sie seien mit Freuden bereit, Ihr Leben lang mit langer Nase abzuziehen, so ist auch dieser Ihr Wunsch schon indirekt erfüllt: indem Sie Ihre Nase verloren, sind Sie nämlich gewissermaßen schon mit langer Nase abgezogen …‹ «

»Pfui, wie dumm!« rief Iwan.

»Mein Freund, ich wollte dich nur zum Lachen bringen, aber ich schwöre, das ist echte jesuitische Kasuistik! Und ich schwöre dir weiter, alles dies hat sich buchstäblich so begeben, wie ich es dir erzählt habe. Dieser Fall ist erst kürzlich passiert und hat mir viel Mühe und Arbeit gemacht. Der unglückliche junge Mensch kehrte nach Hause zurück und erschoß sich noch in derselben Nacht; ich blieb bis zum letzten Augenblick ununterbrochen bei ihm … Diese Beichtstühle der Jesuiten bilden aber tatsächlich meine liebste Zerstreuung in traurigen Momenten meines Lebens. Ich will dir noch einen Fall erzählen, ganz neuen Datums. Kommt da zu einem alten Pater eine Blondine aus der Normandie, um die zwanzig. Ein schönes Gesicht, ein Prachtkörper, ein nettes Wesen – man leckt sich unwillkürlich die Lippen. Sie kniet nieder und flüstert durch die Öffnung dem Pater ihre Sünde zu. ›Aber, meine Tochter, sind Sie wirklich schon wieder gefallen?‹ ruft der Pater. ›O sancta Maria, was höre ich, nun mit einem anderen! Wie lange soll denn das noch dauern, schämen Sie sich gar nicht?‹ – ›Ah, mon père‹, antwortet die Sünderin, in Reuetränen zerfließend, ›ca lui fait tant de plaisir et à moi si peu de peine!‹ Na, stelle dir mal diese Antwort vor! Als ich das hörte, nahm ich einfach Abstand von ihr. Das war ein echter Schrei der Natur, das war, könnte man sagen, besser als die Unschuld selbst! Ich erließ ihr auf der Stelle die Sünde und wollte schon gehen, sah mich jedoch genötigt, wieder umzukehren. Ich hörte, wie der Pater durch die Öffnung hindurch sie auf den Abend zu einem Rendezvous bestellte! Ein alter Mann, ein Kieselstein – und war in einem Augenblick gefallen: Das Recht der Natur hatte gesiegt! Nun? Rümpfst du wieder die Nase, ärgerst du dich wieder? Ich weiß schon nicht mehr, wie ich es dir recht machen kann …«

»Laß mich in Ruhe! Du hämmerst in meinem Gehirn wie ein schwerer Traum, der sich nicht abschütteln läßt«, stöhnte Iwan, gequält von dem Bewußtsein, daß er seiner Vision gegenüber machtlos war! »Du langweilst und quälst mich, du bist mir unerträglich! Ich würde viel darum geben, wenn ich dich wegjagen könnte!«

»Ich wiederhole, mäßige deine Ansprüche! Verlange von mir nicht ›alles Große und Schöne‹, und du wirst sehen, wie freundschaftlich wir uns miteinander einleben werden«, sagte der Besucher nachdrücklich! »In Wahrheit ärgerst du dich nur deshalb, weil ich nicht in rotem Licht, unter Donner und Blitz und mit versengten Flügeln erschienen bin, sondern in so bescheidener Gestalt. Du fühlst dich gekränkt, erstens in deinen ästhetischen Empfindungen und zweitens in deinem Stolz. ›Wie konnte nur zu so einem bedeutenden Mann so ein gemeiner Teufel kommen?‹ denkst du. Nein, auch du hast diese romantische Ader, über die schon Belinski so gespottet hat. Was ist da zu machen, junger Mann? Vorhin, als ich mich auf den Weg zu dir machte, eigentlich hatte ich die Absicht, mich zum Scherz in der Gestalt eines Wirklichen Staatsrates a. D. zu präsentieren, der im Kaukasus angestellt war und den Stern des persischen Löwen- und Sonnenordens auf dem Frack hat, aber ich fürchtete mich geradezu, es zu tun – du hättest mich dafür höchstens verprügelt, daß ich mich erdreistete, nur den Löwen- und Sonnenorden an den Frack zu hängen und nicht wenigstens den Polarstern oder den Sirius … Und immerzu sagst du, ich sei dumm. Doch ich erhebe ja auch gar keinen Anspruch darauf, dir an Verstand gleichzukommen. Als Mephistopheles zu Faust kam, da erklärte er von sich, er wolle das Böse, schaffe aber nur das Gute. Nun, mag das sein, wie es ihm beliebt – bei mir ist das genaue Gegenteil der Fall. Ich bin vielleicht der einzige Mensch in der ganzen Natur, der die Wahrheit liebt und aufrichtig das Gute wünscht. Ich war zugegen, als das am Kreuz gestorbene Wort zum Himmel emporstieg und die Seele des zu seiner Rechten gekreuzigten Schächers an seiner Brust hielt; ich hörte das freudige Jauchzen der Hosianna singenden Cherubim und den donnernden Jubelruf der Seraphim, von dem der Himmel und das ganze Weltgebäude erzitterte. Und ich schwöre bei allem, was heilig ist, ich wollte schon in den Chor einstimmen und mit allen Hosianna rufen. Schon stieg der Ruf aus meiner Brust und wollte sich von meinen Lippen losreißen … Ich bin ja, wie du weißt, sehr empfindsam und für künstlerische Dinge sehr empfänglich. Doch die gesunde Vernunft, diese unglücklichste Eigenschaft meines Wesens, hielt mich auch damals in den gebührenden Schranken, und ich ließ den Augenblick vorübergehen! ›Denn was wäre die Folge meines Hosianna?‹ dachte ich in diesem Moment. Sofort würde alles in der Welt erlöschen, und keine Ereignisse würden mehr eintreten … Und so sah ich mich einzig und allein wegen meiner Amtspflicht und meiner sozialen Stellung genötigt, die gute Regung des Augenblicks in mir zu unterdrücken und bei den Gemeinheiten zu bleiben. Die Ehre, Gutes zu tun, nimmt ein anderer total für sich in Anspruch, und als mein Anteil bleiben nur die Gemeinheiten. Aber ich beneide ihn nicht um die Ehre, auf anderer Leute Kosten zu leben, ich bin nicht ehrgeizig. Warum bin von allen Wesen auf der Welt nur ich allein dazu verurteilt, von allen anständigen Leuten verflucht und sogar mit Fußtritten bedacht zu werden? Denn wenn ich mich verkörpere, muß ich manchmal auch solche Konsequenzen mit in Kauf nehmen. Ich weiß wohl, daß ein Geheimnis dahintersteckt, doch dieses Geheimnis will man mir um keinen Preis enthüllen; ich könnte nämlich, wenn ich gemerkt hätte, um was es sich handelt, womöglich ›Hosianna!‹ schreien, und dann würde sogleich das unentbehrliche Minus verschwinden und in der ganzen Welt die Vernunft anheben, damit hätte jedoch selbstverständlich alles ein Ende, sogar die Zeitungen und Journale, denn wer würde sie dann noch abonnieren? Ich weiß, am Ende werde auch ich mich aussöhnen und meine Quadrillion Kilometer ablaufen und das Geheimnis erfahren. Aber bis es dahin kommt, schmolle ich und erfülle, meinen Ärger verbeißend, meine Bestimmung: Tausende zugrunde zu richten, damit ein einziger gerettet wird. Wieviel Seelen mußten zum Beispiel zugrunde gerichtet und wieviel ehrenhafte Reputationen verdorben werden, um nur den einen gerechten Hiob zustande zu bringen, mit dem ich seinerzeit so schändlich angeführt wurde! Nein, solange mir das Geheimnis nicht enthüllt ist, existieren für mich zwei Wahrheiten: erstens ihre dort, die mir vorläufig ganz unbekannt ist, und zweitens meine. Und es steht noch dahin, welche die reinere Wahrheit sein wird … Du bist eingeschlafen?«

»Gott bewahre!« stöhnte Iwan wütend! »Alles, was es in meinem Wesen Dummes gibt, längst Abgetanes, in meinem Verstand Wiedergekäutes, wie Aas Weggeworfenes – alles das setzt du mir wieder vor als etwas ganz Neues!«

»Also habe ich es wieder nicht getroffen! Und ich hatte schon gehofft, durch die belletristische Darstellungsweise dein Interesse zu erregen. Dieses Hosianna im Himmel kam doch wirklich nicht übel heraus? Und dann eben dieser sarkastische Ton à la Heine, nicht wahr?«

»Nein, ich bin nie so eine Knechtsseele gewesen. Wie hat meine Seele nur eine Bedientenseele wie dich hervorbringen können?«

»Mein Freund, ich kenne einen ganz reizenden, allerliebsten jungen russischen Herrn, einen jungen Denker und großen Liebhaber von Literatur und geschmackvollen Dingen, den Verfasser eines vielversprechenden Werkes mit der Überschrift: ›Der Großinquisitor…‹ Allein den hatte ich dabei ins Auge gefaßt!«

»Ich verbiete dir, von dem ›Großinquisitor‹ zu reden!« schrie Iwan, vor Scham rot geworden.

»Na, und die ›Geologische Umwälzung‹? Erinnerst du dich? Das ist doch wirklich eine hübsche kleine Dichtung!«

»Schweig, oder ich schlag dich tot!«

»Nun willst du mich gar totschlagen? Nein, entschuldige, ich möchte mich doch aussprechen. Deswegen bin ich ja hergekommen, um dieses Vergnügen auszukosten. Oh, ich liebe die Schwärmereien meiner feurigen, vor Lebensdurst zitternden jungen Freunde! Dort gibt es neue Menschen, sagtest du dir noch im vorigen Frühjahr, als du im Begriff warst, hierherzufahren. Sie beabsichtigen, alles zu zerstören und wieder mit der Menschenfresserei zu beginnen. Die Dummköpfe! Warum haben sie mich nicht um Rat gefragt? Meiner Ansicht nach ist gar kein großes Zerstörungswerk erforderlich: Man braucht bei der Menschheit nur die Gottesidee zu zerstören – das ist der Punkt, an dem man das Werk in Angriff nehmen muß! Damit muß man anfangen – o die armen Blinden, die nichts begreifen! Wenn sich die Menschheit erst Mann für Mann von Gott losgesagt hat, und ich glaube, daß diese Periode ebenso wie die geologischen Perioden eintreten wird, dann wird die ganze frühere Weltanschauung und die ganze frühere Moral von selbst, ohne Menschenfresserei, zusammenstürzen, und etwas ganz Neues wird auf den Plan treten. Die Menschen werden sich zusammentun, um aus dem Leben alles herauszuholen, was das Leben geben kann, aber ausschließlich, um sich auf dieser Welt zu freuen und glücklich zu sein. Der Mensch wird höher und größer werden durch den Geist eines götterhaften, titanischen Stolzes, und der Mensch-Gott wird in Erscheinung treten. Indem der Mensch durch seinen Willen und die Wissenschaft stündlich und in unbegrenztem Maße die Natur besiegt, wird er eben dadurch stündlich einen so hohen Genuß empfinden, daß dieser ihm alle früheren Hoffnungen auf himmlische Genüsse ersetzen wird. Jeder wird erkennen, daß er ganz und gar sterblich ist, ohne Auferstehung, und wird den Tod stolz und ruhig hinnehmen wie ein Gott. Er wird aus Stolz einsehen, daß er keinen Grund hat zu murren, weil das Leben so schnell vergeht, und er wird seinen Bruder nun lieben, ohne Lohn dafür zu erwarten. Er wird seine Liebe auf das kurze Leben beschränken müssen; doch schon allein durch das Bewußtsein, daß sie nur so kurze Zeit dauern kann, wird sie um so viel feuriger sein, als sie früher durch die Hoffnung auf eine ewig währende Fortsetzung im Jenseits abgeschwächt wurde … Na und so weiter und so fort in dieser Art. Allerliebst!«

Iwan saß da, hielt sich mit den Händen die Ohren zu und blickte zu Boden; er begann am ganzen Körper zu zittern. Die Stimme fuhr fort:

»Die Frage ist jetzt die: Hielt mein junger Denker es für möglich, daß eine solche Periode jemals eintritt oder nicht? Wenn sie eintritt, ist alles entschieden, und die Menschheit wird sich endgültig danach einrichten. Da dies jedoch angesichts der eingewurzelten menschlichen Dummheit vielleicht in tausend Jahren noch nicht geschehen wird, darf sich jeder, der jetzt schon die Wahrheit erkennt, auf den neuen Grundlagen ganz nach seinem Belieben einrichten. In diesem Sinn ist ihm ›alles erlaubt‹. Ja noch mehr: Selbst wenn diese Periode niemals eintreten sollte, wird der neue Mensch, da es Gott und Unsterblichkeit ja nicht gibt, trotzdem ein Mensch-Gott werden dürfen, selbst wenn dies nur ein einziger in der ganzen Welt erreichen sollte – und der wird dann bei seinem neuen Rang jede frühere sittliche Schranke des früheren Knecht-Menschen mit leichtem Herzen überspringen, falls das nötig wird. Für einen Gott existiert kein Gesetz! Wo sich ein Gott hinstellt, da gehört der Platz ihm! Wo ich mich hinstelle, da wird der erste Platz sein … ›Alles ist erlaubt‹, und damit basta! Das ist ja alles sehr hübsch, doch wenn der junge Denker nun einmal betrügen wollte, wozu brauchte er da noch die Sanktion der Wahrheit, sollte man meinen? Aber so ist unser moderner Russe nun einmal: Ohne Sanktion entschließt er sich nicht einmal zum Betrügen, so sehr hat er die Wahrheit liebgewonnen …«

Während der Gast sprach, hatte er offenbar seine Freude an der eigenen Redekunst; er hob die Stimme immer mehr und musterte Iwan spöttisch, aber er konnte nicht zu Ende sprechen: Iwan ergriff plötzlich ein auf dem Tisch stehendes Glas und warf es mit starkem Schwung nach dem Redner.

»Ah, mais c’est bête enfin!« rief der Besucher, sprang vom Sofa auf und klopfte sich mit den Fingern die angespritzten Teetropfen ab! »Luthers Tintenfaß ist dir eingefallen. Hält der Mensch mich für einen Traum und wirft nach dem Traum mit Gläsern! Das ist Weibermanier! Ich hatte mir schon gedacht, daß du nur so tatest, als hieltest du dir die Ohren zu. Du hast aber doch gehört …«

Auf einmal ließ sich von draußen ein energisches, anhaltendes Klopfen gegen den Fensterrahmen vernehmen. Iwan Fjodorowitsch fuhr auf.

»Weißt du, öffne lieber!« rief der Gast! »Das ist dein Bruder Aljoscha mit einer sehr interessanten, unerwarteten Nachricht, dafür bürge ich dir!«

»Schweig, du Betrüger! Ich habe früher als du gewußt, daß es Aljoscha ist. Ich habe sein Kommen geahnt; und natürlich kommt er nicht ohne Grund; natürlich bringt er eine Nachricht!« rief Iwan außer sich.

»So mach ihm doch auf! Draußen tobt ein Schneesturm, und er ist dein Bruder. Monsieur sait-il le temps qu’il fait? C’est à ne pas mettre un chien dehors ..! »

Das Klopfen dauerte an. Iwan wollte zum Fenster stürzen, aber ihm war, als seien ihm Beine und Arme gefesselt. Er strengte sich aus aller Kraft an, um seine Fesseln zu zerreißen – vergebens. Das Klopfen am Fenster wurde immer stärker und lauter. Endlich zerrissen plötzlich die Fesseln, und Iwan Fjodorowitsch sprang vom Sofa auf. Er blickte verstört um sich. Die beiden Lichter waren fast völlig heruntergebrannt, das Glas, mit dem er eben nach seinem Gast geworfen hatte, stand vor ihm auf dem Tisch, und auf dem Sofa gegenüber saß niemand! Das Klopfen am Fenster dauerte zwar beharrlich fort, doch durchaus nicht so laut, wie es ihm soeben im Traum vorgekommen war, sondern vielmehr sehr maßvoll.

»Das war kein Traum! Nein, ich schwöre es, das war kein Traum – das war Wirklichkeit!« rief Iwan Fjodorowitsch, stürzte zum Fenster und öffnete die Luftklappe! »Aljoscha? Ich habe dir doch verboten herzukommen!« schrie er seinen Bruder zornig an! »Sag in zwei Worten, was willst du? In zwei Worten, hörst du?«

»Vor einer Stunde hat sich Smerdjakow erhängt«, antwortete Aljoscha von draußen.

»Komm an die Haustür, ich mache dir sofort auf!« sagte Iwan und ging, Aljoscha hereinzulassen.

10. »Das hat er gesagt!«

Als Aljoscha hereingekommen war, teilte er seinem Bruder mit, vor einer guten Stunde sei Marja Kondratjewna zu ihm in die Wohnung gekommen mit der Nachricht, daß Smerdjakow sich das Leben genommen habe! »Ich ging zu ihm hinein, den Samowar holen, da hing er an der Wand an einem Nagel,« Auf Aljoschas Frage, ob sie das schon an der entsprechenden Stelle angezeigt habe, hatte sie geantwortet, sie habe es nicht angezeigt! »Ich bin gleich zu Ihnen gestürzt und den ganzen Weg gerannt!« Aljoscha berichtete, sie sei wie irrsinnig gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Als er mit ihr zusammen zu ihrem Häuschen gelaufen war, hatte er Smerdjakow noch immer hängend gefunden. Auf dem Tisch lag ein Zettel: »Ich vernichte mein Leben nach meinem eigenen Wunsch und Willen, um niemand zu beschuldigen,« Aljoscha hatte den Zettel auf dem Tisch liegengelassen, war direkt zum Bezirkshauptmann gegangen und hatte ihm Anzeige erstattet! »Und von dort bin ich geradewegs zu dir gekommen«, schloß Aljoscha und sah seinen Bruder unverwandt an. Auch die ganze Zeit, während er erzählte, hatte er die Augen nicht von ihm abgewandt, als ob ihm etwas an Iwans Gesicht stark auffiel.

»Bruder«, rief er plötzlich, »du bist sicher sehr krank! Du siehst mich an und scheinst nicht zu verstehen, was ich sage.«

»Das ist gut, daß du gekommen bist«, sagte Iwan gedankenverloren, als hätte er Aljoschas Ausruf gar nicht gehört! »Ich habe es gewußt, daß er sich erhängt hat.«

»Von wem denn?«

»Ich weiß nicht, von wem. Aber ich habe es gewußt. Habe ich es gewußt? Ja, er hat es mir gesagt. Er hat es mir soeben schon gesagt …«

Iwan stand mitten im Zimmer und sprach noch immer genauso in Gedanken versunken, den Blick gesenkt.

»Wer ist das – er?« fragte Aljoscha und schaute sich unwillkürlich um.

»Er hat sich davongemacht.«

Iwan hob den Kopf und lächelte leise.

»Er hat vor dir Angst bekommen, vor dir, du Taube. Du bist ein ›reiner Cherub‹, Dmitri nennt dich einen Cherub. Die Cherubim … Der donnernde Jubelruf der Seraphim! Was ist das, ein Seraph? Vielleicht ein ganzes Sternbild? Aber vielleicht ist ein ganzes Sternbild nur ein chemisches Molekül … Gibt es ein Sternbild des Löwen und der Sonne, weißt du das nicht?«

»Bruder, setz dich hin!« sagte Aljoscha erschrocken! »Um Gottes willen, setz dich aufs Sofa! Du fieberst, leg dich auf das Kissen, siehst du, so! Willst du ein nasses Handtuch auf den Kopf? Vielleicht wird dir dann besser?«

»Ja, gib mir das Handtuch! Dort auf dem Stuhl, da habe ich es vorhin hingeworfen.«

»Da ist es nicht. Aber beunruhige dich nicht, ich weiß, wo es liegt. Da ist es«, sagte Aljoscha, der in einer anderen Ecke des Zimmers auf Iwans Waschtisch ein noch sauberes, zusammengefaltetes, ungebrauchtes Handtuch gefunden hatte.

Iwan sah das Handtuch sonderbar an. Für einen Augenblick schien ihm die Besinnung zurückzukehren.

»Warte mal …«, sagte er und stand vom Sofa auf! »Ich habe vor einer Stunde dieses Handtuch von derselben Stelle genommen und mit Wasser befeuchtet. Ich legte es mir auf den Kopf und warf es dann hin … Wie kann es denn jetzt trocken sein? Ein anderes ist nicht dagewesen.«

»Du hattest dieses Handtuch auf dem Kopf?« fragte Aljoscha.

»Ja, und ich bin im Zimmer auf und ab gegangen, vor einer Stunde … Wie kommt es, daß die Lichter so weit heruntergebrannt sind? Wie spät ist es?«

»Bald zwölf.«

»Nein, nein, nein!« schrie Iwan plötzlich ..! »Das war kein Traum! Er ist dagewesen, er hat hier gesessen, da, auf dem Sofa. Als du ans Fenster klopftest, hatte ich gerade mit dem Glas nach ihm geworfen … Mit diesem Glas hier … Warte mal, ich habe auch früher geschlafen und geträumt, aber dieser Traum war kein Traum. Es ist auch schon früher vorgekommen. Ich habe jetzt manchmal Träume, Aljoscha … Nein, es sind ja keine Träume, ich bin wach! Ich gehe, rede und gehe … Aber ich schlafe. Er hat hier gesessen, er ist hiergewesen. Da, auf diesem Sofa hat er gesessen … Er ist furchtbar dumm, Aljoscha, furchtbar dumm!« Iwan lachte plötzlich auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Wer ist dumm? Von wem sprichst du, Bruder?« fragte Aljoscha wieder besorgt.

»Der Teufel. Er kommt jetzt oft zu mir. Zweimal ist er schon dagewesen, sogar fast dreimal. Er zog mich auf, ich sei verärgert darüber, daß er nur als einfacher Teufel zu mir kommt und nicht als Satan mit versengten Flügeln, unter Donner und Blitz. Aber er ist nicht der Satan, da lügt er. Er maßt sich einen fremden Namen an. Er ist ein einfacher Teufel, ein jämmerlicher, unbedeutender Teufel. Er geht in die Badestube. Wenn man ihn auskleidet, findet man sicherlich einen Schwanz, einen langen, glatten Schwanz wie bei einer dänischen Dogge, eine Elle lang, dunkelbraun … Aljoscha, du bist wohl ganz durchgefroren, du bist im Schneegestöber gewesen, willst du Tee? Was? Er ist kalt? Soll ich den Samowar aufstellen lassen? C’est à ne pas mettre un chien dehors …«

Aljoscha lief schnell zum Waschtisch, befeuchtete ein Handtuch, überredete Iwan, sich wieder hinzusetzen, und legte ihm das feuchte Handtuch auf den Kopf. Er selbst setzte sich neben ihn.

»Was hast du mir vorhin über Lisa gesagt?« begann Iwan wieder; er war sehr redselig geworden! »Lisa gefällt mir. Ich habe über sie etwas Häßliches gesagt. Ich habe gelogen, sie gefällt mir … Ich fürchte morgen für Katja, für sie am allermeisten. Wegen der Zukunft. Sie wird mich morgen fallenlassen und mit Füßen treten. Sie glaubt, ich würde Mitja zugrunderichten, weil ich ihretwegen auf ihn eifersüchtig sei! Ja, das glaubt sie! Aber es ist nicht so! Morgen kommt das Kreuz, aber nicht der Galgen. Nein, ich werde mich nicht erhängen. Weißt du, ich werde niemals fertigbringen, mir das Leben zu nehmen, Aljoscha! Aus Gemeinheit, nicht wahr? Aber ich bin nicht feige. Vielleicht aus Gier zu leben! Woher wußte ich, daß Smerdjakow sich erhängt hat? Ja, er hatte es mir gesagt …«

»Bist du fest davon überzeugt, daß jemand hier gesessen hat?« fragte Aljoscha.

»Dort auf dem Sofa in der Ecke. Du hättest ihn vertrieben, wenn du früher gekommen wärst. Aber du hast ihn auch wirklich vertrieben; als du erschienst, verschwand er. Ich liebe dein Gesicht, Aljoscha. Hast du das gewußt, daß ich dein Gesicht liebe? Er, das bin ich, Aljoscha, ich selbst. Alles, was an mir niedrig, gemein und verächtlich ist! Ja, ich bin ein Romantiker, das hat er heimlich beobachtet … Obwohl es eine Verleumdung ist. Er ist furchtbar dumm, doch dadurch gewinnt er die Oberhand. Er ist schlau, tierisch schlau; er hat gewußt, wodurch er mich in Wut bringen konnte. Er hat mich immer geneckt, als glaubte ich an ihn, und mich dadurch gezwungen, ihn anzuhören. Wie einen kleinen Jungen hat er mich angeführt. Er hat über mich übrigens viel Wahres gesagt. Ich hätte mir das selber nie gesagt. Weißt du, Aljoscha, weißt du …«, fügte Iwan sehr ernst und gewissermaßen vertraulich hinzu! »Ich würde sehr wünschen, daß er wirklich er wäre und nicht ich!«

»Er hat dich gequält!« sagte Aljoscha und blickte seinen Bruder mitleidig an.

»Er hat mich geneckt! Und weißt du, geschickt, sehr geschickt. ›Das Gewissen! Was ist das Gewissen? Ich mache das Gewissen selbst. Warum quäle ich mich aber? Aus Gewohnheit. Weil sich die gesamte Menschheit seit sieben Jahrtausenden daran gewöhnt hat. Wir wollen es uns also abgewöhnen, und wir werden Götter sein.‹ Das hat er gesagt!«

»Und nicht du, nicht du?« rief Aljoscha zutiefst bewegt und sah den Bruder mit hellen Augen an! »Nun, dann laß ihn, kümmere dich nicht um ihn, vergiß ihn! Soll er alles, was du jetzt verfluchst, mit sich fortnehmen und nie wiederkommen!«

»Ja, aber er ist boshaft. Er hat sich über mich lustig gemacht. Er war dreist, Aljoscha«, sagte Iwan, zitternd ob der erlittenen Kränkung! »Aber er hat mich verleumdet, in vielem hat er mich verleumdet. Er hat mir ins Gesicht Unwahrheiten über mich gesagt. ›Oh, du wirst hingehen, um eine Heldentat der Tugend zu vollbringen, indem du erklärst, du seist der Mörder deines Vaters und der Diener habe nur auf deine Veranlassung deinen Vater ermordet …‹«

»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, »hör auf! Nicht du hast den Mord begangen. Das ist eine Unwahrheit!«

»Er ist es, der das sagt, er, und er weiß es. ›Du wirst hingehen, um eine Heldentat der Tugend zu vollbringen, aber du glaubst ja gar nicht an die Tugend – das ist es, was dich ärgert und quält, und das ist auch der Grund, weshalb du so rachsüchtig bist!‹ Das hat er über mich gesagt, und er weiß, was er sagt …«

»Das sagst du, nicht er!« rief Aljoscha traurig! »Und du sagst es, weil du dich in deiner Krankheit, im Fieber, selber quälst!«

»Nein, er weiß, was er sagt. ›Du wirst aus Stolz hingehen‹, sagt er, ›wirst dich hinstellen und sagen: Ich bin es, der den Mord begangen hat! Warum windet ihr euch vor Entsetzen? Ihr lügt! Ich verachte eure Meinung, ich verachte euer Entsetzen!‹ Das sagt er von mir, und dann fügt er noch hinzu: ›Aber weißt du, du möchtest, daß sie dich loben. Er ist ein Verbrecher! sollen sie sagen. Ein Mörder, doch was hat er für hochherzige Gefühle! Er hat seinen Bruder retten wollen und darum seine Tat gestanden!‹ Aber das ist wieder eine Lüge, Aljoscha!« rief Iwan plötzlich mit funkelnden Augen! »Ich will gar nicht, daß mich dieses Gesindel lobt! Das ist eine Lüge von ihm, Aljoscha, eine Lüge, das schwöre ich dir! Ich habe deshalb mit dem Glas nach ihm geworfen, und es ist an seiner Fratze zerbrochen.«

»Bruder, beruhige dich! Hör auf!« bat Aljoscha.

»Nein, er versteht es, einen zu quälen, er ist grausam«, fuhr Iwan fort, ohne auf ihn zu hören! »Ich habe immer geahnt, weshalb er kommt. ›Wenn es auch der Stolz war‹, sagt er, ›der dich trieb, so hattest du dabei doch immer die Hoffnung, sie würden Smerdjakow für schuldig erkennen und zur Zwangsarbeit nach Sibirien schicken, würden Mitja freisprechen und dich nur moralisch verurteilen, und die anderen würden dich uneingeschränkt loben. Doch nun ist Smerdjakow tot, hat sich erhängt – na, wer wird dir vor Gericht jetzt Glauben schenken? Aber du wirst ja trotzdem hingehen, du hast beschlossen hinzugeben. Zu welchem Zweck wirst du unter diesen Umständen hingehen?‹ Das ist furchtbar, Aljoscha! Ich kann solche Fragen nicht ertragen. Wer wagt es, mir solche Fragen vorzulegen?«

»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, der noch immer zu hoffen schien, er könnte Iwan zur Vernunft zurückbringen! »Wie konnte er dir denn vor meinem Kommen von Smerdjakows Tod erzählen, als noch niemand etwas davon wußte und niemand bei der Kürze der Zeit etwas davon hatte erfahren können?«

»Er hat davon gesprochen«, erwiderte Iwan in entschlossenem Ton, als wollte er jeden Zweifel zurückweisen! »Ja, eigentlich hat er nur davon gesprochen. ›Und wenn du wenigstens noch an die Tugend glaubtest‹, sagt er. ›Dann könntest du dir sagen: Mögen sie mir auch nicht glauben, ich werde aus Prinzip hingehen! Aber du bist ja genauso ein Ferkel wie Fjodor Pawlowitsch, und was bedeutet dir schon die Tugend? Wozu dorthin laufen, wenn dein Opfer doch nichts nutzt? Nur weil du selbst nicht weißt, wozu du hingehst! Oh, du würdest viel darum geben, wenn du erfahren könntest, wozu du hingehst. Und hast du dich denn wirklich entschlossen? Du hast dich noch nicht entschlossen. Du wirst die ganze Nacht sitzen und überlegen: Soll ich hingehen oder nicht? Aber du wirst trotzdem hingehen, und du weißt, daß du hingehen wirst. Du weißt selbst, daß die Entscheidung nicht mehr von dir abhängt, wofür du dich auch entscheiden magst. Du wirst hingehen, weil du nicht wagst wegzubleiben. Warum du es nicht wagst – das errate selbst! Das ist ein Rätsel, das ich dir aufgebe!‹ Er stand auf und ging. Du kamst, und er ging. Er hat mich einen Feigling genannt, Aljoscha! Le mot de l’énigme ist, daß ich ein Feigling bin … ›Nicht solchen ist’s vergönnt, sich adlergleich ins hohe Reich des Äthers zu erheben!‹, das fügte er noch hinzu! Und Smerdjakow hat dasselbe gesagt. Totschlagen müßte man ihn! Katja verachtet mich, das sehe ich schon seit einem Monat, und auch Lisa beginnt mich zu verachten! ›Du wirst hingehen, damit sie dich loben!‹ Das ist eine bestialische Lüge! Und auch du verachtest mich, Aljoscha! Jetzt fange ich dich wieder an zu hassen! Auch den Unmenschen hasse ich! Ich will den Unmenschen nicht retten, soll er bei der Zwangsarbeit verfaulen! Eine Hymne hat er angestimmt! Oh, ich werde morgen hingehen! Ich werde vor sie hintreten und ihnen allen ins Gesicht spucken!«

Außer sich sprang er auf, warf das Handtuch von sich und begann erneut im Zimmer auf und ab zu gehen. Aljoscha mußte an die Worte denken, die er kurz vorher gesprochen hatte: »Ich schlafe sozusagen im Wachen. Ich gehe, rede und sehe, aber ich schlafe,« Genau diesen Eindruck machte er jetzt. Aljoscha verließ ihn nicht. Flüchtig ging ihm der Gedanke durch den Kopf, zum Arzt zu laufen und ihn herzuholen, doch er fürchtete sich, den Bruder allein zu lassen; es war niemand da, dem er ihn hätte anvertrauen können. Schließlich verlor Iwan die Besinnung allmählich ganz. Er redete immer noch weiter, ohne Pause, aber schon ganz verworren. Er sprach sogar die Worte mangelhaft aus und begann auf einmal stark zu schwanken. Aljoscha konnte ihn gerade noch rechtzeitig stützen. Iwan ließ sich zu seinem Bett führen; Aljoscha kleidete ihn mit einiger Mühe aus und legte ihn hin. Er selbst saß noch ungefähr zwei Stunden bei ihm. Der Kranke schlief fest, ohne sich zu rühren; er atmete still und gleichmäßig.

Aljoscha nahm ein Kissen und legte sich angekleidet auf ein Sofa. Vor dem Einschlafen betete er für Mitja und Iwan. Iwans Krankheit war ihm nun verständlich geworden: ›Das sind die Qualen eines stolzen Entschlusses, das ist ein tiefgründiges Gewissen! Gott, an den er nicht geglaubt hatte, und seine Wahrheit hatten dieses Herz überwunden, das sich noch immer nicht hatte ergeben wollen. Ja‹, ging es Aljoscha durch den Kopf, als er schon auf dem Kissen lag, ›jetzt, da Smerdjakow tot ist, wird Iwans Aussage bei niemand mehr Glauben finden, aber er wird dennoch hingehen und aussagen!‹ Aljoscha lächelte leise: ›Gott wird siegen!‹ dachte er. Entweder wird er auferstehen im Licht der Wahrheit – oder er wird zugrunde gehen im Haß, indem er sich an sich selbst und an allen dafür rächt, daß er einer Sache gedient hat, an die er selbst nicht glaubt!‹ fügte er in Gedanken mit einem bitteren Gefühl hinzu, und er betete wieder für Iwan.

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Kapitel 12

Zwölftes Buch

Ein Justizirrtum

1. Der verhängnisvolle Tag

Einen Tag nach diesen Ereignissen wurde um zehn Uhr vormittags die Sitzung unseres Bezirksgerichts eröffnet, und es begann die Verhandlung über Dmitri Karamasow.

Ich sage im voraus, und zwar mit allem Nachdruck: Ich bin, wie ich glaube, bei weitem nicht imstande, alles, was vor Gericht vorging, in der gebührenden Vollständigkeit und in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. Wenn alles vorgetragen und gehörig erläutert werden sollte, würde dazu meines Erachtens ein ganzes Buch, und sogar ein recht umfängliches, erforderlich sein. Darum möge niemand ungehalten sein, wenn ich nur das wiedergebe, was auf mich persönlich einen starken Eindruck gemacht hat und in meinem Gedächtnis besonders haftengeblieben ist. Möglich, daß ich zweitrangige Dinge für wichtig gehalten und gerade das Markanteste, Unentbehrlichste weggelassen habe … Allerdings sehe ich ein, daß es das beste ist, wenn ich mich gar nicht erst entschuldige. Ich werde es machen, so gut ich kann, und die Leser werden selbst erkennen, daß ich es nur so gut gemacht habe, wie ich konnte.

Bevor wir den Gerichtssaal betreten, möchte ich etwas erwähnen, was mich an diesem Tag ganz besonders erstaunt hat, übrigens nicht nur mich. Alle wußten zwar, daß dieser Prozeß viele Leute interessierte, daß alle vor Ungeduld brannten, wann denn endlich die Verhandlung stattfinden werde, und daß man in unserer Gesellschaft diese zwei Monate hindurch viel geredet, eine Menge von Vermutungen aufgestellt und sich in übertriebenen Ausrufen und seltsamen Phantasien ergangen hatte; alle wußten auch, daß dieser Prozeß in ganz Rußland eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte – und doch hatte niemand eine Ahnung davon, bis zu welchem Grad er die Gemüter erhitzt, aufgeregt, erschüttert hat, und dies nicht nur in unserer Stadt, sondern überall, wie sich am Tag der Gerichtsverhandlung erwies. Zu diesem Tag hatten sich nicht nur aus der Hauptstadt unseres Gouvernements, sondern auch aus mehreren anderen Städten Rußlands, ja sogar aus Moskau und Petersburg Gäste bei uns eingefunden. Es waren Juristen gekommen, es waren sogar einige vornehme Persönlichkeiten eingetroffen, und nicht minder auch Damen. Alle Eintrittskarten waren vergriffen. Für besonders angesehene Persönlichkeiten unter den männlichen Besuchern waren sogar ganz ungewöhnliche Plätze hinter dem Tisch eingerichtet worden, an welchem die Richter saßen; man sah dort eine Reihe von Lehnstühlen mit verschiedenen Personen, was bei uns früher nie zugelassen worden war. Besonders zahlreich waren die Damen erschienen, einheimische wie auswärtige; ich glaube, sie bildeten nicht weniger als die Hälfte des gesamten Publikums. Schon allein die Zahl der zugereisten Juristen war so groß, daß man nicht wußte, wo man sie plazieren sollte, da alle Eintrittskarten längst anderweitig vergeben waren. Ich habe selbst gesehen, wie am Ende des Saales, hinten auf der Estrade, in aller Eile ein provisorischer Verschlag errichtet wurde, in dem man alle diese fremden Juristen unterbrachte; und sie schätzten sich sogar glücklich, daß sie dort wenigstens stehen konnten, da die Stühle, um Raum zu gewinnen, aus diesem Verschlag entfernt worden waren; die dort versammelte Menge stand während der ganzen Verhandlung dicht gedrängt Schulter an Schulter. Einige Damen, vor allem auswärtige, waren auf den Galerien des Saales überaus geputzt erschienen; doch die Mehrzahl der Damen hatte vor Aufregung nicht einmal daran gedacht, besondere Toilette zu machen. Von ihren Gesichtern konnte man gespannte, hochgradige, fast krankhafte Neugier ablesen. Eine der charakteristischsten Besonderheiten dieser im Saal versammelten Gesellschaft, eine Besonderheit, die unbedingt hervorgehoben werden muß, bestand darin, daß fast alle Damen, zumindest eine große Mehrheit von ihnen, auf Mitjas Seite standen und seinen Freispruch wünschten – vielleicht hauptsächlich deswegen, weil sie sich über ihn die Meinung gebildet hatten, er sei ein Bezwinger weiblicher Herzen. Sie wußten, daß zwei Rivalinnen auftreten würden. Die eine von ihnen, Katerina Iwanowna, erregte besonders das Interesse der Damen. Über sie wurde sehr viel Ungewöhnliches erzählt; über die Leidenschaft, die sie angeblich trotz seines Verbrechens für Mitja empfand, waren erstaunliche Anekdoten im Umlauf. Besonders sprach man von ihrem Stolz – sie hatte fast bei niemandem in unserer Stadt einen Besuch gemacht – und von ihren »aristokratischen Verbindungen«. Es hieß, sie wolle die Regierung bitten, den Verbrecher zur Zwangsarbeit begleiten und sich mit ihm irgendwo in den Bergwerken unter der Erde trauen lassen zu dürfen. Mit nicht geringerer Aufregung erwarteten die Damen das Erscheinen von Katerina Iwanownas Nebenbuhlerin Gruschenka. Mit einer geradezu peinlichen Neugier sahen sie dem Zusammentreffen der beiden Nebenbuhlerinnen vor Gericht entgegen: des stolzen aristokratischen Mädchens und der »Hetäre«. Gruschenka war unseren Damen übrigens besser bekannt als Katerina Iwanowna. Sie, »die Verderberin Fjodor Pawlowitschs und seines unglücklichen Sohnes«, hatten unsere Damen auch früher schon gesehen, und alle, fast ohne Ausnahme, hatten sich darüber gewundert, wie sich Vater und Sohn in so eine »höchst gewöhnliche, überhaupt nicht einmal schöne Russin« dermaßen hatten verlieben können. Kurz, es gab viel Gerede. Es ist mir zuverlässig bekannt, daß es in unserer Stadt speziell um Mitja in mehreren Familien sogar zu ernstlichen Konflikten kam. Viele Damen stritten mit ihren Männern über diesen schrecklichen Prozeß, und es war unter diesen Umständen nur natürlich, daß die Männer dieser Damen den Gerichtssaal in einer Stimmung betraten, die dem Angeklagten kaum wohlgeneigt, sondern geradezu feindlich war. Und überhaupt konnte man mit aller Entschiedenheit feststellen, daß im Gegensatz zu den Damen das ganze männliche Element gegen den Angeklagten eingenommen war. Man sah strenge, finstere Gesichter; andere, und zwar weitaus die meisten, waren geradezu zornig. Allerdings hatte es Mitja während seines Aufenthalts hier auch verstanden, viele von den Männern persönlich zu beleidigen. Natürlich waren auch manche Besucher in beinahe fröhlicher Stimmung; sie standen dem Schicksal Mitjas teilnahmslos gegenüber, interessierten sich jedoch lebhaft für die vorliegende Prozeßsache. Alle beschäftigten sich mit dem mutmaßlichen Ausgang des Prozesses, und die Mehrzahl der Männer wünschte eine Bestrafung des Verbrechers, ausgenommen höchstens die Juristen, die ihr Interesse nicht der moralischen, sondern der formaljuristischen Seite des Prozesses zuwandten. Die Ankunft des berühmten Fetjukowitsch rief gewaltige Aufregung hervor. Sein Talent war überall bekannt, und es war nicht das erstemal, daß er in der Provinz als Verteidiger in aufsehenerregenden Kriminalprozessen auftrat. Nach seiner Verteidigung wurden solche Prozesse stets in ganz Rußland berühmt und blieben lange im Gedächtnis. Auch über unseren Staatsanwalt und den Gerichtspräsidenten waren Anekdoten im Umlauf. Es wurde erzählt, unser Staatsanwalt zittere vor der Konfrontation mit Fetjukowitsch; sie seien schon von Petersburg her alte Feinde, seit dem Beginn ihrer Karriere; unser ehrgeiziger Ippolit Kirillowitsch, der sich schon seit seiner Petersburger Zeit ständig dadurch beleidigt fühle, daß seine Talente nicht gebührend geschätzt würden, habe bei dem Karamasow-Prozeß von neuem Mut gefaßt und hoffe sogar, durch diesen Prozeß seine ins Stocken gekommene Karriere wieder in Gang zu bringen, doch da habe ihm Fetjukowitschs Eingreifen einen Schreck eingejagt. Allerdings waren diese Urteile nicht ganz gerecht. Unser Staatsanwalt gehörte nicht zu denjenigen Charakteren, die angesichts einer Gefahr mutlos werden, sondern im Gegenteil zu denen, deren Ehrgeiz wächst und sozusagen Schwingen bekommt, je größer die Gefahr wird. Überhaupt muß man wissen, daß unser Staatsanwalt ein sehr hitziges Temperament hatte und krankhaft empfindlich war. In manchen Prozeß legte er seine ganze Seele hinein und führte ihn so, als ob von dessen Ausgang sein Schicksal und sein Vermögen abhinge. In der juristischen Welt wurde viel darüber gelacht; denn unser Staatsanwalt hatte durch diese seine Eigenschaft einen gewissen Ruf erlangt, der erheblich größer war, als man in Anbetracht seiner bescheidenen Stellung an unserem Gericht annehmen konnte. Besonders lachte man über seine Leidenschaft für die Psychologie. Meiner Ansicht nach befanden sie sich alle im Irrtum. Ich meine, unser Staatsanwalt verdiente, als Mensch und als Charakter weit ernster genommen zu werden, als viele glaubten. Doch dieser kränkliche Mensch hatte es schon zu Beginn seiner Laufbahn nicht verstanden, sich eine Stellung zu schaffen, und es auch in seinem ganzen späteren Leben nicht gelernt.

Was schließlich den Präsidenten unseres Gerichts betrifft, so kann man von ihm nur sagen, daß er ein gebildeter, humaner Mensch war, der in seinem Fach solide praktische Kenntnisse besaß und Verständnis für die modernsten Ideen hatte. Er war ziemlich ehrgeizig, machte sich aber um seine Karriere nicht viel Sorgen. Das Hauptziel seines Lebens bestand darin, ein Vorkämpfer des Fortschritts zu sein. Außerdem hatte er Beziehungen und Vermögen. Dem Karamasow-Prozeß brachte er, wie sich nachher herausstellte, warmes Interesse entgegen, dies aber nur im allgemeinen Sinn. Was ihn interessierte, war die Möglichkeit einer solchen Tat; es machte ihm Freude, sie zu klassifizieren, zu untersuchen, inwiefern sie ein Produkt unserer sozialen Zustände und für Rußland charakteristisch war und so weiter und so weiter. Zu der persönlichen Seite der Sache, der ihr innewohnenden Tragödie und zu den Charakteren der Beteiligten verhielt er sich ziemlich gleichgültig; er betrachtete alles von einem abstrakten Standpunkt aus, was übrigens vielleicht auch ganz in der Ordnung war.

Schon lange vor dem Erscheinen des Gerichts war der Saal gedrängt voll. Dieser Gerichtssaal war der beste Saal in unserer Stadt, geräumig, hoch und mit guter Akustik. Rechts von den Mitgliedern des Gerichtshofs, die ihre Plätze auf einer Erhöhung hatten, waren ein Tisch und zwei Reihen Stühle für die Geschworenen bereitgestellt. Links war der Platz des Angeklagten und seines Verteidigers. In der Mitte des Saales, nicht weit von den Plätzen des Gerichtshofs, stand ein Tisch mit den »sachlichen Beweisstücken«. Auf ihm lagen Fjodor Pawlowitschs blutiger weißseidener Schlafrock, der Messingstößel, mit dem der Annahme nach der Mord ausgeführt worden war, Mitjas Hemd mit dem blutbefleckten Ärmel, sein Rock mit dem großen Blutflecken hinten an der Tasche, in die er damals sein von Blut durchnäßtes Taschentuch gesteckt hatte, ferner das Taschentuch selbst, das von dem Blut hart und steif und bereits ganz gelb geworden war, die Pistole, die Mitja bei Perchotin für den Selbstmord geladen und die ihm Trifon Borissowitsch in Mokroje heimlich weggenommen hatte, das Kuvert mit der Aufschrift, in dem sich die dreitausend Rubel für Gruschenka befunden hatten, das schmale rosa Bändchen, mit dem es umbunden gewesen war, und noch viele andere Gegenstände, die ich nicht mehr im Gedächtnis habe. Weiter hinten, in der Tiefe des Saales, begannen die Plätze für das Publikum; noch vor der Balustrade standen einige Lehnstühle für diejenigen Zeugen, die man nach ihren Aussagen noch im Saal behalten wollte. Um zehn Uhr erschien der Gerichtshof, bestehend aus dem Präsidenten, einem Beisitzer und einem Ehrenfriedensrichter; selbstverständlich erschien auch der Staatsanwalt sofort. Der Präsident war ein stämmiger, breitschultriger, knapp mittelgroßer Mann mit hämorrhoidalem Gesicht, ungefähr fünfzig Jahre alt, mit dunklem, graumeliertem, kurzgeschorenem Haar und mit dem roten Band irgendeines Ordens. Der Staatsanwalt hingegen kam mir – und nicht nur mit – sehr bleich vor, ja beinahe grün im Gesicht; er schien plötzlich magerer geworden zu sein, vielleicht in einer einzigen Nacht, denn als ich ihm zwei Tage vorher begegnet war, hatte er noch unverändert ausgesehen. Der Präsident begann mit der Frage an den Gerichtsinspektor, ob die Geschworenen sämtlich erschienen seien … Ich sehe jedoch, daß ich so nicht fortfahren kann, schon deswegen nicht, weil ich vieles nicht deutlich gehört, anderes nicht immer richtig verstanden, wieder anderes vergessen habe, hauptsächlich aber weil ich weder Zeit noch Raum genug habe, um alles, was gesagt wurde und was vorging, lückenlos anführen zu können. Ich weiß nur, daß von der einen und von der anderen Partei, das heißt vom Verteidiger und vom Staatsanwalt, nicht sehr viele Geschworene abgelehnt wurden. Die Zusammensetzung der Geschworenenbank habe ich im Gedächtnis behalten: vier von unseren Beamten, zwei Kaufleute und sechs Bauern und Kleinbürger aus unserer Stadt. Ich erinnere mich, schon lange vor der Gerichtsverhandlung hatten bei uns viele Leute und besonders die Damen mit einiger Verwunderung gefragt: »Wird in so einer subtilen, komplizierten, psychologisch schwierigen Sache die verhängnisvolle Entscheidung wirklich irgendwelchen Beamten und Bauern überlassen? Was versteht denn ein Beamter oder gar ein Bauer davon?« Tatsächlich waren diese vier Beamten, die da unter die Geschworenen geraten waren, sämtlich kleine Leute von niedrigem Rang. Sie waren schon grauhaarig, nur einer von ihnen war etwas jünger; in unserer Stadt kannte man sie nur wenig: Sie vegetierten bei geringem Gehalt so dahin und hatten gewiß alte Frauen, die sie nirgends präsentieren konnten, und dazu einen Haufen barfüßiger Kinder. In ihrer Freizeit vergnügten sie sich wohl höchstens irgendwo beim Kartenspiel und lasen natürlich niemals ein Buch. Die beiden Kaufleute machten zwar einen soliden Eindruck, waren jedoch eigenartig schweigsam und regungslos; der eine von ihnen hatte ein glattrasiertes Gesicht und trug einen Anzug nach deutscher Fasson; der andere, mit leicht ergrautem Bärtchen, hatte am Hals irgendeine Medaille an einem roten Band hängen. Über die Kleinbürger und die Bauern ist überhaupt nichts zu sagen. Die Kleinbürger in unserem Skotoprigonewsk sind ja beinahe selber Bauern, sie pflügen sogar. Zwei von ihnen trugen ebenfalls deutsche Tracht und sahen infolgedessen womöglich schmutziger und unansehnlicher aus als die übrigen vier. So konnte einem wirklich der Gedanke kommen, der zum Beispiel mir bei ihrem Anblick sofort kam: Was können diese Menschen von einer solchen Sache verstehen? Trotzdem zeigten ihre Gesichter einen eigentümlich gespannten, beinahe drohenden Ausdruck; sie sahen streng und finster aus.

Endlich kündigte der Präsident an, nunmehr komme zur Verhandlung die Sache betreffend die Ermordung des Titularrates a. D. Fjodor Pawlowitsch Karamasow – ich erinnere mich nicht genau, wie er sich damals ausdrückte. Der Gerichtsinspektor erhielt den Befehl, den Angeklagten hereinzuführen. Mitja erschien. Im Saal wurde es ganz still, man hätte eine Fliege hören können. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging; aber auf mich machte Mitjas Äußeres einen höchst unangenehmen Eindruck. Die Hauptsache war, daß er wie ein Geck auftrat, in einem nagelneuen Rock. Ich erfuhr später, daß er sich den Rock extra für diesen Tag in Moskau hatte machen lassen bei seinem früheren Schneider, der noch seine Maße hatte. Er trug neue schwarze Glacéhandschuhe und elegante Wäsche. Er kam mit seinen langen Schritten herein, gerade und starr vor sich hin blickend, und setzte sich mit furchtloser Miene auf seinen Platz. Dann erschien sogleich auch der Verteidiger, der berühmte Fetjukowitsch, und ein unterdrücktes Murmeln schien durch den Saal zu gehen. Er war ein langer, hagerer Mensch, mit langen, dünnen Beinen und außerordentlich langen, blassen, schlanken Fingern, mit glattrasiertem Gesicht, schlicht gekämmtem, ziemlich kurzem Haar und schmalen Lippen, die sich bisweilen spöttisch lächelnd verzogen. Dem Äußeren nach zu urteilen, mochte er etwa vierzig Jahre alt sein. Sein Gesicht wäre ganz angenehm gewesen, wenn nicht die ziemlich kleinen, ausdruckslosen Augen auffällig nahe beieinander gestanden hätten, nur durch das schmale Knöchelchen der länglichen Nase getrennt. Kurz, seine Physiognomie hatte eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit einem Vogelkopf. Er trug einen Frack und eine weiße Halsbinde. Ich erinnere mich an die erste Frage, die der Präsident an Mitja richtete, nämlich nach Namen, Stand und so weiter. Mitja antwortete kurz und bündig, aber mit unerwartet lauter Stimme, so daß der Präsident den Kopf schüttelte und ihn verwundert ansah. Darauf wurde das Verzeichnis der Personen verlesen, die zur Verhandlung als Zeugen und Sachverständige vorgeladen waren. Das Verzeichnis war lang; vier von den Zeugen waren nicht erschienen: Miussow, der sich zur Zeit in Paris befand, seine Aussage aber schon bei der Voruntersuchung gemacht hatte, Frau Chochlakowa und der Gutsbesitzer Maximow wegen Krankheit und Smerdjakow wegen plötzlichen Todes, worüber eine polizeiliche Bescheinigung vorlag. Die Mitteilung über Smerdjakow rief im Saal starke Bewegung und erregtes Geflüster hervor. Natürlich hatten im Publikum viele von diesem plötzlichen Selbstmord noch nichts gewußt. Ganz besonders überraschte jedoch das Benehmen Mitjas: Kaum war die Meldung über Smerdjakow gemacht worden, als er plötzlich von seinem Platz aus durch den ganzen Saal schrie: »Dem Hund gebührt ein Hundetod!«

Ich erinnere mich, wie sein Verteidiger zu ihm hinstürzte und der Präsident sich mit der Drohung an ihn wandte, er werde strenge Maßregeln ergreifen, wenn sich etwas Ähnliches wiederholen sollte. Mitja sagte abgehackt und kopfnickend, doch offenbar ohne irgendwelches Bedauern, mehrere Male halblaut zu seinem Verteidiger: »Ich werde es nicht wieder tun, ich werde es nicht wieder tun! Es ist mir so entfahren! Ich werde es nicht wieder tun!«

Natürlich beeinflußte dieser Zwischenfall die Meinung der Geschworenen und des Publikums nicht zu seinen Gunsten. Sein Charakter war mit einem Schlag zutage getreten. Unter diesem Eindruck wurde nun vom Gerichtssekretär die Anklageschrift verlesen.

Sie war ziemlich kurz, aber inhaltsreich. Es wurden nur die Hauptgründe dargelegt, warum der Soundso beschuldigt worden sei und vor Gericht gestellt werden müsse – und so weiter. Dennoch machte sie auf mich einen starken Eindruck. Der Sekretär las klar und deutlich und mit volltönender Stimme. Die ganze Tragödie erschien jetzt gewissermaßen auf neue Weise vor aller Augen: plastischer, in konzentrierter Fassung, beleuchtet von einem verhängnisvollen, unerbittlichen Licht. Ich erinnere mich, wie der Präsident unmittelbar nach der Verlesung laut und nachdrücklich die Frage an Mitja richtete: »Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?«

Mitja erhob sich schnell von seinem Platz.

»Ich bekenne mich schuldig der Trunksucht und Ausschweifung, des Müßigganges und der Völlerei!«, rief er wieder unerwartet laut und etwas unbeherrscht. »Ich wollte gerade in dem Augenblick auf Lebenszeit ein ehrenhafter Mensch werden, als das Schicksal mich beim Schopf packte! Doch am Tod des alten Mannes, meines Feindes und Vaters, bin ich unschuldig! Auch an dem Raub bin ich unschuldig! Dmitri Karamasow ist ein Schuft, aber kein Dieb!«

Nachdem er das laut gesagt hatte, setzte er sich wieder auf seinen Platz; er schien am ganzen Körper zu zittern. Der Präsident wandte sich an ihn mit der kurzen, doch nachdrücklichen Ermahnung, nur auf Fragen zu antworten, sich aber nicht zu leidenschaftlichen, mit den Fragen nicht zusammenhängenden Ausrufen hinreißen zu lassen. Darauf ordnete er an, zur gerichtlichen Verhandlung zu schreiten. Alle Zeugen wurden zur Vereidigung hereingeführt, und ich sah zum erstenmal alle zusammen. Die Brüder des Angeklagten wurden jedoch zur Aussage ohne Vereidigung zugelassen. Nach einer Ermahnung von seiten des Geistlichen und des Präsidenten wurden die Zeugen wieder hinausgeführt und dort nach Möglichkeit getrennt voneinander gehalten. Darauf begann man sie einzeln wieder hereinzurufen.

2. Gefährliche Zeugen

Ich weiß nicht, ob der Präsident die Zeugen des Staatsanwalts und der Verteidigung irgendwie in Gruppen eingeteilt hatte und in welcher Reihenfolge er sie eigentlich aufzurufen wünschte. Wahrscheinlich war das alles genau geregelt. Ich weiß nur, daß zuerst die Zeugen des Staatsanwalts aufgerufen wurden. Ich wiederhole, es liegt nicht in meiner Absicht, alle Vernehmungen Schritt für Schritt zu schildern. Außerdem würde sich meine Schilderung zum Teil als überflüssig herausstellen, da in den Plädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers Gang und Sinn aller abgegebenen Aussagen gleichsam unter einem Gesichtspunkt zusammengefaßt und neu beleuchtet wurden; ich habe wenigstens einzelne Partien dieser beachtenswerten Reden vollständig nachgeschrieben und werde sie zu gegebener Zeit wiedergeben – ebenso einen ungewöhnlichen und ganz unerwarteten Zwischenfall, der sich noch vor den Plädoyers abspielte und unzweifelhaft zu dem furchtbaren, verhängnisvollen Ausgang des Prozesses beitrug. Ich vermerke nur, daß gleich von den ersten Momenten der Verhandlung an eine charakteristische Eigenschaft dieses Prozesses deutlich hervortrat, nämlich die außerordentliche Wucht der Anklage im Vergleich zu den Mitteln, über die die Verteidigung verfügte. Das begriffen alle im ersten Augenblick, als man in diesem Gerichtssaal anfing, die Tatsachen zusammenzustellen und zu gruppieren, und diese ganze schreckliche Bluttat allmählich deutlicher hervortrat. Vielleicht kamen alle schon in den ersten Stadien der Verhandlung zu der Überzeugung, daß hier überhaupt kein Streit möglich war, daß die Sache keinem Zweifel unterlag und gar keine Plädoyers nötig waren, daß sie nur der Form halber gehalten werden mußten: daß der Angeklagte mit Sicherheit schuldig war. Ich glaube sogar, daß auch alle Damen ausnahmslos von seiner Schuld überzeugt waren, obwohl sie so leidenschaftlich die Freisprechung des interessanten Angeklagten wünschten. Ja noch mehr: Mir scheint, sie wären sogar betrübt gewesen, wenn sich seine Schuld nicht bestätigt hätte, weil dann sein Freispruch keine so effektvolle Lösung des Knotens gewesen wäre. Daß er jedoch freigesprochen werden würde, dessen waren sich merkwürdigerweise alle Damen fast bis zum letzten Augenblick sicher. »Er ist schuldig«, meinten sie, »aber man wird ihn freisprechen aus Humanität, auf Grund der neuen Ideen, die jetzt aufgekommen sind« – und so weiter und so fort. Eben deshalb waren sie ja mit solchem Eifer zur Verhandlung gelaufen. Die Männer dagegen interessierten sich besonders für den Kampf zwischen dem Staatsanwalt und dem berühmten Fetjukowitsch. Alle fragten sich verwundert: Was kann selbst ein Talent wie Fetjukowitsch aus so einer verlorenen Sache, aus so einem ausgegessenen Ei machen? Und darum verfolgten sie sein Vorgehen Schritt für Schritt mit gespannter Aufmerksamkeit. Fetjukowitsch aber blieb bis zuletzt, bis zu seiner Rede, für alle ein Rätsel. Erfahrene Leute vermuteten, daß er eine bestimmte Methode befolgte, daß er sich schon einen Plan zurechtgelegt hatte und auf ein Ziel zusteuerte – doch was das für ein Ziel war, blieb dunkel. Seine Zuversichtlichkeit aber und sein Selbstvertrauen fielen jedem auf. Außerdem nahmen alle mit Vergnügen wahr, daß er während seines kurzen, etwa dreitägigen Aufenthalts bei uns auf erstaunliche Weise bis in die feinsten Feinheiten der Prozeßsache eingedrungen war. Mit Genuß erzählte man zum Beispiel später, wie er es verstanden hatte, alle Zeugen des Staatsanwalts zur rechten Zeit »hineinzulegen«, sie nach Möglichkeit zu verwirren, vor allem aber ihren moralischen Ruf zu beflecken und dadurch auch den Wert ihrer Aussage herabzumindern. Man nahm übrigens an, daß er das in der Hauptsache nur so zum Spiel tat, sozusagen um des juristischen Glanzes willen, damit nichts von den üblichen Advokatenkniffen vergessen wurde; denn alle waren davon überzeugt, daß er einen entscheidenden Nutzen durch alle diese »Befleckungen« nicht erzielen konnte und daß er das wahrscheinlich selbst am allerbesten einsah, daß er aber eine eigene Idee in Reserve hatte, irgendeine vorläufig noch verborgene Verteidigungswaffe, die er zum rechten Zeitpunkt plötzlich hervorholen würde. Einstweilen schien er jedoch im Bewußtsein seiner Kraft zu spielen und Mutwillen zu treiben. Als zum Beispiel Fjodor Pawlowitschs ehemaliger Diener Grigori Wassiljewitsch vernommen wurde, der die besonders belastende Aussage über die offene Tür machte, da krallte sich der Verteidiger geradezu an ihm fest, als er mit seinen Fragen an die Reihe kam. Grigori Wassiljewitsch war mit ruhiger und beinahe stolzer Miene in den Saal getreten, ohne sich im geringsten verwirren zu lassen, weder durch die Feierlichkeit des Gerichts noch durch die Anwesenheit des gewaltigen zuhörenden Publikums. Er machte seine Aussagen in so sicherem Ton, als ob er unter vier Augen mit seiner Marfa Ignatjewna spräche, nur sprach er respektvoller. Ihn verwirren zu wollen war ein Ding der Unmöglichkeit. Zuerst befragte ihn der Staatsanwalt lange über alle möglichen Einzelheiten, die sich auf die Familie Karamasow bezogen. Das Bild dieses Familienlebens wurde sehr deutlich sichtbar, und man hörte und sah, daß der Zeuge aufrichtig und unparteiisch war. Bei allem tiefen Respekt vor dem Andenken seines ehemaligen Herrn erklärte er zum Beispiel doch, dieser sei zu Mitja ungerecht gewesen und habe »für das Aufwachsen seiner Kinder nicht so gesorgt, wie es sich gehörte«. – »Als der noch ein kleiner Junge war, hätten ihn ohne mich die Läuse aufgefressen«, fügte er, über Mitjas Kinderjahre berichtend, hinzu. »Auch gehörte es sich nicht, wie der Vater den Sohn übers Ohr haute, was das Gut betraf, das dieser von seiner Mutter geerbt hatte.« Auf die Frage des Staatsanwalts, worauf er sich bei der Behauptung stütze, daß Fjodor Pawlowitsch hinsichtlich des Erbteils seinen Sohn benachteiligt habe, brachte er zur allgemeinen Verwunderung keinerlei begründende Tatsachen vor, sondern blieb nur dabei, die Abrechnung mit dem Sohn über das Erbteil sei »ungerecht« gewesen: Ihm hätten noch einige tausend Rubel ausgezahlt werden müssen. Ich vermerke bei dieser Gelegenheit, daß der Staatsanwalt die Frage, ob Fjodor Pawlowitsch seinem Sohn Mitja noch etwas schuldete, mit besonderer Hartnäckigkeit später auch allen anderen Zeugen vorlegte, Aljoscha und Iwan Fjodorowitsch nicht ausgenommen. Allerdings erhielt er von keinem Zeugen eine genaue Auskunft; alle behaupteten die Tatsache, ohne daß einer von ihnen einen Beweis hätte anführen können. Als Grigori die Szene bei Tisch beschrieb, da Dmitri Fjodorowitsch hereingestürmt war, seinen Vater geschlagen und gedroht hatte, er werde wiederkommen und ihn totschlagen, machte das im Saal einen tiefen Eindruck, zumal der alte Diener ruhig und ohne überflüssige Worte in seiner eigenartigen Sprache erzählte, was stärker wirkte als die größte Redekunst. Zu der Mißhandlung, die ihm Mitja zugefügt hatte, indem er ihn ins Gesicht schlug und zu Boden warf, bemerkte er, er trage ihm das nicht nach und habe es ihm längst verziehen. Über den verstorbenen Smerdjakow äußerte er, der Bursche habe gute Fähigkeiten besessen, sei aber dumm und durch seine Krankheit beeinträchtigt gewesen, vor allem aber gottlos: Die Gottlosigkeit hätten ihn Fjodor Pawlowitsch und dessen Sohn Iwan gelehrt. Doch für Smerdjakows Ehrlichkeit trat er mit großer Wärme ein; er erzählte sogleich, wie Smerdjakow einmal eine Summe Geldes gefunden, sie aber nicht etwa heimlich behalten, sondern dem Herrn gebracht habe. Dieser habe ihm dafür ein Goldstück als Belohnung gegeben und ihm seitdem das größte Vertrauen geschenkt. Daß die Tür zum Garten offengestanden habe, versicherte er hartnäckig und beharrlich. Übrigens wurden ihm so viele Fragen vorgelegt, daß ich nicht alle habe behalten können. Endlich kam die Reihe an den Verteidiger. Er erkundigte sich zunächst nach dem Kuvert, in dem Fjodor Pawlowitsch »angeblich« dreitausend Rubel für »eine gewisse Person« versteckt hatte. »Haben Sie es selbst gesehen, Sie, der Sie Ihrem Herrn so viele Jahre nahegestanden haben?« Grigori antwortete, er habe es nicht gesehen und habe überhaupt von niemandem etwas über dieses Geld gehört »bis auf diese letzte Zeit, wo alle davon reden«. Die Frage nach dem Kuvert legte Fetjukowitsch seinerseits ebenfalls allen Zeugen mit derselben Hartnäckigkeit vor wie vorher der Staatsanwalt seine Frage nach der Erbschaft; er bekam von allen ebenfalls nur die eine Antwort, daß niemand das Kuvert gesehen habe, obgleich viele davon gehört hatten. Die Hartnäckigkeit, mit der der Verteidiger diese Frage wiederholte, fiel gleich am Anfang auf.

»Darf ich mich jetzt, wenn Sie erlauben, an Sie mit der Frage wenden«, fragte Fetjukowitsch plötzlich und ganz unerwartet, »woraus der Balsam oder, besser, der Aufguß bestand, mit dem Sie, wie aus der Voruntersuchung bekannt ist, an jenem Abend vor dem Schlafengehen Ihr schmerzendes Kreuz einrieben, in der Hoffnung, sich dadurch zu kurieren?«

Grigori blickte den Verteidiger verständnislos an und murmelte nach kurzem Stillschweigen. »Da war Salbei drin.«

»Nur Salbei? Erinnern Sie sich nicht an noch etwas?«

»Wegerich war auch drin.«

»Vielleicht auch Pfeffer?« erkundigte sich Fetjukowitsch interessiert.

»Ja, auch Pfeffer.«

»Und so weiter. Und das alles in Branntwein?«

»In Spiritus.«

Im Saal wurde ein klein wenig gelacht.

»Sehen Sie mal, sogar in Spiritus. Und nachdem Sie sich den Rücken eingerieben hatten, haben Sie zu einem gewissen frommen Gebet, das nur Ihrer Gattin bekannt ist, den Rest ausgetrunken, – nicht wahr?«

»Ja.«

»War es noch viel? Wieviel ungefähr? Ein Schnapsgläschen oder zwei?«

»Es mag etwa ein Wasserglas voll gewesen sein.«

»Sogar ein Wasserglas voll! Vielleicht auch anderthalb Wassergläser?«

Grigori schwieg; er schien etwas zu ahnen.

»Anderthalb Wassergläser reiner Spiritus – das ist nicht übel, meinen Sie nicht auch? Da kann man sogar die Pforten des Paradieses offen sehen – nicht nur eine Tür zum Garten.«

Grigori schwieg immer noch. Wieder ertönte leises Lachen im Saal; der Präsident wurde etwas unruhig.

»Wissen Sie genau«, setzte ihm Fetjukowitsch weiter zu, »ob Sie in dem Augenblick, als Sie die Tür zum Garten offenstehen sahen, schliefen oder nicht?«

»Ich stand ja doch auf meinen Füßen.«

»Das ist noch kein Beweis dafür, daß Sie nicht schliefen.« Wieder leises Lachen im Saal. »Hätten Sie zum Beispiel in dem Moment antworten können, wenn jemand Sie etwas gefragt hätte – zum Beispiel, welches Jahr wir jetzt haben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was haben wir denn jetzt für ein Jahr unserer Zeitrechnung, nach Christi Geburt? Wissen Sie das nicht?«

Grigori stand fassungslos da und starrte den Verteidiger an. Merkwürdigerweise machte es den Eindruck, als wüßte er wirklich nicht, was wir für ein Jahr haben.

»Vielleicht wissen Sie aber, wieviel Finger Sie an den Händen haben?«

»Ich bin ein unfreier Mensch«, sagte Grigori plötzlich laut und deutlich. »Wenn es der Obrigkeit beliebt, sich über mich lustig zu machen, muß ich das ertragen.«

Fetjukowitsch schien diese Antwort ein wenig stutzig zu machen; doch auch der Präsident griff ein und machte den Verteidiger belehrend darauf aufmerksam, er möchte mehr Fragen zur Sache stellen. Fetjukowitsch hörte das an, verbeugte sich mit Würde und erklärte, daß er mit seinen Fragen fertig sei. Natürlich konnte beim Publikum wie auch bei den Geschworenen ein kleines Würmchen des Zweifels an der Aussage eines Menschen zurückgeblieben sein, der in einem allbekannten Zustand seiner Kur die Möglichkeit gehabt hatte, »die Pforten des Paradieses zu sehen«, und der außerdem nicht einmal wußte, welches Jahr nach Christi Geburt wir jetzt haben. Bevor Grigori abtrat, gab es noch einen Zwischenfall. An den Angeklagten gewandt, fragte der Präsident, ob er zu den Aussagen etwas zu bemerken habe.

»Bis auf das mit der Tür hat er in allem die Wahrheit gesagt«, rief Mitja laut. »Daß er mir die Läuse ausgekämmt hat, dafür danke ich ihm. Daß er mir die Mißhandlung verziehen hat, dafür danke ich ihm. Der alte Mann war sein Leben lang ehrenhaft und meinem Vater treu wie siebenhundert Pudel.«

»Angeklagter, wählen Sie Ihre Worte besser!« sagte der Präsident streng.

»Ich bin kein Pudel«, brummte auch Grigori.

»Na, dann will ich der Pudel sein, ich selber!« rief Mitja. »Wenn das beleidigend ist, so beziehe ich es auf mich und bitte ihn um Verzeihung. Ich war eine Bestie und habe ihn roh behandelt! Auch den alten Satyr habe ich roh behandelt.«

»Welchen alten Satyr?« fragte der Präsident wieder.

»Na, den Clown … Meinen Vater, Fjodor Pawlowitsch.«

Der Präsident schärfte Mitja wieder und wieder aufs nachdrücklichste und strengste ein, seine Ausdrücke doch vorsichtiger zu wählen.

»Sie schaden sich selbst in der Meinung Ihrer Richter.«

Ebenso geschickt verfuhr der Verteidiger auch bei der Vernehmung des Zeugen Rakitin. Rakitin war einer der wichtigsten Zeugen, und der Staatsanwalt legte auf ihn zweifellos hohen Wert. Es stellte sich heraus, daß er alles wußte, erstaunlich viel wußte, überall dabeigewesen war, alles gesehen und mit allen gesprochen hatte und auf das genaueste die Biographie Fjodor Pawlowitschs und überhaupt aller Karamasows kannte. Über das Kuvert mit den dreitausend Rubeln hatte allerdings auch er nur von Mitja etwas gehört. Dafür schilderte er eingehend Mitjas Streiche in dem Restaurant »Zur Residenz«, alle Worte und Gebärden, mit denen dieser sich kompromittiert hatte, und erzählte auch die Geschichte von dem »Bastwisch«, dem Bärtchen es Stabskapitäns Snegirjow. Über den wichtigen Punkt, ob Fjodor Pawlowitsch bei der Abrechnung über das Gut seinem Sohn Mitja etwas schuldig geblieben war, konnte aber selbst Rakitin nichts aussagen und behalf sich mit geringschätzigen Redensarten allgemeiner Art. »Welcher Mensch«, sagte er, »hätte herausfinden können, wer von ihnen die Schuld trug, und nachrechnen, wer wem etwas schuldig geblieben war bei der sinnlosen Karamasowerei dort, wo keiner eine Spur von Selbsterkenntnis hatte.« Die ganze Tragödie des Verbrechens stellte er dar als ein Produkt der veralteten Sitten des Leibeigenschaftssystems und als eine Folge der Unordnung und des Mangels an zweckentsprechenden Einrichtungen, worunter Rußland so leide. Kurz, er durfte sich frei aussprechen. Herr Rakitin trat bei diesem Prozeß zum erstenmal in der Öffentlichkeit auf und begann sofort die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen; der Staatsanwalt wußte, daß der Zeuge einen Aufsatz über das vorliegende Verbrechen für ein Journal in Arbeit hatte, und zitierte später in seiner Rede, wie wir sehen werden, einige Gedanken aus diesem ihm also bereits bekannten Aufsatz. Das Bild, das der Zeuge entwarf, war düster und unterstützte die Anklage stark. Darüber hinaus aber fesselten Rakitins Darlegungen das Publikum durch die Selbständigkeit der Gedanken und die außerordentliche Vornehmheit der Gesinnung. Zwei- oder dreimal ließ sich sogar spontaner Applaus vernehmen, besonders an den Stellen, wo Rakitin von der Leibeigenschaft und von dem unter der Unordnung leidenden Rußland sprach. Dennoch beging Rakitin – ein junger Mensch – einen kleinen Fehler, den der Verteidiger sogleich vorzüglich ausnutzte. Als er nämlich auf gewisse Fragen über Gruschenka antwortete, ließ er sich von seinem Erfolg, dessen er sich natürlich schon bewußt war, und von der Höhe der Vornehmheit, zu der er sich emporgeschwungen hatte, hinreißen und erlaubte sich, von Agrafena Alexandrowna etwas verächtlich als von der »Mätresse des Kaufmanns Samsonow« zu sprechen. Er hätte später viel darum gegeben, dieses Wort ungesprochen zu machen; denn, wegen dieses Wortes packte ihn Fetjukowitsch sogleich beim Kragen. Und alles nur, weil Rakitin nicht damit gerechnet hatte, daß sich jener in so kurzer Zeit mit der Prozeßsache bis in die intimen Einzelheiten hatte vertraut machen können.

»Gestatten Sie eine Frage«, begann der Verteidiger mit höchst liebenswürdigem und sogar respektvollem Lächeln, als die Reihe, Fragen zu stellen, an ihn kam. »Sie sind gewiß eben jener Herr Rakitin, dessen von der bischöflichen Behörde herausgegebene Broschüre ›Das Leben des in Gott entschlafenen Starez Sossima‹ ein Büchlein voll tiefer religiöser Gedanken mitsamt der ausgezeichneten frommen Widmung an Seine Eminenz, ich unlängst mit solchem Genuß gelesen habe?«

»Ich hatte es nicht für den Druck geschrieben … Es ist dann nachher gedruckt worden«, murmelte Rakitin; er schien auf einmal etwas verblüfft zu sein und sich beinahe zu schämen.

»Oh, das ist ja schön! Ein Denker wie Sie kann und muß zu jeder Erscheinung des sozialen Lebens vorurteilsfrei Stellung nehmen. Durch die Protektion Seiner Eminenz hat Ihre höchst nützliche Broschüre starken Absatz gehabt und entsprechenden Nutzen gebracht … Aber was ich fragen wollte: Sie sagten soeben, Sie seien mit Fräulein Swetlowa sehr nahe bekannt?« Nebenbei: ich erfuhr an diesem Tag während der Verhandlung zum erstenmal, daß Gruschenkas Familienname Swetlowa war.

»Ich kann nicht für alle meine Bekanntschaften eine Verantwortung übernehmen … Ich bin ein junger Mann… Und wer kann schon für alle Leute einstehen, mit denen er in Berührung kommt?« erwiderte Rakitin einigermaßen aufgebracht.

»Ich verstehe, verstehe vollkommen!« rief Fetjukowitsch, als wäre er selbst verlegen und beeile sich, eine Entschuldigung vorzubringen. »Sie durften wie jeder andere durchaus ein eigenes Interesse daran haben, mit einer jungen schönen Frau bekannt zu werden, die gern die Blüte der hiesigen Jugend bei sich empfing, aber … Ich wollte nur fragen: Es ist uns bekannt, daß Fräulein Swetlowa vor zwei Monaten dringend mit dem jüngsten Karamasow, Alexej Fjodorowitsch, bekannt zu werden wünschte und Ihnen nur dafür, daß Sie ihn zu ihr brachten, und zwar in seinem damaligen Mönchsgewand, fünfundzwanzig Rubel versprach, wenn Ihnen das wirklich gelingen sollte. Das kam, wie ebenfalls bekannt ist, am Abend jenes tragischen Tages zustande, der den Anlaß des jetzigen Prozesses bildet. Sie brachten Alexej Karamasow zu Fräulein Swetlowa – bekamen Sie nun diese fünfundzwanzig Rubel Belohnung von Fräulein Swetlowa? Das ist es, was ich gern von Ihnen hören möchte.«

»Das war ein Scherz … Ich sehe nicht ein, wieso Sie das interessieren kann. Ich habe sie aus Spaß genommen … Um sie später zurückzugeben …«

»Also Sie haben sie genommen. Und bis jetzt haben Sie sie ja wohl nicht zurückgegeben … Oder haben Sie es doch getan?«

»Das ist doch ganz belanglos …«, murmelte Rakitin. »Ich kann auf solche Fragen nicht antworten … Ich werde sie natürlich zurückgeben …«

Der Präsident schritt ein, doch der Verteidiger erklärte, er sei mit Herrn Rakitins Befragung fertig. Rakitin trat etwas begossen von der Bühne ab. Der Eindruck der hohen Vornehmheit seiner Rede war verdorben, und Fetjukowitsch begleitete ihn mit den Augen, auf diese Weise das Publikum auf ihn hinweisend: Da seht ihr, von welcher Sorte eure vornehmen Belastungszeugen sind!‹ Ich erinnere mich, daß es auch dabei nicht ohne Zwischenfall von seiten Mitjas abging. Wütend über den Ton, in dem Rakitin über Gruschenka sprach, schrie er plötzlich von seinem Platz aus: »Bernard!« Und als sich der Präsident nach Beendigung der Vernehmung Rakitins mit der Frage an den Angeklagten wandte, ob er seinerseits etwas bemerken wolle, schrie Mitja mit schallender Stimme: »Er hat sich von mir Geld gepumpt, als ich schon unter Anklage stand! Er ist ein verächtlicher Bernard und Streber und glaubt nicht an Gott, und den Bischof hat er hinters Licht geführt!«

Mitja wurde wegen seiner maßlosen Ausdrücke natürlich wieder zur Ordnung gerufen, Herr Rakitin aber war abgetan. Auch die Vernehmung des Stabskapitäns Snegirjow ging nicht ganz nach Wunsch vonstatten, aber aus einem völlig anderen Grunde. Er trat ganz abgerissen auf, in schmutziger Kleidung und mit schmutzigen Stiefeln; außerdem stellte es sich heraus, daß er trotz aller Vorsichtsmaßregeln und einer vorhergehenden Untersuchung seines Zustandes durch Sachverständige total betrunken war. Auf die Fragen nach der ihm von Mitja zugefügten Beleidigung weigerte er sich zu antworten.

»Gott verzeihe ihm! Iljuschetschka hat es mir verboten. Gott wird es mir vergelten!«

»Wer hat Ihnen verboten auszusagen? Von wem reden Sie da?«

»Iljuschetschka, mein Söhnchen, hat gesagt: ›Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!‹ Bei dem Stein hat er es gesagt. Jetzt liegt er im Sterben …‹«

Der Stabskapitän fing auf einmal an zu schluchzen und warf sich mit einem Schwung dem Präsidenten zu Füßen. Er wurde unter dem Gelächter des Publikums schleunigst hinausgeführt. Der vom Staatsanwalt beabsichtigte Effekt kam nicht zustande.

Der Verteidiger aber fuhr fort, alle möglichen Mittel anzuwenden, und beeindruckte mehr und mehr durch seine bis in die geringsten Einzelheiten reichende Kenntnis der Prozeßsache. So erzielte zum Beispiel die Aussage Trifon Borissowitschs schon ihre erste starke Wirkung, und sie war natürlich für Mitja äußerst ungünstig. Er rechnete nämlich fast an den Fingern aus, daß Mitja bei seinem ersten Besuch in Mokroje, etwa einen Monat vor der Katastrophe, nicht weniger als dreitausend Rubel ausgegeben haben müßte oder »höchstens eine ganze Kleinigkeit weniger … Allein schon für diese Zigeunerinnen, wieviel Geld hat er da rausgeschmissen! Und unseren Bauern, unseren verlausten Bauern hat er nicht etwa jedem einen halben Rubel hingeworfen, sondern jedem mindestens einen Fünfundzwanzigrubelschein, weniger hat er keinem gegeben. Und wieviel ist ihm damals einfach gestohlen worden! Wer stahl, der ließ ja seine Hand nicht da, wie sollte man da so einen Dieb fassen, wenn der Herr selbst das Geld achtlos umherstreute! Die Bauern sind ja die reinste Räuberbande und scheuen sich vor keiner Sünde! Und die Mädchen, unsere Dorfmädchen, was haben die nicht alles gekriegt! Die Leute bei uns sind seitdem reich, so ist es, und früher war da nur Armut …« Kurz, er zählte jede einzelne Ausgabe auf und rechnete alles zusammen wie an der Rechenmaschine. Die Annahme, daß Mitja nur fünfzehnhundert Rubel ausgegeben, die anderen fünfzehnhundert aber in dem Säckchen aufgehoben hätte, wurde auf diese Weise undenkbar. »Ich habe die dreitausend Rubel selber gesehen, in seinen Händen habe ich sie gesehen! So deutlich wie ein Kopekenstück habe ich sie mit meinen Augen betrachtet, wie sollte denn unsereiner nicht verstehen, Geld zu beurteilen!« rief Trifon Borissowitsch aus, mit aller Gewalt bemüht, es »der Obrigkeit« recht zu machen. Als nun das Fragenstellen auf den Verteidiger überging, machte dieser fast gar keinen Versuch, die Aussage zu widerlegen, sondern brachte auf einmal die Rede darauf, daß der Kutscher Timofej und der Bauer Akim bei dem ersten Gelage in Mokroje auf dem Flur hundert Rubel, die Mitja in betrunkenem Zustand verloren hatte, vom Fußboden aufgehoben und Trifon Borissowitsch gegeben hatten, wofür dieser jedem von ihnen einen Rubel geschenkt hatte. »Nun, haben Sie damals diese hundert Rubel Herrn Karamasow zurückgegeben oder nicht?« Wie sehr sich Trifon Borissowitsch auch drehte und wendete, nach der Vernehmung des Kutschers und des Bauern mußte er sich doch zu dem gefundenen Hundertrubelschein bekennen, wobei er nur hinzufügte, er habe Herrn Karamasow sofort alles gewissenhaft und mit der größten Ehrlichkeit zurückgegeben; dieser werde sich allerdings kaum daran erinnern können, da er zu jener Zeit ganz betrunken gewesen sei. Da er jedoch den Fund der hundert Rubel geleugnet hatte, bevor Timofej und Akim als Zeugen aufgerufen worden waren, rief auch seine Aussage über die Rückgabe dieser Summe an Mitja naturgemäß starke Zweifel hervor. Auf diese Weise mußte wieder einer der gefährlichsten Zeugen der Staatsanwaltschaft verdächtigt und mit beflecktem Ruf abtreten. Dasselbe widerfuhr den Polen. Sie traten sehr stolz und selbstbewußt auf und bezeugten laut, daß sie erstens beide »dem Staat gedient« hätten und daß zweitens »Pan Mitja« ihnen dreitausend Rubel angeboten habe, um ihnen dafür ihre Ehre abzukaufen, und daß sie drittens große Geldsummen in seinen Händen gesehen hätten. Pan Mussialowicz spickte seine Sätze mit vielen polnischen Wörtern, und da er sah, daß dies sein Ansehen in den Augen des Präsidenten und des Staatsanwalts erhöhte, wurde er schließlich so keck, daß er nur noch polnisch sprach. Doch Fetjukowitsch fing auch diese beiden in seinen Netzen. Trotz aller Winkelzüge, die der zum zweitenmal aufgerufene Trifon Borissowitsch machte, mußte er doch einräumen, daß Pan Wroblewski die von ihm, Trifon, gebrachten Spielkarten mit seinen eigenen vertauscht und daß Pan Mussialowicz als Bankhalter betrogen hatte. Das bestätigte auch Kalganow, als er mit seinen Aussagen an die Reihe kam; und die beiden Polen entfernten sich, mit einiger Schande bedeckt und sogar unter dem Gelächter des Publikums.

Darauf erging es fast allen gefährlichen Zeugen ebenso. Jedem von ihnen konnte Fetjukowitsch einen moralischen Schmutzfleck anhängen, und den Betreffenden ein bißchen blamiert entlassen. Die Juristen und sonstigen Liebhaber von Kriminalprozessen verfolgten das mit Vergnügen, begriffen nur nicht, zu welchem großen entscheidenden Schlag das alles dienen sollte. Denn alle fühlten die Unwiderlegbarkeit der immer mehr und immer tragischer sich steigernden Beschuldigung. Aber sie sahen an dem Selbstvertrauen des »großen Magiers«, daß er ganz ruhig war. So warteten sie ab – ein solcher Mann konnte doch nicht umsonst aus Petersburg hierhergekommen sein: Er war doch wohl nicht der Mann, der unverrichteter Sache zurückkehren würde.

3. Die medizinischen Gutachten und ein Pfund Nüsse

Die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen hatten ebenfalls nicht die Auswirkung, die Sache des Angeklagten günstig zu gestalten. Auch Fetjukowitsch schien, wie sich später herausstellte, auf diese Gutachten nicht sehr gebaut zu haben. Daß sie abgegeben wurden, geschah im Grunde nur auf Katerina Iwanownas Drängen, die speziell jenen berühmten Arzt aus Moskau hatte kommen lassen. Die Verteidigung konnte dadurch natürlich nichts verlieren, günstigenfalls wohl eher etwas gewinnen. Übrigens gestaltete sich die Sache wegen der Meinungsverschiedenheit der Ärzte zum Teil ein wenig komisch. Als Sachverständige waren erschienen: der berühmte Arzt aus Moskau, dann unser Doktor Herzenstube und endlich der junge Arzt Warwinski. Die beiden letzteren figurierten auch einfach als vom Staatsanwalt vorgeladene Zeugen. Als erster wurde in seiner Eigenschaft als Sachverständiger Doktor Herzenstube befragt. Er war ein alter Mann von siebzig Jahren, grauhaarig und kahlköpfig, von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau. Bei uns in der Stadt schätzte und achtete man ihn sehr. Er war ein gewissenhafter Arzt und ein prächtiger, gottesfürchtiger Mensch, so etwas wie ein Herrnhuter oder Mährischer Bruder – genau weiß ich das nicht mehr. Er lebte schon sehr lange bei uns und führte einen anständigen Lebenswandel. Er war gut und menschenfreundlich, behandelte die armen Patienten und die Bauern umsonst, ging selbst in ihre elenden Kämmerchen und Hütten und ließ ihnen Geld für Arznei zurück; dabei war er jedoch eigensinnig wie ein Maultier. Ihn von einer Idee abzubringen, wenn sie sich einmal in seinem Kopf festgesetzt hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Übrigens war es schon weithin in der Stadt bekannt geworden, daß sich der zugereiste berühmte Arzt in den zwei, drei Tagen seines Aufenthalts bei uns mehrere höchst beleidigende Äußerungen über die Befähigung von Doktor Herzenstube erlaubt hatte. Die Sache war die: Der Moskauer Arzt nahm zwar für einen Besuch nicht weniger als fünfundzwanzig Rubel, dennoch freuten sich manche Leute in unserer Stadt über den Zufall, der ihn zu uns geführt hatte, ließen sich das Geld nicht leid tun und bestürmten ihn mit Bitten um seinen Rat. Alle diese Kranken hatte vor ihm natürlich Doktor Herzenstube behandelt, und nun kritisierte der berühmte Arzt überall dessen Heilmethode mit großer Schärfe. Zuletzt fragte er sogar, sobald er zu einem Kranken kam, geradezu: »Nun, wer hat denn an Ihnen herumgepfuscht? Herzenstube? Hehe!« Natürlich erfuhr Doktor Herzenstube das alles wieder. Und nun erschienen also alle drei Ärzte, um einer nach dem anderen vernommen zu werden. Doktor Herzenstube erklärte unumwunden, »die Abnormität der geistigen Fähigkeiten« des Angeklagten liege »auf der Hand«. Nachdem er seine Erwägungen vorgetragen hatte, die ich hier weglasse, fügte er hinzu, diese Abnormität äußere sich nicht nur in vielen früheren Handlungen des Angeklagten, sondern auch jetzt, sogar in diesem Augenblick; und als man ihn ersuchte zu erklären, worin sie sich jetzt, in diesem Augenblick äußere, verwies der alte Arzt mit seiner ganzen Geradheit und Offenherzigkeit auf das ungewöhnliche und in Anbetracht der Umstände verwunderliche Benehmen des Angeklagten, als er in den Saal getreten war. »Er schritt vorwärts wie ein Soldat und starrte vor sich hin, während es doch für ihn natürlicher gewesen wäre, nach links zu sehen, wo die Damen sitzen, denn er ist ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts gewesen und mußte sehr viel daran denken, was wohl jetzt die Damen von ihm sagen möchten«, schloß der Alte in seiner eigentümlichen Redeweise. Ich muß hinzufügen, daß er viel und gern russisch sprach; doch jeder Satz kam bei ihm auf deutsche Manier heraus, was ihn übrigens nie verlegen machte. Er hatte sein Leben lang die Schwäche, sein Russisch für musterhaft zu halten, »sogar für besser, als es die Russen selber sprechen«, und er zitierte sogar sehr gern russische Sprichwörter, wobei er jedesmal versicherte, die russischen Sprichwörter seien die besten und treffendsten der Welt. Ich erwähne noch, daß er im Gespräch infolge einer gewissen Zerstreutheit oft die gewöhnlichsten Wörter vergaß, die er gut kannte, die ihm aber plötzlich aus irgendeinem Grund entfallen waren. Dasselbe passierte ihm übrigens auch, wenn er deutsch sprach; dabei fuhr er immer mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als versuchte er das verlorene Wort zu erhaschen, und niemand hätte ihn dazu bringen können, mit dem Satz fortzufahren, bevor er das ihm entfallene Wort gefunden hatte. Seine Bemerkung, daß der Angeklagte beim Eintritt nach den Damen hätte sehen müssen, rief beim Publikum ein heiteres Geflüster hervor. Der alte Herr war bei unseren Damen sehr beliebt; sie wußten auch, daß er, der nie verheiratet gewesen war und ein frommes, keusches Leben führte, die Frauen als höhere, ideale Wesen betrachtete. Daher kam seine unerwartete Bemerkung allen sehr seltsam vor.

Der Moskauer Arzt erklärte, als er an die Reihe kam, in scharfem, entschiedenem Ton, daß er den geistigen Zustand des Angeklagten für abnorm erachte, »sogar im höchsten Grade«. Er sprach viel und klug über »Affekt« und »Manie« und kam zu dem Schluß, daß sich der Angeklagte nach allen bekannt gewordenen Tatsachen schon einige Tage vor seiner Festnahme zweifellos in einem krankhaften Affekt befand und, sofern er das Verbrechen überhaupt begangen haben sollte, dies zwar mit Bewußtsein, doch eher unfreiwillig tat, indem er schlechterdings nicht die Kraft hatte, gegen den krankhaften seelischen Drang, der ihn überkam, anzukämpfen. Außer dem Affekt hatte der Doktor auch noch Manie wahrgenommen, was nach seinen Worten geradezu auf eine sich herausbildende totale geistige Störung hindeutete. Wohlgemerkt, ich gebe das mit meinen eigenen Worten wieder; der Doktor drückte sich sehr gelehrt und fachmännisch aus. »Alle seine Handlungen stehen im Widerspruch zur gesunden Vernunft und zur Logik«, fuhr er fort. »Ich will nicht von dem reden, was ich nicht gesehen habe, das heißt von dem eigentlichen Verbrechen und von dieser ganzen Katastrophe. Doch selbst vorgestern hatte er im Gespräch mit mir einen unerklärlich starren Blick. Er lachte plötzlich los, wozu nicht der geringste Anlaß bestand. Er legte dauernd eine unverständliche Gereiztheit an den Tag und gebrauchte sonderbare Worte, ›Bernard‹ ›Ethik‹ und andere, die gar nicht in das Gespräch hineinpaßten.« Als Manie wertete der Doktor besonders den Umstand, daß der Angeklagte von den dreitausend Rubeln, um die er sich betrogen glaubte, nicht reden könne, ohne gereizt zu sein, während er von allen anderen Mißgeschicken und Kränkungen ziemlich unbeeindruckt spreche. Nach seinen Erkundigungen sei er auch früher jedesmal, wenn diese dreitausend Rubel erwähnt wurden, in eine Art von Raserei verfallen, während er doch im allgemeinen als uneigennützig und selbstlos galt. »Was nun die Meinung meines gelehrten Kollegen betrifft«, fügte der Moskauer Arzt am Schluß seiner Rede ironisch hinzu, »daß der Angeklagte beim Eintritt in den Saal zu den Damen hätte schauen müssen und nicht geradeaus, so kann ich nur sagen: Ganz abgesehen von der Anstößigkeit einer derartigen Schlußfolgerung ist diese Meinung vollkommen irrig. Wenn ich auch zugebe, daß der Angeklagte beim Eintritt in den Gerichtssaal, in dem sein Schicksal entschieden wird, nicht derart starr hätte vor sich hin blicken sollen und daß dies tatsächlich als ein Symptom seines abnormen Geisteszustandes in dem betreffenden Augenblick betrachtet werden kann, so behaupte ich doch gleichzeitig, daß er nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts hätte blicken und mit den Augen seinen Verteidiger suchen müssen, auf dessen Hilfe seine ganze Hoffnung beruht und von dessen Verteidigung jetzt sein ganzes Schicksal abhängt.« Diese seine Meinung sprach der Doktor sehr entschieden und nachdrücklich aus. Eine besondere Komik erhielt die Meinungsverschiedenheit der beiden gelehrten Sachverständigen durch die unerwartete Schlußfolgerung des Arztes Warwinski, der als dritter befragt wurde. Nach seiner Ansicht befand sich der Angeklagte jetzt wie auch früher in völlig normalem Zustand; und wenn er vor seiner Festnahme tatsächlich sehr nervös und aufgeregt gewesen sei, so könne das von vielen sehr einleuchtenden Ursachen herrühren: Eifersucht, Zorn, Trunkenheit und so weiter. Aber dieser nervöse Zustand habe keinerlei besonderen »Affekt« auslösen können, wie das soeben gesagt worden sei. Was schließlich die Frage beträfe, ob der Angeklagte beim Eintritt in den Saal nach links oder nach rechts hätte sehen müssen, so habe er »nach seiner bescheidenen Meinung« vielmehr gerade vor sich hin blicken müssen, wie er es in Wirklichkeit auch getan hatte, denn vor ihm saßen der Präsident und die Mitglieder des Gerichts, von denen jetzt sein ganzes Schicksal abhing. »Somit hat er, eben indem er vor sich hin sah, seinen vollkommen normalen Geisteszustand in dem betreffenden Moment bewiesen«, schloß der junge Arzt mit einer gewissen Wärme.

»Bravo, Arzt!« rief Mitja von seinem Platz aus. »Genauso ist es!«

Mitja wurde natürlich zur Ordnung gerufen, aber die Meinung des jungen Arztes übte eine entscheidende Wirkung auf Gericht und Publikum aus; wie sich später herausstellte, waren alle mit ihm einverstanden. Als Doktor Herzenstube noch einmal, nunmehr in seiner Eigenschaft als Zeuge, vernommen wurde, machte er eine Aussage, die dem Angeklagten zum Vorteil gereichte. Als alter Einwohner der Stadt, der die Familie Karamasow schon lange kannte, lieferte er zunächst einiges für die »Anklage« sehr interessante Material und fügte dann wie nach einigem Nachdenken überraschend hinzu: »Und doch hätte der arme junge Mensch ein unvergleichlich besseres Schicksal haben können, denn er hatte immer ein gutes Herz, das weiß ich. Aber ein russisches Sprichwort sagt: ›Wenn jemand einen Verstand hat, so ist das gut. Doch wenn noch ein kluger Mensch zu ihm zu Besuch kommt, ist es noch besser. Dann sind zwei Verstande, und nicht bloß einer …«

»Ein Verstand ist gut, zwei sind besser«, korrigierte der Staatsanwalt ungeduldig, der die Gewohnheit des Alten kannte, langsam und weitschweifig zu sprechen, unbekümmert darum, welchen Eindruck das auf die Zuhörer machte und wie lange andere warten mußten, bis er fertig war; er selbst hielt seinen steifen, immer fröhlich-selbstzufriedenen deutschen Humor für etwas sehr Schönes.

»O ja, das sage ich ja auch«, redete er hartnäckig weiter. »Ein Verstand ist etwas Gutes, doch zwei sind weit besser. Aber zu ihm kam kein anderer, der Verstand gehabt hätte, und da ließ er denn seinen eigenen … Wie heißt das doch, was ließ er ihn gehen? Dieses Wort, was er seinen Verstand gehen ließ, das habe ich vergessen, im Deutschen nennen wir es ›spazierengehen‹.«

»Im Russischen drückt man sich so ähnlich aus.«

»Nun ja, spazierengehen, das sage ich ja. Da ging also nun sein Verstand spazieren und geriet an eine tiefe Stelle, in der er dann umkam. Dabei war er ein empfänglicher, dankbarer junger Mensch. Oh, ich erinnere mich noch, wie er ein ganz kleiner Junge war. Sein Vater hatte ihn auf den Hof verbannt, und da lief er ohne Schuhchen umher und mit Höschen, die nur an einem Knopf hingen …«

In der Stimme des alten Mannes lag ein warmes Mitgefühl und eine gewisse Rührung. Fetjukowitsch zuckte zusammen, als ob er etwas ahnte, und horchte mit größter Spannung.

»O ja, ich selbst war damals noch ein junger Mensch … Ich war damals fünfundvierzig [fünfundzwanzig?] Jahre alt, war eben erst hierhergekommen. Das Jüngelchen tat mir damals so leid, und ich fragte mich: Warum soll ich ihm nicht etwas kaufen? Das beste ist, ich kaufe ihm ein Pfund … Nun ja, ein Pfund was? Ich habe vergessen, wie man das nennt … Ein Pfund von dem, was die Kinder so gern essen, wie heißt das nur … Na, wie heißt das nur … Es wächst auf dem Baum, man sammelt es und schenkt es allen Leuten …«

»Apfel?«

»O nein! Ein Pfund, ein Pfund! Äpfel werden nach Stück verkauft, nicht pfundweise … Nein, es sind viele, und sie sind ganz klein. Man steckt sie in den Mund, und kr-r-rach …«

»Nüsse?«

»Na ja, Nüsse das sage ich doch!« stimmte der Doktor in der ruhigsten Art und Weise zu, als hätte er kein bißchen nach dem Wort gesucht. »Ich brachte ihm also ein Pfund Nüsse, denn dem Knaben hatte noch nie jemand ein Pfund Nüsse gebracht. Ich hob meinen Finger und sagte zu ihm: ›Junge, paß mal auf!‹ Und dann auf deutsch: ›Gott der Vater.‹ Er lachte wieder und stammelte: ›Gott der Sohn.‹ – ›Gott der Heilige Geist.‹ Dann ging ich weg. Zwei Tage später kam ich wieder vorbei, und er schrie mir von selbst zu: ›Onkel! Gott der Vater, Gott der Sohn!‹ Nur ›Gott der Heilige Geist‹ hatte er vergessen. Ich erinnerte ihn daran, und er tat mir wieder leid. Dann wurde er von hier fortgebracht, und ich bekam ihn nicht mehr zu sehen. Und nun waren dreiundzwanzig Jahre vergangen, und ich sitze eines Morgens in meinem Zimmer, schon mit weißem Kopf, da kommt auf einmal, ein blühender junger Mensch herein, den ich gar nicht kenne, hebt den Finger und sagt lachend: ›Gott der Vater, Gott der Sohn, Gott der Heilige Geist. Ich bin eben angekommen und eile zu Ihnen, um mich für das Pfund Nüsse zu bedanken! Mir hatte damals noch nie jemand ein Pfund Nüsse gekauft. Sie sind der einzige Mensch gewesen, der mir ein Pfund Nüsse gekauft hat!‹ Da erinnerte ich mich an meine glückliche Jugend und an den armen Knaben ohne Schuhchen auf dem Hof, und das Herz drehte sich mir um, und ich sagte: ›Du bist ein dankbarer junger Mensch! Dein ganzes Leben hindurch hast du an das Pfund Nüsse gedacht, das ich dir in deiner Kindheit geschenkt habe?‹ Und ich umarmte ihn und segnete ihn und mußte weinen. Er lachte, weinte aber auch … Denn der Russe lacht sehr oft gerade dann, wenn er weinen muß. Aber er weinte auch, das sah ich. Und jetzt, o weh, o weh!«

»Auch jetzt weine ich, Deutscher, auch jetzt weine ich!« rief Mitja von seinem Platz aus.

Dieses Geschichtchen machte auf das Publikum jedenfalls einen angenehmen Eindruck. Die größte Wirkung zu Mitjas Gunsten aber hatte Katerina Iwanownas Aussage, von der ich gleich sprechen werde. Und überhaupt, als die vom Verteidiger geladenen Zeugen begannen, da schien das Glück dem Angeklagten auf einmal wirklich zu lächeln, und was das merkwürdigste war, das kam sogar für den Verteidiger überraschend. Doch noch vor Katerina Iwanowna wurde Aljoscha vernommen; er erinnerte sich einer Tatsache, die wie ein eindeutiges Zeugnis gegen einen wichtigen Punkt der Anklage aussah.

4. Das Glück lächelt Mitja

Aljoscha wurde unvereidigt aufgerufen, und ich erinnere mich, daß ihn beide Parteien von den ersten Worten des Verhörs an außerordentlich sanft und freundlich behandelten. Man sah, daß ihm ein guter Ruf voranging. Aljoscha machte seine Aussagen in bescheidener, ruhiger Weise; trotzdem brach dabei seine warme Teilnahme für den unglücklichen Bruder durch. Er zeichnete den Charakter seines Bruders als den eines Menschen, der vielleicht zum Jähzorn neige und sich von seinen Leidenschaften hinreißen lasse, doch zugleich edel, stolz, hochherzig und sogar zu Opfern bereit sei, wenn solche von ihm gefordert würden. Er gab zu, daß sich sein Bruder in den letzten Tagen infolge seiner Leidenschaft für Gruschenka und der Rivalität mit seinem Vater in einer unerträglichen Lage befunden hatte. Aber mit Entrüstung wies er auch nur die Vermutung zurück, daß sein Bruder zu einem Raubmord fähig wäre, wenn er auch einräumte, daß diese dreitausend Rubel in Mitjas Geist beinah zu einer Art Manie geworden seien, daß er sie für sein Erbteil erachtet habe, das ihm von seinem Vater betrügerisch vorenthalten wurde, und daß er, obgleich durchaus nicht eigennützig, doch von diesen dreitausend Rubeln nicht habe reden können, ohne in Wut und Raserei zu geraten. Auf eine Frage über die Nebenbuhlerschaft der beiden »Personen«, wie sich der Staatsanwalt ausdrückte, das heißt Gruschenkas und Katjas, antwortete er ausweichend; auf eine oder zwei Fragen lehnte er die Antwort sogar ab.

»Hat Ihnen Ihr Bruder wenigstens gesagt, daß er seinen Vater töten wollte?« fragte der Staatsanwalt. »Sie können die Antwort verweigern, wenn Sie das für nötig halten«, fügte er hinzu.

»Direkt hat er es nicht gesagt«, antwortete Aljoscha.

»Wie denn? Indirekt?«

»Er hat mir gegenüber einmal von seinem persönlichen Haß auf den Vater gesprochen und gesagt, er fürchte, in einem besonders schlimmen Augenblick, in einem Augenblick des Ekels wäre er vielleicht imstande, ihn zu töten.«

»Und als Sie das hörten, haben Sie es geglaubt?«

»Ich muß zu meinem Schmerz sagen, daß ich es glaubte. Aber ich bin stets davon überzeugt gewesen, ein höheres Gefühl würde ihn in einem solchen verhängnisvollen Augenblick retten, wie es ihn ja auch tatsächlich gerettet hat – denn nicht er hat meinen Vater ermordet«, schloß Aljoscha mit fester, durch den ganzen Saal vernehmlicher Stimme.

Der Staatsanwalt zuckte zusammen wie ein Schlachtpferd, das ein Trompetensignal hört.

»Seien Sie versichert, daß ich durchaus an die Aufrichtigkeit Ihrer Überzeugung glaube und daß ich diese Ihre Überzeugung keineswegs nur als ein Produkt oder einen Ausfluß Ihrer Liebe zu ihrem unglücklichen Bruder betrachte. Ihre eigenartige Auffassung von dem ganzen tragischen Vorgang, der sich in Ihrer Familie abgespielt hat, ist uns schon aus der Voruntersuchung bekannt. Ich verhehle Ihnen nicht, daß diese Anschauung vereinzelt dasteht und allen übrigen Angaben, die der Staatsanwaltschaft gemacht worden sind, widerspricht. Und darum halte ich es für notwendig, Sie nunmehr mit allem Nachdruck zu fragen, durch welche Tatsachen Sie zu der endgültigen Überzeugung von der Unschuld Ihres Bruders und der Schuld einer anderen Person kamen, auf die Sie bei der Voruntersuchung hingewiesen haben.«

»Bei der Voruntersuchung habe ich nur auf die mir vorgelegten Fragen geantwortet«, sagte Aljoscha leise und ruhig. »Aber ich habe nicht selbst eine Beschuldigung gegen Smerdjakow ausgesprochen.«

»Aber Sie haben doch auf ihn hingewiesen?«

»Ich wies auf ihn hin auf Grund der Worte meines Bruders Dmitri. Es war mir schon vor meiner Vernehmung erzählt worden, was bei seiner Verhaftung geschehen war und wie er damals selbst auf Smerdjakow hingewiesen hatte. Ich glaube mit aller Bestimmtheit, daß mein Bruder unschuldig ist. Und wenn nicht er den Mord begangen hat … »

»So muß es Smerdjakow getan haben? Warum denn gerade Smerdjakow? Und warum sind Sie so fest von der Unschuld Ihres Bruders überzeugt?«

»Ich mußte meinem Bruder aus innerer Notwendigkeit glauben. Ich weiß, daß er mich nicht belügt. Ich habe an seinem Gesicht gesehen, daß er mich nicht belog.«

»Nur am Gesicht? Darin bestehen Ihre ganzen Beweise?«

»Andere Beweise habe ich nicht.«

»Und hinsichtlich der Schuld Smerdjakows stützen Sie sich ebenfalls auf keinen anderen Beweis als auf die Worte Ihres Bruders und den Ausdruck seines Gesichts?«

»Einen anderen Beweis habe ich in der Tat nicht.«

Damit brach der Staatsanwalt die Befragung ab. Aljoschas Antworten hatten beim Publikum große Enttäuschung hervorgerufen. Über Smerdjakow war bei uns schon vor der Gerichtsverhandlung viel geredet worden; irgend jemand hatte irgend etwas gehört, irgend jemand wies auf irgend etwas hin; von Aljoscha hieß es, er habe überaus starke Beweise zugunsten seines Bruders und für die Schuld des Dieners vorzulegen – und da brachte er nun rein gar nichts vor, keinerlei Beweise außer moralischen Überzeugungen, die bei ihm als dem Bruder des Angeklagten nur allzu natürlich waren.

Doch nun schaltete sich auch Fetjukowitsch ein. Bei der Antwort auf die Frage, wann der Angeklagte mit ihm, Aljoscha, über seinen Haß auf den Vater gesprochen und angedeutet habe, daß er ihn vielleicht einmal totschlagen würde, und was er von ihm bei ihrem letzten Zusammensein vor der Katastrophe gehört habe, fuhr Aljoscha plötzlich zusammen, als ob er sich erst jetzt an etwas erinnerte.

»Ich erinnere mich jetzt an einen Umstand, den ich beinahe ganz vergessen hatte; damals war er mir ganz unverständlich, doch jetzt …«

Und Aljoscha erzählte mit größtem Eifer, an dem man sah, daß er wirklich eben erst auf diesen Gedanken gekommen war, wie sich Mitja bei ihrem letzten Zusammensein am Abend, auf dem Weg zum Kloster, an die Brust, »an den oberen Teil der Brust«, geschlagen und mehrmals wiederholt habe, er besitze ein Mittel, um seine Ehre wiederherzustellen; dieses Mittel befinde sich hier, hier auf seiner Brust … »Ich dachte damals, er spräche von seinem Herzen«, fuhr Aljoscha fort. »Daß er in seinem Herzen die Kraft finden könnte, einer schrecklichen Schmach zu entgehen, die er nicht einmal mir zu bekennen wagte. Ich muß gestehen, ich dachte damals, er rede vom Vater und zittere wie vor einer Schmach bei dem Gedanken, zu ihm zu gehen und ihm Gewalt anzutun; und doch schien er damals auf etwas auf seiner Brust hinzuweisen, so daß mir, wie ich mich erinnere, gleich der Gedanke durch den Kopf ging, daß ja das Herz gar nicht an jener Stelle der Brust sitzt, sondern niedriger, während er sich viel höher, hier, gleich unter dem Hals an die Brust schlug und immer auf diesen Fleck deutete. Mein Gedanke kam mir damals dumm vor – aber er hat vielleicht gerade auf das Säckchen gezeigt, in dem diese fünfzehnhundert Rubel eingenäht waren?«

»Ganz richtig!« rief Mitja auf einmal. »So war es, Aljoscha! So war es! Ich schlug damals mit der Faust an das Säckchen.«

Fetjukowitsch stürzte eilig zu ihm hin, flehte ihn an, sich zu beruhigen, und krallte sich im Nu mit seinen Fragen an Aljoscha fest. Aljoscha, durch seine Erinnerung selbst ganz hingerissen, sprach mit Feuereifer seine Vermutung aus, die Schmach habe höchstwahrscheinlich darin bestanden, daß er, obgleich er die fünfzehnhundert Rubel bei sich trug und sie Katerina Iwanowna hätte zurückgeben können, sich dennoch entschlossen hatte, ihr diese Hälfte nicht zurückzugeben, sondern zu einem anderen Zweck zu verwenden, das heißt zur Entführung Gruschenkas, wenn diese damit einverstanden war …

»So war es, genauso war es!« rief Aljoscha in lebhafter Erregung. »Genau das rief mir mein Bruder damals zu! Er könne die Hälfte, die Hälfte der Schmach, er wiederholte mehrmals: die Hälfte, sofort loswerden, sei aber durch die Schwäche seines Charakters so unglücklich, daß er es nicht tun werde … Er wisse im voraus, daß er es nicht könne und nicht die Kraft habe, es zu tun!«

»Und Sie erinnern sich bestimmt, daß er sich gerade auf diese Stelle der Brust schlug?« fragte Fetjukowitsch eifrig.

»Ja, daran erinnere ich mich bestimmt. Gerade weil mir damals der Gedanke kam: Warum schlägt er denn so hoch, das Herz sitzt doch tiefer! Und weil mir dieser Gedanke damals dumm erschien … Ich erinnere mich genau, daß er mir dumm erschien … Das ist auch der Grund, weshalb ich mich erst jetzt eben daran erinnert habe! Wie habe ich das nur bisher vergessen können! Eben auf dieses Säckchen wies er hin, als wollte er sagen, er besitze zwar die Mittel, werde die fünfzehnhundert Rubel jedoch nicht zurückgeben! Und ich weiß auch, es ist mir berichtet worden: Auch bei seiner Verhaftung in Mokroje hat er ausgerufen, er halte es für die schmählichste Tat seines Lebens, daß er, obgleich er die Mittel gehabt habe, die Hälfte seiner Schuld – jawohl, die Hälfte! – an Katerina Iwanowna zurückzugeben und nicht mehr als Dieb vor ihr dazustehen, sich trotzdem nicht zur Rückgabe entschlossen und in ihren Augen lieber habe ein Dieb bleiben wollen, als sich von dem Geld trennen! Aber wie hat er sich gequält, wie hat er sich gequält wegen dieser Schuld!« rief Aljoscha am Schluß seiner Aussage.

Selbstverständlich mischte sich auch der Staatsanwalt ein. Er ersuchte Aljoscha, noch einmal zu schildern, wie sich das alles zugetragen hatte, und fragte dann mehrmals beharrlich, ob es ihm wirklich so vorgekommen sei, als ob der Angeklagte auf etwas hinwies. Vielleicht habe er sich einfach mit der Faust an die Brust geschlagen?

»Er schlug gar nicht mit der Faust«, rief Aljoscha. »Er zeigte mit den Fingern, und zwar sehr weit oben … Wie konnte ich das nur bis jetzt so völlig vergessen!«

Der Präsident wandte sich an Mitja mit der Frage, was er zu der soeben abgegebenen Aussage zu bemerken habe. Mitja bestätigte, daß alles genauso gewesen sei: Er habe wirklich auf seine fünfzehnhundert Rubel hingewiesen, die er auf der Brust getragen habe, gleich unter dem Hals. Das sei allerdings eine Schmach gewesen. »Eine Schmach, die ich nicht ableugne! Die schmählichste Handlung meines ganzen Lebens!« rief Mitja aus. »Ich hatte die Wahl, es zurückzugeben oder nicht. Ich zog es vor, in ihren Augen ein Dieb zu bleiben, und gab es nicht zurück. Die größte Schmach aber bestand darin, daß ich vorher wußte, ich würde es nicht zurückgeben! Aljoscha hat recht! Ich danke dir, Aljoscha!«

Damit war Aljoschas Vernehmung beendet. Wichtig war der Umstand, daß sich wenigstens eine Tatsache gefunden hatte, die – wenn auch nur als ganz schwacher Beweis, fast nur als Andeutung eines Beweises – doch immerhin ein wenig bezeugte, daß dieses Säckchen mit den fünfzehnhundert Rubeln darin tatsächlich existiert und daß der Angeklagte bei der Voruntersuchung in Mokroje nicht gelogen hatte. Aljoscha war froh; vor Erregung ganz rot im Gesicht, setzte er sich auf den ihm angewiesenen Platz. Noch lange sagte er sich immer wieder im stillen: ›Daß ich das vergessen hatte! Wie habe ich das nur vergessen können? Und daß es mir so plötzlich erst jetzt eingefallen ist!‹

Es begann die Vernehmung Katerina Iwanownas. Bei ihrem Erscheinen ging im Saal etwas Ungewöhnliches vor. Die Damen griffen zu ihren Lorgnetten und Operngläsern; die Männer gerieten in Bewegung, und manche standen von ihren Plätzen auf, um besser sehen zu können. Alle versicherten später, Mitja sei, als sie eintrat, auf einmal »bleich wie Leinwand« geworden. Ganz in Schwarz gekleidet, ging sie bescheiden und beinahe schüchtern zu dem ihr angewiesenen Platz. Ihrer Miene war nicht anzusehen, daß sie erregt war; doch in ihrem dunklen, finsteren Blick lag eine feste Entschlossenheit. Es muß vermerkt werden, daß später viele versicherten, sie sei in diesem Augenblick wunderschön gewesen. Sie sprach leise, aber dennoch so deutlich, daß man sie im ganzen Saal verstehen konnte. Sie drückte sich außerordentlich ruhig aus oder bemühte sich wenigstens, ruhig zu sein. Der Präsident stellte seine Fragen vorsichtig und außerordentlich respektvoll, als scheute er sich, »gewisse Saiten« zu berühren. Doch Katerina Iwanowna erklärte gleich auf eine der ersten ihr vorgelegten Fragen selbst mit aller Entschiedenheit, sie sei die verlobte Braut des Angeklagten gewesen, »so lange, bis er selbst mich verlassen hat …«. Nach den dreitausend Rubeln befragt, die sie Mitja zur Übersendung an ihre Verwandten anvertraut hatte, antwortete sie mit fester Stimme: »Ich habe sie ihm nicht direkt für die Post gegeben. Ich ahnte damals, daß er dringend Geld brauchte … Ich gab ihm diese dreitausend Rubel, damit er sie, wenn er wollte, etwa innerhalb eines Monats absandte … Ohne Grund hat er sich später wegen dieses Geldes so gequält.«

Ich werde nicht alle Fragen und Antworten genau wiedergeben, sondern nur den wesentlichen Sinn ihrer Aussagen.

»Ich war fest davon überzeugt, daß er immer noch Zeit finden würde, die dreitausend Rubel abzusenden«, fuhr sie auf die ihr vorgelegten Fragen fort, »sobald er von seinem Vater Geld erhalten hätte. Ich war immer von seiner Uneigennützigkeit und Ehrenhaftigkeit überzeugt … Er war sich dessen sicher, daß er von seinem Vater dreitausend Rubel erhalten würde; er hat mir gegenüber mehrmals davon gesprochen. Ich wußte, daß er mit seinem Vater Streit hatte, und glaubte und glaube auch heute noch, daß er von seinem Vater übervorteilt worden war. Ich erinnere mich nicht an irgendwelche Drohungen gegen seinen Vater. In meiner Gegenwart wenigstens hat er niemals solche Drohungen ausgestoßen. Wäre er damals zu mir gekommen, hätte ich seine Unruhe wegen dieser unseligen dreitausend Rubel sofort beschwichtigt, aber er kam nicht mehr zu mir … Ich selbst aber … Ich war in so eine Lage gekommen, daß es mir nicht möglich war, ihn zu mir zu bitten … Und ich hatte auch gar kein Recht, die Rückzahlung dieser Schuld ungeduldig von ihm zu verlangen!« fügte sie plötzlich hinzu, und ihrer Stimme war eine feste Entschlossenheit anzuhören. »Denn er hat mir selbst einmal eine weit höhere finanzielle Gefälligkeit erwiesen, und ich habe sie angenommen, obwohl ich damals noch nicht absehen konnte, ob ich jemals imstande sein würde, ihm meine Schuld zurückzuzahlen …«

Im Tonfall ihrer Stimme schien etwas Herausforderndes zu liegen. In diesem Augenblick ging die Aufgabe, Fragen zu stellen, an Fetjukowitsch über.

»Das war wohl schon zu Beginn Ihrer Bekanntschaft, noch ehe Sie hierherzogen?« nahm Fetjukowitsch vorsichtig tastend das Wort; er ahnte sofort etwas Günstiges. Ich muß an dieser Stelle eine Zwischenbemerkung einfügen. Obgleich er von Katerina Iwanowna selbst aus Petersburg hergebeten worden war, wußte er dennoch nichts von dem Vorgang mit den fünftausend Rubeln, die Mitja ihr einst gegeben hatte – also auch nichts von der tiefen Verbeugung. Sie hatte es vor ihm geheimgehalten; das war erstaunlich. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß sie selbst bis zum letzten Augenblick nicht gewußt hatte, ob sie davon vor Gericht erzählen würde oder nicht.

Ich werde diese Augenblicke niemals vergessen! Sie erzählte alles, diesen ganzen Vorgang, den Mitja seinem Bruder Aljoscha berichtet hatte, auch von der tiefen Verbeugung, auch von den Ursachen, auch von der Notlage ihres Vaters, auch von ihrem Besuch bei Mitja – doch mit keinem Wort, mit keiner Andeutung erwähnte sie, daß Mitja durch ihre Schwester selbst den Vorschlag gemacht hatte, sie möchten Katerina Iwanowna zu ihm schicken, um das Geld abzuholen. Das verheimlichte sie großmütig, und sie schämte sich nicht, es so darzustellen, als sei sie damals aus eigenem Antrieb zu dem jungen Offizier gegangen, um ihn in der Hoffnung auf Hilfe um Geld zu bitten. Diese Erzählung hatte etwas Erschütterndes. Ein kaltes Zittern überlief mich beim Zuhören; der Saal war totenstill und fing jedes Wort auf. Was man da hörte, war ohne Beispiel. Selbst von einem selbstbewußten und hochmütig-stolzen Mädchen wie ihr hatte man so eine erstaunliche offenherzige Aussage, ein solches Opfer, eine solche Selbstvernichtung unmöglich erwarten können. Und wozu? Für wen? Um den zu retten, der ihr treulos geworden war und sie tief gekränkt hatte, um wenigstens eine Kleinigkeit zu seiner Rettung beizutragen, indem sie eine Tat von ihm erzählte, die einen guten Eindruck machte! Und wirklich: das Bild eines Offiziers, der alles, was ihm im Leben geblieben ist, seine letzten fünftausend Rubel, hingibt und sich ehrerbietig vor einem unschuldigen Mädchen verneigt, dieses Bild wirkte sehr sympathisch und anziehend, aber … Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Ich hatte das Gefühl, daß daraus später eine arge Verleumdung entstehen würde – und die ist dann auch entstanden. Mit boshaftem Lachen erzählte man später in der ganzen Stadt, die Erzählung sei vielleicht nicht ganz genau, nämlich an der Stelle, wo der Offizier das junge Mädchen angeblich nur mit einer respektvollen Verbeugung entlassen habe. Man deutete an, hier sei womöglich etwas ausgelassen. »Doch auch wenn nichts ausgelassen wäre, wenn sich alles wirklich so zugetragen hätte«, sagten sogar unsere geachtetsten Damen, »bliebe dahingestellt, ob das für ein junges Mädchen eine anständige Handlungsweise war, selbst wenn es sich um die Rettung des Vaters handelte.« Hatte Katerina Iwanowna bei ihrem Verstand, bei ihrem ungewöhnlichen Scharfblick etwa wirklich nicht vorhergesehen, daß die Leute so reden würden? Unzweifelhaft hatte sie es vorhergesehen und sich trotzdem entschlossen, alles zu sagen … Selbstverständlich tauchten alle diese unsauberen Zweifel an der Wahrheit ihrer Erzählung erst später auf; im ersten Augenblick waren alle erschüttert. Die Mitglieder des Gerichtes hörten Katerina Iwanowna mit ehrerbietigem, ja fast verschämtem Schweigen zu. Der Staatsanwalt erlaubte sich keine einzige weitere Frage über diesen Gegenstand. Fetjukowitsch machte ihr eine tiefe Verbeugung. Oh, er triumphierte beinahe. Viel war gewonnen: Ein Mensch, der in einem edlen Gefühl seine letzten fünftausend Rubel hingibt und dann derselbe Mensch, der seinen Vater bei Nacht ermordet, um ihm dreitausend Rubel zu rauben: das war denn doch unvereinbar. Wenigstens die Anklage wegen Raubes konnte Fetjukowitsch jetzt als erledigt betrachten. Ein ganz neues Licht hatte sich auf einmal über den »Fall« ergossen; eine gewisse Sympathie für Mitja regte sich. Er jedoch … Von ihm erzählte man, er sei während Katerina Iwanownas Aussage ein- oder zweimal von seinem Platz aufgesprungen, habe sich dann wieder auf die Bank zurücksinken lassen und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Als sie geendet hatte, rief er plötzlich, die Arme nach ihr ausstreckend: »Katja, warum hast du mich zugrunde gerichtet?«

Er schluchzte so laut, daß es durch den ganzen Saal zu hören war. Allerdings gewann er sehr schnell die Herrschaft über sich zurück und rief wieder: »Jetzt bin ich verurteilt!«

Dann aber biß er die Zähne zusammen, kreuzte die Arme über der Brust und schien in dieser Stellung auf seinem Platz zu erstarren. Katerina Iwanowna blieb im Saal und setzte sich auf den ihr angewiesenen Stuhl; sie war blaß und saß mit gesenktem Kopf da. Diejenigen, die sich in ihrer Nähe befanden, erzählten später, sie habe noch lange Zeit wie im Fieber gezittert.

Nach ihr erschien Gruschenka, um vernommen zu werden.

Ich nähere mich jetzt der Katastrophe, die plötzlich hereinbrach und Mitja vielleicht tatsächlich zugrunde richtete. Denn ich bin überzeugt, und das sagten nachher auch alle anderen, auch alle Juristen. Wäre dieser Vorfall nicht eingetreten, hätte man dem Verbrecher mindestens mildernde Umstände zugebilligt. Aber davon gleich; zuvor nur noch einige Worte über Gruschenka. Sie erschien im Saal ebenfalls ganz in Schwarz, mit ihrem schönen schwarzen Schal um die Schultern. Mit ihrem leichten, unhörbaren Gang, sich ein wenig hin und her wiegend, wie etwas volle Frauen manchmal gehen, näherte sie sich der Balustrade, wobei sie unverwandt zum Präsidenten und nicht einen Moment nach rechts oder links schaute. Meiner Ansicht nach war sie in diesem Augenblick sehr schön und durchaus nicht blaß, wie später die Damen behaupteten. Sie behaupteten auch, sie habe ein verschlossenes, böses Gesicht gemacht. Ich glaube nur, daß sie in gereizter Stimmung war und die auf sie gerichteten verächtlichen, neugierigen Blicke unseres skandalsüchtigen Publikums als peinlich empfand. Sie war ein stolzer Charakter, der keine Verachtung ertrug und sogleich in Zorn und Rachsucht verfiel, sobald er nur von irgendeiner Seite Verachtung argwöhnte. Mit diesen Gefühlen vereinigte sich allerdings auch Schüchternheit und eine innere Scham über diese Schüchternheit, so daß es nicht zu verwundern war, wenn sich ihre Redeweise verschieden ausnahm: Bald war sie zornig, bald verächtlich und absichtlich grob, bald schwang wieder ein aufrichtiger, herzlicher Ton der Selbstanklage mit. Manchmal redete sie so, als ob sie sich in

einen Abgrund stürzte und dabei dachte: ›Einerlei, mag kommen, was da will – ich werde es trotzdem sagen!‹ Über ihre Bekanntschaft mit Fjodor Pawlowitsch bemerkte sie in scharfem Ton: »Das ist alles nur dummes Zeug! Was kann ich denn dafür, daß er sich in mich vernarrt hatte!« Doch einen Augenblick darauf fügte sie hinzu: »Ich bin an allem schuld. Ich habe mich über sie beide lustig gemacht, über den Alten und über den da, und habe sie beide ins Unglück gebracht. Um meinetwillen ist alles geschehen.« Irgendwie kam die Rede auch auf Samsonow. »Wen geht das etwas an?« sagte sie sogleich bissig und herausfordernd. »Er war mein Wohltäter, er hat sich meiner angenommen, als meine Angehörigen mich ohne Strümpfe und Schuhe aus dem Haus trieben!« Der Präsident machte sie, übrigens in sehr höflicher Form, darauf aufmerksam, sie möchte nur auf die Fragen antworten, ohne sich in überflüssigen Einzelheiten zu ergehen. Gruschenka errötete, und ihre Augen funkelten.

Das Kuvert mit dem Geld hatte sie nicht gesehen; sie hatte nur von dem »Missetäter« gehört, daß bei Fjodor Pawlowitsch ein Kuvert mit dreitausend Rubeln bereitliege. »Aber das sind alles Dummheiten. Ich habe darüber gelacht und wäre um keinen Preis hingegangen.«

»Wen meinten Sie eben, als Sie von dem ›Missetäter‹ sprachen?« erkundigte sich der Staatsanwalt.

»Den Diener. Diesen Smerdjakow, der seinen Herrn ermordet und sich gestern aufgehängt hat.«

Natürlich fragte man sie sofort, welche Gründe sie für eine so entschiedene Beschuldigung habe; es stellte sich jedoch heraus, daß auch sie keine anzuführen wußte.

»Das hat mir Dmitri Fjodorowitsch gesagt, und ihm können Sie glauben. Eine Person, die es darauf anlegte, Zwietracht zu stiften, hat ihn zugrunde gerichtet. So steht die Sache … Sie allein ist an allem schuld!« fügte sie, am ganzen Körper vor Haß zitternd, hinzu, und ihre Stimme hatte einen boshaften Klang.

Man erkundigte sich, wer nun wieder damit gemeint sei.

»Das Fräulein da, diese Katerina Iwanowna! Sie lud mich damals zu sich ein, setzte mir Schokolade vor und wollte mich durch Liebenswürdigkeit gewinnen. Sie besitzt kein wahres Schamgefühl, so steht die Sache …«

Hier unterbrach sie der Präsident, und zwar nunmehr in strengem Ton, und ersuchte sie, sich in ihren Ausdrücken zu mäßigen. Aber ihr eifersüchtiges Herz stand schon in Flammen; sie war bereit, sich in den Abgrund zu stürzen.

»Bei der Verhaftung in dem Dorf Mokroje«, erinnerte sie der Staatsanwalt, um dann eine Frage daran anzuknüpfen, »haben alle gesehen und gehört, wie Sie aus dem anderen Zimmer hereinkamen und riefen: ›Ich bin an allem schuld, ich will mit zur Zwangsarbeit gehen!‹ Also waren auch Sie bereits in jenem Augenblick überzeugt, daß er der Mörder seines Vaters war?«

»Ich erinnere mich nicht an meine damaligen Gefühle«, antwortete Gruschenka. »Alle schrien damals, er habe seinen Vater totgeschlagen, und da sagte ich mir, daß ich schuld sei und er ihn um meinetwillen totgeschlagen habe. Doch als er erklärte, daß er unschuldig sei, habe ich es ihm sofort geglaubt. Und ich glaube es auch jetzt und werde es immer glauben! Lügen widerspricht seinem ganzen Wesen.«

Nun war Fetjukowitsch an der Reihe, sie zu fragen. Er fragte sie, wie ich mich erinnere, unter anderem nach Rakitin und den fünfundzwanzig Rubeln Belohnung, falls er Alexej Fjodorowitsch Karamasow zu ihr brachte.

»Was ist denn erstaunlich daran, daß er das Geld nahm?« antwortete Gruschenka mit einem verächtlichen, boshaften Lächeln. »Er ist ja ständig zu mir gekommen und hat um Geld gebettelt. Manchen Monat hat er dreißig Rubel ergattert, die er meist für unnütze Dinge ausgab. Zu essen und zu trinken hatte er auch ohne meine Beihilfe.«

»Aus welchem Grund waren Sie denn so freigebig gegen Herrn Rakitin?« fragte Fetjukowitsch weiter, obwohl sich der Präsident auf seinem Sitz unruhig hin und her bewegte.

»Er ist doch mein Vetter. Meine Mutter und seine Mutter sind Schwestern. Er hat mich nur immer dringend gebeten, niemandem etwas davon zu sagen. Er schämte sich meiner wohl zu sehr.«

Diese neue Tatsache war für alle eine Überraschung; bis dahin hatte in der ganzen Stadt, selbst im Kloster, niemand etwas davon gewußt, nicht einmal Mitja. Es wurde erzählt, Rakitin sei auf seinem Stuhl dunkelrot geworden. Gruschenka hatte noch vor ihrem Eintritt in den Saal irgendwie erfahren, daß er gegen Mitja ausgesagt hatte, und war daher wütend auf ihn geworden. Rakitins vorangegangene Rede mit all ihrer edlen Gesinnung und all ihren Tiraden über die Leibeigenschaft und die soziale Unordnung Rußlands war in der allgemeinen Meinung vorerst endgültig abgetan und erledigt. Fetjukowitsch war zufrieden; wieder hatte ihm Gott eine unerwartete Gabe gesandt. Gruschenka wurde nicht sehr lange vernommen; allerdings konnte sie auch nichts besonders Neues mitteilen. Im Publikum hinterließ sie einen sehr ungünstigen Eindruck. Hunderte von verächtlichen Blicken richteten sich auf sie, als sie nach ihrer Aussage ziemlich weit von Katerina Iwanowna entfernt im Saal Platz nahm. Die ganze Zeit, während sie befragt wurde, hatte Mitja stumm und wie versteinert dagesessen und auf den Boden gestarrt.

Nun erschien als Zeuge Iwan Fjodorowitsch.

5. Die plötzliche Katastrophe

Er sollte eigentlich schon vor Aljoscha aufgerufen werden. Aber der Gerichtsinspektor hatte dem Präsidenten gemeldet, der Zeuge könne infolge eines plötzlichen Anfalls von Unwohlsein im Augenblick nicht erscheinen; sobald er sich erholt habe, werde er seine Aussagen machen, wann es dem Gericht beliebe. Das hatte merkwürdigerweise niemand gehört, und man erfuhr es erst später. Sein Erscheinen wurde im ersten Moment kaum bemerkt; die Hauptzeugen, besonders die beiden Nebenbuhlerinnen, waren schon vernommen worden, und die Neugier war vorläufig befriedigt. Beim Publikum machte sich sogar eine gewisse Ermüdung bemerkbar. Es waren noch einige Zeugen anzuhören, die in Anbetracht dessen, was bereits bekannt war, wahrscheinlich nichts Besonderes mehr mitteilen konnten, und die Zeit war schon stark vorgerückt. Iwan Fjodorowitsch trat mit einer seltsamen Langsamkeit näher, ohne jemanden anzusehen; er hielt sogar den Kopf gesenkt, als sei er in finsterem Nachdenken über etwas begriffen. Gekleidet war er tadellos, doch sein Gesicht machte einen kranken Eindruck, wenigstens auf mich; es war, als ob ihm schon der Tod sein Zeichen aufgedrückt hätte: Es erinnerte an das Gesicht eines Sterbenden. Seine Augen waren trübe; als er sie aufhob und langsam durch den Saal wandern ließ, sprang Aljoscha plötzlich laut stöhnend von seinem Stuhl auf. Auch dies bemerkte so gut wie niemand, aber ich erinnere mich daran.

Der Präsident begann mit dem Hinweis darauf, daß er ein unvereidigter Zeuge sei. Er könne also aussagen oder schweigen, doch müsse er in allem, was er aussage, natürlich gewissenhaft bei der Wahrheit bleiben, und so weiter und so fort. Iwan Fjodorowitsch hörte zu und sah ihn mit trübem Blick an. Auf einmal verzog sich sein Gesicht langsam zu einem Lächeln, und kaum hatte der Präsident aufgehört zu reden, als er plötzlich loslachte.

»Nun, und was noch?« fragte er laut.

Alles im Saal wurde still, man schien etwas zu ahnen. Der Präsident wurde unruhig.

»Sie … Sie sind vielleicht noch nicht ganz gesund?« sagte er und suchte mit den Augen nach dem Gerichtsinspektor.

»Beunruhigen Sie sich nicht, Exzellenz. Ich bin hinreichend gesund und kann Ihnen etwas Interessantes erzählen«, antwortete Iwan Fjodorowitsch auf einmal ganz ruhig und respektvoll.

»Haben Sie uns irgendeine besondere Mitteilung zu machen?« fuhr der Präsident, noch immer mißtrauisch, fort.

Iwan ließ den Kopf sinken, zögerte einige Sekunden und antwortete dann, indem er den Kopf wieder hob, stockend und stotternd: »Nein, das nicht … Ich habe nichts Besonderes.«

Man legte ihm Fragen vor. Er antwortete offensichtlich ungern, absichtlich kurz, mit einem gewissen Widerwillen, der mehr und mehr wuchs, obwohl seine Antworten doch vernünftig klangen. Auf viele Fragen erwiderte er, er wisse nichts davon. Von den Abrechnungen des Vaters mit Dmitri Fjodorowitsch wußte er nichts. »Ich habe mich darum nicht gekümmert«, sagte er. Drohungen, den Vater totzuschlagen, hatte er von dem Angeklagten gehört. Von dem Geld in dem Kuvert hatte er durch Smerdjakow erfahren …

»Immer ein und dasselbe«, unterbrach er sich plötzlich mit müde aussehender Miene. »Ich kann dem Gericht nichts Besonderes mitteilen.«

»Ich sehe, daß Sie sich nicht wohl fühlen, und verstehe ihre Gefühle …«, sagte der Präsident und wandte sich dann mit der Aufforderung an den Staatsanwalt und den Verteidiger, dem Zeugen Fragen vorzulegen, wenn sie es für nötig hielten. Plötzlich bat Iwan Fjodorowitsch mit ganz erschöpfter Stimme: »Entlassen Sie mich, Exzellenz. Ich fühle mich sehr unwohl.«

Nach diesen Worten drehte er sich um, ohne eine Erlaubnis abzuwarten, und schickte sich an, den Saal zu verlassen. Doch als er vier Schritte gegangen war, blieb er stehen, als hätte er sich plötzlich etwas überlegt, lächelte leise und kehrte wieder auf seinen Platz zurück.

»Exzellenz, ich bin wie das bewußte Bauernmädchen … Sie kennen wohl die Geschichte … Man hält ihr das Brautkleid hin, damit sie es anzieht und zur Trauung fährt, sie aber sagt: ›Wenn ich will, ziehe ich es nicht an.‹ Das ist wohl ein besonderer Zug unseres Volkscharakters …«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Präsident streng.

»Sehen Sie«, sagte Iwan Fjodorowitsch und zog ein Päckchen Banknoten hervor. »Hier ist das Geld … Dasselbe Geld, das in jenem Kuvert da steckte …« Er deutete mit dem Kopf nach dem Tisch mit den Beweisstücken. »Das Geld, dessentwegen mein Vater ermordet worden ist. Wohin soll ich es legen? Herr Gerichtsinspektor, übergeben Sie es!«

Der Gerichtsinspektor nahm das Päckchen in Empfang und übergab es dem Präsidenten.

»Auf welche Weise ist dieses Geld in Ihre Hände gelangt – wenn es wirklich dasselbe Geld ist?« fragte der Präsident erstaunt.

»Ich habe es von Smerdjakow erhalten, von dem Mörder, gestern … Ich war bei ihm, bevor er sich erhängte. Er ist es gewesen, der meinen Vater ermordet hat, nicht mein Bruder. Er hat ihn ermordet, und ich habe ihn zu dem Mord angestiftet … Wer wünscht nicht den Tod seines Vaters? …«

»Sind Sie bei Verstand oder nicht?« entfuhr es dem Präsidenten unwillkürlich.

»Das ist es ja eben, daß ich bei Verstand bin … und zwar bei hundsgemeinem Verstand, genauso einem, wie Sie ihn haben und alle diese Menschen mit den ekligen Fratzen!« Bei den letzten Worten wandte er sich auf einmal ans Publikum. »Da haben sie nun ihren Vater getötet, stellen sich aber, als ob sie darüber entsetzt wären«, rief er mit zorniger Verachtung. »Sie spielen voreinander Komödie. Die Lügner! Alle wünschen den Tod ihres Vaters. Ein Reptil frißt das andere auf … Wenn es keinen Vatermord gäbe, würden sie alle in Zorn geraten und ärgerlich auseinandergehen … Ist das ein Schauspiel! ›Brot und Spiele!‹ Übrigens bin ich ja auch ein netter Kerl! Wenn Sie hier Wasser haben, geben Sie mir um Christi willen etwas zu trinken!« Er faßte sich an den Kopf.

Der Gerichtsinspektor trat sofort zu ihm. Aljoscha sprang plötzlich auf und rief: »Er ist krank, glauben Sie ihm nicht! Er hat Nervenfieber!« Katerina Iwanowna hatte sich hastig von ihrem Stuhl erhoben und blickte Iwan Fjodorowitsch starr vor Schreck an. Auch Mitja war aufgestanden, sah seinen Bruder mit einem verzerrten Lächeln an und hörte gespannt zu, was er sagte.

»Beruhigen Sie sich. Ich bin nicht verrückt, ich bin nur ein Mörder!« begann Iwan von neuem. »Von einem Mörder kann man keine kunstvolle Ausdrucksweise verlangen …«, fügte er hinzu und lächelte mit schiefem Mund.

Der Staatsanwalt beugte sich sichtlich erregt zu dem Präsidenten hinüber. Die Mitglieder des Gerichtes flüsterten geschäftig untereinander. Fetjukowitsch hatte die Ohren gespitzt und horchte auf jedes Wort des Zeugen. Im Saal herrschte erwartungsvolle Totenstille. Der Präsident schien seine Fassung auf einmal wiedergewonnen zu haben.

»Zeuge, Ihre Worte sind unverständlich und in dieser Form nicht statthaft. Beruhigen Sie sich, wenn Sie es können, und erzählen Sie, sofern Sie wirklich etwas mitzuteilen haben. Wodurch können Sie dieses Geständnis glaubhaft machen … Wenn Sie nicht überhaupt im Fieber reden?«

»Das ist es ja eben, daß ich keine Zeugen habe. Der Hund Smerdjakow wird Ihnen aus dem Jenseits kaum eine Aussage schicken – in einem Kuvert. Sie wollen immer Kuverts haben, aber eins reicht ja wohl … Ich habe keine Zeugen … Außer … Höchstens einen«, fügte er nachdenklich lächelnd hinzu.

»Wer ist dieser Zeuge?«

»Er hat einen Schwanz, Exzellenz. Sein Äußeres ist nicht sehr salonfähig! Le diable n’existe point! Beachten Sie ihn nicht weiter, er ist ein jämmerlicher, unbedeutender Teufel«, fügte er gewissermaßen vertraulich hinzu und hörte auf zu lachen. »Er ist sicher hier irgendwie anwesend, vielleicht da unter dem Tisch mit den Beweisstücken, wo anders sollte er denn auch sitzen? Sehen Sie, ich habe zu ihm gesagt: ›Ich will nicht schweigen!‹ Aber er redet von der geologischen Umwälzung … Dummheiten! Na, dann lassen Sie den Unmenschen frei … Er hat eine Hymne angestimmt, das hat er deswegen getan, weil ihm leicht ums Herz ist! Es ist ganz egal, daß die betrunkene Kanaille grölt: ›Ach, mein Wanka ging nach Piter …‹ Ich würde für zwei Sekunden Freude eine Quadrillion Quadrillionen hingeben … Sie kennen mich nicht! Oh, wie dumm das alles bei Ihnen ist! Na, nehmen Sie mich doch fest an seiner Stelle! Ich muß doch zu irgendeinem Zweck hier hergekommen sein … Warum ist bloß alles, was es gibt, so dumm?«

Er sah sich wieder langsam und offenbar nachdenklich im Saal um. Alles war in Aufregung geraten. Aljoscha wollte zu ihm stürzen, doch der Gerichtsinspektor hatte Iwan Fjodorowitsch schon am Arm gefaßt.

»Was soll denn das wieder bedeuten?« schrie dieser, packte ihn plötzlich bei den Schultern und schlug ihn wütend zu Boden.

Schon eilte die Wache herbei und ergriff ihn; er stieß ein wütendes Gebrüll aus. Und die ganze Zeit, während er hinausgetragen wurde, brüllte und schrie er unzusammenhängende Worte.

Ein wildes Durcheinander trat ein. Ich erinnere mich nicht an alles der Reihe nach; ich war selbst aufgeregt und nicht imstande, alle Vorgänge zu verfolgen. Ich weiß nur, daß der Gerichtsinspektor später, als sich schon alles beruhigt hatte und alle wußten, worum es sich handelte, einen Verweis erhielt, obgleich er seinem Vorgesetzten mit triftiger Begründung seine Schuldlosigkeit darlegte: Der Zeuge sei die ganze Zeit gesund gewesen, der Arzt habe zwar seinen leichten Schwindelanfall vor einer Stunde gesehen, doch habe er bis zum Eintritt in den Saal ganz vernünftig gesprochen, so daß nichts Ungehöriges vorherzusehen war – im Gegenteil, er selbst habe unter allen Umständen seine Aussage machen wollen und darauf bestanden. Bevor man sich auch nur einigermaßen beruhigt hatte, spielte sich gleich nach dieser Szene noch eine andere ab: Katerina Iwanowna bekam einen hysterischen Anfall. Sie kreischte und schluchzte laut, wollte aber nicht hinausgehen, sie riß sich von allen los, die sich um sie bemühten, und schrie auf einmal dem Präsidenten zu: »Ich muß noch eine Mitteilung machen, sofort! Hier ist ein Schriftstück, ein Brief … Nehmen Sie ihn, lesen Sie ihn, schnell! Es ist ein Brief von diesem Unmenschen hier!« Sie zeigte auf Mitja. »Er, er hat seinen Vater ermordet, Sie werden es gleich sehen! Er schreibt mir, wie er seinen Vater ermorden will … Der andere ist krank, er hat Nervenfieber! Ich habe schon seit drei Tagen gesehen, daß er Nervenfieber hat!«

So schrie sie ganz außer sich. Der Gerichtsinspektor nahm das Schriftstück, das sie dem Präsidenten hinhielt. Sie sank auf ihren Stuhl, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann krampfhaft und lautlos zu schluchzen; ihr ganzer Körper wurde erschüttert, sie unterdrückte jedoch auch das leiseste Stöhnen aus Furcht, daß man sie aus dem Saal entfernen könnte. Das Schriftstück, das sie übergeben hatte, war Mitjas Brief aus dem Restaurant »Zur Residenz«, den Iwan Fjodorowitsch ein Dokument von mathematischer Beweiskraft genannt hatte. Leider erkannte man ihm diese mathematische Beweiskraft dann auch zu; hätte es diesen Brief nicht gegeben, wäre Mitja vielleicht nicht zugrunde gegangen – oder wenigstens nicht auf so furchtbare Weise! Ich wiederhole, es war schwer, die Einzelheiten zu verfolgen. Auch jetzt in der Erinnerung erscheint mir alles als ein schrecklicher Wirrwarr. Höchstwahrscheinlich gab der Präsident das neue Beweisstück sogleich dem Gerichtshof, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und den Geschworenen zur Kenntnis.

Ich erinnere mich nur, wie man die Zeugin zu befragen begann. Auf die in mildem Ton gestellte Frage des Präsidenten, ob sie sich beruhigt habe, antwortete Katerina Iwanowna eifrig: »Ich bin bereit, ich bin bereit! Ich bin vollständig imstande, Ihnen zu antworten«, fügte sie hinzu; sie fürchtete offenbar noch immer, man würde sie aus irgendwelchen Gründen nicht anhören.

Man ersuchte sie, eingehender zu erläutern, was das für ein Brief sei und unter welchen Umständen sie ihn empfangen habe.

»Ich erhielt ihn einen Tag vor dem Verbrechen. Im Restaurant hat er ihn aber noch einen Tag früher geschrieben, also zwei Tage vor dem Verbrechen – sehen Sie, hier, auf einer Rechnung!« rief sie, mühsam atmend. »Er haßte mich damals, weil er selbst gemein handelte und dieser Kreatur nachlief … Und dann auch noch, weil er mir diese dreitausend Rubel schuldete … Oh, diese dreitausend Rubel waren ihm peinlich, weil sich damit der Gedanke an sein unwürdiges Benehmen verband. Mit diesen dreitausend Rubeln verhielt es sich so – ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich anzuhören! Vier Wochen, bevor er seinen Vater ermordete, kam er eines Morgens zu mir. Ich wußte, daß er Geld brauchte, und wußte auch, wozu – nämlich um diese Kreatur zu gewinnen und sie mit sich zu nehmen. Ich wußte damals schon, daß er mir untreu geworden war und sich von mir losmachen wollte, und ich selbst bot ihm damals dieses Geld an, angeblich, damit er es meiner Schwester nach Moskau schickte – ich sah ihm ins Gesicht und sagte, er könne es abschicken, wann er wolle, meinetwegen erst in einem Monat. Nun, wie hätte er nicht begreifen sollen, daß ich ihm damit geradezu ins Gesicht sagte: ›Du brauchst Geld, um mich mit deiner Kreatur zu betrügen – bitte, da hast du Geld! Ich selbst gebe es dir. Nimm es, wenn du so ehrlos bist, das fertigzubringen!‹ Ich wollte ihn überführen, und was geschah? Er nahm das Geld, nahm es mit und vergeudete es mit dieser Kreatur in einer einzigen Nacht … Aber er hatte gemerkt, daß ich alles durchschaute. Ich versichere Sie, er hatte auch gemerkt, daß ich ihn durch die Überreichung des Geldes nur auf die Probe stellen wollte, ob er so ehrlos sein würde, es von mir anzunehmen oder nicht. Ich hatte ihm in die Augen gesehen und er mir, und er hatte alles begriffen – und er nahm mein Geld trotzdem!«

»Das ist die Wahrheit, Katja!« rief Mitja plötzlich. »Ich sah dir in die Augen, begriff, daß du mich entehrst, und nahm dein Geld dennoch! Verachtet mich Schuft, verachtet mich alle, ich habe es verdient!«

»Angeklagter!« rief der Präsident. »Noch ein Wort, und ich lasse Sie hinausbringen.«

»Dieses Geld quälte ihn«, fuhr Katja in krampfhafter Eile fort, »er wollte es mir zurückgeben, das ist wahr. Aber er brauchte eben auch Geld für diese Kreatur. Und daher hat er seinen Vater ermordet. Das Geld hat er mir aber trotzdem nicht zurückgegeben, sondern ist mit ihr in jenes Dorf gefahren, wo er festgenommen wurde. Da hat er das Geld wieder verjubelt, das er seinem Vater gestohlen hatte. Und zwei Tage bevor er seinen Vater ermordete, schrieb er mir diesen Brief. Er schrieb ihn in der Trunkenheit, das sah ich gleich, er schrieb ihn aus Wut, und er wußte bestimmt, daß ich diesen Brief niemandem zeigen würde, selbst wenn er den Mord beging. Sonst hätte er ihn nicht geschrieben! Er wußte, daß ich nicht den Wunsch hatte, mich an ihm zu rächen und ihn zugrunde zu richten … Lesen Sie den Brief, lesen Sie ihn aufmerksam, bitte, und Sie werden sehen, daß er alles im voraus beschrieben hat: wie er den Vater ermorden wollte und wo dieser das Geld liegen hatte. Sehen Sie bitte, da ist ein Satz: ›Ich werde ihn totschlagen, sobald Iwan abgereist ist.‹ Also hatte er schon im voraus überlegt, wie er den Mord begehen würde«, sagte Katerina Iwanowna schadenfroh und boshaft, um dem Gericht das Verständnis zu erleichtern. Oh, es war klar, daß sie sich bis in alle Einzelheiten in diesen verhängnisvollen Brief hineingelesen und jeden kleinen Zug in ihm studiert hatte. »Wäre er nicht betrunken gewesen, hätte er mir den Brief nicht geschrieben. Sehen Sie nur, da ist alles im voraus geschildert, ganz genau, so wie er den Mord nachher ausgeführt hat, das ganze Programm!«

So rief sie ganz außer sich; offenbar kümmerte es sie jetzt gar nicht mehr, welche Folgen das für sie haben konnte, obgleich sie diese wohl schon vor einem Monat vorhergesehen hatte, denn schon damals hatte sie überlegt, ob sie den Brief vor Gericht vorlesen solle. Ich erinnere mich, daß der Brief sofort vom Sekretär laut verlesen wurde und einen erschütternden Eindruck machte. Man wandte sich an Mitja mit der Frage, ob er diesen Brief anerkenne.

»Ja, er stammt von mit, er stammt von mir!« rief Mitja. »Wäre ich nicht betrunken gewesen, hätte ich ihn nicht geschrieben … Wir haben uns aus vielen Gründen gehaßt, Katja, doch das eine schwöre ich dir: Ich habe dich geliebt, auch wenn ich dich haßte – aber du mich nicht!«

Er fiel auf seinen Platz zurück und rang verzweifelt die Hände. Der Staatsanwalt und der Verteidiger veranstalteten mit Katerina Iwanowna ein Kreuzverhör, besonders in dieser Richtung: »Was hat Sie vorhin veranlaßt, dieses Beweisstück zu verheimlichen und in ganz anderem Sinn auszusagen?«

»Ja, ich habe vorhin gelogen, gegen Ehre und Gewissen, aber ich wollte ihn retten, weil er mich so haßte und so verachtete!« rief Katja wie außer sich. »Oh, er hat mich immer verachtet, wissen Sie, von dem Augenblick an, als ich ihm seinerzeit zum Dank für dieses Geld zu Füßen fiel. Ich habe das eingesehen … Ich fühlte es damals gleich, doch lange Zeit wollte ich mir selbst nicht glauben. Wie oft habe ich in seinen Augen gelesen: ›Du bist doch damals selbst zu mir gekommen!‹ Oh, er begriff ganz und gar nicht, warum ich zu ihm gelaufen war, er sucht hinter allem nur Gemeinheiten! Er mißt alles nach sich selbst, er denkt, alle Menschen sind von derselben Art wie er! Und heiraten wollte er mich nur deshalb, weil ich eine Erbschaft gemacht hatte. Ich habe immer den Verdacht gehabt, daß er es nur deshalb wollte! Oh, dieses Tier! Er war überzeugt, daß ich mein Leben lang vor ihm zittern würde, aus Scham darüber, daß ich damals zu ihm gekommen war. Und er meinte, er könnte mich deswegen für immer verachten und beherrschen – das ist der Grund, weswegen er mich heiraten wollte! So ist das alles! Ich versuchte, ihn durch meine Liebe zu besiegen, durch meine grenzenlose Liebe, sogar seine Untreue wollte ich ertragen, aber er begriff das gar nicht. Und kann er denn überhaupt etwas begreifen? Er ist ja ein Unmensch! Diesen Brief erhielt ich erst am anderen Tag abends, er wurde mir aus dem Restaurant gebracht – und noch am Morgen dieses Tages hatte ich ihm alles verzeihen wollen, alles, sogar seine Untreue!«

Natürlich versuchten der Präsident und der Staatsanwalt sie zu beruhigen. Ich bin überzeugt, daß sie sich vielleicht selber schämten, die maßlose Aufregung der Zeugin auszunutzen und solche Bekenntnisse anzuhören. Ich erinnere mich gehört zu haben, wie sie zu ihr sagten: »Wir verstehen, wie peinlich Ihnen das ist. Glauben Sie, wir sind imstande das nachzufühlen«, und so weiter und so fort. Trotzdem holten sie aus dieser Frau, die in ihrem hysterischen Anfall wie von Sinnen war, noch weitere Aussagen heraus. Mit außerordentlicher Klarheit, die, wenn auch nur für kurze Zeit, in Momenten solcher hochgradigen geistigen Anspannung häufig auftritt, schilderte sie, wie Iwan Fjodorowitsch in diesen zwei Monaten vor lauter Nachdenken, auf welche Weise er seinen Bruder, »diesen Unmenschen und Mörder«, retten könnte, fast den Verstand verloren habe.

»Er quälte sich!« rief sie. »Immer wollte er die Schuld seines Bruders geringer erscheinen lassen; indem er mir gestand, daß auch er seinen Vater nicht geliebt und vielleicht sogar dessen Tod gewünscht habe. Oh, er hat ein empfindsames Gewissen! Er quälte sich mit seinem Gewissen! Er hat mir alles gestanden, alles! Er kam alle Tage zu mir und sprach mit mir wie mit seinem einzigen Freund. Ich habe die Ehre, sein einziger Freund zu sein!« rief sie plötzlich herausfordernd, und ihre Augen blitzten. »Er ist zweimal zu Smerdjakow gegangen. Das eine Mal kam er danach zu mir und sagte: ›Wenn nicht mein Bruder, sondern Smerdjakow den Mord begangen hat, dann bin ich vielleicht auch schuldig, weil Smerdjakow wußte, daß ich meinen Vater nicht liebte, und möglicherweise glaubte, daß ich seinen Tod wünschte.‹ Damals zeigte ich ihm diesen Brief, und er kam vollständig zu der Überzeugung, daß sein Bruder den Mord begangen hatte – und das warf ihn ganz zu Boden. Er konnte nicht ertragen, daß sein Bruder ein Vatermörder war! Schon nach einer Woche sah ich, daß ihn das krank gemacht hatte. In den letzten Tagen redete er irre, wenn er bei mir saß. Ich sah, daß sich eine Geistesstörung herausbildete. Er phantasierte im Gehen; in diesem Zustand haben ihn viele auf der Straße gesehen. Der auswärtige Arzt untersuchte ihn vorgestern auf meine Bitte und sagte mir, er stehe dicht vor dem Ausbruch eines Nervenfiebers – und an allem ist der da schuld, dieser Unmensch! Gestern erfuhr Iwan nun, daß Smerdjakow tot ist, und das hat ihn so erschüttert, daß er den Verstand verloren hat … Und an allem ist dieser Unmensch schuld! Alles ist so gekommen, weil er diesen Unmenschen retten wollte!«

Oh, so reden und solche Geständnisse machen, das kann man wohl nur ein einziges Mal im Leben, etwa in der Todesstunde, wenn man das Schafott besteigt. Für Katja war ein solcher Augenblick gekommen, und sie handelte ihrem Charakter gemäß. Das war dieselbe ungestüme Katja, die damals zu dem jungen Lebemann geeilt war, um ihren Vater zu retten; dieselbe Katja, die sich kurz vorher vor diesem Publikum stolz und keusch geopfert hatte, indem sie von »Mitjas edler Tat« erzählte, um das Schicksal, das ihn erwartete, wenigstens etwas zu mildern. Und jetzt brachte sie sich ebenso zum Opfer, nunmehr für einen anderen – und vielleicht hatte sie erst in diesem Augenblick zum erstenmal mit vollem Bewußtsein empfunden, wie teuer ihr dieser andere Mensch war! In Angst um ihn opferte sie sich auf, da sie plötzlich glaubte, er habe sich durch seine Aussage, er und nicht sein Bruder habe den Mord begangen, zugrunde gerichtet; sie opferte sich auf, um ihn, seine geachtete Stellung, seinen guten Ruf zu retten! Und dennoch ging ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf: Hatte sie auch nicht etwas Unwahres über Mitja gesagt, als sie ihre früheren Beziehungen zu ihm geschildert hatte – das war die Frage. Nein, nein, sie hatte ihn nicht absichtlich verleumdet, wenn sie geäußert hatte, Mitja habe sie wegen ihrer tiefen Verbeugung verachtet! Sie hielt das selbst für wahr; sie war vielleicht schon seit jeher fest davon überzeugt, daß Mitja, dieser offenherzige Mensch, der sie damals noch vergötterte, sich über sie lustig machte und sie verachtete. Und nur aus verletztem Stolz hatte sie sich damals mit ihrer krampfhaft überspannten Liebe an ihn gehängt, und diese Liebe hatte mehr Ähnlichkeit mit Rachsucht gehabt als mit Liebe. Oh, vielleicht hätte sich diese überspannte Liebe in wahre Liebe verwandelt, vielleicht wünschte Katja weiter nichts als dies; doch Mitja kränkte sie durch seine Untreue in tiefster Seele, und ihre Seele verzieh ihm das nicht. Der Augenblick der Rache kam ihr ganz unerwartet, und alles, was sich so lange und schmerzhaft in der Brust der gekränkten Frau angesammelt hatte, brach sich nun mit einemmal und wiederum unerwartet nach außen Bahn. Sie beging einen Verrat an Mitja, zugleich aber auch an sich selbst! Und kaum hatte sie sich ausgesprochen, löste sich die krampfhafte Spannung, und die Scham überwältigte sie. Es folgte wieder ein hysterischer Anfall; sie fiel schluchzend und kreischend hin. Man trug sie hinaus. In dem Moment, als sie hinausgetragen wurde, stürzte Gruschenka von ihrem Platz so schnell zu Mitja, daß man sie nicht mehr zurückhalten konnte.

»Mitja!« schrie sie. »Sie hat dich zugrunde gerichtet, deine Schlange! Jetzt hat sie Ihnen ihre wahre Natur gezeigt!« rief sie zornbebend dem Gerichtshof zu.

Auf einen Wink des Präsidenten wurde sie ergriffen; man versuchte, sie aus dem Saal zu bringen. Aber sie sträubte sich, schlug um sich und wollte sich losreißen, um zu Mitja zurückzukehren.

Mitja schrie auf und wollte ebenfalls zu ihr stürzen. Er wurde überwältigt …

Ja, ich glaube, unsere schaulustigen Damen konnten befriedigt sein: Es war ein reichhaltiges Schauspiel. Dann erschien, wenn ich mich recht erinnere, der Arzt aus Moskau. Der Präsident hatte wohl schon vorher den Gerichtsinspektor beauftragt, dafür zu sorgen, daß Iwan Fjodorowitsch ärztliche Hilfe zuteil wurde. Der Arzt berichtete dem Gerichtshof, daß der Kranke einen höchst gefährlichen Anfall von Nervenfieber erlitten habe und unverzüglich fortgeschafft werden müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers bestätigte er, daß der Patient vor zwei Tagen selbst zu ihm gekommen war und er ihm schon damals den baldigen Ausbruch eines solchen Fiebers vorhergesagt habe; allerdings habe sich der Patient nicht in ärztliche Behandlung geben wollen. »Er war keinesfalls in gesunder Geistesverfassung. Er gestand mir, daß er in wachem Zustand Visionen habe, auf der Straße allerlei toten Personen begegne und daß ihn allabendlich der Satan besuche!« schloß der berühmte Arzt und entfernte sich. Der Brief, den Katerina Iwanowna vorgelegt hatte, wurde den Beweisstücken hinzugefügt. Nach einer Beratung beschloß der Gerichtshof, in der Verhandlung fortzufahren, und die beiden unerwarteten Aussagen, das heißt die Angaben Katerina Iwanownas und Iwan Fjodorowitschs, zu Protokoll zu nehmen.

Ich werde die weitere Gerichtsverhandlung nun nicht mehr schildern. Waren doch die Aussagen der übrigen Zeugen nur eine Wiederholung und Bestätigung der früheren, obgleich jede von ihnen ihre charakteristischen Besonderheiten hatte. In der Rede des Staatsanwalts, zu der ich jetzt übergehe, wird ohnehin nochmals alles unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengefaßt. Alle waren in Erregung, alle waren durch die letzten Ereignisse wie elektrisiert und warteten mit brennender Ungeduld auf eine baldige Lösung, das heißt auf die Reden der Parteien und das Urteil. Fetjukowitsch war über Katerina Iwanownas Aussagen offenbar sehr betroffen, während der Staatsanwalt triumphierte. Als die gerichtliche Untersuchung beendet war, wurde die Sitzung unterbrochen; die Pause dauerte fast eine Stunde. Endlich verkündete der Präsident den Beginn der PIädoyers. Ich glaube, es war genau acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt Ippolit Kirillowitsch seine Anklagerede begann.

6. Die Rede des Staatsanwalts: Personencharakteristik

Ippolit Kirillowitsch begann seine Anklagerede in mißlichem physischem Zustand: Seine Glieder wurden von einem nervösen Zittern geschüttelt, ein kalter, krankhafter Schweiß bedeckte seine Stirn und seine Schläfen, und er fühlte, wie ihm Frostschauer und Hitze abwechselnd über den Körper liefen. Das hat er selber später erzählt. Er hielt diese Rede für sein chef d’Œuvre, für das chef d’Œuvre seines ganzen Lebens, und er hätte sie auch für sein Schwanenlied halten können. Denn wirklich starb er neun Monate danach an schwerer Schwindsucht, so daß er tatsächlich das Recht gehabt hätte, sich mit einem Schwan zu vergleichen, der sein letztes Lied singt – wenn er sein Ende vorausgeahnt hätte. In diese Rede legte er sein ganzes Herz und alles, was er an Verstand besaß, und er bewies ganz unerwartet, daß in ihm auch soziales Empfinden und Interesse für die »verdammten« modernen Fragen steckte, soweit unser armer Ippolit Kirillowitsch sie zu fassen vermochte. Vor allem wirkte seine Rede durch ihre Aufrichtigkeit. Er glaubte aufrichtig an die Schuld des Angeklagten und klagte ihn nicht im Auftrag, nicht allein in Erfüllung seiner Amtspflicht an. Und wenn er zur »Sühne des Verbrechens« aufrief, so glühte er wirklich von dem heißen Verlangen, »die Gesellschaft zu retten«. Sogar unser Damenpublikum, das dem guten Ippolit Kirillowitsch eigentlich feindselig gesinnt war, gab zu, von der Rede ganz außerordentlich beeindruckt gewesen zu sein. Er begann mit unsicherer, häufig stockender Stimme, dann gewann seine Stimme jedoch sehr bald Kraft und tönte durch den ganzen Saal, und so blieb es bis zum Ende der Rede. Aber als er sie dann beendet hatte, wäre er fast in Ohnmacht gefallen.

»Meine Herren Geschworenen«, begann der Ankläger, »von dem hier anliegenden Prozeß ist ein Donnergrollen durch ganz Rußland ausgegangen. Aber man möchte fragen: Was haben wir für Anlaß zu staunen, was haben wir für Anlaß, so besonders entsetzt zu sein? Gerade wir, wir besonders? Sind wir doch schon so gewöhnt an alles! Gerade das ist das Entsetzliche, daß solche schrecklichen Taten beinahe aufgehört haben, für uns entsetzlich zu sein! Das ist es, worüber wir entsetzt sein müssen: Über unsere Gewöhnung, und nicht über eine einzelne Missetat des einen oder anderen Individuums. Wo aber liegen die Ursachen unserer Gleichgültigkeit, unseres lauen Verhaltens gegenüber solchen Taten, gegenüber solchen Zeichen der Zeit, die uns eine nicht beneidenswerte Zukunft prophezeien? In unserem Zynismus, in der frühzeitigen Erschöpfung des Verstandes und der Phantasie unserer noch jungen, aber vorzeitig hinfällig gewordenen Gesellschaft? In der Erschütterung der Fundamente unserer sittlichen Grundsätze oder gar darin, daß wir solche sittlichen Grundsätze vielleicht überhaupt nicht haben? Ich will diese Fragen nicht beantworten; aber trotzdem sind sie qualvoll, und jeder Bürger muß sie sich mit Schmerz stellen, ja, er ist dazu sogar verpflichtet! Unsere in den Anfängen steckende, noch schüchterne Presse hat dennoch der Gesellschaft schon anerkennenswerte Dienste geleistet; denn ohne sie hätten wir niemals einigermaßen vollständige Kenntnis von jenen entsetzlichen Taten eines zügellosen Willens und einer moralischen Verkommenheit erlangt, die sie ununterbrochen in ihren Spalten allen mitteilt, nicht nur denjenigen, die die Säle des neuen öffentlichen Gerichtswesens besuchen, das uns von der jetzigen kaiserlichen Regierung geschenkt worden ist. Und was lesen wir fast täglich? Oh, fortwährend lesen wir von solchen Dingen, vor denen sogar der uns beschäftigende Fall verblaßt und beinahe als etwas Gewöhnliches erscheint. Aber das allerwichtigste ist, daß eine Menge unserer russischen Kriminalfälle eben von einem allgemeinen Zustand zeugt, von einem gemeinsamen Übel, das bei uns heimisch geworden und wegen seiner weiten Verbreitung nur schwer zu bekämpfen ist. Da ist ein junger, glänzender Offizier, der den höchsten Gesellschaftskreisen angehört und sein Leben und seine Laufbahn eben erst beginnt: Auf gemeine Weise ermordet er heimlich ohne alle Gewissensbisse einen kleinen Beamten, der in gewisser Hinsicht sein Wohltäter gewesen ist, sowie dessen Dienstmagd, um seinen Schuldschein und zugleich auch das übrige bißchen Geld des Beamten zu stehlen! Das werde ich für meine Vergnügungen als Lebemann und für meine künftige Karriere gut gebrauchen können, sagt er sich. Nachdem er die beiden ermordet und den Leichen Kissen unter die Köpfe gelegt hat, geht er davon … Da bringt ein junger Held, der mit Orden für bewiesene Tapferkeit dekoriert worden ist, in Räubermanier auf der Landstraße die Mutter seines Vorgesetzten und Wohltäters um und versichert zuvor, als er seine Kameraden zur Teilnahme an dem Verbrechen auffordert, sie liebe ihn wie ihren Sohn und befolge daher alle seine Ratschläge und werde keine Vorsichtsmaßregeln treffen. Mag man ihn einen Unmenschen nennen, aber ich wage jetzt, in unserer Zeit, nicht mehr zu sagen, daß er der einzige Unmensch ist. Ein anderer begeht zwar keinen Mord, denkt und fühlt aber genauso wie jener und ist innerlich genauso ehrlos wie er. Im stillen, wenn er mit seinem Gewissen allein ist, fragt er sich vielleicht: Was ist denn eigentlich Ehre? Ist die Scheu vor Blutvergießen nicht eine veraltete Anschauung? Vielleicht wird man mir widersprechen und sagen, ich sei ein kränklicher, hysterischer Mensch, ich brächte ungeheuerliche Verleumdungen vor, ich phantasierte und übertriebe. Wenn dem so wäre, o Gott, ich wäre der erste, der sich darüber freute! Oh, glauben Sie mir nicht, halten Sie mich für krank, aber vergessen Sie trotzdem nicht meine Worte! Wenn auch nur ein Zehntel, nur ein Zwanzigstel von meinen Worten Wahrheit ist, so ist ja auch das schon entsetzlich! Sehen Sie nur, meine Herren, wie sich bei uns die jungen Leute erschießen! Oh, ohne im geringsten mit Hamlet zu fragen: ›Was wird dort sein?‹ Ohne eine Spur einer solchen Frage, als wäre dieses ganze Kapitel über unsere Seele und über alles, was uns jenseits des Grabes erwartet, längst in ihrem Kopf gestrichen, begraben und mit Sand zugeschüttet … Und werfen Sie schließlich einen Blick auf unsere Unsittlichkeit, auf unsere Wüstlinge! Fjodor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist im Vergleich mit manchen von ihnen beinahe ein unschuldiges Kind; aber wir haben ihn ja alle gekannt, er lebte unter uns … Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich vielleicht einmal die hervorragendsten Geister hier und in Westeuropa beschäftigen, denn der Gegenstand verdient das. Doch dieses Studium wird erst später erfolgen können, wenn Muße dazu vorhanden und uns die ganze tragische Absurdität des gegenwärtigen Augenblicks ferner gerückt ist, so daß man sie verständnisvoller und leidenschaftsloser wird betrachten können, als zum Beispiel Leute wie ich das vermögen. Jetzt aber entsetzen wir uns oder tun so, als ob wir uns entsetzen, während wir in Wirklichkeit als Liebhaber starker, exzentrischer Empfindungen, die uns aus unserem zynisch-trägen Müßiggang aufrütteln, das sich uns darbietende Schauspiel mit Genuß auskosten. Oder aber wir wehren wie kleine Kinder die furchtbaren Gespenster mit den Händen von uns ab und stecken den Kopf unter das Kissen, bis die schreckliche Erscheinung vorübergegangen ist, um sie dann sogleich in Heiterkeit und Spielen zu vergessen. Doch irgendwann müssen auch wir unser Leben mit nüchterner Überlegung beginnen, müssen auch wir einen Blick auf uns selbst als auf Mitglieder der Gesellschaft werfen, müssen auch wir wenigstens etwas von unserem gesellschaftlichen Leben begreifen oder wenigstens zu begreifen beginnen. Unser großer Schriftsteller Gogol personifiziert im Finale seines größten Werkes ganz Rußland in dem Bild einer mutigen russischen Troika, die einem unbekannten Ziel zujagt, und ruft aus: ›O du Troika, du beflügelte Troika, wer hat dich erfunden?‹ Und in stolzem Entzücken fügt er hinzu, daß vor dem dahinsausenden Dreigespann alle Völker respektvoll zur Seite treten. Nun gut, meine Herren, mögen sie zur Seite treten, respektvoll oder nicht; aber nach meiner bescheidenen Ansicht hat der geniale Autor diesen Schluß entweder in einem Anfall von kindlich harmlosem Optimismus geschrieben oder einfach aus Furcht vor der damaligen Zensur. Denn wenn man an seinen Wagen nur seine eigenen Helden spannte, Leute wie Sobakewitsch, Nosdrjow und Tschitschikow, so könnte man als Kutscher daraufsetzen, wen man wollte, man würde mit solchen Pferden doch nichts Vernünftiges leisten! Und das waren noch Pferde der früheren Art, die sich von den jetzigen sehr unterschieden – bei uns steht es noch weit schlimmer …«

Hier wurde Ippolit Kirillowitschs Rede von Beifallklatschen unterbrochen. Das fortschrittliche Bild von dem russischen Dreigespann hatte gefallen. Allerdings erscholl nur ein zwei- oder dreimaliges Zusammenschlagen der Hände, so daß es der Präsident nicht einmal für nötig hielt, sich mit der Drohung, den Saal räumen zu lassen, an das Publikum zu wenden, und nur streng zu den Klatschenden hinblickte. Ippolit Kirillowitsch fühlte sich dadurch jedoch ermutigt; ihm war bisher noch niemals applaudiert worden! Da hatte man ihn so viele Jahre nicht anhören wollen, und plötzlich hatte er die Möglichkeit, zu ganz Rußland zu sprechen!

»In der Tat«, fuhr er fort, »wie ist diese Familie Karamasow beschaffen, die auf einmal so eine traurige Berühmtheit in ganz Rußland erlangt hat? Vielleicht übertreibe ich stark, aber mir scheint, in dem Bild dieser kleinen Familie sind gewisse allgemeine Grundelemente unserer modernen intelligenten Gesellschaft feststellbar – oh, nicht alle Elemente, und auch nur in mikroskopischer Gestalt wie die Sonne in einem Wassertröpfchen; trotzdem spiegelt sich da etwas wider, und es kommt da etwas zum Ausdruck. Betrachten Sie diesen unglücklichen, zügellosen, liederlichen alten Mann, diesen ›Familienvater,‹ der sein Dasein in so trauriger Weise beendet hat. Von Geburt Adliger, beginnt er seine Laufbahn als ein armseliger Schmarotzer. Durch eine zufällige, unverhoffte Heirat bekommt er als Mitgift seiner Frau ein kleines Kapital in die Hände. Er zeigt sich zunächst als Betrüger im kleinen und als schmeichlerischer Possenreißer mit einem Keim geistiger, übrigens nicht gerade schwacher Fähigkeiten; vor allem betätigt er sich als Wucherer. Mit den Jahren, das heißt mit dem Anwachsen seines Kapitals, wird er mutiger. Seine Selbsterniedrigung und Gunstbuhlerei verschwinden, und übrig bleibt der spöttische, boshafte Zyniker und Wüstling. Die geistige Seite ist vollständig getilgt; dagegen erfüllt ihn eine gewaltige Gier, das Leben zu genießen. Es läuft darauf hinaus, daß nur die sinnlichen Genüsse einen Wert für ihn haben: Das lehrt er auch seine Kinder. Von irgendwelchen geistigen Vaterpflichten weiß er nichts. Er lacht über sie, läßt seine kleinen Kinder auf dem Hof hinter dem Haus aufwachsen und ist froh, daß jemand sie ihm abnimmt. Er vergißt sie sogar. Die ganze Moral des alten Mannes besteht in dem Satz: Après moi le déluge! Er ist das reine Gegenteil dessen, was man unter einem Staatsbürger versteht, und sondert sich von der Gesellschaft völlig, ja sogar in feindlicher Weise ab: Mag die ganze Welt abbrennen, wenn es mir nur gut geht! Und es geht ihm gut, er ist vollkommen zufrieden, er möchte in dieser Art noch zwanzig, dreißig Jahre weiterleben. Er übervorteilt seinen leiblichen Sohn, und zwar um dessen eigenes Geld, die Hinterlassenschaft seiner Mutter, indem er ihm dieses Geld nicht herausgeben will. Er sucht ihm, seinem Sohn, die Geliebte abspenstig zu machen. O nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten nicht ganz dem hochbegabten Verteidiger überlassen, der aus Petersburg hergekommen ist. Ich werde auch meinerseits die Wahrheit sagen; auch ich habe Verständnis dafür, welche Entrüstung über den Vater sich in dem Herzen des Sohnes angesammelt haben mußte. Doch genug von diesem unglücklichen alten Mann: Er hat seinen Lohn empfangen! Erinnern wir uns aber daran, daß das ein moderner Vater war. Tue ich der Gesellschaft Unrecht, wenn ich sage, daß er einer von vielen modernen Vätern war? Ach, die meisten Väter reden heutzutage nur nicht so zynisch wie dieser, weil sie besser erzogen und besser gebildet sind, während sie im Grunde fast dieselbe Philosophie haben wie er. Mag man mich einen Pessimisten nennen, meinetwegen! Wir sind schon übereingekommen, daß Sie mir verzeihen werden. Treffen wir im voraus folgende Verabredung: Sie brauchen mir nicht zu glauben! Ich werde reden, und Sie brauchen mir nicht zu glauben. Aber gestatten Sie dennoch, daß ich mich ausspreche; behalten Sie dennoch einiges von meinen Worten im Gedächtnis … Da haben wir nun die Söhne dieses alten Mannes, dieses Familienvaters: Einer sitzt vor uns auf der Anklagebank; von ihm werde ich in meiner ganzen Rede zu sprechen haben; von den anderen will ich nur im Vorübergehen ein Wort sagen. Von diesen anderen ist der ältere ein moderner junger Mann mit glänzender Bildung und starkem Verstand. Aber er glaubt an nichts mehr: Vieles, sehr vieles im Leben hat er negiert und von sich gewiesen, fast wie sein Vater. Wir alle haben ihn reden hören, denn er hatte in unserer Gesellschaft freundliche Aufnahme gefunden. Er machte aus seinen Anschauungen kein Hehl, ganz im Gegenteil – und das gibt mir den Mut jetzt über ihn etwas offenherziger zu reden, natürlich nicht über ihn als Privatperson, sondern über ihn als Mitglied der Familie Karamasow. Hier, am äußersten Rand der Stadt, starb gestern durch Selbstmord ein kränklicher Idiot, der zu dem vorliegenden Prozeß in naher Beziehung stand: der frühere Diener Fjodor Pawlowitschs und vielleicht sein unehelicher Sohn, Smerdjakow. Er hat mir bei der Voruntersuchung unter Tränen erzählt, wie ihn dieser junge Karamasow, Iwan Fjodorowitsch, durch die Negierung aller moralischen Schranken entsetzt hatte. ›Alles auf der Welt,‹ sagte Smerdjakow, ›ist nach seiner Meinung erlaubt, und in Zukunft darf nichts mehr verboten sein, das hat er mich immer gelehrt.‹ Wie es scheint, hat der Idiot über dieser These, die ihm vorgetragen wurde, völlig den Verstand verloren, obwohl natürlich auch seine Epilepsie und die ganze furchtbare Katastrophe, die über dieses Haus hereingebrochen ist, zu seiner Geisteszerrüttung beigetragen haben dürften. Doch in den Reden dieses Idioten kam nebenbei eine sehr interessante Bemerkung vor, die sogar einem klügeren Beobachter als ihm Ehre gemacht hätte – und das ist eigentlich der Grund, warum ich von ihm spreche. ›Wenn einer der Söhne‹, sagte er zu mir, ›seinem Vater Fjodor Pawlowitsch im Charakter besonders ähnlich ist, so ist er es, Iwan Fjodorowitsch.‹ Mit dieser Bemerkung breche ich die begonnene Charakteristik ab, da ich es nicht für schicklich halte, sie weiter fortzusetzen. Oh, ich will keine weiteren Schlüsse ziehen und will nicht wie ein krächzender Unglücksrabe dem jungen Mann nur Verderben prophezeien. Wir haben ja heute hier in diesem Saal gesehen, daß die natürliche Kraft der Wahrheit noch in seinem jungen Herzen lebt, daß das Gefühl der Familienzusammengehörigkeit bei ihm nicht erstickt ist durch Unglauben und sittlichen Zynismus, wozu er mehr durch Vererbung als durch die Qual des Gedankens gelangt ist … Dann der andere Sohn. Oh, das ist noch ein Jüngling, gottesfürchtig und bescheiden: im Gegensatz zu der finsteren, zersetzenden Weltanschauung seines Bruders sucht er sich sozusagen an die ›Volkselemente‹ zu halten oder an das, was man bei uns in manchen theoretischen Winkeln unserer denkenden Intelligenz mit diesem rätselhaften Wörtchen bezeichnet. Sehen Sie, er hatte sich einem Kloster angeschlossen und wäre beinahe selbst Mönch geworden. Bei ihm ist, wie mir scheint, gewissermaßen unbewußt und schon früh jene schüchterne Verzweiflung zum Ausdruck gekommen, an der jetzt so viele in unserer armen Gesellschaft leiden. Da sie den Zynismus und die Lasterhaftigkeit der Gesellschaft fürchten und irrtümlich alles Übel auf die westeuropäische Aufklärung zurückführen, so werfen sie sich, wie sie sich ausdrücken, ›auf den heimischen Boden‹, in die Mutterarme der heimischen Erde wie Kinder, die sich vor Gespenstern fürchten; sie möchten an der vertrockneten Brust der geschwächten Mutter nur ruhig einschlafen und sogar ihr ganzes Leben verschlafen, wenn sie nur nicht diese Schrecknisse zu sehen brauchen. Persönlich wünsche ich dem braven und begabten Jüngling alles Gute. Ich wünsche ihm, daß sich seine jugendliche Schwärmerei und sein Streben nach den ›Volkselementen‹ später nicht wie so oft auf der moralischen Seite in finsteren Mystizismus und auf der sozialen Seite in stumpfen Chauvinismus verwandeln mögen – zwei Richtungen, die der Nation vielleicht noch größeres Unheil androhen als selbst die frühe Verderbnis durch die falsch verstandene, ohne eigene Anstrengung erlangte westeuropäische Aufklärung, an der sein älterer Bruder leidet.«

Wegen der Bemerkung über den Chauvinismus und den Mystizismus klatschten wieder zwei oder drei Zuhörer Beifall. Ippolit Kirillowitsch hatte sich allerdings hinreißen lassen: All das hatte nur wenig mit der anliegenden Prozeßsache zu tun, ganz zu schweigen davon, daß es ziemlich unklar herauskam; aber gar zu sehr verlangte den schwindsüchtigen, verbitterten Menschen, sich wenigstens einmal in seinem Leben auszusprechen! Bei uns hieß es später, er habe sich bei der Schilderung von Iwan Fjodorowitschs Charakter sogar von einem unfeinen Gefühl leiten lassen, denn dieser habe ihn ein- oder zweimal öffentlich bei Debatten auf den Sand gesetzt, und der nachtragende Ippolit Kirillowitsch habe sich jetzt rächen wollen. Doch ich weiß nicht, ob man so schlußfolgern durfte. Jedenfalls war das alles nur die Einleitung; die Rede ging im folgenden mehr geradeaus und blieb näher bei der Sache.

»Aber nun ist da der dritte Sohn des modernen Familienvaters«, fuhr Ippolit Kirillowitsch fort. »Er sitzt vor uns auf der Anklagebank. Vor uns liegen auch seine Taten, sein Leben und seine Werke; der Augenblick ist gekommen, wo sich alles enthüllt hat und zutage gekommen ist. Im Gegensatz zu der ›europäischen Bildung‹ und den ›Volkselementen‹ seiner Brüder repräsentiert er in seiner Person gewissermaßen das ungebrochene Rußland – oh, nicht das ganze, nicht das ganze! Gott behüte uns davor, daß es das ganze wäre! Und doch ist da unser Rußland, unser Mütterchen, man riecht und schmeckt es geradezu. Oh, wir sind ungebrochen, wir sind böse und gut in wunderlichster Mischung; wir lieben die Aufklärung und Schiller, und gleichzeitig randalieren wir in den Wirtshäusern und reißen unseren betrunkenen Zechgenossen die Bärte aus. Oh, wir sind auch manchmal gut und edel, aber nur dann, wenn es uns selbst gut geht. Wir begeistern uns sogar für die edelsten Ideale, aber nur unter der Bedingung, daß sie sich von selbst erreichen lassen, uns vom Himmel auf den Tisch fallen, und vor allen Dingen umsonst, umsonst, so daß wir ja nichts für sie zu bezahlen brauchen. Das Bezahlen lieben wir ganz und gar nicht! Dagegen lieben wir das Bekommen, und zwar auf allen Gebieten. Oh, man gebe uns alle denkbaren Güter des Lebens – es müssen unbedingt alle denkbaren sein, mit weniger geben wir uns nicht zufrieden –, und vor allem bereite man unserer Individualität keinerlei Hindernisse: Dann werden auch wir beweisen, daß wir gut und edel sein können. Wir sind nicht habgierig, nein; aber man gebe uns dennoch Geld, mehr, immer mehr, soviel wie möglich, und man wird sehen, wie großmütig, mit welcher Geringschätzung des verächtlichen Metalls wir es in einer einzigen Nacht bei einem ausschweifenden Gelage ausgeben. Gibt man uns jedoch kein Geld, dann werden wir zeigen, daß wir uns welches zu verschaffen verstehen, wenn uns ein großes Verlangen danach ankommt. Aber davon später, wir wollen die richtige Reihenfolge einhalten. Ganz zuerst sehen wir einen armen, verlassenen Knaben vor uns, ›auf dem Hof hinter dem Haus ohne Schuhchen‹, wie sich vorhin unser verehrter Mitbürger ausdrückte, der leider ausländischer Herkunft ist! Ich wiederhole noch einmal: Ich trete niemandem die Verteidigung des Angeklagten ab! Ich bin Ankläger, aber ich bin auch Verteidiger. Ja, auch wir sind Menschen, die ein Herz haben, auch wir verstehen abzuwägen, wie die ersten Eindrücke der Kindheit und des Vaterhauses auf den Charakter einwirken können. Da ist aus dem Knaben schon ein Jüngling geworden, ein junger Mann, ein Offizier; zur Strafe für tolle Streiche und für eine Herausforderung zum Duell wird er in eines der entlegensten Grenzstädtchen unseres gesegneten russischen Vaterlandes versetzt. Dort tut er seinen Dienst, dort führt er ein flottes Leben – natürlich: Ein großes Schiff braucht ein großes Fahrwasser. Wir brauchen die Mittel, vor allen Dingen die Mittel, und da kommt nach langen Streitigkeiten zwischen ihm und seinem Vater eine Einigung über eine letzte Zahlung von sechstausend Rubeln zustande, und diese Summe wird ihm übersandt. Beachten Sie bitte – er hat eine Quittung darüber ausgestellt, und es existiert ein Brief von ihm, in dem er auf alles übrige sozusagen verzichtet und erklärt, daß durch diese sechstausend Rubel sein Erbschaftsstreit mit dem Vater beendet sei. Nun erfolgt seine Begegnung mit einem jungen Mädchen von edler Gesinnung und hoher Bildung. Oh, ich wage nicht, die Einzelheiten zu wiederholen. Sie haben sie soeben gehört; da handelt es sich um Ehre, um Selbstaufopferung, und ich verstumme. Das Bild des jungen Mannes, der sich bei all seinem Leichtsinn und all seiner Lasterhaftigkeit doch vor wahrem Edelmut, vor der höchsten Idee beugt, ist vor unsere Augen getreten und hat uns einen höchst sympathischen Eindruck gemacht. Doch wenig später mußten wir in diesem selben Gerichtssaal ganz unerwartet auch die Kehrseite der Medaille erblicken. Wiederum wage ich nicht, mich auf Vermutungen einzulassen, und enthalte mich einer psychologischen Untersuchung über die Gründe dieses Vorgangs. Diese selbe Person erklärt uns unter den Tränen einer lange verheimlichten Entrüstung, daß er, er als erster, sie wegen ihres unvorsichtigen und vielleicht übereilten, aber doch edlen, hochherzigen Schrittes verachtet habe. Ausgerechnet bei ihm, dem Bräutigam dieses jungen Mädchens, ist früher als bei allen anderen jenes spöttische Lächeln aufgetaucht, das sie nur von ihm nicht ertragen konnte. Obgleich sie weiß, daß er ihr bereits untreu geworden ist (er war ihr untreu geworden in der Überzeugung, daß sie künftig alles von ihm ertragen müßte, sogar seine Untreue), obgleich sie das weiß, bietet sie ihm absichtlich dreitausend Rubel an und gibt ihm dabei deutlich, sehr deutlich zu verstehen, daß sie ihm das Geld anbietet, damit er treulos an ihr handeln kann. ›Wie ist es, wirst du es nehmen oder nicht, wirst du so zynisch sein?‹ sagt sie gleichsam zu ihm, wobei sie ihn schweigend mit forschendem, prüfendem Blick ansieht. Er sieht sie an, er versteht ihre Gedanken vollkommen – er hat ja selbst hier vor Ihren Ohren eingestanden, daß er alles begriffen hat –, eignet sich ohne Widerspruch diese dreitausend Rubel an und verjubelt sie in zwei Tagen mit seiner neuen Geliebten! Woran soll man da glauben? An die erste Erzählung von der impulsiven Tat eines hohen Edelmuts, der die letzten Mittel zum Leben dahingibt und sich vor der Tugend verbeugt, oder an die abstoßende Kehrseite der Medaille? Gewöhnlich liegt es im Leben so, daß man bei zwei einander widersprechenden Auffassungen die Wahrheit in der Mitte suchen muß; im vorliegenden Fall trifft das jedoch nicht buchstäblich zu. Das wahrscheinlichste ist, daß er bei der ersten Handlung in aller Aufrichtigkeit edelmütig und bei der zweiten ebenso in aller Aufrichtigkeit gemein war. Warum? Nun, eben darum, weil wir eine weitherzige Natur sind, eine Karamasowsche Natur, die imstande ist, alle möglichen Widersprüche zu vereinigen und zugleich beide Unendlichkeiten zu schauen, die Unendlichkeit über uns, die erhabene Region der höchsten Ideale, und die Unendlichkeit unter uns, den Abgrund der gemeinsten, schändlichsten Verderbtheit. Erinnern Sie sich an den glänzenden Gedanken, den vorhin Herr Rakitin aussprach, ein junger Beobachter, der die ganze Familie Karamasow aus nächster Nähe gründlich kennengelernt hat: ›Die Empfindung ihrer tiefen Verderbtheit ist diesen zügellosen, ungestümen Naturen ebenso ein Bedürfnis wie die Empfindung des höchsten Edelmutes!‹ Und das ist die Wahrheit: Sie bedürfen dieser unnatürlichen Mischung ständig und ununterbrochen. Zwei Unendlichkeiten, meine Herren, in ein und demselben Augenblick – ohne das fühlen wir uns unglücklich und unbefriedigt, und unser Dasein ist nicht erfüllt. Wir haben ein weites Herz, ein weites Herz, weit wie unser Mütterchen Rußland; darin können wir alles unterbringen, und wir vertragen uns mit allem! Beiläufig, meine Herren Geschworenen, wir berührten soeben diese dreitausend Rubel, und ich erlaube mir, ein wenig vorzugreifen. Bitte, stellen Sie sich vor, daß er, ein Mensch mit diesem Charakter, nachdem er dieses Geld empfangen hatte, und noch dazu in der beschämendsten, schmählichsten, unwürdigsten Weise – stellen Sie sich bitte vor, daß er es nach seiner eigenen Angabe gleich am selben Tag fertigbrachte, die Hälfte davon abzuzählen und in ein Säckchen zu nähen, und dann die Energie besaß, es einen ganzen Monat lang am Hals zu tragen, trotz aller Verlockungen und trotz seiner Geldnot! Nicht wenn er in den Wirtshäusern zechte, nicht als er eilig aus der Stadt wegfahren mußte, um bei Gott weiß wem Geld aufzutreiben, das er dringend benötigte, um seine Geliebte wegzuschaffen und so vor der Verlockung durch den Nebenbuhler, seinen Vater, zu bewahren – selbst da hat er nicht gewagt, dieses Säckchen anzurühren. Schon um seine Geliebte nicht länger den Versuchungen von seiten des alten Mannes auszusetzen, auf den er so eifersüchtig war, hätte er sein Säckchen öffnen und als beharrlicher Wächter seiner Geliebten zu Hause bleiben müssen, in Erwartung des Augenblicks, in dem sie endlich zu ihm sagen würde: ›Ich bin die deine‹, um sich dann schleunigst mit ihr davonzumachen, irgendwohin, möglichst weit weg von der jetzigen gefährlichen Umgebung. Aber nein, er rührt seinen Talisman nicht an, und aus welchem Grund? Der ursprüngliche Grund war, wie wir ausgeführt haben: Wenn sie zu ihm sagen würde: ›Ich bin die deine, führe mich, wohin du willst!‹, da wollte er die Mittel haben, sie fortzubringen. Aber dieser erste Grund verblaßte nach den eigenen Worten des Angeklagten vor einem zweiten. ›Solange ich dieses Geld bei mir trage‹, sagte er sich, ›bin ich zwar ein Schuft, aber kein Dieb, denn ich kann jederzeit zu meiner von mir beleidigten Braut gehen, diese Hälfte der von mir unterschlagenen Summe vor sie hinlegen und zu ihr sagen: ›Siehst du, ich habe die Hälfte deines Geldes verpraßt und dadurch gezeigt, daß ich ein schwacher, sittenloser Mensch und, wenn du willst, ein Schuft bin!‹ Ich drücke mich in der eigenen Sprache des Angeklagten aus. Aber obwohl ich ein Schuft bin, bin ich dennoch kein Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, würde ich dir diese Hälfte des Geldes nicht zurückbringen, sondern mir auch sie aneignen wie die erste Hälfte!‹ Eine erstaunliche Erklärung der Tatsache! Dieser rasende, aber schwache Mensch, der der Versuchung nicht hatte widerstehen können, die dreitausend Rubel unter so schmählichen Umständen anzunehmen, dieser selbe Mensch fühlt plötzlich in sich eine so stoische Festigkeit und trägt Tausende von Rubeln an seinem Hals, ohne daß er sie zu berühren wagt! Stimmt das auch nur einigermaßen mit dem von uns geschilderten Charakter überein? Nein, und ich möchte mir erlauben, Ihnen zu erzählen, wie sich in einem solchen Fall der wahre Dmitri Karamasow benommen hätte, wenn er sich tatsächlich irgendwann einmal dazu entschlossen hätte, sein Geld in ein Säckchen zu nähen. Gleich bei der ersten Versuchung, zum Beispiel, um der neuen Geliebten, mit der er schon die erste Hälfte dieses Geldes verpraßt hatte, wieder irgendein Amüsement zu bereiten, hätte er sein Säckchen aufgetrennt und von dem Inhalt, nun sagen wir einmal, das erstemal nur hundert Rubel genommen; denn was hatte es für einen Zweck, genau die Hälfte zurückzugeben, das heißt fünfzehnhundert Rubel; es genügten ja auch vierzehnhundert, das Resultat war ja immer das gleiche. ›Ich bin ein Schuft‹, konnte er sich sagen, ›aber kein Dieb, denn ich habe doch wenigstens vierzehnhundert Rubel zurückgebracht, ein Dieb dagegen würde alles behalten und nichts zurückbringen!‹ Darauf hätte er nach einiger Zeit das Säckchen von neuem aufgetrennt und ein zweites Hundert herausgenommen, dann ein drittes, dann ein viertes, und ehe noch der Monat zu Ende gewesen wäre, hätte er schließlich das vorletzte Hundert herausgenommen, in der Erwägung: ›Wenn ich auch nur einhundert Rubel zurückbringe, kommt es ja doch auf dasselbe hinaus: Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb. Zweitausendneunhundert Rubel habe ich verjubelt, trotzdem jedoch einhundert zurückgegeben – ein Dieb hätte auch die nicht zurückgegeben!‹ Und endlich, nachdem auch dieses vorletzte Hundert durchgebracht war, hätte er das letzte Hundert angesehen und sich gesagt: ›Ach was, es ist nicht der Mühe wert, das eine Hundert zurückzugeben! Ich will auch das noch verjubeln!‹ Sehen Sie, so hätte der wahre Dmitri Karamasow, der, den wir kennen, gehandelt! Die Erzählung von dem Säckchen steht in einem solchen Widerspruch zur Wirklichkeit, wie man ihn sich gar nicht größer vorstellen kann. Alles kann man annehmen, aber das nicht. Doch wir werden darauf noch zurückkommen.«

Hierauf führte Ippolit Kirillowitsch geordnet und exakt alles an, was bei der Voruntersuchung über die Vermögensstreitigkeiten und das Familienverhältnis zwischen Vater und Sohn bekannt geworden war, und gelangte wieder zu dem Schluß, daß nach den zur Kenntnis gelangten Tatsachen nicht die geringste Möglichkeit bestehe, in der Frage über die Erbteilung festzustellen, wer von beiden mehr oder weniger erhalten habe, als ihm zukam. Und ausgehend von den dreitausend Rubeln, die bei Mitja zu einer fixen Idee geworden seien, kam er auf das Urteil der Sachverständigen zu sprechen.

7. Historischer Überblick

»Die medizinischen Sachverständigen haben sich bemüht, uns zu beweisen, daß der Angeklagte nicht voll bei Verstand ist und an einer Manie leidet. Ich behaupte, daß er durchaus voll bei Verstand ist und daß dies gerade das allerschlimmste ist: Wäre er nicht voll bei Verstand, hätte er sich vielleicht weit klüger gezeigt! Was nun die angebliche Manie betrifft, so würde ich damit einverstanden sein, aber nur in dem einen Punkt, auf den auch die Ärzte hingewiesen haben: Ich meine die Ansicht des Angeklagten über die dreitausend Rubel, die ihm sein Vater noch schuldig sei. Trotzdem läßt sich vielleicht ein unvergleichlich viel näherliegender Anhaltspunkt als seine Neigung zur Geistesgestörtheit finden, um die ständige Raserei des Angeklagten wegen dieses Geldes zu erklären. Ich schließe mich völlig der Meinung des jungen Arztes an, daß der Angeklagte über volle und normale geistige Fähigkeiten verfügt und verfügt hat und nur reizbar und erbittert ist. Und eben das ist der Kernpunkt: Nicht die dreitausend Rubel, nicht diese Summe bildete den eigentlichen Grund der ständigen rasenden Erbitterung des Angeklagten, sondern es gab einen besonderen Grund: die Eifersucht.«

Hier zeichnete Ippolit Kirillowitsch in aller Ausführlichkeit das Bild der verhängnisvollen Leidenschaft des Angeklagten für Gruschenka. Er begann mit dem Augenblick, als der Angeklagte sich zu der »jungen Person« begab, um »sie zu verprügeln«. »Ich drücke mich mit seinen eigenen Worten aus«, fügte Ippolit Kirillowitsch zur Erklärung hinzu und fuhr dann fort: »Aber statt sie zu verprügeln, blieb er zu ihren Füßen, liegen – das war der Beginn dieser Liebe. Gleichzeitig warf auch der alte Mann, der Vater des Angeklagten, seine Augen auf diese Person! Ein sonderbares, verhängnisvolles Zusammentreffen, denn die Herzen beider entbrannten plötzlich gleichzeitig, obwohl der eine wie der andere die Person schon vorher gekannt hatte und mit ihr zusammengetroffen war; sie entbrannten mit unbändiger echt Karamasowscher Leidenschaft. Hier das Bekenntnis dieser jungen Person: ›Ich habe mich über den einen und den anderen lustig gemacht!‹ Ja, es wandelte sie auf einmal die Laune an, sich über den einen und den anderen lustig zu machen; vorher hatte sie einen solchen Wunsch nicht gehabt, nun auf einmal kam sie dieses Verlangen an – und es endete damit, daß beide besiegt vor ihr niederfielen. Der Alte, der das Geld wie einen Gott anbetete, legte dreitausend Rubel zurecht, die sie bekommen sollte, wenn sie ihn in seinem Haus besuchte. Doch bald kam er so weit, daß er es für ein Glück gehalten hätte, ihr seinen Namen und sein ganzes Vermögen zu Füßen zu legen, wenn sie nur einwilligte, seine rechtmäßige Gattin zu werden. Dafür haben wir zuverlässige Zeugnisse. Was den Angeklagten betrifft, so steht uns eine Tragödie klar vor Augen. Aber das war nun eben das ›Spiel‹, das die junge Person trieb. Dem unglücklichen jungen Mann machte die Verführerin damals nicht einmal Hoffnung; Hoffnung, wirkliche Hoffnung wurde ihm erst im allerletzten Augenblick gegeben, als er, vor ihr auf den Knien liegend, ihr seine vom Blut des Vaters und Nebenbuhlers geröteten Hände entgegenstreckte – da wurde er allerdings auch schon verhaftet. ›Schickt mich mit ihm zusammen zur Zwangsarbeit nach Sibirien! Ich habe ihn soweit gebracht! Ich bin die Schuldige!‹ rief sie in jenem Moment, von aufrichtiger Reue erfüllt. Der talentierte junge Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den vorliegenden Prozeß zu schildern, derselbe Herr Rakitin, den ich früher bereits erwähnt habe, skizziert in einigen knappen charakteristischen Sätzen den Charakter dieser Heldin so: ›Frühe Enttäuschung durch erlittenen Betrug, früher Fall, Untreue des Verführers, der sie im Stich läßt; dann Armut, der Fluch der ehrenhaften Familie und endlich die Gönnerschaft eines reichen alten Mannes, den sie auch jetzt noch für ihren Wohltäter hält. In dem jungen Herzen, das viel Gutes in sich haben mag, sammelte sich seit früher Zeit ein geheimer Zorn. Ein berechnender, auf Anhäufung von Kapital bedachter Charakter bildete sich heraus. Es entwickelten sich Spottlust und Rachsucht gegen die Gesellschaft.‹ Nach dieser Charakteristik ist es verständlich, daß sie sich über den einen und den anderen lustig machen konnte und mit ihnen nur ihr boshaftes Spiel trieb. Und in diesem Monat der hoffnungslosen Liebe, der moralischen Vergehen, der Untreue gegen seine Braut, der Aneignung fremden Geldes, das ihm anvertraut war – in diesem Monat wird der Angeklagte außerdem noch durch die stete Eifersucht in Raserei und Wut versetzt, und zwar Eifersucht auf wen? Auf seinen Vater! Und was die Hauptsache ist: Der alte Mann sucht das Objekt der Leidenschaft seines Sohnes durch dieselben dreitausend Rubel zu gewinnen, die der Sohn für sein Eigentum hält, für das ihm von seiner Mutter zugefallene und angeblich durch seinen Vater vorenthaltene Erbteil! Ja, ich gebe zu, daß das schwer zu ertragen war! Da konnte auch eine Manie entstehen. Nicht um das Geld handelte es sich, sondern darum, daß mittels dieses Geldes sein Glück auf so ekelhaft zynische Weise zerstört wurde!«

Dann kam Ippolit Kirillowitsch darauf zu sprechen, wie in dem Angeklagten der Gedanke des Vatermordes allmählich herangereift war, und verfolgte dies an Hand der Tatsachen.

»Anfänglich schreien wir nur in den Wirtshäusern; den ganzen Monat über schreien wir. Oh, wir leben gern unter Menschen und teilen diesen Menschen gern sogleich alle unsere Gedanken mit, selbst die teuflischsten und gefährlichsten; wir lassen die Menschen an allem, was uns bewegt, teilnehmen und fordern noch dazu, daß diese Menschen unsere Offenherzigkeit mit Sympathie erwidern, auf alle unsere Sorgen und Bekümmernisse eingehen, uns zustimmen und unseren Wünschen keine Hindernisse bereiten. Sonst werden wir wütend und bringen das ganze Restaurant in Aufruhr.« (Es folgte die Geschichte von dem Stabskapitän Snegirjow.) »Diejenigen, die den Angeklagten in diesem Monat sahen und hörten, hatten schließlich das Gefühl, daß diese Drohungen gegen den Vater möglicherweise nicht mehr leeres Geschrei waren, sondern am Ende zur Tat werden würden.« (An dieser Stelle beschrieb der Staatsanwalt die Familienzusammenkunft im Kloster, die Gespräche mit Aljoscha und die Mißhandlungsszene im Haus des Vaters, als der Angeklagte nach dem Mittagessen bei ihm eingedrungen war.) »Ich denke nicht daran, eigensinnig zu behaupten«, fuhr Ippolit Kirillowitsch fort, »daß der Angeklagte schon vor dieser Szene mit Vorbedacht den Plan gefaßt hatte, seine Streitigkeiten mit dem Vater durch dessen Ermordung zu beenden. Trotzdem war dieser Gedanke schon einige Male vor ihm aufgetaucht, und er hatte ihn überlegt von allen Seiten betrachtet, dafür haben wir Tatsachen, Zeugen und sein eigenes Geständnis. Ich bekenne, meine Herren Geschworenen, ich habe sogar bis heute geschwankt, ob ich dem Angeklagten bei dem sich ihm aufdrängenden Verbrechen einen bewußten Vorbedacht unterstellen sollte. Ich war fest überzeugt, daß seine Seele schon mehrmals im voraus an den verhängnisvollen Augenblick gedacht, jedoch eben nur an ihn gedacht, ihn sich als Möglichkeit vorgestellt, aber noch nicht den Zeitpunkt der Ausführung und die näheren Umstände festgelegt hatte. Doch ich habe nur bis heute geschwankt, bis zu diesem verhängnisvollen Schriftstück, das Fräulein Werchowzewa heute dem Gericht vorgelegt hat. Sie haben selbst ihren Ausruf gehört, meine Herren! ›Das ist ein vollständiger Plan, ein Programm des Mordes!‹ So hat sie den unglücklichen Brief des unglücklichen Angeklagten genannt. Und in der Tat, dieser Brief hat durchaus die Bedeutung eines Programms und ist der Beweis für einen Vorbedacht. Er wurde zwei Tage vor dem Verbrechen geschrieben, und durch ihn ist uns jetzt mit Sicherheit bekannt, daß der Angeklagte zwei Tage vor der Ausführung seines furchtbaren Plans geschworen hat, wenn er sich am nächsten Tage kein Geld beschaffen könne, werde er seinen Vater ermorden, um ihm das Geld wegzunehmen, das bei ihm unter dem Kopfkissen lag, ›in dem Kuvert mit dem roten Bändchen, sobald Iwan abgereist ist‹. Hören Sie: ›sobald Iwan abgereist ist‹. Hier ist also schon alles bedacht, die Umstände sind erwogen – später hat er dann alles so ausgeführt, wie er es geschrieben hatte! Vorbedacht und Überlegung stehen außer Zweifel; das Verbrechen sollte zum Zweck des Raubes ausgeführt werden: Das hat er unumwunden erklärt, niedergeschrieben und unterschrieben. Der Angeklagte leugnet seine Unterschrift nicht ab. Man wird sagen: Er hat das in der Trunkenheit geschrieben. Aber dadurch wird die Beweiskraft nicht abgeschwächt, sondern das Schriftstück wird nur um so bedeutungsvoller. Er hat in betrunkenem Zustand niedergeschrieben, was er nüchtern überlegt hatte. Hätte er das nicht in nüchternem Zustand überlegt, hätte er es nicht in betrunkenem niedergeschrieben. Man wird vielleicht fragen: Warum hat er denn in den Wirtshäusern so ein Geschrei von seiner Absicht gemacht? Wer sich zu einer solchen Tat mit Vorbedacht entschließt, der schweigt darüber und hält es geheim. Das ist richtig; aber Geschrei machte er nur, solange er noch keine Pläne und keine vorbedachte Absicht hatte, solange bloß der Wunsch vorhanden war und das Verlangen heranreifte, später schon viel weniger. An jenem Abend, als er sich im Restaurant ›Zur Residenz‹ betrank und diesen Brief schrieb, war er gegen seine Gewohnheit schweigsam, spielte nicht Billard, saß abseits, redete nicht und zwang nur einen Gehilfen, von seinem Platz aufzustehen; doch das tat er beinahe unbewußt, in seiner Gewohnheit, Streit zu suchen: Wenn er nämlich in ein Wirtshaus kam, konnte er gar nicht mehr anders, als Streit anfangen. Zwar mußte dem Angeklagten gleichzeitig mit dem endgültigen Entschluß auch der Gedanke kommen, daß die Sache gefährlich war, da er in der Stadt zu viel Geschrei davon gemacht hatte und das sehr leicht den Verdacht auf ihn lenken und ihn überführen könnte, wenn er nun seine Absicht ausführte. Aber geredet hatte er nun einmal davon, das ließ sich nicht ungeschehen machen; und schließlich war er bisher immer mit heiler Haut davongekommen, es würde also auch jetzt glücken. Wir hofften auf unseren Stern, meine Herren! Ich muß außerdem einräumen, daß er viel tat, um ohne die verhängnisvolle Tat auszukommen, daß er alle möglichen Anstrengungen machte, um einen blutigen Ausgang zu vermeiden: ›Morgen werde ich alle möglichen Leute um dreitausend Rubel bitten‹, wie er in der ihm eigenen Sprache schreibt. ›Wenn sie mir jedoch nichts geben, wird Blut fließen.‹ Das hat er wiederum in betrunkenem Zustand niedergeschrieben und wiederum nüchtern so ausgeführt, wie er es geschrieben hatte!«

Jetzt widmete sich Ippolit Kirillowitsch einer eingehenden Schilderung aller Bemühungen Mitjas, sich Geld zu beschaffen, um das Verbrechen zu vermeiden. Er beschrieb seine Gänge zu Samsonow, seine Reise zu Ljagawy, alles an Hand der Akten. »Erschöpft, verspottet, hungrig, seiner Uhr verlustig, die er verkauft hatte, um reisen zu können, obwohl er angeblich doch fünfzehnhundert Rubel bei sich trug, von Eifersucht gequält, weil er die Geliebte in der Stadt zurückgelassen hatte und fürchtete, sie könnte in seiner Abwesenheit zu Fjodor Pawlowitsch gehen – so kehrt er schließlich in die Stadt zurück. Gott sei Dank, sie ist nicht bei Fjodor Pawlowitsch gewesen! Er selbst begleitet sie zu ihrem Gönner Samsonow; merkwürdig: auf Samsonow sind wir nicht eifersüchtig, und das ist eine sehr charakteristische Besonderheit im vorliegenden Fall! Dann eilt er auf seinen Beobachterposten in der Hintergasse, und dort erfährt er, daß Smerdjakow einen epileptischen Anfall hat und der andere Diener krank ist. Also ist die Luft rein, die Signale sind ihm bekannt – welche Versuchung! Trotzdem kämpft er noch dagegen an; er geht zu der von uns allen hochverehrten Frau Chochlakowa. Diese Dame, die schon lange mit ihm Mitleid fühlte, gibt ihm den vernünftigsten Rat, den man sich denken kann: dieser ganzen Zecherei, dieser sinnlosen Liebschaft, diesem Herumtreiben in den Wirtshäusern, dieser nutzlosen Verschwendung seiner jungen Kräfte ein Ende zu machen und sich in die sibirischen Goldbergwerke zu begeben. ›Dort‹, sagt sie, ›finden Sie ein geeignetes Arbeitsfeld für ihre Kräfte und für Ihren romantischen, nach Abenteuern dürstenden Charakter.‹«

Ippolit Kirillowitsch beschrieb dann den Ausgang des Gesprächs und jenen Augenblick, als der Angeklagte auf einmal erfuhr, daß Gruschenka nur ganz kurze Zeit bei Samsonow gewesen war. – Er beschrieb ferner den Zorn, der den unglücklichen, nervlich überreizten, eifersüchtigen Menschen sofort bei dem Gedanken gepackt hatte, daß sie ihn betrogen hatte und jetzt bei seinem Nebenbuhler Fjodor Pawlowitsch war; er schloß damit, daß er die Aufmerksamkeit auf die verhängnisvolle Macht des Zufalls lenkte: »Hätte ihm die Magd gesagt, daß sich seine Geliebte mit ihrem ›Früheren‹ in Mokroje befand, so wäre nichts geschehen. Aber sie war vor Angst ganz benommen und schwor hoch und heilig, sie wisse nichts. Und wenn der Angeklagte sie damals nicht gleich totschlug, so nur deshalb nicht, weil er Hals über Kopf der nachstürzte, die ihn betrogen hatte. Aber beachten Sie bitte: Obwohl er so außer sich war, griff er sich doch den Messingstößel und nahm ihn mit. Warum gerade den Stößel, warum nicht irgendeinen anderen Gegenstand, der als Waffe dienen konnte? Wenn wir uns dieses Bild schon einen Monat lang ausgemalt und uns darin eingelebt haben und uns dann auf einmal irgendein waffenähnliches Ding vor Augen kommt, so ergreifen wir es, um es als Waffe zu benutzen. Daß aber irgendein derartiger Gegenstand als Waffe dienen kann, das haben wir uns schon einen ganzen Monat überlegt. Eben deshalb haben wir ihn denn auch sofort und ohne zu zweifeln als brauchbare Waffe erachtet! Und daher kann man das Ergreifen dieses Stößels nicht als unbewußte Handlung bezeichnen. Und nun ist er in dem väterlichen Garten: Die Luft ist rein, Zeugen gibt es nicht, es gibt nur tiefe Nacht und Finsternis und Eifersucht! Der Verdacht, daß sie dort ist, bei seinem Nebenbuhler, in seinen Armen, und vielleicht in diesem Augenblick über ihn lacht – dieser Verdacht verschlägt ihm den Atem. Und es ist kein bloßer Verdacht mehr – wie kann man da noch von Verdacht reden? Der Betrug ist offensichtlich: Sie ist da in diesem Zimmer, aus dem das Licht kommt, sie ist bei ihm dort hinter dem Wandschirm – und da schleicht der Unglückliche zum Fenster, blickt respektvoll hinein, fügt sich wohlgesittet, geht vernünftig davon und entfernt sich so schnell wie möglich von der Sünde, damit ja nichts Unrechtes und Gefährliches geschehe? Das will man uns einreden, uns, die wir den Charakter des Angeklagten kennen, die wir verstehen, in welchem Gemütszustand er sich befinden mußte, einem Gemütszustand, der uns aus den Tatsachen bekannt ist? Und vor allem: so soll er sich benommen haben, obgleich er die Signale kannte, mit deren Hilfe er sofort in das Haus eindringen konnte!« Bei der Erwähnung der Signale unterbrach Ippolit Kirillowitsch die Anklagerede für einige Zeit und hielt für nötig, sich über Smerdjakow zu verbreiten, um den sich episodenhaft aufdrängenden Verdacht, Smerdjakow könnte den Mord begangen haben, gründlich zu behandeln und ein für allemal zu erledigen. Er tat das sehr umständlich, und alle begriffen, daß er trotz aller Geringschätzigkeit, die er gegen diese Annahme an den Tag legte, sie dennoch für wichtig hielt.

8. Der Traktat über Smerdjakow

»Zunächst: Wie hat ein solcher Verdacht überhaupt entstehen können?« Mit dieser Frage begann Ippolit Kirillowitsch. »Der erste, welcher rief, Smerdjakow habe den Mord begangen, war der Angeklagte selbst, und zwar im Augenblick seiner Verhaftung; dennoch hat er bis jetzt nicht eine einzige Tatsache als Beweis für seine Anschuldigung vorgebracht, ja nicht einmal eine halbwegs vernünftige Andeutung einer Tatsache. Außerdem haben nur noch drei Personen diese Beschuldigung erhoben – die beiden Brüder des Angeklagten und Fräulein Swetlowa. Aber der ältere der beiden Brüder hat seinen Verdacht erst heute im Nervenfieber, in einem Anfall eindeutiger Geistesstörung ausgesprochen, während er früher, wie uns positiv bekannt ist, die Überzeugung von der Schuld seines Bruders vollständig geteilt und nichts gegen diesen Gedanken einzuwenden versucht hat. Doch damit werden wir uns später noch besonders beschäftigen. Ferner hat uns der jüngste Bruder des Angeklagten vorhin selbst erklärt, daß er zur Unterstützung seiner Ansicht von der Schuld Smerdjakows keine Tatsachen anführen könne, nicht die geringsten; er schließe das nur aus den Worten des Angeklagten selbst und ›aus dessen Gesichtsausdruck‹ – und diesen kolossalen Beweis brachte er sogar zweimal vor. Fräulein Swetlowa drückte sich vielleicht sogar noch kolossaler aus: ›Was der Angeklagte Ihnen sagt, das können Sie glauben! Lügen widerspricht seinem ganzen Wesen.‹ Das sind alle faktischen Beweise gegen Smerdjakow, vorgebracht von drei Personen, die am Schicksal des Angeklagten ein großes Interesse haben. Und trotzdem ist die mögliche Schuld Smerdjakows ins Gespräch gekommen; diese Ansicht hat sich gehalten und hält sich noch – sollte man das glauben, kann man sich das überhaupt vorstellen?«

Hier hielt es Ippolit Kirillowitsch für angebracht, den Charakter des verstorbenen Smerdjakow zu skizzieren, »der seinem Leben in einem Anfall krankhafter Geisteszerrüttung ein Ende gemacht hat«. Er stellte ihn dar als einen schwachbegabten Menschen mit einem gewissen Anflug von unklarer Bildung, verwirrt durch philosophische Ideen, denen sein Verstand nicht gewachsen war, entsetzt über gewisse moderne Lehren von der »Pflicht« des Menschen, die ihm von zwei Seiten entgegentraten: praktisch durch das aller Verantwortung spottende Leben seines verstorbenen Herrn und möglichen Vaters Fjodor Pawlowitsch und theoretisch durch etliche seltsame philosophische Gespräche mit dem zweiten Sohn des Herrn, Iwan Fjodorowitsch, der sich gern dieses Vergnügen gegönnt haben soll, wahrscheinlich aus Langeweile oder weil er keine bessere Gelegenheit zur Befriedigung seiner Spottsucht fand. »Er hat mir selbst von seinem Seelenzustand in den letzten Tagen seines Aufenthalts im Hause seines Herrn erzählt«, bemerkte Ippolit Kirillowitsch. »Aber auch andere bezeugen dies: der Angeklagte selbst, sein Bruder und sogar der Diener Grigori, das heißt alle, die ihn näher kennen mußten. Außerdem war Smerdjakow, den seine epileptische Krankheit sehr bedrückte, ›feige wie ein Huhn. Er fiel mir zu Füßen und küßte meine Stiefel‹, teilte uns der Angeklagte selbst mit, als er in so einer Mitteilung noch keinen Nachteil für sich erkannte. ›Er ist ein Huhn, das von Epilepsie befallen ist!‹, so drückte er sich in seiner charakteristischen Sprache aus. Und eben diesen Menschen wählt sich der Angeklagte, wie er selbst bezeugt, zu seinem Vertrauten, und schüchtert ihn dermaßen ein, daß dieser schließlich einwilligt, ihm als Spion und Zuträger zu dienen. In dieser Eigenschaft verrät er seinen Herrn und informiert den Angeklagten über die Existenz des Kuverts mit dem Geld und die Signale, mit deren Hilfe man bei dem Herrn eindringen kann – wie hätte er es auch fertigbringen sollen, können, ihm diese Mitteilungen vorzuenthalten! ›Er wollte mich totschlagen! Ich sah deutlich, daß er mich totschlagen wollte!‹ sagte er bei der Voruntersuchung, und er zitterte, während er vor uns stand, obwohl jener, der ihn in Angst versetzt hatte, damals schon selbst in Haft war und ihn nicht mehr strafen konnte. ›Er hegte ständig Mißtrauen gegen mich und da habe ich ihm aus Angst schleunigst das Geheimnis mitgeteilt, damit er daraus meine Schuldlosigkeit ihm gegenüber ersah und mich am Leben ließ.‹ Das sind seine eigenen Worte, ich habe sie aufgeschrieben und im Gedächtnis behalten. ›Wenn er mich manchmal so anschrie, fiel ich gleich vor ihm auf die Knie.‹ Da er von Natur ein grundehrlicher junger Mensch war und dadurch das Vertrauen seines Herrn gewonnen hatte – zum Beispiel hatte er ihm einmal Geld zurückgegeben, das ihm verlorengegangen war –, quälte den unglücklichen Smerdjakow, wie man sich leicht denken kann, die Reue über den Verrat an seinem Herrn, den er als seinen Wohltäter liebte. Menschen, die an starker Epilepsie leiden, neigen nach dem Urteil der bedeutendsten Psychiater stets zu natürlich krankhaften Selbstbeschuldigungen. Sie quälen sich mit ihrer ›Schuld‹ an irgend etwas und irgend jemandem gegenüber; sie quälen sich mit Gewissensbissen, oft sogar ohne jeden Grund; sie übertreiben und bilden sich sogar allerlei Verbrechen ein, die sie begangen zu haben glauben. Und nun, infolge der Einschüchterungen, wird ein solches Subjekt aus Furcht tatsächlich schuldig. Außerdem hatte er eine starke Vorahnung, daß sich aus den Umständen, die er vor Augen hatte, etwas Schlimmes ergeben könnte. Als Fjodor Pawlowitschs zweiter Sohn Iwan Fjodorowitsch unmittelbar vor der Katastrophe nach Moskau fuhr, flehte ihn Smerdjakow an zu bleiben, wagte jedoch in seiner Feigheit nicht, alle seine Befürchtungen klar und bestimmt auszusprechen. Er begnügte sich mit Andeutungen, diese wurden jedoch nicht verstanden. Es muß berücksichtigt werden, daß er in Iwan Fjodorowitsch gewissermaßen seinen Schutz sah, gewissermaßen eine Bürgschaft dafür, daß sich kein Unglück ereignen würde, solange dieser im Haus war. Erinnern Sie sich an eine Wendung in dem Brief Dmitri Karamasows: ›Ich werde den Alten totschlagen, sobald Iwan abgereist ist.‹ Die Anwesenheit Iwan Fjodorowitschs erschien demnach allen als eine Garantie für Ruhe und Ordnung im Hause. Da reist er nun plötzlich ab – und Smerdjakow bekommt auch prompt, etwa eine Stunde nach der Abreise, seinen epileptischen Anfall. Das ist vollkommen begreiflich. Es sei hier erwähnt, daß Smerdjakow, bedrückt von seinen Befürchtungen und von einer eigenartigen Verzweiflung, in den letzten Tagen besonders stark das Gefühl hatte, daß möglicherweise ein epileptischer Anfall bevorstand, ein Gefühl, das bei ihm auch früher in Momenten moralischer Anspannung und Erschütterung aufgetreten war. Tag und Stunde dieser Anfälle vorherzuwissen ist zwar unmöglich, doch ob eine Disposition zu einem Anfall vorhanden ist, kann jeder Epileptiker an seinem Befinden spüren. So sagt die medizinische Wissenschaft. Und was geschieht? Kaum hat Iwan Fjodorowitsch das Haus verlassen, geht Smerdjakow, noch ganz unter dem Eindruck seiner, nun sagen wir, Verwaistheit und Schutzlosigkeit, im Rahmen seines Dienstes in den Keller, steigt die Treppe hinunter und denkt: ›Werde ich einen Anfall bekommen oder nicht? Und was, wenn er sich gleich einstellt?‹ Und eben infolge dieser Stimmung, infolge dieser Befürchtung, infolge dieser Fragen packt ihn wirklich der Kehlkrampf, der einem epileptischen Anfall immer vorausgeht, und er stürzt kopfüber bewußtlos auf den Boden des Kellers. Und in diesem höchst natürlichen Zufall sehen nun besonders schlaue Menschen etwas Verdächtiges, eine Art Fingerzeig, einen Hinweis darauf, daß er sich absichtlich krank gestellt hat! Und wenn er es absichtlich tat, so erhebt sich sogleich die Frage: Zu welchem Zweck? Mit welcher Absicht? Ich will nicht einmal von der medizinischen Wissenschaft reden: Die Wissenschaft lügt, könnte man sagen; die Wissenschaft irrt sich; die Ärzte können nicht die Wahrheit von der Simulation unterscheiden – nun gut, aber antworten Sie mir doch auf die eine Frage: Welchen Zweck hatte es für ihn, zu simulieren? Wollte er etwa, wenn er den Mord plante, durch den Anfall schon im voraus die Aufmerksamkeit im Hause auf sich lenken? Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, in Fjodor Pawlowitschs Haus befanden sich in der Nacht, in der das Verbrechen stattfand, insgesamt fünf Menschen. Erstens Fjodor Pawlowitsch selbst: er hat sich nicht selbst ermordet, das ist wohl klar. Zweitens sein Diener Grigori: der ist selbst beinahe ermordet worden. Drittens Grigoris Frau, die Dienerin Marfa Ignatjewna: wer sie für die Mörderin ihres Herrn ausgeben wollte, müßte sich einfach schämen. Es bleiben also nur zwei Personen übrig: der Angeklagte und Smerdjakow. Da der Angeklagte versichert, er habe den Mord nicht begangen, muß es also Smerdjakow gewesen sein, eine andere Möglichkeit gibt es nicht; denn ein anderer Mörder ist nicht aufzutreiben. Daher also stammt diese schlaue, kolossale Beschuldigung des unglücklichen Idioten, der gestern seinem Leben ein Ende gemacht hat! Man beschuldigt ihn nur deswegen, weil man keinen anderen finden kann! Fiele auch nur ein Schatten von Verdacht auf jemand anders, auf irgendeine sechste Person, so bin ich überzeugt, daß sogar der Angeklagte sich schämen würde, auf Smerdjakow hinzuweisen; er würde vielmehr auf diese sechste Person verweisen! Smerdjakow dieses Mordes zu beschuldigen ist ein vollständiger Nonsens. Meine Herren, lassen wir die Psychologie, lassen wir die medizinische Wissenschaft, ja, lassen wir sogar die Logik, und wenden wir uns nur den Tatsachen zu, einzig und allein den Tatsachen, und sehen wir, was sie uns sagen … Also Smerdjakow hat den Mord begangen. Aber wie? Allein oder gemeinsam mit dem Angeklagten? Untersuchen wir zuerst die Möglichkeit, daß Smerdjakow den Mord allein begangen hat. Natürlich muß er, wenn er den Mord beging, doch irgendeinen Zweck verfolgt, irgendeinen Vorteil gesucht haben. Da bei ihm auch nicht ein Schatten von solchen Motiven wie bei dem Angeklagten vorhanden war, Haß, Eifersucht und so weiter und so fort, konnte Smerdjakow den Mord zweifellos nur um des Geldes willen begehen, um sich die bewußten dreitausend Rubel anzueignen, die er selbst gesehen hatte, als sein Herr sie in das Kuvert steckte. Und siehe da: Nachdem er sich zu dem Mord entschlossen hat, teilt er einer anderen Person (und noch dazu einer Person, die an dem ganzen Vorgang höchstes Interesse hatte, nämlich dem Angeklagten) alle Einzelheiten über das Geld und die Signale vorher mit: wo das Kuvert liegt, wie seine Aufschrift lautet, womit es umwickelt ist. Vor allen Dingen aber verrät er ihm die Signale, mit deren Hilfe man zu dem Herrn gelangen kann. Wie ist das zu erklären? Tut er das, um sich zu verraten? Oder um sich einen Konkurrenten zu schaffen, der vielleicht selbst Lust bekommt, hineinzugehen und sich das Kuvert anzueignen? Ja, wird man einwenden, er hat ihm das aus Furcht mitgeteilt. Aber wie steht es damit? Ein Mensch, der furchtlos und ohne mit der Wimper zu zucken so eine bestialische Tat geplant und dann auch wirklich ausgeführt hat, der teilt einem anderen Dinge mit, die nur er weiß und von denen nie jemand etwas erraten, wenn er geschwiegen hätte? Nein, mochte der Mensch auch noch so feige sein – wenn er so eine Tat beabsichtigte, hätte er um keinen Preis jemandem etwas gesagt zumindest nichts von dem Kuvert und den Signalen, denn damit hätte er sich selbst im voraus verraten. Eher hätte er irgend etwas erfunden, wenn man durchaus Mitteilungen verlangte – darüber jedenfalls hätte er geschwiegen! Im Gegenteil, ich wiederhole es: Wenn er von dem Geld geschwiegen, dann aber den Mord begangen und sich dieses Geld angeeignet hätte, so hätte ihn wenigstens niemand des Raubmordes beschuldigen können; dieses Geld hatte ja außer ihm niemand gesehen, und niemand wußte, daß es im Hause vorhanden war. Und selbst wenn man ihn des Mordes beschuldigt hätte, so hätte man sicherlich gemeint, er habe den Mord aus irgendeinem anderen Motiv begangen. Da aber solche Motive niemand vorher an ihm bemerkt hatte, sondern im Gegenteil alle gesehen hatten, daß der Herr ihn liebte und mit seinem Vertrauen beehrte, so wäre er natürlich der letzte gewesen, den man verdächtigte. Man hätte zuerst einen Menschen verdächtigt, der solche Motive hatte, der selber ausposaunte, daß er solche Motive habe, der sie nicht verheimlichte, sondern vor aller Ohren kundtat – mit einem Wort, man hätte den Sohn des Ermordeten, Dmitri Fjodorowitsch, verdächtigt. Smerdjakow hätte den Mord und den Raub begangen, und den Sohn hätte man beschuldigt – für Smerdjakow wäre das doch sehr vorteilhaft gewesen. Nun, und da erzählt Smerdjakow, während er den Mord plant, ausgerechnet diesem Sohn Dmitri vorher von dem Geld, dem Kuvert und den Signalen – wie logisch, wie klar ist das! Der Tag des von Smerdjakow geplanten Mordes naht, und da stürzt er, einen epileptischen Anfall ›simulierend‹. Wozu? Natürlich erstens, damit der Diener Grigori, der eigentlich eine Kur vornehmen wollte, vielleicht seine Kur aufschöbe und aufbliebe, um Wache zu halten, wenn er sähe, daß niemand da war, das Haus zu bewachen. Zweitens natürlich, damit der Herr selbst, wenn er sah, daß ihn niemand bewachte, in seiner schrecklichen Angst vor dem Kommen seines Sohnes das Mißtrauen und die Vorsicht verdoppelte. Endlich aber, und das war der Hauptzweck, damit man ihn, Smerdjakow, wegen seines epileptischen Anfalls sogleich aus der Küche, wo er sonst immer von allen abgesondert schlief und seinen besonderen Eingang und Ausgang hatte, umquartierte, in das andere Ende des Seitengebäudes, in Grigoris Zimmer, zu ihnen beiden hinter den Bretterverschlag, drei Schritt von dem Bett des Ehepaares entfernt, wie das Marfa Ignatjewna auf Anordnung des Herrn und aus eigenem Mitleid immer tat, sobald ihm ein Anfall zustieß. Dort hinter dem Bretterverschlag liegend, wollte er dann, höchstwahrscheinlich, um recht glaubhaft den Kranken zu spielen, natürlich zu stöhnen anfangen, das heißt, er wollte die beiden aufwecken, wie es nach der Aussage Grigoris und seiner Frau auch wirklich geschehen ist – und das alles, um ungestört plötzlich aufstehen und dann den Herrn ermorden zu können! Aber, wird man vielleicht sagen, er hat ja eben deswegen simuliert, damit man ihn als einen Kranken nicht verdächtigen konnte. Und er hat dem Angeklagten von dem Geld und den Signalen eben deshalb berichtet, damit dieser sich verführen ließ, selbst den Mord auszuführen. Und wenn der dann nach dem Mord weggehen und das Geld mitnehmen und dabei vielleicht Geräusch und Lärm machen und Zeugen aufwecken würde, dann wollte auch Smerdjakow aufstehen und hingehen – nun, zu welchem Zweck wollte er dann hingehen? Doch wohl, um den Herrn zum zweitenmal totzuschlagen und das bereits weggenommene Geld zum zweitenmal wegzunehmen. Meine Herren, Sie lachen? Ich schäme mich selbst, solche Vermutungen aufzustellen; doch ist es gerade dies, was der Angeklagte behauptet: ›Nach mir‹, sagt er, ›als ich Grigori niedergeschlagen und Alarm verursacht und das Grundstück verlassen hatte, ist er aufgestanden und hingegangen und hat den Mord und den Raub verübt!‹ Ich will nicht einmal davon reden, wie Smerdjakow das alles hätte vorherwissen und gleichsam alles im voraus an den Fingern berechnen sollen: daß nämlich der gereizte, unberechenbare Sohn einzig und allein zu dem Zweck kommen würde, um respektvoll durchs Fenster zu sehen, sich trotz der Kenntnis der Signale zurückzuziehen und ihm, Smerdjakow, seine Beute zu überlassen! Meine Herren, ich stelle allen Ernstes die Frage: Wo ist der Augenblick, da Smerdjakow sein Verbrechen begangen hat? Zeigen Sie mir diesen Augenblick; ohne dies fällt die Beschuldigung in sich zusammen. Doch vielleicht war der epileptische Anfall echt? Der Kranke kam plötzlich zu sich, hörte einen Schrei, ging hinaus – nun, und was weiter? Er sah sich um und sagte sich: ›So, jetzt werde ich hingehen und den Herrn totschlagen!‹ Aber woher wußte er, was sich da ereignet hatte, er hatte ja bis dahin bewußtlos dagelegen? Indessen, meine Herren, auch das Phantasieren hat seine Grenze. ›Gut‹, werden scharfsinnige Leute sagen, ›aber wenn sie nun beide zusammen den Mord begingen und das Geld teilten? Was dann?‹ Ja, das ist tatsächlich ein schwerwiegender Verdacht – uns fallen sofort bedeutsame Indizien auf, die ihn bestätigen: Der eine mordet und nimmt alle Mühen auf sich, der andere Helfershelfer aber liegt ruhig im Bett und heuchelt einen epileptischen Anfall, um im voraus bei allen Verdacht zu erwecken und den Herrn und Grigori in Unruhe zu versetzen. Es wäre interessant zu erfahren, aus welchen Motiven sich die beiden so einen verrückten Plan hätten ausdenken können. Doch vielleicht gab es überhaupt keine aktive Beteiligung von seiten Smerdjakows, sondern sozusagen eine passive? Vielleicht hatte der eingeschüchterte Smerdjakow nur eingewilligt, sich dem Mord nicht zu widersetzen, und sich in der Voraussicht, daß man ihn beschuldigen würde, die Ermordung des Herrn zugelassen und sich nicht widersetzt zu haben, von Dmitri Karamasow die Erlaubnis ausbedungen, zu der betreffenden Zeit anscheinend in einem epileptischen Anfall dazuliegen: ›Morde du dann nach Belieben – was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!‹ Aber selbst wenn es sich so verhielte, hätte Dmitri Karamasow auf keinen Fall auf eine solche Bedingung eingehen können, da dieser epileptische Anfall im Hause Unruhe hervorrufen mußte. Ich will jedoch einräumen: Mag er darauf eingegangen sein; dann wäre es allerdings darauf hinausgelaufen, daß Dmitri Karamasow der Mörder und Anstifter war, Smerdjakow dagegen nur ein passiver Teilnehmer, ja eigentlich nicht einmal ein Teilnehmer: Seine Schuld bestände nur darin, aus Furcht und wider seinen Willen das Verbrechen zugelassen zu haben – das Gericht hätte das sicherlich unterscheiden können. Aber was sehen wir? Kaum ist der Angeklagte verhaftet, als er sofort alles auf Smerdjakow abwälzt und diesen allein beschuldigt. Er beschuldigt ihn nicht, gemeinsam mit ihm das Verbrechen begangen zu haben, sondern allein. ›Allein‹, sagt er, ›hat er es getan! Er hat den Mord und den Raub begangen, das ist sein Werk!‹ Nun, was sind das für Spießgesellen, die sich sofort gegenseitig beschuldigen, das gibt es doch gar nicht! Und beachten Sie noch dies: Was wäre das für ein Risiko für Karamasow gewesen! Er wäre der Hauptmörder gewesen, während der andere die Tat nur zugelassen und hinter dem Bretterverschlag gelegen hätte; und dennoch würde er die Schuld auf den anderen schieben. Da könnte doch derjenige, der nur dagelegen hat, ärgerlich werden und nur um der Selbsterhaltung willen schleunigst die reine Wahrheit sagen: ›Wir haben es beide gemeinsam getan! Nur habe ich nicht gemordet, sondern lediglich aus Furcht die Tat geduldet und zugelassen!‹ Smerdjakow hätte ja begreifen können, daß das Gericht sofort den Gradunterschied der Schuld erkennen würde, und hätte darauf rechnen können, daß seine Strafe unvergleichlich viel milder ausfallen würde als die des Hauptmörders, der alles auf ihn abzuwälzen suchte. Also hätte er unwillkürlich ein Geständnis abgelegt. Wir haben aber nicht erlebt, daß das geschehen wäre. Smerdjakow hat kein Wort von einer gemeinsamen Täterschaft gesagt, obwohl der Mörder ihn eindeutig beschuldigt und die ganze Zeit ihn als den einzigen Mörder hingestellt hat. Und noch mehr: Smerdjakow hat vor der Untersuchungsbehörde ausgesagt, daß er selbst dem Angeklagten von dem Kuvert mit dem Geld und von den Signalen erzählt hat und daß dieser ohne ihn nichts davon erfahren hätte. Wäre er nun wirklich ein Mittäter und Mitschuldiger gewesen, hätte er dann so ohne weiteres der Untersuchungsbehörde gesagt, daß er selbst dem Angeklagten alles mitgeteilt hat? Vielmehr hätte er geleugnet und die Tatsachen zu entstellen und abzuschwächen versucht. Aber er hat nichts entstellt und abgeschwächt. So kann nur ein Unschuldiger handeln, der nicht fürchtet, daß er der Mittäterschaft bezichtigt wird. Und nun hat er sich gestern in einem Anfall krankhafter Schwermut infolge seiner Epilepsie und dieser ganzen plötzlich hereingebrochenen Katastrophe erhängt und nur einen Zettel hinterlassen, auf den er in eigenartiger Ausdrucksweise geschrieben hat: ›Ich vernichte mein Leben nach meinem eigenen Willen, um niemanden zu beschuldigen.‹ Was hätte es ihm ausgemacht, auf dem Zettel hinzuzufügen: ›Der Mörder bin ich und nicht Karamasow?‹ Er hat das jedoch nicht hinzugefügt – hat sein Gewissen zu dem einen Schritt ausgereicht, zu dem anderen aber nicht? Und wie steht es mit folgendem: Vorhin hat uns ein Zeuge hier in die Gerichtsverhandlung Geld gebracht, dreitausend Rubel. ›Das Geld aus dem Kuvert‹, sagt er, ›das da auf dem Tisch mit den Beweisstücken liegt. Ich habe es gestern von Smerdjakow erhalten.‹ Aber bitte, meine Herren Geschworenen, erinnern Sie sich selbst an das traurige Bild von vorhin! Ich will Ihnen die Einzelheiten nicht nochmals vorführen, sondern möchte mir nur erlauben, zwei oder drei Erwägungen anzustellen, wobei ich die unbedeutendsten auswähle, gerade weil sie unbedeutend sind und somit nicht jedem in den Sinn kommen und leicht übersehen werden können. Erstens: also aus Gewissensbissen hat Smerdjakow gestern das Geld zurückgegeben und sich selbst erhängt; denn ohne Gewissensbisse hätte er das Geld nicht zurückgegeben. Und natürlich hat er erst gestern abend zum erstenmal Iwan Karamasow sein Verbrechen gestanden, wie das Iwan Karamasow selbst gesagt hat; denn warum hätte dieser sonst bis jetzt geschwiegen? Er hat also gestanden, doch warum hat er, frage ich wieder, auf dem Zettel, den er vor seinem Tod geschrieben hat, uns nicht die volle Wahrheit mitgeteilt, obwohl er doch wußte, daß schon am nächsten Tag die Gerichtsverhandlung gegen den unschuldigen Angeklagten stattfinden würde? Das Geld allein ist ja noch kein Beweis. So ist zum Beispiel mir und noch zwei in diesem Saal anwesenden Personen schon vor einer Woche ganz zufällig bekannt geworden, daß Iwan Fjodorowitsch Karamasow zwei fünfprozentige Staatsschuldscheine zu je fünftausend Rubeln, also im Gesamtbetrag von zehntausend Rubeln, zum Einwechseln in die Gouvernementsstadt geschickt hat. Ich sage das nur, um darauf hinzuweisen, daß alle Leute zu einer bestimmten Zeit im Besitz von Geld sein können und daß, wenn jemand dreitausend Rubel bringt, dadurch noch nicht unbedingt bewiesen ist, daß dieses Geld aus einem bestimmten Schubfach oder Kuvert stammt. Ferner: nachdem Iwan Karamasow gestern eine so wichtige Mitteilung von dem wirklichen Mörder erhalten, hat, verhält er sich vollkommen ruhig. Warum hat er nicht sofort Anzeige erstattet? Warum hat er alles bis zum anderen Morgen verschoben? Ich glaube, daß ich berechtigt bin, eine Vermutung über den Grund auszusprechen. Schon seit einer Woche war seine Gesundheit schwer erschüttert; er selbst hatte dem Arzt und denen, die ihm nahestanden, bekannt, daß er an Visionen litt, daß er Leuten, die schon verstorben waren, begegnete; er stand vor einem Nervenfieber, das heute auch wirklich zum Ausbruch gekommen ist. In diesem Zustand erfuhr er plötzlich von Smerdjakows Ende und stellte bei sich folgende Erwägung an: Der Mensch ist tot, da kann ich gegen ihn aussagen und meinen Bruder retten. Geld habe ich, ich werde ein Päckchen nehmen und sagen, Smerdjakow habe es mir vor seinem Tod gegeben … Sie werden sagen, das sei unehrenhaft, auch einem Toten gegenüber; doch ist es auch dann unehrenhaft, die Unwahrheit zu sagen, wenn es zur Rettung des Bruders geschieht? Nun, soll es unehrenhaft sein; aber wie, wenn er unbewußt die Unwahrheit gesagt hat? Wenn er sich selbst einbildete, daß es so war, weil seine Denkkraft durch die Nachricht von diesem plötzlichen Tod des Dieners endgültig in Unordnung geraten war? Sie haben ja die Szene von vorhin gesehen, Sie haben gesehen, in welchem Zustand sich dieser Mensch befand. Er stand auf seinen Beinen und redete – aber wo war sein Verstand? Auf diese Aussage des Fieberkranken von vorhin folgte ein Schriftstück, ein Brief des Angeklagten an Fräulein Werchowzewa, den er zwei Tage vor dem Verbrechen geschrieben hat und worin er im voraus ein Programm des Verbrechens mit allen Einzelheiten entwirft. Nun, warum suchen wir da noch ein anderes Programm und andere Verfasser eines solchen? Ganz genau nach diesem Programm ist das Verbrechen begangen worden! Begangen von keinem anderen als dem Verfasser des Programms! Ja meine Herren Geschworenen, es ist so ausgeführt worden, wie es geschrieben stand! Und wir sind überhaupt nicht respektvoll und ängstlich vom Fenster des Vaters fortgelaufen, trotz der festen Überzeugung, daß in jenem Augenblick unsere Geliebte bei ihm war. Nein, das ist absurd und unglaublich. Er ist hineingegangen und hat die Sache zu Ende gebracht. Wahrscheinlich hat er den Totschlag in der Erregung begangen, vor Wut glühend, sobald er seinen Feind und Nebenbuhler erblickte; doch nachdem er ihn totgeschlagen hatte – was er vielleicht mit einem einzigen Schlag, mit einem einzigen Ausholen seines mit dem Messingstößel bewaffneten Arms vollbrachte – und nachdem er sich dann durch eingehende Untersuchung überzeugt hatte, daß sie nicht da war, da hat er allerdings nicht vergessen, die Hand unter das Kopfkissen zu schieben und das Kuvert mit den Banknoten hervorzuholen, das jetzt hier zerrissen auf dem Tisch mit den Beweisstücken liegt. Ich sage das, damit Sie auf einen meiner Ansicht nach sehr charakteristischen Umstand achten. Wäre es ein routinierter Mörder gewesen und besonders ein Mörder, mit der Absicht zu rauben, hätte er dann wohl das zerrissene Kuvert auf dem Fußboden liegenlassen, so wie wir es neben der Leiche gefunden haben? Wäre es zum Beispiel Smerdjakow gewesen, der den Mord um des Raubes willen begangen hätte, so hätte er doch einfach das Kuvert mitgenommen, ohne sich die Mühe zu machen, es neben der Leiche zu öffnen, da er genau wußte, daß in dem Kuvert Geld war: Es war ja vor seinen eigenen Augen hineingetan und versiegelt worden. Hätte er jedoch das Kuvert ganz mitgenommen, so hätte kein Mensch gewußt, ob ein Raub stattgefunden hatte. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, wäre Smerdjakow wohl so verfahren? Hätte er das Kuvert auf dem Fußboden liegenlassen? Nein, so mußte ein Mörder verfahren, der außer sich war und nicht richtig zu überlegen vermochte, ein Mörder, der kein Dieb war und bisher noch nie etwas gestohlen hatte und auch jetzt nicht wie ein Dieb das Geld unter dem Kopfkissen hervorholte, sondern so, als nähme er sein Eigentum dem Dieb, der es ihm gestohlen hat, wieder weg. Gerade das war ja Dmitri Karamasows Auffassung von diesen dreitausend Rubeln, eine Auffassung, die bei ihm zur Manie geworden war. Und nachdem er sich des Kuverts bemächtigt hat, das er vorher nie gesehen hatte, reißt er es auf, um sich zu überzeugen, ob auch das Geld darin ist; dann läuft er mit dem Geld in der Tasche davon, ohne auch nur daran zu denken, daß er mit dem zerrissenen Kuvert ein außerordentlich starkes Beweisstück gegen sich auf dem Fußboden zurückläßt. Alles deswegen, weil es eben Karamasow war und nicht Smerdjakow, weil er nicht überlegte – und wie hätte er das auch gekonnt! Er läuft davon, er hört das Geschrei des Dieners, der Diener faßt ihn, hält ihn fest und stürzt, von dem Stößel getroffen, zu Boden. Der Angeklagte springt aus Mitleid zu ihm hinunter. Stellen Sie sich das vor: Er versichert uns auf einmal, er sei damals aus Bedauern, aus Mitleid hinuntergesprungen, um zu sehen, ob er ihm nicht irgendwie helfen konnte. Nun, war dieser Augenblick etwa dazu angetan, ein derartiges Mitleid zum Ausdruck zu bringen? Nein, er sprang vielmehr hinunter, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Untat noch am Leben war. Jedes andere Gefühl, jedes andere Motiv wäre unnatürlich gewesen! Beachten Sie auch dies: Er müht sich um Grigori ab, wischt ihm mit dem Taschentuch das Blut vom Kopf, und als er sicher zu sein glaubt, daß der andere tot ist, läuft er wie ein Unsinniger ganz blutbeschmiert wieder in das Haus seiner Geliebten – wie konnte er nicht daran denken, daß er ganz voll Blut war und ihn das sofort verraten mußte? Doch der Angeklagte versichert uns selbst, er habe gar nicht darauf geachtet, daß er voll Blut war. Das kann man ihm glauben, das ist sehr wohl möglich, das ist in solchen Momenten bei Verbrechern oft der Fall. Einerseits sind sie fähig zu einer teuflisch schlauen Berechnung, andererseits jedoch reicht ihre Denkkraft nicht aus. Aber er dachte in diesem Augenblick nur daran, wo sie war. Er wollte so schnell wie möglich erfahren, wo sie war, und so eilte er in ihre Wohnung und hörte die unerwartete, schreckliche Nachricht, daß sie mit ihrem ›Früheren‹ nach Mokroje gefahren sei.«

9. Psychologie auf Hochtouren. Die dahinjagende Troika. Schluß der Rede des Staatsanwalts

Als Ippolit Kirillowitsch bis zu diesem Punkt seiner Rede gelangt war (er hatte offenbar eine streng historische Methode der Darstellung gewählt, eine Methode, zu welcher alle nervösen Redner mit besonderer Vorliebe Zuflucht nehmen, indem sie absichtlich einen strengen Rahmen suchen, um ihren eigenen ungeduldigen Eifer zu hemmen), da verbreitete er sich besonders über den ›Früheren‹ und trug zu diesem Thema einige in ihrer Art interessante Gedanken vor. Karamasow, bisher auf alle eifersüchtig bis zur Raserei, falle auf einmal gleichsam zusammen und verschwinde vor dem ›Früheren‹. Und dies sei um so seltsamer, da er früher diese neue Gefahr in der Person des unerwarteten Nebenbuhlers fast gar nicht beachtet habe. Aber er habe wohl immer die Vorstellung gehabt, das sei noch in weiter Ferne; ein Karamasow lebe jedoch immer nur im gegenwärtigen Augenblick. Wahrscheinlich habe er den anderen sogar für eine Fiktion gehalten. Doch nachdem er dann urplötzlich begriffen habe, daß diese Frau ihm den neuen Nebenbuhler vielleicht gerade darum verheimlichte, weil er für sie ganz und gar keine Phantasie und Fiktion, sondern ihre ganze Lebenshoffnung bildete – nachdem er das begriffen habe, habe er sich dreingefunden. »Nun, meine Herren Geschworenen, ich kann diesen in der Seele des Angeklagten plötzlich hervorgetretenen Zug nicht mit Stillschweigen übergehen. Es könnte scheinen, der Angeklagte sei zu einem solchen Verhalten schlechterdings nicht fähig gewesen; aber es zeigte sich bei ihm auf einmal ein unwiderstehliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit, ein Drang, dieses weibliche Wesen zu achten, die Rechte ihres Herzens zu respektieren, und zwar gerade in dem Augenblick, als er sich um ihretwillen die Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hatte! Allerdings schrie auch das vergossene Blut schon zu diesem Zeitpunkt nach Rache; denn nachdem er seine Seele und sein ganzes irdisches Schicksal zerstört hatte, mußte er das in jenem Augenblick unwillkürlich fühlen und sich fragen, was er jetzt noch für sie bedeuten konnte, für dieses Wesen, das er mehr als seine Seele liebte – er neben diesem ›Früheren‹, der reuig zu der einst von ihm zugrunde gerichteten Frau mit neuer Liebe, mit ehrenhaften Anträgen und mit dem Gelöbnis eines neuen, glücklichen Lebens zurückkehrte. Was konnte er, der Unglückliche, ihr jetzt geben, was konnte er ihr bieten? Karamasow begriff das alles; er begriff, daß ihm sein Verbrechen alle Wege verschloß, daß er nur ein zum Tod verurteilter Verbrecher war – kein Mensch, dem weiterzuleben vergönnt war! Dieser Gedanke drückte ihn nieder und vernichtete ihn. Und so faßte er augenblicklich einen verzweifelten Plan, der ihm bei seinem Charakter als der einzige, vom Schicksal gewiesene Ausweg aus seiner furchtbaren Lage erscheinen mußte. Dieser Ausweg war der Selbstmord. Er läuft seine Pistole holen, die er bei dem Beamten Perchotin versetzt hat; er nimmt unterwegs im Laufen aus der Tasche das Geld, um dessentwillen er soeben seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hat. Oh, Geld braucht er jetzt ganz besonders nötig: Karamasow wird sterben, Karamasow wird sich erschießen – doch an die Art, wie er das getan hat, wird man lange denken! Nicht umsonst sind wir ein Dichter, nicht umsonst haben wir unser Leben aufgebraucht wie eine an beiden Enden angezündete Kerze. ›Zu ihr, zu ihr! Dort werde ich ein Gelage für die ganze Welt veranstalten, ein Gelage, wie es noch nicht dagewesen ist, damit die Menschen sich lange daran erinnern und davon erzählen. Inmitten des Geschreis, der wilden Lieder und Tänze der Zigeuner werde ich den Becher erheben, der vergötterten Frau zu ihrem neuen Glück gratulieren und mir dann gleich dort zu ihren Füßen und vor ihren Augen den Schädel zerschmettern!‹ Sie wird sich später manchmal an Mitja Karamasow erinnern, wird verstehen, wie heiß Mitja sie geliebt hat, und sie wird Mitja bedauern! Ja, hier ist viel Hang zur großartigen Pose mit im Spiel, viel romantische Schwärmerei, viel echt Karamasowsche Zügellosigkeit und Sentimentalität – nun, und noch etwas anderes, meine Herren Geschworenen, etwas, das da unermüdlich in der Seele schreit, im Verstand pocht und das Herz vergiftet. Dieses Etwas ist das Gewissen, meine Herren Geschworenen, das Gewissen, das ihn unerbittlich richtet und entsetzlich quält. Aber die Pistole wird alles zur Ruhe bringen, die Pistole ist die einzige Rettung, eine andere gibt es nicht. Dort im Jenseits jedoch … Ich weiß nicht, ob Karamasow in jenem Augenblick daran gedacht hat, was im Jenseits sein wird, ob Karamasow überhaupt imstande ist, daran zu denken, wie es Hamlet tut. Nein, meine Herren Geschworenen, woanders gibt es Hamlets, doch bei uns vorläufig nur Karamasows!«

Nun entrollte Ippolit Kirillowitsch ein Bild von Mitjas Vorbereitungen mit allen Einzelheiten: die Szenen bei Perchotin, im Laden, mit dem Kutscher. Er führte eine Menge von Worten, Aussprüchen und Gesten an, die sämtlich durch Zeugen bestätigt waren – und das Bild übte eine gewaltige Wirkung auf die Zuhörer aus. Vor allem beeindruckte dabei das Zusammentreffen der Tatsachen. Die Schuld dieses bis zum Wahnsinn erregten und sich nicht mehr beherrschenden Menschen trat unwiderleglich zutage.

»Es lag ihm nichts mehr daran, sich in acht zu nehmen«, sagte Ippolit Kirillowitsch. »Zwei- oder dreimal war er schon nahe daran, ein volles Geständnis abzulegen; er machte Andeutungen und sprach nur nicht ganz zu Ende …« Hier folgten die Aussagen von Zeugen. »Selbst dem Kutscher rief er unterwegs zu: ›Weißt du, daß du einen Mörder fährst?‹ Aber zu Ende zu sprechen war ihm doch nicht möglich: Er mußte erst noch in das Dorf Mokroje gelangen und dort eine poetische Szene veranstalten. Doch was erwartete ihn dort? Die Sache war nämlich die, daß er in Mokroje gleich von Anfang an begriff, daß sein ›privilegierter‹ Nebenbuhler offenbar überhaupt nicht mehr so privilegiert war und daß seine Geliebte von ihm gar keine Gratulation zu dem neuen Glück wünschte. Aber Sie kennen die Tatsachen schon aus der gerichtlichen Untersuchung, meine Herren Geschworenen. Karamasows Triumph über den Nebenbuhler war unbestritten, und nun – oh, nun begann in seiner Seele schon eine neue Phase, sogar die schrecklichste Phase, die diese Seele jemals erlebt hatte und noch erleben wird! Man kann es mit aller Bestimmtheit aussprechen, meine Herren Geschworenen, daß sich die beschimpfte Natur und das verbrecherische Herz stärker gerächt haben, als es jedes irdische Gericht vermocht hätte! Ja noch mehr: Das Gericht und die irdische Strafe erleichtern sogar die von der Natur vollzogene Strafe; sie sind der Seele des Verbrechers in diesen Augenblicken geradezu unentbehrlich, weil sie sie vor der Verzweiflung retten. Ich bin nicht imstande, mir das Entsetzen und die seelischen Leiden Karamasows vorzustellen, als er erfuhr, daß sie ihn liebt, daß sie um seinetwillen ihren ›Früheren‹ zurückweist, daß sie mit ihm, Mitja, ein neues Leben führen will und das, als für ihn schon alles zu Ende ist. Bei dieser Gelegenheit möchte ich eine für uns sehr wichtige Bemerkung machen, um die damalige Lage des Angeklagten ins rechte Licht zu rücken: Diese Frau, die er bis zum letzten Augenblick, bis zu dem Moment seiner Verhaftung liebte, war für ihn ein unerreichbares Wesen, ein leidenschaftlich begehrtes, aber unerreichbares Wesen. Doch warum erschoß er sich nicht gleich damals, warum nahm er von dem bereits gefaßten Entschluß Abstand und vergaß sogar, wo seine Pistole lag? Die leidenschaftliche Gier nach Liebe und die Hoffnung, sie gleich dort zu stillen, waren es, die ihn zurückhielten. In dem wüsten Treiben des Gelages hing er an seiner Geliebten, die mit ihm zusammen das Fest genoß und für ihn reizender und verführerischer war als je zuvor; er weicht nicht von ihrer Seite, er kann sich an ihr nicht satt sehen, er vergeht vor Entzücken über sie. Diese leidenschaftliche Gier konnte für einen Moment sogar die Furcht vor der Verhaftung und auch die Gewissensbisse übertäuben! Für einen Moment, oh, nur für einen Moment! Ich stelle mir vor, daß sich die Seele des Verbrechers damals in einer eindeutigen sklavischen Abhängigkeit von drei Elementen befand. Da war, erstens die Trunkenheit, der Dunst und der Lärm, das Gestampfe des Tanzes, das Gekreisch der Lieder – und sie, vom Wein erhitzt, singend und tanzend und ihn anlächelnd! Zweitens die Ermutigung durch den Gedanken, daß die verhängnisvolle Lösung noch fern oder doch wenigstens nicht nahe war, daß man frühestens am Morgen des folgenden Tages kommen und ihn festnehmen würde. Folglich hatte er noch mehrere Stunden vor sich: das ist viel, sehr viel! Man kann sich vieles ausdenken, wenn man mehrere Stunden zur Verfügung hat. Ich stelle mir vor, daß er ähnlich empfand wie ein Verbrecher, der zum Galgen gefahren wird: Es muß noch eine lange, lange Straße durchfahren werden; und noch dazu im Schritt, an einer tausendköpfigen Volksmenge vorbei, dann wird der Zug in eine andere Straße einbiegen, und erst am Ende dieser anderen Straße liegt der furchtbare Platz! Ich glaube, zu Beginn der Fahrt muß der Verurteilte das Gefühl haben, noch liege ein endloses Leben vor ihm. Aber siehe da, die Häuser weichen zurück, der Wagen bewegt sich immer weiter vorwärts – oh, das tut nichts, bis zum Einbiegen in die zweite Straße ist es noch so weit, also blickt er immer noch mutig nach rechts und links und in diese tausendköpfige Menge teilnahmslos neugieriger Menschen, die ihre Blicke auf ihn heften, und immer noch will ihm scheinen, er sei kein anderer Mensch als sie. Aber da ist schon die Ecke, die Stelle, wo in die nächste Straße eingebogen wird – oh, das tut auch nichts, es ist ja noch eine ganze Straße! Und wie viele Häuser auch hinter ihm zurückweichen, er wird immer denken: Es sind noch viele Häuser übrig! Und so bis zum Ende, bis zum Platz selbst. So, stelle ich mir vor, war es damals auch mit Karamasow. ›Sie haben noch nicht genug Zeit gehabt, die Verfolgung einzuleiten!‹ denkt er. Ich kann mir noch irgend etwas einfallen lassen. Ich habe noch Zeit, einen Verteidigungsplan zu entwerfen, mir eine Abwehr zurechtzulegen. Und jetzt … Ach, sie ist so reizend!‹ Trüb sieht es in seiner Seele aus, aber er bringt es doch fertig, von seinem Geld die Hälfte abzuteilen und irgendwo zu verstecken – sonst kann ich mir nicht erklären, wo die eine Hälfte der dreitausend Rubel, die er kurz vorher bei seinem Vater unter dem Kopfkissen hervorgeholt hatte, geblieben sein könnte. Er war nicht zum erstenmal in Mokroje; er hatte dort schon früher einmal zwei Tage lang geschlemmt. Das große alte Holzhaus war ihm mit all seinen Vorratsräumen und Galerien bekannt. Ich nehme an, daß er einen Teil des Geldes kurz vor seiner Festnahme dort versteckt hat, jawohl, in diesem Haus, in irgendeiner Ritze, unter einer Diele, irgendwo in einem Winkel, unter dem Dach. Wozu? Diese Frage ist leicht zu beantworten. Die Katastrophe kann im nächsten Augenblick hereinbrechen; zwar haben wir noch nicht überlegt, wie wir ihr entgegentreten können, und wir haben auch noch keine Zeit dazu gehabt, und es hämmert uns im Kopf, und es zieht uns zu ihr, doch das Geld – Geld ist in jeder Lebenslage unentbehrlich! Ein Mensch, der Geld hat, ist überall ein Mensch. Vielleicht scheint Ihnen eine solche Fähigkeit zum Überlegen in so einem Moment unnatürlich? Aber er versichert uns ja selbst, er habe schon einen Monat vorher in einem gleichfalls sehr aufregenden, verhängnisvollen Augenblick die eine Hälfte von dreitausend Rubeln abgeteilt und in ein Säckchen eingenäht. Und wenn das auch unwahr ist, wie wir sogleich zeigen werden, so war ihm doch dieser Gedanke offenbar nicht fremd: Er hatte ihn schon erwogen. Ja noch mehr. Als er später dem Untersuchungsrichter versicherte, er habe fünfzehnhundert Rubel in ein Säckchen getan, welches nie existiert hat, da hat er sich dieses Säckchen vielleicht gerade deshalb ausgedacht, weil er zwei Stunden vorher in einer jähen Eingebung die Hälfte des Geldes abgeteilt und in Mokroje für jeden Fall bis zum Morgen versteckt hatte, um sie nicht an seinem Körper aufzubewahren. Zwei Unendlichkeiten gibt es, die eine hoch oben, die andere tief unten: Sie erinnern sich, meine Herren Geschworenen, daß Karamasow beide Unendlichkeiten zu schauen vermag, und beide zugleich! Wir haben in diesem Haus gesucht, aber nichts gefunden. Vielleicht ist das Geld auch jetzt noch dort; vielleicht ist es aber auch am nächsten Tag verschwunden und jetzt im Besitz des Angeklagten. Jedenfalls wurde er neben ihr verhaftet, vor ihr knieend. Sie lag auf dem Bett; er streckte die Arme nach ihr aus und hatte alles völlig vergessen, daß er niemanden kommen hörte, nicht einmal jene, die ihn verhaften kamen. Er hatte noch keine Zeit gehabt, eine Antwort in seinem Kopf vorzubereiten. Er und sein Verstand waren überrumpelt worden … Und da sitzt er nun vor seinen Richtern, die über sein Schicksal zu entscheiden haben. Meine Herren Geschworenen, es gibt Augenblicke, wo selbst wir bei der Erfüllung unserer Amtspflicht von Grauen und Mitleid mit dem Verbrecher gepackt werden! Das geschieht angesichts des tierischen Entsetzens, wenn der Verbrecher bereits merkt, daß alles verloren ist, aber trotzdem noch mit uns zu kämpfen beabsichtigt. Das geschieht, wenn sich bei ihm alle Instinkte der Selbsterhaltung zugleich regen und er, um seine Rettung besorgt, uns mit durchdringendem Blick fragend und leidvoll ansieht, wenn er uns und unser Gesicht belauert und unsere Gedanken zu erraten sucht, wenn er wartet, von welcher Seite wir den Schlag gegen ihn führen werden, und in seinem schwer erschütterten Geist sofort tausend Pläne entwirft und dennoch Angst hat zu reden, weil er fürchtet, unversehens ein Wort zuviel zu sagen! Das sind erniedrigende Augenblicke für eine Menschenseele, das ist ihr Leidensweg, das ist das tierische Verlangen, sich zu retten – diese Augenblicke sind entsetzlich und rufen bisweilen sogar bei den Beamten, die die Untersuchung führen, ein aufrichtiges Mitleid mit dem Verbrecher hervor. Und alles das haben wir damals mitangesehen. Anfangs war er wie betäubt, und vor Schrecken entfuhren ihm einige Worte, die ihn stark kompromittierten: ›Blut! Ich habe es verdient!‹ Aber er gewann bald die Herrschaft über sich zurück. Was er sagen und antworten sollte, hatte er vorläufig noch nicht parat; parat hatte er nur ein glattes Leugnen: ›Am Tode meines Vaters bin ich unschuldig!‹ Er dachte wohl: ›Das ist vorläufig mein Zaun; und hinter dem Zaun werde ich vielleicht noch etwas aufrichten, irgendeine Barrikade …‹ Er beeilt sich, unseren Fragen zuvorkommend, seine ersten kompromittierenden Ausrufe so zu deuten, als meinte er nur, an der Tötung des Dieners Grigori schuld zu sein: ›An diesem Blut trage ich die Schuld. Aber wer hat meinen Vater ermordet, meine Herren, wer hat ihn ermordet? Wer anders konnte ihn ermorden als ich?‹ Beachten Sie das: Er fragt uns, uns, die wir mit dieser Frage zu ihm gekommen sind! Beachten Sie diese vorauseilenden Worte: ›Wer anders als ich?‹ Diese tierische Schlauheit, diese Naivität und Karamasowsche Ungeduld! ›Nicht ich habe den Mord begangen! Untersteht euch nicht zu denken, daß ich es war!‹ sagt er gewissermaßen. ›Ich wollte ihn töten, meine Herren, ich wollte ihn töten‹, bekennt er schleunigst. ›Trotzdem bin ich unschuldig, ich habe ihn nicht getötet!‹ Er gibt zu, daß er ihn hatte töten wollen – das soll heißen: ›Seht, wie aufrichtig ich bin! Da müßt ihr doch um so eher glauben, daß ich ihn nicht getötet habe?‹ Oh, in solchen Fällen wird ein Verbrecher manchmal unglaublich leichtsinnig. Und da stellte ihm einer der verhörenden Beamten, wohl ganz zufällig, auf einmal die höchst harmlose Frage: ›Hat vielleicht Smerdjakow den Mord begangen?‹ Und es geschah, was wir erwartet hatten: Er wurde furchtbar wütend, daß wir ihm zuvorgekommen waren und ihn überrascht hatten, bevor er sich hatte vorbereiten und den richtigen Augenblick herausfinden können, wo es am natürlichsten gewirkt hätte, Smerdjakow ins Spiel zu bringen. Seinem Charakter gemäß stürzte er sich sofort ins entgegengesetzte Extrem und suchte uns von sich aus nach Kräften zu überzeugen, daß Smerdjakow den Mord nicht begangen haben konnte und nicht fähig war, einen Mord zu begehen. Doch wir trauten ihm nicht, sondern sagten uns, das ist nur Schlauheit von seiner Seite; er verzichtet durchaus noch nicht darauf, Smerdjakow ins Spiel zu bringen, im Gegenteil, er wird ihn schon noch hervorholen: Wen sollte er sonst als den Schuldigen hinstellen? Er wird es zu einem anderen Zeitpunkt tun, denn jetzt ist diese Sache einstweilen verdorben. Er wird ihn vielleicht erst morgen hervorholen oder gar erst nach einigen Tagen, wenn er einen geeigneten Moment gefunden hat, um uns zuzurufen: ›Sehen Sie, ich selber bestritt Smerdjakows Schuld mehr als Sie, sicher werden Sie sich daran erinnern? Jetzt aber bin ich zu der Überzeugung gelangt: Er hat den Mord begangen – anders ist es nicht möglich!‹ Einstweilen aber verlegte er sich uns gegenüber auf ein finsteres, gereiztes Leugnen; seine Ungeduld und sein Zorn ließen ihn jedoch die ungeschickteste und unwahrscheinlichste Erklärung vorbringen, daß er bei seinem Vater ins Fenster hineingesehen habe und respektvoll vom Fenster weggegangen sei. Die Hauptsache war, er kannte die näheren Umstände noch nicht und wußte nicht, wie belastend für ihn die Aussagen des wieder zur Besinnung gelangten Grigori waren. Wir schritten zur Leibesvisitation. Die Visitation brachte ihn furchtbar auf, ermutigte ihn aber auch wieder: Es wurden nicht die ganzen dreitausend Rubel gefunden, sondern nur die Hälfte. Und nun, erst in diesem Stadium des zornigen Schweigens und Leugnens, schoß ihm zum erstenmal der Gedanke von dem Säckchen durch den Kopf. Ohne Zweifel fühlte er selbst die ganze Unglaubhaftigkeit dieser Erfindung und quälte sich furchtbar in dem Bestreben, sie glaubhafter zu machen, sie so zurechtzubasteln, daß ein wahrscheinlich klingender Roman herauskam. In solchen Fällen ist es die erste Pflicht und die wichtigste Aufgabe des Verhörenden, dem Verbrecher keine Zeit zur Vorbereitung zu lassen, ihn unerwartet zu überfallen, damit er seine geheimen Verteidigungspläne in aller verräterischen Offenherzigkeit mit all ihren Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchen ausspricht. Zum Sprechen kann man einen Verbrecher aber nur dadurch bringen, daß man ihm plötzlich und wie zufällig irgendeine neue Tatsache mitteilt, irgendeinen bedeutsamen Umstand, den er bisher nicht geahnt hat und in keiner Weise hat wissen können. Eine solche Tatsache hatten wir schon lange in Bereitschaft. Es war die Aussage des Dieners Grigori über die offenstehende Tür, aus der der Angeklagte herausgelaufen war. Diese Tür hatte er ganz vergessen, und der Gedanke, daß Grigori sie gesehen haben könnte, war ihm überhaupt nicht gekommen. Die Wirkung war kolossal. Er sprang auf und schrie: ›Dann hat Smerdjakow den Mord begangen! Smerdjakow ist es gewesen!‹ Und so verriet er seinen wichtigsten geheimen Verteidigungsplan in der unglaubhaftesten Form: Smerdjakow konnte den Mord nämlich erst begangen haben, nachdem der Angeklagte den Diener Grigori niedergeschlagen hatte und davongelaufen war. Als wir ihm nun mitteilten, daß Grigori die Tür schon vor dem Schlag offen gesehen und beim Verlassen seines Schlafzimmers gehört hatte, wie Smerdjakow hinter dem Bretterverschlag stöhnte, da war Karamasow wahrhaft niedergeschmettert. Mein Kollege, unser verehrter scharfsinniger Nikolai Parfjonowitsch, hat mir hinterher gesagt, der Angeklagte habe ihm in diesem Moment so leid getan, daß er hätte weinen mögen … In diesem Augenblick faßte er, um seine Sache wieder zu verbessern, schnell den Entschluß, uns von diesem hochberühmten Säckchen zu erzählen. ›Sei es drum!‹ sagt er gewissermaßen. Hören Sie also dieses Geschichtchen! Meine Herren Geschworenen, ich habe Ihnen bereits meine Gedanken darüber dargelegt, warum ich die Geschichte von dem Geld, das einen Monat vorher in ein Säckchen eingenäht worden sein soll, nicht nur für eine Torheit, sondern auch für die unwahrscheinlichste Erfindung halte, auf die man unter den vorliegenden Umständen nur verfallen konnte. Ja, wenn es sich bei einer Wette darum handeln würde, das Unwahrscheinlichste zu finden, was sich hier sagen und vorbringen ließe, würde man sich nichts Tolleres ausdenken können. In so einem Fall kann man den triumphierenden Erfinder vor allem durch Einzelheiten konfus machen, durch jene Einzelheiten, an denen die Wirklichkeit so reich ist, die jedoch von diesen unglücklichen, unfreiwilligen Autoren stets vernachlässigt werden, als wären es ganz unbedeutende, nutzlose Kleinigkeiten. Oh, darum ist ihnen in dem Augenblick nicht zu tun, ihr Geist schafft nur ein großartiges Ganzes – und da wagt man, ihnen mit solchen Kleinigkeiten zu kommen! Aber gerade, dadurch werden sie gefangen! Dem Angeklagten wurde die Frage vorgelegt: ›Nun, wo haben Sie denn das Material für Ihr Säckchen her, und wer hat es Ihnen genäht?‹ – ›Ich habe es selbst genäht.‹ – ›Wo haben Sie die Leinwand hergenommen?‹ Der Angeklagte fühlte sich dadurch schon beleidigt; er hielt das für beleidigende Kleinigkeitskrämerei, und er meinte das wirklich so, wirklich! Doch so machen sie es alle … ›Ich habe einen Fetzen von einem meiner Hemden abgerissen.‹ – ›Sehr wohl, dann werden wir morgen in Ihrer Wäsche dieses beschädigte Hemd ausfindig machen.‹ Und sagen Sie selbst, meine Herren Geschworenen: Wenn wir dieses Hemd wirklich gefunden hätten – und wie hätten wir es nicht in seinem Koffer oder in seiner Kommode finden sollen, wenn ein solches Hemd tatsächlich existiert hätte? –, so wäre das doch wenigstens eine greifbare Tatsache zu seinem Gunsten gewesen! Doch das vermochte er nicht zu überlegen. ›Ich erinnere mich nicht. Vielleicht war es auch nicht von einem Hemd? Ja, ich habe das Geld in eine Haube meiner Wirtin eingenäht.‹ – ›In was für eine Haube?‹ – ›Ich nahm sie ihr weg, sie lag bei ihr herum, es war ein altes, wertloses Ding aus Kaliko.‹ – ›Und Sie erinnern sich daran mit Bestimmtheit?‹ – ›Nein, mit Bestimmtheit nicht …‹ Er wurde böse, ernstlich böse; aber bedenken Sie bitte: Wie hätte er sich daran nicht erinnern sollen? In den furchtbarsten Augenblicken des Lebens, zum Beispiel wenn jemand zur Hinrichtung gefahren wird, bleiben gerade die Kleinigkeiten im Gedächtnis haften. Er wird alles vergessen, aber an ein grünes Dach, das ihm unterwegs aufgefallen ist, oder an eine Dohle auf einem Kreuz – daran wird er sich erinnern … Er hat sich, als er sein Säckchen nähte, vor seinen Hausleuten versteckt: Also mußte er sich erinnern, wie demütigend er mit der Nadel in der Hand unter der Furcht litt, es könnte jemand hereinkommen und ihn überraschen, wie er beim ersten Klopfen aufsprang und hinter den Bretterverschlag lief! Aber, meine Herren Geschworenen, wozu teile ich Ihnen das alles, alle diese Einzelheiten und Kleinigkeiten, mit? Weil der Angeklagte bis zu diesem Augenblick hartnäckig bei dieser Torheit bleibt! In diesen ganzen zwei Monaten seit jener verhängnisvollen Nacht hat er nichts erklärt und keinen einzigen erklärenden realen Umstand zu seinen früheren phantastischen Aussagen hinzugefügt. ›Das sind alles Kleinigkeiten, aber glauben Sie mir auf mein Ehrenwort!‹ sagt er. Oh, wir glauben mit Freuden, wir dürsten danach zu glauben, und sei es sogar auf sein Ehrenwort! Sind wir etwa Schakale, die nach Menschenblut dürsten? Bitte, man zeige uns auch nur eine einzige Tatsache zugunsten des Angeklagten, und wir werden uns freuen! Aber es muß eine greifbare, reale Tatsache sein – und kein Schluß, den der Bruder des Angeklagten aus dessen Gesichtsausdruck zieht, oder der vage Hinweis, er habe wohl sicher auf das Säckchen gedeutet, als er sich an die Brust schlug, und das noch dazu in der Dunkelheit! Wir werden uns über eine neue Tatsache freuen, wir werden als erste auf unsere Beschuldigung verzichten, wir werden uns beeilen, sie fallenzulassen. Jetzt aber schreit die Gerechtigkeit, und wir bestehen auf unserer Anklage – es ist uns nicht möglich, etwas zurückzunehmen!« Ippolit Kirillowitsch kam nun zum Schluß seiner Rede. Er war wie im Fieber; er schrie nach Sühne des Vaterblutes, das der Sohn »mit der niedrigen Absicht zu rauben« vergossen habe. Er wies mit allem Nachdruck auf das tragische, zum Himmel schreiende Zusammentreffen der Tatsache hin. »Und was Sie auch von dem durch sein Talent berühmten Verteidiger des Angeklagten hören mögen«, konnte sich Ippolit Kirillowitsch nicht enthalten zu bemerken, »was auch für beredte, rührende, an Ihr empfindsames Gemüt appellierende Worte ertönen mögen – denken Sie immer daran, daß Sie sich in diesem Augenblick im Heiligtum unserer Rechtsprechung befinden! Denken Sie daran, daß Sie die Verteidiger unserer Gerechtigkeit sind, die Verteidiger unseres heiligen Rußlands, seiner Grundlagen, seiner Familie und alles Heiligen in ihm! Ja, Sie sind jetzt die Repräsentanten Rußlands, und Ihr Urteilsspruch wird nicht nur in diesem Saal erschallen, sondern in ganz Rußland! Und ganz Rußland wird auf Sie als auf seine Verteidiger und Richter hören und wird durch Ihren Spruch ermutigt oder niedergedrückt werden. Bereiten Sie dem erwartungsvoll gespannten Rußland keine schmerzliche Enttäuschung. Unsere verhängnisvolle Troika jagt Hals über Kopf dahin, vielleicht ins Verderben. Und schon lange strecken die Einsichtigen in ganz Rußland die Arme aus und rufen, man möge mit diesem rasenden, unerbittlichen Dahinjagen aufhören. Und wenn die anderen Völker vor der wild dahinstürmenden Troika bis jetzt noch zur Seite treten, so vielleicht gar nicht aus Achtung vor ihr, wie der Dichter meinte, sondern einfach aus Entsetzen, möglicherweise auch aus Abscheu. Aber es ist ja noch gut, daß sie überhaupt zur Seite treten; vielleicht werden sie sich einmal wie eine feste Wand dem einherstürmenden Gespenst entgegenstellen und selbst unserem unsinnigen, zügellosen Dahinjagen Halt gebieten, um sich und ihre Bildung und ihre Zivilisation zu retten! Solche Alarmrufe aus Westeuropa haben wir bereits gehört. Sie ertönen schon. Reizen Sie die anderen Völker nicht! Steigern Sie nicht ihren wachsenden Haß durch einen Urteilsspruch, der die Ermordung eines Vaters durch den eigenen Sohn rechtfertigt!«

Kurz, wenn sich Ippolit Kirillowitsch auch hatte hinreißen lassen, so schloß er doch pathetisch, und der Eindruck, den er

hervorbrachte, war tatsächlich außerordentlich groß. Er selbst ging nach seiner Rede eilig hinaus und fiel in einem anderen Zimmer beinahe in Ohnmacht. Der Saal applaudierte nicht, doch die Ernsteren unter den Zuhörern waren zufrieden. Nicht so zufrieden waren die Damen, allerdings hatte auch ihnen seine schöne Beredsamkeit gefallen, zumal sie sich um die Folgen keinerlei Sorgen machten und alles von Fetjukowitsch erwarteten: »Nun wird der endlich das Wort ergreifen und natürlich über alle den Sieg davontragen!« Alle blickten Mitja an; während der ganzen Rede des Staatsanwaltes hatte er schweigend dagesessen, mit zusammengedrückten Händen, aufeinandergepreßten Zähnen und gesenktem Kopf. Nur manchmal hatte er den Kopf gehoben und zugehört, besonders als der Redner auf Gruschenka zu sprechen kam. Als Rakitins Ansicht über Gruschenka vorgetragen wurde, zeigte sich auf Mitjas Gesicht ein verächtliches, wütendes Lächeln, und er sagte ziemlich laut: »Diese Bernards!« Als dann Ippolit Kirillowitsch erzählte, wie er ihn in Mokroje verhört und gepeinigt hatte; hob Mitja den Kopf und hörte mit großem Interesse zu. An einer Stelle der Rede schien es, als wollte er sogar aufspringen und etwas rufen, doch er beherrschte sich und zuckte nur geringschätzig die Achseln. Über den letzten Teil der Rede, nämlich über das angeblich so kluge Verfahren des Staatsanwalts bei dem Verhör in Mokroje, wurde später bei uns viel geredet, und man machte sich über Ippolit Kirillowitsch lustig. »Dieser Mensch konnte es doch nicht unterlassen«, sagte man, »seine Fähigkeiten zu rühmen.« Die Sitzung wurde unterbrochen, aber nur für kurze Zeit, für eine Viertelstunde oder höchstens zwanzig Minuten. Im Publikum wurden Gespräche und Ausrufe laut. Einiges davon habe ich im Gedächtnis behalten.

»Eine bedeutende Rede!« bemerkte in einer Gruppe ein Herr mit gerunzelter Stirn.

»Ein bißchen viel Psychologie hat er verzapft«, sagte eine andere Stimme.

»Aber es war doch alles richtig, unwiderleglich wahr!«

»Ja, darin ist er Meister.«

»Er hat die Bilanz gezogen.«

»Auch über uns, auch über uns hat er Bilanz gezogen«, mischte sich ein dritter ein. »Erinnern Sie sich, wie er am Anfang seiner Rede sagte, wir seien alle solche Menschen wie Fjodor Pawlowitsch?«

»Und am Schluß ebenfalls. Aber da sagt er die Unwahrheit.«

»Es gab auch einige Unklarheiten.«

»Er ließ sich ein bißchen hinreißen.«

»Das war ungerecht, das war ungerecht.«

»Na, nein, geschickt war es doch. Der Mann hat lange warten müssen. Nun hat er sich endlich einmal ausreden können, hehe!«

»Was wird der Verteidiger sagen?«

In einer anderen Gruppe:

»Seine Stichelei gegen den Petersburger zum Schluß hätte er unterlassen können. ›An Ihr empfindsames Gemüt appellierende Worte‹, Sie erinnern sich?«

»Ja, das war ungeschickt.«

»Er hatte es ein bißchen zu eilig.«

»Ein nervöser Mensch.«

»Wir lachen hier, aber wie mag dem Angeklagten zumute sein?«

»Ja. Wie mag diesem Mitenka wohl zumute sein?«

»Was wird der Verteidiger sagen?«

In einer dritten Gruppe:

»Was ist das da für eine Dame, die mit der Lorgnette, die dicke ganz am Rande?«

»Das ist die Frau von einem General. Geschieden. Ich kenne sie.«

»So so, darum diese Lorgnette.«

»Ein abgetakeltes Frauenzimmer.«

»Aber doch ganz pikant.«

»Nicht weit von ihr, zwei Plätze weiter sitzt eine kleine Blondine, die macht einen besseren Eindruck.«

»Auf geschickte Weise haben sie ihn damals in Mokroje überrumpelt, was?«

»Ja, das muß man sagen. Darum hat es der Staatsanwalt ja auch noch mal erzählt. Er hat darüber schon in jedem Haus wer weiß wieviel Gerede gemacht.«

»Auch jetzt hat er es sich nicht verkneifen können. Die liebe Eitelkeit!«

»Er ist ein zurückgesetzter Beamter, hehe!«

»Und empfindlich! Viel Rhetorik hat er aufgewandt, lange Phrasen gedrechselt.«

»Und er möchte einem Angst machen, merken Sie? Immer möchte er einem Angst machen. Erinnern Sie sich, was er von der Troika gesagt hat? Und dann: ›Woanders gibt es Hamlets, doch bei uns vorläufig nur Karamasows.‹ Das war geschickt gesagt.«

»Das war eine Verbeugung vor dem Liberalismus. Er fürchtet sich.«

»Auch vor dem Rechtsanwalt hat er Angst.«

»Ja, was wird nun wohl Herr Fetjukowitsch sagen?«

»Na, mag er sagen, was er will – unsere Bauern wird er nicht herumkriegen.«

»Meinen Sie?«

In einer vierten Gruppe:

»Aber was er da von der Troika sagte, war doch schön, ich meine, wo er von den anderen Völkern sprach.«

»Und das war die Wahrheit! Du entsinnst dich gewiß, wie er sagte, daß die anderen Völker nicht warten würden?«

»Wieso?«

»Im englischen Parlament hat sich erst vorige Woche wegen unserer Nihilisten ein Mitglied erhoben und gefragt, ob es nicht an der Zeit sei, bei so einer barbarischen Nation wie uns einzugreifen und uns Bildung beizubringen. Den hat Ippolit mit seinen Worten gemeint! Ich weiß, daß er den gemeint hat. Er hat in der vorigen Woche davon gesprochen.«

»Du machst umsonst die Pferde scheu!«

»Wieso umsonst? Warum?«

»Wir sperren ihnen den Hafen von Kronstadt und geben ihnen kein Getreide mehr. Wo sollen sie es dann hernehmen?«

»Nun, aus Amerika. Heutzutage kommt alles aus Amerika.«

»Unsinn!«

Doch da läutete die Glocke, und alle stürzten zu ihren Plätzen. Fetjukowitsch trat ans Rednerpult.

10. Die Rede des Verteidigers. Der Stab mit zwei Enden

Alles wurde still, als die ersten Worte des berühmten Redners ertönten. Die Blicke aller Anwesenden hingen seitdem unverwandt an ihm. Er begann ohne weitere Vorrede, außerordentlich schlicht und in sehr überzeugtem Ton, doch ohne eine Spur von Anmaßung. Er machte nicht den geringsten Versuch, formvollendet zu sprechen, pathetische Töne anzuschlagen, durch gefühlvoll klingende Wendungen zu wirken. Er war einfach ein Mensch, der in einem intimen Kreis von Gesinnungsgenossen sprach. Er hatte eine schöne, laute, sympathische Stimme, und schon aus dieser Stimme glaubte man seine Aufrichtigkeit und Treuherzigkeit herauszuhören. Aber allen wurde sofort klar, daß der Redner imstande war, sich plötzlich zu wahrhaft pathetischer Diktion zu erheben und »mit unerhörter Kraft an die Herzen zu schlagen«. Er sprach vielleicht weniger regelgerecht als Ippolit Kirillowitsch, doch dafür ohne lange Sätze und klarer. Eines jedoch mißfiel unseren Damen etwas – er krümmte immerzu eigentümlich den Rücken, besonders am Anfang seiner Rede, nicht als ob er sich verbeugen wollte, sondern als ob es ihn zu seinen Zuhörern hinzog und er sich anschickte, zu ihnen zu fliegen; dabei schien er sich mit der Hälfte seines langen Rückens nach vorn zu beugen, als hätte er in der Mitte desselben ein Scharnier, als ließe sich der Rücken gewissermaßen in einem rechten Winkel knicken. Zu Beginn seiner Rede sprach er scheinbar unzusammenhängend, als griffe er ohne Methode hier und da einzelne Tatsachen heraus; schließlich ergab das aber doch ein abgeschlossenes Ganzes. Man konnte seine Rede in zwei Teile teilen. Der erste Teil enthielt die Kritik: eine zuweilen boshafte und sarkastische Widerlegung der Anklage. Im zweiten Teil änderte er auf einmal seinen Ton, ja sogar sein ganzes Wesen und schwang sich plötzlich zu Pathos auf. Die Zuhörer schienen das erwartet zu haben und zitterten nur so vor Entzücken. Er kam sogleich zur Sache und begann damit, sein Arbeitsfeld sei zwar eigentlich Petersburg, doch habe er schon wiederholt auch andere Städte Rußlands aufgesucht, um Angeklagte zu verteidigen – aber nur solche, deren Unschuld er entweder mit Sicherheit erkannt hatte oder doch vorausfühlte. »Ebenso erging es mir in vorliegendem Fall«, fuhr er fort. »Schon aus den ersten Zeitungsnachrichten schimmerte mir etwas entgegen, was mich außerordentlich zugunsten des Angeklagten beeindruckte. Kurz, mich interessierte vor allem eine gewisse juristische Tatsache, die sich in der Gerichtspraxis zwar häufig wiederholt, aber, wie mir scheint, nicht leicht in solcher Vollkommenheit und mit so charakteristischen Besonderheiten wie in dem vorliegenden Prozeß. Diese Tatsache müßte ich eigentlich erst am Schluß meiner Rede formulieren; dennoch werde ich meinen Gedanken jetzt gleich am Anfang aussprechen. Es ist eine Schwäche von mir, sofort zur Sache zu kommen, ohne mir die Effekte aufzusparen und ohne mit den beabsichtigten Eindrücken ökonomisch zu verfahren. Damit erweise ich mich vielleicht als schlechter Redner, dafür jedoch als offenherziger Mensch … Mein Gedanke ist, in knapper Form, folgender: Es besteht ein erdrückendes Zusammentreffen von Tatsachen zuungunsten des Angeklagten – und gleichzeitig existiert keine einzige Tatsache, die einer Kritik standhält, wenn man sie allein für sich betrachtet! Während ich die Sache an Hand von Gerüchten und Zeitungsberichten weiterverfolgte, wurde ich in meiner Ansicht mehr und mehr bestärkt, und dann auf einmal wurde ich von den Angehörigen des Angeklagten gebeten, ihn zu verteidigen. Ich eilte sogleich hierher, und hier wurde meine Überzeugung endgültig. Und um dieses furchtbare Zusammentreffen von Tatsachen zu entkräften und den Nachweis zu liefern, daß jede scheinbar belastende Tatsache – einzeln genommen – unbewiesen und phantastisch ist, deshalb habe ich die Verteidigung in diesem Prozeß übernommen.«

So begann der Verteidiger und rief dann plötzlich aus:

»Meine Herren Geschworenen, ich bin hier ein Fremder. Alle Eindrücke habe ich ohne Voreingenommenheit in mich aufgenommen. Der Angeklagte, ein Mensch, von ungestümem, zügellosem Charakter, hat mich vorher nicht beleidigt, wie er vielleicht Dutzende von Personen in dieser Stadt beleidigt hat, weswegen auch viele im voraus gegen ihn eingenommen sein mögen. Allerdings muß auch ich zugeben, daß sich das sittliche Empfinden der hiesigen Gesellschaft zu Recht empört hat. Der Angeklagte ist wirklich ungestüm und zügellos. Dennoch hat er in der hiesigen Gesellschaft Aufnahme gefunden; selbst in der Familie des hochbegabten Anklägers war er ein willkommener Gast …« Bei diesen Worten hörte man zwei oder drei der Anwesenden lachen; sie unterdrückten ihr Lachen zwar schnell, aber es war von allen bemerkt worden. Jedermann bei uns wußte, daß der Staatsanwalt Mitjas Besuche in seinem Haus nur ungern gestattet hatte, einzig und allein, weil ihn die Frau Staatsanwalt interessant fand, eine tugendhafte, ehrenwerte Dame, die jedoch über ziemlich viel Phantasie und Eigensinn verfügte und manchmal, besonders bei Kleinigkeiten, gern gegen ihren Mann opponierte. Im übrigen hatte Mitja das Haus dieses Ehepaares nur recht selten besucht. »Dennoch wage ich die Vermutung«, fuhr der Verteidiger fort, »daß sich sogar bei einem Mann von so selbständig denkendem Verstand und so gerechtem Charakter, wie mein Opponent es ist, eine gewisse irrige Voreingenommenheit gegenüber meinem Klienten herausbilden konnte. Oh, das ist durchaus natürlich: Der Unglückliche hat es nur zu sehr verdient, daß man ihm mit Voreingenommenheit entgegentritt. Das beleidigte sittliche Gefühl ist bisweilen unerbittlich, und in noch höherem Maß gilt das für das beleidigte ästhetische Gefühl. Zwar haben wir alle in der von hohem Talent zeugenden Anklagerede eine strenge Analyse des Charakters und der Handlungen des Angeklagten gehört, ein streng kritisches Verhältnis zur Sache beobachten können, und um uns über den Kern der Sache aufzuklären, stieg die Untersuchung in solche psychologischen Tiefen hinab, daß das Eindringen in diese Tiefen bei absichtlicher und böswilliger Voreingenommenheit gegen die Person des Angeklagten unmöglich gewesen wäre. Aber es gibt ja Dinge, die in solchen Fällen noch schlimmer und verderblicher sind als die böswilligste, vorurteilsvollste Stellungnahme zur Sache. So zum Beispiel, wenn wir künstlerische Neigungen besitzen, wenn wir das Bedürfnis fühlen, etwas Künstlerisches zu schaffen, sozusagen einen Roman zu verfassen, besonders wenn uns Gott mit reichen psychologischen Gaben ausgestattet hat. Schon in Petersburg, schon als ich mich anschickte, hierherzufahren, machte man mich darauf aufmerksam – und ich wußte es auch selbst, ohne jeden Hinweis von anderer Seite –, daß ich hier als Opponenten einen tiefen, überaus feinen Psychologen vorfinden würde, der sich durch diese seine Eigenschaft schon längst eine gewisse Berühmtheit in unserer noch jungen juristischen Welt erworben hat. Aber, meine Herren, die Psychologie ist zwar eine tiefsinnige Sache, gleicht jedoch einem Stab mit zwei Enden.« Lachen im Publikum. »Oh, Sie werden mir gewiß meinen trivialen Vergleich verzeihen, ich beherrsche nicht die Kunst der schönen Rede. Hier ein Beispiel, ich nehme das erste beste, was mir aus der Rede des Anklägers einfällt. Der Angeklagte klettert nachts im Garten auf der Flucht über einen Zaun und schlägt den Diener, der sich an sein Bein klammert, mit einem Messingstößel nieder. Darauf springt er sofort wieder in den Garten hinunter und beschäftigt sich ganze fünf Minuten lang mit dem Opfer, wobei er sich darüber klarzuwerden versucht, ob er ihn totgeschlagen hat oder nicht. Und der Ankläger will nun um keinen Preis an die Wahrheit der Aussage des Angeklagten glauben, daß er aus Mitleid zu dem alten Grigori hinabgesprungen sei. ›Nein‹, sagt er, ›ist in einem solchen Augenblick etwa so eine Empfindsamkeit möglich? Das ist unnatürlich! Er ist hinabgesprungen, um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seiner Freveltat am Leben war oder nicht; folglich hat er damit auch bezeugt, daß er diese Freveltat begangen hat, da er aus keinem anderen Grund, keinem anderen Drang oder Gefühl in den Garten springen konnte.‹ Das ist reine Psychologie! Nehmen wir aber einmal diese selbe Psychologie und legen wir sie an die Sache an, nur vom anderen Ende her, und es wird etwas herauskommen, was keineswegs weniger wahrscheinlich ist. Der Mörder springt also aus Vorsicht hinunter, um sich zu überzeugen, ob der Zeuge lebt oder nicht, dabei hat er soeben im Zimmer des von ihm ermordeten Vaters nach dem Zeugnis des Anklägers ein höchst wichtiges Indiz gegen sich zurückgelassen: das zerrissene Kuvert, auf dem geschrieben stand, es enthalte dreitausend Rubel. ›Hätte er dieses Kuvert mitgenommen, so hätte niemand erfahren, daß ein Kuvert mit Geld vorhanden war, und folglich hätte auch niemand erfahren, daß der Angeklagte das Geld geraubt hatte.‹ Das ist ein Ausspruch des Anklägers selbst. Nun, zu dem einen hat seine Vorsicht also nicht ausgereicht; er hatte den Kopf verloren, es mit der Angst bekommen und war weggelaufen, wobei er ein Indiz gegen sich auf dem Fußboden zurückließ. Doch als er ungefähr zwei Minuten später einen anderen Menschen niedergeschlagen hat, da erscheint sogleich die herzloseste, berechnendste Vorsicht zu unseren Diensten. Aber mag es auch so gewesen sein: Die Feinheit der Psychologie besteht ja eben darin, daß ich unter solchen Umständen jetzt blutrünstig und scharfsinnig bin wie ein kaukasischer Adler und im nächsten Augenblick blind und ängstlich wie ein kläglicher Maulwurf. Doch wenn ich nun schon so blutdürstig und grausam berechnend bin, daß ich nach dem Mord nur zu dem Zweck hinunterspringe, um zu sehen, ob der gefährliche Zeuge lebt oder nicht – wozu gebe ich mich dann ganze fünf Minuten lang mit diesem neuen Opfer ab, auf die Gefahr hin, mir womöglich neue Zeugen auf den Hals zu laden? Wozu mache ich mein Taschentuch blutig, indem ich ihm das Blut vom Kopf wische, obwohl doch dieses Tuch später als Indiz gegen mich dienen kann? Nein, wenn wir schon so berechnend und hartherzig sind, wäre es dann nicht besser gewesen, dem Diener mit demselben Stößel einfach noch einen Schlag oder ein paar Schläge auf den Kopf zu versetzen, um ihn ganz zu töten und durch Vernichtung dieses Zeugen das Herz von jeder Sorge zu befreien? Und weiter. Ich springe hinab, um festzustellen, ob der Zeuge meiner Tat noch lebt oder nicht, und lasse ebendort auf dem Weg einen anderen Zeugen zurück, jenen Stößel, den ich mir bei zwei Frauen angeeignet habe, die beide jederzeit diesen Stößel als den ihrigen rekognoszieren und bezeugen können, daß ich ihn bei ihnen weggenommen habe. Und nicht etwa, daß ich ihn im Garten vergessen, ihn aus Zerstreutheit und Fassungslosigkeit hätte fallen lassen – nein, wir haben unsere Waffe geradezu weggeworfen; denn sie ist ungefähr fünfzehn Schritte entfernt von der Stelle, wo Grigori zu Boden geschlagen wurde, gefunden worden. Es entsteht also die Frage, warum wir so gehandelt haben. Und die Antwort wird lauten: Eben deshalb, weil es uns bitter leid tat, einen Menschen, einen alten Diener totgeschlagen zu haben; und dann haben wir im Ärger den Stößel als die Mordwaffe mit einem Fluch fortgeschleudert. Anders kann es nicht gewesen sein, was wäre sonst für ein Grund gewesen, sie mit solchem Schwung wegzuwerfen? Wenn wir aber imstande waren, Schmerz und Bedauern darüber zu empfinden, daß wir einen Menschen getötet hatten, so war das natürlich deshalb der Fall, weil wir den Vater nicht getötet hatten. Hätten wir den Vater getötet, wären wir nicht aus Mitleid zu einem anderen hinabgesprungen, den wir nur zu Boden geschlagen hatten! Dann wäre bei uns schon ein anderes Gefühl vorhanden gewesen, dann hätten wir nicht an Mitleid gedacht, sondern an unsere eigene Rettung! So wäre das sicherlich gewesen. Wir hätten ihm vielmehr, ich wiederhole es, den Schädel gänzlich eingeschlagen und uns nicht fünf Minuten mit ihm abgegeben. Für das gute Gefühl des Mitleids fand sich in unserem Herzen deswegen Raum, weil unser Gewissen vorher rein war. Da haben Sie eine andere Psychologie! Absichtlich, meine Herren Geschworenen, habe ich selber jetzt meine Zuflucht zur Psychologie genommen, um anschaulich zu zeigen, daß man aus ihr jeden Schluß ziehen kann, der einem beliebt. Es kommt nur darauf an, wer sie handhabt. Die Psychologie verführt sogar die solidesten Männer zum Verfassen von Romanen, und zwar, ohne daß sie es wollen. Ich rede von der unangebrachten Psychologie, meine Herren Geschworenen, von einem gewissen Mißbrauch, der mit ihr getrieben wird.«

Hier hörte man abermals im Publikum beifälliges Lachen, das wieder auf Kosten des Staatsanwalts ging. Ich werde nicht die ganze Rede des Verteidigers mit allen Einzelheiten wiedergeben; ich wähle nur einige Stellen aus ihr aus, einige besonders wichtige Punkte.

11. Kein Geld – also auch kein Raub

Es gab in der Rede des Verteidigers einen Punkt, der alle überraschte – nämlich, daß er die Existenz dieser verhängnisvollen dreitausend Rubel und somit auch die Möglichkeit ihres Raubes vollkommen bestritt.

»Meine Herren Geschworenen!« begann der Verteidiger. »In dem vorliegenden Prozeß frappiert jeden, der als Fremder an ihn herantritt und von Voreingenommenheit frei ist, eine charakteristische Besonderheit: nämlich die Anklage wegen Raubes und gleichzeitig die völlige Unmöglichkeit, faktisch nachzuweisen, was denn nun eigentlich geraubt worden ist. ›Es wurde Geld geraubt‹, heißt es. ›Und zwar dreitausend Rubel.‹ Ob aber dieses Geld tatsächlich existiert hat, das weiß kein Mensch. Überlegen Sie bitte: Erstens, wie haben wir erfahren, daß dreitausend Rubel da waren? Und zweitens, wer hat sie gesehen? Der Diener Smerdjakow war der einzige, der sie gesehen und angegeben hat, sie hätten in einem mit einer Aufschrift versehenen Kuvert gesteckt. Er war es denn auch, der schon vor der Katastrophe davon berichtete, und zwar dem Angeklagten und seinem Bruder Iwan Fjodorowitsch. Auch Fräulein Swetlowa wurde davon in Kenntnis gesetzt. Dennoch haben diese drei Personen das Geld nicht selbst gesehen; gesehen hat es wieder nur Smerdjakow – und da erhebt sich ganz von selbst die Frage: Wenn es auch wahr ist, daß Geld da war und daß Smerdjakow es gesehen hat, wann hat er es zum letztenmal gesehen? Wie, wenn der Herr das Geld aus dem Bett geholt und wieder in die Schatulle gelegt hat, ohne es ihm zu sagen? Beachten Sie, daß nach Smerdjakows Angabe das Geld im Bett unter der Matratze lag. Der Angeklagte mußte es also unter der Matratze hervorziehen – und doch war das Bett in keiner Weise in Unordnung gebracht, wie das im Protokoll ausdrücklich vermerkt worden ist. Wie hat es der Angeklagte fertiggebracht, das Bett gar nicht in Unordnung zu bringen und überdies mit seinen blutigen Händen die ganze frische, feine Bettwäsche nicht zu beflecken, mit der das Bett extra für diesmal versehen worden war? Man wird einwenden: Aber das Kuvert auf dem Fußboden? Über dieses Kuvert lohnt es sich in der Tat etwas zu sagen. Ich bin vorhin einigermaßen erstaunt gewesen: Als der hochbegabte Ankläger auf dieses Kuvert zu sprechen kam, äußerte er selbst, hören Sie, meine Herren, er selbst, und zwar an der Stelle, wo er auf das Törichte der Annahme hinwies, Smerdjakow könnte den Mord begangen haben. ›Wäre dieses Kuvert nicht vorhanden gewesen, wäre es nicht als Indiz auf dem Fußboden liegengeblieben, hätte es der Dieb mitgenommen, so würde es überhaupt niemand wissen, daß ein Kuvert dagewesen war, daß Geld darin gesteckt hatte und daß es somit von dem Angeklagten geraubt worden ist.‹ Also hat nach dem eigenen Bekenntnis des Anklägers einzig und allein dieser zerrissene Fetzen Papier mit der Aufschrift dazu geführt, daß der Angeklagte des Raubes beschuldigt wird: ›Sonst hätte niemand erfahren, daß ein Raub stattgefunden hat, vielleicht auch nicht, daß Geld dagewesen ist.‹ Aber ist etwa allein der Umstand, daß dieser Fetzen Papier am Boden lag, wirklich ein Beweis dafür, daß Geld darin gewesen war und daß dieses Geld geraubt wurde? ›Aber‹, antwortete man mir, ›Smerdjakow hat ja das Geld in dem Kuvert gesehen!‹ Doch wann, wann hat er es zum letztenmal gesehen? Das ist es, wonach ich frage. Ich habe mit Smerdjakow gesprochen, und er hat mir gesagt, er habe es zwei Tage vor der Katastrophe gesehen. Warum jedoch darf ich nicht zum Beispiel annehmen, daß der alte Fjodor Pawlowitsch, der sich in seinem Haus eingeschlossen hatte und in krampfhafter Ungeduld seine Geliebte erwartete, auf einmal in müßiger Weile auf den Einfall kam, das Kuvert hervorzuholen und aufzumachen? ›Wozu das Kuvert?‹ mochte er denken. ›Sie wird mir am Ende gar nicht glauben? Aber wenn ich ihr die dreißig regenbogenfarbenen Scheine als ein offenes Päckchen zeige, wird das stärker wirken und ihr den Mund wäßrig machen!‹ Und so reißt er das Kuvert auf, nimmt das Geld heraus und wirft das Kuvert mit der Ungeniertheit des Hausherrn – und natürlich ohne ein Indiz zu fürchten – auf den Fußboden. Hören Sie, meine Herren Geschworenen, gibt es etwas, was leichter möglich wäre als ein solcher Hergang, wie ich ihn soeben skizziert habe? Warum soll das unmöglich sein? Wenn etwas Derartiges aber auch nur im Bereich des Möglichen liegt, wird die Anklage wegen Raubes ganz von selbst gegenstandslos: Es war kein Geld da – also hat auch kein Raub stattgefunden. Wenn das Kuvert auf dem Fußboden ein Indiz dafür sein soll, daß sich Geld in ihm befunden hatte, warum kann ich dann nicht das Gegenteil behaupten, nämlich daß das Kuvert eben deswegen auf dem Fußboden lag, weil der Hausherr selbst vorher das Geld herausgenommen hatte und somit nun keines mehr darin war? ›Ja, aber wo ist das Geld geblieben, wenn es Fjodor Pawlowitsch selbst aus dem Kuvert herausgenommen hat? In seinem Haus ist es bei der Haussuchung nicht gefunden worden‹ Erstens hat man in seiner Schatulle einen Teil des Geldes gefunden; und zweitens kann er es schon am Vormittag, sogar am Vortag herausgenommen, darüber anders verfügt, es ausgegeben, weggeschickt, seine Absicht völlig geändert haben, ohne daß er es für nötig hielt, Smerdjakow davon in Kenntnis zu setzen. Wenn aber auch nur eine Möglichkeit für so eine Annahme vorhanden ist, wie kann man dann mit solcher Hartnäckigkeit und Bestimmtheit den Angeklagten beschuldigen, er habe zum Zweck eines Raubes gemordet und der Raub habe tatsächlich stattgefunden? Auf diese Weise betreten wir ja das Gebiet des Romans. Wenn man behauptet, die und die Sache sei geraubt worden, so muß man diese Sache im Besitz des Diebes nachweisen oder zumindest unwiderlegbar beweisen, daß sie vorhanden gewesen ist. Doch hier hat sie überhaupt niemand gesehen. Unlängst betrat in Petersburg ein junger Mensch, er war erst achtzehn Jahre alt, ein gewöhnlicher Hausierer, am hellichten Tag mit einem Beil eine Wechselstube, erschlug mit besonderer Dreistigkeit den Ladeninhaber und nahm fünfzehnhundert Rubel mit. Fünf Stunden darauf wurde er verhaftet; bis auf die fünfzehn Rubel, die er schon ausgegeben hatte, wurden bei ihm die ganzen fünfzehnhundert Rubel vorgefunden. Außerdem teilte der Ladengehilfe, der nach dem Mord in den Laden zurückgekehrt war, der Polizei nicht nur die Höhe der gestohlenen Summe mit, sondern er gab auch an, aus was für Geld sie bestanden hatte, das heißt, wieviel Hundertrubelscheine dabei waren, wieviel Zehnrubelscheine, wieviel Fünfrubelscheine, wieviel Goldstücke und was für welche – und siehe da, bei dem verhafteten Mörder wurden genau solche Scheine und Münzen gefunden. Und zu alledem legte der Mörder noch ein vollständiges, offenes Geständnis ab. Das, meine Herren Geschworenen, das nenne ich einen Beweis! Denn da kenne ich das geraubte Geld, ich sehe es, ich befühle es und kann nicht sagen, es sei nicht da oder nicht dagewesen. Steht es so im vorliegenden Fall? Und dabei geht es hier um Leben und Tod, um das ganze Schicksal eines Menschen. ›Ja‹, wird man sagen, ›aber er hat doch in jener Nacht gepraßt und mit dem Geld nur so um sich geworfen! Es wurde festgestellt, daß er fünfzehnhundert Rubel gehabt haben muß – wo hatte er die denn her?‹ Gerade dadurch, daß im ganzen nur fünfzehnhundert Rubel festgestellt wurden und die andere Hälfte der Summe schlechterdings nicht aufzufinden und nachzuweisen war, gerade dadurch wird ja bewiesen, daß dieses Geld wohl ganz anderes Geld war und überhaupt nie in einem Kuvert gesteckt hat. Durch Berechnung der Zeit, und zwar durch die allergenaueste, ist in der Voruntersuchung ermittelt und bewiesen worden, daß der Angeklagte, als er von den Dienerinnen zu dem Beamten Perchotin lief, nicht in seiner Wohnung und überhaupt nirgends vorbeigegangen ist; und danach ist er die ganze Zeit mit Menschen zusammen gewesen: Er konnte also gar nicht von den dreitausend Rubeln die Hälfte abteilen und irgendwo in der Stadt verstecken. Dieser Schluß bildet auch den Grund für die Vermutung des Anklägers, daß der Angeklagte das Geld irgendwo im Dorf Mokroje in einer Ritze versteckt habe. Vielleicht in den Kellern des Udolfschen Schlosses, meine Herren? Nun, ist diese Vermutung etwa nicht phantastisch und romanhaft? Und wenn auch nur diese eine Vermutung widerlegt wird, daß nämlich das Geld in Mokroje versteckt wurde, so verflüchtigt sich damit die ganze Beschuldigung wegen Raubes: Denn wo, wo sind dann diese fünfzehnhundert Rubel geblieben? Durch welches Wunder konnten sie verschwinden, wo doch bewiesen ist, daß der Angeklagte nirgends vorbeigegangen ist? Und wir sollen es über uns bringen, mit solchen Romanen ein Menschenleben zugrunde zu richten! Man wird einwenden: ›Aber er hat doch nicht erklären können, wo er diese fünfzehnhundert Rubel hergenommen hat, die bei ihm gefunden wurden! Außerdem wußten alle Leute, daß er bis zu jener Nacht kein Geld besaß.‹ Wer hat das gewußt? Der Angeklagte aber hat eine klare, bestimmte Aussage darüber gemacht, wo er das Geld herhatte, und mit Ihrer Erlaubnis, meine Herren Geschworenen: Nie konnte etwas glaubhafter und zugleich dem Charakter und der seelischen Beschaffenheit des Angeklagten gemäßer sein als diese Aussage! Die Anklage aber hat sich nun einmal in ihren eigenen Roman verliebt: Wenn ein willensschwacher Mensch sich entschlossen habe, dreitausend Rubel anzunehmen, die ihm von seiner Braut in so schmachvoller Weise angeboten wurden, dann sei er nicht imstande gewesen, die Hälfte davon abzuteilen und sie in ein Säckchen einzunähen; vielmehr hätte er, selbst wenn er sie eingenäht hätte, das Säckchen alle zwei Tage wieder aufgetrennt und jedesmal einen Hunderter herausgenommen und so die ganze Summe in einem Monat aufgebraucht. Erinnern Sie sich: Das alles wurde in einem Ton vorgebracht, der keinen Widerspruch duldete. Wie nun, wenn die Sache ganz anders zuging und der Ankläger eben nur einen Roman verfaßt hat, in dem er eine ganz andere Person auftreten läßt? Das ist es eben, daß er eine andere Person geschaffen hat! Vielleicht wendet man ein: ›Es sind Zeugen dafür vorhanden, daß er im Dorf Mokroje die ganzen dreitausend Rubel, die er von Fräulein Werchowzewa einen Monat vor der Katastrophe erhalten hatte, mit einemmal verpraßt hat – also kann er nicht die Hälfte davon abgeteilt haben.‹ Aber wer sind diese Zeugen? Der Grad der Glaubwürdigkeit dieser Zeugen ist während der Gerichtsverhandlung hinreichend klargeworden. Außerdem sieht eine Schnitte Brot in fremder Hand immer größer aus. Und endlich hat keiner dieser Zeugen dieses Geld selbst gezählt, jeder hat nur nach dem Augenmaß geurteilt. Der Zeuge Maximow hat sogar ausgesagt, der Angeklagte habe zwanzigtausend Rubel in der Hand gehabt! Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, da die Psychologie ein Stab mit zwei Enden ist, müssen Sie mir schon erlauben, mich des anderen Endes zu bedienen! Wollen wir sehen, was dabei herauskommt … Einen Monat vor der Katastrophe wurden dem Angeklagten von Fräulein Werchowzewa dreitausend Rubel zur Absendung durch die Post anvertraut; fraglich ist aber, ob sie ihm in so schmählicher, demütigender Weise anvertraut wurden, wie das vorhin laut verkündet worden ist. Als Fräulein Werchowzewa ihre erste Aussage machte, kam das anders heraus, ganz anders; bei der zweiten Aussage jedoch hörten wir nur den Aufschrei der Erbitterung und Rachsucht, den Aufschrei eines lange verborgen gehaltenen Hasses. Schon allein der Umstand, daß die Zeugin einmal, bei ihrer ersten Aussage, unrichtig ausgesagt hat, berechtigt uns zu dem Schluß, daß auch die zweite Aussage unrichtig sein kann. Der Ankläger ›erlaubt sich nicht, wagt nicht‹, dieses Liebesverhältnis zu berühren. Nun gut, ich werde es ebenfalls nicht berühren; dennoch möchte ich mir eine Bemerkung erlauben. Wenn sich eine sittlich hochstehende Person wie das hochverehrte Fräulein Werchowzewa plötzlich vor Gericht erlaubt, ihre erste Aussage zu widerrufen, und zwar in der offenkundigen Absicht, den Angeklagten zugrunde zu richten, so ist eindeutig klar, daß sie ihre zweite Aussage nicht leidenschaftslos, nicht kaltblütig gemacht hat. Will man uns das Recht nehmen zu glauben, daß eine Frau, die sich rächen will, vieles übertreiben kann? Ja, vor allem mag sie die Schande übertrieben haben, unter der sie ihm das Geld anbot. Das Geld wird ihm vielmehr gerade so angeboten worden sein, daß es eben noch möglich war, es anzunehmen, besonders für so einen leichtsinnigen Menschen wie unseren Angeklagten. Die Hauptsache war: Er hoffte damals, in Kürze von seinem Vater die dreitausend Rubel zu erhalten, die dieser ihm auf Grund der Abrechnung noch schuldete. Das war leichtsinnig; doch gerade infolge seines Leichtsinns war er fest davon überzeugt, daß er sie bekommen und somit jederzeit imstande sein würde, das ihm von Fräulein Werchowzewa anvertraute Geld abzuschicken und seine Schuld zu begleichen. Aber der Ankläger will um keinen Preis glauben, daß er am gleichen Tag die Hälfte von dem erhaltenen Geld abteilen und in ein Säckchen einnähen konnte. ›Das entspricht nicht seinem Charakter‹, sagt er. ›Solche Gefühle konnte er nicht haben.‹ Doch Sie haben ja selbst ausgerufen, Karamasow habe ein weites Herz. Sie haben selbst von den beiden Unendlichkeiten gesprochen, die Karamasow schauen könne. Karamasow ist eben so eine Natur mit zwei Seiten, mit zwei Unendlichkeiten, daß er trotz des unbändigen Verlangens nach Zechgelagen dennoch standzuhalten vermag, wenn überraschend von anderer Seite etwas auf ihn einwirkt. Diese andere Seite war die Liebe, diese neue, wie Schießpulver aufflammende Liebe! Für diese Liebe nur brauchte er Geld, und zwar viel nötiger als zu einem Gelage mit dieser Geliebten. Wenn sie zu ihm sagen würde: ›Ich bin dein, ich will Fjodor Pawlowitsch nicht!‹ und wenn er sie nehmen und fortbringen wollte, so brauchte er Geld, um sie fortzubringen. Das war wichtiger als ein Gelage. Sollte Karamasow das nicht begriffen haben? Gerade das war es ja, was ihn krank machte, diese Sorge: Was ist daran unglaublich, daß er dieses Geld abteilte und für jeden Fall aufhob? Aber die Zeit vergeht, und Fjodor Pawlowitsch zahlt dem Angeklagten die dreitausend Rubel nicht aus; es verlautet vielmehr, daß er sie ausgerechnet dafür bestimmt hat, ihm seine Geliebte abspenstig zu machen. ›Wenn mir Fjodor Pawlowitsch das Geld nicht gibt‹, denkt er, ›werde ich vor Katerina Iwanowna als Dieb dastehen!‹ Und so reift in ihm der Plan, zu Fräulein Werchowzewa zu gehen, diese fünfzehnhundert Rubel, die er noch immer in diesem Säckchen herumträgt, vor sie hinzulegen und zu ihr zu sagen: ›Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb!‹ Und damit hatte er bereits einen doppelten Grund, diese fünfzehnhundert Rubel wie seinen Augapfel zu hüten, das Säckchen unter keinen Umständen aufzutrennen und nacheinander die Hundertrubelscheine herauszunehmen. Warum sprechen Sie dem Angeklagten Ehrgefühl ab? Nein, Ehrgefühl besitzt er: kein normales, zugegeben, eines, das ihn oft irreführt – aber lebendig ist es in ihm bis zur Leidenschaft, das hat er bewiesen. Doch nun kompliziert sich die Sache; die Eifersucht erreicht den Höhepunkt, und mehr und mehr quälen ihn die beiden früheren Fragen, die sein erhitztes Hirn immer bohrender stellt: ›Soll ich Katerina Iwanowna das Geld zurückgeben? Wo nehme ich dann die Mittel her, um Gruschenka fortzubringen?‹ Wenn er sich diesen ganzen Monat so unvernünftig benahm, sich betrank und in den Wirtshäusern randalierte, so vielleicht gerade, weil ihm selbst schrecklich zumute war und er diesen Zustand nicht ertragen konnte. Diese beiden Fragen spitzten sich schließlich dermaßen zu, daß sie ihn zuletzt zur Verzweiflung trieben. Er wollte seinen jüngeren Bruder zum Vater schicken und ihn ein letztes Mal um diese dreitausend Rubel bitten lassen; doch ohne eine Antwort abzuwarten, drang er selbst bei ihm ein, und die Sache endete damit, daß er den alten Mann in Gegenwart von Zeugen schlug. Nach diesem Vorfall konnte er von ihm natürlich kein Geld erwarten; daß der geprügelte Vater ihm welches geben würde, war ausgeschlossen. Am Abend desselben Tages schlägt er sich an die Brust, an den oberen Teil der Brust, wo sich dieses Säckchen befindet, und schwört seinem Bruder, er besitze ein Mittel, kein Schuft zu sein, aber er werde dennoch ein Schuft bleiben, denn er sehe voraus, daß er das Mittel nicht anwenden werde; seine seelische Stärke, seine Charakterfestigkeit reiche dazu nicht aus. Warum, ja warum schenkt die Anklage der Aussage Alexej Karamasows keinen Glauben, einer Aussage, die aus so reinem Herzen kam und mit solcher Aufrichtigkeit und ohne jede Vorbereitung gemacht wurde und so viel innere Wahrscheinlichkeit besitzt? Warum will mich die Anklage vielmehr zwingen zu glauben, daß das Geld in irgendeiner Ritze steckt oder in den Kellern des Udolfschen Schlosses liegt? Am selben Abend, nach dem Gespräch mit seinem Bruder, schreibt der Angeklagte diesen verhängnisvollen Brief, und der ist das wichtigste, am schwersten wiegende Indiz dafür, daß der Angeklagte einen Raub begangen hat! ›Ich werde mir bei allen möglichen Leuten das Geld zu beschaffen versuchen; falls sie mir jedoch nichts geben, werde ich meinen Vater totschlagen und ihm das Geld unter der Matratze fortnehmen, sobald Iwan abgereist ist!‹ Ein vollständiges Programm für den Mord – wie sollte er da nicht der Täter sein? ›Es ist so ausgeführt worden, wie es geschrieben stand!‹ sagt die Anklage. Aber erstens ist dieser Brief in der Trunkenheit und in furchtbarer Erregung geschrieben worden; zweitens schreibt er von dem Kuvert wieder nur auf Grund der Mitteilungen Smerdjakows, da er selbst das Kuvert nicht gesehen hat; drittens wurde das zwar so niedergeschrieben; ob es aber auch so ausgeführt wurde – wodurch will man das beweisen? Hat der Angeklagte das Geld unter dem Kopfkissen hervorgeholt? Hat er das Geld gefunden? Existierte das Geld überhaupt? Und war der Angeklagte etwa des Geldes wegen hingelaufen? Erinnern Sie sich bitte: Er lief Hals über Kopf hin, aber nur um zu erfahren, wo sie war, diese Frau, die auch ihn zugrunde gerichtet hatte! Also nicht nach einem Programm, nicht in Übereinstimmung mit dem, was er geschrieben hatte, nicht zum Zweck eines vorbedachten Raubes, sondern plötzlich, ohne Überlegung, in eifersüchtiger Raserei! ›Ja‹, wird man sagen, ›trotzdem hat er sich auch des Geldes bemächtigt, nachdem er den Mord begangen hatte!‹ Aber hat er den Mord überhaupt begangen oder nicht? Die Beschuldigung des Raubes weise ich mit Entrüstung zurück – man kann niemanden eines Raubes beschuldigen, wenn man nicht genau angeben kann, was eigentlich geraubt worden ist – das ist ein feststehender Grundsatz! Aber hat er nun gemordet, hat er gemordet, ohne zu rauben? Ist das bewiesen? Ist nicht auch das am Ende ein Roman?«

12. Und auch kein Mord

»Erlauben Sie, meine Herren Geschworenen, es handelt sich hier um ein Menschenleben, da muß man sehr vorsichtig sein. Wir haben gehört, wie der Ankläger selbst bezeugte, daß er bis heute, bis zum Tag der Gerichtsverhandlung, geschwankt hat, ob er den Angeklagten des vorbedachten Mordes beschuldigen solle, daß er geschwankt hat bis zu diesem verhängnisvollen Brief, der heute dem Gericht vorgelegt worden ist. ›Es ist ausgeführt worden, wie es geschrieben stand!‹ Aber ich wiederhole noch einmal: Er lief zu ihr, einzig und allein ihretwegen, um zu erfahren, wo sie war. Das ist eine feststehende Tatsache. Hätte er sie zu Hause angetroffen, wäre er weiter nirgends hingelaufen, sondern er wäre bei ihr geblieben und hätte nicht gehalten, was er in dem Brief versprochen hatte. Er lief plötzlich und ohne Überlegung hin und dachte dabei vielleicht überhaupt nicht an seinen Brief. ›Er griff sich einen Stößel‹, heißt es – und erinnern Sie sich bitte, wie an diesen Stößel eine ganze Reihe von psychologischen Erörterungen angeknüpft wurde: warum er diesen Stößel als Waffe ansehen und als Waffe ergreifen mußte und so weiter. Hier kommt mir ein ganz einfacher Gedanke in den Kopf: Wenn nun dieser Stößel nicht sichtbar auf dem Küchenbrett gelegen hätte, wo ihn der Angeklagte wegnahm, sondern ordentlich in den Schrank geräumt worden wäre, dann wäre er dem Angeklagten nicht vor Augen gekommen, und er wäre mit leeren Händen, ohne Waffe davongelaufen und hätte vielleicht niemand totgeschlagen. Inwiefern kann ich den Stößel als Beweis dafür anführen, daß er sich absichtlich bewaffnet und mit Vorbedacht gemordet hat? ›Ja, aber er hat doch in den Wirtshäusern ein großes Geschrei vollführt, er werde seinen Vater totschlagen! An jenem Abend jedoch, da er seinen Brief schrieb, war er still und zankte sich im Wirtshaus nur mit einem Gehilfen, weil es ganz ohne Streit bei einem Karamasow nun einmal nicht abgeht.‹ Aber darauf antworte ich: Wenn er einen solchen Mord beabsichtigte, und noch dazu nach einem schriftlich abgefaßten Plan, hätte er sich wohl auch nicht mit einem Gehilfen gestritten; er wäre vielleicht überhaupt nicht ins Wirtshaus gegangen, weil eine Seele, die eine solche Tat vorhat, Stille und Verborgenheit sucht und am liebsten ganz verschwinden möchte, damit niemand sie sieht und hört – und zwar handelt sie so nicht mit Berechnung, sondern instinktiv! Meine Herren Geschworenen, die Psychologie ist ein Stab mit zwei Enden, und wir verstehen uns ebenfalls auf diese Wissenschaft. Was nun das Geschrei betrifft, das er während dieses Monats in den Wirtshäusern veranstaltet hat, so möchte ich bemerken: Wie oft schreien betrunkene Zechbrüder, die aus den Schenken kommen, oder Kinder, die sich miteinander zanken: ›Ich schlage dich tot!‹ Aber sie schlagen keinen tot. Und auch dieser verhängnisvolle Brief – nun, ist der nicht ebenfalls der Ausfluß der gereizten Stimmung eines Betrunkenen? Steht er nicht auf gleicher Stufe mit dem Geschrei eines Menschen, der aus der Schenke herauskommt: ›Ich schlage euch alle tot!‹ Warum muß er anders aufgefaßt werden? Warum konnte es nicht so sein? Warum ist dieser Brief verhängnisvoll und nicht vielmehr lächerlich? Der Grund ist der, daß die Leiche des ermordeten Vaters gefunden worden ist und daß ein Zeuge den Angeklagten mit einer Waffe im Garten auf der Flucht gesehen hat und selbst von ihm zu Boden geschlagen wurde; also ist alles so ausgeführt worden, wie es geschrieben stand, und darum ist auch der Brief nicht lächerlich, sondern verhängnisvoll. Gott sei Dank, wir sind an den Kernpunkt gelangt: ›Wenn er im Garten war so bedeutet das, er hat auch den Mord begangen.‹ In diesen beiden Sätzchen erschöpft sich alles, die ganze Anklage: ›Er war, also bedeutet das zweifellos…‹ Doch wenn das nun nichts ›bedeutet‹, obgleich er ›war‹? Oh, ich gebe zu, daß dieses Zusammentreffen der Tatsachen wirklich eine gewisse Überzeugungskraft hat. Aber betrachten Sie doch alle diese Tatsachen einzeln, ohne sich durch ihr Zusammentreffen einschüchtern zu lassen: Warum will die Anklage zum Beispiel um keinen Preis die Wahrheit der Aussage des Angeklagten anerkennen, daß er vom Fenster seines Vaters weggelaufen ist? Erinnern Sie sich bitte, in welchen Sarkasmen sich die Anklage sogar über die respektvollen und ›frommen‹ Gefühle ergeht, die den Mörder auf einmal überkommen hätten. Wie, wenn es dort in der Tat etwas Ähnliches gab, das heißt zwar nicht gerade respektvolle, aber doch fromme Gefühle? ›Meine Mutter muß wohl in diesem Augenblick für mich gebetet haben‹, sagte der Angeklagte bei der Voruntersuchung. Und er lief davon, sowie er sich davon überzeugt hatte, daß Fräulein Swetlowa nicht im Hause seines Vaters war. ›Aber davon konnte er sich nicht durchs Fenster überzeugen‹, erwidert uns die Anklage. Warum soll er das nicht gekonnt haben? Das Fenster war ja auf das Klopfsignal des Angeklagten hin geöffnet worden. Fjodor Pawlowitsch konnte irgendein Wort sagen, ihm konnte irgendein Ausruf entfahren – und der Angeklagte konnte dadurch plötzlich zu der Sicherheit gelangen, daß Fräulein Swetlowa nicht dort war. Warum muß man denn unbedingt annehmen, daß es sich genauso abgespielt hat, wie wir es uns vorstellen, wie wir nun einmal beschlossen haben, es uns vorzustellen? In Wirklichkeit können tausend Dinge mitspielen, die der Kombination des scharfsinnigsten Romanschriftstellers entgehen. ›Ja, aber Grigori hat die Tür offen gesehen. Somit ist der Angeklagte mit Sicherheit im Haus gewesen; folglich hat er auch den Mord begangen.‹ Also diese Tür, meine Herren Geschworenen … Sehen Sie, daß diese Tür offenstand, bezeugt nur eine einzige Person, die sich zu jener Zeit jedoch in einem Zustand befand, daß … Aber meinetwegen, mag die Tür meinetwegen offengestanden haben, mag es der Angeklagte in dem Bestreben, sich zu verteidigen, geleugnet haben, was in seiner Lage so verständlich ist; mag er meinetwegen in das Haus eingedrungen sein,– na und, was weiter? Warum muß er, wenn er drinnen war, notwendigerweise auch den Mord begangen haben? Er konnte eindringen, durch die Zimmer laufen, den Vater beiseite stoßen, ihn sogar schlagen; doch nachdem er festgestellt hatte, daß Fräulein Swetlowa nicht bei ihm war, konnte er davongelaufen sein, erfreut darüber, daß sie nicht da war. Und vielleicht sprang er auch eine Minute später deshalb zu Grigori hinunter, den er im Jähzorn zu Boden geschlagen hatte, weil er jetzt eines reinen Gefühls fähig war, des Gefühls der Teilnahme und des Mitleids, weil er der Versuchung, seinen Vater totzuschlagen, entflohen war, weil er in sich ein reines Herz fühlte und sich freute, daß er den Vater nicht totgeschlagen hatte. Mit einer geradezu Entsetzen erregenden Beredsamkeit beschreibt uns der Ankläger den furchtbaren Zustand des Angeklagten im Dorf Mokroje, als die Liebe sich ihm von neuem erschloß und ihn zu einem neuen Leben rief, während es ihm bereits unmöglich war zu lieben, da hinter ihm der blutige Leichnam seines Vaters lag und sich hinter diesem drohend die Strafe erhob. Und doch gab der Ankläger die Möglichkeit der Liebe zu; freilich erklärte er sie seiner Psychologie gemäß so: ›Es war ein Zustand der Trunkenheit. Ein Verbrecher wird zur Richtstätte gefahren, es scheint ihm noch weit zu sein‹ … und so weiter und so fort. Aber ich frage wieder, haben Sie da nicht eine ganz andere Person geschaffen, Herr Ankläger? Ist der Angeklagte wirklich so roh und herzlos, daß er in jenem Augenblick noch an Liebe und an Ausflüchte vor Gericht denken konnte, wenn tatsächlich das Blut seines Vaters an seinen Händen geklebt hätte? Nein, nein und nochmals nein! Sowie ihm klargeworden war, daß sie ihn liebte, ihn zu sich rief, ihm ein neues Glück verhieß – oh, ich schwöre es, da hätte er zweifach, dreifach das Bedürfnis empfinden müssen sich zu töten! Und hätte sich auch unweigerlich getötet wenn der Leichnam seines Vaters hinter ihm gelegen hätte! O nein, er hätte nicht vergessen, wo seine Pistolen lagen! Ich kenne den Angeklagten: Die wilde, stumpfe Herzlosigkeit, die der Ankläger ihm zuschreibt, ist mit seinem Charakter unvereinbar. Er hätte sich getötet, das ist sicher! Und er tötete sich eben deshalb nicht, ›weil seine Mutter für ihn gebetet hatte‹ und sein Herz am Blut seines Vaters unschuldig war. Er quälte sich in jener Nacht in Mokroje nur um den alten Grigori, den er zu Boden geschlagen hatte, und betete zu Gott, der alte Mann möge wieder zu sich kommen und aufstehen, der Schlag, den er ihm versetzt hatte, möge nicht tödlich sein, und diese Prüfung möge an ihm vorübergehen. Warum sollte man eine solche Deutung der Ereignisse nicht akzeptieren? Welchen sicheren Beweis haben wir dafür, daß der Angeklagte uns belügt? ›Aber da ist der Leichnam des Vaters!‹, wendet man sofort wieder ein. ›Wenn er davongelaufen ist, ohne den Mord begangen zu haben – wer hat denn dann den alten Mann ermordet?‹ Ich wiederhole, die ganze Logik der Anklage ist folgende: ›Wer hat den Mord begangen, wenn nicht er? Es ist niemand vorhanden, den man an seine Stelle setzen könnte!‹ Meine Herren Geschworenen, ist dem wirklich so? Kann man tatsächlich niemand an seine Stelle setzen? Wir haben gehört, wie die Anklage uns an den Fingern alle Personen vorzählte, die in jener Nacht in diesem Haus gewesen sind. Es kamen fünf Personen heraus. Drei von ihnen, da stimme, ich zu, dürften kaum für die Tat in Betracht kommen: nämlich der Ermordete selbst, der alte Grigori und seine Frau. Es bleiben somit der Angeklagte und Smerdjakow, und da erklärt nun der Ankläger voller Pathos, der Angeklagte verweise deswegen auf Smerdjakow, weil er auf sonst niemand verweisen könne; wäre noch irgendein sechster da oder auch nur der Schatten eines sechsten, so würde der Angeklagte aus Scham sofort von selbst aufhören, Smerdjakow zu beschuldigen, und auf diesen sechsten verweisen. Meine Herren Geschworenen, warum sollte ich nicht völlig entgegengesetzt schließen können? Es stehen zwei Menschen vor uns: der Angeklagte und Smerdjakow – warum sollte ich nicht sagen können, daß Sie meinen Klienten nur deswegen beschuldigen, weil Sie keinen anderen haben, den Sie beschuldigen könnten? Und Sie haben nur deswegen keinen anderen, weil Sie Smerdjakow in totaler Voreingenommenheit von vornherein von jeder Beschuldigung ausgeschlossen haben. Ja, es ist wahr, auf Smerdjakow verweisen mit Bestimmtheit nur der Angeklagte, seine beiden Brüder und Fräulein Swetlowa, weiter niemand. Dabei gibt es auch sonst noch diesen und jenen, der auf ihn verweist. Es herrscht in der Gesellschaft eine gewisse, wenn auch unklare Gärung; man wirft eine Frage auf, man äußert einen Verdacht, man hört ein undeutliches Gerücht, man spürt, daß eine bestimmte Erwartung in der Luft liegt. Schließlich legt auch ein gewisses Zusammentreffen von Tatsachen ein Zeugnis ab, das sehr charakteristisch, obgleich, wie ich gestehe, ziemlich unbestimmt ist. Erstens dieser epileptische Anfall ausgerechnet am Tag der Katastrophe, den der Ankläger aus irgendwelchen Gründen so eifrig in Schutz zu nehmen und zu verteidigen für nötig hielt. Dann dieser plötzliche Selbstmord Smerdjakows einen Tag vor der Gerichtsverhandlung. Dann die nicht minder überraschende Aussage des älteren Bruders des Angeklagten heute vor Gericht, der bisher an die Schuld seines Bruders geglaubt hat, auf einmal Geld ausliefert und ebenfalls Smerdjakow namentlich als den Mörder angibt. Oh, ich bin mit dem Gerichtshof und der Staatsanwaltschaft völlig darin einig, daß Iwan Karamasow krank ist, daß er ein Nervenfieber hat und daß seine Aussage vielleicht wirklich nur ein verzweifelter, noch dazu vom Fieber diktierter Versuch ist, den Bruder durch Abwälzung der Schuld auf einen Toten zu retten. Dennoch ist wieder der Name Smerdjakow gefallen, hört man wieder etwas Rätselhaftes. Es ist, als wäre hier noch nicht alles ausgesprochen, meine Herren Geschworenen, als wäre die Sache noch nicht beendet. Und vielleicht wird das Fehlende noch ausgesprochen werden. Aber lassen wir das vorläufig – die Zukunft wird wohl Licht in die Angelegenheit bringen. Das Gericht hat vorhin beschlossen, die Sitzung fortzusetzen; einstweilen jedoch, während wir auf neue Aufklärung warten, könnte ich die eine oder andere Bemerkung machen, zum Beispiel zu der Charakteristik des verstorbenen Smerdjakow, die uns der Ankläger in so feiner, talentvoller Weise vorgetragen hat. Doch bei aller Bewunderung seines Talents kann ich mich mit dem Inhalt dieser Charakteristik nicht völlig einverstanden erklären. Ich bin bei Smerdjakow gewesen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen; er hat auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Gesundheitlich stand es schlecht mit ihm, das ist richtig; was aber seinen Charakter und sein Herz betraf – o nein, da war er durchaus kein so schwacher Mensch, wie die Anklage angenommen hat. Vor allem fand ich bei ihm keineswegs jene Schüchternheit vor, die uns der Ankläger in so markanter Weise beschrieben hat. Auch Offenherzigkeit war bei ihm nicht vorhanden, im Gegenteil, ich stieß auf ein furchtbares Mißtrauen, das sich hinter Naivität versteckte, und auf einen Verstand, der sehr vieles zu begreifen vermochte. Oh, wenn die Anklage ihn für schwachsinnig erachtet, so verfährt sie allzu harmlos. Auf mich machte er folgenden Eindruck: Ich verließ ihn mit der Überzeugung, daß er ein durch und durch boshaftes, maßlos ehrgeiziges, rachsüchtiges und neidisches Geschöpf ist. Ich habe, soweit ich konnte, Erkundungen über ihn eingezogen. Er haßte seine Herkunft, schämte sich ihrer und erinnerte sich nur zähneknirschend daran, daß er von der Stinkenden abstammte. Dem Diener Grigori und dessen Frau, den Wohltätern seiner Kindheit, gegenüber benahm er sich respektlos. Rußland verfluchte er und spottete über dieses sein Vaterland. Das Ziel seiner Sehnsucht war, nach Frankreich zu gehen, um dort ein Franzose zu werden. Er hat schon früher viel und oft darüber gesprochen, daß es ihm dafür an den nötigen Mitteln fehlte. Ich glaube, er hat niemand geliebt außer sich selbst, und sich selbst hat er in verblüffendem Maß geschätzt. Bildung bestand für ihn in guter Kleidung, sauberen Vorhemdchen und blankgeputzten Stiefeln. Da er sich für einen unehelichen Sohn von Fjodor Pawlowitsch hielt – und daß er das tat, dafür gibt es Beweise –, konnte er seine Lage mit Hinblick auf die der legitimen Kinder seines Herrn durchaus hassen: Ihnen gehörte alles und ihm nichts, mochte er denken; sie hatten alle Rechte, ihnen fiel die Erbschaft zu, er aber war nur Koch. Er teilte mir mit, er selbst habe zusammen mit Fjodor Pawlowitsch das Geld in das Kuvert getan. Die Bestimmung dieser Summe, die ihm seine beabsichtigte Karriere hätte ermöglichen können, war ihm natürlich verhaßt. Außerdem sah er die dreitausend Rubel in reinlichen regenbogenfarbenen Banknoten; ich habe ihn danach ausdrücklich gefragt. Oh, zeigen Sie nie einem neidischen, selbstsüchtigen Menschen eine große Geldsumme auf einmal! Er erblickte damals zum erstenmal eine solche Summe in einer Hand. Der Anblick des regenbogenfarbenen Päckchens konnte in krankhafter Weise auf seine Einbildungskraft wirken, zunächst noch ohne weitere Folgen. Der hochbegabte Ankläger hat uns mit außerordentlichem Scharfsinn alle Gründe vorgetragen, die für und gegen die Möglichkeit sprechen, Smerdjakow des Mordes zu beschuldigen, und er hat besonders gefragt: ›Welchen Zweck hatte es für ihn, einen epileptischen Anfall zu simulieren?‹ Ja, aber vielleicht simulierte er gar nicht? Der Anfall konnte sich auf ganz natürliche Weise einstellen, konnte jedoch auch auf ganz natürliche Weise wieder vorübergehen, und der Kranke konnte das Bewußtsein wiedererlangen. Eine völlige Genesung war zwar so schnell nicht möglich, wohl aber konnte er einmal wieder zu sich kommen und das Bewußtsein erlangen, wie das bei der Epilepsie vorkommt. Die Anklage fragt: ›Wo ist der Augenblick, da Smerdjakow den Mord begangen haben könnte?‹ Einen solchen Augenblick nachzuweisen ist außerordentlich leicht. Er konnte das Bewußtsein wiedererlangen und aus tiefem Schlaf erwachen – denn er schlief doch nur, nach einem epileptischen Anfall versinkt der Betreffende immer in einen tiefen Schlaf – genau in dem Augenblick, als der alte Grigori den flüchtenden Angeklagten am Bein packte und weithin vernehmbar ›Vatermörder!‹ schrie. Dieser ungewöhnliche Schrei in der Stille und Dunkelheit konnte Smerdjakow aufwecken, dessen Schlaf vielleicht nicht mehr sehr fest war: Er konnte auf ganz natürliche Weise schon seit einer Stunde langsam erwacht sein. Nachdem er sich vom Bett erhoben hat, begibt er sich noch fast bewußtlos hinaus ohne besondere Absicht, nur um wegen des Schreis zu sehen, was denn los sei. In seinem Kopf herrscht eine krankhafte Benommenheit, seine Denkkraft schlummert noch; doch nun ist er im Garten, tritt an die erleuchteten Fenster und hört von seinem Herrn, der natürlich über sein Kommen erfreut ist, die schreckliche Nachricht. Die Denkkraft in seinem Kopf erwacht urplötzlich wieder. Von dem erschrockenen Herrn erfährt er alle Einzelheiten. Und da entsteht in seinem zerrütteten kranken Gehirn allmählich ein furchtbarer, aber verführerischer und unwiderleglich logischer Gedanke: seinen Herrn totzuschlagen, die dreitausend Rubel zu nehmen und dann alle Schuld auf den Sohn des Herrn zu schieben – auf wen anders würde jetzt Verdacht fallen als auf ihn? Auf ihn treffen alle Anzeichen zu, er ist dagewesen! Eine schreckliche Gier nach Geld, nach Beute im Verein mit der Vorstellung, daß ihn keine Strafe treffen würde, nimmt ihm fast den Atem. Oh, ein derartiger plötzlicher, unwiderstehlicher Drang stellt sich ja so häufig bei sich bietender Gelegenheit ein und überfällt plötzlich gerade solche Mörder, die noch eine Minute vorher nicht gewußt haben, daß sie einen Mord begehen wollen! Und so konnte denn Smerdjakow zu seinem Herrn hineingehen und seinen Plan ausführen. Womit, mit was für einer Waffe? Nun, mit dem ersten besten Stein, den er im Garten aufgehoben hatte. Und wozu? Zu welchem Zweck? Nun, mit dreitausend Rubeln konnte er sich schon weiterhelfen. Oh, ich widerspreche mir nicht: es ist auch möglich, daß das Geld gar nicht vorhanden war. Vielleicht war auch Smerdjakow der einzige, der wußte, wo es zu finden war, wo der Herr es in Wirklichkeit liegen hatte. Nun, und das zerrissene Kuvert auf dem Fußboden? Als vorhin der Ankläger von diesem Kuvert sprach und uns eine außerordentlich feine Erörterung darüber vortrug, daß es eigentlich nur ein ungeübter Dieb wie Karamasow auf dem Fußboden liegenlassen konnte, bestimmt nicht Smerdjakow, der auf keinen Fall ein solches Indiz gegen sich zurückgelassen hätte – als ich das hörte, meine Herren Geschworenen, hatte ich auf einmal die Empfindung, längst Bekanntes zu hören. Und stellen Sie sich vor: Diese selbe Überlegung, wie Karamasow mit dem Kuvert habe verfahren können, hatte ich schon zwei Tage zuvor von Smerdjakow selbst gehört! Und etwas hat mich dabei sehr frappiert. Es schien mir nämlich, als fingiere er Naivität, als käme er mir absichtlich entgegen, als souffliere er mir diesen Gedanken, damit ich selbst diese Schlußfolgerung zöge. Hat er ihn vielleicht auch der Untersuchungsbehörde souffliert? Hat er ihn vielleicht auch dem hochbegabten Ankläger aufgedrängt? Man wird sagen: Aber die alte Frau Grigoris? Sie hat doch gehört, wie der Kranke neben ihr die ganze Nacht stöhnte. Richtig, sie hat es gehört; so eine Wahrnehmung ist jedoch außerordentlich unzuverlässig. Ich kannte eine Dame, die sich bitter darüber beklagte, daß ein kleiner Hund auf dem Hof sie die ganze Nacht nicht habe schlafen lassen. Und dabei hatte das arme Hündchen, wie festgestellt wurde, überhaupt nur zwei- oder dreimal in der ganzen Nacht gebellt. Und das ist ganz natürlich: Jemand schläft und hört auf einmal ein Stöhnen; er wacht ärgerlich auf, schläft aber augenblicklich wieder ein. Nach zwei Stunden wieder Stöhnen, er wacht wieder auf und schläft wieder ein; endlich nochmals Stöhnen, und zwar wieder nach zwei Stunden, im ganzen dreimal in der Nacht. Am Morgen steht der Schläfer auf und beklagt sich, daß jemand die ganze Nacht gestöhnt und ihn fortwährend geweckt habe. Und es muß ihm auch so vorkommen: In den Zwischenzeiten hat er geschlafen, jedesmal zwei Stunden lang, und er erinnert sich ihrer nicht; er erinnert sich nur an die Minuten seines Wachens, und da scheint es ihm, als sei er die ganze Nacht über geweckt worden. ›Aber warum‹, ruft die Anklage, ›hat Smerdjakow auf dem hinterlassenen Zettel kein Geständnis abgelegt? Zu dem einen reichte sein Gewissen aus, aber zu dem anderen nicht.‹ Bitte erlauben Sie: Gewissen, das ist schon Reue. Und Reue fühlte dieser Selbstmörder wohl gar nicht, sondern nur Verzweiflung. Verzweiflung und Reue, das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Verzweiflung kann boshaft und unversöhnlich sein, und der Selbstmörder konnte in dem Augenblick, als er Hand an sich legte, doppelt diejenigen hassen, die er sein Leben lang beneidet hatte. Meine Herren Geschworenen, hüten Sie sich vor einem Justizirrtum! Inwiefern ist alles das, was ich Ihnen soeben dargelegt habe, unwahrscheinlich? Finden Sie in meiner Auseinandersetzung einen Fehler, eine Unmöglichkeit, eine Sinnlosigkeit? Falls aber an meinen Annahmen auch nur ein Schatten von Möglichkeit, auch nur ein Schatten von Wahrscheinlichkeit ist, so sollten Sie sich einer Verurteilung enthalten. Und ist hier etwa nur ein Schatten vorhanden? Ich schwöre bei allem, was heilig ist: Ich glaube vollkommen an meine Auffassung des Mordes, die ich Ihnen soeben vorgetragen habe. Was mich jedoch ganz besonders aufregt und aus der Fassung bringt, ist immer ein und derselbe Gedanke: daß es in der ganzen Masse von Tatsachen, die die Anklage auf den Angeklagten gehäuft hat, auch nicht eine einzige gibt, die irgendwie zwingend und unwiderleglich wäre, sondern daß der Unglückliche lediglich durch das Zusammentreffen dieser Tatsachen zugrunde geht! Ja, dieses Zusammentreffen ist furchtbar: das von den Fingern herabfließende Blut, die blutige Wäsche, die dunkle, von dem Schrei ›Vatermörder!‹ durchhallte Nacht und der Schreiende, der mit eingeschlagenem Schädel niederstürzt, dann diese Masse von Äußerungen, Aussagen, Gebärden, Ausrufen – oh, das übt eine so gewaltige Wirkung aus und kann so leicht die Überzeugung bestechen. Aber sollte es etwa auch Ihre Überzeugung bestechen können, meine Herren Geschworenen? Denken Sie daran, daß Ihnen eine unbegrenzte Macht zu binden und zu lösen gegeben ist. Und je größer diese Macht ist, desto furchtbarer ist ihr Gebrauch! Ich nehme nicht ein Jota von dem zurück, was ich soeben gesagt habe; aber sei es drum, meinetwegen, ich will mich für einen Augenblick auf den Standpunkt der Anklage stellen und annehmen, daß mein unglücklicher Klient seine Hände mit dem Blut seines Vaters befleckt hat. Das ist nur eine Annahme, ich wiederhole es! Ich zweifle keinen Augenblick an seiner Unschuld; aber mag es sein, ich will annehmen, daß mein Angeklagter des Vatermordes schuldig ist. Selbst wenn ich eine solche Annahme für zulässig hielte, hören Sie bitte dennoch, was ich Ihnen sagen möchte. Es ist mir ein Herzensbedürfnis, Ihnen noch etwas zu sagen; denn ich sehe voraus, daß auch ein jeder von Ihnen in seinem Herzen und seinem Geist einen großen Kampf auszufechten haben wird … Verzeihen Sie mir dieses Wort von Ihrem Herzen und Ihrem Geist, meine Herren Geschworenen! Aber ich will wahrhaft und aufrichtig sein bis zum Schluß. Lassen Sie uns bitte alle aufrichtig sein!

An dieser Stelle unterbrach den Verteidiger ein ziemlich lautes Beifallklatschen. In der Tat hatte er seine letzten Worte mit dem Unterton einer solchen Aufrichtigkeit gesprochen, daß alle das Gefühl hatten, er habe vielleicht wirklich etwas Besonderes zu sagen, und zwar das Wichtigste. Als jedoch der Präsident das Beifallklatschen hörte, drohte er laut, den Gerichtssaal »räumen« zu lassen, falls sich »etwas Derartiges« wiederholen sollte. Alles wurde still, und Fetjukowitsch sprach ganz anders weiter, als er bisher gesprochen hatte: mit einer neuen Stimme, der man die Ergriffenheit anmerkte.

13. Und selbst wenn …

»Nicht nur das Zusammentreffen der Tatsachen richtet meinen Klienten zugrunde, meine Herren Geschworenen!« rief er aus. »Nein, was meinen Klienten zugrunde richtet, ist in Wirklichkeit nur eine einzige Tatsache: nämlich der Leichnam seines alten Vaters! Handelte es sich um einen gewöhnlichen Mord, so würden auch Sie bei der Nichtigkeit, der Zweifelhaftigkeit und dem phantastischen Charakter jeder einzelnen Tatsache die Beschuldigung zurückweisen oder wenigstens Bedenken haben, das Schicksal eines Menschen lediglich auf Grund eines gegen ihn bestehenden Vorurteils zu zerstören, das er leider verdient hat! Aber es handelt sich hier nicht um gewöhnlichen Mord, sondern um Vatermord! Das macht Eindruck, und zwar in einem solchen Grad, daß sogar die Nichtigkeit und Unbewiesenheit der von der Anklage vorgebrachten Tatsachen nicht mehr so nichtig und unbewiesen erscheint – und das gilt selbst für den vorurteilsfreiesten Geist. Wie soll man einen solchen Angeklagten freisprechen? Wenn er nun den Mord wirklich begangen hat und straflos davonkommt? Das ist es, was jeder unwillkürlich und instinktiv in seinem Herzen fühlt. Ja, es ist etwas Furchtbares, das Blut des Vaters zu vergießen – das Blut dessen, der mich erzeugt, mich geliebt, sein Leben für mich nicht geschont hat, der seit meinen Kinderjahren meine Krankheiten wie die eigenen empfunden, sich die ganze Zeit um mein Glück gemüht und nur von meinen Freuden, von meinen Erfolgen gelebt hat! Oh, einen solchen Vater zu töten – unmöglich, das auch nur auszudenken! Meine Herren Geschworenen, was ist ein Vater, ein wirklicher Vater? Was ist das für ein großes Wort, welche gewaltige Idee liegt in dieser Bezeichnung? Wir haben soeben andeutungsweise gesagt, was und wie ein wahrer Vater sein muß. In dem vorliegenden Prozeß aber, der unser aller Interesse in Anspruch nimmt und unsere Seelen mit Schmerz erfüllt – in dem vorliegenden Prozeß hatte der Vater, der verstorbene Fjodor Pawlowitsch Karamasow, nicht die geringste Ähnlichkeit mit jener Vorstellung, die sich unser Herz von einem Vater macht. Das ist ein Unglück. In der Tat, mancher Vater hat Ähnlichkeit mit einem Unglück. Doch lassen Sie uns dieses Unglück näher betrachten – wir dürfen uns im Hinblick auf die Wichtigkeit der bevorstehenden Entscheidung vor nichts fürchten, meine Herren Geschworenen. Gerade jetzt dürfen wir uns nicht fürchten und gewisse Gedanken sozusagen mit den Händen abwehren, wie es nach dem glücklichen Ausdruck des hochbegabten Anklägers Kinder oder ängstliche Frauen tun. Aber in seiner feurigen Rede hat mein verehrter Gegner – und mein Gegner war er, bevor ich mein erstes Wort gesprochen hatte – mehrmals ausgerufen: ›Nein, ich überlasse es niemandem, den Angeklagten zu verteidigen! Ich trete seine Verteidigung dem Verteidiger aus Petersburg nicht ab – ich bin Ankläger, aber auch Verteidiger!‹ Das hat er mehrmals ausgerufen, und doch hat er eines vergessen zu erwähnen: Wenn der Angeklagte ganze dreiundzwanzig Jahre lang für ein einziges Pfund Nüsse dankbar war, das er von dem einzigen Menschen bekommen hatte, der ihm als kleinem Kind im Vaterhause eine Freundlichkeit erwies, dann mußte umgekehrt ein solcher Mensch es auch dreiundzwanzig Jahre im Gedächtnis behalten, wie er bei seinem Vater barfuß ›auf dem Hof hinter dem Haus herumlief, ohne Schuhchen und mit Höschen, die nur an einem Knopf hingen‹, wie sich der menschenfreundliche Doktor Herzenstube ausdrückte. Oh, meine Herren Geschworenen, wozu sollen wir dieses Unglück noch näher betrachten und wiederholen, was alle bereits wissen? Was fand mein Klient vor, als er hier bei seinem Vater ankam? Und warum stellt man sich meinen Klienten gefühllos, egoistisch, unmenschlich vor? Er ist ungestüm, wild und gewalttätig, daher müssen wir jetzt über ihn Gericht halten; doch wer ist schuld am Schicksal dieses Menschen, wer ist schuld daran, daß er bei guten Charakteranlagen und einem dankbaren Herzen so eine verkehrte Erziehung empfing? Hat ihn jemand etwas Vernünftiges gelehrt, ihn in den Wissenschaften unterwiesen? Hat ihn jemand in seiner Kindheit auch nur ein klein wenig geliebt? Mein Klient ist unter Gottes Schutz aufgewachsen, das heißt wie ein wildes Tier. Er hat sich vielleicht danach gesehnt, seinen Vater nach der langjährigen Trennung wiederzusehen; er hat vorher, wenn er sich wie durch einen Schleier an seine Kindheit erinnerte, vielleicht schon tausendmal die häßlichen Gespenster verjagt, von denen er in seiner Kindheit geträumt hatte; vielleicht wünschte er von ganzer Seele, seinen Vater gerechtfertigt zu finden und in seine Arme zu schließen! Und was geschieht? Dieser Vater empfängt ihn nur mit zynischen Spottreden, mit Mißtrauen und mit Winkelzügen wegen des strittigen Geldes; er hört täglich ›beim Kognak‹ nur Gespräche und Grundsätze, bei denen sich ihm das Herz im Leib umkehrt; und zuletzt sieht er, wie der Vater ihm, dem Sohn, mit dem Geld, das ihm, dem Sohn, gehört, die Geliebte abspenstig machen will – o meine Herren Geschworenen, das ist ekelhaft und entsetzlich! Und dieser selbe alte Mann beklagt sich noch bei allen über die Respektlosigkeit und Roheit seines Sohnes, macht ihn in der Gesellschaft schlecht, schadet ihm, verleumdet ihn und kauft seine Schuldscheine auf, um ihn ins Gefängnis setzen zu lassen! Meine Herren Geschworenen, diese Seelen, scheinbar harte, gewalttätige, zügellose Menschen wie mein Klient haben oft ein sehr zartfühlendes Herz, nur bringen sie das nicht zum Ausdruck. Lachen Sie nicht, lachen Sie nicht über meinen Gedanken! Der talentvolle Ankläger machte sich vorhin über meinen Klienten erbarmungslos lustig, indem er bemerkte, dieser liebe den Dichter Schiller und ›das Schöne und Hohe‹. Ich hätte mich an seiner Stelle, an Stelle des Anklägers, darüber nicht lustig gemacht! Oh, lassen Sie mich diese Herzen verteidigen, die so selten richtig verstanden und so oft ungerecht beurteilt werden. Diese Herzen dürsten oft nach dem Zarten, Schönen, Gerechten, und zwar, wie es scheint, in schroffem Gegensatz zu sich selbst und ihrer eigenen Gewalttätigkeit und Wildheit; sie dürsten unbewußt danach, aber sie dürsten tatsächlich. Äußerlich leidenschaftlich und wild, sind sie doch fähig, bis zur Qual zu lieben, zum Beispiel eine Frau, und zwar mit einer Liebe von höchster seelischer Art. Ich bitte Sie wiederum, mich nicht auszulachen: Das kommt gerade bei solchen Naturen sehr häufig vor. Sie sind nur nicht imstande, ihre mitunter sehr urwüchsige Leidenschaft zu verbergen – und das ist es, was auffällt und bemerkt wird, während das Innere des Menschen keiner sieht. Alle ihre Leidenschaften beruhigen sich schnell, doch an der Seite eines edlen, schönen Wesens sucht dieser scheinbar rohe, harte Mensch die Erneuerung seiner selbst, er sucht die Möglichkeit, sich zu bessern, edel und ehrenhaft zu werden, ›hoch und schön‹ – sosehr auch über diese Worte gespottet worden ist! Ich habe vorhin gesagt, ich würde mir nicht erlauben, das Liebesverhältnis zwischen meinem Klienten und Fräulein Werchowzewa zu berühren. Ein halbes Wörtchen darf ich aber doch wohl darüber sagen. Wir haben vorhin keine Aussage gehört, sondern lediglich den Aufschrei einer wütenden, rachsüchtigen Frau. Doch nicht ihr steht es zu, den Vorwurf der Untreue zu erheben, denn sie hat selbst die Treue gebrochen. Hätte sie sich auch nur ein wenig Zeit zum Überlegen genommen, so hätte sie ein solches Zeugnis nicht abgelegt! Oh, glauben Sie ihr nicht! Nein, mein Klient ist kein ›Unmensch‹, wie sie ihn nannte! Als der gekreuzigte Menschenfreund sich schon zu seinem Leidensweg anschickte, sagte er: ›Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte aber läßt sein Leben für die Schafe, und es wird keines verlorengehen.‹ So wollen auch wir nicht eine Menschenseele zugrunde richten! Ich fragte vorhin, was ein Vater ist, und rief aus, das sei ein hohes Wort, eine kostbare Bezeichnung. Aber mit einem Namen, meine Herren Geschworenen, muß man ehrlich umgehen, und ich nehme mir das Recht, eine Sache mit ihrem eigenen Namen, mit ihrer eigenen Benennung zu bezeichnen. Ein solcher Vater wie der verstorbene alte Karamasow kann nicht Vater genannt werden, er ist dessen nicht würdig. Liebe zu einem Vater, die der Vater nicht verdient hat, ist etwas Sinnloses, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Man kann nicht Liebe aus nichts schaffen; aus nichts schafft nur Gott. ›Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!‹ schreibt der Apostel aus seinem in Liebe glühenden Herzen. Nicht um meines Klienten willen führe ich diese heiligen Worte an – ich erwähne sie für alle Väter. Wer hat mir die Befugnis gegeben, die Väter zu belehren? Niemand. Aber als Mensch und Bürger rufe ich alle Väter auf – vivos voco! Wir sind nicht lange auf der Erde, wir tun viele üble Taten und reden viele üble Worte. Aber gerade darum sollten wir einen geeigneten Augenblick, da wir zusammen sind, nutzen, um einander ein gutes Wort zu sagen. So will auch ich es tun! Solange ich an diesem Platz stehe, will ich den mir zur Verfügung stehenden Augenblick nutzen. Nicht ohne Absicht ist uns diese Tribüne durch den höchsten Willen verliehen worden – von ihr hört uns ganz Rußland. Ich rede nicht nur zu den hiesigen Vätern, ich rufe allen Vätern zu: ›Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht zum Zorn!‹ Ja, laßt uns zuerst selbst das Gebot Christi erfüllen und erst dann dasselbe auch von unseren Kindern verlangen! Sonst sind wir nicht Väter, sondern Feinde unserer Kinder, und sie sind nicht unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst haben sie zu unseren Feinden gemacht! ›Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden!‹ Das sage nicht ich, das schreibt das Evangelium vor. Wir sollen mit dem Maß messen, mit dem auch uns gemessen wird. Wie kann man den Kindern einen Vorwurf machen, wenn sie uns mit unserem Maß messen? Vor kurzem kam in Finnland ein Mädchen, eine Dienstmagd, in den Verdacht, heimlich ein Kind geboren zu haben. Man ging der Sache nach und fand auf dem Dachboden in einer Ecke unter den Ziegeln ihren Koffer, von dem niemand etwas gewußt hatte; man öffnete ihn und zog den Leichnam eines neugeborenen Kindes heraus, das sie getötet hatte. In demselben Koffer fand man auch die Skelette zweier anderer Kinder, die sie schon früher geboren und ebenfalls gleich bei der Geburt getötet hatte, was sie auch gestand. Meine Herren Geschworenen, war das eine Mutter ihrer Kinder? Ja, sie hat sie geboren – aber ist sie auch ihre Mutter? Wagt jemand von uns, auf sie den heiligen Namen Mutter anzuwenden? Lassen Sie uns mutig sein, meine Herren Geschworenen, lassen Sie uns sogar dreist sein; es ist unsere Pflicht, uns im gegenwärtigen Augenblick nicht vor gewissen Worten und Gedanken zu fürchten, wie bei unserem großen Dramatiker Ostrowski, jene Moskauer Kaufmannsfrauen, die sich vor den Worten ›Metall‹ und ›Schwefel‹ fürchten. Nein, beweisen wir vielmehr, daß der Fortschritt der letzten Jahre auch auf unsere geistige Entwicklung fördernd eingewirkt hat, und sagen wir es geradeheraus: Wer ein Kind gezeugt hat, ist noch nicht dessen Vater! Vater ist, wer ein Kind gezeugt hat und sich darum verdient gemacht hat! Oh, es gibt freilich auch eine andere Bedeutung, eine andere Erklärung des Wortes Vater, die verlangt, daß mein Vater, auch wenn er ein Unmensch ist und seinen Kindern Böses angetan hat, dennoch mein Vater bleibt – nur deswegen, weil er mich gezeugt hat. Doch diese Bedeutung ist sozusagen schon mystisch; ich begreife sie nicht mit dem Verstand, sondern nehme sie nur durch den Glauben hin, oder richtiger gesagt, auf Treu und Glauben, so wie vieles andere, was ich zwar nicht begreife, was mir aber dennoch die Religion zu glauben befiehlt. Doch das mag dann außerhalb des praktischen Lebensbereichs bleiben. Innerhalb des praktischen Lebensbereichs dagegen, der nicht nur seine Rechte hat, sondern uns auch große Verpflichtungen auferlegt, innerhalb dieses Bereichs ist es, sofern wir humane Menschen und Christen sein wollen, unsere Pflicht und Schuldigkeit, nur solchen Anschauungen zu huldigen, die durch Vernunft und Erfahrung bestätigt und durch den Schmelzofen der Kritik hindurchgegangen sind – kurz, vernünftig wie im Schlaf oder im Fieberwahn, damit wir keinem Mitmenschen Schaden zufügen und keinen Mitmenschen quälen und zugrunde richten. Sehen Sie, dann wird das auch eine echt christliche Handlungsweise sein, keine mystische, sondern eine vernünftige und wahrhaft menschenfreundliche Handlungsweise …«

An dieser Stelle wollte aus vielen Enden des Saales Beifall losbrechen, doch Fetjukowitsch machte eine abwehrende Handbewegung, als wollte er inständig bitten, ihn nicht zu unterbrechen, sondern ihn zu Ende reden zu lassen. Alle verstummten sogleich. Der Redner fuhr fort:

»Glauben Sie etwa, meine Herren Geschworenen, daß solche Fragen unseren Kindern fremd bleiben können, sagen wir, im Jünglingsalter, wenn sie nachzudenken beginnen? Nein, das ist ausgeschlossen, und wir wollen keine unmögliche Zurückhaltung von ihnen verlangen! Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit den würdigen Vätern anderer, gleichaltriger Kinder, drängt einem jungen Menschen unwillkürlich peinliche Fragen auf. Man antwortet ihm herkömmlich auf diese Fragen: ›Er hat dich gezeugt, und du bist sein Blut. Darum mußt du ihn lieben.‹ Der Sohn wird unwillkürlich nachdenklich. ›Aber hat er mich etwa geliebt, als er mich zeugte?‹ fragt er in immer größerer Verwunderung. ›Hat er mich etwa um meinetwillen gezeugt? Er kannte ja weder mich noch mein Geschlecht in jenem Augenblick einer vielleicht durch Weingenuß entzündeten Leidenschaft, und er hat höchstens die Neigung zum Trinken auf mich vererbt – das sind alle seine Wohltaten. Warum soll ich ihn nur dafür lieben, daß er mich gezeugt, während des ganzen weiteren Lebens jedoch nicht geliebt hat?‹ Oh, Ihnen erscheinen diese Fragen vielleicht grob und roh; verlangen Sie aber von einem jugendlichen Geist keine unmögliche Zurückhaltung! ›Wenn man die Natur zur Tür hinausjagt, wird sie durchs Fenster wieder hereinfliegen.‹ Und vor allen Dingen wollen wir uns nicht vor dem ›Metall‹ und dem ›Schwefel‹ fürchten und wollen die Frage so entscheiden, wie es Vernunft und Menschenliebe, nicht wie es mystische Begriffe vorschreiben. Wie sollen wir sie denn nun entscheiden? Das will ich Ihnen sagen: Mag der Sohn vor seinen Vater hintreten und ihn ruhig und bedachtsam fragen: ›Vater, sag mir, warum bin ich verpflichtet, dich zu lieben? Vater, beweise mir, daß ich verpflichtet bin, dich zu lieben!‹ Und wenn dann dieser Vater imstande ist, ihm zu antworten und es ihm zu beweisen, so ist das eine richtige, normale Familie, die sich nicht auf eine veraltete mystische Anschauung stützt, sondern auf vernünftigen, bewußten, streng humanen Grundlagen ruht. Im entgegengesetzten Fall, wenn der Vater es nicht beweisen kann, ist es mit dieser Familie zu Ende! Er ist nicht der Vater des Sohnes, und der Sohn erhält die Freiheit und das Recht, seinen Vater in Zukunft für einen ihm fremden Menschen, ja für seinen Feind zu halten! Unsere Tribüne, meine Herren Geschworenen, muß eine Schule der Wahrheit und der gesunden Vernunft sein!«

Hier wurde der Redner durch unbändiges, beinahe frenetisches Beifallklatschen unterbrochen. Natürlich applaudierte nicht der ganze Saal, aber doch etwa die Hälfte. Die Väter und die Mütter applaudierten. Von oben, wo die Damen saßen, hörte man helle Beifallsrufe. Taschentücher wurden geschwenkt. Der Präsident schwang aus Leibeskräften seine Glocke. Er war sichtlich gereizt durch das Benehmen des Publikums; doch den Saal räumen zu lassen, wie er kurz zuvor angedroht hatte, das wagte er nicht. Zu denen, die dem Redner applaudierten und Taschentücher schwenkten, gehörten nämlich auch vornehme Persönlichkeiten, die hinten auf gesonderten Stühlen saßen, alte Herren mit Ordenssternen auf dem Frack. Also begnügte sich der Präsident, als sich der Lärm gelegt hatte, mit einer abermaligen strengen Drohung, den Saal räumen zu lassen. Und Fetjukowitsch, triumphierend und erregt, setzte seine Rede fort.

»Meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich an jene furchtbare Nacht, von der heute so viel gesprochen worden ist: als der Sohn den Zaun überstiegen hatte, in das Haus seines Vaters eingedrungen war und nun endlich Auge in Auge dem gegenüberstand, der sein Feind war und ihm Unrecht zugefügt hatte, ihm, seinem Erzeuger. Mit allem Nachdruck bleibe ich bei der Behauptung, daß er nicht des Geldes wegen gekommen war; die Anschuldigung wegen Raubes ist eine Torheit, wie ich schon vorhin dargelegt habe. Auch nicht um zu morden, war er bei ihm eingedrungen, o nein! Hätte er das vorsätzlich geplant gehabt, so hätte er sich zumindest vorher eine Waffe besorgt; den Messingstößel hatte er sich nur instinktiv gegriffen, ohne selber zu wissen wozu. Mag er den Vater durch das Signal getäuscht haben, mag er bei ihm eingedrungen sein – ich sagte schon, daß ich keine Sekunde an diese Fabel glaube –, aber mag es meinetwegen so gewesen sein, nehmen wir das für einen Augenblick als wahr an! Meine Herren Geschworenen, ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist: Wäre das nicht sein Vater gewesen, sondern ein fremder Beleidiger, so wäre er, nachdem er durch die Zimmer gelaufen war und festgestellt hatte, daß diese Frau nicht da war, Hals über Kopf wieder weggelaufen, ohne seinem Nebenbuhler Schaden zugefügt zu haben; er hätte ihm vielleicht einen Schlag oder einen Stoß versetzt, weiter aber auch nichts, denn darauf war sein Sinn nicht gerichtet, dazu hatte er keine Zeit: Er mußte in Erfahrung bringen, wo sie war. Doch der Vater – oh, alles bewirkte nur der Anblick des Vaters, der ihn von seiner Kindheit an gehaßt, sich als sein Feind erwiesen, ihn benachteiligt hatte und jetzt sein gräßlicher Nebenbuhler war! Ein Gefühl des Hasses ergriff ihn unwillkürlich und unwiderstehlich, zum Überlegen war keine Zeit: alles wurde augenblicklich in ihm lebendig! Das war ein Affekt von Irrsinn und Geistesstörung, aber auch ein Affekt der Natur, welche die Verletzung ihrer ewigen Rechte stets unaufhaltbar und unbewußt zu rächen pflegt. Doch der Mörder hat auch da nicht gemordet – das behaupte ich mit lauter Stimme! Nein, er hat nur voller Ekel und Empörung eine ausholende Bewegung mit dem Stößel gemacht, ohne die Absicht, einen Mord zu begehen, und ohne zu wissen, daß er einen Mord beging. Hätte er diesen verhängnisvollen Stößel nicht in der Hand gehabt, so hätte er den Vater zwar vielleicht geprügelt, aber nicht erschlagen. Als er weglief, wußte er nicht, ob der alte Mann, den er zu Boden geschlagen hatte, tot war. Ein solcher Mord ist auch kein Vatermord. Nein, die Ermordung eines solchen Vaters kann man nicht Vatermord nennen. Ein solcher Mord kann nur auf Grund einer veralteten Ansicht als Vatermord gelten. Aber hat denn mein Klient diesen Mord überhaupt begangen? Das frage ich Sie immer wieder aus tiefster Seele. Meine Herren Geschworenen, wenn wir ihn jetzt verurteilen, so wird er sagen: ›Diese Menschen haben für mein Schicksal, für meine Erziehung, für meine Bildung nichts getan. Nichts, um mich zu bessern, um mich zu einem Menschen zu machen. Diese Menschen haben mich nicht gespeist und mich nicht getränkt und mich, den Nackten, im Gefängnis nicht, besucht. Statt dessen haben sie mich zur Zwangsarbeit geschickt. Ich bin mit ihnen quitt, bin ihnen nichts mehr schuldig, bin überhaupt bis in alle Ewigkeit niemand mehr etwas schuldig. Sie sind böse, und ich werde auch böse sein! Sie sind grausam, und ich werde auch grausam sein!‹ Das ist es, was er sagen wird, meine Herren Geschworenen! Und ich schwöre Ihnen, durch Ihren Schuldspruch werden Sie ihm seine Last nur erleichtern! Sie werden ihm sein Gewissen erleichtern; er wird das von ihm vergossene Blut verfluchen, aber er wird nicht bedauern, es vergossen zu haben! Und gleichzeitig werden Sie in ihm den noch potentiell vorhandenen Menschen vernichten, denn er wird böse und blind bleiben sein Leben lang. Wollen Sie ihn jedoch schwer und hart bestrafen, mit der schrecklichsten Strafe, die man sich denken kann, aber so, daß Sie seine Seele retten und für alle Zeit erneuern? Wenn Sie das wollen, dann erdrücken Sie ihn durch Ihr Mitleid! Sie werden sehen, Sie werden hören, wie seine Seele zusammenfahren und erschrecken wird. ›Daß mir diese Gnade erwiesen wird, daß mir so viel Liebe zuteil wird! Bin ich denn dessen würdig?‹ wird er ausrufen. Oh, ich kenne dieses Herz, dieses wilde, aber edle Herz, meine Herren Geschworenen! Es wird sich dankbar vor Ihrer schönen Tat neigen, es wird nach einer großen Tat der Liebe dürsten, es wird entbrennen und wiederauferstehen für immer. Es gibt Seelen, die in ihrer Beschränktheit die ganze Welt beschuldigen. Aber erdrücken Sie diese Seele durch Ihr Mitleid, erweisen Sie ihr Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es sind viele gute Keime in ihr. Die Seele wird sich weiten und erkennen, wie barmherzig Gott ist und wie gut und gerecht die Menschen sind. Die Reue und die unermeßliche Dankesschuld, die von nun an auf ihm lastet, wird ihn erschrecken und niederdrücken. Und er wird dann nicht sagen können: ›Ich bin quitt mit ihnen‹, sondern: ›Ich bin vor allen Menschen schuldig und aller Menschen unwürdig!‹ Unter Tränen der Reue und brennender qualvoller Rührung wird er ausrufen: ›Die Menschen sind besser als ich! Sie wollen mich nicht zugrunde richten, sondern retten!‹ Oh, es ist für Sie so leicht, diese Handlung der Barmherzigkeit auszuüben, denn angesichts des Fehlens aller auch nur einigermaßen triftigen Beweise wird es Ihnen sehr schwerfallen zu verkünden: ›Jawohl – schuldig!‹ Es ist besser, zehn Schuldige ungestraft zu lassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen – hören Sie nicht diese erhabene Stimme aus dem vorigen Jahrhundert unserer ruhmvollen Geschichte? Mir unbedeutendem Menschen steht es nicht zu, Sie daran zu erinnern, daß sich die russische Justiz nicht darauf beschränkt zu strafen, sondern auch den verlorenen Menschen zu retten sucht! Mögen bei anderen Völkern Paragraphen und Strafen herrschen – bei uns herrsche Geist und Sinn, und das Ziel sei die Rettung und Wiedergeburt der Verlorenen! Und wenn dem so ist, wenn Rußland und seine Justiz wirklich so beschaffen sind, dann steht Rußland an der Spitze, und keiner schrecke uns mit jener rasenden Troika, vor der alle Völker voll Abscheu zur Seite treten! Nicht wie eine rasende Troika, sondern wie ein majestätischer Triumphwagen wird Rußland feierlich und ruhig ans Ziel gelangen! In Ihren Händen liegt das Schicksal meines Klienten – in Ihren Händen liegt aber auch das Schicksal unserer russischen Gerechtigkeit. Sie werden sie retten. Sie werden sie verteidigen, Sie werden beweisen, daß es Männer gibt, sie zu behüten, und daß sie in guten Händen liegt!«

14. Die Bauern haben ihren Kopf für sich

So schloß Fetjukowitsch, und die Begeisterung der Zuhörer war diesmal unaufhaltsam wie ein Sturm. Die Frauen weinten, es weinten auch viele Männer, selbst zwei der vornehmen Würdenträger vergossen Tränen. Der Präsident fügte sich und zögerte sogar, seine Glocke zu schwingen. »Gegen einen solchen Enthusiasmus einzuschreiten, das wäre gleichbedeutend gewesen mit Frevel gegen ein Heiligtum!« So drückten sich später unsere Damen aus. Auch der Redner selbst war aufrichtig gerührt. Und in diesem Augenblick erhob sich noch einmal unser Ippolit Kirillowitsch, um »Entgegnungen zu machen«. Haßerfüllte Blicke richteten sich auf ihn. »Wie? Was soll das heißen? Er wagt es, danach noch etwas zu entgegnen?« flüsterten die Damen. Doch sogar wenn die Damen der ganzen Welt geflüstert hätten und an ihrer Spitze Ippolit Kirillowitschs Gattin, die Frau Staatsanwalt persönlich, auch dann wäre es nicht möglich gewesen, ihn in diesem Moment zurückzuhalten. Er war blaß und zitterte vor Erregung; die ersten Worte, die ersten Sätze, die er sprach, waren geradezu unverständlich. Er atmete nur mühsam, versprach und verwirrte sich. Allerdings hatte er sich bald wieder in der Gewalt. Aus dieser zweiten Rede des Staatsanwalts werde ich nur einige Sätze anführen.

»Uns wird der Vorwurf gemacht, wir hätten Romane erdichtet. Aber was der Verteidiger vorgebracht hat, ist das nicht die reinste Dichtung? Es fehlten nur noch die Verse. Fjodor Pawlowitsch, der auf seine Geliebte wartet, zerreißt das Kuvert und wirft es auf den Fußboden. Es wird sogar angeführt, was er bei diesem seltsamen Tun geredet hat. Ist das etwa keine Dichtung? Wo ist ein Beweis dafür, daß er das Geld herausgenommen hat? Und wer hat gehört, was er dabei sagte? Der schwachsinnige Idiot Smerdjakow verwandelt sich in einen Byronschen Helden, der sich wegen seiner illegitimen Geburt an der Gesellschaft rächt – ist das etwa keine Dichtung im Stile eines Byron? Und dann der Sohn, der zu seinem Vater eingedrungen ist und ihn ermordet hat, gleichzeitig aber auch nicht ermordet hat – das ist nun schon kein Roman und keine Dichtung mehr, das ist eine Sphinx, die Rätsel aufgibt, Rätsel freilich, die sie selbst natürlich auch nicht löst. Wenn er gemordet hat, so hat er gemordet. Doch was heißt das: Wenn er auch gemordet hat, so hat er auch wieder nicht gemordet? Wer soll das verstehen? Ferner wird uns verkündet, unsere Tribüne sei eine Tribüne der Wahrheit und der gesunden Vernunft, und plötzlich ertönt von dieser ›Tribüne der gesunden Vernunft‹, von einem Schwur begleitet, der Grundsatz, es sei eine veraltete Anschauung, die Ermordung eines Vaters Vatermord zu nennen! Wenn der Vatermord eine veraltete Anschauung ist und wenn jedes Kind seinen Vater fragen soll: ›Vater, warum bin ich verpflichtet, dich zu lieben?‹, was soll dann aus uns werden, was aus den Grundlagen der Gesellschaft, aus der Familie? Vatermord, sehen Sie, das ist also nur so etwas wie der ›Schwefel‹ jener Ostrowskischen Kaufmannsfrau. Die teuersten, heiligsten Satzungen für die Bestimmung und die zukünftige Entwicklung der russischen Justiz werden in leichtfertig entstellter Art vorgeführt, nur um das Ziel zu erreichen, nämlich eine Rechtfertigung dessen, was sich nicht rechtfertigen läßt. ›Oh, erdrücken Sie ihn mit Ihrem Mitleid!‹ ruft der Verteidiger aus. Weiter will ja der Verbrecher auch gar nichts! Gleich morgen würde man sehen können, wie erdrückt er ist! Ist der Verteidiger auch nicht zu bescheiden, wenn er nur den Freispruch des Angeklagten verlangt? Warum verlangt er nicht die Stiftung eines Stipendiums auf den Namen des Vatermörders, damit seine Tat für die Nachwelt und die junge Generation verewigt wird? Das Evangelium und die Religion werden korrigiert; das ist alles Mystik, heißt es. Nur bei uns, da ist das echte Christentum, das bereits von der gesunden Vernunft und Denkkraft kritisch überprüft wurde. Und dann führt man uns ein Trugbild Christi vor Augen! ›Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen weiden‹, ruft der Verteidiger und behauptet im selben Augenblick, Christus habe befohlen, wir sollten mit dem Maß messen, mit welchem uns gemessen wird – und das behauptet er von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Vernunft! Wir werfen rasch einen Tag vor unseren Reden einen Blick in das Evangelium, um durch unsere Kenntnis dieses immerhin recht originellen Schriftwerkes zu glänzen, das je nach Bedarf zur Erzielung eines bestimmten Effektes taugen und dienen kann, immer je nach Bedarf! Doch Christus befiehlt ja gerade, wir sollen es nicht so machen, wir sollen uns hüten, es so zu machen, weil die böse Welt es so macht! Wir dagegen sollen verzeihen und unsere Backe darbieten, aber nicht mit demselben Maß messen, mit dem uns unsere Beleidiger messen. Das ist es, was uns unser Gott gelehrt hat, und nicht, daß es veraltet ist, wenn man den Kindern verbietet, ihre Väter zu ermorden. Wir werden es jedenfalls nicht unternehmen, von der Tribüne der Wahrheit und der gesunden Vernunft herab das Evangelium unseres Gottes zu korrigieren, den der Verteidiger nur der Bezeichnung ›gekreuzigter Menschenfreund‹ würdigt – im Gegensatz zum ganzen rechtgläubigen Rußland, das Ihm zuruft: ›Denn du bist unser Gott!‹«

Da griff der Präsident ein und unterbrach den allzu hitzig gewordenen Redner, indem er ihn ersuchte, nicht zu übertreiben, innerhalb der gebührenden Grenzen zu bleiben, und so weiter und so fort, wie Präsidenten in solchen Fällen gewöhnlich sprechen. Auch der Saal war unruhig geworden; das Publikum war in Bewegung geraten und ließ sogar Ausrufe des Unwillens vernehmen. Fetjukowitsch ließ sich auf eine eigentliche Erwiderung gar nicht ein; er bestieg nur die Tribüne, um, die Hand auf dem Herzen, mit gekränkter Stimme einige würdevolle Worte zu sagen. Nur nebenbei und in spöttischem Ton berührte er noch einmal die »Dichtungen« und die »Psychologie« und schob an einer Stelle geschickt die Wendung ein: »Jupiter, du bist zornig, also hast du unrecht!« Dadurch rief er beifälliges Gelächter beim Publikum hervor, denn Ippolit Kirillowitsch hatte mit Jupiter nun gar keine Ähnlichkeit. Auf die Beschuldigung schließlich, er erlaube der jungen Generation, ihre Väter totzuschlagen, bemerkte Fetjukowitsch mit zutiefst verletzter Würde, darauf wolle er nichts erwidern. Zu dem »Trugbild Christi« und der Behauptung, er würdige Christus nicht der Bezeichnung »Gott«, sondern nur »gekreuzigter Menschenfreund«, was »im Widerspruch zur Rechtgläubigkeit« stehe und von der »Tribüne der Wahrheit und der gesunden Vernunft nicht proklamiert« werden dürfe, beschränkte sich Fetjukowitsch auf die kurze Bemerkung, das sei eine »Insinuation«; als er hierhergereist sei, habe er wenigstens damit gerechnet, daß die hiesige Tribüne gegen Anschuldigungen geschützt wäre, »die meiner Persönlichkeit als Bürger und loyalem Untertan gefährlich werden könnten …« Doch bei diesen Worten unterbrach der Präsident auch ihn, und Fetjukowitsch schloß seine Antwort mit einer Verbeugung, worauf ein allgemeines Gemurmel des Beifalls im Saal eintrat. Ippolit Kirillowitsch aber war nach der Meinung unserer Damen »für alle Zeit erledigt«.

Danach wurde das Wort dem Angeklagten selbst erteilt. Mitja erhob sich, sagte aber nur wenig. Er war furchtbar ermüdet, körperlich wie geistig. Das selbstbewußte, kraftvolle Aussehen vom Morgen hatte ihn fast ganz verlassen. Es war, als habe er an diesem Tag etwas erlebt, wodurch ihm sehr wichtige und bislang nicht begriffene Dinge für sein ganzes Leben klar und begreiflich geworden waren. Seine Stimme wirkte schwächer; er schrie nicht mehr wie vorher. Seine Worte hatten einen neuartigen Klang, so als ob er sich unterworfen habe, sich für besiegt erkläre und sich beuge.

»Was soll ich sagen, meine Herren Geschworenen? Mein Gericht ist gekommen, ich fühle die Hand Gottes über mir. Für mich wüsten Menschen ist das Ende da! Aber als ob ich vor Gott beichtete, sage ich Ihnen: Am Blut meines Vaters – nein, daran bin ich unschuldig! Zum letztenmal wiederhole ich, es: Nicht ich habe den Mord begangen! Ich habe ein wüstes Leben geführt, aber ich habe das Gute geliebt. Jeden Augenblick bin ich bemüht gewesen, mich zu bessern, aber ich habe gelebt wie ein wildes Tier. Ich danke dem Staatsanwalt: Er hat vieles über mich gesagt, was ich nicht wußte. Aber es ist nicht wahr, daß ich meinen Vater getötet habe – darin hat sich der Staatsanwalt geirrt! Ich danke auch dem Verteidiger. Ich habe geweint, während ich ihm zuhörte. Aber es ist nicht wahr, daß ich meinen Vater getötet habe – diese Annahme war völlig überflüssig! Den Ärzten glauben Sie bitte nicht: Ich bin bei vollem Verstand, mir ist nur schwer ums Herz. Wenn Sie mit mir Mitleid haben, wenn Sie mich freisprechen, werde ich für Sie beten. Ich werde mich bessern, darauf gebe ich Ihnen mein Wort, vor Gott gebe ich Ihnen darauf mein Wort. Wenn Sie mich jedoch verurteilen, werde ich meinen Degen mit eigener Hand über meinem Kopf zerbrechen und die zerbrochenen Stücke küssen! Aber haben Sie Mitleid mit mir, nehmen Sie mir nicht meinen Gott! Ich kenne mich: Ich werde gegen ihn murren! Mir ist so schwer ums Herz, meine Herren … Haben Sie Mitleid!«

Er fiel fast auf seinen Platz zurück, die Stimme versagte ihm, den letzten Satz hatte er kaum noch herausbringen können. Anschließend schritt das Gericht zur Formulierung der Fragen und befragte die beiden Parteien nach ihren Schlußmeinungen; aber ich will hier nicht alle Einzelheiten wiedergeben. Endlich standen die Geschworenen auf, um sich zur Beratung zurückzuziehen. Der Präsident war sehr erschöpft und gab ihnen daher nur ein sehr schwaches Geleitwort mit: »Seien Sie unparteiisch, lassen Sie sich nicht durch die beredten Worte der Verteidigung beeinflussen, sondern wägen Sie selbst alles ab! Und vergessen Sie nicht, daß eine große Verantwortung auf Ihnen ruht«, und so weiter und so fort. Die Geschworenen entfernten sich, und es trat eine Unterbrechung der Sitzung ein. Man konnte aufstehen, umhergehen, die Eindrücke, die sich angesammelt hatten, miteinander austauschen und am Büfett etwas essen. Es war sehr spät, schon gegen ein Uhr nachts, doch niemand ging weg. Alle waren so erregt und gespannt, daß sie an Ruhe gar nicht dachten; alle warteten mit Herzklopfen auf den Ausgang der Sache, obwohl übrigens nicht alle Herzklopfen hatten. Die Damen waren nur krankhaft ungeduldig, fühlten sich aber im Innersten beruhigt: »Der Freispruch ist sicher!« Sie bereiteten sich alle auf den effektvollen Augenblick des allgemeinen Enthusiasmus vor. Ich muß gestehen, daß auch vom männlichen Teil des Publikums viele von dem sicheren Freispruch überzeugt waren. Manche freuten sich, andere sahen verdrießlich aus, wieder andere ließen geradezu die Köpfe hängen: Sie wünschten keinen Freispruch! Fetjukowitsch selbst war von seinem Erfolg fest überzeugt. Er wurde umringt, nahm Glückwünsche und Komplimente entgegen.

»Es gibt«, sagte er in einer Gruppe, wie später wiedererzählt wurde, »unsichtbare Fäden, die den Verteidiger mit den Geschworenen verbinden. Schon während des Plädoyers knüpfen sie sich und werden spürbar. Ich habe sie gefühlt, sie sind vorhanden. Der Sieg ist unser, seien Sie ganz beruhigt!«

»Was werden bloß unsere Bauern jetzt sagen?« bemerkte ein düster blickender, dicker, pockennarbiger Herr, ein Gutsbesitzer aus der Umgegend, während er sich einer Gruppe von Herren anschloß, die sich über den Fall unterhielten.

»Aber es sind ja nicht nur Bauern. Vier Beamte gehören auch dazu.«

»Ja gewiß, auch Beamte«, sagte ein Mitglied der Kreisverwaltung und trat näher.

»Kennen Sie Prochor Iwanowitsch Nasarjew, diesen Kaufmann mit der Medaille? Er ist einer von den Geschworenen.«

»Was ist mit dem?«

»Ein kluges Haus.«

»Der schweigt doch immer.«

»Schweigen tut er freilich, aber das ist ja um so besser. Der wird sich von dem Petersburger nicht belehren lassen, der könnte selbst ganz Petersburg belehren. Kinder hat er zwölf Stück, denken Sie mal an!«

»Aber ich bitte Sie, sie werden ihn doch nicht verurteilen?« rief in einer anderen Gruppe einer unserer jungen Beamten.

»Sie werden ihn sicherlich freisprechen«, erwiderte eine entschiedene Stimme.

»Es wäre eine Schmach und Schande, wenn sie ihn nicht frei sprechen würden!« rief der Beamte. »Meinetwegen mag er ihn totgeschlagen haben – aber Vater und Vater, das ist doch ein großer Unterschied. Und dann, er war ja doch ganz außer sich … Vielleicht hat er wirklich nur so eine Bewegung mit dem Stößel gemacht, und da ist der andere umgefallen. Schlecht war von dem Verteidiger nur, daß er den Diener mit hineingezogen hat. Das war einfach eine lächerliche Episode. Ich an seiner Stelle hätte geradeheraus gesagt: Er hat ihn totgeschlagen, aber er ist nicht schuldig, hol‘ euch der Teufel!«

»So hat er es ja auch gemacht, nur daß er nicht gesagt hat: Hol‘ euch der Teufel!«

»Nein, Michail Semjonowitsch, ein bißchen hat er es doch gesagt«, fiel ein dritter ein.

»Ich bitte Sie, meine Herren, in den Großen Fasten wurde doch bei uns eine Schauspielerin freigesprochen, die der Ehefrau ihres Liebhabers den Hals durchgeschnitten hatte.«

»Aber sie hatte ihn ihr nicht ganz durchgeschnitten.«

»Einerlei, sie hatte angefangen.«

»Aber wie er von den Kindern sprach! Großartig!«

»Jawohl, großartig!«

»Na, und dann von der Mystik, von der Mystik, he?«

»Ach, hören Sie doch mit der Mystik auf!« rief noch jemand. »Versetzen Sie sich mal in die Lage des guten Ippolit, wie es dem von nun an ergehen wird. Morgen wird ihm die Frau Staatsanwalt wegen seiner Angriffe auf Mitenka die Augen auskratzen.«

»Ist sie etwa hier?«

»Wie kann sie denn hier sein? Wenn sie hier wäre, hätte sie ihm die Augen gleich hier ausgekratzt. Sie sitzt zu Hause und hat Zahnschmerzen. Hehehe!«

»Hehehe!«

In einer dritten Gruppe:

»Am Ende werden sie diesen Mitenka noch freisprechen.«

»Dann wird er morgen womöglich das ganze Restaurant ›Zur Residenz‹ in Aufruhr bringen und zehn Tage lang betrunken sein.«

»Ja, weiß der Teufel.«

»Ja, der Teufel ist schon im Spiel, ohne den geht es nicht ab. Wo sollte er auch sein, wenn nicht hier?«

»Meine Herren, es war zwar wirklich eine kunstvolle Rede, aber daß die Kinder ihren Vätern mit schweren Metallstücken die Köpfe einschlagen, das ist wohl doch nicht zulässig. Wo kämen wir sonst hin?«

»Der Triumphwagen, der Triumphwagen, erinnern Sie sich?«

»Ja, aus einem Bauernwagen hat er einen Triumphwagen gemacht.«

»Und morgen wird er aus einem Triumphwagen einen Bauernwagen machen. Je nach Bedarf, immer nach Bedarf.«

»Ja, geschickte Menschen gibt es jetzt. Herrscht bei uns in Rußland noch Gerechtigkeit, meine Herren, oder ist es damit ganz und gar vorbei?«

Doch da ertönte die Glocke. Die Geschworenen hatten genau eine Stunde lang beraten, nicht mehr und nicht weniger. Tiefes Schweigen herrschte, als das Publikum wieder Platz genommen hatte. Ich erinnere mich, wie die Geschworenen in den Saal traten. Endlich! Ich werde die Fragen nicht Punkt für Punkt anführen; ich habe sie auch vergessen. Ich erinnere mich nur – wenn auch nicht im Wortlaut – an die erste und wichtigste Frage des Präsidenten, nämlich: »Hat er vorsätzlich gemordet, mit der Absicht zu rauben?« Alles war stumm. Der Obmann der Geschworenen, jener jüngste Beamte von allen, verkündete in die Stille des Saales laut und deutlich: »Jawohl, er ist schuldig!«

Und dann folgte zu allen Punkten immer dieselbe Antwort: »Schuldig«, und »Schuldig« – und zwar ohne alle mildernden Umstände! Das hatte niemand erwartet; daß zumindest mildernde Umstände zugebilligt würden, davon waren fast alle überzeugt gewesen. Die Totenstille im Saal hielt längere Zeit an; alle schienen buchstäblich zu Stein erstarrt: diejenigen, die eine Verurteilung, ebenso wie diejenigen, die einen Freispruch gewünscht hatten. Dann entstand ein furchtbares Durcheinander. Vom männlichen Publikum zeigten sich viele sehr zufrieden. Manche rieben sich sogar die Hände, ohne ihre Freude zu verbergen. Die Unzufriedenen waren wie niedergeschmettert, zuckten die Achseln, flüsterten untereinander, schienen sich noch immer nicht dreinfinden zu können. Aber mein Gott, was wurde aus unseren Damen! Ich dachte schon, sie würden eine Revolution veranstalten. Zuerst wollten sie ihren Ohren nicht trauen. Und auf einmal hörte man laute Ausrufe durch den ganzen Saal schallen: »Was soll denn das heißen? Was soll das heißen?« Sie sprangen von ihren Plätzen auf; vielleicht bildeten sie sich ein, das alles könnte sofort wiederaufgehoben und abgeändert werden. Plötzlich erhob sich Mitja und schrie herzzerreißend, wobei er die Hände ausstreckte. »Ich schwöre bei Gott und seinem Jüngsten Gericht, an dem Blut meines Vaters bin ich unschuldig! Katja, ich verzeihe dir! Brüder, Freunde, nehmt euch der anderen an!«

Er sprach nicht zu Ende, sondern brach in so lautes Schluchzen aus, daß man es im ganzen Saal hörte; seine Stimme hatte einen eigentümlich fremden, neuen, unerwarteten Klang – Gott weiß woher. Oben auf der Galerie, im hintersten Winkel, ertönte der durchdringende Schrei einer Frau: Es war Gruschenka. Sie hatte durch ihre flehentlichen Bitten jemand erweichen können und war noch vor dem Beginn der Plädoyers wieder in den Saal gelassen worden. Mitja wurde abgeführt. Die Urteilsverkündung wurde auf den nächsten Tag verschoben, das Publikum erhob sich in wildem Chaos. Ich wartete jedoch nicht länger und hörte auch nicht mehr zu. Ich habe nur einige Äußerungen behalten, die ich schon auf den Stufen vor dem Ausgang vernahm.

»Zwanzig Jahre Bergwerk dürften ihm sicher sein.«

»Mindestens.«

»Ja, unsere Bauern haben ihren Kopf für sich.«

»Und haben unseren Mitenka erledigt.«

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Kapitel 13

Epilog

1. Pläne zu Mitjas Rettung

»Am fünften Tag nach der Gerichtsverhandlung, morgens, noch vor neun Uhr, kam Aljoscha zu Katerina Iwanowna, um mit ihr endgültig eine für sie beide wichtige Angelegenheit zu besprechen; außerdem hatte er noch einen Auftrag an sie. Sie saß und sprach mit ihm in demselben Zimmer, wo sie einstmals Gruschenka empfangen hatte; nebenan, in einem anderen Zimmer, lag Iwan Fjodorowitsch krank an Nervenfieber und besinnungslos. Daß Iwan Fjodorowitsch, der das Bewußtsein verloren hatte, zu ihr nach Hause gebracht werden sollte, hatte Katerina Iwanowna gleich nach der Szene vor Gericht angeordnet, ohne sich um das mit Sicherheit zu erwartende abfällige Gerede der Gesellschaft zu kümmern. Eine der beiden Verwandten, die bei ihr wohnten, war gleich nach der Szene vor Gericht nach Moskau gefahren; die andere war dageblieben. Aber auch wenn sie beide weggefahren wären, hätte Katerina Iwanowna ihren Entschluß nicht geändert und nicht aufgehört, den Kranken zu pflegen und Tag und Nacht bei ihm zu sitzen. Warwinski und Herzenstube behandelten ihn; der Moskauer Arzt war zurückgefahren, nachdem er abgelehnt hatte, eine Prognose über den möglichen Ausgang der Krankheit zu stellen. Die beiden Ärzte versuchten zwar, Katerina Iwanowna und Aljoscha Mut zu machen, doch es war klar, daß sie ihnen noch keine bestimmte Hoffnung geben konnten. Aljoscha besuchte seinen kranken Bruder zweimal am Tag. Diesmal aber hatte er eine besondere, unangenehme Sache vorzubringen, und er spürte im voraus, wie peinlich es ihm sein würde, davon zu reden. Außerdem war er sehr in Eile, denn er hatte diesen Morgen noch eine andere unaufschiebbare Sache an anderer Stelle vor sich. Sie hatten schon ungefähr eine Viertelstunde miteinander gesprochen. Katerina Iwanowna war blaß und sehr ermüdet, befand sich gleichzeitig jedoch in einer ungewöhnlichen, krankhaften Erregung; sie ahnte, warum Aljoscha, von allem übrigen abgesehen, jetzt zu ihr gekommen war.

»Daß er sich dazu entschließen wird, darüber brauchen Sie sich keine Sorge zu machen«, sagte sie in festem, energischem Ton zu Aljoscha. »So oder so, er wird doch zu diesem Hilfsmittel greifen müssen! Er muß fliehen! Dieser Unglückliche, dieser Held der Ehre und des Gewissens, nicht Dmitri Fjodorowitsch, sondern der hinter dieser Tür, der sich für seinen Bruder aufgeopfert hat, hat mir diesen ganzen Fluchtplan schon längst mitgeteilt. Wissen Sie, er hat sogar schon die erforderlichen Verbindungen angeknüpft … Ich habe Ihnen bereits einiges darüber gesagt … Sehen Sie, es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auf der dritten Etappe von hier vor sich gehen, wenn der betreffende Sträflingstrupp nach Sibirien geführt wird. Oh, bis dahin wird noch viel Zeit vergehen. Iwan Fjodorowitsch ist schon bei dem Kommandanten der dritten Etappe gewesen. Wir wissen nur noch nicht, welcher Offizier den Trupp führen wird, und es ist auch nicht möglich, das im voraus zu erfahren. Morgen werde ich Ihnen vielleicht den ganzen Plan mit allen Einzelheiten zeigen, den mir Iwan Fjodorowitsch einen Tag vor der Gerichtsverhandlung für alle Fälle hiergelassen hat. Es war damals, als Sie uns am Abend im Streit antrafen. Er stieg schon die Treppe hinab, und als ich Sie sah, veranlaßte ich ihn, wieder umzukehren, erinnern Sie sich? Wissen Sie, weswegen wir uns damals gestritten haben?«

»Nein, ich weiß es nicht,« erwiderte Aljoscha.

»Er hat es vor Ihnen natürlich geheimgehalten. Es ging um eben diesen Fluchtplan. Er hatte ihn mir schon drei Tage vorher in den Hauptzügen enthüllt – und gleich da begannen wir uns zu streiten, und wir stritten uns dann die ganzen drei Tage. Die Ursache unseres Streites war folgende: Als er mir eröffnete, daß im Falle einer Verurteilung Dmitri Fjodorowitsch mit jener Kreatur zusammen ins Ausland fliehen sollte, da wurde ich plötzlich zornig – ich kann Ihnen nicht sagen, warum, ich weiß es selbst nicht … Oh, natürlich wurde ich ihretwegen so zornig, und weil sie mit Dmitri Fjodorowitsch zusammen ins Ausland fliehen sollte!« rief Katerina Iwanowna plötzlich, und ihre Lippen zitterten vor Wut. »Als Iwan Fjodorowitsch sah, daß ich ihretwegen so zornig wurde, dachte er sofort, ich wäre auf sie eifersüchtig, weil ich Dmitri noch immer liebte. Daraus entstand damals unser erster Streit. Erklärungen mochte ich ihm nicht geben, ihn um Verzeihung bitten konnte ich nicht; es tat mir zu weh, daß ein Mann wie er den Verdacht haben konnte, meine frühere Liebe zu dem anderen wäre noch nicht erloschen. Und daß er das noch glauben konnte, obwohl ich ihm schon längst selber gesagt hatte, meine Liebe gehöre nicht Dmitri, sondern einzig und allein ihm! Drei Tage danach, an jenem Abend, als Sie kamen, brachte er mir ein versiegeltes Kuvert, das ich öffnen sollte, falls ihm etwas zustieße. Oh, er ahnte seine Krankheit voraus! Er sagte mir, das Kuvert enthalte die näheren Einzelheiten über die Flucht; falls er stürbe oder gefährlich erkrankte, sollte ich allein Mitja retten. Gleichzeitig ließ er mir Geld hier, fast zehntausend Rubel – dieselbe Summe, die der Staatsanwalt in seiner Rede erwähnte, als er sagte, er hätte erfahren, daß Iwan Fjodorowitsch Wertpapiere zum Umwechseln weggeschickt hat. Es machte auf mich einen gewaltigen Eindruck, daß Iwan Fjodorowitsch den Gedanken, seinen Bruder zu retten, nicht aufgab und mir, mir selbst dieses Rettungswerk anvertraute, obwohl er noch immer meinetwegen eifersüchtig und davon überzeugt war, daß ich Mitja liebte! Oh, das war ein Opfer! Nein, Sie werden diese Selbstverleugnung in ihrem ganzen Umfang gar nicht verstehen, Alexej Fjodorowitsch! Ich wollte ihm schon zu Füßen fallen; doch da fiel mir auf einmal ein, er könnte ein solches Benehmen nur für den Ausdruck meiner Freude über die beabsichtigte Rettung Mitjas halten, und die Möglichkeit einer so ungerechten Deutung von seiner Seite brachte mich dermaßen auf, daß ich wieder ganz zornig wurde und ihm, statt ihm die Füße zu küssen, wieder eine Szene machte! Oh, ich bin zu unglücklich! Mein Charakter ist nun einmal so – es ist ein furchtbarer, unglücklicher Charakter! Sie werden es erleben: Ich bringe es noch dahin, daß auch er sich von mir abwendet um einer anderen willen, mit der sich leichter leben läßt, so wie Dmitri, aber dann … Nein, das werde ich dann nicht ertragen, dann werde ich mir das Leben nehmen! Als Sie damals hier erschienen und ich ihn aufforderte zurückzukommen und er dann mit Ihnen eintrat, da packte mich ein solcher Zorn über den haßerfüllten, verächtlichen Blick, mit dem er mich plötzlich ansah, daß ich Ihnen zurief, er, er allein habe mich zu der Überzeugung gebracht, daß sein Bruder Dmitri der Mörder sei! Ich log absichtlich, um ihn noch einmal zu verletzen; denn niemals, niemals hat er mich zu überzeugen gesucht, daß sein Bruder der Mörder sei – vielmehr habe ich selbst ihn davon überzeugt! Oh, an allem ist meine Tollheit schuld! Ich, ich habe diese entsetzliche Szene vor Gericht veranstaltet! Er wollte mir beweisen, daß er edel dachte, daß er trotz meiner Liebe zu seinem Bruder ihn nicht aus Rachsucht und Eifersucht zugrunde richten wollte. Deshalb trat er vor Gericht auf … Ich bin an allem schuld, ich allein bin schuld!«

Noch niemals hatte Katja Aljoscha solche Geständnisse gemacht, und er fühlte, daß sie sich jetzt auf jener Stufe unerträglichen Leidens befand, wo auch das stolzeste Herz schmerzerfüllt seinen Stolz fahrenläßt und von Kummer überwältigt zu Boden sinkt. Aljoscha kannte noch eine furchtbare Ursache ihrer jetzigen Qualen, sosehr sie diese vor ihm auch seit Mitjas Verurteilung verborgen hatte. Es wäre ihm jedoch zu schmerzlich gewesen, wenn sie sich entschlossen hätte, so tief zu sinken, daß sie zu ihm auch von dieser Ursache selbst sprach. Sie litt wegen ihres »Verrats« vor Gericht, und Aljoscha fühlte, daß ihr Gewissen sie trieb, sich gerade vor ihm, Aljoscha, anzuklagen, weinend, krampfhaft kreischend, auf dem Boden liegend und um sich schlagend. Aber er fürchtete sich vor diesem Augenblick und wünschte die Leidende zu schonen. Um so schwieriger wurde der Auftrag, mit dem er gekommen war. Er begann wieder von Mitja zu reden.

»Das hat nichts zu sagen, seien Sie seinetwegen ganz unbesorgt!« begann Katja wieder hartnäckig und in scharfem Ton. »Das dauert bei ihm alles immer nur einen Augenblick, ich kenne ihn, ich kenne dieses Herz nur zu gut. Seien Sie überzeugt, daß er einwilligen wird, zu fliehen. Und die Hauptsache ist, daß es nicht in allernächster Zukunft geschehen soll; er wird noch genug Zeit haben, seinen Entschluß zu fassen. Iwan Fjodorowitsch wird dann wieder gesund sein und alles selber leiten, so daß ich dabei nichts zu tun haben werde. Seien Sie unbesorgt, er wird einwilligen. Und er ist auch jetzt schon damit einverstanden: Kann er sich etwa von dieser Kreatur trennen? An seinen Strafort wird man sie nicht lassen – wie sollte er also unter diesen Umständen nicht fliehen wollen? Die Hauptsache ist nur, er hat Angst vor Ihnen. Er fürchtet, Sie könnten vom moralischen Standpunkt aus die Flucht nicht billigen. Aber Sie müssen sie ihm großmütig erlauben, wenn Ihr Ja nun einmal unumgänglich ist«, fügte Katja giftig hinzu.

Sie schwieg ein Weilchen und lächelte.

»Er redet da von irgendwelchen Hymnen, von einem Kreuz, das er tragen muß, von einer Schuld. Ich erinnere mich, daß mir Iwan Fjodorowitsch seinerzeit viel davon erzählt hat – wenn Sie wüßten, wie er das erzählte!« rief Katja plötzlich in einem unaufhaltsamen Gefühlsausbruch. »Wenn Sie wüßten, wie er diesen Unglücklichen liebte, als er mir das von ihm erzählte, und wie er ihn vielleicht im gleichen Moment haßte! Ich aber, ich lächelte damals stolz, als ich seine Erzählung hörte und seine Tränen sah! Oh, so eine Kreatur! Die Kreatur bin ich! Ich bin daran schuld, daß er Nervenfieber bekommen hat! Und der andere, der Verurteilte, ist der etwa bereit zu leiden?« schloß Katja gereizt. »Kann so ein Mensch denn überhaupt leiden? Solche Menschen wie er leiden niemals!«

Ein Gefühl wie Haß, Verachtung, ja Ekel war aus dem Klang dieser Worte herauszuhören. Und dabei war sie es doch gewesen, die ihn verraten hatte. ›Vielleicht haßt sie ihn in manchen Augenblicken gerade deshalb, weil sie sich ihm gegenüber schuldig fühlt?‹ dachte Aljoscha im stillen. Er wünschte sehr, daß das nur »in manchen Augenblicken« der Fall sein möchte. Aus Katjas letzten Worten hörte er eine Herausforderung heraus, doch er nahm sie nicht an.

»Ich habe Sie heute zu mir bitten lassen, damit Sie mir versprechen, ihn selbst zu überreden. Oder wäre es Ihrer Ansicht nach unehrenhaft zu fliehen, nicht heldenmütig – oder wie drückt man sich da aus? Nicht christlich, wie?« fügte Katja noch herausfordernder hinzu.

»Nein, das ist nicht der Fall. Ich werde ihm alles sagen …«, murmelte Aljoscha. »Er läßt Sie bitten, heute zu ihm zu kommen«, fügte er plötzlich unvermittelt hinzu, wobei er ihr fest in die Augen sah. Sie zuckte zusammen und wich auf dem Sofa jäh vor ihm zurück.

»Mich … Ist denn das möglich?« stammelte sie und wurde blaß.

»Das ist möglich, und das ist Ihre Pflicht!« sagte Aljoscha energisch und plötzlich ganz lebhaft. »Er braucht Sie sehr, gerade jetzt. Ich würde nicht davon anfangen und Sie nicht vor der Zeit quälen, wenn es nicht notwendig wäre. Er ist krank, er ist wie geistesgestört, er verlangt immerzu nach Ihnen. Er bittet Sie nicht zur Versöhnung zu sich. Es genügt, wenn Sie nur hinkommen und sich auf der Schwelle zeigen. Mit ihm ist seit jenem Tag vieles vorgegangen. Er sieht ein, wie sehr er sich gegen Sie vergangen hat. Nicht Ihre Verzeihung ist das, was er möchte. ›Mir kann nicht verziehen werden‹, sagt er selbst. Er bittet Sie nur, sich auf der Schwelle zu zeigen.

»Sie haben mich so plötzlich …«, stammelte Katja. »Ich habe alle diese Tage geahnt, daß Sie mit diesem Wunsch kommen würden … Ich habe es geradezu gewußt, daß er mich würde rufen lassen! Doch es ist unmöglich!«

»Mag es unmöglich sein – aber tun Sie es! Bedenken Sie, daß er sich zum erstenmal tief ergriffen fühlt durch die Erkenntnis, wie sehr er Sie gekränkt hat, zum erstenmal in seinem Leben! Früher hat er das nie in diesem Umfang gesehen. Er sagt: ›Wenn sie sich weigert zu kommen, werde ich mein Leben lang unglücklich sein!‹ Hören Sie, einer, der zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt ist, möchte noch glücklich sein – ist das nicht bemitleidenswert? Bedenken Sie, Sie werden einen unschuldig Leidenden besuchen!« sagte Aljoscha heftig und herausfordernd. »Seine Hände sind rein, es klebt kein Blut daran! Besuchen Sie ihn um seines unermeßlichen künftigen Leidens willen! Kommen Sie zu ihm, geben Sie ihm das Geleit in die Finsternis, treten Sie auf die Schwelle, weiter nichts … Es ist Ihre Pflicht, Ihre Pflicht, das zu tun!« schloß Aljoscha, das Wort »Pflicht« besonders stark betonend.

»Meine Pflicht schon … Aber … Ich kann nicht«, stöhnte Katja. »Er wird mich ansehen … Ich kann nicht.«

»Ihre Augen müssen seinen begegnen. Wie wollen Sie Ihr ganzes Leben über leben, wenn Sie sich jetzt nicht dazu entschließen?«

»Lieber will ich mein Leben lang leiden.«

»Es ist Ihre Pflicht hinzugehen!« wiederholte Aljoscha mit unerbittlichem Nachdruck.

»Aber warum heute, warum jetzt gleich … Ich kann doch den Kranken nicht allein lassen …«

»Für einen Moment können Sie es, und es handelt sich ja nur um einen Moment. Wenn Sie nicht kommen, wird sich bei ihm heftiges Fieber zur Nacht einstellen. Ich sage doch nicht die Unwahrheit. Haben Sie Mitleid!«

»Haben Sie mit mir Mitleid!« erwiderte Katja mit bitterem Vorwurf und fing an zu weinen.

»Also Sie werden kommen!« sagte Aljoscha in festem Ton, als er ihre Tränen sah. »Ich werde hingehen und ihm sagen, daß Sie gleich kommen werden.«

»Nein, sagen Sie ihm das um keinen Preis!« rief Katja erschrocken. »Ich werde kommen, aber sagen Sie es ihm nicht vorher! Ich werde kommen, vielleicht aber nicht hineingehen … Ich weiß es noch nicht …«

Die Stimme versagte ihr, sie atmete nur mit Mühe. Aljoscha stand auf, um zu gehen.

»Und wenn ich dort jemandem begegne?« sagte sie auf einmal leise; sie war wieder ganz blaß geworden.

»Eben deshalb müssen Sie jetzt gleich gehen, damit Sie dort niemandem begegnen. Es wird niemand dasein, das sage ich Ihnen zuverlässig. Wir werden Sie erwarten« schloß er nachdrücklich und verließ das Zimmer.

2. Für einen Augenblick wird die Lüge zur Wahrheit

Er eilte in das Krankenhaus, wo Mitja jetzt lag. Am zweiten Tag nach der Verurteilung war er an einem Nervenfieber erkrankt, und man hatte ihn in die Gefangenenabteilung unseres städtischen Krankenhauses gebracht. Der Arzt Warwinski hatte dem kranken Mitja auf Bitten Aljoschas und vieler anderer (Frau Chochlakowa, Lisa u. a.) seinen Platz nicht bei den Gefangenen, sondern gesondert angewiesen, in demselben Kämmerchen, wo einstmals Smerdjakow gelegen hatte. Allerdings stand am Ende des Korridors eine Wache, und das Fenster war vergittert; Warwinski konnte also wegen seiner nicht ganz gesetzlichen Nachsicht beruhigt sein. Er war ein guter, mitfühlender junger Mann, der Verständnis dafür hatte, wie peinlich es einem Menschen wie Mitja sein mußte, so unvermittelt in die Gesellschaft von Mördern und Gaunern zu kommen; er sah ein, daß man sich daran erst allmählich gewöhnen mußte. Besuche von Verwandten und Bekannten waren erlaubt worden, sowohl vom Arzt als auch vom Gefängnisinspektor, sogar vom Bezirkshauptmann – alles natürlich unterderhand. Aber in diesen Tagen hatten Mitja immer nur Aljoscha und Gruschenka besucht. Zweimal hatte auch Rakitin den Versuch gemacht, doch Mitja hatte den Arzt Warwinski dringend gebeten, ihn nicht hereinzulassen.

Aljoscha fand ihn auf dem Bett sitzend, im Krankenschlafrock; er fieberte ein wenig und hatte um den Kopf ein Handtuch, das mit verdünntem Essig angefeuchtet war. Er sah Aljoscha mit einem unbestimmten Blick an; dennoch schien in diesem Blick ein leiser Schimmer von Angst zu liegen.

Überhaupt war er seit der Gerichtsverhandlung sehr nachdenklich geworden. Manchmal saß er stundenlang da, schien angestrengt über etwas nachzudenken und anwesende Besucher ganz zu vergessen. Wenn er aber aus seiner Versonnenheit erwachte und zu reden begann, so immer ganz plötzlich, und zwar stets von etwas anderem, als zu erwarten gewesen wäre. Manchmal sah er seinen Bruder mit einem Ausdruck tiefen Schmerzes an. Bei Gruschenkas Besuchen schien ihm leichter ums Herz zu sein. Zwar redete er mit ihr fast gar nicht; doch sowie sie eintrat, strahlte sein ganzes Gesicht vor Freude. Aljoscha setzte sich schweigend neben ihn aufs Bett. Diesmal hatte Mitja ihn voller Unruhe erwartet, wagte aber nicht, ihn nach etwas zu fragen. Er hielt es für undenkbar, daß Katja einwilligen würde, zu ihm

zu kommen, und fühlte gleichzeitig, daß etwas Besonderes, Schreckliches geschehen würde, falls sie nicht käme. Aljoscha verstand seine Gefühle.

»Trifon Borissowitsch«, begann Mitja hastig, »hat sein ganzes Gasthaus ruiniert, heißt es. Dielen und Bretter soll er herausgerissen und die ganze Galerie in kleine Späne zerschlagen haben. Er sucht immerzu nach einem Schatz, nach dem Geld, den fünfzehnhundert Rubeln, von denen der Staatsanwalt sagte, ich hätte sie dort versteckt. Sowie er nach Hause gekommen ist, soll er gleich damit begonnen haben. Das geschieht dem Gauner ganz recht! Der Wächter hat es mir gestern erzählt, er stammt von dort.«

»Hör mal«, sagte Aljoscha, »sie wird kommen! Aber ich weiß nicht wann. Vielleicht heute, vielleicht in den nächsten Tagen, das weiß ich nicht. Aber sie wird kommen, das ist sicher.«

Mitja fuhr zusammen; er schien etwas sagen zu wollen, schwieg jedoch. Diese Nachricht hatte auf ihn eine furchtbare Wirkung. Es war ihm anzusehen, daß er dringend Näheres über Aljoschas Gespräch mit Katja zu erfahren wünschte, daß er sich gleichzeitig aber fürchtete, sofort danach zu fragen: Von irgendeiner hartherzigen oder verächtlichen Äußerung Katjas zu hören, das wäre für ihn in diesem Augenblick wie ein Messerstich gewesen.

»Unter anderem sagte sie, ich soll dein Gewissen wegen der Flucht beruhigen. Sollte Iwan bis zu der Zeit nicht wieder gesund sein, wird sie die Sache selber in die Hand nehmen.«

»Das hast du mir schon gesagt«, bemerkte Mitja nachdenklich.

»Und du hast es sicher Gruscha wiedererzählt«, erwiderte Aljoscha.

»Ja«, gestand Mitja. »Sie wird heute vormittag nicht kommen«, fuhr er fort, seinen Bruder schüchtern anblickend. »Sie wird erst am Abend kommen. Als ich ihr gestern sagte, Katja würde sich der Sache annehmen, da schwieg sie und zog ihre Lippen schief. Sie flüsterte nur: ›Meinetwegen!‹ Sie begriff, daß es wichtig ist. Ich wagte nicht, weiter nach ihren Gefühlen zu forschen. Sie scheint ja jetzt einzusehen, daß jene nicht mich, sondern Iwan liebt.«

»Wirklich?« rief Aljoscha unwillkürlich.

»Vielleicht auch nicht. Jedenfalls wird sie jetzt am Vormittag nicht herkommen«, beeilte sich Mitja noch einmal mitzuteilen. »Ich habe ihr einen Auftrag gegeben … Hör mal, Bruder, Iwan ist uns allen überlegen. Ihm ist beschieden zu leben, uns nicht. Er wird wieder gesund.«

»Stell dir vor, Katja zittert zwar um ihn, zweifelt aber eigentlich gar nicht daran, daß er wieder gesund wird«, sagte Aljoscha.

»Das heißt, sie ist davon überzeugt, daß er stirbt. Nur aus Angst versucht sie sich einzureden, daß er gesund wird.«

»Der Bruder hat eine kräftige Konstitution. Auch ich hoffe ganz bestimmt, daß er wieder gesund wird«, bemerkte Aljoscha beunruhigt.

»Ja, er wird wieder gesund. Aber Katja glaubt, daß er stirbt. Sie hat viel Kummer …«

Es trat Stillschweigen ein. Mitja quälte sich mit etwas sehr Wichtigem.

»Aljoscha, ich liebe Gruscha furchtbar«, sagte er auf einmal mit zitternder Stimme, der die verhaltenen Tränen anzuhören waren.

»Man wird sie nicht zu dir lassen, ›dorthin‹«, fiel Aljoscha sogleich ein.

»Und da ist noch etwas, was ich dir sagen wollte«, fuhr Mitja fort, und seine Stimme klang auf einmal wieder kräftig. »Wenn mich jemand unterwegs oder dort schlagen sollte, werde ich mir das nicht gefallen lassen, sondern ihn totschlagen, und man wird mich erschießen. Und das zwanzig Jahre lang! Hier fängt man schon an, mich zu duzen. Die Wächter duzen mich. Ich habe heute die ganze Nacht wach gelegen und mich geprüft: Ich bin nicht bereit! Ich bin nicht imstande, es auf mich zu nehmen! Ich wollte eine Hymne anstimmen … Aber von den Wächtern geduzt zu werden, darüber komme ich nicht hinweg. Für Gruscha würde ich alles ertragen, alles … Nur keine Schläge … Aber man wird sie ›dorthin‹ nicht lassen.« Aljoscha lächelte leise.

»Hör zu, Bruder, ein für allemal«, sagte er. »Ich will dir meine Gedanken über dieses Thema sagen. Und du weißt, daß ich dich nicht belüge. Also hör zu. Du bist nicht bereit, und ein solches Kreuz taugt nicht für dich. Ja noch mehr, ein solches Märtyrerkreuz ist für dich, der du nicht dazu bereit bist, auch gar nicht nötig. Wenn du den Vater getötet hättest, würde ich es bedauern, daß du dein Kreuz ablehnst. Aber du bist unschuldig, und ein solches Kreuz ist zuviel für dich. Du wolltest durch die Qual einen anderen Menschen in dir entstehen lassen. Meiner Ansicht nach solltest du nur dein Leben lang, wohin du auch fliehen magst, immer an diesen anderen, neuen Menschen denken – auch das wird genug für dich sein. Der Umstand, daß du die große Kreuzesqual nicht auf dich genommen hast, wird nur dazu dienen, daß du in dir eine noch größere Verpflichtung empfindest und durch dieses stete Gefühl künftig deine Wiedergeburt beförderst – vielleicht mehr, als wenn du ›dorthin‹ gehen würdest. Denn dort wirst du das Leben nicht ertragen können und wirst murren und vielleicht schließlich geradeheraus sagen: ›Ich bin mit allem quitt.‹ Hierin hat der Rechtsanwalt die Wahrheit gesagt. Solche Lasten sind nicht für alle Menschen, für manche sind sie zu schwer … Das sind meine Gedanken – falls du sie brauchen kannst. Wenn für deine Flucht andere zur Verantwortung gezogen würden, Offiziere oder Soldaten, so würde ich dir ›nicht erlauben‹ zu fliehen«, sagte Aljoscha lächelnd. »Aber es wird gesagt und versichert, und dieser Etappenkommandant hat es selbst zu Iwan gesagt, daß die Sache wohl ohne schärfere Strafe abgehen wird und die Betreffenden mit einem leichten Verweis davonkommen, sofern man es geschickt anstellt. Zwar ist es unehrenhaft, jemand zu bestechen, sogar in diesem Fall; aber mir steht es nicht zu, dies zu verurteilen. Denn sollten mich zum Beispiel Iwan und Katja beauftragen, in dieser Angelegenheit für dich tätig zu sein, so würde ich es selbst ohne weiteres mit Bestechung versuchen – das muß ich dir wahrheitsgemäß sagen. Und deshalb kann ich nicht Richter über deine eigene Handlungsweise sein. Du sollst jedoch wissen, daß ich dich niemals verurteilen werde. Es wäre ja auch seltsam: Wie könnte ich in dieser Sache dein Richter sein? Nun, jetzt habe ich alles dargelegt, glaube ich.«

»Aber dafür verurteile ich mich selbst!« rief Mitja aus. »Ich werde fliehen – dazu war ich auch schon ohne deinen Rat entschlossen! Kann ein Mitja Karamasow etwa anders handeln? Aber dafür verurteile ich mich selbst und werde lebenslänglich Gott bitten, mir meine Sünde zu vergeben! So reden ja wohl die Juristen, nicht wahr? So wie du und ich jetzt, ja?«

»So ist es«, erwiderte Aljoscha, leise lächelnd.

»Ich liebe dich, weil du immer die volle Wahrheit sagst und nichts verheimlichst!« rief Mitja, fröhlich lachend. »Also da habe ich meinen Aljoscha als Jesuiten ertappt! Abküssen müßte man dich dafür, abküssen! Na, dann höre jetzt auch das übrige, ich will auch die andere Hälfte meiner Seele vor dir aufdecken. Was ich mir ausgedacht und beschlossen habe, ist dies: Wenn ich nun fliehe, sogar mit Geld und mit einem Paß, und sogar nach Amerika, so ermutigt mich dazu noch der Gedanke, daß ich nicht in ein frohes, glückliches Leben fliehe, sondern in Wirklichkeit zu einer anderen Strafe, die vielleicht nicht geringer ist als die vorgesehene! Nicht geringer, Alexej, ich rede im Ernst, nicht geringer! Ich hasse dieses Amerika schon jetzt, hol’s der Teufel! Und wenn auch Gruscha bei mir ist – schau sie doch an: Na, ist sie etwa eine Amerikanerin? Sie ist eine Russin, Russin mit Leib und Seele! Sie wird sich nach der heimatlichen Erde zurücksehnen, und ich werde in jeder Stunde sehen, daß sie meinetwegen leidet, meinetwegen dieses Kreuz auf sich genommen hat, denn sie selbst trägt ja keine Schuld. Und ich, werde ich die Kerle dort ertragen können, wenn sie auch vielleicht alle besser sind als ich? Ich hasse dieses Amerika schon jetzt! Und mögen sie da auch vorzügliche Techniker oder sonst etwas sein – hol‘ sie der Teufel, sie sind keine Menschen von meiner Art, sie haben andere Seelen! Ich liebe Rußland, Alexej, ich liebe den russischen Gott, wenn ich auch selbst ein Schuft bin! Ich werde da krepieren!« rief er, und seine Augen funkelten und seine Stimme zitterte von unterdrückten Tränen.

»Also dann höre, was ich beschlossen habe, Alexej!« begann er von neuem, nachdem er seiner Erregung Herr geworden war. »Sobald ich mit Gruscha dort angekommen bin, fangen wir gleich an zu pflügen und zu arbeiten, bei den wilden Bären, in der Einsamkeit, irgendwo ganz weit weg. Es wird sich ja auch dort ein ganz entlegener Ort finden lassen! Dort gibt es, wie man sagt, noch Rothäute, irgendwo am Rand des Horizonts. Na, also an diesen Rand werden wir ziehen, zu den letzten Mohikanern. Na, und dann machen wir uns sofort an die Grammatik, ich und Gruscha. Arbeit und Grammatik, und das drei Jahre lang! In diesen drei Jahren lernen wir die englische Sprache so, daß wir sie ebensogut können wie jeder beliebige Engländer. Und sobald wir sie gelernt haben – Schluß mit Amerika! Wir kommen schleunigst wieder hierher nach Rußland – aber als amerikanische Bürger. Sei unbesorgt, hier in diesem Städtchen werden wir uns nicht blicken lassen. Wir werden uns irgendwo weit weg von hier verbergen, im Norden oder im Süden. Ich werde mich bis dahin äußerlich verändert haben und sie ebenfalls. Dort in Amerika wird mir ein Arzt eine falsche Warze machen, auf so etwas müssen sie sich als Mechaniker ja verstehen. Oder ich steche mit ein Auge aus und lasse mir den Bart eine Elle lang wachsen, er wird ganz grau aussehen, denn vor Sehnsucht nach Rußland werde ich ergrauen – und dann wird mich wohl niemand erkennen. Wenn sie mich aber doch erkennen, dann sollen sie mich nach Sibirien schicken, ganz egal, dann ist das eben mein Schicksal! Hier werden wir ebenfalls irgendwo in einer abgelegenen Gegend die Erde pflügen, und ich werde mein ganzes Leben lang als Amerikaner auftreten. So werden wir wenigstens auf heimischer Erde sterben. Das ist mein Plan, und der ist unabänderlich. Billigst du ihn?«

»Ja, ich billige ihn«, antwortete Aljoscha, der ihm nicht widersprechen wollte.

Mitja schwieg einen Augenblick und sagte dann plötzlich: »Aber wie kunstvoll sie das alles bei der Gerichtsverhandlung arrangiert hatten ! Ganz erstaunlich!«

»Auch wenn sie das nicht getan hätten, wärst du doch verurteilt worden«, sagte Aljoscha mit einem Seufzer.

»Ja, ich war dem hiesigen Publikum zuwider geworden! Gott verzeihe es ihnen – aber es ist schwer zu ertragen«, sagte Mitja gequält.

Sie schwiegen wieder eine Weile.

»Aljoscha, töte mich lieber gleich!« rief Mitja plötzlich. »Wird sie kommen oder nicht? Sprich! Was hat sie gesagt? Wie hat sie es gesagt?«

»Sie sagte, sie würde kommen. Ich weiß aber nicht, ob heute. Es fällt ihr schwer!« antwortete Aljoscha und blickte den Bruder schüchtern an.

»Na, wie sollte es ihr auch nicht schwerfallen! Aljoscha, ich werde darüber den Verstand verlieren … Gruscha sieht mich immer so an. Sie begreift etwas. Du mein Gott und Herr, gib mir Ruhe! Wonach verlangt es mich? Nach Katja verlangt es mich! Verstehe ich auch, wonach mich verlangt? Das ist das verfluchte Karamasowsche Ungestüm! Nein, zum Leiden bin ich nicht fähig! Ein Schuft bin ich: Damit ist alles gesagt!«

»Da ist sie!« rief Aljoscha.

Katja war auf der Schwelle erschienen. Einen Augenblick blieb sie stehen und sah Mitja fassungslos an. Mitja sprang eilig auf, sein Gesicht drückte Schrecken aus, er wurde blaß. Doch sogleich trat ein schüchternes, flehendes Lächeln auf seine Lippen, und er streckte plötzlich Katja beide Hände entgegen. Als Katja das sah, stürzte sie schnell zu ihm. Sie ergriff seine Hände, zwang ihn fast, sich auf das Bett zu setzen, setzte sich selbst neben ihn und drückte ihm fest und krampfhaft die Hände, die sie noch immer festhielt. Mehrere Male versuchten beide, etwas zu sagen, aber jedesmal hielten sie inne und blickten sich wieder schweigend und regungslos mit einem seltsamen Lächeln an. So vergingen mehrere Minuten.

»Hast du mir verziehen?« stammelte Mitja endlich, wandte sich im gleichen Moment an Aljoscha und rief ihm mit vor Freude ganz entstelltem Gesicht zu: »Hörst du, was ich frage? Hörst du?«

»Deswegen habe ich dich ja auch geliebt, weil du ein großmütiges Herz hast!« sagte Katja; diese Worte entfuhren ihr offenbar unwillkürlich. »Du brauchst aber nicht meine Verzeihung, sondern ich deine. Magst du mir nun verzeihen oder nicht – du wirst für das ganze Leben eine schmerzende Wunde in meiner Seele bleiben und ich in deiner. Anders kann es nicht sein …«

Sie schwieg, um Atem zu schöpfen.

»Wozu bin ich hergekommen?« begann sie von neuem, jetzt hastig und hingerissen. »Um deine Füße zu umarmen, um dir die Hände zu drücken, siehst du, so, bis es weh tut, erinnerst du dich, wie ich sie dir in Moskau gedrückt habe? Um dir wieder zu sagen, daß du mein Gott bist, meine Freude, um dir zu sagen, daß ich dich sinnlos liebe!« stöhnte sie qualvoll und preßte auf einmal leidenschaftlich ihre Lippen auf seine Hand. Tränen traten ihr in die Augen.

Aljoscha stand schweigend und verwirrt da; was er jetzt sah, hatte er in keiner Weise erwartet.

»Die Liebe ist vergangen, Mitja«, begann Katja wieder. »Aber teuer, schmerzlich teuer ist mir das Vergangene! Das sollst du wissen fürs ganze Leben! Aber jetzt, für einen kurzen Augenblick, mag das sein, was hätte sein können«, stammelte sie mit schmerzerfülltem Lächeln und sah ihm wieder froh in die Augen. »Du liebst jetzt eine andere, und ich liebe einen anderen. Trotzdem werde ich dich mein Leben lang lieben – und du mich, hast du das gewußt? Hörst du, liebe mich, liebe mich dein ganzes Leben lang!« rief sie, und ihre Stimme zitterte dabei fast drohend.

»Ich werde dich lieben und … Weißt du, Katja«, sagte Mitja, mußte jedoch nach jedem Wort Atem holen. »Weißt du, ich habe dich auch vor fünf Tagen, an jenem Abend geliebt … Als du hingefallen warst und hinausgetragen wurdest … Mein ganzes Leben lang ! Und so wird es bleiben, so wird es immer bleiben …«

Sie stammelten einander Worte zu, fast sinnlose, verzückte Worte, die vielleicht nicht einmal wahr waren. In diesem Augenblick aber war alles Wahrheit, und jeder von ihnen glaubte fest an die Wahrheit dessen, was er sagte.

»Katja«, rief Mitja plötzlich, »glaubst du, daß ich den Mord begangen habe? Ich weiß, daß du es jetzt nicht glaubst, aber damals, als du deine Aussage machtest … Hast du es wirklich, wirklich geglaubt?«

»Auch damals habe ich es nicht geglaubt! Niemals habe ich es geglaubt! Ich haßte dich und redete es mir ein, nur für den einen Augenblick … Als ich die Aussage machte, da redete ich es mir ein und glaubte es … Doch als ich mit der Aussage fertig war, hörte ich sogleich wieder auf, es zu glauben. Das sollst du alles wissen. Ich vergaß, daß ich hingekommen war, um mich selbst zu demütigen!« sagte sie plötzlich in völlig verändertem Ton, der mit dem vorhergehenden Liebesgestammel keinerlei Ähnlichkeit hatte.

»Du hast schwer zu leiden, Katja!« sagte Mitja. Die Worte kamen ihm von selbst auf die Lippen, ohne daß er sie hätte zurückhalten können.

»Laß mich jetzt gehen!« flüsterte sie. »Ich werde noch einmal wiederkommen, aber jetzt ist mir zu schwer ums Herz …«

Sie erhob sich von ihrem Platz, doch auf einmal schrie sie laut auf und taumelte zurück. Gruschenka war ganz leise ins Zimmer getreten. Niemand hatte sie erwartet. Katja schritt hastig zur Tür; als sie sich Gruschenka genähert hatte, blieb sie plötzlich stehen, wurde kreideweiß und flüsterte ihr leise, fast stöhnend, zu: »Verzeihen Sie mir!«

Gruschenka starrte ihr ins Gesicht und antwortete, nachdem sie eine Weile gewartet hatte, boshaft und giftig: »Wir sind beide schlecht, du und ich! Wir sind beide schlecht! Wie könnten wir verzeihen? Du kannst es nicht, und ich kann es nicht. Aber rette ihn, und ich werde mein Leben lang für dich beten.«

»Aber verzeihen willst du ihr nicht!« rief Mitja ihr mit zornigem Vorwurf zu.

»Du kannst beruhigt sein, ich werde ihn dir retten!« flüsterte Katja schnell und verließ eilig das Zimmer.

»Und du konntest ihr deine Verzeihung verweigern, nachdem sie selbst zu dir gesagt hatte: ›Verzeih‹?« rief Mitja wieder in bitterem Ton.

»Mitja, wag es nicht, ihr einen Vorwurf zu machen! Dazu hast du kein Recht!« rief Aljoscha seinem Bruder heftig zu.

»Ihre stolzen Lippen haben es gesagt, nicht ihr Herz«, sagte Gruschenka beinahe angeekelt. »Wenn sie dich rettet, will ich ihr alles verzeihen …«

Sie brach ab, als ob sie etwas in ihrem Herzen unterdrückte. Sie konnte noch immer ihre Fassung nicht wiedergewinnen. Gekommen war sie, wie sich nachher herausstellte, ganz zufällig, ohne etwas zu argwöhnen.

»Aljoscha, lauf ihr nach!« wandte sich Mitja hastig an seinen Bruder. »Sag ihr … Ich weiß nicht was … Laß sie nicht so weggehen!«

»Ich werde noch vor Abend wieder zu dir kommen!« rief Aljoscha und lief Katja nach.

Er holte sie erst außerhalb der Krankenhausmauer ein. Sie ging schnell und hastig, und als Aljoscha sie eingeholt hatte, sagte sie zu ihm: »Nein, vor ihr kann ich mich nicht demütigen! Ich habe zu ihr gesagt: ›Verzeih mir!‹, weil ich in der Selbstdemütigung bis an die äußerste Grenze gehen wollte. Sie hat mir nicht verziehen … Ich liebe sie dafür !« fügte Katja mit unnatürlich klingender Stimme hinzu, und ihre Augen funkelten vor Zorn.

»Mein Bruder hatte sie überhaupt nicht erwartet«, murmelte Aljoscha. »Er glaubte bestimmt, daß sie nicht kommen würde …«

»Ohne Zweifel. Lassen wir das!« erwiderte sie kurz. »Hören Sie, ich kann jetzt nicht mit zu dem Begräbnis kommen. Ich habe ihnen Blumen für den kleinen Sarg geschickt. Geld haben sie wohl noch. Wenn sie welches brauchen, sagen Sie ihnen bitte, daß ich sie auch in Zukunft nicht verlassen werde … Jetzt aber verlassen Sie mich, bitte, verlassen Sie mich! Sie werden ohnehin zu spät kommen, es wird schon zur Spätmesse geläutet … Verlassen Sie mich, bitte!«

3. Iljuschetschkas Begräbnis und die Rede am Stein

Er kam in der Tat zu spät. Man hatte auf ihn gewartet und sich bereits entschlossen, auch ohne seine Anwesenheit den hübschen, mit Blumen geschmückten kleinen Sarg in die Kirche zu tragen. Es war der Sarg des armen Iljuschetschka. Er war zwei Tage nach Mitjas Verurteilung gestorben. Aljoscha wurde schon am Tor des Hauses von Iljuschas Kameraden mit lauten Rufen empfangen. Sie hatten ungeduldig auf ihn gewartet und freuten sich, daß er endlich gekommen war. Es hatten sich im ganzen zwölf Jungen versammelt; alle waren mit ihren Ranzen auf dem Rücken und mit ihren Büchertaschen über der Schulter gekommen. »Papa wird weinen, kommt her und tröstet ihn!« hatte Iljuscha sie auf dem Sterbebett gebeten, und die Jungen hatten diesen Wunsch befolgt. An ihrer Spitze befand sich Kolja Krassotkin.

»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind, Karamasow!« rief er und streckte Aljoscha die Hand entgegen. »Hier ist es schrecklich. Wirklich, es wird einem schwer, das mitanzusehen. Snegirjow ist nicht betrunken, wir wissen bestimmt, daß er heute noch nichts getrunken hat, aber er ist wie betrunken … Ich bin sonst ziemlich hart, doch das hier ist schrecklich … Karamasow, wenn ich Sie nicht aufhalte, darf ich Sie noch etwas fragen, bevor Sie hineingehen?«

»Was ist es denn, Kolja?« erwiderte Aljoscha und blieb stehen.

»Ist Ihr Bruder unschuldig oder schuldig? Hat er seinen Vater ermordet, oder hat es der Diener getan? Was Sie sagen, ist für mich Tatsache. Ich habe vier Nächte wegen dieser Frage nicht geschlafen.«

»Der Diener hat den Mord begangen. Mein Bruder ist unschuldig«, antwortete Aljoscha.

»Das sage ich auch!« schrie plötzlich der kleine Smurow.

»Dann geht er also als unschuldiges Opfer für die Wahrheit zugrunde?« rief Kolja. »Aber wenn er auch zugrunde geht, er ist doch glücklich! Ich könnte ihn beneiden!«

»Was reden Sie da? Wie ist das möglich und warum?« rief Aljoscha verwundert.

»Oh, wenn ich mich doch auch einmal für die Wahrheit opfern könnte!« sagte Kolja enthusiastisch.

»Aber nicht in so einer Sache, nicht mit solcher Schande, nicht in so entsetzlicher Weise!« entgegnete Aljoscha.

»Gewiß … Ich möchte gern für die ganze Menschheit sterben! Und was die Schande betrifft, so ist das einerlei – mögen unsere Namen untergehen! Ich habe alle Hochachtung vor Ihrem Bruder!«

»Ich auch!« rief ganz unerwartet aus dem Haufen jener andere Junge, der früher einmal erklärt hatte, er wisse, wer Troja gegründet hat. Nachdem er das gerufen hatte, errötete er wie damals über das ganze Gesicht bis an die Ohren.

Aljoscha ging hinein. In einem himmelblauen, mit einer weißen Rüsche geschmückten Sarg lag mit zusammengelegten Händen und geschlossenen Augen Iljuscha. Die Züge seines abgemagerten Gesichts hatten sich kaum verändert, und seltsam, es ging von der Leiche fast gar kein Geruch aus. Der Ausdruck des Gesichts war ernst und gleichsam nachdenklich. Besonders schön waren die über der Brust verschränkten Hände, die wie aus Marmor gemeißelt aussahen. Man hatte ihm Blumen in die Hände gesteckt, und auch der Sarg war bereits außen und innen mit Blumen geschmückt, die Lisa Chochlakowa schon bei Tagesanbruch geschickt hatte. Es waren aber auch noch Blumen von Katerina Iwanowna gekommen, und als Aljoscha die Tür öffnete, hatte der Stabskapitän eine Menge Blumen in seinen zitternden Händen und bestreute mit ihnen erneut seinen lieben Jungen. Er blickte den eintretenden Aljoscha kaum an und mochte überhaupt niemanden ansehen, nicht einmal seine weinende Frau, sein »Mamachen«, die fortwährend Versuche machte, sich auf ihren kranken Beinen zu erheben, um ihren toten Sohn aus größerer Nähe betrachten zu können. Ninotschka hatten die Jungen mit ihrem Stuhl ganz dicht an den Sarg herangerückt. Sie saß da, den Kopf an den Sarg gedrückt, und weinte ebenfalls still vor sich hin. Snegirjows Gesicht hatte einen lebhaften, doch gewissermaßen verstörten und zugleich verbitterten Ausdruck. Seine Gebärden und die Worte, die ihm entfuhren, machten den Eindruck, als sei er nur halb bei Verstand. »Väterchen, liebes Väterchen!« rief er alle Augenblicke, indem er Iljuscha ansah. Er hatte, schon als Iljuscha noch lebte, die Gewohnheit gehabt, zu ihm liebkosend »Väterchen, liebes Väterchen!« zu sagen.

»Papachen, gib auch mir ein Blümchen! Nimm es ihm aus der Hand, dieses weiße da, und gib es mir!« bat das »Mamachen« schluchzend. Ob ihr nun die kleine weiße Rose, die Iljuscha in der Hand hielt, so gefiel oder ob sie gern eine Blume aus seinen Händen zur Erinnerung haben wollte, jedenfalls geriet sie mit dem ganzen Körper in unruhige Bewegung und streckte die Hände nach der Blume aus.

»Ich werde sie niemandem geben! Niemandem werde ich etwas geben!« rief Snegirjow schroff. »Es sind seine Blumen, und nicht deine. Alles gehört ihm, nichts gehört dir!«

»Papa, geben Sie doch Mama die Blume!« bat Ninotschka, die auf einmal ihr tränennasses Gesicht hob.

»Niemandem werde ich etwas geben, und ihr am wenigsten! Sie hat ihn nicht geliebt. Sie hat ihm damals die kleine Kanone weggenommen, und er hat sie ihr geschenkt!« rief der Stabskapitän und schluchzte plötzlich laut auf in Erinnerung daran, wie Iljuscha damals seine kleine Kanone der Mama überlassen hatte. Die arme Frau bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte stille Tränen.

Da die Jungen sahen, daß der Vater den Sarg nicht freigab, und es inzwischen Zeit geworden war, ihn hinauszutragen, umringten sie endlich in einem dichten Haufen den Sarg und wollten ihn hochheben.

»Ich will ihn nicht auf dem Kirchhof begraben!« schrie Snegirjow. »Er soll an dem Stein begraben werden, an unserem lieben Stein! So hat es Iljuscha gewollt. Ich lasse ihn nicht auf den Kirchhof tragen!«

Er hatte auch früher, die ganzen drei Tage, immerzu davon geredet, daß der Tote an dem Stein begraben werden sollte, doch hatten viele dagegen Einspruch erhoben: Aljoscha, Krassotkin, die Hauswirtin, deren Schwester und alle Kameraden.

»Was ist das für ein Einfall! An dem ungeweihten Stein soll er begraben werden wie ein Selbstmörder!« hatte die alte Wirtin in strengem Ton gescholten. »Dort auf dem Kirchhof ist die Erde geweiht. Dort wird man für ihn beten. Der Gesang aus der Kirche wird bis zu seinem Grab zu hören sein, und der Diakon liest so laut und deutlich, daß es immer bis zu dem Jungen dringen wird, als ob die Gebete über seinem Grabhügel gelesen würden.«

Der Stabskapitän machte schließlich eine resignierte Handbewegung, welche etwa besagte. ›Tragt ihn, wohin ihr wollt!‹ Die Jungen hoben den Sarg hoch. Als sie ihn an der Mutter vorbeitrugen, machten sie einen Augenblick halt und stellten ihn hin, damit sie von Iljuscha Abschied nehmen konnte. Als sie jedoch nun das teure Gesichtchen in der Nähe erblickte, das sie die ganzen drei Tage lang nur aus einer gewissen Entfernung hatte sehen können, ging eine Erschütterung durch ihren ganzen Körper, und sie begann ihren grauen Kopf krampfhaft über dem Sarg hin und her zu bewegen, nach vorn und nach hinten.

»Mama, segne ihn, küsse ihn!« rief ihr Ninotschka zu. Die Mama aber zuckte wie ein Automat immer nur mit dem Kopf und schlug sich plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, mit schmerzverzerrtem Gesicht mit der Faust gegen die Brust. Der Sarg wurde weitergetragen. Ninotschka berührte den Mund des toten Bruders zum letztenmal mit ihren Lippen, als er bei ihr vorbeigetragen wurde. Aljoscha wandte sich, als er das Haus verließ, mit der Bitte an die Hauswirtin, sie möchte nach den Zurückbleibenden sehen; sie ließ ihn jedoch nicht ausreden: »Selbstverständlich! Ich werde bei ihnen bleiben, wir sind ja doch auch Christen.« Bei diesen Worten fing die alte Frau an zu weinen. Die Träger des Sarges hatten es bis zur Kirche nicht weit, kaum mehr als dreihundert Schritte. Es war ein klarer, windstiller Tag; es fror, aber nur wenig. Die Glocke läutete immer noch. Snegirjow in seinem alten, kurzen Sommerüberzieher, mit bloßem Kopf, in der Hand seinen alten breitkrempigen, weichen Hut, lief geschäftig und fassungslos hinter dem Sarg her. Er war in ständiger Sorge: Bald streckte er die Hand aus, um das Kopfende des Sarges zu stützen, und störte dadurch nur die Träger, bald lief er nebenher und suchte eine Möglichkeit, wie er behilflich sein könnte. Wenn eine Blume in den Schnee fiel, stürzte er sofort hin, um sie aufzuheben, als ob vom Verlust dieser Blume Gott weiß was abhing.

»Die Brotrinde! Die Brotrinde haben wir vergessen!« rief er auf einmal erschrocken. Doch die Knaben erinnerten ihn sogleich, daß er schon vorhin eine Brotrinde in die Hand genommen hatte und daß sie in seiner Tasche steckte. Er holte sie heraus, und erst nachdem er sich von ihrem Vorhandensein überzeugt hatte, beruhigte er sich.

»Iljuschetschka hat es so befohlen!« sagte er erklärend zu Aljoscha. »Er lag einmal in der Nacht da, und ich saß neben ihm, da sagte er auf einmal: ›Papachen, wenn mein Grabhügel aufgeschüttet ist, dann zerkrümele bitte auf ihm eine Brotrinde, damit die Spatzen herbeifliegen. Ich werde hören, wie sie geflogen kommen, und es wird mir eine Freude sein, daß ich nicht so allein daliege.‹«

»Das ist sehr hübsch«, sagte Aljoscha. »Da muß man öfter Brot hinbringen.«

»Alle Tage, alle Tage!« erwiderte der Stabskapitän eifrig; dieser Gedanke schien ihn richtig zu beleben.

Endlich waren sie in der Kirche angelangt, und der Sarg wurde in der Mitte niedergesetzt. Alle Jungen stellten sich um ihn herum und blieben so während des ganzen Gottesdienstes artig stehen. Es war eine alte, ziemlich arme Kirche, viele der Heiligenbilder hatten gar keine Einfassungen; aber gerade in solchen Kirchen betet es sich am besten. Während der Messe schien Snegirjow etwas stiller zu werden, obgleich von Zeit zu Zeit immer wieder die unbewußte und zwecklose Geschäftigkeit bei ihm durchbrach: Bald trat er an den Sarg, um die Leichendecke zurechtzuziehen oder das Stirnband des Toten in Ordnung zu bringen; wenn eine Kerze aus dem Leuchter gefallen war, stürzte er hin, um sie wieder aufzustellen, und machte sich damit sehr lange zu schaffen. Darauf beruhigte er sich wieder und stand demütig mit sorgenvollem und fast verständnislosem Gesicht am Kopfende des Sarges. Nach der Verlesung der Epistel flüstere er dem neben ihm stehenden Aljoscha zu, die Epistel sei nicht richtig vorgelesen worden, ohne allerdings zu erklären, was er eigentlich meinte. Bei dem Cherubimlied fing er an mitzusingen, aber nicht bis zu Ende; er ließ sich vielmehr auf die Knie nieder, drückte die Stirn auf den steinernen Fußboden der Kirche und lag so ziemlich lange. Endlich kam das Totenamt an die Reihe, und die Kerzen wurden verteilt. Der kaum noch zurechnungsfähige Vater wollte schon wieder in seine sinnlose Geschäftigkeit verfallen, doch das ergreifende Totenlied erweckte und erschütterte seine Seele. Er krümmte sich auf einmal mit dem ganzen Körper zusammen und begann in häufigen, kurzen Stößen zu schluchzen; anfangs suchte er dabei seine Stimme zu unterdrücken, zuletzt aber heulte er laut. Als dann die Teilnehmer der Beerdigung von dem Toten Abschied nehmen und der Sarg geschlossen werden sollte, umfaßte er diesen mit den Armen, als wollte er den Deckel nicht auf Iljuschetschka legen lassen, und bedeckte die Lippen seines toten Kindes mit heißen Küssen, er konnte sich nicht losreißen. Endlich ließ er sich überreden aufzuhören. Er wurde schon die Stufe hinabgeführt, wo der Sarg stand, als er plötzlich hastig die Hände ausstreckte und ein paar Blumen nahm, die im Sarg lagen. Er sah sie an, und eine neue Idee schien in ihm zu reifen, so daß er die Hauptsache offenbar für einen Moment vergaß. Allmählich versank er in Gedanken und widersetzte sich nicht mehr, als der Sarg hochgehoben und zur Grabstelle getragen wurde. Diese war nicht weit; sie lag innerhalb der Einfriedung, dicht an der Kirche. Sie war teuer, Katerina Iwanowna hatte sie bezahlt. Nach der üblichen Zeremonie ließen die Totengräber den Sarg in die Gruft hinab. Snegirjow beugte sich mit seinen Blumen in der Hand so weit über das offene Grab, daß die Jungen ihn erschrocken am Überzieher packten und zurückzuziehen versuchten. Er schien jedoch nicht mehr recht zu verstehen, was vorging. Als man den Hügel aufzuschütten begann, wies er mit sorgenvoller Miene auf die aufgeworfene Erde, sagte auch etwas, doch niemand konnte es verstehen, und er verstummte sofort wieder. Da erinnerte man ihn daran, die Brotrinde zu zerkrümeln. Er geriet in furchtbare Aufregung, holte die Rinde hervor, zerbrach sie und streute die Krümchen auf den Grabhügel. »Nun kommt herbeigeflogen, ihr Vögelchen, kommt herbei, ihr kleinen Spatzen!« murmelte er eifrig. Einer der Jungen machte ihn darauf aufmerksam, daß es ihm sicher recht unbequem sei, mit den Blumen in der Hand das Brot zu zerbrechen; er möchte sie doch solange jemand zum Halten geben. Aber er tat das nicht und wurde sogar ängstlich, als ob man ihm seine Blumen wegnehmen wollte. Nachdem er das Grab lange betrachtet und sich davon überzeugt hatte, daß nun alles getan und die Brotkrümel gestreut waren, drehte er sich auf einmal unerwartet und ganz ruhig um und machte sich auf den Weg nach Hause. Sein Schritt wurde immer schneller und eiliger; er lief beinahe. Aber die Jungen und Aljoscha wichen nicht von seiner Seite.

»Ich will Mamachen die Blumen bringen! Ich will Mamachen die Blumen bringen! Mamachen hat sich gekränkt gefühlt«, sagte er auf einmal. Jemand rief ihm zu, er möchte doch den Hut aufsetzen, da es jetzt kalt sei. Als er das hörte, schleuderte er seinen Hut wie im Zorn in den Schnee und sagte: »Ich will keinen Hut, ich will keinen Hut!« Der kleine Smurow hob den Hut auf und trug ihn ihm nach. Alle Jungen ohne Ausnahme weinten, am meisten Kolja und der, der Troja entdeckt hatte. Obgleich Smurow, den Hut des Stabskapitäns in der Hand, ebenfalls schrecklich weinte, fand er doch noch Zeit, nahezu im Laufen ein Stück Ziegelstein, das auf dem Weg im Schnee lag, aufzuheben und damit nach einem vorüberfliegenden Schwarm Spatzen zu werfen. Er traf allerdings keinen und lief weiter und weinte weiter. Auf halbem Weg machte Snegirjow plötzlich halt, blieb etwa eine halbe Minute lang stehen, als ob ihm etwas eingefallen wäre, drehte sich dann zur Kirche um und lief zu dem Grab zurück. Doch rasch hatten ihn die Jungen eingeholt und hängten sich von allen Seiten an ihn. Da ließ er sich kraftlos, wie vom Leid niedergedrückt, in den Schnee sinken und begann, um sich schlagend, weinend und schluchzend zu schreien: »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen!« Aljoscha und Kolja hoben ihn auf und versuchten, ihn durch Bitten und Zureden zu beruhigen.

»Hören Sie auf, Kapitän! Ein Mann hat die Pflicht, auch das zu ertragen«, murmelte Kolja.

»Sie zerdrücken ja die Blumen«, fügte Aljoscha hinzu. »Mamachen wartet darauf, sie sitzt da und weint, weil Sie ihr vorhin keine Blumen von Iljuschetschka gegeben haben. Da steht auch noch Iljuschas Bettchen …«

»Ja, schnell zu Mamachen!« sagte Snegirjow, sich plötzlich wieder erinnernd. »Sie werden sonst das Bettchen wegräumen!« fügte er hinzu, als fürchte er wirklich, man könnte es wegräumen, sprang auf und lief wieder seiner Wohnung zu.

Es war nicht mehr weit, und alle kamen gleichzeitig dort an. Snegirjow machte hastig die Tür auf und rief seiner Frau, zu der er kurz vorher so grob gewesen war, laut zu: »Mamachen, liebes Mamachen, Iljuschetschka schickt dir Blumen, deine Füße sind doch krank!« Er hielt ihr seine Handvoll Blumen hin, die unter der Kälte gelitten hatten und arg zerdrückt worden waren, als er sich soeben im Schnee gewälzt hatte.

Doch im selben Augenblick erblickte er vor Iljuschas Bett in der Ecke Iljuschas Stiefelchen, die beide nebeneinanderstanden; die Hauswirtin hatte sie eben erst beim Aufräumen dorthin gestellt. Es waren alte, steif gewordene Stiefelchen mit zahlreichen Flicken. Bei ihrem Anblick warf er die Arme in die Höhe, stürzte in dieser Haltung auf sie zu, warf sich auf die Knie, nahm das eine Stiefelchen, preßte seine Lippen darauf, küßte es leidenschaftlich und rief – »Väterchen, Iljuschetschka, liebes Väterchen, wo sind deine Füßchen?«

»Wo hast du ihn hingetragen? Wo hast du ihn hingetragen?« heulte das »Mamachen« mit herzzerreißender Stimme; dann schluchzte auch Ninotschka los. Kolja lief aus dem Zimmer, ihm folgten die anderen Jungen und schließlich auch Aljoscha.

»Sollen sie sich ausweinen!« sagte er zu Kolja. »Trösten kann man da natürlich nicht. Wir wollen ein Weilchen weggehen und dann wiederkommen.«

»Ja, trösten kann man da nicht, das ist furchtbar«, stimmte ihm Kolja zu. »Wissen Sie, Karamasow …«, fügte er plötzlich leiser hinzu, damit es niemand hörte. »Mir ist sehr traurig zumute, und ich würde alles in der Welt darum geben, wenn man ihn wieder ins Leben zurückrufen könnte.«

»Oh, ich auch!« erwiderte Aljoscha.

»Wie denken Sie darüber, Karamasow: Sollen wir heute abend hingehen? Er wird sich betrinken.«

»Das wird er vielleicht tun. Wir beide wollen allein hingehen und ein Stündchen bei ihnen sitzen, bei der Mutter und Ninotschka, das genügt. Wenn wir alle zusammen hingehen, rufen wir ihnen alles wieder ins Gedächtnis zurück«, riet Aljoscha.

»Die Hauswirtin deckt jetzt den Tisch bei ihnen, es wird wohl ein Totenmahl geben, und der Pope wird kommen. Sollen wir gleich wieder umkehren, Karamasow?«

»Unbedingt«, antwortete Aljoscha.

»Sonderbar ist das alles, Karamasow! So ein Leid – und dann auf einmal Pfannkuchen! Wie unnatürlich ist das alles in unserer Religion!«

»Es wird auch Lachs geben«, bemerkte laut der Junge, der Troja entdeckt hatte.

»Ich möchte Sie ernstlich ersuchen, Kartaschow, sich nicht mehr mit Ihren Dummheiten einzumischen! Besonders wenn man gar nicht mit Ihnen spricht und überhaupt nicht wissen will, ob Sie auf der Welt sind«, erwiderte ihm Kolja schroff und gereizt.

Der Junge wurde dunkelrot, wagte jedoch nichts zu entgegnen. Inzwischen hatten sie alle leise den uns schon bekannten Fußweg eingeschlagen, da rief Smurow plötzlich: »Dort ist Iljuschas Stein, unter dem er begraben werden sollte!«

Alle blieben schweigend an dem großen Stein stehen. Aljoscha betrachtete ihn, und alles, was ihm Snegirjow über Iljuschetschka erzählt hatte, wie dieser, weinend und den Vater umarmend, gerufen hatte: »Papachen, Papachen, wie hat er dich erniedrigt!« dieses ganze Bild wurde in ihm auf einmal wieder lebendig, und es war ihm, als ob in seinem Innern eine heftige Erschütterung vorginge. Mit ernster, nachdenklicher Miene ließ er seine Blicke über die lieben, hellen Gesichter dieser Jungen, der Schulkameraden des verstorbenen Iljuscha, wandern, dann sagte er plötzlich zu ihnen: »Meine Herren, ich möchte an dieser Stelle gern ein Wort zu Ihnen sagen.«

Die Jungen umringten ihn und richteten ihre erwartungsvollen und gespannten Blicke auf ihn.

»Meine Freunde, wir werden uns bald trennen. Ich werde jetzt noch eine Zeitlang bei meinen beiden Brüdern bleiben, von denen der eine nach Sibirien verbannt wird und der andere auf den Tod krank liegt. Doch bald werde ich diese Stadt verlassen, vielleicht für sehr lange Zeit. Wir werden uns also trennen müssen, meine Freunde. Lassen Sie uns aber hier an Iljuschas Stein verabreden, daß wir zweierlei niemals vergessen wollen: erstens Iljuschetschka und zweitens uns nicht! Was uns auch später im Leben begegnen mag, und sollten wir uns auch zwanzig Jahre nicht wiedersehen – wir wollen doch für immer im Gedächtnis behalten, wie wir den armen Jungen begraben haben, den wir früher mit Steinen beworfen hatten – erinnern Sie sich, dort an der kleinen Brücke? – und den wir dann alle so liebgewannen. Er war ein prächtiger Kerl, ein lieber, tapferer Junge. Er hatte Gefühl für die Ehre seines Vaters und für dessen bittere Kränkung, gegen die er sich empörte. Und deshalb wollen wir erstens seiner gedenken, meine Herren, unser ganzes Leben lang. Und zweitens: Mögen wir auch mit den wichtigsten Dingen beschäftigt sein, mögen wir hohe Ehren erreicht haben oder in ein großes Unglück geraten sein – gleichviel, vergessen Sie niemals, wie wohl wir uns hier alle zusammen einmal gefühlt haben, vereint durch eine gute, edle Empfindung, die uns für die Zeit unserer Liebe zu dem armen Jungen vielleicht besser gemacht hat, als wir in Wirklichkeit sind. Meine Tauben – gestatten Sie, daß ich Sie Tauben nenne, denn Sie haben große Ähnlichkeit mit diesen hübschen, graublauen Tierchen, gerade jetzt in diesem Augenblick, wo ich Ihre guten, lieben Gesichter ansehe –, meine lieben Kinder, vielleicht verstehen Sie nicht, was ich Ihnen sage, denn ich rede oft sehr unverständlich; aber Sie werden es doch im Gedächtnis behalten und später einmal meinen Worten zustimmen. Wissen Sie also, daß es nichts gibt, was höher, stärker, gesünder und für das bevorstehende Leben nützlicher wäre als irgendeine gute Erinnerung, und besonders eine, die noch aus der Kindheit, aus dem Elternhaus herrührt. Man erzählt Ihnen viel von Ihrer Erziehung, aber eine schöne, heilige Erinnerung, die man sich aus der Kindheit bewahrt hat, ist vielleicht die allerbeste Erziehung. Wer viele solche Erinnerungen mit ins Leben nimmt, ist fürs ganze Leben gerettet. Und selbst wenn sich nur eine einzige gute Erinnerung in unserem Herzen erhält, so kann auch die uns einmal zur Rettung dienen. Leicht möglich, daß wir später einmal schlecht werden, daß wir nicht imstande sind, der Verlockung zu einer bösen Tat zu widerstehen, daß wir uns über Menschentränen boshaft lustig machen und über Menschen, die so denken, wie es Kolja vorhin ausdrückte: ›Ich möchte für alle Menschen leiden!‹ Doch wie schlecht wir auch vielleicht werden, was Gott verhüten möge – wir werden uns doch daran erinnern, wie wir Iljuscha begruben und wie wir ihn in den letzten Tagen liebten und wie wir jetzt an diesem Stein so freundschaftlich miteinander gesprochen haben, und bei dieser Erinnerung wird selbst der Hartherzigste und Spottlustigste von uns, falls wir solche Menschen werden sollten, nicht wagen, sich innerlich darüber lustig zu machen, wie edel und gut er in diesem Augenblick gewesen ist! Ja noch mehr: Vielleicht wird ihn gerade diese eine Erinnerung von einer großen Übeltat zurückhalten, und er wird anderen Sinnes werden und sich sagen: ›Ich war doch damals gut und mutig und ehrenhaft!‹ Mag er auch vor sich hin lächeln, das schadet nichts. Der Mensch lacht häufig über das Schöne und Gute, das geschieht nur aus Leichtsinn; aber ich versichere Ihnen, meine Freunde, sobald er lächelt, wird er sich sogleich in seinem Inneren sagen: ›Nein, es war unrecht von mir zu lächeln, darüber darf man sich nicht lustig machen!‹«

»So wird es ganz bestimmt sein, Karamasow! Ich verstehe Sie, Karamasow!« rief Kolja mit blitzenden Augen.

Die anderen waren in starker Erregung und wollten ebenfalls etwas sagen, beherrschten sich jedoch und sahen Aljoscha nur unverwandt und gerührt an.

»Das sage ich für den möglichen schlimmen Fall, daß wir schlechte Menschen werden«, fuhr Aljoscha fort. »Aber warum sollen wir denn schlechte Menschen werden, nicht wahr, meine Freunde? Wir werden erstens und vor allen Dingen gute Menschen sein, zweitens ehrenhafte Menschen, und drittens werden wir einander niemals vergessen. Das wiederhole ich immer wieder. Ich meinerseits gebe Ihnen mein Wort darauf, meine Freunde, daß ich keinen von Ihnen vergessen werde! An jedes Gesicht, das mich in diesem Moment ansieht, werde ich mich erinnern, selbst nach dreißig Jahren noch. Vorhin hat Kolja zu Kartaschow gesagt, uns liege nichts daran zu wissen, ob er auf der Welt sei oder nicht. Aber könnte ich etwa vergessen, daß Kartaschow auf der Welt ist, daß er auch jetzt noch so rot wird wie damals, als er Troja entdeckte, und daß er mich mit seinen prächtigen, guten, heiteren Augen ansieht? Meine Herren, meine lieben Freunde, lassen Sie uns alle hochherzig und mutig werden wie Iljuschetschka, klug, mutig und hochherzig wie Kolja, der mit zunehmendem Alter jedoch noch weit klüger werden wird, und ebenso verschämt, aber vernünftig und liebenswürdig wie Kartaschow. Doch weshalb rede ich nur von diesen beiden? Sie alle, meine Freunde, sind mir von nun an lieb, Sie alle schließe ich in mein Herz! Und ich bitte Sie, mich ebenfalls in Ihr Herz zu schließen! Wer aber hat uns in diesem guten, schönen Gefühl vereinigt, an das wir uns jetzt unser Leben lang erinnern wollen und erinnern werden? Wer anders als Iljuschetschka, dieser gute, liebe junge, der uns für alle Zeit teuer ist! Wir werden ihn nie vergessen, sondern ihm ein gutes, ein ewiges Andenken in unseren Herzen bewahren, von nun an bis in Ewigkeit!«

»Ja, ja, ein ewiges Andenken, ein ewiges Andenken!« riefen alle Jungen mit ihren hellen Stimmen, und man sah ihren Gesichtern die Rührung an.

»Wir wollen uns auch an sein Gesicht erinnern und an seinen Anzug und an seine ärmlichen Stiefelchen und an seinen kleinen Sarg und an seinen unglücklichen, sündigen Vater und daran, wie er gegen die ganze Klasse mutig für ihn eintrat!«

»Ja, daran wollen wir uns erinnern!« riefen die Jungen wieder. »Er war mutig und gut!«

»Ich habe ihn liebgehabt!« rief Kolja.

»Kinderchen, meine lieben Freunde, fürchten Sie sich nicht vor dem Leben! Wie schön ist das Leben, wenn man etwas Gutes und Gerechtes tut!«

»Ja, ja!« stimmten die anderen begeistert zu.

»Karamasow, wir lieben Sie!« rief spontan eine Stimme, offenbar die von Kartaschow.

»Wir lieben Sie, wir lieben Sie!« fielen die anderen ein. Vielen standen Tränen in den Augen.

»Ein Hurra für Karamasow!« rief Kolja begeistert.

»Und ewiges Andenken dem toten Iljuscha!« fügte wieder Aljoscha mit Wärme hinzu.

»Ewiges Andenken!« fielen erneut die Jungen ein.

»Karamasow!« rief Kolja. »Ist es wirklich wahr, was die Religion lehrt, daß wir alle von den Toten auferstehen und einander wiedersehen werden, auch unseren Iljuschetschka?«

»Sicherlich werden wir auferstehen, sicherlich werden wir uns wiedersehen und uns froh und heiter alles erzählen, was uns im Leben begegnet ist«, antwortete Aljoscha, halb lachend, halb begeistert.

»Ach, das wird schön!«rief Kolja unwillkürlich.

»So, und jetzt wollen wir unsere Reden beenden und zu seinem Totenmahl gehen. Lassen Sie sich nicht dadurch beirren, daß es Pfannkuchen zu essen gibt. Das ist ein althergebrachter Brauch, der auch sein Gutes hat«, sagte Aljoscha lachend. »Nun, dann kommen Sie! Wir wollen jetzt Arm in Arm gehen!«

»Ja, und das immer, das ganze Leben hindurch. Arm in Arm! Ein Hurra für Karamasow!« schrie Kolja noch einmal begeistert, und noch einmal stimmten alle Jungen in seinen Ruf ein.

Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn, in die Erde gefallen nicht erstirbt, so bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, trägt es viel Frucht.

Johannes 12,24

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