Kapitel 15

 

15

 

Die Matrosen hoben Jim ins Boot, und Margot folgte. Sie war nur noch wenig bekleidet, aber das fiel ihr weiter nicht auf, bis das Boot an Deck heraufgezogen war. Dann war sie allerdings dankbar, daß es oben dunkel war. Gleich darauf legte auch jemand einen warmen Mantel um ihre Schultern, und sie ging in ihre Kabine.

 

Nach einem heißen Bad kleidete sie sich um und ging trotz der Warnungen Ceciles sofort wieder an Bord, um nachzusehen, was aus Jim geworden war. Auch er hatte sich umgekleidet und war von einer Menge neugieriger Passagiere umringt, die wissen wollten, was passiert war. Er log das Blaue vom Himmel herunter.

 

»Ich bin oben auf dem Bootsdeck eingeschlafen, habe das Gleichgewicht verloren und bin ins Wasser gefallen. Miss Cameron sah mich – weiter kann ich mich auf nichts besinnen, bis ich wieder das Bewußtsein erlangte. Ich sah ein helles Kalklicht auf dem Rettungsgürtel brennen. Der Schein blendete mich, und Miss Cameron hielt mich an den Ohren über Wasser.«

 

Der Steuermann, der auf Wache war, hatte den ganzen Vorgang beobachtet und den Rettungsring so gut und sicher geworfen. Jim erfuhr das erst später. Der Schiffsarzt hatte die Kopfwunde verbunden, die zu Margots Beruhigung nicht schwer war. Der Mann, der von hinten angriff, mußte selbst sehr nervös gewesen sein, denn der Schlag hatte nicht richtig getroffen, so daß die Wunde mit ein paar Nadeln wieder geschlossen werden konnte.

 

»Ich verdanke dir mein Leben«, sagte Jim, als er mit Margot allein war.

 

»Ich werde dir in den nächsten Tagen auch eine Rechnung dafür schicken«, unterbrach sie ihn schnell. »Jetzt gehe ich in meine Kabine zurück. Du scheinst dich ja einigermaßen erholt zu haben, denn du sprichst wie der reinste Radioapparat.«

 

Sie drückte seinen Arm und verschwand.

 

Als er am nächsten Morgen aufwachte, mußte er sich erst besinnen, wo er war, denn man hatte ihm eine Kabine auf dem F-Deck gegeben. Die beiden Detektive von Scotland Yard besuchten ihn, später kam der Schiffsarzt und wechselte den Verband. Nachdem Jim einige Zeit geruht und vom Doktor noch ein Stärkungsmittel erhalten hatte, kam er nach und nach wieder zu Kräften.

 

Zur selben Zeit suchte Mr. Winter um ein Gespräch mit dem Kapitän nach und erhob Klage gegen Mr. Bartholomew. Der Kapitän hörte alles an, was der Mann zu sagen hatte, und erklärte dann, daß die Sache bereits von zuständigen Stellen untersucht würde. Aber damit war Mr. Winter nicht zufrieden.

 

»Wahrscheinlich wissen Sie auch, daß dieser Mr. Bartholomew ein Flüchtling ist. Die Polizei hat einen Steckbrief hinter ihm erlassen, weil er unter dem Verdacht steht, einen Mord begangen zu haben.«

 

»Das ist mir alles bekannt. Sind Sie denn ein Polizeibeamter?«

 

»Nein, das nicht«, erklärte Winter.

 

»Nun, dann kann ich Sie ja beruhigen. Es sind nämlich Beamte von Scotland Yard an Bord, die sich mit der Angelegenheit beschäftigen, und Sie können versichert sein, daß die Leute ihre Pflicht tun und den Schuldigen schon verhaften werden.«

 

Mrs. Markham hatte die Abwesenheit Winters dazu benützt, eine Unterredung mit Major Visconti herbeizuführen. Der Italiener ging an Deck auf und ab, als er sah, wie Stella Markham ihm von der Türe zum Salon winkte.

 

»Wollen Sie so liebenswürdig sein, zu meiner Kabine mitzukommen?« fragte sie ihn.

 

»Madame«, sagte er und verneigte sich formvollendet, »ich freue mich, Ihrem Wunsch nachkommen zu dürfen.«

 

»Ich wollte Ihnen die Tanagrafiguren zeigen, die ich voriges Jahr in Italien gekauft habe«, erklärte sie gleichgültig.

 

Er folgte ihr bis zum Ende des Ganges, wo ihre Kabine lag. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, lud Stella ihn durch eine Handbewegung ein, in einem Sessel Platz zu nehmen.

 

»Tony«, sagte sie vorwurfsvoll, »was ist denn geschehen? Warum habt ihr Talbot umgebracht?«

 

Der Italiener nahm seine Mütze ab, legte sie auf den Teppich neben sich und sah zu Boden.

 

»Hat er –?« begann sie wieder.

 

»Er hat uns verraten wollen.«

 

»Aber wie – wann?«

 

Er zuckte die Schultern.

 

»Er war während des letzten Monats in dauernder Angst. Das wissen wir doch, Madonna. Ich mußte immer an seiner Seite bleiben, als wir in Paris waren, und durfte ihn auch in London nicht aus den Augen lassen. Als er erfuhr, daß Detektive an Bord des Dampfers sind, hat er den Verstand vollends verloren, denn nachdem wir zwei Tage auf See waren, schickte er ein Telegramm nach Washington, ob sich die Behörden darauf einlassen würden, wenn eins der Mitglieder der Bande aus freien Stücken alles gestehen würde. Auch wollte er wissen, auf welches Entgegenkommen er dann rechnen könnte. Er erhielt darauf eine befriedigende Antwort und schickte noch ein längeres Telegramm ab. Winter sah, wie er es schrieb, und vermutete den Zusammenhang. Talbot hatte dummerweise Abschriften seiner Telegramme zurückbehalten, und als Winter seine Kabine durchsuchte, fand er sie.«

 

Mrs. Markham schwieg.

 

»Wer sind denn die Detektive? Kennen Sie die Leute?«

 

Er nickte.

 

»Ja, der eine hat unten im Heizraum mit Bartholomew gearbeitet, der andere fährt als Passagier erster Klasse.«

 

»Sind sie hinter uns her?«

 

Er lächelte.

 

»Das kann ich nicht genau sagen. Meiner Meinung nach nicht. Talbot hat in seinen Telegrammen nicht angedeutet, daß Sie an Bord sind.«

 

»Aber das werden sie erfahren.« Sie rückte ihr Kleid zurecht. Er erhob sieb langsam, ging zu ihr und legte seine Hände auf ihre Schultern.

 

»Madonna«, sagte er ernst, »es gibt einen Ausweg für Sie. Das heißt, wenn nicht Winter –« Er sprach nicht weiter und biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Was meinen Sie?« fragte sie und sah schnell zu ihm auf.

 

»Ich meine, man kann Ihnen in keinem Fall nachweisen, daß Sie an irgendeiner unserer Unternehmungen teilgenommen haben. Dieses Diamantenhalsband in Moorford – so hieß doch wohl das Nest –«

 

Sie nickte.

 

»Auch das kann Ihnen nicht zur Last gelegt werden. Das hat Winter getan. Ich möchte nur wissen, warum. Ich nahm immer an, daß das Schmuckstück Ihnen gehörte.«

 

Sie nickte wieder.

 

»Das ist das einzig ehrlich verdiente Wertstück, das ich in meinem Leben erhalten habe«, erwiderte sie bitter. »Jemand, der mich schätzte, hat mir Petroleumaktien geschenkt. Die sind kolossal im Wert gestiegen; das Halsband ist von dem Erlös gekauft. Auf Winters Rat hin legte ich das Geld in Diamanten an.«

 

»Das war nicht klug von Ihnen. Ich sehe jetzt den Zusammenhang deutlich. Winter wollte nicht haben, daß Sie eigenes, unabhängiges Vermögen besäßen, deshalb legte er das Geld so fest, daß Sie es nicht jeden Augenblick benützen konnten. Ich habe mich für das Schicksal dieser Halskette interessiert – und ich muß sagen, daß ich zufrieden bin.«

 

Er sah sie nachdenklich an.

 

»Darf ich Ihnen etwas sagen, Madonna?« fragte er dann leise und mit sanfter Stimme.

 

Sie blickte bestürzt zu ihm auf.

 

»Nein, bitte, tun Sie es nicht.«

 

Er machte eine kleine Handbewegung und schaute sie zärtlich an.

 

»Ich liebe Sie, Madonna. Ich weiß, daß Sie das nicht hören dürfen, denn ich bin ein Mensch, der viele Verbrechen begangen hat. Aber ich verehre Sie, wie kaum ein Mann eine Frau verehren kann.«

 

Er machte eine Pause und sprach dann langsam weiter.

 

»Ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie zu beschützen, so daß Sie nicht in die Sache hineingezogen werden können, wenn diese Reise schlecht enden sollte.«

 

»Aber Winter wird das nicht zulassen«, meinte sie.

 

Der Italiener lächelte böse und zeigte seine weißen Zähne.

 

»Ich bereue nicht, daß ich Talbot beiseite geschafft habe«, fuhr er fort, als ob er Gedanken laut äußerte. »Ich kannte ihn, er war ein schlechter Charakter. Wenn ich Blut an meinen Händen habe, so auch er. Sie wissen wohl nichts davon, daß er die kleine Chinesin Hien –«

 

In dem Augenblick öffnete sich die Tür heftig, und Winter trat wütend herein.

 

»Nun, was gibt es hier?« wandte er sich ärgerlich an Tony. »Was wollen Sie?«

 

Tony lächelte.

 

»Vor allem, daß du dich mir gegenüber etwas höflicher benimmst«, sagte er leichthin. »Mach nicht ein so brummiges Gesicht.«

 

»Höflich? Du scheinst wohl nicht zu wissen, daß Fire Island dicht vor uns liegt?«

 

»Das interessiert mich wenig«, erwiderte Tony in bester Stimmung. »Bei so nebligem Wetter könnte es höchstens angenehm sein, zu erfahren, daß ein Leuchtschiff in der Nähe ist.«

 

»Riskiere nur nicht so eine Lippe mir gegenüber. Du scheinst vergessen zu haben, welche Bedeutung das Leuchtschiff für uns beide hat.«

 

Winters Benehmen hatte sich vollkommen geändert. Er hatte nicht mehr die vornehme, wohlüberlegte Aussprache, und er sah den anderen mit zusammengekniffenen Augen an. »Warum soll ich dir nicht auch mal die Meinung sagen können?« fragte Tony.

 

Er war vollkommen ruhig und stand in nachlässiger Haltung da. Jeder andere wäre getäuscht worden, aber Winter wußte genau, daß er in seinen Taschen den Handgriff des Stiletts hielt. Er selbst hatte nicht mehr die Möglichkeit, seinen Revolver zu ziehen und zwang sich deshalb zu einem Grinsen.

 

»Nun, du kannst dich amüsieren, wenn es dir so paßt. Ich wüßte nicht, warum du das nicht tun solltest.«

 

»Was hat der Kapitän gesagt?« fragte Mrs. Markham.

 

»Was glaubst du wohl? Er hat mit mir gespielt wie die Katze mit der Maus. Du hast alles bei dir, Tony, und gut verwahrt?«

 

Der Italiener nickte.

 

»Das Diamantenhalsband?«

 

Tony nickte aufs neue.

 

»Wann hast du ihm das gegeben?« fragte Winter argwöhnisch.

 

»Ach, es war gestern«, entgegnete sie.

 

Winter sah argwöhnisch von einem zum anderen.

 

»Das ist eine gemeine Lüge«, platzte er heraus.

 

»Wo ist das Halsband?«

 

Er trat einen Schritt vor.

 

»Du kannst dir alle Mühe sparen«, erklärte Stella kühl. »Das Halsband ist an einer sicheren Stelle.«

 

Winter wurde furchtbar wütend und drehte sich plötzlich nach ihr um, aber bevor er sie anrühren oder Tony sich zwischen sie werfen konnte, klopfte es schüchtern an der Tür.

 

»Wer ist da?« fragte Winter.

 

Mrs. Markham war leise an den Eingang getreten, aber er stieß sie roh zur Seite und riß die Tür auf. Cecile Cameron stand draußen, und die Blicke der beiden trafen sich einen Augenblick. Der wütende Ausdruck wich aus seinen Zügen, und ein verschmitztes Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

 

»Kommen Sie doch näher, Mrs. Cameron«, sagte er höflich. Sie sah aber nur Stella an und ging auf sie zu.

 

»Nun«, fragte Winter, »was wollen Sie tun, um Ihre Schwester aus der unangenehmen Lage zu befreien?«

 

Cecile wandte sich um.

 

»Ist sie – in Gefahr?« fragte sie leise.

 

»Wir sind alle in Gefahr, sehen Sie das nicht?«

 

»Ich will tun, was in meinen Kräften steht«, erwiderte Cecile Cameron müde.

 

»Da müssen Sie sich aber verdammt Mühe geben und sich vor allem beeilen«, entgegnete Winter brutal. »Sie können Ihre Schwester nicht retten, ohne nicht auch ihren Mann aus dem Schlamassel zu ziehen.«

 

Ohne mit der Wimper zu zucken, schaute sie ihn an.

 

»Ich glaube, ich kann etwas tun. Gegen sie ist keine Anklage erhoben, und die Detektive an Bord ahnen nicht, daß sie auf dem Schiff ist.«

 

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Winter schnell.

 

Tony hatte während der letzten Unterhaltung geschwiegen. Jetzt lächelte er.

 

»Sie hat eben Bartholomew danach gefragt. Was sie uns eben gesagt hat, ist eine Bestätigung meiner Hoffnung.«

 

»Was, deiner Hoffnung?« fragte Winter und drehte sich wütend nach dem Spanier um.

 

»Ja, ich wünsche dringend, daß Madame nicht in diese Sache hineingezogen wird, wenn die Sache vor die Polizei kommt.«

 

Winter starrte ihn an.

 

»Ach so, darum handelt es sich!« sagte er leise. »Aus diesem Grund hast du deine Schwester hier jede Nacht getroffen! Und dabei hast du doch gesagt, daß sie nur versuche, dich von diesem Leben abzubringen. Belogen hast du mich also auch. Wahrscheinlich hast du die ganze Sache so gedreht, daß mich die Polizei fassen soll, nachdem Talbot tot ist. Und Tony ist auch an diesem Verrat beteiligt.«

 

»Laß doch das blöde Geschwätz«, entgegnete Tony ruhig.

 

»Ich muß doch alle Konsequenzen tragen, wenn die Sache vor Gericht kommt, und ich glaube, diesmal wird es eine recht böse Sache werden.«

 

Winter wandte sich langsam seiner Frau zu.

 

Stella hatte den Kopf an die Schulter ihrer Schwester gelegt und die Augen geschlossen. Sie sah müde und bleich aus; schwere, schwarze Schatten lagen unter ihren Augen, aber Mr. Winter kümmerte sich nicht darum.

 

»Wenn Sie glauben, daß Sie Ihre Schwester aus dem Skandal herausschmuggeln können, und daß ich als Sündenbock ins Gefängnis wandern soll, während meine teure Gattin in New York oder England die große Dame spielt, dann habt ihr euch aber mächtig in die Finger geschnitten«, sagte er und atmete schwer. »Stella, du hast genau dieselbe Schuld wie ich oder Magda oder was für blöde Namen du dir sonst noch gegeben hast. Wenn die Sache vor Gericht kommt, kannst du dich bombensicher darauf verlassen, daß ich als Zeuge auftrete und den Leuten beweise, wie sehr du an all den Geschichten beteiligt warst, die wir in Europa ausgefressen haben –«

 

»Und dann werde ich als Zeuge auftreten und beweisen, daß das nicht der Fall ist«, entgegnete der kleine Spanier.

 

»Das hätte gerade noch gefehlt.«

 

»Warum nicht? Die Leute werden mindestens ebenso auf mich hören wie auf dich.«

 

»Nun gut.« Winter wandte sich zur Tür.

 

Im nächsten Augenblick aber packte ihn wieder helle Wut, er drehte sich um und sprang mit einem Fluch auf seine Frau los. Gerade wollte er ihr die Kehle zudrücken, als er einen intensiven Schmerz unter der linken Schulter fühlte. Er schrie laut auf und fuhr herum.

 

»Das ist eine Warnung«, erklärte Tony ruhig. »Noch einen halben Zentimeter weiter wäre es ins Herz gegangen.«

 

John Winter sah auf die lange, blitzende Klinge in der Hand des Spaniers.

 

Winter sagte nichts. Er riß die Tür auf und stürzte hinaus. Als Stella wieder auf Tony sah, hatte er nichts mehr in der Hand. Auf geheimnisvolle Weise war der Dolch verschwunden.

 

Kapitel 16

 

16

 

»So, jetzt sind wir am Ende der Reise angekommen«, meinte Jim Bartholomew.

 

»Wieso?« fragte Margot und sah sich erstaunt um. Ein leichter Dunst lag auf dem Wasser, aber die ›Ceramia‹ fuhr mit höchster Geschwindigkeit.

 

»Wenn du genau aufpaßt, kannst du die laute Sirene hören, die jede Minute ertönt. Das ist Fire Island.«

 

»Du scheinst dich sehr gut auszukennen, obwohl du die Reise noch niemals gemacht hast.«

 

»Ich bin noch nicht in den Vereinigten Staaten selbst gewesen, aber beim Leuchtschiff von Fire Island war ich schon einmal. Im Krieg habe ich einmal flüchtige Unterseeboote bis hierher verfolgt.«

 

Gleich darauf hörten sie deutlich die Sirene. Sie standen beide auf dem Vorderdeck unter der Kabine des Kapitäns und hörten den Maschinentelegraphen. Kurz darauf verringerte sich das Geräusch der Schiffsmaschinen.

 

»Wir fahren langsamer«, sagte er.

 

Margot legte ihren Arm in den seinen.

 

»Ich möchte dich etwas fragen.«

 

Er wußte, was das sein würde und schwieg.

 

»Was passiert mit Mrs. Markham?«

 

Er sah sie scharf an.

 

»Was weißt du denn von ihr?«

 

»Sage mir doch, was mit ihr passiert.«

 

»Weißt du denn, wer sie ist?«

 

Sie nickte.

 

»Cecile hat es mir heute morgen gesagt. Mrs. Markham ist ihre Schwester, die gestorben sein sollte. Sie ist mit diesem Mann verheiratet, den sie als ihren Butler ausgibt.«

 

Er sah nachdenklich zur Seite, bevor er antwortete.

 

»Weiß Frank davon?«

 

»Ja. Sie hat Frank alles gebeichtet an dem Tag, an dem sie angeblich nach Schottland fuhr. Frank hat sich während der ganzen Zeit sehr vornehm und anständig ihr gegenüber benommen. Aber nun sage mir doch, was droht Mrs. Markham?«

 

»Nichts. Sanderson hat zwar die Bande die ›Großen Vier‹ genannt, aber unter diesem Namen sind sie weder in England noch in Amerika der Polizei bekannt. Die Leute, hinter denen sie her waren, sind Talbot, Trenton und Romano.«

 

Sie runzelte die Stirn.

 

»Romano? Du meinst doch nicht etwa diesen eleganten Offizier?«

 

»Ja, das ist er. Aber der Name von Mrs. Trenton ist niemals erwähnt worden. In Scotland Yard weiß man von ihrer Existenz, aber man hält sie mehr oder weniger für ein Opfer dieses Trenton. Ich habe mit den Detektiven eingehend darüber gesprochen. Die amerikanische Polizei denkt ebenso. Einer der Beamten hat deshalb gestern noch in Washington durch ein Radiotelegramm angefragt und eine Antwort erhalten, die zugunsten von Mrs. Trenton ausgefallen ist. Die einzige Gefahr besteht natürlich darin, daß Trenton aus reiner Gemeinheit seine Frau in die Sache hineinzieht. Der Mann hat einen entsetzlichen Charakter.«

 

Margot zitterte.

 

»Es ist schrecklich, wenn man daran denkt. Sie ist mit ihm durchgebrannt, als sie noch auf die Schule ging, aber sie ist entsetzlich für ihren Leichtsinn gestraft worden.«

 

»Ich hoffe, daß ihre Sorgen jetzt zu Ende sein werden«, erwiderte Jim, und seine Worte hatten weit mehr zu bedeuten, als Margot im Augenblick ahnen konnte.

 

Winter war zur Kabine seiner Frau zurückgekehrt und mit Packen beschäftigt, als der Maschinentelegraph die Geschwindigkeit des Schiffes verminderte.

 

»Warum fährt das Schiff langsamer?« fragte Stella müde.

 

»Zum Donnerwetter, woher soll ich das wissen? Geh doch zum Kapitän und frag den.«

 

Mrs. Markham zuckte die Schultern.

 

»Winter, du wirst ganz unmöglich. Während der ganzen Reise habe ich versucht, dir zu helfen, aber durch dein Benehmen hast du alle meine Versuche nutzlos gemacht.«

 

»Wenn ich deinen Rat will, frage ich danach, und wenn ich den Wunsch habe, daß du den Schnabel auf- und zumachst und wie eine Gans schnatterst, will ich dir in Zukunft eine schriftliche Erlaubnis erteilen. Jetzt machst du aber auf jeden Fall die Klappe zu und bist ruhig. Ich habe auch noch ein Hühnchen mit dir und Tony zu rupfen.«

 

Er war damit beschäftigt, einen Koffer zuzuschnallen. Mrs. Markham saß mit gefalteten Händen und starrte ins Leere.

 

»Wo wir auch bleiben, westlich oder östlich des Atlantik, immer ist das Leben mit dir eine Hölle.«

 

»Willst du wohl das Maul halten?« fuhr er sie hart an und hob drohend die Faust. »An einem der nächsten Tage –« er sah sie wütend an. »An einem der nächsten Tage, meine Liebe –«

 

Sie zuckte die Schultern.

 

»An einem der nächsten Tage soll mir vermutlich dasselbe passieren wie Talbot. Jim Bartholomew hast du ja auch um die Ecke bringen wollen!«

 

Er ging zum Fenster ihres Schlafzimmers und sah hinaus.

 

Der Mast eines kleinen Bootes schwankte neben der Reling und verschwand nach hinten. Er wurde bleich.

 

»Das war ein Polizeiboot«, sagte er heiser.

 

Sie zuckte die Schultern aufs neue und verließ die Kabine.

 

»Wohin gehst du?«

 

»An Deck, um zuzusehen.«

 

»Komm sofort zurück«, rief er ihr zu, und als sie seiner Aufforderung nicht folgte, argwöhnte er, was sie im Sinn hatte. Er stieß einen Wutschrei aus und eilte hinter ihr her.

 

In langen Sätzen raste er den Gang zwischen den Kabinen entlang, trat aufs Deck hinaus und sah sich nach ihr um. Aber er konnte sie nicht entdecken. Gleich darauf beobachtete er eine Szene, die ihn vollständig aus der Fassung brachte.

 

Tony stand ein paar Schritte vom Saloneingang entfernt und war von drei Männern umringt, die allem Anschein nach mit dem Polizeiboot vom Land gekommen waren. Winter konnte wieder den Mast sehen, der über die Reling hinausragte. Und obwohl sich Tony lächelnd mit den Leuten unterhielt, wurde er doch von einem der Fremden fest am Arm gepackt.

 

Er versuchte, zu seiner Kabine zurückzugehen, aber jetzt trat ein vierter in den Gang, und hinter ihm erschien Jim Bartholomew.

 

»Ich verhafte Sie, Trenton«, sagte der Mann, »und wenn Sie vernünftig sind, machen Sie keinen Spektakel. Strecken Sie die Hände aus.«

 

Das Spiel war verloren, Flucht unmöglich. Trentons Gesicht sah eingefallen und aschgrau aus, als die Handschellen über seinen Gelenken einschnappten. Der Fremde packte ihn am Arm und führte ihn zu den anderen, die Tony Romano umringt hatten. In der kurzen Zeit hatte Trenton einen Entschluß gefaßt.

 

»Guten Morgen, Chefinspektor«, sagte er, als er einen der Beamten erkannte.

 

»Guten Morgen, Trenton«, erwiderte dieser kühl. »Der dritte Mann ist also tot, wie Sie sagen«, wandte er sich dann an einen der Detektive von Scotland Yard.

 

»Ja, der ist erledigt«, entgegnete Romano heiter. »Diese Tatsache kann ich bezeugen, denn ich habe ihn selbst umgebracht. Nun, mein lieber Winter«, fuhr er fort und sah seinen Komplicen lächelnd an, »wir wollen machen, daß wir weiterkommen und von Bord gehen.«

 

»Einen Augenblick«, sagte Trenton heiser. »Sie suchen doch drei Personen – oder irre ich mich?«

 

»Ja, zwei Lebende und einen Toten«, erklärte einer der Polizeibeamten.

 

»Nun gut, Sie sollen drei Lebende gefangennehmen.«

 

Tony Romano hatten sie keine Handschellen angelegt, und er stand in seiner gewöhnlichen, nachlässigen Haltung da. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.

 

»Mein Freund«, sagte er, »du hast eben gehört, daß der Chefinspektor nur drei braucht, zwei Lebende und einen Toten. Willst du noch mehr?«

 

»Ja«, fuhr Trenton ihn wütend an.

 

»Du bist eben ein gemeiner Lump«, erwiderte Tony. »Aber du sollst haben, was du wünschst.«

 

Er hatte vollkommen ruhig gesprochen, und keiner der Anwesenden ahnte etwas von seiner Absicht. Nur seine Armmuskeln schienen sich zusammenzuziehen, dann sprang er vorwärts. Die Umstehenden glaubten, daß er Trenton umarmte.

 

»Können Sie sich denn gar nicht ruhig benehmen?« sagte der Chefinspektor scharf. »Legen Sie ihm Handschellen an, Riley«, wandte er sich an einen seiner Leute.

 

Dann sah er Trentons starres Gesicht: das Kinn war auf die Schulter des Spaniers gesunken.

 

»Das genügt«, meinte Romano.

 

Als er Trenton losließ, sank dieser zu Boden.

 

»So, meine Herren, hier ist das Messer«, erklärte der Spanier und ließ die lange Dolchklinge zu Boden fallen.

 

Sie legten ihm die Handschellen an.

 

»Mit Trenton brauchen Sie sich keine Mühe zu machen«, sagte er, als sich die Beamten über den Mann am Boden beugten und die Wunde zu verbinden suchten. »Der ist mausetot und sagt keinen Ton mehr, er starb auf dieselbe Weise wie mein Freund Talbot, und es ist besser so. Ich möchte nicht mit solchen Lumpen vor Gericht stehen.«

 

Sie brachten ihn schleunigst zum F-Deck hinunter, wo sie ihn in aller Eile durchsuchten.

 

»Meiner Meinung nach finden Sie fast alle Juwelen, die die Leute von ihrer Raubfahrt nach Europa mitbringen, in den Breeches von Romano«, sagte Jim ruhig.

 

Der Spanier lächelte.

 

»Sie haben vollkommen recht, sonst hätte dieses Kleidungsstück ja auch keinen Zweck gehabt«, entgegnete er kühl und schlug mit den gefesselten Händen gegen das Beinkleid. »Es ist drei Millionen Dollar wert.«

 

Vom F-Deck führte ein Fallreep direkt zum Polizeiboot. Als sie Romano fortführten, wandte er sich noch einmal an Jim.

 

»Meine respektvollen Empfehlungen an alle, die liebenswürdig zu mir waren.« Er sah Bartholomew direkt in die Augen, und dieser wußte, daß das ein letzter Gruß an Stella Markham war. »Bitte, entschuldigen Sie mich auch bei Miss Cameron. Ich bin in ihre Kabine gegangen, um mich zu vergewissern und zu beruhigen. Es war etwas dort, was ich zu finden hoffte, und es ist auch noch dort.«

 

Kapitel 17

 

17

 

So nahmen sie Tony Romano mit sich. Auch die beiden Toten wurden ins Polizeiboot getragen. Die Passagiere der ›Ceramia‹ hörten jetzt zum erstenmal etwas von der Tragödie, die sich an Bord abgespielt hatte.

 

Jim ging zur Kabine von Mrs. Markham. Sie war nicht allein. Cecile saß bei ihr und tröstete sie.

 

»Wollen sie mich auch verhaften?« fragte Stella müde.

 

Jim schüttelte den Kopf.

 

Er zögerte noch, ihr die Tat des Italieners zu erzählen, wodurch er die letzte Chance einbüßte, dem elektrischen Stuhl zu entkommen.

 

»Ich hatte nicht nötig, Ihre Anwesenheit auf dem Schiff zu erklären, Mrs. Markham«, sagte er. »Der einzige Mann, der Sie verraten konnte, ist tot.«

 

Sie nickte.

 

»Tony … hat Tony das für mich getan?«

 

Erst als sie sich am Abend in Ceciles Wohnzimmer im Hotel versammelten, erzählte Mrs. Trenton ihre Geschichte.

 

»Es ist ja bekannt, daß ich mit meinem Mann durchbrannte. Er war viel älter als ich. Damals war ich restlos in ihn verliebt – aber diese Leidenschaft verflog bald. Er gehörte einer anderen Gesellschaftsschicht an wie ich, aber sein Mangel an Bildung hätte sich noch entschuldigen lassen. Er hätte es mit seiner Intelligenz weit bringen können, wenn er nur gewollt hätte. Aber John Winter-Trenton war immer ein Verbrecher. Es dauerte sehr lange, bis ich die Wahrheit erfuhr, und dann erschrak ich nicht so sehr, wie es wohl hätte sein sollen. Auf jeden Fall konnte er alles so glänzend darstellen, daß ich mit ihm gemeinsame Sache machte. Ich habe eine passive Rolle bei einer seiner größten Betrügereien gespielt. Lange Zeit ging es gut, aber dann verfolgte uns eine sehr schlaue Detektivin.«

 

Jim lächelte.

 

»Merkwürdig, zuerst hielt ich Sie für diese Detektivin, als ich in die Geschichte eingeweiht wurde.«

 

Stella schüttelte den Kopf.

 

»Nein, sie hat Amerika niemals verlassen. Sie hat uns damals das erstemal überführt. Winter und ich wurden daraufhin verhaftet, und während wir in Untersuchungshaft saßen, habe ich meine Schwester davon verständigt, was aus mir geworden war. Jahrelang hatte Winter nur in kleinem Maßstab gearbeitet, dann kam er mit Talbots Hilfe und durch sonstige Unterstützung vorwärts. Wir fuhren nach Europa, und dann begann diese Serie von Einbrüchen, die Sie ja kennen. Winter hatte sie alle ausgedacht und geplant, Tony und Talbot führten sie aus. Ich hatte weiter nichts zu tun, als die große Dame zu spielen. Wir mieteten sehr teure Landsitze, manchmal im Norden Englands, manchmal im Süden, die den anderen als Operationsbasis dienten. Winter gab sich für meinen Butler aus.«

 

Sie lächelte schwach.

 

»Es liegt eine gewisse Ironie darin, denn ich war seine Sklavin. Nun ist er tot«, sagte sie leidenschaftlich, »und ich bin froh, daß er tot ist. Mit meinen eigenen Hände hätte ich ihn ermorden sollen.« Sie hatte sich erhoben und zitterte vor Leidenschaft. Dann packte sie ein Weinkrampf.

 

»Ich glaube, wir wissen alles, was notwendig ist, Mrs. Cameron«, sagte Jim. »Weiß Ihr Mann davon?«

 

»Ich habe ihm alles mitgeteilt«, erwiderte Cecile.

 

Jim ging aus dem Zimmer und nahm Margot mit sich. Sie fuhren mit dem Lift in die Höhe.

 

»Warum hast du eigentlich ihre Kabine an Bord des Dampfers durchsucht, Jim? Du warst doch dieser geheimnisvolle Matrose oder Heizer, den sie durch das Fenster verschwinden sah? Hast du etwas Bestimmtes gesucht?«

 

»Ich erwartete, zwei verschiedene Dinge zu finden. Eins habe ich allerdings entdeckt – den zweiten Ring mit den Töchtern der Nacht. Du erinnerst dich doch noch, daß Cecile erzählte, ihr Vater hätte zwei Ringe angefertigt und jeder seiner Töchter einen gegeben. Den habe ich nicht entdecken können, es war eine große Enttäuschung für mich. Wir haben das Juwelenhalsband nicht gefunden, das von Mrs. Markham auf der Bank deponiert wurde und heute ihr einziges Vermögen darstellt. Die Bank ist ja dafür verantwortlich und muß ihr die Summe von hundertzwölftausend Pfund zahlen. Sieh her, hier ist der Ring.«

 

Er nahm ihn aus der Westentasche und zeigte ihn ihr. Der Schmuck glich genau, dem Stück, das Mrs. Cameron getragen hatte. Margot nahm ihn in die Hand und bewunderte ihn.

 

»Sanderson hatte eine Photographie von Mrs. Markham mit dem Ring in der Hand. Mein Assistent muß sie einmal kurz gesehen haben. Durch Winters liebenswürdiges Wesen ließ er sich täuschen und lud den vermeintlichen Butler an dem Abend ein, an dem Mrs. Markham Moorfeld verließ. Er wollte ihn als seinen Agenten anstellen und zog ihn ins Vertrauen, damit er seine Herrin in Amerika beobachten sollte. Er hatte Stella in Verdacht, da sie eine große Ähnlichkeit mit der Photographie hatte, die in seinem Besitz war. Ausgerechnet Winter sollte ihm die letzten Beweise für die Identität von Mrs. Trenton und Mrs. Markham bringen! Das würde alle Tatsachen erklären. Gewißheit wird man wohl nie darüber erhalten können, da die Hauptbeteiligten an dieser Tragödie nun tot sind.«

 

»Was ist dann geschehen?«

 

»Winter kam in der Nacht zu der Bank. Mrs. Markham mag vielleicht im Auto gesessen haben, das auf der anderen Seite der Straße hielt. Wahrscheinlich geriet er in große Bestürzung, als er die Photographie in Sandersons Besitz sah. Denn, wenn Stella identifiziert war, würde auch er in kurzer Zeit erkannt sein. In seiner Verzweiflung muß er Sanderson gedroht haben, der sich mit meinem Revolver verteidigte. Die beiden rangen miteinander, das konnte man ja deutlich an den Spuren im Büro sehen. Die Stühle waren umgestoßen. Winter war persönlich muskulös und kräftig. Er brachte den Revolver an sich, schoß Sanderson nieder und riß ihm die Photographie aus der Hand. Er muß gerade in dem Augenblick durch den Gang geflohen sein, als ich in mein Büro trat.«

 

»Aber was ist denn mit dem Juwelenhalsband passiert?«

 

»Während ich in Sandersons Büro stand und auf den Toten niederbückte, hatte ich das bestimmte Gefühl, daß Mrs. Markham in irgendeiner Weise in den Fall verwickelt war. Ich nahm meine Schlüssel, öffnete den Safe und erwartete eigentlich, daß ihr Paket gestohlen war. Sanderson hatte mir erzählt, daß Winter einen Besuch auf der Bank gemacht und sich das Paket angesehen hatte. Ja, er hatte sogar berichtet, wie Winter ihm einen Mann auf der Straße zeigte, den seine Herrin nicht leiden konnte. Ich fand das Paket, nahm es mit zum Tisch und öffnete die Siegel. Und wie ich vermutet hatte, war der Glaskasten leer.«

 

»Was war denn geschehen?«

 

»Winter hatte den ganz gewöhnlichen Trick ausgeführt, zwei gleiche Pakete miteinander auszuwechseln. Er hatte ein ganz ähnliches Paket in braunem Papier zur Bank mitgebracht, das auf gleiche Weise versiegelt war, und während er Sandersons Aufmerksamkeit ablenkte, indem er ihm jemand auf der Straße zeigte, vertauschte er die beiden kleinen Päckchen. Nun wußte ich, daß Winter an dem ganzen Fall beteiligt war, und ich ahnte auch, daß er Sanderson getäuscht hatte. Ich glaubte, daß Mrs. Markham Moorford schon verlassen hätte; wahrscheinlich war Winter mit ihr zusammen auf dem Weg nach Southampton. Ich mußte schnell nachdenken und einen Entschluß fassen. So holte ich zweihundert Pfund aus einer Schublade meines Schreibtisches, eilte nach Hause und nahm meinen Koffer, der bereits für meinen Besuch in London gepackt war. Es gelang mir, den letzten Zug nach Exeter noch zu erreichen. Den Rest der Geschichte kennst du ja.«

 

»Was wolltest du an Bord des Schiffes?«

 

Er lachte.

 

»Ich wußte doch, daß der Mörder an Bord sein mußte, und außerdem warst du doch auf der ›Ceramia‹.

 

»Jim, schäme dich, daß du die beiden Dinge in einem Atemzug nennen kannst. Dabei soll ich dich noch lieben –?«

 

»Gewiß«, erwiderte er ruhig. »Ich sage dir ganz offen, das einzige, was mich damals noch vorwärtstrieb, und warum ich den Mut nicht verlor, war das Bewußtsein, daß du mir nahe warst.«

 

Sie sah ihn mit einem prüfenden Blick von der Seite an. Dreimal hatte sich die Tür des Lifts geöffnet, aber sie hatten es nicht gemerkt.

 

»Meinst du das wirklich?«

 

»Selbstverständlich«, entgegnete er etwas verletzt.

 

Sie dankte ihm mit einem Blick.

 

»Aber du hast mir noch nicht gesagt, was aus dem Halsband geworden ist.«

 

Er zuckte verzweifelt die Schultern.

 

»In den weiten Taschen von Tonys Breeches steckten so viel Juwelen und Brillanten, daß ein Juwelier zehn Jahre lang davon hätte verkaufen können. Aber es war nichts darunter, was dem Juwelenhalsband von Mrs. Markham auch nur im entferntesten ähnlich gesehen hätte. Das ist eine fatale Tatsache für mich. Ich möchte bloß wissen –«

 

»Die arme Mrs. Markham! Was wird nun das Ende sein?«

 

Jim zuckte die Schultern.

 

»Übrigens möchte ich nur wissen, wer ihre Freundin in New York ist, der ich die Konfektschachtel überreichen soll.«

 

»Was, sie hat eine Freundin in New York?« fragte Jim plötzlich interessiert.

 

»Ach, es ist eine Dame, die nach der Schachtel fragen soll –«

 

Jim faßte sie hart an der Schulter.

 

»Wo ist das Päckchen?«

 

»Du meinst doch nicht etwa –«

 

»Wir wollen es sofort untersuchen.«

 

Sie eilten zusammen den Gang entlang, und Jim ging mit ihr in die Kabine. Sie schlossen den Koffer auf, und mit zitternden Händen riß Margot das Packpapier von dem Kasten.

 

Jim öffnete sofort den Deckel und machte ein enttäuschtes Gesicht.

 

»Es ist tatsächlich Konfekt«, sagte er. »Das heißt –« Er fühlte mit den Fingern zwischen die einzelnen Stücke, schob die Schokolade dann beiseite und zog einen Gegenstand heraus, der glänzte und glitzerte.

 

»Margot, unsere Zukunft ist gesichert!«

 

»Sie war schon gesichert, als du vom Ertrinken gerettet wurdest.«

 

Jim nickte.

 

»Jetzt erklärt sich auch alles andere. Tony war doch in deiner Kabine?«

 

»Der Italiener – ja! Ich habe es ihm direkt auf den Kopf zugesagt. Aber was hat das jetzt zu bedeuten?«

 

»Er ist dorthin gegangen, um sich zu überzeugen, daß das Brillanthalsband wirklich dort war. Es ist Stella Markhams Eigentum, und er machte sich Sorge darum. Wahrscheinlich hat er vermutet, daß Stella es dir zur Aufbewahrung übergab, und hat deine Kabine durchsucht, um sich zu beruhigen. Er hat sie über alles geliebt.«

 

»Was, Tony Romano hat Mrs. Markham geliebt?« fragte Margot ungläubig.

 

»Ja, seine Liebe war so groß, daß er die Frau rettete, genau wie du mich gerettet hast, als du in dem hübschen Schwimmanzug ins Wasser sprangst…«

 

Sie sah ihn etwas ärgerlich an, aber er schloß sie mit einem glücklichen Lachen in die Arme.

 

*

 

Ende

 

Kapitel 1

 

1

 

Ungeduldig wartend saß Jim Bartholomew in Stiefeln und Sporen auf der Ecke des großen, schweren Eichentisches und beobachtete die Uhr auf dem Kamin. Er sah noch sehr jung aus, war aber bereits Direktor der wichtigsten Zweigniederlassung der South Devon-Bank. Sein Vater war vor seinem Tod Generaldirektor des ganzen Unternehmens gewesen und hatte wahrscheinlich dafür gesorgt, daß sein Sohn so frühzeitig diese gute Position erhielt.

 

Es gab ja wohl Leute, die in Jim nur den gutgekleideten jungen Mann sahen, der elegante Pferde liebte und ausschließlich Interesse für Fuchsjagden und Vergnügungen hatte. Sie hätten aber ihr Urteil über ihn geändert, wenn sie einmal geschäftlich mit ihm zusammengetroffen wären.

 

Er sah auf seine Taschenuhr und seufzte.

 

Es lag wirklich kein Grund vor, pünktlich bis zum Schluß der Bürostunden zu bleiben, denn gestern war in Moorford Markttag gewesen, und heute morgen hatte er den baren Kassenbestand mit dem Zug nach Exeter gesandt.

 

Aber Jim genierte sich vor seinem Assistenten. Dieser Mann amüsierte und ärgerte ihn zugleich. Einerseits bewunderte er die gewissenhafte Pflichterfüllung Stephen Sandersons, andererseits regte es ihn auf, wenn der Angestellte die Bankvorschriften zu wörtlich und buchstäblich auslegte. Er sah noch einmal auf die Uhr, nahm die Reitpeitsche vom Tisch und trat in das Büro seines Assistenten.

 

Stephen Sanderson schaute auf, als der Direktor eintrat, und warf dann einen Blick auf die laut tickende Uhr über der Tür.

 

»In zwei Minuten schließen wir, Mr. Bartholomew«, sagte er kurz und leicht vorwurfsvoll.

 

Er war zweiundvierzig Jahre alt und arbeitete sehr fleißig und erfolgreich. Die Ernennung Jim Bartholomews zum Direktor hatte eine ehrgeizige Hoffnung seines Lebens zerstört, und er hatte aus diesem Grunde keine besondere Veranlassung, seinen Vorgesetzten zu lieben. Bartholomew war ein Mann, dem mehr das Leben in der freien Natur zusagte. Er hatte den Weltkrieg mitgemacht und sich dabei ausgezeichnet; er liebte Sport, Tanz und Gesellschaft. Sanderson dagegen war unermüdlich tätig. Ihm kam es darauf an, gute Referenzen zu sammeln, und am wohlsten fühlte er sich, wenn er zu Hause in seiner Bibliothek studieren und sich weiterbilden konnte. Außerdem hatte er auch noch eine Schwäche, die Jim Bartholomew zum Entsetzen seines Assistenten entdeckt hatte.

 

»Die Stahlkammern sind schon geschlossen, Mr. Sanderson«, entgegnete Jim lächelnd. »Ich glaube kaum, daß zwei Minuten noch einen großen Unterschied machen.«

 

Mr. Sanderson zog die Nasenwinkel hoch, ohne die Augen vom Schreibtisch zu erheben.

 

»Nun, was machen denn Ihre kriminalistischen Studien?« fragte Jim gutmütig.

 

Der Mann wurde rot und legte ärgerlich die Feder nieder.

 

»Mr. Bartholomew, dagegen muß ich aber protestieren«, erwiderte er hitzig. »Sie spotten über meine Bemühungen, die eines Tages der Bank noch großen Vorteil bringen können.«

 

»Sicher, sicher«, erklärte Jim beruhigend und schämte sich, daß er den anderen gekränkt hatte.

 

»Ich habe kürzlich von einem guten Bekannten, mit dem ich korrespondiere, die Unterlagen eines berühmten Falles erhalten«, fuhr Sanderson fort und nahm einen großen Briefumschlag auf. »Wenn Sie den Inhalt lesen«, sagte er mit Nachdruck, »werden Sie doch erstaunt sein und Ihre skeptischen Bemerkungen unterlassen.«

 

Wenn Mr. Sanderson erregt war, hörte man deutlich seinen nördlichen Akzent. Das war immer ein gefährliches Zeichen, wie Jim Bartholomew wußte.

 

»Aber mein lieber Freund, es ist tatsächlich ein ausgezeichnetes Studium, und ich gratuliere Ihnen nur dazu. Als ich während des Krieges im Marinenachrichtendienst tätig war, dachte ich selbst daran, Detektiv zu werden.«

 

Wieder sah Mr. Sanderson auf die Uhr.

 

»Sie werden jetzt gehen, es ist Zeit zum Aufbruch«, sagte er mit besonderer Betonung, und Jim verließ lachend die Bank.

 

Auf der Straße hielt ein Reitknecht sein Pferd neben dem Gehsteig. Jim stieg in den Sattel, ritt schnell durch die Stadt und den langen Abhang hinauf, der bis zur Ecke des Moores führte. Als er die kleine Villenkolonie hinter sich hatte, kam er schließlich zu einer Art Talsenkung, die der Teufelskessel genannt wurde.

 

Auf der anderen Seite der Schlucht wartete ebenfalls jemand zu Pferde. Deutlich hob sich die Gestalt im Sattel von dem westlichen Himmel ab. Er nahm den kürzesten Weg und ritt den steilen Abhang hinab durch das tiefe Tal, in dem Felsstücke verstreut lagen.

 

Die junge Dame, die ihn drüben erwartete, hatte im Herrensattel gesessen, nahm aber nun ein Bein aus dem Steigbügel, schwang es über den Pferdehals und machte es sich bequemer. Die untergehende Sonne spiegelte sich in ihren blanken Reitstiefeln.

 

Sie hatte die Hände über einem Knie gefaltet und sah lächelnd und belustigt zu Jim hinüber, der sich mühsam mit dem Pferd die Höhe hinaufarbeitete.

 

Margot Cameron hatte ein Gesicht, wie es besonders die französischen Künstler lieben und häufig in ihren Schwarz-weiß-Skizzen festhalten. Ihre roten Lippen zogen die Aufmerksamkeit auf sich, und ihnen gegenüber fiel die leichte Röte der Wangen nicht ins Gewicht.

 

Wenn man sie aus der Nähe betrachtete, bemerkte man, daß dieses feurige Rot natürlich war und nicht durch künstliche Mittel vorgetäuscht wurde. Auch ihre vollen goldbraunen Locken waren ein Naturgeschenk.

 

Jim ritt auf sie zu und schwenkte schon von weitem den Hut zum Gruß.

 

»Wissen Sie auch«, sagte die junge Dame, indem sie mit dem rechten Fuß wieder in den Steigbügel trat, »eben kam mir so recht zum Bewußtsein, daß Sie für Ihren Lebensunterhalt arbeiten.«

 

»Ich halte die Bürostunden ein. Das ist etwas anderes als das, was Sie sagen. Wenn Sie diese ganze lange Zeit in England waren und noch nicht entdeckt haben, daß die englischen Geschäftsleute nicht vor zehn Uhr morgens zu arbeiten anfangen, nachmittags um drei bereits zum Tee gehen und um vier Uhr das Geschäft schließen, dann haben Sie allerdings noch nicht viel gelernt.«

 

Ein Lächeln blitzte in ihren Augen auf. Im allgemeinen war sie ziemlich ernst, aber die Gegenwart Jim Bartholomews stimmte sie fröhlich und heiter.

 

Sie ritten einige Zeit schweigend nebeneinander her, bis Jim sich an sie wandte.

 

»Nach allem glaube ich, daß ich Sie nun nur noch ein einziges Mal sehen werde vor Ihrer Abfahrt nach den Vereinigten Staaten?«

 

Sie nickte.

 

»Und wie lange werden Sie fortbleiben?« fragte er.

 

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Margot kurz. »Meine Pläne für die Zukunft sind noch ziemlich ungewiß. Im Augenblick hängt alles davon ab, was Frank und Cecile entscheiden. Sie sprachen schon davon, daß sie sich in England ankaufen und ein paar Jahre hierbleiben würden. Frank ist gerade nicht sehr davon erbaut, daß ich allein lebe, andererseits –«, sie hörte plötzlich auf und vollendete den Satz nicht.

 

»Nun, was wollten Sie sagen?« fragte Jim interessiert.

 

»Andererseits wäre es ja nicht ausgeschlossen, daß ich auch selbst in England bliebe.«

 

»Ach ja«, erwiderte Jim leise.

 

»Würden Sie es gerne sehen?« fragte sie plötzlich.

 

»Nein«, gab er ruhig zu. »Ich glaube nicht, daß ich einen solchen Schritt ihrerseits gern sehen würde. Aber Ihre Anwesenheit hier ist für mich sehr angenehm. Wenn Sie nicht ein so großes Vermögen besäßen, dann wäre es vielleicht bedeutend leichter, endgültig über Ihre Zukunft zu entscheiden.«

 

Sie wartete, aber er sprach nicht weiter, und sie wollte ihn auch nicht fragen. Sie hatten die wilde Gegend des oberen Moors erreicht. Fern am Horizont erhob sich Hay Tor und sah fast aus wie eine blaugraue Wolke. Unten im Tal zog sich wie ein silbernes Band der Dartfluß durch die grüne Landschaft.

 

»Dies ist der einzige Platz in England, wo man leben kann«, sagte sie und atmete tief.

 

»Sie haben unsere Einwilligung«, entgegnete Jim großartig, hielt sein Pferd an und zeigte mit der Reitpeitsche über das Moor hin. »Sehen Sie drüben das weiße Haus? In Wirklichkeit ist es gar keins. Ich glaube, es ist als Jagdschloß für einen Kaiser oder als Irrenhaus erbaut worden.«

 

»Ja, ich sehe es«, erwiderte sie und hielt die Hand über die Augen, um die Sonnenstrahlen abzublenden.

 

»Es heißt Tor Towers. Haben Sie schon einmal Mrs. Markham getroffen?«

 

»Markham?« fragte die junge Dame und runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube nicht.«

 

»Sie stammt auch aus den Vereinigten Staaten und ist eine ungeheuer reiche Dame.«

 

»Ach, eine Amerikanerin?« sagte sie erstaunt. »Merkwürdig, daß wir sie nicht getroffen haben, nachdem wir doch ein ganzes Jahr lang in der Gegend waren.«

 

»Ich habe sie selbst auch nur ein einziges Mal gesehen«, gab Jim zu. »Sie ist eine Kundin unserer Bank. Aber gewöhnlich wird sie von Sanderson bedient, wenn sie irgendwelche Fragen hat.«

 

»Ist sie jung oder alt?«

 

»Oh, noch sehr jung«, entgegnete Jim begeistert. »Und sie ist so schön wie – nun, haben Sie das Gemälde ›Der tote Vogel‹ von Grenze im Louvre gesehen? Sie erinnert mich immer an dieses schöne Bild, und man könnte sich denken, daß Greuze es nach ihr gemalt hätte. Nur die Farbe der Haare stimmt nicht ganz.«

 

Sie sah ihn an und zog die Augenbrauen hoch. Ob Erstaunen oder vielleicht auch Belustigung in ihrem Blick lag, konnte er im Augenblick nicht sagen.

 

»Nun, das ist ja sonderbar«, entgegnete sie mit spöttischem Ernst. »Diese Begeisterung –«

 

»Ach, Margot, so müssen Sie das nicht auffassen«, erwiderte er, wurde aber trotzdem rot. »Ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen.«

 

»Nur einmal? Sie hat aber allem Anschein nach einen tiefen Eindruck auf Sie gemacht.«

 

»In gewisser Weise, ja«, entgegnete er ernst. »In mancher Beziehung auch nicht.«

 

»Ich weiß nicht recht, wie ich das verstehen soll.«

 

»Wenn man sie zuerst sieht, muß man sie bewundern. Und doch wird man traurig in ihrer Gegenwart.«

 

Margot lachte kurz auf.

 

»Nun, durch eine gewisse melancholische Stimmung macht man am besten Eindruck auf einen Mann. Wir wollen heimreiten.«

 

Sie lenkte ihr Pferd auf einen Weg, der zum Tal des Dart-Flusses und von dort aus nach Moorford führte.

 

»Warten Sie noch ein wenig.«

 

Jim hielt sein Pferd an. Margot wandte sich um und bemerkte, daß er sie bewundernd ansah. Tiefe Verehrung und Zuneigung lagen in seinem Blick. Ihr Herz schlug schneller.

 

»Margot, ich werde Sie jetzt lange Zeit nicht mehr sehen«, begann er etwas heiser. »Sie gehen von mir fort, und wer weiß, wann Sie zurückkommen werden. Und wenn Sie diesen Platz verlassen haben, den wir beide so schön finden, dann ist er nur noch eine entsetzliche Einöde.«

 

Sie schwieg und sah an ihm vorüber in die Ferne.

 

»Ich muß in der Stadt bleiben und kann nicht von hier fort, denn ich bin an meine Tätigkeit in der Bank gebunden. Und das ist vielleicht die einzige Beschäftigung, die für mich paßt. Womöglich muß ich mein ganzes Leben hier zubringen, bis ich schließlich ein alter Mann von siebzig Jahren bin und einen kahlen Schädel habe. Eigentlich bin ich ja nicht zum Bankdirektor geboren«, sagte er etwas lebhafter, fast sogar schelmisch. »Es stand nicht in den Sternen geschrieben, daß ich in einem Büro an einem grünen Tisch sitzen sollte, um Leuten den Standpunkt klarzumachen, die einen Kredit von tausend Pfund verlangen, wenn ihre Einlage auf der Bank nur fünfhundert Pfund beträgt. Nein, ich sollte zur See gehen«, sagte er halb zu sich selbst, »oder wenn ich schon etwas mit einer Bank zu tun haben müßte, so wäre ich lieber ein Bankräuber. Im Grunde meines Herzens bin ich eigentlich verbrecherisch veranlagt, aber ich habe nicht genug Unternehmungsgeist.«

 

»Wozu erzählen Sie mir das alles?« fragte sie und schaute ihn groß an.

 

»Das alles führt uns zu der großen wichtigen Tatsache«, entgegnete Jim und richtete sich hoch im Sattel auf, »daß ich Sie liebe. Sie sollen das Land nicht verlassen, ohne daß ich Ihnen das gesagt habe. Warten Sie einen Augenblick«, fügte er schnell hinzu, als er glaubte, daß sie ihm antworten wollte. Aber er konnte Frauen schlecht beurteilen; in Wirklichkeit fiel ihr nur das Atmen schwer. »Ich weiß, was Sie mir erwidern wollen. Sie meinen, ich hätte es nicht sagen dürfen. Aber ich fühle mich freier und wohler, wenn ich Ihnen sagen darf, daß ich Sie liebe. Ich mache Ihnen keinen Heiratsantrag, das wäre nicht recht von mir. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie liebe, und daß ich arbeiten werde – ich will diese langweilige, graue Stadt verlassen … eines Tages vielleicht …« Er sprach immer zusammenhangloser.

 

Sie lachte leise und leicht, obwohl sie gegen die Tränen ankämpfte, die ihr in die Augen stiegen.

 

»Jim, Sie sind ein sonderbarer Mann«, erwiderte sie kurz. »Erst machen Sie mir einen Antrag, und dann lehnen Sie ihn selbst ab. Es bleibt mir nichts zu sagen übrig, höchstens, daß ich Ihnen gegenüber niemals die Rolle der schwesterlichen Freundin spielen werde. Und dann habe ich auch Cecile versprochen, Sie zum Tee mitzubringen.«

 

Jim schluckte schwer. Mit einem tiefen Seufzer trieb er sein Pferd an, und gleich darauf war er an ihrer Seite.

 

»Also, das wäre erledigt«, sagte er.

 

»Nun, ich möchte aber nicht erklären, daß Ihre Ansichten immer meine Ansichten sind. Aber jetzt wollen wir noch recht viel über die schöne Mrs. Markham plaudern.«

 

Das taten sie, und sie sprachen auch noch über viele andere Dinge, bis sie durch den großen steinernen Torbogen von Moor House ritten, dem schönen Herrensitz an der Grenze von Moorford, den die Camerons für die Dauer des Sommers gepachtet hatten.

 

Kapitel 11

 

11

 

»Cecile! Das war ihr Ring – und doch –«

 

»Ich konnte mich nicht irren«, fuhr Jim fort. »Als ich an Bord des Schiffes kam, lieh ich von dem Chefingenieur ein Vergrößerungsglas, und so konnte ich alle Einzelheiten erkennen.«

 

Sie schwieg, während sie sich über die Reling lehnten und beobachteten, wie die großen Schaumblasen an der Oberfläche des Wassers vorübereilten.

 

»Willst du mir nicht auch erzählen, was du sonst noch erlebt hast?«

 

»Nur noch das: Ich kam in Southampton bei Tagesanbruch an und ging an Bord. Ich kenne den Chefingenieur Smythe und wußte, daß er an Bord war. Offen erklärte ich ihm, was ich erlebt hatte. Außerdem teilte ich ihm meine Verdachtgründe mit, die ich dir noch nicht sagen konnte. Er holte Stornoway in seine Kabine herunter, und wir besprachen dann die ganze Angelegenheit beim Mittagessen. Das sind wirklich wunderbare Charaktere. Sie nahmen das Risiko auf sich. Ich schlafe in der Kabine des Chefingenieurs, die sich übrigens auf diesem Deck befindet. Der Steward ist eingeweiht, aber auch ihn kannte ich von früher her.«

 

»Was soll denn aber in New York werden?«

 

»Das weiß ich nicht. Es sind Detektive an Bord des Schiffes, aber ich glaube nicht, daß sie hinter mir her sind.«

 

»Warum sind sie denn auf das Schiff gekommen?«

 

»Sie wollen die Bande der ›Vier Großen‹ festnehmen. Habe ich dir damals nicht von Sandersons Theorie erzählt? Er war wirklich ein armer Mann. Die letzten Worte, die er mit mir wechselte, handelten von der hohen Summe, die auf die Verhaftung der Bande ausgesetzt ist.«

 

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie nach einer Weile. »Daß der Ring auf der Photographie zu sehen war, ist doch merkwürdig. Frank hat oft gesagt, daß es der einzige Ring dieser Art ist. Aber es ist doch nicht möglich, daß dasselbe Schmuckstück auf der Photographie ist … Glaubst du denn, daß Cecile dieses entsetzliche Verbrechen ausgeführt hat?«

 

»Du meinst, daß sie Sanderson erschossen hat – um Himmels willen – nein!«

 

»Glaubst du, daß sie Sanderson gekannt hat? Ich besinne mich jetzt. Sie war sehr aufgeregt, als sie ihn in der Tür der Bank stehen sah.«

 

Jim antwortete einige Zeit nicht.

 

»An deiner Stelle würde ich die Möglichkeit nicht in Betracht ziehen, daß deine Schwägerin die Täterin sein könnte. Ich bin vollkommen davon überzeugt, daß sie nicht mehr mit dem Mord zu tun hat als du und ich.«

 

Plötzlich hörten sie hinter sich im Dunkeln einen Schrei, einen halb erschreckten Ruf, dann ein Geräusch, als ob etwas Schweres niederfiele. Beim ersten Laut sprang Jim auf und verschwand in der Dunkelheit. Margot, die ihm nacheilte, wäre beinahe über ihn gefallen. Sie sah jetzt, daß er sich über eine dunkle Gestalt beugte, die am Boden lag. Rasch steckte er ein Streichholz an. »Wer ist denn dieser Mann?« fragte er.

 

Sie sah über die Schulter und schauderte zusammen, als sie Blut aus einer Kopfwunde niederrinnen sah.

 

»Das ist ja der Pfarrer – Mr. Price!«

 

Es schien sonst niemand den Schrei gehört zu haben, denn sie blieben allein an Deck.

 

Jim hob den Verwundeten auf und stützte ihn gegen einen Windfang. Der Mann stöhnte.

 

»Wie geht es Ihnen? Können Sie stehen?« fragte Jim.

 

Zuerst glaubte er, daß Price das Bewußtsein nicht wiedererlangt hätte, denn er erhielt nicht sofort Antwort.

 

»Ich will es versuchen«, hörte er dann eine Stimme von unten. Mühsam erhob sich der Pfarrer, während Jim ihn stützte.

 

»Schrecklich!« sagte er leise. »Schrecklich!«

 

»Geht es Ihnen besser, Mr. Price?« fragte Margot besorgt. »Ja, ich fühle mich schon wohler. Wer ist denn das?«

 

»Ich bin Miss Cameron.«

 

»Ach, es ist ganz merkwürdig, ich bin hier über diese Bolzen gefallen. Es ist dunkel oben an Deck.«

 

»Wer hat Sie denn überfallen?« fragte Jim.

 

»Wieso?«

 

»Wer hat Sie verwundet? Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, daß Sie hier über einen Bolzen gefallen sind. Ich habe deutlich gehört, wie Sie mit einem anderen kämpften.«

 

Wieder steckte er ein Streichholz an. »Jemand hat versucht, Sie zu erwürgen. Ich sehe doch noch deutlich die Male an Ihrem Hals.«

 

»Ich fürchte, Sie haben geträumt«, erwiderte Price.

 

»Aber ich danke Ihnen vielmals für Ihre liebenswürdige Hilfe.« Schwankend ging er zu der Treppe nach unten, und auf dem Weg hielt er sich an den Booten fest, um nicht umzusinken.

 

»Das war ein glücklicher Zufall«, meinte Jim.

 

»Das verstehe ich nicht. Wieso?«

 

»Wirklich ein Segen«, entgegnete Jim erregt. »Wir beide können sehr dankbar sein, auf jeden Fall ich. Es ist bisher schon so vieles gutgegangen.«

 

»Wir wollen einmal sehen, aus welcher Richtung der Schrei kam.«

 

Vorsichtig ging er den engen Weg entlang, dann blieb er stehen.

 

»Es muß ungefähr hier gewesen sein«, sagte er direkt gegenüber der Radiokabine. »Nun wollen wir einmal hier hineinsehen und den Operateur fragen, ob er etwas gehört hat.«

 

Sie stiegen eine kurze Treppe in die Höhe zu dem öffentlichen Schalter, wo die Passagiere ihre Radiotelegramme aufgaben. Sie sahen den Operateur in Hemdsärmeln hinter einem Schalter sitzen.

 

»Hat Mr. Price das Wechselgeld auch eingesteckt?« fragte Jim liebenswürdig.

 

»Ja, ich gab ihm einen Dollar fünfzig. Ich sah deutlich, wie er es einsteckte.«

 

»Er gab Ihnen doch einen Zehndollarschein?« fragte Jim aufs Geratewohl.

 

»Ja, und das Telegramm kostete acht Dollar fünfzig«, erklärte der Operateur geduldig.

 

Jim dankte ihm.

 

»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Margot verwundert, als sie auf das Deck herunterkamen.

 

»Ich wollte wissen, wie lang ungefähr das Telegramm war. Und vor allem natürlich, ob er überhaupt eine Radiobotschaft fortgeschickt hatte. Er hat acht Dollar fünfzig bezahlt, infolgedessen hat er ungefähr vierzig Worte telegraphiert. Das ist schon ein recht langes Telegramm. Sie müssen ihn überfallen haben, als er die Treppe herunterkam. Ich kann nur sagen, Mr. Price hatte Glück, daß sie ihn nicht gleich über Bord warfen.«

 

»Jim, ich möchte noch eine Frage an dich richten. Wenn alles so geht, wie wir wünschen, und du deinen guten Namen wiederhergestellt hast, wie lange wird es dauern, bis du –« Es fiel ihr zu schwer, den Satz zu beenden.

 

»Ich werde dich heiraten, so schnell wie möglich, selbst wenn ich mir das Geld von dir leihen sollte, um die Lizenz und den Pfarrer zu bezahlen.«

 

Kapitel 12

 

12

 

Es blieben noch zwei Tage, vielleicht auch noch ein weiterer halber Tag, in dem Jim sein Ziel erreichen würde. Sie zweifelte nicht, daß es ihm gelingen würde, aber sie schwebte doch in beständiger Furcht und Aufregung. Am nächsten Morgen war sie sofort nach dem Frühstück an Deck, und der erste, den sie sah, war Mr. Price, der ruhig in seinem Deckstuhl saß und in einem Buch las. Er legte die Hand an seinen Verband, um zu grüßen.

 

»Schade, daß ich Sie gestern abend so erschreckt habe. Es war wirklich unvorsichtig von mir, daß ich oben auf das Bootsdeck ging.«

 

»Wenn Sie sich mehr zusammengenommen hätten, würden Sie sich wahrscheinlich nicht verletzt haben.«

 

Er lachte, aber dann verzog er das Gesicht, denn die Erschütterung verursachte ihm Schmerzen.

 

»Ihr Freund scheint Sie davon überzeugt zu haben, daß mich jemand angegriffen hat. Aber glauben Sie mir, meine liebe Miss Cameron, das stimmt nicht. Die Schreie, die Sie gehört haben, rührten wahrscheinlich von jungen Leuten her, die sich auf der anderen Seite des Decks einen Scherz machten. Ich habe es selbst schon öfter am Abend gehört und war zuerst auch sehr bestürzt darüber.«

 

»Sie wurden also doch angegriffen, und Mr. – mein Freund hat auch nicht gesagt, daß er hörte, wie Sie einen Schrei ausstießen«, sagte sie hartnäckig und nickte. »Sie wurden niedergeschlagen, nachdem sie ein langes Radiotelegramm nach New York gesandt haben.«

 

Er ließ das Buch, das er in Händen hielt, plötzlich fallen und sah sie mit halbgeschlossenen Augenlidern an.

 

»Sie sind doch nicht Miss Withers?« fragte er leise und bestürzt.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Wer ist denn überhaupt Miss Withers?« fragte sie. »Ach, jetzt weiß ich es. Das ist diese Detektivin. Mr. –« sie biß sich auf die Zunge, sonst hätte sie tatsächlich Bartholomews Namen genannt. »Mr. Wilkinson hat mir davon erzählt.«

 

»Ja, Agnes Withers heißt diese Frau«, erwiderte er gleichgültig. »Ich erinnere mich jetzt daran, daß sie in irgendeinem großen Prozeß eine Rolle spielte. Wahrscheinlich hat sie als Detektivin ein Verbrechen aufgeklärt. Nein, ich meinte eine andere Miss Withers, eine alte Freundin von mir – eine Tante.«

 

Major Pietro Visconti kam in diesem Augenblick vorbei und nahm Margot zu einem kurzen Spaziergang mit.

 

»Ich kann den Pfaffen nicht leiden, ich habe ihn noch nie gemocht.« Visconti zwirbelte nachdenklich seinen kleinen Schnurrbart. »Es sind Wölfe in Schafskleidern, und die sind sehr verderblich für die Jugend.«

 

Später traf er sie wieder, als sie in ihrem Stuhl am Promenadendeck saß, und setzte sich neben sie in Mrs. Markhams Sessel. Er sprach von Italien und Mailand, wo er zu Hause war, dann erzählte er von seiner Karriere, die er während des Weltkriegs in der Armee gemacht hatte, und berichtete so viele Einzelheiten von Washington, daß sie ihn fragte, ob er schon dort gewesen wäre.

 

Er nickte.

 

»Mehrmals, aber in untergeordneter Stellung. Jetzt bin ich Attaché der größten kriegerischen Nation der Erde.«

 

Sie lächelte, aber er erinnerte sie daran, daß die Römer die anderen Völker in der Kriegskunst unterrichtet hatten. Dann erhob er sich, denn Stella Markham kam näher. Sie sah immer noch etwas angegriffen aus, obgleich schon zwei Tage seit dem letzten Schwächeanfall vergangen waren. Es sah aus, als ob sie kaum geschlafen hätte, und sie bestätigte das auch mit ihren ersten Worten.

 

»Ich habe heute morgen den Tagesanbruch und den Sonnenaufgang gesehen.«

 

»Mir ist das auch an zwei Morgen passiert«, entgegnete Margot lächelnd. »Leiden Sie an Schlaflosigkeit?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nicht mehr richtig schlafen können, seitdem ich Tor Towers verlassen habe«, sagte sie und schaute auf. »Warum bin ich nur von dort abgereist?«

 

»Aber Sie kehren doch wieder zurück?«

 

»Es bleibt mir wohl nicht viel anderes übrig«, erwiderte sie nach einer Pause. »Ich muß es vor allem tun, um die Versicherungssumme für meine gestohlenen Juwelen herauszubekommen. Ich habe ein Radiotelegramm an eine Rechtsanwaltsfirma nach London gesandt, die meine Interessen wahrnehmen soll. Ich glaube, es wird mir auch gelingen, meine Ansprüche durchzusetzen – nun, was gibt es?«

 

Die letzten Worte hatten sie an Mr. Winter gerichtet, der nicht mehr so vergnügt und wohlwollend aussah wie gewöhnlich. Immerhin stand er in bescheidener Haltung vor Mrs. Markham.

 

»Es ist eben ein Radiotelegramm für Sie angekommen, es liegt in Ihrer Kabine, Madame.«

 

»Schon gut, Winter«, sagte sie und entließ ihn mit einem Kopfnicken.

 

»Auch er wird allmählich wieder vergnügt«, erklärte sie. »Ich möchte nur wissen, was Mr. Price zugestoßen ist.«

 

Sie war aufgestanden und sah die Reihe der Deckstühle entlang. Von weitem bemerkte sie den weißen Verband des Pfarrers. »Wissen Sie es, Miss Cameron?«

 

»Ja«, entgegnete sie ruhig. »Soviel ich weiß, hatte er gestern abend einen Unglücksfall oben auf dem Bootsdeck.«

 

»Einen Unglücksfall? Davon habe ich bisher noch nichts erfahren.«

 

Sie ging zu Price hinüber und setzte sich einige Zeit neben ihn auf einen Deckstuhl.

 

Margot fühlte sich unruhig und nervös, legte ihr Buch hin und ging an Deck auf und ab. Unterwegs schloß sich ihr der kleine Deutschamerikaner an, der mit ihr zusammen am Tisch des Zahlmeisters saß. Er befand sich auf der Rückreise nach Amerika, um sich dort zu verheiraten. Zuerst war er etwas scheu, bis sie ihn ausfragte.

 

Sie hatte schon zum zweitenmal die Runde auf dem großen Deck gemacht und näherte sich wieder der Stelle, wo sich Mrs. Markham immer noch mit dem Pfarrer unterhielt. Im gleichen Augenblick sah sie, daß Mr. Winter aus dem Innern des Schiffs ins Freie hinaustrat. Er blieb in einiger Entfernung stehen und wartete, bis Mrs. Markham zu ihm hinübersah. Sie stand auf und ging nach unten. Mr. Winter folgte ihr.

 

Es war bereits spät am Nachmittag, als Margot Mrs. Markham wiedersah. Diesmal trafen sie sich in der Gesellschaftshalle, wo Margot Tee trank und der Bordkapelle lauschte. Sie dachte an Jim, der unten im heißen Maschinenraum schwer arbeitete. Jede Umdrehung der Schiffsschraube, die den großen Koloß erzittern ließ, erinnerte sie daran, daß Jims Zukunft und Geschick an einem seidenen Faden hing.

 

Mrs. Markham rauschte herein. Sie trug ein wunderbares Kleid, und die neidischen Blicke vieler Frauen folgten ihr.

 

Vom Steward ließ sie sich einen Armsessel an Margots Tisch rücken.

 

»Wo wohnen Sie in New York?«

 

Margot gab ihre dortige Adresse an.

 

»Ich würde mich freuen, wenn ich Sie dort sehen könnte. Ich fahre weiter nach Richmond, aber in einer Woche oder spätestens in zehn Tagen kehre ich nach New York zurück.«

 

Margot kam zum Bewußtsein, daß sich Stella Markhams Benehmen geändert hatte. Zuerst hatte sie sie etwas von oben herab behandelt, dann hatte sie sie bemuttert, und jetzt sah es so aus, als ob sich ein mehr freundschaftliches Verhältnis anbahnte.

 

Sie sprach von Devonshire, dann versuchte sie, Margot dazu zu bringen, etwas von ihrem Leben in Moor House zu erzählen, und drückte ihr Bedauern darüber aus, daß sie sie während ihres Aufenthalts in England nicht getroffen hatte.

 

»Werden Sie nicht in New York abgeholt?« fragte sie schließlich.

 

»Doch. Wahrscheinlich erwartet mich der Rechtsanwalt meines Bruders. Das ist sogar ganz sicher.«

 

»Wer ist denn sein Rechtsanwalt?« fragte sie interessiert. »Ich wende mich stets an Peak & Jackson.«

 

»John B. Rogers ist Franks Freund. Er ist außerdem Oberstaatsanwalt des Staates.«

 

»Ich kenne ihn«, nickte Stella. »Wenigstens dem Namen nach. Jeder Mann in New York kennt ihn natürlich.«

 

»Ja, ich glaube, er ist sehr populär.«

 

»Ich fahre sofort nach Richmond weiter«, entgegnete Mrs. Markham nachdenklich, »und ich brachte eine Schachtel Konfekt aus Paris mit, die ich einer Freundin bei meiner Ankunft geben wollte.«

 

»Warum schicken Sie denn keinen Boten?«

 

»Weil ich die Adresse meiner Freundin nicht kenne. Ich sagte ihr, sie sollte mich in demselben Hotel aufsuchen, in dem Sie wohnen werden. Würden Sie vielleicht so liebenswürdig sein, dieses Päckchen an sich zu nehmen? Sie können ja dem Personal sagen, daß die Betreffende zu Ihnen geschickt werden soll, wenn jemand nach Mrs. Markham fragt. Und dann können Sie ihr das Geschenk übergeben.«

 

»Ich werde Ihnen gern den Gefallen tun«, entgegnete Margot lächelnd.

 

Es war einer dieser kleinen Aufträge, die sie am wenigsten schätzte, aber sie hielt es unter den gegebenen Umständen für rücksichtslos und unfreundlich, ihn abzulehnen.

 

»Ich werde Ihnen das Konfekt übergeben, bevor wir das Schiff verlassen. Vielleicht kommen Sie einmal zu meiner Kabine. Ich habe eine Anzahl entzückender Kleider, die ich Ihnen gern zeigen möchte. Wie wäre es heute nachmittag? Am besten jetzt gleich?«

 

Margot war neugierig, Mrs. Markhams Kabine kennenzulernen, und begleitete sie ohne zu zögern. Die Räume lagen am Ende des A-Decks in der Nähe des Bugs und waren sehr schön, aber lange nicht so luxuriös eingerichtet wie Margots eigene Zimmer. Die Kleider, die Stella Markham ihr zeigte, waren außerordentlich geschmackvoll und elegant, und schon ihretwegen hatte sich der Besuch gelohnt. Margot hatte sich gerade verabschiedet, als Mrs. Markham sie zurückrief.

 

»Es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie das kleine Päckchen gleich mitnähmen.«

 

Sie zog einen Stahlkoffer unter dem Bett hervor. Als sie den Schlüssel ins Schloß steckte, gab es einige Schwierigkeiten; und Mrs. Markham untersuchte daraufhin das Schlüsselloch.

 

»Jemand hat versucht, es zu öffnen«, sagte sie, und wieder sah Margot diesen müden, traurigen Zug in ihrem Gesicht.

 

Nach einiger Zeit gelang es ihr, den Schlüssel herumzudrehen, und nun nahm sie ein Paket heraus. Als sie das Papier abstreifte, bemerkte Margot eine wunderbare ovale Schachtel, die mit kostbarer, schwerer Chinaseide überzogen war. Der Deckel war mit einem handgemalten Bild verziert, und als sie die Schachtel öffnete, zeigte sich eine geschmackvolle, farbenprächtige Packung.

 

Margot nahm das Konfekt zu ihrer Kabine mit und schloß es in einen Koffer ein. Sie wußte nicht recht, was sie von Stella Markham halten sollte. Zuerst glaubte sie, die Frau vollkommen zu durchschauen, aber jeden Tag änderte sich das Bild, und Margot fühlte, daß ihre Menschenkenntnis doch nicht so sicher war, wie sie es bisher angenommen hatte.

 

Als sie mit dem Fahrstuhl an Deck zurückkehrte, wartete Stella Markham oben auf sie.

 

»Ich muß Ihnen noch etwas sagen. Es liegt nämlich ein Zoll auf Süßigkeiten, und ich dachte, daß Sie leicht durch die Zollschranken kommen, wenn Staatsanwalt Rogers Sie abholt. Er ist so bekannt, daß niemand Sie anhalten wird, wenn Sie in seiner Begleitung sind.«

 

Margot lachte.

 

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

 

Wie an allen anderen Tagen wartete sie und zählte die Stunden und Minuten, bis der Abend kam. Für sie begann das Leben erst, wenn sie Jim auf dem Bootsdeck traf. Das Leben schien allen Glanz zu verlieren, wenn sie sich von ihm getrennt hatte. Was dazwischenlag, war eine traurige Wartezeit, die sie sich so gut wie möglich vertreiben mußte. Als sie am Nachmittag in ihre Kabine kam, merkte sie, daß dort jemand geraucht haben mußte, und klingelte nach der Stewardeß.

 

»Wer hat hier gequalmt?« fragte sie.

 

»Ich wüßte niemanden«, entgegnete die andere überrascht.

 

Margot ging umher, aber der Geruch war nicht zu verkennen. »Ich würde ja noch nicht einmal so böse sein, wenn der Betreffende wenigstens eine anständige Zigarette geraucht hätte, aber das ist ja ein ganz entsetzliches Zeug.«

 

Sie hatte den bestimmten Eindruck, diese Art Tabak schon irgendwo vorher kennengelernt zu haben. Wieder sah sie sich im Zimmer um, und nach einer Weile fand sie auch, was sie suchte. Es war ein kleines Häufchen grauer Zigarrenasche, das der Raucher abgestreift hatte.

 

Sie betrachtete es sorgfältig und ging nachdenklich zum Promenadendeck zurück.

 

Oben sah sie Major Pietro Visconti allein auf einem Stuhl und trat zu ihm.

 

»Major Visconti, was haben Sie heute nachmittag in meinen Räumen gemacht?«

 

Er sprang auf, als sie ihn anredete.

 

»Was sollte ich denn in Ihren Räumen suchen?« fragte er überrascht. »Ich bin nicht dort gewesen!«

 

Sie zeigte ihm die Zigarrenasche, die sie in einem Briefumschlag untergebracht hatte.

 

Er lachte.

 

»Ach, Sie sind ein kleiner Sherlock Holmes, entdecken Zigarrenasche und ziehen Ihre Schlüsse daraus? Nun, von mir stammt sie nicht. Ich rauche eine besondere Sorte.«

 

»Ja, die kenne ich genau«, erklärte sie mit Nachdruck.

 

»Es ist eine italienische Marke, aber es gibt verschiedene Leute an Bord, die dieselbe rauchen. Ich könnte Ihnen ein paar nennen. Aber warum sollte denn ausgerechnet ich in Ihre Kabine eindringen, Miss Cameron? Ich weiß nicht einmal, wo sie liegt.«

 

Nachdem er die Sache so entschieden abstritt, blieb ihr nichts anderes übrig, als seine Erklärung anzunehmen und sich zu entschuldigen. Es war auch denkbar, daß er zufällig in die Kabine geraten war, und da er geraucht hatte, war er ja wahrscheinlich auch heimlich hineingegangen. Sonst hätte er sich doch nicht auf diese Art und Weise kompromittieren wollen. Als sie später allein war, dachte sie länger darüber nach, und es fiel ihr ein, daß sie ihn noch nie ohne Zigarre gesehen hatte.

 

Aber wenn Visconti in ihren Räumen gewesen war – warum war er gekommen? Dieses Problem wollte sie später mit Jim besprechen.

 

Nach Tisch erinnerte sie sich daran, daß sie doch wenigstens den Namen der Dame wissen mußte, die nach der Schachtel Konfitüren fragen wollte, und sie ging deshalb zu Mrs. Markhams Kabine.

 

Allem Anschein nach war sie in ihren Räumen, denn sie sah an dem oberen vergitterten Teil der Tür, daß drinnen Licht brannte. Auch konnte sie Stimmen hören. Sie klopfte an und drückte im gleichen Augenblick die Klinke nieder. Eben hatte sie Stella Markham noch beim Abendessen gesehen, diese konnte sich also noch nicht ausgekleidet haben. Zu ihrer größten Überraschung fand Margot aber die Tür verschlossen.

 

»Wer ist da?« fragte Mrs. Markham, aber ihre Stimme klang so merkwürdig und fremd, daß sie kaum zu erkennen war.

 

»Ich bin es, Margot Cameron. Ich möchte Sie etwas fragen.«

 

»Einen Augenblick.«

 

Das Licht wurde plötzlich ausgedreht, und die Tür öffnete sich nur einen kleinen Spalt. Selbst bei dieser schwachen Beleuchtung konnte Margot sehen, daß die andere rotgeweinte Augen hatte.

 

»Was wünschen Sie?« fragte Stella ruhig.

 

»Ich möchte den Namen der Dame wissen, die nach dem Konfekt fragen wird.«

 

»Ich sage es Ihnen später. Wollen Sie mich jetzt entschuldigen?«

 

Sie machte die Tür wieder zu, und Margot hörte aufs neue leise Stimmen im Innern. Die andere Person war allem Anschein nach auch eine Frau; die Stewardeß konnte es unmöglich sein, denn Margot traf sie kurz darauf in einem entfernten Teil des Ganges. Wer mochte bloß die Besucherin gewesen sein? Im allgemeinen war Margot nicht neugierig, aber sie hielt es jetzt für ihre Pflicht, alle möglichen Informationen zu sammeln, um Jim Bartholomew zu helfen.

 

Sie ging nicht zum Promenadendeck zurück, sondern trat in den großen Gesellschaftssaal. Von ihrem Platz aus konnte sie die Kabinentür von Mrs. Markham übersehen, und nachdem sie eine halbe Stunde gewartet hatte, wurde ihre Geduld belohnt, denn die andere Dame kam heraus.

 

Diese ging jedoch nicht zu dem Gesellschaftssaal, sondern bog vorher in einen Seitengang ein, der, wie Margot wußte, zu einer kleinen Treppe nach dem unteren Deck führte. Sofort war ihr Entschluß gefaßt. So schnell sie konnte, eilte sie zum C-Deck hinunter. Sie vermutete allerdings nur, wer die Besucherin sein konnte, aber als sie unten ankam, konnte sie gerade noch sehen, wie die Dame in der Kabine von Mrs. Dupreid verschwand.

 

Es mußte also die Freundin Ceciles sein. Margots Gedanken wirbelten durcheinander, und sie gab es auf, weiter darüber nachzudenken. Sie wollte aber Jim alles mitteilen, der würde vielleicht die Zusammenhänge durchschauen. Sie verließ sich auf ihn und glaubte, daß er bereits verschiedenes aufgeklärt haben mußte.

 

Die ganze Gesellschaft aber brachte sie mehr und mehr in Verwirrung. Warum besuchte Mrs. Dupreid Stella Markham, und warum hatte diese geweint? Es war alles so rätselhaft.

 

Schließlich suchte sie die Bibliothek auf und nahm ein Buch von Walter Scott vor. Diese weitentlegenen Geschichten aus dem frühen Mittelalter beruhigten sie.

 

Um elf Uhr wurde das Licht in der Bibliothek teilweise ausgeschaltet, um die Passagiere zum Verlassen des Raumes aufzufordern. Margot wartete noch eine ganze Stunde. Aber vielleicht hatte Jim eher Zeit, so daß sie ihn schon jetzt auf dem Promenadendeck treffen konnte. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie ihm dies nicht schon früher vorgeschlagen hatte, holte ihren Mantel aus der Kabine und ging nach oben.

 

An diesem Abend lag das Deck vollkommen verlassen, weil unten im Salon getanzt wurde. Alle jungen Leute waren natürlich nach unten gegangen. Vorsichtig stieg sie die Treppe zum Bootsdeck hinauf. Aber oben fühlte sie sich zu einsam, um dort eine ganze Stunde lang auf Jim zu warten. Als sie gerade aufs Promenadendeck hinuntersteigen wollte, sah sie ihn jedoch.

 

Sie blieb stehen. Der Abend war sehr dunkel, aber sie erkannte deutlich die Umrißlinien seiner Gestalt. Er stand an der Reling am Ende eines langen Bootes, und Margot wäre beinahe bewußtlos umgesunken, denn es lag eine Frau in seinen Armen.

 

Wie versteinert starrte Margot auf das Bild, und doch irrte sie sich nicht. Es war Jim Bartholomew. Die Umrißlinien seines Kopfes und seiner Schultern kannte sie zu genau.

 

Es war Jim, und er flüsterte seiner Begleiterin zärtliche Worte zu. Sie stand nahe genug, um den Tonfall seiner Stimme zu hören. Sanft und eindringlich sprach er auf sie ein. Margot hörte auch, daß die Frau schluchzte. Sie faßte sich mit den Händen an den Kopf. War sie wahnsinnig oder träumte sie? Gab es denn überall auf dem Schiff nur weinende Frauen? Sie holte tief Atem. Sollte das etwa auch Mrs. Markham sein?

 

Sie mußte irgendein Geräusch gemacht haben, denn plötzlich fuhren die beiden auseinander, und die Frau verschwand in der Dunkelheit.

 

»Jim!« sagte Margot heiser.

 

»Ja, Liebling? Ich habe dich noch nicht erwartet.«

 

»Das kann ich mir wohl denken«, entgegnete sie mit einer unheimlichen Ruhe. »Wer war diese Frau?«

 

Er schwieg.

 

»Wer war die Frau?«

 

»Das kann ich dir nicht sagen, mein Liebling.«

 

»Nenne mich nicht ›mein Liebling‹«, erwiderte sie in plötzlich aufwallendem Zorn. »Jim, wer war die Frau? Willst du es mir jetzt sagen?«

 

»Das kann ich nicht«, entgegnete er traurig.

 

»Dann werde ich es selbst herausbringen.«

 

Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte das Deck entlang. Gleich darauf stand sie wieder am Eingang des Gesellschaftssaals. Sie war außer Atem, aber fest entschlossen, diese Sache aufzuklären.

 

Die erste Dame, die ihr begegnete, war Mrs. Markham, die sich mit dem Major Visconti unterhielt. Sie bewegte einen großen Straußenfächer und beobachtete die tanzenden Paare durch die geöffnete Tür. Margot eilte den Gang entlang.

 

Da war sie!

 

Sie hatte noch gerade gesehen, wie Mrs. Dupreid in ihrer Kabine verschwand. Gleich darauf klopfte Margot an die Tür.

 

»Wer ist da?« fragte eine dumpfe Stimme.

 

»Margot Cameron.«

 

»Es tut mir leid, ich kann Sie heute abend nicht empfangen. Ich fühle mich nicht wohl.«

 

»Ich werde Sie aber doch sprechen, Mrs. Dupreid«, entgegnete sie fest entschlossen. »Ich bin Margot Cameron, und Cecile ist meine Schwägerin.«

 

»Ich sage Ihnen, Sie können jetzt nicht hereinkommen«, erklärte die Frau aufs neue.

 

Aber Margot drückte die Tür auf, trat hinein und schlug sie heftig hinter sich zu.

 

Aber dann blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

 

»Cecile … wie kommst denn du …?« Es war Cecile Cameron, die ihr mit tränenüberströmtem Gesicht, aber doch trotzig entgegentrat.