Kapitel 8

 

8

 

Ein großes Regiment hat große Traditionen, und eine dieser alten Traditionen der Berwick-Garde bezog sich auf die Auswahl der Offiziersfrauen. Kein Offizier durfte zum Beispiel eine Schauspielerin heiraten, so liebenswürdig, schön und berühmt sie auch sein mochte, wenn er im aktiven Dienst bleiben wollte.

 

Bobby Longfellow war von John Ruislep, seinem Obersten, und dessen Gattin zum Dinner eingeladen worden. Er kehrte in etwas deprimierter Stimmung zu seiner Wohnung zurück. Denn obgleich der großzügige Kommandeur der Berwick-Garde bei der Auswahl der Offiziersfrauen eine tolerantere Auffassung vertrat, huldigte seine strenge Gattin den alten Traditionen.

 

Trotz seiner Jugend hatte Bobby in weltlichen Dingen seine eigenen Ansichten. Die hohe Kommandeuse hatte eine Andeutung darüber fallen lassen, daß die jüngeren Offiziere des Regiments immer häufiger außerhalb ihrer Gesellschaftsklasse heirateten. Da sich diese Bemerkung anscheinend auf einen ganz bestimmten Offizier bezog, fühlte sich Bobby Longfellow nicht sehr wohl.

 

»Man muß auf gute Familie halten, das ist die erste Bedingung für eine glückliche Ehe«, sagte die Obristin und spielte dabei mit dem großen Smaragdring, den sie am kleinen Finger trug. »Wenn eine junge Dame nicht von gutem altem Adel stammt, ist die Heirat von vornherein ein Fehler.«

 

Die etwas hagere, aber sehr schöne Frau mit den schmalen Lippen war nie so bestimmt, als wenn sie an dem prachtvollen Smaragd drehte, für den ihr Finger fast zu klein war.

 

Bobby ging einfach in Dicks Zimmer, stutzte aber, trat schnell zurück und klopfte. Dicks fröhliche Stimme bat ihn, einzutreten.

 

»Du siehst aus wie Salomo in all seiner Herrlichkeit«, sagte Dick und sah seinen Kameraden in der Galauniform bewundernd an. »Du warst wohl eingeladen, Bobby?«

 

Dick selbst hatte seinen roten Uniformrock ausgezogen und es sich in Pyjama und seidenem Hausrock bequem gemacht. Er saß über seinen Kompanie-Abrechnungen. Bobby wählte erst mit Umständlichkeit eine Zigarette, bevor er antwortete.

 

»Ich war heute zur Abfütterung beim Alten«, sagte er, »und bei der Alten«, fügte er hinzu. »Weißt du, sie ist wirklich eine schreckliche Kanone. Sie erzählt immer, daß alle Dinge schlechter geworden sind, seitdem sie ein Mädchen war, und ich habe den Eindruck, daß ich auch zu diesen Dingen gehöre.«

 

Dick mußte lachen. »Armer Bobby!« sagte er mitleidig. »Ich habe meine offizielle Einladung schon einen Monat hinter mir.«

 

»Der Oberst ist nicht so schlimm.« Bobby ließ sich in einen tiefen Sessel sinken und suchte nach einem zweiten Ruheplatz für seine langen Beine. »Und – weißt du, daß er mit Diana befreundet ist?«

 

Dick lächelte.

 

»Diana hat viele Freunde – ich glaube mich zu besinnen, daß sie früher gut miteinander bekannt waren. Hat er sie gestrichen?«

 

»Er hat mir nichts erzählt, bevor sich die Gnädigste zurückzog«, sagte Bobby leichthin. »Aber er sprach mit mir, als wir allein waren –«

 

»Seine Führung ist die beste im ganzen Regiment«, widersprach Dick.

 

»Das ist möglich«, erwiderte Bobby. »Ich kann schweren Rotwein nicht leiden, ich kann nachher nicht so gut denken.«

 

»Hat der Oberst denn etwas über Diana gesagt?«

 

»Er äußerte nur, daß sie ein sehr liebenswürdiges und schönes Mädchen sei«, gab Bobby zu. »Er bedauerte sehr, daß seine Frau sie von ihrer Besuchs- und Einladungsliste gestrichen hat. ›Wir alle waren sehr entzückt von ihr‹ – du kennst doch die Art, wie er redet, wenn er gemütlich oder gefühlvoll wird.«

 

Eine lange Pause entstand. Dick wandte sich wieder seinen Abrechnungen zu und versuchte, sich auf die lange Zahlenreihe zu konzentrieren. »Sie erwähnte auch Miss Joyner«, warf Bobby plötzlich hin.

 

Dick drehte sich sofort um.

 

»Wer? Lady Cynthia?«

 

Bobby nickte nur.

 

»Was hatte sie denn über Hope zu sagen?«

 

»Nicht viel.« Der junge Mann fühlte sich ungemütlich. Aber diese Stimmung teilte sich Dick nicht mit, da er selbst wohl wußte, daß Lady Cynthia Ruislip wenig Gutes über andere Frauen zu erzählen wußte.

 

»Sie wollte gern wissen, wer Miss Joyner sei«, erzählte Bobby, »und es war nicht gut, daß der Alte in die Bresche sprang und erklärte, daß sie eines der schönsten Mädchen sei, die er jemals gesehen habe. Auch ließ er eine Andeutung fallen, daß er ihre Familie kenne.«

 

Dick lachte leise.

 

»Nun bin ich aber gespannt, was Lady Cynthia darauf erwiderte.«

 

»Du kennst doch ihre Art. Was sie nicht sagte und nur ahnen ließ, machte mich furchtbar ärgerlich. Wie sie die Augenbrauen hoch und die Mundwinkel nach unten zog! Ich hätte laut losbrüllen mögen. Natürlich hatte sie den Alten bald schachmatt gesetzt. Sie stellte gleich fest, daß er nichts von Hope Joyner und ihrer Familie wußte, und war wirklich sehr aufgebracht über ihn.«

 

Dick wandte sich langsam wieder seiner Abrechnung zu, aber obgleich er die Feder in der Hand hielt, schrieb er nicht.

 

»Ich vermute –«, begann Bobby und hielt wieder inne.

 

»Was vermutest du?« Dick sah sich nicht um.

 

»Ich vermute, daß schon alles in Ordnung ist … Ich meine –«

 

»Du meinst zwischen mir und Hope Joyner? Es ist noch nichts zwischen uns, aber ich hoffe zuversichtlich, daß ich ihr gut genug bin. Warum fragst du denn? Ein Mann mit soviel Verstand wie du könnte das doch längst wissen!«

 

Bobby stand langsam auf und reckte seine langen Glieder.

 

»Ich weiß nicht«, sagte er vorsichtig, »aber ich habe den Eindruck, daß die alte Cynthia auf deiner Dame herumhackt. Warum sie das tut, weiß ich nicht im mindesten. Wahrscheinlich zieht sie alle herunter, die ihre Vorfahren nicht bis zu den blutigen Plantagenets zurückführen können. Nebenbei bemerkt, erzählte mir der Oberst privatim, daß er von dem Fürsten zum Essen geladen ist.«

 

»Kishlastan?« fragte Dick erstaunt. »Ich wußte nicht, daß er mit ihm befreundet ist.«

 

»Der Oberst hat seine Bekanntschaft anscheinend in Indien gemacht«, erklärte Bobby. »Auf alle Fälle nimmt er morgen abend an dem großen Diner des Fürsten teil. Er erwähnte auch, daß Diana Martyn dort sein würde – aber er hütete sich wohl, dies in Gegenwart seiner Frau zu erzählen.«

 

»Er ist ein ganz verrückter Teufel – natürlich meine ich Kishlastan.« Dick Hallowell runzelte die Stirn. »Im Auswärtigen Amt sagen sie, daß er verrückt ist. Der Unterstaatssekretär war sehr darauf aus, daß ich ihn ein wenig beobachte.«

 

Bobby lächelte. Daß auch noch ein anderer gebeten wurde, Erkundigungen einzuziehen, wenn man doch ihn fragen konnte, amüsierte ihn sehr.

 

Leutnant Bobby Longfellow von der Berwick-Garde war trotz seiner etwas nichtssagenden Erscheinung ein sehr kluger Kopf; nur wurde seine Schlauheit manchmal von Illusionen beeinträchtigt, die zuweilen grotesken Charakter hatten.

 

Es war Bobbys Ehrgeiz, in das militärische Nachrichtendepartment des Kriegsministeriums einzutreten. Alle seine freie Zeit widmete er diesem interessanten Studium. Er war außerordentlich stolz auf seine Begabung zum Detektiv und hatte darin eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Sohn der Mrs. Ollorby.

 

Nach seiner Unterredung mit Dick ging er in seine eigene Wohnung. Er setzte sich nieder und dachte lange Zeit über die ungünstige Meinung nach, die Lady Cynthia von Hope Joyner hatte. Die Arme würde wohl keine Aussicht haben, in die vornehme Gesellschaft der Berwick-Garde aufgenommen zu werden. Er kannte das Mädchen gut genug, um zu wissen, daß sie nichts verheimlichte, was sie selbst anging, und daß ihr das Rätsel, das über ihrer Abstammung und Verwandtschaft lag, genauso unlöslich war wie allen anderen. Dieses Rätsel zu lösen, lohnte die Mühe für einen angehenden Nachrichtenoffizier. Es wäre ja immerhin möglich, daß er selbst ohne Hilfe, durch bloße Schlußfolgerungen und einen glücklichen Zufall, in dem großen Wald menschlicher Stammbäume gerade den einen von Hope Joyner erwischte. Denn die Tatsache war ja über jeden Zweifel erhaben, daß selbst der einfachste Straßenkehrer auf irgendeine Weise seinen Stammbaum auf Adam oder irgendwelche niedere Tiere zurückführen konnte, die die Evolutionslehre zu dessen Vorfahren machte. Er hatte jetzt eine neue Privatbeschäftigung, von der sein Freund nichts wußte. Er hatte schon ausgedehnte Streifzüge unternommen und alle Spezialisten der Genealogie ausgefragt – denn er war ein wohlhabender junger Mann – und hatte sie gebeten, ihre Nachforschungen auf den 10. Juni eines bis jetzt nicht festliegenden Jahres einzustellen. Denn Hope Joyner erhielt an jedem 10. Juni von einem Unbekannten Blumen.

 

Kapitel 9

 

9

 

Das Landhaus bei Cobham rechtfertigte nach Grahams Meinung den außerordentlich hohen Preis, den der Agent dafür verlangte. Das mußte er zugeben, als er von seiner neuen Wohnung Besitz nahm. Es war ein kleines, hübsches Haus im Tudorstil, das in einem etwa zwei Morgen großen Garten stand. Es lag ganz abseits, im Umkreis von einer halben Meile war weit und breit kein Haus zu sehen. Die Seitenstraße, die daran vorbeiführte, war etwa vierhundert Meter von der Portsmouth Road entfernt, und man konnte London leichter erreichen, als er zuerst dachte. Es war ein idealer Landsitz mit einem wunderschönen Park, voll von blühenden, bunten Blumen. Massige Fichtengruppen bildeten den Hintergrund und beschatteten einen Badeteich.

 

Diana begleitete ihn nach Cobham.

 

»Wenn du dir einbildest, daß ich mich auf dem Lande verstecke und meine Ansichten noch mehr verkümmern lasse, dann bist du und Trayne aber sehr im Irrtum! Ich kann ja zu Tisch manchmal zu dir kommen und vielleicht auch noch zum Abendbrot bleiben. Aber das ist alles!«

 

»Denkst du auch noch daran, daß wir verheiratet sind?« fragte Graham ironisch.

 

»Ich vergesse das soviel wie möglich, aber manchmal ist es schwer«, sagte Diana ruhig. »Du scheinst ebensowenig daran zu denken, daß ich viele Pflichten in der Stadt habe.«

 

Graham hatte eine gewisse Scheu, ja selbst Furcht vor dieser Frau, an die er sich gebunden hatte. Beide sahen ihre Heirat jetzt als einen Wahnsinn an. Diese Ehe wurde nicht durch Liebe zusammengehalten. Die beiden Gatten hatten kaum Achtung voreinander. Leichtsinnig waren sie an einem kalten Dezembermorgen zum Standesamt gegangen, und beide bereuten die voreilige Tat schon seit langem.

 

So ging Graham allein aufs Land und war gespannt, welche Maßnahmen für sein persönliches Wohlbefinden getroffen waren. Das Haus wurde von einem Gärtner betreut, einem harten und wenig mitteilsamen Menschen, der ein besonderes Häuschen in einer Ecke des Parkes bewohnte. Seine Frau war zu gleicher Zeit Köchin und Aufwärterin. Ihre sechzehnjährige Tochter half ihr. Das Mädchen hatte ein unglückliches Aussehen und schien etwas geistesgestört zu sein.

 

Der schweigsame Gärtner führte ihn in dem hübschen kleinen Haus herum. Die meisten Zimmer waren abgeschlossen, wie Graham feststellte. Es blieben ihm ein paar Schlafzimmer, die Wohn- und Eßräume und eine sogenannte Bibliothek, obwohl sie keine Bücher zu seinem eigenen Gebrauch enthielt. Der mürrische Gärtner benahm sich trotz seiner Wortkargheit respektvoll. Seine Frau sah gewöhnlich und unansehnlich aus. Aber sie erwies sich als ausgezeichnete Köchin, und Graham gab sich angenehmer Erwartungen hin. Der Rosengarten sah für einen Blumenliebhaber vielversprechend aus. Das Gelände dehnte sich weit bis zu einer Wildnis von Föhren und Büschen. Hinter den dichten Bäumen kam ein seltsames Gebäude zum Vorschein.

 

Es war ein viereckiger Steinturm, der sich bis zu einer Höhe von ungefähr zehn Metern erhob. Er hatte keine Fenster und wurde offenbar durch elektrisches Licht erhellt, denn er sah Drähte an der Mauer. An der einen Stelle befand sich eine Tür, die so klein war, daß er sich hätte bücken müssen, um einzutreten.

 

Wahrscheinlich irgendein Lagerhaus, dachte er und umschritt das Gebäude. Es waren keine anderen Türen zu sehen, und er kam zu der Vorderfront zurück, wo er den Gärtner fand, der ihn genau beobachtete.

 

»Was ist das?« fragte Graham.

 

Der Mann schaute auf den Turm, bevor er antwortete.

 

»Ein alter Kornspeicher«, sagte er. »Er wird heutzutage nicht mehr benützt.«

 

»Aber es gehen doch Lichtdrähte hinein«, sagte der andere.

 

»Licht muß sein. Es ist billiger, als wenn man Fenster durch die Mauer bricht.«

 

Es wurde weiter nichts darüber gesagt, und sie gingen zusammen ins Haus zurück. Graham vergaß den Steinturm. Später erst sollte er erfahren, welche Rolle er in dem Plan spielte.

 

»Hier ist der Schlüssel zu dem Pult«, sagte der Gärtner, als sie in die Bibliothek kamen. »Ich werde Ihnen eine Tasse Tee bringen.«

 

Er ging hinaus und schloß die Tür hinter sich. Graham schaute auf den kleinen Schlüssel in der Hand und wunderte sich über diese formelle Überlassung, denn man hatte ihm sonst keine Schlüssel gegeben. Dann kam ihm ein Gedanke. Er ging zu dem kleinen Eichenbüfett und sah, daß bis auf eine sämtliche Schubladen unverschlossen waren. Er steckte den Schlüssel hinein, zog das Fach auf und entdeckte einen großen, viereckigen Umschlag, der an ihn adressiert war. Außerdem lagen ein dickes Bündel starke, große Umschläge und drei Schlüssel darin. Der versiegelte Umschlag enthielt einen kleineren, in dem sich fünfundzwanzig Pfundnoten und ein mit Maschine geschriebenes Blatt Papier ohne Unterschrift und ohne Anrede befanden.

 

Die Kronengarage im Ort wird Ihnen einen Wagen vermieten, der Ihnen nützlich sein wird. Mawsey wird ihn für Sie einstellen. Morgen werden Sie am besten zu den »Drei Lustigen Matrosen« gehen, um dort mit Eli Boß bekannt zu werden, der Sie erwartet. Fahren Sie mit dem Wagen bis nach Greenwich, lassen Sie ihn dort stehen und nehmen Sie einen Autobus durch den Blackwall-Tunnel bis nach Poplar. Den Rest des Weges machen Sie zu Fuß. Besprechen Sie nichts mit Eli, Sie sollen nur mit ihm in Fühlung kommen. Sie werden die Frucht nach Indien begleiten. Er wird Sie als Passagier mitnehmen und für Ihre Bequemlichkeit sorgen. Er hat Anweisung, es Ihnen an Bord angenehm zu machen, und Sie müssen ihm Ihre Wünsche mitteilen. Es ist notwendig, daß Sie eine Kabine haben, die von innen und außen verschlossen werden kann. Kaufen Sie das beste Schloß, das man für Geld haben kann, und geben Sie es ihm, aber nicht den Schlüssel. Ich habe veranlaßt, daß ein kleiner Geldschrank in Ihre Kabine eingebaut wird. E. B. denkt, Sie wollen Kokain schmuggeln. Er weiß nichts von der Frucht. Sobald Sie Einzelheiten der geplanten Operation kennen, schreiben Sie Ihre Bemerkungen dazu auf und legen dieselben in das Pult, wo Sie diesen Brief gefunden haben, der in Gegenwart Mawseys verbrannt werden muß.

 

Das war alles, und als Mawsey (dies schien der Name des Gärtners zu sein) die Tasse Tee hereinbrachte, hielt Graham den Brief über den Kamin, nahm ein Streichholz und zündete ihn an. Es wurde kein Wort gesprochen. Er vermutete, daß jeder Versuch, ein Gespräch zu beginnen, nutzlos wäre. Als Mawsey seinen Fuß auf die Asche setzte und sie zertrat, bildete sich Graham ein, daß dieser Mann von dem Inhalt des Briefes genausoviel wußte wie er.

 

»Wo liegt die Kneipe ›Drei Lustige Matrosen‹?« fragte er. Mawsey blickte auf und reinigte seine Füße sorgfältig mit einem kleinen Besen am Feuerrost.

 

»Ich kenne die Schenken hier in der Gegend nicht«, sagte er. Er hatte eine zögernde Art zu sprechen, als ob seine Worte kostbar wären und er sie nur widerwillig von sich gäbe.

 

»Als ich noch ein Junge war, kannte ich ein Haus, das ›Drei Lustige Matrosen‹ genannt wurde. Es lag in der Victoria Dock Road.«

 

Danach ging er aus dem Zimmer. Graham sah ihn planlos im Garten arbeiten. Was für eine Rolle Mawsey auch spielen mochte, er hatte jedenfalls eine große Liebe zu Blumen. Als der neue Besitzer des Landhauses zu ihm hinausging, war der Mann beinahe menschlich in seiner Begeisterung für eine seltene Asternart, die er mit Erfolg gezüchtet hatte.

 

Mrs. Mawsey servierte das Abendessen, und man ließ ihn allein bis zehn Uhr. Nach einem Klopfen trat der Gärtner in das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Er langte in seine innere Rocktasche und zog wieder einen versiegelten Umschlag hervor. Er war an G. Hallowell adressiert. Als er den dicken Umschlag öffnete, fand er das Heft darin, das er in Tiger Traynes Händen gesehen hatte.

 

Zwischen dem Deckel und der ersten Seite lag ein Blatt Papier.

 

Bevor Sie dieses Buch Mawsey zurückgeben, muß es in einen der Umschläge gesteckt und versiegelt werden, die Sie in dem dritten Fach des Pultes finden. Das müssen Sie in jeder Nacht in gleicher Weise wiederholen. Verbrennen Sie diese Instruktion.

 

Wieder führte Graham Hallowell die Anweisung unter den Augen des Gärtners aus.

 

»Es ist gut, Mawsey«, sagte er, als er begann, in dem Buch zu blättern. »Ich werde Sie rufen, wenn ich fertig bin.« Der Gärtner schüttelte den Kopf.

 

»Es tut mir sehr leid, Sir«, sagte er barsch, »aber ich muß hierbleiben, solange Sie lesen. Er sagt, Sie dürfen sich keine Notizen oder eine Kopie machen.«

 

»Wer ist ›er‹?« fragte Graham, neugierig zu erfahren, ob dieser Diener die Identität seines Herrn mit Tiger Trayne eingestehen würde.

 

»Ich weiß seinen Namen nicht«, war die kurze Antwort.

 

Von zehn bis eins richtete Graham seine Gedanken auf das Manuskript. Er las es zuerst ganz durch, um einen Überblick zu bekommen. Nicht einmal, sondern oft hielt er an und war überwältigt von der Kühnheit dieses Planes. Als er zu Ende war, begann er von vorn und las nun langsam Seite für Seite, indem er sich alle Besonderheiten einprägte. Um ein Uhr, als ihm die Buchstaben vor den Augen tanzten, schloß er das Heft, suchte nach einem Umschlag und versiegelte es darin. Mawsey hatte während der drei Stunden steif dagesessen, die Hände auf den Knien, anscheinend gar nicht ermüdet. Einmal hatte Graham die Lektüre unterbrochen und den Mann gefragt, ob er nicht rauchen wolle.

 

»Ich rauche nicht und trinke nicht«, sagte er ablehnend. Dann hatte Hallowell die Gegenwart des Mannes oder die Möglichkeit, daß er sich unbehaglich fühlen könnte, vergessen.

 

Der Gärtner nahm das versiegelte Paket, steckte es wieder sorgfältig in seine innere Tasche und wandte sich mit einem kurzen gute Nacht, um zu gehen.

 

»Ich werde morgen abend nicht hier sein«, sagte Graham.

 

»Ich weiß es.«

 

Graham blickte ihn neugierig an.

 

»Unser Freund vertraut Ihnen sehr«, sagte er.

 

»Er vertraut Ihnen, Sir. Daß er mir vertrauen kann, weiß er bereits«, war die geheimnisvolle Antwort.

 

Am nächsten Morgen ging Hallowell in das Dorf, um Bücher und Zeitungen zu kaufen, denn die Zeit wurde ihm lang.

 

Er fand die Kronengarage und mietete einen kleinen Wagen. Am Abend fuhr er gemächlich zur Stadt, erreichte Greenwich bald nach Sonnenuntergang und ging dann zu Fuß zu den »Drei Lustigen Matrosen«.

 

Es lag etwas Sonderbares über diesem Platz. An der Ecke stand ein schmutziges Gasthaus, aus dem Gas- und Küchendünste drangen. Es war ein traditioneller Treffpunkt für die Seeleute, und manch eine Mannschaft war auf dem sandigen Boden der Schenke geheuert worden. Aber es war auch manches unsaubere Projekt in jenem Teil des Hauses erörtert worden, der sich so großartig »Salon« nannte.

 

Als Graham Hallowell die Tür öffnete und in dieses Heiligtum trat, konnte er nur zwei Menschen entdecken. Ein Strolch saß in einer Ecke in einem alten Windsorstuhl. Seine Hände waren über dem Bauch gefaltet, den Hut hatte er über die Augen gezogen. Er nickte und schwankte schläfrig hin und her. Vorm Schenktisch lehnte ein Riese, der eine rauhe Seejacke über einem blauen Wollrock trug. Eine schmierige Kappe saß hinten auf seinem grauhaarigen Kopf. Sein Schnurrbart war graumeliert, und dicke Büschel von eisengrauem Haar über Kehle und Kinn gaben dem sonst unsymmetrischen Gesicht eine gewisse Regelmäßigkeit. Rot, aufgedunsen; mit gebrochener Nase, die kleinen Augen blutunterlaufen, bot er einen wenig einnehmenden Anblick. Graham Hallowell, der während seines Aufenthaltes in Dartmoor mit unglaublicher geistiger und körperlicher Häßlichkeit in Berührung gekommen war, konnte sich nicht erinnern, jemals solch ein ungestaltes menschliches Wesen gesehen zu haben.

 

Der große Mann streifte Graham mit einem schnellen Blick, als er in die Schenke trat. Dann nahm er keine Notiz mehr von ihm, bis Graham fragte: »Wollen Sie etwas trinken?«

 

Die blutunterlaufenen Augen betrachteten ihn prüfend, dann sagte er kurz: »Gin.«

 

Kapitän Eli Boß war nicht sehr gesprächig. Graham, der wenigstens etwas mit ihm bekannt werden wollte, begann vom Wetter zu sprechen, was den Kapitän anscheinend nicht interessierte. Er trank seinen Gin aus, reckte sich …

 

»Ich gehe nach Hause«, sagte er, »vielleicht begleiten Sie mich ein Stück, Sir?«

 

Er hatte eine rauhe, tiefe Stimme, die aus einer unterirdischen Höhle zu kommen schien, und er sah den anderen kaum an, ob er seine Einladung auch annehme. Graham nickte aber und folgte dem Mann. Sie gingen lange Zeit schweigend in der Richtung nach Silvertown. Erst als sie eine leblose, stille Straße erreicht hatten, begann der Kapitän zu sprechen.

 

»Der Alte sagt, daß Sie ein Schloß an Ihrer Kabine haben wollen – es kostet eine Menge Geld, aber Sie können es haben, auch einen Geldschrank. Lassen Sie beides zu Tigley in der Little Perch Street schicken, er besorgt meine Geschäfte. Ich will es Ihnen so bequem wie möglich machen, aber die ›Pretty Anne‹ ist kein Luxusdampfer, und vergessen Sie nicht – einfaches Essen und recht viel davon – das ist mein Motto. Spielen Sie ›Meine Tante – Deine Tante‹?«

 

Graham spielte es nicht, und der Kapitän drückte sein Mißfallen über diesen Mangel an Bildung aus.

 

»Bringen Sie sich ein paar Bücher mit«, sagte er. »Ich und meine Jungen lesen nicht viel.«

 

»Wann fahren Sie ab?« fragte Graham.

 

Eli Boß warf ihm einen Seitenblick zu.

 

»Wann wollen Sie, das ist die Frage?« brummte er. »So um den Sechsundzwanzigsten?«

 

Hallowell dachte nach und erkannte mit Schrecken, daß der Sechsundzwanzigste schon sehr nahe war.

 

»Ich glaube«, sagte er.

 

»Sie hüpft ein wenig auf dem Wasser«, der Kapitän sprach anscheinend von der ›Pretty Anne‹, »aber ich habe sie in jedem Wetter erprobt… Viel Essen, aber einfach. Es ist nichts Besonderes an der ›Pretty Anne‹, und hören Sie – Sie bringen besser selbst Ihren Likör mit. Gin ist alles, was ich brauche, und ein Glas Rum für eine kalte Nachtwache. Ich habe Joes Kabine gesäubert – Joe ist mein Ingenieur –, sie liegt mittschiffs hinter der Brücke. Es ist die beste Stelle auf dem Schiff, aber heiß wie die Hölle in den Tropen.«

 

»Ich könnte einen elektrischen Ventilator mitbringen«, schlug Hallowell vor. Der Mann lachte laut auf.

 

»Nichts Elektrisches!« keuchte er belustigt. »Warum denn? Es gibt keine Elektrizität auf dem Schiff – machen Sie sich keine falschen Vorstellungen! Petroleum ist gut genug für mich. Ich hatte eine Dynamomaschine, aber sie wollte nicht arbeiten – Dynamo bedeutet Dampf, und Dampf ist Kohle, und Kohle kostet Geld.«

 

Er hatte eine sprunghafte Art zu reden und ohne Übergang auf etwas zurückzukommen, das er vorher gesagt hatte.

 

»Joe kann bei mir schlafen, und Fred kann auf einer Matratze liegen«, meinte er. »Sie hätten ja gern eigene Kabinen, die Jungen, aber man kann nicht immer alles haben.«

 

»Setze ich sie denn beide hinaus?«

 

»Sie werfen nur Joe ‚raus«, sagte der Kapitän. »Freds Kabine brauche ich für –« Er hörte das Knacken seiner Kinnladen, die sich schlossen. Es schien, als wäre er sich einer Indiskretion bewußt geworden und wollte nun die Mitteilung, die ihm fast entschlüpft war, auch durch körperliche Bewegung zurückhalten.

 

»Warum bringen Sie Koks nach Indien?« fragte Eli. »Bremen ist der Platz dafür – Sie können es faßweise erhalten. Ich habe einmal eine Ladung im Wert von einer Million Dollar nach Buenos Aires geschafft – es ging ganz leicht.«

 

Am Ende der Straße stand er still, steckte seine Hände tief in die Taschen und blickte auf seinen Begleiter herab.

 

»Ich will jetzt gehen«, sagte er. »Vergessen Sie nicht Tigley in der Little Perch Street. Fred wird das Schloß für Sie anbringen.« Er machte eine Pause, als wollte er noch etwas sagen, dann ging er mit einem »Bis dahin!« seines Weges. Graham kannte sich in Canning Town nicht sehr gut aus, und um sicher zu sein, ging er den Weg zurück, den sie gekommen waren.

 

Am Ende einer langen und dunklen Straße bog er in die Victoria Dock Road ein und kam zu diesem verhältnismäßig belebten Platz, als gerade die Leute aus einem Kino herausströmten. Langsam bahnte er sich seinen Weg durch die Menge, kreuzte die Eisenbahnbrücke und hielt Ausschau nach dem Autobus, der ihn wieder durch den Blackwall-Tunnel bringen sollte.

 

Hier mußte eine Omnibus-Haltestelle sein. Er merkte, daß er schon vorbei war, und ging langsam zurück. Beinahe hatte er die Menschen erreicht, die dort warteten, als er einer dicken Dame ins Gesicht sah. Sie wandte sich schnell um, aber doch nicht schnell genug. Im Licht einer Straßenlaterne erkannte er die große, mächtige Nase und das unverkennbare Kinn. Seine Pulse schlugen schneller. Es war Mrs. Ollorby!

 

Kapitel 7

 

7

 

Hope Joyner bekam wenig Post. Sie erhielt die unvermeidlichen Zirkulare und Geschäftsanzeigen, aber ihre Privatkorrespondenz war klein.

 

Als ihr an diesem Morgen das Mädchen mit dem Tee die Briefe brachte, sah sie einen bekannten blauen Umschlag. Etwas unbehaglich zog sie ihn aus der anderen Post hervor. Ihr Rechtsanwalt schrieb selten, aber wenn er schrieb, hatte er gewöhnlich etwas Unangenehmes zu sagen. Auch diese Mitteilung machte keine Ausnahme.

 

»Liebe Miss Joyner, wir haben eben durch Zufall erfahren, daß Sie mit einem Mr. Hallowell bekannt sind. Wir wissen, daß dieser Bekannte Ihr Vertrauen nicht rechtfertigen wird, und es ist unsere Pflicht, Sie davon zu unterrichten, daß Hallowell, obwohl ein gebildeter Mann, wegen Betruges eine Gefängnisstrafe verbüßt hat. Unter diesen Umständen ist es ratsam, diese Bekanntschaft aufzugeben, die notwendigerweise für Sie unvorteilhaft ist und Ihnen sogar peinlich werden kann.

 

Ihre ergebenen ………«

 

Sie blickte auf den Brief und runzelte die Stirn, denn sie erkannte, was da geschehen war. Der wohlwollende Spion hatte sie beobachtet und hatte Dick Hallowell mit seinem Bruder verwechselt. Sie hätte sich eigentlich ärgern sollen. Aber der Irrtum war so offenkundig, daß sie nur lachen konnte.

 

Armer Dick! Das war das schlimmste, daß man ihn mit seinem unglücklichen Bruder verwechselte. Sie wollte zuerst zurückschreiben und den Irrtum aufklären. Aber ein sonderbares Gefühl hielt sie davon ab. Vielleicht erhielt sie dann noch eine Reihe solcher Schreiben, die dringender wurden. Es war besser, sie zu Dicks Vorteil zu sammeln, als den Schreiber eventuell mit dem Beweis seines Fehlers zu beunruhigen.

 

Das Mädchen hatte das Bad gerichtet, und Hope zog sich aus.

 

»Eine Frau wollte Sie diesen Morgen sprechen, gnädiges Fräulein. Sie gefiel mir nicht, und ich sagte, Sie wären ausgegangen. Sie sah so aus, als ob sie eine Stelle suchte.«

 

Hope schüttelte den Kopf.

 

»Es wäre mir lieber, Sie würden die Leute nicht fortschicken, ehe ich weiß, wer sie sind und was sie wünschen«, sagte sie. Es war nicht das erstemal, daß sie dem Mädchen das einschärfen mußte.

 

»Es tut mir sehr leid, gnädiges Fräulein.« Janet brachte die herkömmliche Entschuldigung vor: »Ich tat es nur, weil ich dachte –«

 

Janet war ein wenig übereifrig, sonst aber ein gutes Mädchen, und seit kurzem hatte Hope den schwachen Verdacht, daß ihre Rechtsanwälte, die stets auf so rätselhafte Weise über all ihre Schritte und ihre Bekannten Bescheid wußten, diesem Mädchen ihr Wissen verdankten.

 

Sie hatte sich eben wieder angekleidet, als Janet mit der Meldung hereinkam, daß der Besuch wiedergekommen sei.

 

»Eine Mrs. Johnson«, sagte sie, als ob sie ihren Fehler wiedergutmachen wollte. »Sie möchte Sie wegen der Gesellschaft zur Unterstützung der orientalischen Frauen sprechen.«

 

Das machte Mrs. Johnson nicht willkommener, denn Hope hatte erkannt, daß dieser Zweig der Philanthropie nicht ihre Stärke war, und hatte einen Abschiedsbrief geschrieben. Sie zögerte.

 

»Ich werde gleich kommen«, sagte sie, und einige Minuten später trat sie in ihren eleganten kleinen Salon. Sie fand eine breitschultrige Frau mit männlichen Gesichtszügen, die nachdenklich auf Piccadilly hinunterschaute. Hopes forschender Blick begegnete einem mitfühlenden, entwaffnenden Lächeln.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie so früh gestört habe«, sagte die Frau. »Ich will mir eine Menge Lügen ersparen und Ihnen sagen, daß ich nicht wegen der indischen Frauen komme und daß mein Name Ollorby ist.«

 

Das sagte Hope gar nichts. Aber ihre nächsten Worte waren aufregender.

 

»Es wäre mir am liebsten, wenn niemand wüßte, daß ich Sie besuchte«, fuhr sie fort. »In Wirklichkeit komme ich vom Polizeipräsidium, Miss Joyner.«

 

Sie nahm mit blitzartiger Geschicklichkeit, die einem Taschenspieler Ehre gemacht hätte, eine Karte heraus, und Hope Joyner las: »Mrs. Emily Ollorby, Zimmer 385, New Scotland Yard.« Sie sah überrascht auf ihren Besuch.

 

»Eine Detektivin?« sagte sie. Mrs. Ollorbys Lächeln wurde breiter.

 

»Ich habe eine Schwäche, mich selbst so zu nennen, Miss Joyner«, sagte sie heiter. »Wir dicken Frauen haben auch unsere romantischen Augenblicke. Aber ich bin eben Mrs. Ollorby, die ihr Leben damit verbringt, daß sie ihre Nase in anderer Leute Dinge steckt. Der Herr hat einige von uns schön und einige von uns nützlich geschaffen – jedesmal wenn ich mich selbst im Spiegel sehe, erkenne ich, wie nützlich ich sein muß! Armer Ollorby, er war ein Held. Dieser Mann hatte seine Fehler, aber er hatte sicherlich Mut. Vielleicht besaß auch er Sinn für Humor, obgleich ich das nie entdeckte, und das einzig Merkwürdige, was er jemals tat, war – daß er mich heiratete!«

 

Mrs. Ollorby hatte eine dröhnende, lebhafte Stimme, und Hope mußte lächeln, als sie so in ihrer sprunghaften Art lospolterte.

 

»Es ist seltsam, wie das Verbrechergemüt arbeitet«, fuhr sie fort. »Ich habe niemals einen schlechten Menschen in ernste Sorgen gebracht, wenn er nicht selbst meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Ich bin mit allen Lebewesen auf dem Gutshof verglichen worden – ausgenommen mit den Küken – und vielleicht der Ente. Aber ich bin nicht empfindlich. Wenn ich das wäre, würde ich längst gestorben sein. Ich kenne Männer im Old Bailey, die sagten, daß sie lieber noch zehn Jahre länger sitzen als mich heiraten wollten – aber ich glaube, das ist Selbstironie.« Sie machte eine Pause, um Atem zu holen. Ihre glänzenden Augen blickten gut gelaunt auf Hope.

 

»Und nun werden Sie neugierig sein, warum ich in Ihre schöne kleine Wohnung eingedrungen bin. Ich kam nicht her, um über mich selbst zu sprechen, Miss Joyner, sondern über Sie. Sie sind Mitglied dieses indischen Vereins, nicht wahr?«

 

Hope schüttelte den Kopf.

 

»Ich war es, aber ich bin ausgetreten.«

 

»Oh!« Mrs. Ollorby, die so viele Dinge wußte, war diese Entwicklung anscheinend noch unbekannt. »So, so«, sagte sie. »Es ist klar, daß Sie keine Lust haben, mir über diesen Schwindel noch etwas zu sagen. Ist Mr. Hallett ein Freund von Ihnen?«

 

Diese unerwartete Frage ließ Hope verstummen.

 

»Ich habe ihn nur einmal getroffen«, antwortete sie. Dann sagte sie lächelnd: »Ist er ein hoffnungsloser Verbrecher?«

 

Mrs. Ollorby schüttelte den Kopf.

 

»Hallett ist nicht hoffnungslos«, sagte sie, »soweit ich das beurteilen kann. Aber er ist blind, und Blinde sind selten Verbrecher. Nein, ich interessiere mich nur ein wenig für ihn, aber ich interessiere mich für viele Leute. Zum Beispiel auch für den Fürsten von Kishlastan: er ist ein hübscher Junge.«

 

»Ich finde ihn unausstehlich«, sagte Hope, und Mrs. Ollorby grinste wieder.

 

»Miss Diana Martyn – ist sie eine Freundin von Ihnen?«

 

»Nein«, sagte Hope kurz.

 

»Hm!« Mrs. Ollorby legte den Finger ans Kinn. »Graham Hallowell – den werden Sie natürlich nicht kennen. Sie sind mit seinem Bruder bekannt, nicht wahr? Ein bildschöner Mensch. Ich sah ihn neulich am Tower. Lassen Sie mich einmal nachdenken…« Sie legte ihre Stirn in tiefe Falten. »Habe ich nicht auch Sie dort mit ihm gesehen?«

 

»Das ist möglich«, sagte Hope ein wenig kühl.

 

»Der Tower macht mich immer schwindlig«, sagte Mrs. Ollorby. »Gefrorene Geschichte! Gehen Sie oft dorthin, Miss Joyner?«

 

Hope bot einen Stuhl an und setzte sich auch, nachdem die Detektivin Platz genommen hatte.

 

»Nun, tun Sie bitte nicht so geheimnisvoll. Was wollen Sie mich eigentlich fragen? Wenn ich es Ihnen sagen kann, werde ich es natürlich tun. Rätselhafte Leute sind mir etwas Qualvolles.« »Mir auch«, sagte Mrs. Ollorby absolut nicht verlegen. »Ich will Ihnen sagen, warum ich gekommen bin, Miss Joyner.«

 

Sie öffnete einen großen Lederbeutel, den sie unter dem Arm trug und der wie eine Mappe aussah. Sie suchte eine Weile, dann nahm sie ein kleines Stück Papier heraus, auf dem verschiedene Notizen standen.

 

»Ich werde Ihnen eine peinliche Frage vorlegen, und Sie dürfen sagen, daß Sie das empörend finden. Und wenn Sie Ihre Glocke nehmen und Ihrer kleinen Flaumfeder befehlen, daß sie mich hinauswerfen soll, werde ich gar nicht überrascht sein.«

 

Die Erwähnung Janets nötigte Hope ein Lächeln ab, aber sie war zu neugierig, um sich ablenken zu lassen.

 

»Sie sind eine Freundin Sir Richard Hallowells von der Berwick-Garde, und ich möchte Sie ganz offen fragen, ob Sie mit Sir Richard verlobt sind?«

 

»Nein«, sagte Hope.

 

»Ist er ein sehr guter Freund von Ihnen?«

 

Das Mädchen zögerte.

 

»Ja«, sagte sie schließlich. »Er ist ein sehr guter Freund.«

 

»Ist er ein so lieber Freund« – Mrs. Ollorby sprach sehr langsam, »daß er alles auf der Welt für Sie tun würde?«

 

Hope starrte die Frau an.

 

»Ich verstehe nicht –«, begann sie.

 

»Lieben Sie einander?« fragte Mrs. Ollorby geradezu. Das Erröten Hopes gab ihr die Antwort.

 

Bevor Hope ihre Stimme wieder in der Gewalt hatte, fuhr sie schnell fort: »Sie werden denken, daß ich Mut habe – und ich habe ihn auch! Aber was ich Ihnen sagen wollte, Miss Joyner, Sir Richard ist nach meiner Meinung ein anständiger Mann. Ich bitte Sie, es wohl zu überlegen, bevor Sie etwas verlangen, was ein Ehrenmann nicht tun würde.«

 

Hope konnte nur hilflos den Kopf schütteln.

 

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was Sie damit sagen wollen, Mrs. Ollorby«, sagte sie. »Aber Sie können sicher sein, daß ich Richard niemals um etwas bitten würde, was unehrenhaft ist. Ich bin sehr erstaunt, daß Sie überhaupt annehmen, ich könnte so etwas tun.«

 

»Das nehme ich nicht an!« Mrs. Ollorby sprach sehr begeistert. »Ich bin nur neugierig, ob …« Sie zögerte – »vielleicht habe ich Verwirrung angerichtet. Sicher habe ich Ihnen Grund gegeben, ärgerlich zu sein, selbst wenn Sie es nicht sind. Haben Sie jemals Sir Richard Hallowell gebeten, Ihnen einen Gefallen zu tun einen Gefallen, der eine Vernachlässigung seiner Pflicht bedeuten würde?« – »Nein«, sagte Hope entrüstet. »Wirklich, Mrs. Ollorby, Sie sind mir mehr als rätselhaft.«

 

»Bin ich das?« Mrs. Ollorby war die Zerknirschung selbst. »Miss Joyner, ich bin in einer sehr peinlichen Lage. Ich weiß eine Menge Dinge, die ich nicht wissen dürfte – wenn Sie so klug wären wie ich, wäre es nicht nötig, auf den Busch zu schlagen.« Sie seufzte schwer. »Aber Sie sind es eben nicht! Sie kennen natürlich Tiger Trayne nicht? Sie brauchen ihn auch nicht zu kennen, er gehört nicht zu Ihren Gesellschaftskreisen. Und Mr. Graham Hallowell – den kennen Sie auch nicht?« Sie machte eine Pause.

 

»Ich weiß von ihm«, sagte Hope ruhig. »Er ist Sir Richards Bruder, und er war – in Not. Richard und er sind nicht die besten Freunde. Er ist mir niemals vorgestellt worden, obgleich –«

 

Sie hielt inne und lächelte. Sie mußte an den Brief von heute morgen denken.

 

»Obgleich es einige Leute gibt, die denken, daß er Ihnen vorgestellt ist«, vollendete Mrs. Ollorby scharfsinnig. Sie schloß ihre Tasche mit einem lauten Knacken zu.

 

»Sir Richard Hallowell ist ein schöner Mann«, sagte sie. »Es gibt so leicht niemand, den ich so bewundere wie ihn, außer Ihnen! Das ist eine ganz offene Schmeichelei. Aber Offenherzigkeit ist meine Schwäche.«

 

Sie nahm ihre Visitenkarte wieder zurück, drehte sie um und schrieb schnell mit einem Bleistift, den sie aus einer verborgenen Tasche hervorholte, etwas auf die Rückseite. Dann legte sie die Karte wieder in Hopes Hand.

 

»Das ist meine Privatadresse. Es ist möglich, daß ich für einige Tage nicht nach Hause komme. Aber wenn Sie irgendwie Unannehmlichkeiten haben oder sich über irgend etwas ängstigen, womit Sie Sir Richard nicht belästigen wollen, so können Sie mich ruhig anrufen.«

 

»Welche Unannehmlichkeiten könnten mir denn zustoßen?« fragte Hope halb belustigt und halb erstaunt.

 

Mrs. Ollorby zuckte die breiten Schultern.

 

»Das mag der Himmel wissen«, sagte sie. »London ist eine große Stadt von besonderer Art, wo Unannehmlichkeiten schnell über einen kommen.«

 

Sie ging zur Tür.

 

»Ich würde sehr froh sein, wenn Sie mir einen Gefallen tun würden, Miss Joyner. Bitte erwähnen Sie Ihrer Zofe gegenüber weder meinen Namen noch meinen Beruf.«

 

Bevor ihr Hope eine scharfe Antwort geben konnte, daß es nicht ihre Gewohnheit sei, ihre Zofe ins Vertrauen zu ziehen, war Mrs. Ollorby gegangen.

 

Die dicke Frau ging schnell in Richtung des Piccadilly Circus. Sie summte mit tiefer Baßstimme vor sich hin und schien Welt und Menschen vergessen zu haben. In einiger Entfernung hinter ihr ging ein hoch aufgeschossener, schlanker, rothaariger junger Mann, der eine große Hornbrille trug. Sein Anzug war ein wenig zu klein für ihn, Arme und Beine schauten aus Ärmeln und Hose weit hervor. Er verlor Mrs. Ollorby niemals aus dem Gesicht. Er folgte ihr in die Untergrundbahnstation, und er befand sich in demselben großen Personenaufzug, der sie in der Tottenham Court Road wieder auf die Erdoberfläche brachte. Die starke Frau wandte sich zur Charlotte Street. Der junge Mann ging ihr nach, und als sie in ein übelaussehendes Tor einbog, wartete er einige Minuten, mit dem Rücken an ein Geländer gelehnt, schaute die Straße auf und ab und folgte ihr dann wieder. Er nahm einen großen Schlüssel aus der Tasche und machte auf der Haupttreppe halt, um den Schmutz aus der Höhlung des Schlüssels zu entfernen. Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür eines kleinen Wohnzimmers.

 

Mrs. Ollorby nahm ihren kleinen, schwarzen Hut ab und drehte sich kaum um, als er eintrat. Der junge Mann setzte sich auf das Sofa und wartete. »Nun, Hektor?« fragte sie.

 

»Ein Mann folgte dir bis zur Untergrundbahnstation Tottenham Court Road. Aber er ging nicht weiter mit«, sagte er.

 

»Was war das für ein Mensch?« fragte seine Mutter, denn das war ihr natürliches Verwandtschaftsverhältnis.

 

»Er sah aus wie ein Fremder, Mutter«, sagte Hektor und kratzte sich an der Nase. »Er wartete außerhalb der Wohnung, als du herauskamst. Ich folgte ihm, und so konnte ich feststellen, daß er auf deiner Spur war. Es ist doch eine merkwürdige Sache mit mir« – Hektor fuhr mit der Hand durch sein rotes Haar –, »daß sie mich nicht entdecken, wenn ich sie doch immer beobachte.«

 

Mrs. Ollorby lächelte vergnügt.

 

»Es ist nichts sicherer auf der Welt, als daß sie dich auch gesehen haben, Hektor«, sagte sie gut gelaunt. »Du mußt nicht vergessen, daß du auf der Straße aussiehst wie ein Leuchtturm mit einer roten Spitze. Dich kann man ja überhaupt nicht aus den Augen verlieren. Aber sie fühlen sich behindert, wenn sie wissen, daß man auch auf ihrer Spur ist. Deswegen bist du mir so wertvoll.«

 

Er schaute sie ganz kleinlaut an.

 

»Ich sehe doch, daß ich nicht viel helfen kann«, sagte er verzagt. Aber dann wurde er hoffnungsvoller. »Ich glaube, ich färbe mein Haar –«

 

»Dann würdest du fürchterlich aussehen«, sagte Mrs. Ollorby und klopfte ihm auf die Schulter. »Sorge dich nicht darum, Hektor. Deswegen wirst du doch ein Detektiv, und zwar noch in den nächsten Tagen. Ich habe mit dem Kommissar heute morgen über dich gesprochen. Sie wollen dich nicht in die Polizeimannschaft aufnehmen, weil du kurzsichtig bist. Aber ich werde einen anderen Posten bei der Polizei für dich ausfindig machen, und du wirst bald deinen Namen in der Zeitung unter den Neuigkeiten finden, das kannst du mir glauben.«

 

Er freute sich offensichtlich sehr darüber, denn sein höchster Ehrgeiz war es, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Der verstorbene Mr. Ollorby war ein Polizeisergeant mit einem ganz vorzüglichen Führungszeugnis gewesen, und diesem Umstand war es auch zu verdanken, daß man seine Frau während des Krieges in die Polizeimannschaft aufnahm.

 

Ein Telefon stand im Zimmer. Sie wählte eine Nummer und winkte ihrem Sohn mit dem Kopf, daß er hinausgehen möge.

 

Hektor gehorchte sofort und stand draußen im Gang auf Wache. Dabei hielt er sich mit beiden Händen die Ohren zu. Nachdem sie zehn Minuten lang gesprochen hatte, kam sie heraus und gab ihrem kleinen Dienstmädchen Anweisungen. Dann ging sie in ihr Schlafzimmer im oberen Stockwerk und legte sich zu Bett. Sie hatte in der vergangenen Nacht kaum geruht, und es schien ihr, als ob wieder eine schlaflose Nacht vor ihr läge.

 

Es war schon dunkel in der Charlotte Street, als sie wieder herunterkam. Sie hatte ihre Kleidung geändert und sah jetzt viel schäbiger aus. Man konnte sie nicht wiedererkennen. Sie trug abgetragene, aber saubere Kleider, einen altmodischen Hut und abgetretene Schuhe mit schiefen Absätzen.

 

Sie wartete, bis die Nacht hereingebrochen war, bevor sie sich mit einer brüchigen alten Segeltuchtasche auf den Weg machte.

 

Es schlug zehn Uhr, als sie in einer kleinen Straße in East End auftauchte. Vor dem Haus Nr. 27 hielt sie an und klopfte.

 

Die schlampige Frau, die ihr die Tür öffnete, roch nach Alkohol. Mit ihren kurzsichtigen Augen schaute sie auf den Besuch. Halb angezogen stand sie im Licht einer kleinen Petroleumlampe.

 

»Ach Sie«, sagte sie unhöflich. »Sind Sie doch gekommen? Ich hatte Sie schon aufgegeben.«

 

»Ich verstehe nicht, warum Sie mich aufgegeben haben. Ich habe doch meine Miete im voraus bezahlt«, sagte Mrs. Ollorby.

 

Die Wirtin murmelte etwas vor sich hin und leuchtete mit ihrer Lampe zu der einfachen Treppe hinauf. Dann stieß sie die Tür eines kleinen Raumes auf und deckte ein nicht gerade sehr sauberes Bett auf. Ein kleiner Waschständer und ein Stuhl bildeten die ganze sonstige Einrichtung des Zimmers.

 

»Ich lasse meine Mieter gewöhnlich nicht erst spätnachts herein«, sagte sie. »Aber Sie sind ja den ganzen Tag unterwegs, und da muß ich eben Rücksicht nehmen.«

 

Sie hatte Mrs. Ollorby nur deswegen als Mieterin angenommen, weil diese ihr erklärt hatte, daß sie den Raum zwischen neun Uhr morgens und sechs Uhr abends nicht gebrauchen würde. Dadurch hatte die Wirtin weniger Arbeit, das heißt, in Wirklichkeit machte sie ein doppeltes Geschäft, da sie tagsüber den Raum einem Nachtwächter von den Docks überließ.

 

In diesem kleinen Haus beherbergte die Wirtin sieben Leute. Sie wartete noch immer in der Tür und hatte ihre schmutzigen Hände über der Schürze gefaltet. Sie war wenig freundlich und erklärte Mrs. Ollorby, daß sie jetzt sehr beschäftigt wäre, weil ihre drei regulären Mieter in der Stadt seien.

 

»Ich möchte die Herren um alles in der Welt nicht kränken«, sagte sie. »Manchmal sind sie neun oder gar zehn Monate fort, aber die Miete wird so pünktlich bezahlt, wie ein Uhrwerk geht … Es sind Seeleute – der eine ist Schiffskapitän, die anderen beiden seine Söhne … Ein guter Mann, wie man ihn besser auf der Welt nicht finden kann, das heißt, wenn er nicht gerade betrunken ist.«

 

Diese bevorzugten Mieter hatten zusammen zwei Räume. Der Kapitän bewohnte den besten davon.

 

»Was ich Ihnen noch sagen wollte … Wie ist doch Ihr Name –?«

 

»Ich heiße Brown«, sagte Mrs. Ollorby.

 

»Auf eines müssen Sie achten«, sagte die Frau. »Dem Kapitän dürfen Sie nicht in den Weg kommen. Er ist sehr kurz angebunden, und ich will ihn nicht vor den Kopf stoßen, nicht für eine Million.«

 

Als die Wirtin gegangen war, setzte sich Mrs. Ollorby auf das Bett und vertrieb sich die Zeit dadurch, daß sie ein Buch bei dem Licht einer kleinen Taschenlampe las, die sie aus ihrer Tasche genommen hatte. Nach geraumer Zeit hörte sie die unsicheren Schritte des Kapitäns auf der Treppe. Mit betrunkener Stimme sang er einen Gassenhauer. Seine eisenbeschlagenen Schuhe polterten auf dem kleinen Podest, dann schlug er die Zimmertür zu, daß das ganze Haus wackelte. Mrs. Ollorby lauschte und wartete auf die Ankunft der beiden Söhne. Aber die kamen noch nicht. Nach einer Weile hörte sie, wie der Kapitän die Tür wieder öffnete und hinunterging. Als er das Haus verlassen hatte, legte sie ihr Buch beiseite, öffnete leise die Tür und horchte. Es herrschte tiefe Stille, kein Laut war vernehmbar. Die Wirtin hatte sich in die Küche zurückgezogen, wo sie auf einem erbärmlichen Feldbett schlief. Vom Erdgeschoß drang das Schnarchen eines Mieters herauf …

 

Sie zog ihre Schuhe aus und schlüpfte dafür in dicke Filzpantoffeln. Geräuschlos schlich sie über das Podest, stieg die wenigen Stufen in die Höhe, die zu dem oberen Treppenabsatz führten, und versuchte, die Tür des Kapitäns zu öffnen. Sie war nicht verschlossen. Schnell ging sie in den Raum und drehte das Licht an.

 

Das Zimmer war nur ein wenig besser möbliert als ihr eigenes. Eine Kleidertruhe und ein kleiner Tisch standen darin. Dieser wurde anscheinend als Schreibtisch benutzt, denn es lag eine Menge von Papieren verstreut auf der Platte. Ein kleines, billiges Tintenfaß und eine Unterlage aus dünnem Löschpapier fanden sich daneben. Schnell sah sie die Schriftstücke durch und erkannte, daß es Listen von Schiffsvorräten waren, die der Kapitän offensichtlich vor einigen Tagen eingekauft hatte. Sie durchsuchte das Bett genau, drehte das Kissen um und entdeckte einen flachen, abgenutzten Kasten zum Aufbewahren von Schriftstücken. Sie öffnete ihn, fand aber weiter nichts als ein Blatt Papier, das mit Zahlen bedeckt war. Sie hatte genügend Kenntnisse von der Schiffahrt, um zu erfassen, daß es sich um eine Schiffahrtstabelle handelte, die der Kapitän ausgearbeitet hatte. Zu jeder Position hatte er das Datum geschrieben. Das erste Datum war der 26. des Monats, und dahinter war ein merkwürdiges Zeichen angebracht.

 

Sie legte das Papier an seine Stelle zurück und suchte weiter. Plötzlich hörte sie laute Stimmen außerhalb des Fensters auf der Straße, und gleich darauf vernahm sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Mit überraschender Geschwindigkeit verließ sie den Raum, schloß die Tür und war bereits in ihrem eigenen Zimmer, als die Leute unten die erste Stufe erreicht hatten.

 

Diesmal war der Kapitän nicht allein. Zwei Mann begleiteten ihn. Sie gingen in das Zimmer des Kapitäns und schlössen leise die Tür. Mrs. Ollorby hörte, wie sie sich mit gedämpfter Stimme unterhielten. Geräuschlos schlich sie sich hinaus. Die niederträchtigen Treppenstufen krachten unter ihrem Gewicht. Sie beugte den Kopf nach vorn und lauschte. »… Dieser Mann – wie heißt er doch – Warring oder so ähnlich – der Kerl sagte … Gravesend … Flutzeit …«

 

Jemand ging quer über den Fußboden. Eilig huschte sie zurück in ihr Zimmer und horchte hinter der angelehnten Tür. Das war eine gefährliche Sache in diesem Haus, wo jedes Bett unter ihrer Schwere krachte. Nach einer Viertelstunde hörte sie zwei der Männer herauskommen und in einen anderen Raum gehen. Noch ein rauhes gute Nacht, dann war alles ruhig. Sie schloß ihre Tür behutsam und legte sich angekleidet auf das Bett. Einige Minuten später schlief sie fest.

 

Am Morgen wurde sie durch das Gepolter geweckt, das der Kapitän verursachte, als er die Treppe hinunterging. Kurz darauf folgten ihm seine beiden Söhne. Es war heller Tag. Mrs. Ollorby machte schnell Toilette und begab sich dann auch auf die Straße. Sie frühstückte in einer kleinen Kaffeestube an der Ecke der Victoria Dock Road. Eine halbe Stunde später stand sie auf einer zugigen Werft und beobachtete mit großem Interesse einen kleinen, verrosteten Dampfer, der mitten im Strom vor Anker lag. Ein Kerl, der sich am Wasser herumtrieb, kam auf sie zu. Er witterte, daß er sich eventuell ein kleines Trinkgeld verdienen könnte. Damit hatte er auch recht, denn er konnte Mrs. Ollorby über alles mögliche informieren.

 

»Missie – wollen Sie zu dem kleinen Schiff dort hinausfahren? Ich kann Ihnen in fünf Minuten ein Boot beschaffen!«

 

»Nein«, sagte sie, »ich will nicht hinfahren.«

 

»Haben Sie Verwandte an Bord?« fragte der Mann, der sich nützlich machen wollte. »Vielleicht wollen Sie einen Brief dorthin schicken?«

 

»Was ist das für ein Kasten?« fragte Mrs. Ollorby.

 

»Das ist die ›Pretty Anne‹!« sagte er lachend. »Ein merkwürdiger Name für ein solches Schiff. Aber ich kann mich noch darauf besinnen, wie sie mit Cardiff-Kohlen fuhr. Sie war ein ebenso schönes Schiff wie alle anderen, die jemals die Themse hochkamen. Aber dann erlitt sie Schiffbruch da unten in Cornwall – sie saß auf dem Felsen auf –, und der alte Boß hat sie dann für fünfzig Pfund gekauft, wie man sagt, und er und seine beiden Söhne haben sie wieder flottgekriegt. Ich glaube, daß sie schließlich von selbst wieder flottgeworden ist bei Hochwasser.«

 

Das war also die Geschichte der ›Pretty Anne‹! Sie hatte Schiffbruch erlitten, war in Lloyds Register als totaler Verlust gestrichen und wurde dann für den Preis einer Dschunke durch Auktion an den glücklichen Eli Boß verkauft.

 

Dieser Kapitän hatte wirklich Glück, denn er war zweimal dem Zuchthaus mit knapper Not entronnen. Einmal war er angeklagt wegen vorsätzlichen Schiffbruchs und das zweitemal wegen Sacharinschmuggels.

 

»Ob ich ihn kenne?« Der Mann spuckte verächtlich ins Wasser. »Ich darf wohl sagen, daß es so ist. Aber wer kennt Eli nicht? Er ist ein ganz gemeiner Lump. Er heuert keine weißen Leute, sondern nur indische Matrosen und so ein Gemisch von Leuten, von denen man zehn für einen Penny kriegt. Er hat Geld dadurch verdient, daß er den Amerikanern Koks und dergleichen nach drüben brachte. Und er macht Geld mit allen möglichen schmutzigen Geschäften. Er bekommt niemals eine richtige Ladung, weil keiner der Auftraggeber die Versicherungssumme für das Schiff bezahlen will.«

 

Mrs. Ollorby schaute sich das Schiff mit neuerwachtem Interesse an. Ein wunderlicher Kasten mit einem Rumpf, dessen Farben vollständig verblichen waren, und einem ungewöhnlich hohen Vorderdeck mit starkem Mast. Das Schiff schien ganz ohne Proportion zu sein. Es war schrecklich verwahrlost, schmutzig und rostig. Die Farbe des Schornsteins blätterte ab. Man hätte seine ganze äußere Erscheinung für Tarnung halten können.

 

»Der Alte führt sie, einer von seinen Söhnen hilft ihm dabei, und der andere hat den Maschinenraum unter sich. Im ganzen hat er nur sechs Mann an Bord.«

 

»Unter welcher Flagge fährt er?« Mrs. Ollorby interessierte sich für das kleine, schmutzige, viereckige Stoffstück, das am Flaggmast hing.

 

»Er hat die portugiesische. Wenn er in diesem Land registriert wäre, würde man ihm nicht gestatten, aus der Themsemündung zu fahren.«

 

Aber die ›Pretty Anne‹ hatte unverkennbar auch ihre Vorzüge, wie Mrs. Ollorby jetzt erfahren sollte.

 

»Sie kann zwölf Knoten in der Stunde laufen, und ich vermute, daß man sie bis auf fünfzehn treiben kann. Aber ich glaube nicht, daß der alte Eli soviel Geld für Kohle ausgibt«, sagte der Mann geschwätzig. »Ich habe noch niemals gehört oder gesehen, daß sie im Dock war, seitdem sie der Kapitän in Cornwall aufs Land geholt hat, um ein paar neue Platten einzusetzen. Die Kessel sind seit einer Woche nicht geheizt. Man sagt, daß der alte Eli jedes Stück Kohle zählt, das in die Feuerung geworfen wird. Der Kerl ist scharf.«

 

Mrs. Ollorby gab ihm ein größeres Trinkgeld, als er jemals erwartet hatte. Als sie von der Werft kam, fand sie ein Telefonhäuschen und sprach mit ihrem Sohn.

 

»Du mußt gleich hierherkommen, Hektor«, sagte sie. »Bringe dir einen Mantel mit, denn die Nächte sind kalt. Du mußt ein wenig Wachtposten für mich stehen. Und, Hektor, höre zu: In meinem Schlafzimmer hängt im Kleiderschrank ein Feldstecher, den bringst du mit.«

 

Sie hängte den Hörer ein, wählte eine andere Nummer und diktierte ihrem wißbegierigen Polizeichef einen langen Bericht.

 

»Haben Sie irgendeine Idee, worauf die Sache hinausläuft?« fragte er.

 

Mrs. Ollorby zögerte.

 

»Ich habe allerhand Vermutungen«, sagte sie vorsichtig, »aber ich möchte warten, bis ich Tatsachen melden kann.«

 

Sie wartete fast eine Stunde lang, bis ihr Sohn kam, der sich heute besonders wichtig fühlte. Sie gab ihm genaue Instruktionen und ließ ihm Geld zurück für seine Verpflegung. Glücklicherweise konnte sie das Interesse des mitteilsamen Mannes erwecken und sicherte sich durch ein gutes Trinkgeld seine Hilfe. Er lungerte das ganze Jahr hindurch am Ufer herum und beobachtete den Strom. Diese Beschäftigung mußte ihm offenbar seinen Lebensunterhalt einbringen. Er fand sich gleich dazu bereit, mit Hektor zusammen den Dampfer im Auge zu behalten. »Ich vermute, Sie werden nicht viel sehen, Madam«, sagte er. »Vor einer Woche wird die ›Pretty Anne‹ nicht den Fluß hinunterfahren. Einer der Kohlentrimmer hat es mir erzählt, und ich will schwören, daß sie noch keine Ladung an Bord hat. Der alte Eli heizt die Kessel nicht eher, als bis er Ladung genommen hat. Ich habe noch nie gesehen, daß das Schiff die Themse mit Ballast verließ.«

 

»Ich kann ruhig ein oder zwei Wochen warten«, sagte Mrs. Ollorby vergnügt. Damit sprach sie die Wahrheit, denn sie hatte unendliche Geduld und Ausdauer.

 

Kapitel 3

 

3

 

Es gab genug Leute, die der Meinung waren, daß der Fürst von Kishlastan sich etwas mehr zurückhalten sollte. Er war eine große, schlanke Erscheinung mit dem typischen Gesichtsausdruck eines Asiaten. Zur Zeit war er nicht nur von der französischen Regierung kaltgestellt, sondern stand auch mit den amtlichen englischen Stellen in Indien ausgesprochen schlecht. Er war nominell französischer Untertan, da er seinen Titel nach einem kleinen Land führte, das zum französischen Machtbereich gehörte. Dieses Gebiet hatte er derartig schlecht verwaltet, daß er vom Gouverneur von Pondichéry zur Verantwortung gezogen wurde. Zum nicht geringen Verdruß der englischen Regierung hatte er dann große Ländereien in Britisch-Indien erworben.

 

Riki, wie man ihn nannte, kam mißgestimmt und verdrießlich nach London. Da er aber ein Mann war, der über ungeheure Reichtümer verfügte, fand er viel Sympathien in jenen Schichten der Gesellschaft, die die Überspanntheiten indischer Fürsten gern entschuldigen.

 

Er war bei allen Rennen und besuchte unermüdlich die Premieren in allen Theatern. Seine Abendgesellschaften zeichneten sich durch Luxus und Verschwendung aus. Man konnte ihnen in dieser Saison nichts Ähnliches an die Seite stellen. Doch nahm kein offizieller Vertreter des Auswärtigen Amtes daran teil. Riki verkehrte nicht in den offiziellen Kreisen, die mit der Regierung in enger Fühlung standen. Aber das Auswärtige Amt war bei Rikis größeren Festlichkeiten trotzdem in irgendeiner Form vertreten, obwohl dies natürlich sein Ansehen schmälerte.

 

Dick Hallowell erhielt eine Einladung zu dem großen Empfang Seiner Hoheit, und zu gleicher Zeit wurde ihm unter der Hand mitgeteilt, daß von Regierungsseite aus seine Anwesenheit dort nicht ungünstig aufgenommen würde. Er hatte vier Jahre seiner Kindheit in Indien zugebracht und dabei Hindostani gelernt. Seine Vorliebe für diese Sprache machte es ihm leicht, im Lauf der Zeit seine Kenntnisse auf diesem Gebiet sehr zu verbessern. Später war er als Adjutant des Generalgouverneurs von Bengalen in Indien tätig. Beim Tod seines Vaters kehrte er nach England zurück, um die Pflichten des ererbten Titels und die Verwaltung und Instandsetzung eines Landsitzes zu übernehmen, der bis zu einem gewissen Grad verschuldet war.

 

Er ging in Bobby Longfellows Zimmer und fand den schlanken jungen Mann, in einen tiefen Sessel zurückgelehnt, bei der Lektüre eines Sportblattes.

 

»Du wirst doch nicht hingehen, alter Junge!« sagte Bobby, als er die Einladung las. Dann wurde sein Gesicht länger. »Oder willst du etwa, daß auch ich den verrückten Kerl wiedersehen soll?« – Dick lächelte.

 

»Ich weiß nicht, warum du ihn verrückt nennst, ich dachte gerade, daß es nett wäre, wenn du mich dorthin begleiten wolltest. Ich würde mich allein schrecklich langweilen.«

 

»Verrückt!« sagte Bobby spöttisch. »Bestimmt ist er nicht ganz richtig. Kaum hatte ich hier in dieser befestigten Spelunke mein Quartier aufgeschlagen, als ich auch schon den Auftrag erhielt, ihm die Juwelenkammer zu zeigen. Ich hatte noch gar keine Ahnung davon. Na, glücklicherweise hat mir dann einer von diesen altertümlichen Kerlen in den lächerlichen Uniformen den Weg gezeigt. Ich bin mit ihm die verflucht lange Treppe hinaufgetrottet und habe ihm die königlichen Juwelen gezeigt. Ich hatte sie selbst noch nicht gesehen, die Sache war also nicht ganz schlecht.«

 

»Ja, aber warum nennst du ihn denn verrückt?« fragte Dick.

 

Bob nickte heftig.

 

»Er ist verrückt nach Juwelen. Es war ganz unmöglich, ihn von der Krone fortzubekommen. Er klebte sich einfach ans Geländer und staunte die Dinger an. Was er zu dem andern sagte, der ihn begleitete, war sehr interessant, ich habe es bloß nicht verstanden, weil er nämlich Hindostani sprach. Ich wünschte, du wärest dagewesen, Dick. Einer aus seinem Gefolge erzählte mir später, daß er ganz wild nach Diamanten sei und daß er in Kishlastan in seiner Schatzkammer Steine hat, die man nicht um zehn Millionen Pfund kaufen könnte! Als er endlich aus der Juwelenkammer herauskam, war er ganz überwältigt und aufgeregt. Er wollte mir zwei Perlohrringe als Andenken schenken, ich sagte ihm aber: ›Mein hochverehrter Radscha, ich habe es aufgegeben, Ohrringe zu tragen – sie sind bei uns seit langen Jahren außer Mode.‹«

 

Dick lachte.

 

»Immerhin – sei ein lieber Junge und geh heute abend mit mir zu Arrids. Ich bin gebeten worden, Seiner Hoheit meine Höflichkeit zu erweisen. Wir brauchen dort nicht länger als eine halbe Stunde zu bleiben.«

 

Bobby brummte, legte seine Zeitung auf den nächsten Sessel und richtete sich in seiner ganzen Größe auf.

 

»Soll ich mein Perlenkollier oder mein Rubinarmband tragen?« fragte er sarkastisch. »Heute abend hatte ich ausgerechnet eine Verabredung ins Theater mit der süßen Kleinen –«

 

»Da kannst du ja immer noch hingehen«, sagte Dick. »Wir werden bei Arrids nicht länger als eine halbe Stunde bleiben.«

 

Als die beiden abends im Hotel ankamen, flutete eine erlesene Gesellschaft über die breite Treppe, die zum ersten Stock führte. Alles, was in London einen Namen beanspruchte, war zugegen: Mitglieder des Parlaments, frühere Minister, die eine Partei führten und in den nächsten Jahren keinen Regierungsposten übernehmen wollten. Es waren Damen da, die sich überall in der Gesellschaft, außer bei Hofe, zeigten, ältere Beamte, die früher in Indien gedient hatten sowie Journalisten und Schriftsteller.

 

»Dort ist Diana Martyn«, sagte Bobby plötzlich. Als Dick aufschaute, sah er sie oben auf dem Treppenabsatz stehen. Sie lehnte sich an die Balustrade und sprach mit Colley Warrington. Als er an ihr vorbeiging, würdigte sie ihn eines Lächelns und nickte ihm kühl zu.

 

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Dick«, sagte sie geistesgegenwärtig.

 

Dick konnte sich kaum vorstellen, daß er einmal mit diesem ruhigen, schönen Mädchen verlobt war oder daß die Trennung von ihr einmal eine Tragödie für ihn gewesen war. Er konnte sie jetzt ohne Verwirrung wiedersehen und sie sogar bewundern. Denn ihre elfenbeinfarbene Haut und ihre tiefen, dunklen Augen machten sie zu einer seltenen Schönheit. In dem perlengestickten Kleid und der großen Smaragdkette sah sie bezaubernd aus.

 

»Sind Sie schon verheiratet?« fragte sie ihn lächelnd.

 

»Noch nicht«, antwortete er ernst.

 

»Ein kleiner Vogel hat mir ins Ohr gesagt, daß Sie die Absicht haben…«, sie vollendete den Satz nicht.

 

»Diesmal hat Ihnen der kleine Vogel die Wahrheit erzählt«, erwiderte er auf ihre Herausforderung.

 

»Wie reizend!« sagte sie vor sich hin.

 

Im nächsten Augenblick wurden sie getrennt. Er wandte sich zu den offenen Türen, die zu den Salons führten, wo Seine Hoheit die Gäste empfing.

 

Sie drängten sich durch die Menge. Dick blieb einen Augenblick starr vor Erstaunen stehen. In der Mitte des Saales stand der Radscha in einem amethystfarbenen Seidengewand, das an der Hüfte durch einen breiten Silbergürtel zusammengehalten war. An seinem Hals glänzten unheimlich viele Perlenschnüre. Aber es war nicht die Erscheinung des Inders, die Dick so packte.

 

Ein schlankes Mädchen in weißem Kleid unterhielt sich mit dem Fürsten. Sie kehrte Dick den Rücken zu, aber er hatte sie sofort erkannt.

 

»Donnerwetter!« stieß Bobby hervor. »Ist das nicht deine Hope?«

 

»Ich weiß nicht, was du mit ›deine Hope‹ sagen willst«, entgegnete Dick unnötig aufgebracht. »Es ist Miss Joyner, soviel ich weiß.«

 

In dem Augenblick wandte sie sich um und grüßte ihn mit einem Lächeln. Er ging auf die Gruppe zu und machte eine steife Verbeugung vor dem Inder.

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Sir Richard«, sagte der Fürst in seiner gezierten Weise und musterte dabei Dick mit einem etwas trägen Blick, der unter schweren Augenlidern hervorkam. Er schien von seinem Kommen nicht besonders erfreut. »Ich hoffte Sie damals im Tower zu treffen, aber Sie waren leider nicht zugegen. Kennen Sie Miss Joyner?«

 

Dick lächelte bestätigend dem Mädchen zu.

 

»Ein alter Freund?« fragte der Fürst mit einem gewissen Mißtrauen. »Dann sind Sie zu beneiden.«

 

Ein anderer Herr ließ sich vorstellen. Dick führte Hope zum großen Mißvergnügen des Fürsten mit sich aus dem Kreis.

 

»Um Himmels willen, wie kommen Sie denn in diese Gesellschaft?« fragte er erstaunt.

 

Sie lachte leise.

 

»Ich beteilige mich auch an den Dingen der großen Welt. Wußten Sie das nicht, Dick?« antwortete sie. »Ich gehöre der Gesellschaft zur Befreiung der orientalischen Frauen an, aber ich habe mich noch nicht eingehend damit beschäftigt. Lady Silford bat mich, Mitglied des Komitees zu werden.«

 

Dick kannte Lady Silford sehr wohl als eine Dame mit gesellschaftlichem Ehrgeiz und kleinem Einkommen. Man erzählte sich, daß sie eine der vielen war, die von dem reichen Inder unterstützt wurden. Er zweifelte keinen Augenblick, daß die Einladung an Miss Joyner nur im Auftrag des Fürsten von Lady Silford weitergegeben worden war. Einen Augenblick lang war er besorgt, denn er wußte einiges von dem Privatleben des Radscha.

 

»Ich habe für die ganze Bewegung zugunsten der braunen Frauen nicht viel übrig«, sagte er. »Es gibt eine große Anzahl einwandfreier Gesellschaften, die wirklich Gutes tun, aber die Gesellschaft zur Befreiung der orientalischen Frauen ist ein Schwindel. Die Polizei hat die Kollekte verboten.«

 

»Ich bin auch nicht gar so stark daran interessiert«, bekannte sie, als sie der Tür zuschritten. In dem breiten Gang trafen sie mit Diana zusammen. Miss Martyn grüßte Hope mit einer liebenswürdigen Begeisterung, wie sie nur die engste Freundschaft hätte rechtfertigen können.

 

»Sieh da, unsere liebe kleine Hope!« plauderte sie. »Ist sie – die Glückliche, Dick?«

 

Hope ersparte ihm die Unannehmlichkeit einer Antwort.

 

»Ich sah Sie schon, als ich die Treppe heraufkam, aber ich hatte keine Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen, Miss Martyn. Ich möchte Ihnen etwas übergeben.«

 

Sie öffnete ihre diamantengeschmückte Handtasche und nahm ein flaches Lederetui heraus.

 

»Dies wurde mir durch einen Boten überbracht, gerade als ich Devonshire House verlassen wollte«, sagte sie. »Die Karte des Fürsten liegt in dem Etui. Ich nehme an, daß hier ein Irrtum vorliegt. Wollen Sie bitte so liebenswürdig sein und die Sache für mich in Ordnung bringen?«

 

Diana nahm das kleine Kästchen zögernd entgegen.

 

»Ich weiß nicht, was das alles bedeuten soll!«

 

»Es ist eine Perlenkette«, sagte Hope ruhig. »Würden Sie die Güte haben und Seiner Hoheit bestellen, daß es in England nicht üblich ist, daß eine Dame Geschenke annimmt – selbst nicht von Fürsten aus dem goldenen Orient?«

 

Dick sah, wie Diana errötete.

 

»Weshalb sollte ich denn für Sie den Boten spielen?«

 

»Weil…« Hope lächelte – »Sie werden die Karte des Fürsten in dem Etui finden. Meine Adresse ist darauf geschrieben – und zwar mit Ihrer Handschrift!«

 

»Warten Sie einen Augenblick!«

 

Dianas Stimme wurde hart. Sie streckte ihre Hand aus, um Hope zurückzuhalten, als sie fortgehen wollte.

 

»Ich sehe nicht ein, warum Sie nicht ein kleines Geschenk annehmen sollten, wenn Seine Hoheit Sie so auszeichnen will. Und dann« – sie zuckte verächtlich die Achseln –, »Sie sind doch niemand Besonderes. Verzeihen Sie, wenn ich so offen rede – ich meine, man findet Ihren Namen weder in den Listen des Landadels noch im Debrett oder in sonst einem dieser nützlichen Bücher.«

 

»Sie finden ihn auch nicht in Carlows Liste«, sagte Hope kühl.

 

Diana wurde dunkelrot vor Ärger. Sie blieb mit einem leeren Lächeln stehen, aber in ihren Augen lauerte ein haßerfüllter Blick, wie ihn Dick nur einmal früher gesehen hatte.

 

»Wer ist denn eigentlich Carlow?« fragte er Hope, als sie aus dem Gedränge herauskamen.

 

»Wissen Sie das nicht?« meinte sie unschuldig. »Carlow ist eine große Nachrichtenagentur, die ihren Kunden streng vertraulich und geheim eine Liste zuschickt. Ich gehöre auch zu ihren Kunden. Die Liste enthält alle Namen von Leuten in England, besonders in London, die von dunklen Geschäften leben.«

 

»Sie sind doch ein außergewöhnliches Mädchen!« sagte Dick.

 

»Bin ich das?« lächelte sie, obgleich ihr in ihrem Leben niemals so wenig zum Lachen zumute war wie in diesem Augenblick. »Aber ich bin auch in einer außergewöhnlichen Lage.«

 

Sie lehnte seine Begleitung ab und fuhr allein nach Hause. Ihre Gefühle und Gedanken waren in hellem Aufruhr. Diana Martyn hatte das ausgesprochen, was ihr soviel Unruhe, Sorge und Kummer bereitete. Sie hatte die verhängnisvolle Frage angeschnitten, die sie sich selbst in den letzten fünf Jahren immer wieder vorlegte.

 

*

 

Sie war ein »Niemand« – Diana hatte die Wahrheit gesagt. Sie wußte nur, daß ihre Eltern tot waren und daß sie Landbesitz in Südamerika hatte. Sie verfügte über ein fürstliches Einkommen, das regelmäßig Anfang jeden Vierteljahres von gewissen Rechtsanwälten auf ihr Bankkonto eingezahlt wurde. Sie wußte auch, daß diese Firma sonst mit den dunkelsten Leuten in Verbindung stand. Weiter war ihr nichts über ihre eigene Person bekannt.

 

Sie hatte niemals ihren eigenen Geburtsschein gesehen. Ebensowenig wußte sie, in welchem Land sie das Licht der Welt erblickt hatte. Der geheimnisvolle Mr. Hallett hätte es ihr sagen können, aber sie hatte ihn ja nie gesehen. Sie wußte nichts von ihm, nur daß er ein älterer Herr war, der sehr viel reiste und blind war, solange sie sich erinnern konnte. Aber sie hatte in Mr. Halletts Haus jahrelang gelebt, dort ihre Schulferien zugebracht, hatte sich an dem ganzen Landsitz erfreuen dürfen und war auf den Pferden geritten. Die Dienerschaft hatte sie als Herrin respektiert und für sie gesorgt.

 

Sie sah diesen ruhelosen Mann, der immer zu reisen schien – bald in Indien, bald in Amerika, dann wieder in Südeuropa – schließlich als das Symbol aller Wirrnisse in ihrem Leben an. Manchmal haßte sie ihn. Niemals beantwortete er die Briefe, die sie ihm schrieb, nie hatte er ein freundliches Wort an sie gerichtet. Sie bekam Geschenke zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten. Am 10. Juni jedes Jahres erhielt sie regelmäßig Blumen, aber sie hatte noch nie eine Zeile von ihm gesehen. Er war ein Mann, der seine Pflicht ohne Herzlichkeit mechanisch erfüllte, und es bedrückte sie, daß er ihr immer aus dem Weg ging. Sie wußte genau, daß es kein Zufall war, daß er Monk’s Chase stets einen Tag vor ihrer Ankunft verließ, wenn sie auf Sommerferien kam, und erst einige Tage nach ihrer Abreise wieder dorthin zurückkehrte. Ihre Briefe ließ er durch seinen Bankier beantworten, einen verdrießlichen alten Mann, der in einem schmutzigen Büro in der Threadneedle Street wohnte und der nicht mehr Interesse an ihr nahm als Mr. Hallett selbst.

 

Als ihre Zofe ihr an diesem Abend beim Auskleiden half, mußte sie viel an Monk’s Chase denken, besonders an den kleinen Bücherschrank in der Bibliothek. Nannie, ihre geschwätzige Kinderfrau, hatte ihr einmal verraten, daß er die Lösung aller Geheimnisse enthalte, die sie so gerne enthüllen wollte. War das nun eine Erfindung der alten Frau, um ihr etwas Angenehmes zu sagen oder sie zu beruhigen? Oder war es möglich, daß in dem Bücherschrank –?

 

In einem Augenblick kindlicher Abenteuerlust hatte sie damals alle Schlüssel, die sie entdecken konnte, nach einem durchsucht, der zu dem Bücherschrank paßte. Schließlich fand sie auch einen, aber gerade als sie aufschließen wollte, hörte sie die Schritte eines Dienstboten, der in den Raum kam. Erschrocken schloß sie wieder zu und ging fort. Alle diese Jahre hindurch hatte sie aber den kleinen Schlüssel in einem Ledertäschchen aufbewahrt. Jetzt war die günstige Gelegenheit vorbei.

 

Sie war ein Niemand! Diana Martyn hatte recht. Einige Monate früher hätte sie über eine solche herausfordernde Bemerkung nur gelacht, aber jetzt hatte sie Grund, diesen Schandfleck auszulöschen. Sie war klug und besaß genügend allgemeine Weltkenntnis, um sich alle Möglichkeiten vorzustellen, die das Geheimnis ihrer Geburt umgeben konnten. Sie wußte, daß reiche Leute Kinder unterhielten, die nicht ihre eigenen waren. Ihr selbst hätte das wenig ausgemacht, aber seitdem Dick Hallowell in ihr Leben getreten war, wurde ihr die Ungewißheit über sich selbst immer unerträglicher. Sie hätte ihm alles sagen mögen alles was sie wußte –, sie war ja auch dann seiner Zuneigung sicher. Er würde sie nicht enttäuschen. Selbst wenn sie das Schlimmste erfahren sollte, fürchtete sie nicht, seine Liebe zu verlieren.

 

Am nächsten Morgen wachte sie wieder mit dem Gedanken an Monk’s Chase und den kleinen Bücherschrank auf. Am Nachmittag faßte sie einen Entschluß. In ihrem Besitz befand sich auch der Schlüssel der hinteren Tür …

 

Kapitel 4

 

4

 

Nachdem Hausmeister Stimmings das große Tor von Monk’s Chase für die Nacht mit Riegeln und Ketten geschlossen hatte, berichtete er seinem Herrn, daß der Himmel seine Schleusen geöffnet habe. Doch der zeigte wenig Interesse für diese Mitteilung. Den ganzen Nachmittag hatte es schon geregnet, und beim Abendessen war das Unwetter heftig geworden. Es goß in Strömen. Unterhalb Lower Oaks hatte sich in der Talsenkung ein Teich gebildet. Nur die Mitte der Fahrstraße ragte daraus hervor. In den Gräben zu beiden Seiten flossen Gießbäche, die von den Hügeln von Black Wood kamen und sich vor dem Pförtnerhaus zu einem kleinen See ansammelten.

 

Die Nacht war pechschwarz, und man hörte nichts als das Pladdern des niederfallenden Wassers.

 

Der Postomnibus von Worplethorpe fuhr langsam durch den plätschernden Regen. Das Keuchen seines alten Motors gab eine melancholische Begleitung zu dem Quietschen der Reifen auf der nassen Straße.

 

Unter einem Baum zog der Chauffeur die Bremsen an. Die Tür des alten Wagens klappte auf, und eine schlanke Gestalt stieg heraus.

 

Es war ein Mädchen, das von Kopf bis Fuß in einen glatten, schwarzen Regenmantel eingehüllt war. Sie hatte die Kapuze bis zu den Augen heruntergezogen, so daß man in dem Scheinwerferlicht nur wenig von ihrem Gesicht sehen konnte.

 

»Ich danke Ihnen, das genügt«, sagte sie. »Vielleicht können Sie mich auf Ihrer Rückfahrt wieder mitnehmen. Ich werde auf jeden Fall hier warten.« Der Chauffeur neigte sich vor.

 

»Wollten Sie nicht nach Monk’s Chase – Miss? Ich kann Sie doch bequem bis vor die Haustür fahren. Wenn Sie gehen, werden Sie durch und durch naß werden.«

 

»Nein, ich danke Ihnen«, sagte sie hastig. »Ich möchte nicht das ganze Haus aufwecken.«

 

Sie schritt schnell aus, und der Fahrer zuckte die Achseln, als sie an ihm vorbeiging.

 

Das Pförtnerhaus war leer und verlassen. Die eisernen Türen waren leicht angelehnt. Sie konnte sich erinnern, daß früher hier der alte Gärtner gewohnt hatte, aber er war gestorben, als sie noch zur Schule ging. Sie mußte bis zu den Knöcheln durch das Wässer waten und war froh, daß sie ihre hohen Gummischuhe angezogen hatte. Das war wenigstens ein guter Gedanke bei all den Plänen gewesen, die sie sich heute nachmittag überlegt hatte. Jetzt war die Mitte der Fahrstraße erreicht, die zum Haus führte. Sie empfand es sehr unangenehm, durch den strömenden Regen zu wandern. Die hohen Pappeln, die den Weg zu beiden Seiten einsäumten, boten ihr gar keinen Schutz.

 

Die Nacht war sehr dunkel. Als sie näher kam, hob sich vor ihren Augen die große Masse des Gebäudes undeutlich von den Hügeln des Hintergrundes ab. Das Haus selbst schien wie ausgestorben, nirgends war ein Licht zu sehen. Soviel sie wußte, zog sich Mr. Hallett abends frühzeitig zurück. Ihr Herz schlug wild, als sie den ovalen Rasenplatz überquerte und um den Ostflügel herum nach hinten ging.

 

Sie war nicht bei Verstand – das sagte sie sich alle paar Sekunden. Es war doch sinnlos, weiterzugehen. Diesen ganzen abenteuerlichen Plan auszudenken war Wahnsinn, und noch verrückter war es, ihn auszuführen. Sie stand jetzt vor der kleinen Hintertür und hielt den Schlüssel in ihrer zitternden Hand. Unheimlich erhoben sich vor ihr die grauen, mit Efeu bewachsenen Wände.

 

Aber wenn ihr die Kinderfrau die Wahrheit gesagt hatte und hinter der kleinen Tür in der Wand die Lösung aller Rätsel lag, war sie berechtigt, so zu handeln.

 

Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Nur schwer öffnete sich die Tür unter ihrem Druck. Sie zog eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und leuchtete damit den schmalen, fliesenbelegten Gang ab, bevor sie die Tür schloß und sich geräuschlos in ihren Gummischuhen vorwärts bewegte. Sie stieg drei Steinstufen zu einer zweiten Tür hinauf. Auch diese ließ sich mit demselben Schlüssel öffnen. Jetzt kam sie in einen langen, breiten Korridor, der mit dicken Teppichen belegt war. In regelmäßigen Zwischenräumen standen hier kleine Statuen, alte Armsessel und Stühle – die übliche Ausstattung, die sie genau kannte.

 

Es hatte sich nichts geändert, seitdem sie das letztemal hier gewesen war. Alles war ihr vertraut, die verblichenen Porträts in den schweren Goldrahmen, die Gobelins, die einen Teil der Wand bedeckten, die langen, dunkelroten Übergardinen, die das Fenster am Ende des Ganges schmückten.

 

Nur gedämpft vernahm man hier das Tropfen des herabströmenden Regens. Sie konnte das schwere Ticken der altertümlichen Standuhr in der großen Halle hören. Irgendwo im Haus klapperte ein loser Fensterflügel im Sturm. Sie atmete tief auf, als sie schnell die lange Galerie entlangging. Dann wandte sie sich nach rechts und trat in die Halle. Wieder machte sie halt und lauschte. Sie schaute umher und versuchte, mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen. Gespenstisches Licht drang durch die langen, mit Eisengittern versehenen Fenster, die zu beiden Seiten des Haupteinganges lagen. Die große, gewundene Haupttreppe, die vom Erdgeschoß nach oben führte, konnte sie mehr ahnen als sehen. Sie mußte all ihre Kraft zusammennehmen, um die Halle zu durchschreiten. Dann stand sie vor der Tür zur Bibliothek und drückte leise die Türklinke herunter.

 

Im Kamin brannte Feuer. Ein großer Armsessel verdeckte ihn, aber sie sah den roten Widerschein des Feuers an den Wänden und auf den Möbeln. Offenbar war der Raum leer. Sie erkannte den Stuhl und nickte unwillkürlich. Dort hatte sie als Schulmädchen immer zusammengekauert gesessen und romantische Geschichten verschlungen. Ihre Blicke streiften durch den Raum und blieben an dem kleinen Bücherschrank hängen. Sie biß die Zähne zusammen und ging schnell über den weichen Teppich. Zitternd nahm sie den kleinen Schlüssel aus ihrer Handtasche und öffnete …

 

Leer! Mit offenem Mund starrte sie hinein.

 

Sie schrak auf und wäre fast umgesunken. Aus dem Stuhl stieg eine dünne Wolke bläulichen Rauchs auf.

 

»Wollen Sie nicht bitte die Tür schließen? Es zieht.«

 

Die Stimme klang sanft und gedämpft. Sie blickte starr zum Kamin hin und zog dann verzweifelt einen kleinen Browning aus ihrer Tasche.

 

»Rühren Sie sich nicht«, sagte sie. »Ich – ich habe eine Waffe.«

 

Aus dem Stuhl erhob sich ein schlanker, grauhaariger Herr. Ein Paar große, dunkle Brillengläser verdeckten sein schönes Gesicht. Zwischen den Zähnen hielt er eine große Pfeife. Er war im Abendanzug, jedoch war sein Rock aus schwarzem Samt.

 

»Kommen Sie und setzen Sie sich – kommen Sie ans Feuer«, sagte er. »Sie müssen naß sein.«

 

Sie zögerte und ging dann langsam näher, die zitternde Hand um die Pistole gekrampft.

 

»Rühren Sie sich nicht!« Sie erkannte ihre eigene Stimme kaum wieder. Dann hörte sie ein tiefes Lachen.

 

»Ich vermute, Sie haben einen Revolver oder etwas ähnlich Dramatisches in der Hand? Wie können Sie nur! Aber wollen Sie nicht wirklich die Tür schließen? Ich bin gegen Kälte sehr empfindlich.«

 

Sie ging zur Tür. Hier war eine Gelegenheit – sollte sie fliehen? In wenigen Sekunden konnte sie aus dem Haus sein. Aber er hatte sie gesehen, und es wäre ihrer unwürdig gewesen, diesen Weg zu gehen. Seltsam, daß die Frage der Würde in einem solchen Augenblick überhaupt in Betracht kommen konnte.

 

Die Tür schloß sich, und sie ging zu dem Kamin zurück. Er hatte sich wieder gesetzt, die Pfeife zwischen den Zähnen, das Gesicht der Glut zugewandt.

 

»Sie kamen durch die Hintertür? Ich hätte das Schloß ändern lassen sollen. Wollen Sie sich nicht setzen?«

 

Sie zögerte.

 

»Ach, ich weiß, daß Sie eine Frau sind«, fuhr er mit seiner weichen Stimme fort. »Ich hörte das Rauschen Ihres Kleides, obwohl es natürlich ein Regenmantel sein wird. Was wünschen Sie?«

 

Sie feuchtete die Lippen an, ihre Kehle war ausgetrocknet. Zweimal setzte sie an, bevor sie sprechen konnte.

 

»Ich wollte etwas holen – das ich in diesem Zimmer vermutete. Nichts – Wertvolles … für irgend jemand außer mir. Können Sie denn nicht sehen … und erraten?«

 

Er lächelte leise.

 

»Ich kann wohl raten, aber nicht sehen. Ich bin blind.«

 

Er sagte das in so ruhigem, sachlichem Ton, daß sie eine Zeitlang diese Tatsache gar nicht begriff.

 

»Blind?« sagte sie dann leise. »Oh, ich bin … Das tut mir sehr leid.«

 

Und doch war sie erleichtert. Er konnte sie nicht sehen – und würde sie also niemals wiedererkennen, wenn sie ihm noch einmal begegnete.

 

»Ich wollte Sie wirklich nicht berauben«, sagte sie. »Nur – ich – meine Verwandten verließen dieses Haus letzten Sommer und – ich ließ hier etwas zurück, von dem niemand außer mir etwas wissen sollte.«

 

Sie fühlte sich sicherer. Sie wußte, daß in den Sommermonaten Monk’s Chase einer reichen amerikanischen Familie überlassen worden war.

 

»Ah, Sie gehören zur Familie Osborn, nicht wahr? Nun gut, gnädige Frau, nehmen Sie bitte das, was Sie suchen. Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.«

 

Sie sah noch einmal zu dem offenen Bücherschrank hinüber.

 

»Es ist schon fortgenommen worden«, sagte sie. »Und nun will ich wieder gehen, ja?«

 

Er erhob sich und schritt mit ihr quer durch den Raum. Seine Finger berührten die Möbel, an denen er vorbeiging. Sie wandten sich nach rechts, gingen durch die Halle und kamen zu dem kleinen Seitengang. Einen Augenblick stand er mit ihr außerhalb der Hintertür, und der Regen tropfte auf beide nieder.

 

»Gute Nacht«, sagte er. »Hoffentlich werden Sie nicht zu naß.«

 

Er wartete, bis er ihre eiligen Schritte nicht mehr hörte, dann wandte er sich um, verschloß und verriegelte die Hintertür und kehrte in die Bibliothek zurück.

 

Als er eintrat, machte er alle Lichter an und ging zum Kamin. Fünf Minuten lang saß er bewegungslos, seine Stirn lag in tiefen Falten. Dann stopfte er langsam seine Pfeife, entzündete sie, setzte die dunkle Brille ab, nahm eine Zeitung vom Stuhl auf und fuhr in seiner Lektüre fort, die durch das Knarren der Hintertür unterbrochen worden war. Und er las ohne Hilfe eines Glases die kleinsten Buchstaben.

 

»Arme Hope Joyner!« murmelte er zwischen den Rauchwolken. »Arme Hope Joyner!«

 

Kapitel 5

 

5

 

»Ich möchte dir die Wahrheit mitteilen«, sagte Hope verzweifelt. Dick Hallowell lachte.

 

»Ein löblicher Vorsatz«, meinte er. »Aber ich denke, ich kann es auch so aushalten. Was quält dich, Liebling?«

 

Er nahm ihre Hände in die seinen, und sie ließ sie ihm eine Sekunde lang.

 

»Du wirst nichts mehr von mir wissen wollen – wenn du alles erfahren hast«, sagte sie krampfhaft. »Erinnerst du dich an das, was Diana Martyn über mich gesagt hat?«

 

»Diana spricht so vieles über alle Leute, daß ich es nicht behalten kann«, sagte Dick lächelnd.

 

»Natürlich erinnerst du dich! Sie sagte, ich sei ein ›Niemand‹.«

 

»Das ist absurd«, sagte Dick. »Du bist doch da, bist ein reizendes, entzückendes Mädchen, das mich in seinem wunderschönen Salon zum Tee einlädt. Du bist genauso vorhanden wie das Hotel Ritz, das ich durch dein Fenster sehen kann.«

 

»Rede keinen Unsinn. Sie meinte, ich hätte keine Abstammung, keine Eltern … Es bestände die Möglichkeit, daß ich … ach, irgend etwas Schreckliches sein könnte, das du dir selber ausdenken magst. Du verstehst doch etwas von Heraldik und weißt, was schwarze Felder im Stammbaum bedeuten?«

 

»Also, das ist deine ganze Sorge?« fragte Dick. »Kommt es denn darauf überhaupt an? Schwarze Felder kommen in allen, selbst den besten Stammbäumen vor. Ich weiß nicht, ob in meinem nicht auch welche vorhanden sind.«

 

Daß er so ohne weiteres über diesen Punkt hinwegging, nahm ihr den Atem. Für einen Augenblick war sie erleichtert, im nächsten aber wieder voller Sorge.

 

»Ich weiß nicht, ob es auch bei mir zutrifft«, sagte sie. »Es ist schrecklich von dir, Dick, daß du so etwas glaubst.«

 

»Ich glaube nichts anderes von dir, als daß du das liebste Mädchen auf der ganzen Welt bist. Ich werde dich heiraten, meinen Militärdienst quittieren und sehr glücklich mit dir werden!«

 

»Sei doch bitte vernünftig, Dick. Siehst du denn nicht, in welch ungewisser Lage ich bin? Ich weiß nicht, woher ich mein Geld bekomme, ich weiß nicht, wer meine Eltern sind. Ich bin direkt ein – Niemand! Ich muß darauf zurückkommen. Früher machte mir das nichts aus, und ich kümmerte mich nicht darum, bis – nun, bis du in mein Leben kamst.«

 

Sie dachte ein wenig nach, ihre Brauen zogen sich zusammen, dann fuhr sie fort. »Ich will dir etwas erzählen.« Ohne ihr Vorgehen zu entschuldigen oder zu beschönigen, berichtete sie ihm von ihrem Besuch in Monk’s Chase.

 

Dick hörte gespannt zu.

 

»Du bist doch ein unvorsichtiger Naseweis, daß du dich ohne Grund solchen Gefahren aussetzt«, sagte er. »Wer ist eigentlich Hallett?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nichts von ihm, nur daß er sehr reich und teilnahmslos ist, wenigstens soweit ich in Frage komme. Er besitzt einen großen Landsitz in Kent. Den größten Teil meiner Kindheit brachte ich dort zu.«

 

»Hast du ihn niemals gesehen?«

 

»Nie, er war immer auf Reisen, wenn ich in Monk’s Chase war. Ich habe seine Rechtsanwälte gefragt, ob er irgendwie mit mir verwandt sei, aber sie haben mir nie etwas darüber mitgeteilt.«

 

»Er ist also nicht mit dir verwandt?« fragte Dick.

 

»Kaum. Er kannte meine Mutter – ich habe die Vermutung, daß eine romantische Geschichte hereinspielt, aber ich konnte ja nie mit Mr. Hallett darüber sprechen. Er ist einer der Zeugen unter dem Testament meines Vaters – wenigstens vermute ich das!«

 

»Hast du jemals das Testament gesehen?«

 

»Nein, Dick, ich habe überhaupt nichts gesehen. Ich weiß nur, daß ich ein sehr großes Einkommen beziehe, und wenn ich mit zweifelhaften oder schlechten Leuten zusammenkomme, erhalte ich von meinen Rechtsanwälten eine scharfe Warnung, in der mir mitgeteilt wird, daß ich eine unerwünschte Bekanntschaft gemacht habe. Sie schicken mir auch immer Carlows Liste zu.«

 

»Und hast du keine anderen Verwandten?«

 

»Keine«, antwortete sie ein wenig verstört. Aber dann lachte sie wieder. »Du siehst, daß ich ein Niemand bin.«

 

»Ich vermute, du wirst von deinen Rechtsanwälten meinetwegen auch einen Brief bekommen«, bemerkte er. »Wenn ich auch selbst keinen Anlaß gebe, so habe ich doch sehr unerwünschte Verwandte!«

 

Er dachte noch über diesen letzten Punkt nach, als er Piccadilly hinunterging, und es war kein Zufall, wie es zuerst schien, daß er seinem Bruder begegnete, als er den Platz betrat. Graham Hallowell sah nicht mehr wie ein heruntergekommener Umhertreiber mit abgetretenen Absätzen aus. Er war tadellos nach der neuesten Mode gekleidet und von den Spitzen seiner Lackschuhe hin bis zum grauen Zylinder ein Bild äußerster Vornehmheit. Einen Augenblick war Dick sprachlos, dann aber mußte er lächeln und wollte vorbeigehen. Doch Graham hielt ihn an.

 

»Wenn es dir nicht zu unangenehm ist, dich mit einem früheren Sträfling sehen zu lassen, möchte ich ein paar Worte mit dir sprechen, Dick«, sagte er kühl.

 

»Das können wir gleich hier erledigen«, antwortete sein Bruder. »Aber wenn es sich um Geld handelt –«

 

Graham lächelte spöttisch. »Denkst du immer nur an Geld?« fragte er. »Nein, ich möchte mit dir über Diana reden.«

 

Das Lächeln verschwand von Dick Hallowells Zügen.

 

»Das ist ebenso zwecklos –«

 

»Sie möchte gern mit dir in gutem Einvernehmen stehen. Das ist alles«, sagte Graham. »Es hat keinen Zweck, dauernd auf dem Kriegsfuß miteinander zu leben. Kannst du denn nicht vergessen, daß sie jemand andern dir vorgezogen hat?«

 

»Wenn ich alles überdenke«, sagte Dick schnell, »so erinnere ich mich daran nur dankbar – es ist das einzige, wofür ich ihr zu danken habe.«

 

Er sah auf seine Uhr.

 

»Es tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr, Graham. In fünf Minuten muß ich einen Freund treffen. Aber du kannst Diana von mir bestellen, daß ich ihr nichts nachtrage. Deine Rederei vom Kriegsfuß ist sehr überflüssig. Ich wünsche aber nicht, sie zu treffen, nicht weil ich ihretwegen unglücklich bin, sondern weil sie für Dinge eintritt, die ich verabscheue – und weil sie falsch ist. Verglichen damit ist es ja kaum der Rede wert, noch die Untreue zu erwähnen.«

 

Mit einem Kopfnicken ging er weiter. Graham blieb auf dem Bürgersteig stehen und sah ihm nach, wie er die Straße überquerte und in der Menge verschwand.

 

Diana erwartete Graham Hallowell in ihrem Empfangszimmer. Mit feinem weiblichen Instinkt fand sie bald heraus, daß die beiden Brüder sich getroffen hatten.

 

»Er war wie gewöhnlich unfehlbar wie Gott selbst«, sagte Graham aufgebracht, als er sich in einem Sessel niederließ und in seiner Tasche nach der Zigarettendose suchte. »Er hat dir vergeben, aber er wünscht, nicht mehr mit dir in Berührung zu kommen.«

 

»Was hattest du denn erwartet?«

 

»Ich dachte, es würde leichter sein, wenn wir wieder zusammenkämen, aber der Mensch ist hart wie Stein.«

 

Sie wippte unruhig mit einem Fuß hin und her und beobachtete ihn scharf.

 

»Du bist ein Mann«, sagte sie. »Hast du denn mit ihm über eine Unterstützung gesprochen?«

 

Graham Hallowell lachte rauh.

 

»Unterstützung? Was glaubst du wohl, was Dick dazu gesagt hätte! Diese Frage hat er gleich von vornherein abgeschnitten. Aber abgesehen davon werde ich viel Geld verdienen, ohne irgendwie Gefahr zu laufen, wenn Trayne mich wirklich für eine Sache braucht.«

 

Diana biß sich nachdenklich auf ihre Lippen.

 

»Was ist das für eine Sache?« fragte sie.

 

»Wie, zum Teufel, soll ich das wissen?« Er war aufgeregt. »Trayne sagt dir doch nicht durchs Telefon, was er von dir will. Ich habe noch nie mit ihm in Verbindung gestanden. Du vielleicht schon, Diana?«

 

Sie ging der Frage aus dem Weg.

 

»Er ist sehr freigebig«, gab sie zu, »und sehr gefährlich.«

 

»Warum gefährlich?« fragte er schnell.

 

»Ich glaube bestimmt, daß Leute wie er gefährlich sind«, sagte sie noch in Gedanken. »Die Arbeit, die ich einmal für ihn leisten sollte, war nicht sehr schwer, aber ich übersehe nun, daß sie für seine Pläne notwendig war. Es ist jetzt zwei Jahre her, da ersuchte er mich, Lord Firlingham zu einem seiner Spielklubs am Portland Place mitzunehmen. Ich hatte nur zu erwähnen, daß mir dort einige Leute bekannt seien. Wir sprachen auf dem Rückweg von der Oper dort vor. Firlingham verlor vierzigtausend Pfund beim Bakkarat in jener Nacht. Ich erfuhr es erst einige Tage später, dann als ich ihn verließ, gewann er dauernd. Die Vermutung, daß sie ihm Geld abgenommen hatten, kam mir erst, als ich zweitausend Pfund in Banknoten erhielt.«

 

»Zweitausend Pfund?« Er begann leise zu pfeifen. »Der Mann bezahlt wirklich gut.«

 

»Zuerst gefiel mir die Sache nicht«, sagte sie vergnügt, »aber Firlingham ist ein schrecklicher Kerl, einer der unangenehmsten Menschen, die ich je kennenlernte.«

 

Sie schaute auf die kleine Uhr, die auf dem Kamin stand.

 

»Wir müssen gehen.«

 

Graham schaute sie überrascht an. »Willst du auch zu Tiger?«

 

Sie nickte.

 

»Ich bin von dritter Seite aufgefordert worden, dich zu begleiten – es soll nicht mein Nachteil sein«, sagte sie trocken.

 

Nicht weit entfernt vom Soho Square liegen die schönen Gebäude des Mousetrap-Klubs (Mausefallen-Klubs), eines Vereins, dessen Mitgliederliste einige der berühmtesten Namen des Landes aufweist. Der Luxus dieser Räumlichkeiten und andererseits die wenig vornehme Lage deuteten auf etwas Außergewöhnliches. Man flüsterte allgemein davon, daß hier sehr hoch gespielt wurde; aber der Klub war besonders wegen seiner guten Küche und der äußerst niedrigen Preise bekannt.

 

Obgleich man wußte, daß hier gespielt wurde, hatte der Klub doch nie die Aufmerksamkeit der Polizei erregt. Ein- oder zweimal mischten sich hohe Beamte von Scotland Yard unter die Gäste, aber sie konnten nichts Auffälliges bemerken, höchstens, daß man Bridge zu fünfzig Pfund für hundert Punkte spielte. Und da die Frage, zu welchem Satz Bridge gespielt wird, eine rein interne Angelegenheit ist und höchstens das Klubkomitee etwas angeht, schritt man nicht ein. Wenn Bakkarat gespielt wurde, geschah es ohne offizielles Wissen der Klubleitung. Kein Fremder wurde zu diesen Sitzungen zugelassen, es sei denn, daß man seiner ganz sicher war. Niemals tauchte die Vermutung auf, daß das Spiel nicht einwandfrei sei, und doch gewann Mr. Trayne, der sowohl hoch setzte als auch manchmal die Bank hielt, unweigerlich.

 

Die Tischzeit war schon vorüber, als Diana mit Graham in das vornehme, ruhige Vestibül trat.

 

»Mr. Trayne befindet sich im Sekretariat«, flüsterte der grauhaarige Portier, und die Besucher folgten ihm über einen mit dicken Teppichen belegten Korridor nach der Rückseite der Gebäude. Der alte Mann machte vor einer Tür aus Rosenholz halt und klopfte.

 

Eine Stimme rief: »Herein!« Der Portier öffnete, trat zur Seite und ließ sie in das Zimmer eintreten. Dann schloß er die Tür wieder hinter ihnen.

 

Im Raum befand sich nur ein älterer Herr, der näher an Sechzig als an Fünfzig sein mochte. Gelassen beobachtete er die Besucher mit seinen klugen blauen Augen. Sein kurzgeschnittenes Haar war grau. Das glattrasierte, ausdrucksvolle Gesicht hatte keine Falten: Selbst wenn er saß, fiel seine Größe auf. Seine stattliche, kräftige Gestalt mit den breiten Schultern machte einen imponierenden Eindruck. Zwischen seinen blendend weißen Zähnen hielt er das Ende einer Zigarre. Fast wäre man versucht gewesen, diese Zähne für künstlich zu halten, aber dazu waren sie nicht regelmäßig genug. Das war Tiger Trayne, im Charakter mehr ein Löwe als eine Katze und weit menschlicher, wenn man ihm gegenüberstand, als Diana erwartet hatte.

 

Er erhob sich langsam, nahm die Zigarre aus dem Mund und legte sie in die Aschenschale.

 

»Willkommen in unserem Lager«, sagte er mit einem humorvollen Lächeln. »Sie sind Diana Martyn?«

 

Er sprach mit einer tiefen, wohltönenden Stimme. Die Worte kamen bedachtsam aus seinem Mund. Diana war noch nie mit jemand zusammengekommen, der sie so angenehm enttäuschte. Sie ahnte jetzt dunkel, wie dieser Herrenmensch trotz seiner vielen verbrecherischen Unternehmungen es immer vermeiden konnte, in einem Prozeß vor den Gerichtsschranken zu erscheinen. Sie erinnerte sich an alles, was Colley ihr von ihm erzählt hatte, an die Fallen, die man ihm stellte, an das klug ausgearbeitete System, das man erdachte, um ihn zu fangen. Die Detektive zweier Weltteile hatten sich bemüht, diesen Tiger zu fangen, aber er hatte sie alle zum besten gehabt.

 

»Sie müßten sich doch noch auf mich besinnen können, Mr. Trayne«, sagte Diana. Man konnte seine Zähne sehen, als er lächelte.

 

»Es gehört zu meiner Politik, mich auf niemand zu besinnen und selbst meine besten Freunde als Fremde zu behandeln, die mir jedesmal neu vorgestellt werden müssen. Das ist ein sehr vernünftiges Prinzip – Sie sollten es sich auch zu eigen machen.«

 

Er sprach zu ihr, aber auf Graham ruhten seine Blicke.

 

»Und Sie sind Mr. Hallowell? Bitte, nehmen Sie Platz. Wünschen Sie Kaffee?«

 

Er drückte auf einen Knopf, und einen Augenblick später gab er den Auftrag, obgleich weder ein Dienstbote noch ein Telefon zu sehen war. Von der Wand antwortete eine tiefe Stimme: »Ja, Sir.« »Ich habe dort einen kleinen Lautsprecher anbringen lassen, er ist in der Holztäfelung. Sie können ihn nicht sehen.«

 

»Fürchten Sie denn nicht, daß man Sie belauschen könnte?« fragte Diana interessiert. Aber er lachte.

 

»Ich kann nur belauscht werden; wenn ich es wünsche. Sie waren auf dem Land?«

 

Er sprach zu Graham, der genügend mit dem Jargon seiner früheren Kameraden vertraut war, um die feine Anspielung auf seine Gefängniszeit richtig zu verstehen.

 

»Ja«, sagte er kurz.

 

»Das ist traurig – sehr traurig.« Tiger Traynes Stimme klang mitfühlend. »Sie hätten nicht aufs Land zu gehen brauchen, wenn jemand für Sie gedacht hätte. Generale sind arme Schlucker, wenn sie selbst mit dem Bajonett kämpfen wollen. Und die klügsten und tapfersten Soldaten würden wiederum als Generale wenig taugen.«

 

Er reichte Graham eine Kiste Zigarren.

 

»Niemand kann erfolgreich Verbrechen begehen, wenn er sich nicht auf den Standpunkt der Polizei stellt. Er muß wie ein Detektiv denken und Pläne machen lernen. Ein gewöhnlicher Einbrecher, der einen Coup plant, sieht nur seine Beute und ist blind gegen die Gefahren der Entdeckung. Wenn er mit seiner Überlegung fertig ist, geht er so an die Arbeit, daß er sich überall verdächtig macht, so daß ihn selbst ein kurzsichtiger Amateur fangen kann. Moderne Schlachten werden durch Scheinangriffe gegen markierte Stellungen gewonnen.«

 

Sie unterbrachen ihn nicht, denn sie verstanden sofort – wenigstens Diana –, daß hier nicht ein geschwätziger Mann sprach, um sich selbst reden zu hören oder um seine Kenntnisse und Weisheiten bewundern zu lassen, sondern daß jedes Wort seine besondere Bedeutung hatte.

 

»Wenn ich im Begriff wäre, einen großen Diebstahl zu begehen oder auszudenken … Jetzt kommt der Kaffee.«

 

Der verborgene Lift arbeitete geräuschlos, so daß die Besucher nichts hörten; als Tiger jedoch zur Wand ging und das Paneel zur Seite schob, stand ein Silbertablett mit dampfenden Tassen da. Er nahm es weg, setzte es auf den Tisch und schloß das Paneel durch Berühren eines Knopfes. Einen Augenblick hielt er den Kopf lauschend geneigt. Anscheinend war er befriedigt. Er nahm sich eine große Portion Sahne in seine eigene Tasse, rührte sie um und trank sie mit einem Zug aus.

 

»Wenn ich also einen großen Coup plante, der den Männern und Frauen, die daran mitarbeiten, sagen wir« – er machte eine Pause – »fünfzigtausend Pfund einbrächte, würde ich die Sache sehr sorgsam in allen Einzelheiten einstudieren. Ich würde den Mann sich darin üben lassen, leichte Leitern in die Höhe zu klettern, von einer bedeutenden Höhe herunterzuspringen und dabei wieder auf die Füße zu kommen. Ich würde ihn Exerziervorschriften lernen lassen für den Fall, daß er es mit Soldaten zu tun hätte, auch müßte er die speziellen Vorschriften und Gegebenheiten des Platzes kennen, den er aufsuchen soll. Über Flut und Ebbe müßte er genau Bescheid wissen …«

 

»Was soll denn unternommen werden?« fragte Graham ungeduldig.

 

Ein kalter, ruhiger Blick Traynes traf ihn.

 

»Habe ich denn überhaupt von einem Unternehmen gesprochen?« fragte er höflich, aber vorwurfsvoll. »Ich streife nur einige Gesichtspunkte.«

 

Ein warnender Blick Dianas brachte Graham zum Schweigen.

 

»Ich saß heute morgen hier in meinem Büro«, fuhr Trayne fort, »und träumte. Ich weiß nicht warum. Es muß wohl daher gekommen sein, daß ich den Bericht über einen Kriminalfall in Old Bailey gelesen habe, der gestern verhandelt wurde. Man muß sich immer wieder über den geringen Verstand der Verbrecher wundern. Es handelte sich um einen Mann, der wegen eines unbeholfenen Einbruchs ins Zuchthaus kam. Die Sache brachte ihm noch nicht einmal hundert Pfund ein. Wie unlogisch, dachte ich. Mit kleinerem Risiko und derselben Energie hätte er fünfzigtausend Pfund machen können, ohne daß man ihn faßte. Fünfzigtausend Pfund«, sagte er nachdrücklich. »Das ist eine Menge Geld.«

 

Er machte wieder eine Pause, als ob er eine Bemerkung darüber erwarte. Aber Graham Hallowell war durch Diana gewarnt und schwieg.

 

»Bei einem gewöhnlichen Einbruch ist kein Ruhm zu ernten«, sagte Trayne, indem er wie abwesend durch das Fenster auf den Soho Square schaute. »Wäre ich ein Einbrecher, dann würde ich Wert darauf legen, den Bericht über meine Taten mit großen Buchstaben an erster Stelle in den Zeitungen veröffentlicht zu sehen. Ich würde etwas so Außerordentliches tun, daß die ganze Welt über mich spräche.«

 

Wieder hielt er inne und sah zuerst Diana, dann Graham durchdringend an.

 

»Es sind jetzt dreihundert Jahre her, daß einmal ein Stümper einen der bedeutendsten Diebstähle aller Zeiten versuchte. Er war ein Trinker und Renommist, dieser dumme Kerl, und hätte doch beinahe Erfolg gehabt, ohne Flugzeuge oder Motorboote und alle die anderen Hilfsmittel, die die moderne Technik heute einem Mann an die Hand gibt. Dieser Oberst Blood –«

 

Obwohl sich Diana vorgenommen hatte, vollständig ruhig zu bleiben, konnte sie einen Schrei nicht unterdrücken. Auf Graham machte die Erwähnung dieses Namens anscheinend keinen Eindruck.

 

»Dieser Oberst Blood hatte einen ganz elenden Mißerfolg und hat ihn auch verdient. Ob er gehenkt wurde, weiß ich nicht, ich habe es vergessen. Wird einer gehenkt, weil er die Kronjuwelen stiehlt, so …«

 

Graham Hallowell sprang auf. Schrecken und Erstaunen zeigten sich in seinen Gesichtszügen.

 

»Die – die Kronjuwelen?« stieß er erregt hervor.

 

»Ihr Wert beträgt – wollen wir sagen, ungefähr eine Million Pfund Sterling.« Tiger Trayne überhörte die Unterbrechung. »Der ideelle Wert ist unendlich viel höher. Eine verrückte Idee, werden Sie sagen? Dasselbe dachte ich auch, als ich mir die Frage zum erstenmal vorlegte. Welche Befriedigung könnte ein Mann haben – es sei denn, daß er sich die Krone von England selbst auf seinen häßlichen Kopf setzen wollte –, nicht um sich von seinen armseligen Untertanen bewundern zu lassen, sondern heimlich in einem dunklen, heißen Zimmer in Kishlastan, zu dem nicht einmal die Frauen seines Harems Zutritt haben –«

 

Auch Diana fiel wieder aus der Rolle.

 

»Meinen Sie den Fürsten von Kish –«

 

Eine Handbewegung ließ sie verstummen.

 

»Ich kenne keine Fürsten. Indien ist ein Land, um das ich mich nicht kümmere. Ich kleide nur einige Bruchstücke meiner Träume in Worte. Ideen eines Verrückten …, aber Irre sind manchmal dem Genie nahe verwandt, und zuweilen werden ausgezeichnete Pläne in ihren sonst unbrauchbaren Hirnen geboren, besonders wenn sie von einer Leidenschaft besessen sind. Diese nehmen besondere Formen an. Manche Leute träumen nur von Weibern, manche nur von Macht. Ich kenne einen Mann, der Tag und Nacht auf nichts anderes als auf ein bestimmtes Kartenspiel versessen war. Ein anderer sammelte Porzellan und brach in Tränen aus, wenn ein Teller zerbrach. Andere wieder sind verrückt nach Juwelen und kostbaren Steinen –« Er seufzte. »Die menschlichen Begierden können nicht verallgemeinert werden, es gibt zu viele Möglichkeiten.« Nach einer Pause sagte er wieder: »Fünfzigtausend Pfund sind ein schönes Stück Geld, und das alles nur für einige Wochen Übung, sorgsame Befolgung von Instruktionen … Praktisch kein Risiko … Ein oder zwei eingeschlagene Schädel – natürlich Ihrer nicht ausgeschlossen –«, fügte er entschuldigend hinzu, »wenn sich das Merkwürdige ereignen sollte, daß Sie sich an einem solchen Abenteuer beteiligen würden.«

 

Graham Hallowell war blaß und zitterte. Er räusperte sich.

 

»Folgen noch weitere genaue Erklärungen?« fragte er.

 

Tiger Trayne stand auf, ging zu dem eingemauerten Geldschrank, schloß ihn mit einem Schlüssel auf, der an einer Kette hing, die an seiner Weste befestigt war, und nahm ein Manuskript heraus, das in braunes Papier eingebunden war. Es hatte die Größe eines dicken Schulbuches. Er blätterte rasch die einzelnen Seiten durch, und Graham sah, daß sie mit der Maschine geschrieben waren.

 

»Hier ist mein kleiner Roman, einer der wenigen, die ich geschrieben habe«, sagte Mr. Trayne. Er steckte sich langsam eine Zigarre an und stützte den Ellbogen auf das Buch. »Ich habe mir ein Beispiel an einem anderen Autor genommen. Ich lasse meine Geschichte in Ruritania spielen. In diesem Land gibt es nämlich eine Festung, die Strong genannt wird. Sie erhebt sich am Ufer eines großen Stromes und ist tausend Jahre alt. In dieser Festung steht ein Turm, der scharf bewacht wird und die Juwelen des regierenden Fürsten birgt. In meinen müßigen Augenblicken habe ich einen Plan ausgearbeitet, wie ein entschlossener, kluger Mann, der sich streng an seine Vorschriften hält, mit Erfolg diese Juwelen entführen kann. Es ist eine aufschlußreiche Erzählung. Und wenn Sie lesen, werden Sie merken, daß ich die Juwelen ›Frucht‹ genannt habe, und das Militär, das sie schützt, den ›Wachmann‹. Wenn durch irgendwelchen Zufall das Buch in unberufene Hände fallen sollte, würde es für jemand, der nicht eingeweiht ist, sehr schwer sein, die Zusammenhänge zu verstehen. Es ist nun die Frage« – er ließ die Blätter gleichgültig durch die Finger gleiten –, »haben Sie genügend Interesse, um diese kleine Geschichte genauer durchzustudieren?«

 

Graham nickte.

 

»Ein kleines, hübsch möbliertes Landhaus ist in der Morgenausgabe der Zeitung annonciert«, sagte Mr. Trayne. »Es steht in der dritten Spalte auf Seite 9 des ›Megaphone‹. Ich glaube, daß die Agenten Ihnen dieses Landhaus zu einem mäßigen Preis überlassen werden, wenn Sie es für ein bis zwei Monate mieten. Es wohnt ein Hausmeister dort, und ich zweifle nicht, daß Sie dieses Buch jeden Abend um zehn Uhr auf Ihrem Tisch vorfinden, ob Sie ihn höflich darum bitten oder nicht. Es wird erst morgens wieder fortgenommen, aber in weniger als einem Monat müssen Sie auch jedes Wort auswendig wissen.«

 

Er zog sein Notizbuch heraus, entnahm ihm einen Zeitungsausschnitt und gab ihn Graham.

 

»Hier ist die Annonce.«

 

»Ich will heute noch schreiben«, sagte Graham heiser.

 

Mr. Trayne nickte, schloß das Buch wieder in den Geldschrank ein, richtete sich gerade auf und schaute Diana vergnügt an.

 

»Für Sie habe ich einen anderen kleinen Roman, Miss Martyn«, sagte er. »Aber das will ich erst später einmal mit Ihnen besprechen.«

 

Er ging zum Fenster und blickte hinaus. Seine Hände steckten in den Taschen. Als Diana hinter ihm stehend hinausschaute, sah sie überrascht eine ihr bekannte Gestalt.

 

»Wie seltsam!« sagte sie.

 

»Was ist seltsam?« fragte Tiger Trayne, drehte sich aber dabei nicht um.

 

»Das ist doch die aufdringliche Frau, die heute morgen in meine Wohnung kam und mich fragte, ob ich eine Zofe brauchte! Die Person ging einfach in den Vorraum. Ich fand sie vor der Tür meines Empfangszimmers.«

 

»Wirklich?« Mr. Trayne wandte sich nicht um. »Das ist merkwürdig. Sie meinen die dicke Frau – wie nennt sie sich doch gleich?«

 

»Mrs. Ollorby«, sagte Diana. Trayne nickte ernst.

 

»Sie nannte ihren richtigen Namen. Es ist Emily Ollorby.«

 

»Kennen Sie die Frau?« fragte sie überrascht.

 

»Ja, ich kenne sie«, sagte er langsam. »Sie ist eine der tüchtigsten weiblichen Detektive in Scotland Yard. Ich hoffe, daß Sie keine wichtigen Dinge besprachen, bevor Sie die Frau vor Ihrer Tür entdeckten.« Diana fühlte, wie sie bleich wurde.

 

»Aber – was will sie denn herausbringen – warum ist sie hier? Ist sie mir gefolgt?«

 

Sie sprach ein wenig unzusammenhängend.

 

»Das ist leicht möglich. Bloße Neugierde ist eine Eigenschaft, die man einer Frau verzeihen muß, aber wenn Mrs. Ollorby neugierig ist, steckt immer etwas dahinter.«

 

Er drehte sich lächelnd nach ihr um.

 

»Ein Detektiv beobachtet nicht notwendigerweise, weil er etwas weiß, sondern weil er etwas wissen möchte. Ich bin während meines ganzen Lebens ununterbrochen so beobachtet worden, daß ich mich nicht wohl fühlen würde, wenn das aufhörte. Wahrscheinlich wünscht sie zu erfahren, warum Mr. Graham Hallowell Sie besucht oder, falls sie den Grund weiß, was für Pläne er für die Zukunft hat. Scotland Yard hat großes Interesse an Leuten, die eben aus dem Gefängnis kommen.«

 

»Beobachtet sie mich?« fragte Graham wild. »Dem will ich doch ein Ende machen –«

 

»Sie werden kein Ende machen!« Mr. Traynes Stimme war sehr höflich, aber auch sehr bestimmt. »Lassen Sie sie doch aufpassen – das ist gut für ihre Augen.«

 

»Sie sieht mehr wie eine Waschfrau aus,« sagte Diana erstaunt.

 

»Sie hat sehr viel schmutzige Wasche öffentlich gewaschen«, sagte Trayne ironisch. »Sie ist eine sehr tüchtige Frau, glauben Sie mir das. Vielleicht« – er zögerte –, »vielleicht wird es besser sein, Miss Martyn, wenn Sie das Landhaus in Cobham mieten und Ihren Freund Hallowell dorthin einladen. Das heißt, wenn Sie solch einen Verstoß gegen die guten Sitten überleben. Aber ich denke, das können Sie ruhig –« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich kann mich nicht genau darauf besinnen, wie lange Sie schon mit unserem Freund Graham verheiratet sind, aber ich glaube, es war einen Monat, bevor er ins Gefängnis kam.«

 

Diana kniff die Lippen zusammen, aber sie sagte nichts. Dieses kleine Geheimnis war also auch anderen Leuten bekannt.

 

»Es war doch auf dem Standesamt in Worcestershire?« fragte Trayne im Ton eines Mannes, der sich an etwas erinnert, das ihm aus dem Gedächtnis gekommen ist, »und zwar unter dem Namen – aber das tut ja nichts zur Sache.«

 

»Ich glaube auch«, sagte Diana kühl, »Sie haben ein ausgezeichnetes Informationsbüro, Mr. Trayne.«

 

»Es ist ziemlich vollständig«, sagte er. »Sie können mit Ihrem Gatten zusammen das Buch studieren.«

 

»Und wenn ich mich nicht daran beteiligen möchte?« fragte Diana. »Macht das einen Unterschied?«

 

Trayne zuckte die Schultern.

 

»Den Unterschied zwischen fünfzigtausend und hunderttausend Pfund«, sagte er. »Und später wird vielleicht noch mehr folgen. Stellen Sie sich doch einmal den Spektakel vor, der in der ganzen Welt entstehen wird, wenn die Sache klappt. Erinnern Sie sich noch an das Verschwinden des berühmten Gemäldes von Leonardo da Vinci, der Mona Lisa? Das müssen Sie verhundertfachen! Die ›Frucht‹, wir wollen es so nennen, ist fort. Die Zahlung des Herrn, in dessen Auftrag die Sache unternommen wurde, ist geleistet worden. Welche Summe, glauben Sie wohl, würden die Eigentümer der Frucht geben, um sie zurückzubekommen? Und sie würden keine Fragen stellen und von einer Strafverfolgung absehen, wenn die Wahrheit auch ans Tageslicht käme.«

 

»Sie meinen damit, daß Sie ein Doppelspiel treiben können?« begann Graham.

 

»Doppelspiel – das verstehe ich nicht«, sagte Mr. Trayne verbindlich. Er betrachtete aufmerksam die lange Asche seiner Zigarre.

 

»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen«, sagte er. »Ich bin sehr gespannt, was Mrs. Ollorby machen wird – ich glaube, daß der Mousetrap-Klub nicht länger von ihr überwacht wird, wenn Sie gegangen sind.«

 

Als sie sich erhoben, sagte Trayne: »Nebenbei bemerkt habe ich Mr. Colley Warrington nicht von mir aus ins Vertrauen gezogen. Ich sage Ihnen das ausdrücklich, damit Sie das nicht in einem unbedachten Moment vielleicht annehmen.«

 

Er hatte die Worte »von mir« ausdrücklich betont. Als sie heimwärtsfuhren, überlegte sich Diana, von wem Mr. Warrington denn ins Vertrauen gezogen worden war. Graham dachte an andere Dinge. Ab und zu blickte er durch das rückwärtige Fenster des Autos, um nach Mrs. Ollorby auszuschauen, die ihren Aufbruch vom Mousetrap-Klub mit so unverhohlenem Interesse beobachtet hatte.

 

Kapitel 6

 

6

 

Seine Hoheit, der Fürst von Kishlastan, saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem Diwan in seinem Privatzimmer. Seine glänzenden dunklen Augen schauten ins Leere. Die dünnen, braunen Hände spielten mit einer Smaragdkette, die um seinen Hals hing. Von Zeit zu Zeit zog er eine kleine goldene Dose aus seiner Tasche, nahm mit seinen Fingerspitzen etwas von dem gelben Pulver, mit dem sie halb gefüllt war, und brachte es auf seine Zunge.

 

Neben ihm lag eine Anzahl Zeitungsausschnitte. Nach einer Weile nahm er sie unzufrieden auf und las einen nach dem andern.

 

Rikisivi, Prinz von Kishlastan, war auf einer berühmten Schule in England erzogen worden. Er beherrschte das Englische vorzüglich. Seine Abneigung gegen seine Oberherren aber war so groß, daß er alle offiziellen Unterredungen durch einen Übersetzer führen ließ. Er war der Nachkomme einer Königsfamilie, die seit vielen Generationen regierte und schon in Indien herrschte, ehe noch die John Company dorthin kam. Seine Vorfahren waren Herren über Leben und Tod und hatten manchmal weise, häufiger aber ungerecht über ein entrechtetes Volk regiert, das seine Herrscher gleich Göttern verehrte. Und nun munkelte man von Absetzung. Man wollte einen Herrscher absetzen und einen anderen einsetzen. Es war möglich, daß man ihn aufforderte, abzudanken und in Paris von einer Regierungspension zu leben, während sein Nachfolger in den Besitz der ungeheuren Reichtümer käme, die während des tausendjährigen Bestehens der Dynastie angehäuft worden waren.

 

Das Vergehen, das ihn vor den Gouverneur von Pondichéry gebracht hatte, braucht nicht eingehend beschrieben zu werden. Es handelte sich um einen Mord, eine kaltblütige Abschlachtung, die Folterung einer Frau und das Verschwinden einer anderen. Die schöne Eurasierin, die mitten in den Säulengängen seines Palastes verschwand, war die Hauptursache seiner politischen Schwierigkeiten. Hätte man sie gefunden und verhört, so hätte das für ihn das Ende seiner Herrschaft bedeutet. Aber sie war nicht gefunden worden und würde auch nicht gefunden werden, bis die Erde ihre Toten wiedergab und man einen gewissen lieblichen Garten mit Spaten durchwühlte.

 

Daß er diese schlauen politischen Beamten hinters Licht geführt hatte, erheiterte ihn immer noch, und was er einmal fertiggebracht hatte, würde er auch wieder können, ohne daß mehr herauskam. Aber als seine dunklen, schwarzen Augen unbeweglich ins Leere starrten, kam ihm doch der Gedanke, daß es etwas ganz anderes sei, ein halb willfähriges Mädchen heimlich vom Basar in Kishlastan in seinen weißen Marmorpalast zu locken, als eine Europäerin als Opfer seiner Leidenschaft gegen ihren Willen viele tausend Meilen zur See und zu Land dorthin zu bringen. Wenn er sie allerdings einmal in Kishlastan hatte, würde kein Auge etwas sehen, kein Ohr etwas hören und keine Zunge etwas darüber erzählen, denn sein Volk war ihm in fanatischer Unterwürfigkeit ergeben. Das wäre eine wunderbare Rache an diesen Weißen gewesen, die ihn so geringschätzig behandelten und ihn, den rechtmäßigen Fürsten, nicht anerkannten…

 

Aber wie konnte man das ausführen? Er hatte schon ein Dutzend, ja Hunderte von Plänen ersonnen, um sie doch alle wieder zu verwerfen.

 

An der Tür, die mit einem dichten Vorhang verdeckt war, hörte er ein leises Klopfen. Der Dolmetscher kam herein und sprach leise mit seinem Herrn.

 

»Laß ihn näher treten«, nickte der Fürst. Colley Warrington wurde unter großen Zeremonien in den ruhigen Raum gebracht. Ob er endlich die Lösung bringen würde? Rikisivi beobachtete ihn gespannt durch halbgeschlossene Augenlider.

 

Mr. Warrington war einer der wenigen Günstlinge, die er zu jeder Zeit in Audienz empfing. Er hatte sich dem Inder in recht eigenartiger Weise brauchbar erwiesen, so daß Rikisivi mit ihm seine Absichten hätte frei besprechen können. Aber es wurden erst viele andere Dinge verhandelt, ehe sie auf ihr Hauptthema kamen, nämlich auf Hope Joyner.

 

»Die Sache wird sehr leicht gehen«, sagte Colley zuversichtlich. »Ob es allerdings möglich ist, sie durch ganz Indien nach Kishlastan zu bringen, müssen Sie besser wissen als ich. Ich kenne die Beschaffenheit der Küste nicht. Kann man an irgendeiner einsamen Stelle landen?«

 

Der Fürst nickte.

 

»Das ist sehr einfach«, sagte er. »Viel einfacher als hier in England. Eine Frau reist immer purdah, das heißt hinter verschlossenen Vorhängen, und es würde niemand ohne weiteres wagen, einen Wagen zu durchsuchen. Aber hier –« »Es wird mit Gefahren verknüpft sein«, sagte Colley, »aber es ist nicht unmöglich. In Wirklichkeit ist es nur eine Geldfrage, Hoheit. Wie werden Sie nach dem Osten zurückreisen?«

 

»Mit einem P. & O.-Dampfer«, sagte der Fürst. Colley rieb sich das Kinn.

 

»Dann müßten wir eine Jacht chartern, und auch das wäre gefährlich. Man ist dabei zu sehr auf die Ergebenheit der Schiffsbesatzung angewiesen. Aber man könnte es wagen.«

 

Er nannte eine Summe – ein großes Vermögen –, aber Riki überging die Geldfrage mit einer ungeduldigen Geste.

 

»Geld ist – nichts. Sie brauchen Hilfe. Dieser Mr. Trayne –«

 

»Nein, nicht Trayne«, sagte Colley entschieden. »Ich weiß, daß Sie gewisse Geschäfte mit ihm machen, und ich kümmere mich auch gar nicht darum, was es ist. Aber Trayne würde die ganze Sache sofort hintertreiben. Er ist besonders bedenklich, wenn es sich um Frauen handelt.«

 

Er erzählte eine Geschichte über Traynes Empfindlichkeit in diesem Punkt, die sehr glaubwürdig schien, wenn man Tiger Trayne kannte. Er erwähnte auch etwas von Seeräuberei auf offenem Meer, denn Mr. Trayne hatte viel Interessen, und seine Unternehmungen zogen sich über die halbe Welt.

 

»Nein, ich kenne sie nicht«, sagte er, indem er eine Frage des Fürsten beantwortete. »Einige meiner Freunde kennen sie. Sie ist sehr schön… Ich glaube nicht, daß sie freiwillig mitgeht.«

 

Der Inder schaute ihn verwundert an.

 

»Halten Sie mich denn für einen solchen Narren, daß ich sie erst fragen würde? Nein, ich werde sie jetzt nicht wiedersehen. Ich habe einen Entschuldigungsbrief geschrieben wegen meines Mißgriffs mit den Perlen. Das ist das Ende unserer Bekanntschaft. Miss Martyn kennt die junge Dame. Würde die Ihnen nicht helfen können?«

 

Colley zögerte. Er selbst war sich der Nichtswürdigkeit des Planes, den er so kaltblütig ausführen wollte, nicht bewußt. Er hatte sein ganzes Leben in solchem Schlamm und Schmutz zugebracht, daß alles Rechts- und Anstandsgefühl in ihm erstorben war. Er handelte schon lange mit sehr delikater Ware. Ehre, Selbstachtung, Anstand und alle diese großen, reinen Tugenden waren für ihn Begriffe und Eigenschaften, die für ihn nicht galten. Er hatte einen eigenen Maßstab für die Bewertung menschlicher Handlungen, trotzdem hatte auch er seine Ideale – Colley rühmte sich, daß er keinem Mann einen Penny schuldete und eine Frau noch nie eine Sekunde habe warten lassen, wenn er sich mit ihr verabredet hatte.

 

Er fuhr mit seinem Wagen zu Diana. Als er ankam, sah er sie mit Graham in den Torweg des Hauses verschwinden. Er fand, daß die beiden äußerst schweigsam und mit sich selbst beschäftigt waren.

 

»Was wollte Trayne?« fragte er gleich, als er ins Zimmer trat.

 

»Nicht viel«, sagte Diana vorsichtig.

 

»Ein merkwürdiger Kerl, der Alte. Man sagt, daß er alle europäischen Sprachen mit Ausnahme des Ungarischen beherrscht. Nebenbei bemerkt, Diana, haben Sie die kleine Joyner vor kurzem gesehen?«

 

Sie schaute ihn argwöhnisch an.

 

»Mit ›kleine Joyner‹ meinen Sie doch das merkwürdige junge Mädchen, das in Devonshire House wohnt? Nein, wir besuchen einander nicht. Warum wollen Sie das wissen?«

 

»Ich dachte, ich hätte sie gesehen, als ich hierherfuhr«, sagte er. Dann fragte er wieder: »Was wollte Trayne?«

 

Diana war gewandter im Lügen als Graham.

 

»Er will einen neuen Spielklub aufmachen«, sagte sie. »Aber ich sagte ihm, daß ich kein Interesse dafür habe.«

 

Er beobachtete sie mit durchdringenden Blicken, und sie wußte schon, ehe er sprach, daß er an ihren Worten zweifelte.

 

»Das sieht Trayne aber nicht ähnlich – für gewöhnlich fragt er keinen Outsider, wenn er etwas unternimmt«, sagte er.

 

»Vielleicht wollte er über Hope Joyner mit uns sprechen«, brachte Diana mühsam heraus.

 

Sie sagte das aufs Geratewohl, bemerkte aber, wie sich sein Gesichtsausdruck änderte.

 

»Tat er das?« fragte er. »Was wollte er denn über sie wissen?«

 

Er verriet sich in diesem Augenblick des Erstaunens beinahe selbst. Aber er kam ebenso schnell wieder zu sich, als er in ihr Gesicht schaute. Er lachte.

 

»Ich würde mich über nichts wundern, was Tiger tut«, sagte er mit dem Anschein von Gleichgültigkeit. Aber er konnte die beiden dadurch nicht täuschen. »Und betraf sein Angebot – ich vermute, daß er Ihnen ein Angebot machte – auch Graham?«

 

Seine Stimme klang höhnisch. Er hatte niemals ein Hehl daraus gemacht, daß er Graham nicht leiden konnte, und Diana hatte sich oft die Frage vorgelegt, ob Colley Warrington hinter das »Geheimnis« gekommen war.

 

»Ich glaube nicht, daß Tiger einverstanden ist, wenn Sie in seinen Geheimnissen herumschnüffeln«, fuhr Colley fort. »Er ist ein komischer Bursche, wie ich schon vorhin sagte, und je weniger man mit ihm zu tun hat, desto besser ist es.«

 

Er brachte das Gespräch auf ein anderes Thema, und sofort stellte Diana eine überraschende Frage. Diesmal jedoch war Colley nicht informiert. »Mrs. Ollorby?« sagte er. »Nein, ich wüßte nicht, daß ich von dieser Dame gehört hätte. Hat sie mit uns zu tun?«

 

Anscheinend wußte er nichts von dieser Frau, und Diana hielt es für klüger, nicht weiter zu fragen.

 

Mrs. Ollorby begann sie allmählich aufzuregen, ständig war sie im Hintergrund ihrer Gedanken – obgleich sie so unwichtig war. Wenn sie jemand beobachtete, war viel eher Trayne der Gegenstand ihrer Wißbegierde. Die richtige Erklärung für Dianas Unbehagen lag vielleicht darin, daß sie vorher niemals auch nur entfernt mit der Polizei zu tun gehabt hatte. Sollte sie jetzt mit ihr in Berührung kommen? Das war kein angenehmer Gedanke.

 

Die Stunden gingen dahin, und allmählich wurde ihr die Ungeheuerlichkeit dieses Planes klar. Sie verbrachte eine schlaflose Nacht und warf sich auf ihrem Lager hin und her. Als der Morgen dämmerte, war sie halb entschlossen, nicht weiter mitzumachen. Dies teilte sie Graham mit, als er nach dem Frühstück zu ihr kam.

 

Er lachte höhnisch.

 

»Es ist keine Gefahr dabei, wenn Trayne dahintersteckt«, sagte er. »Fünfzigtausend Pfund und die Aussicht auf das Vermögen eines Radschas mögen für dich nichts bedeuten, aber für mich bedeuten sie sehr viel. Ich habe dieses Hundeleben satt.«

 

»Mrs. Ollorby –«, begann sie.

 

»Mrs. Fiedelbogen!« sagte er spöttisch. »Was hat sie denn mit uns zu tun? Sie beobachtet den Mousetrap-Klub.«

 

Diana schüttelte den Kopf.

 

»Warum kam sie dann hierher?« fragte sie. »Warum stand sie vor meiner Tür und lauschte? Ich glaube jetzt bestimmt, daß Dombret die Wahrheit sprach, als sie sagte, sie hätte die Haupttür geschlossen – diese Frau muß selbst einen Schlüssel gehabt haben. Ich bin mißtrauisch geworden, Graham, und du solltest es auch sein, wenn du dir die Sache überlegst.«

 

Er biß sich auf die Lippe und runzelte die Stirn.

 

»Wir müßten mit Trayne über die Frau sprechen«, sagte er. »Wenn ich ihn heute morgen sehen kann, werde ich ihn fragen, was er davon hält.«

 

*

 

Als er an der Tür klingelte, war Mr. Trayne nicht da – wenigstens wurde ihm diese Mitteilung gemacht. Der weißhaarige Portier vermutete, daß Mr. Trayne vielleicht im Café Royale frühstückte. Graham schlenderte durch Piccadilly und hatte kaum an einem der Marmortische in dem langen Raum Platz genommen, als er Trayne eintreten sah, eine Zigarre zwischen den Zähnen. Nach einem kurzen Blick über das Lokal ging er gemächlich auf Hallowell zu. Graham sprach mit ihm über die Ereignisse des letzten Tages, und zu seiner Überraschung legte Tiger der Sache größeren Wert bei, als er angenommen hatte.

 

»Worüber sprach Miss Martyn damals?«

 

»Ich weiß es nicht mehr«, sagte Graham. »Natürlich wird es ein Zufall gewesen sein, daß sie überhaupt in die Wohnung kam –«

 

Trayne schüttelte den Kopf.

 

»Mrs. Ollorby tut nichts zufällig!« sagte er. »Ich nehme den Hut ab vor dieser Frau! Wenn es ein Zufall war, warum gab sie dann vor, Stellenvermittlerin zu sein? Nein, das war kein Zufall. Sie kam mit Absicht, öffnete die Tür, weil ihr etwas verdächtig war. Was konnte ihr aber verdächtig erscheinen, da sie ja noch nicht wußte, daß ich Miss Martyn sprechen wollte?«

 

Er zog gedankenvoll die Lippen durch die Zähne.

 

»Vielleicht spürte sie gar nicht Ihrer Frau, sondern Ihnen nach«, sagte er. »Das ist beunruhigend.«

 

»Beunruhigt Sie das?« fragte Graham.

 

Ein vergnügtes Lächeln huschte über das markante Gesicht Traynes.

 

»Mich nicht«, sagte er fast fröhlich. »Ich kenne zufällig Mrs. Ollorbys Stellung in Scotland Yard.«

 

Er erzählte, daß die starke Frau einst Polizistin war und die offizielle Position bei dem Polizeipräsidium ihrem außerordentlichen Gedächtnis für Gesichter verdankte. Sie hatte ein Bild von Bert Howle gesehen, einem Mann, nach dem die Polizei ganz Europas fahndete, und hatte ihn nicht nur erkannt, sondern auch seine Verhaftung durchgeführt und ihn mit Hilfe eines Polizisten auf die Wache gebracht.

 

»Sie führt eine Art Vagabundenleben, in Wirklichkeit deckt sie aber Verbrechen auf«, erklärte Tiger. »Ich habe niemals gehört, daß sie an einen besonderen Platz gestellt wurde. Ihr Geschäft besteht darin, Arbeit für ihre männlichen Kollegen zu schaffen. Und sie ist erfolgreich gewesen!«

 

Er zählte eine Reihe von Fällen auf, die die Frau aufgeklärt hatte, und Graham war überrascht.

 

»Sie ist offiziell Beamtin von Scotland Yard«, fuhr Tiger fort. »Aber Sie müssen nicht erschrecken, daß sie Ihnen ihre Aufmerksamkeit schenkt – die Tatsache, daß sie Sie beobachtet, bedeutet nicht, daß Sie bereits wegen irgendeines Verstoßes verdächtigt werden, sondern daß sie hofft, Sie verdächtigen zu können!«

 

Er gab keine weitere Auskunft über Mrs. Ollorby.

 

Graham erwartete nähere Einzelheiten über den großen Plan, und es schien, als würde das Gespräch da wieder aufgenommen, wo es gestern geendet hatte, als Tiger Trayne ihn fragte, ob er dem Agenten geschrieben hätte. Aber anscheinend hatte er nicht die Absicht, den Gegenstand weiter zu erörtern, denn er sprach dann von einem gemeinsamen Bekannten. Erst als Graham gezahlt und Trayne sich erhoben hatte, um zu gehen, kam er auf das Tower-Abenteuer zurück, und zwar in einer so indirekten und dunklen Art, daß Graham der Zusammenhang mit dem Plan erst klar wurde, als Tiger schon gegangen war.

 

»Vermutlich interessieren Sie sich wenig für Schiffahrt?« fragte er ganz beiläufig.

 

Graham schüttelte den Kopf.

 

»Haben Sie zufällig einmal die ›Pretty Anne‹ gesehen oder von ihr gehört?«

 

»Nein«, erwiderte Graham. »Ist das ein Fischerboot?«

 

»Es ist kein Fischerboot.«

 

Trayne war sehr vorsichtig. Es war beinahe, als ob er ein Urteil zu fällen hätte, so sorgsam wählte er seine Worte aus.

 

»Die ›Pretty Anne‹ ist ein Dampfer, aber nicht groß und auch gerade nicht unter Klasse A I in Lloyds Register eingetragen. – Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich mich ein wenig mit der ›Pretty Anne‹ beschäftigen und die Bekanntschaft mit ihrem Kapitän und ihrem Eigentümer suchen.« Er machte eine Pause. »Sein Name ist Eli Boß, und er ist kein – wie soll ich sagen – kein gebildeter Mann! Sie werden ihn nicht im Marineklub treffen – sein Lieblingsaufenthalt ist, wie ich vermute, das Gasthaus ›Drei Lustige Matrosen‹ in Limehouse.« Graham hörte überrascht zu.

 

»Wünschen Sie, daß ich seine Bekanntschaft mache?« fragte er. Mr. Trayne lächelte.

 

»Ich wünsche, daß Sie tun, was Sie wollen. Ich bestehe wirklich nicht darauf, daß Sie das Landhaus nehmen, aber wenn Sie es tun, würde es mir angenehm sein. Ich stelle nicht die Forderung, daß Sie die Bekanntschaft mit Eli Boß suchen sollen, aber wenn Sie es zufällig tun, freue ich mich.« Dann fuhr er fort: »Wollen Sie bitte noch fünf Minuten warten, wenn ich gegangen bin? Es ist besser, man sieht uns nicht zusammen auf der Straße.«

 

Graham erinnerte sich einer Frage, die er ihm stellen wollte.

 

»Wir erhalten eine gewisse Summe, wenn wir Erfolg haben«, sagte er und senkte die Stimme. »Was aber, wenn wir ohne unsere Schuld einen Mißerfolg haben?«

 

Wieder das seltsame Lächeln.

 

»Sie können keinen Mißerfolg haben«, war die einfache Antwort. »Hinter diesem kleinen Abenteuer steht ein Wille.«

 

Kapitel 2

 

2

 

Das Telefon läutete schon zum drittenmal. Diana Martyn legte endlich den kleinen, langhaarigen Schoßhund auf ein Kissen und nahm nachlässig den Hörer ab. Es war natürlich Colley, der sie wie immer mit Vorwürfen quälte, weil es zu lange dauerte, bis sie sich meldete.

 

»Wenn wir gewußt hätten, daß Eure gestrenge Hoheit am Apparat wären, hätten wir uns gleich beim ersten Läuten beeilt«, sagte Diana ironisch.

 

Colley ärgerte sich über diesen Ton. Er haßte sarkastische Frauen.

 

»Kannst du mich zum Essen bei Ciro treffen?« fragte er.

 

»Nein, wir können mit Euch nirgends speisen. Mr. Graham Hallowell wird heute bei mir zu Tisch sein.«

 

Anscheinend war die Nachricht eine Überraschung für ihn.

 

»Hallowell? Ich kann dich nicht deutlich verstehen, Diana – rauchst du?«

 

Sie blies eine graue Wolke zur Decke und streifte dann die Asche ihrer Zigarette in die Kristallschale.

 

»Nein«, sagte sie. »Aber ich bin heute morgen etwas durcheinander. Die Aussicht, mit einem Mann allein zu sein, der gerade aus dem Gefängnis kommt, ist wenig verlockend. Er sieht im Augenblick nicht eben zum Fotografieren aus. Auch war er wirklich nicht zu Unrecht verurteilt –«

 

»Höre einmal, Di –«

 

»Du sollst mich nicht immer Di nennen«, unterbrach sie ihn ärgerlich.

 

»Diana, der große Herr möchte dich sprechen – in allen Ehren – er sagte es mir –«

 

»Bestelle dem großen Herrn, daß ich ihn nicht sehen will«, entgegnete sie ruhig. »Ein Verbrecher am Tag bringt gerade genug Ärger.«

 

Er schwieg einen Augenblick.

 

»Sei doch nicht so komisch, ich glaube ja gar nicht, daß du mit Hallowell speist!«

 

Sie legte den Hörer auf den Tisch und nahm ihr Buch wieder auf. Wenn Colley Warrington ungezogen oder schwierig wurde, legte sie unweigerlich den Hörer fort und ließ ihn ruhig summen.

 

Und Colley konnte sehr unangenehm sein. Manchmal war er in sie verliebt; und manchmal war er rasend eifersüchtig. Augenblicklich war er wieder ihr Liebhaber, aber er langweilte sie.

 

Es wurde leise an die Tür geklopft. Dombret kam herein, ihr Taftkleid rauschte. Diana kleidete ihre Zofe stets in dunkelrote Taftseide und bestand auf Tändelschürzen und hohen Frisuren, wie sie die Kellnerinnen in den Cafés tragen. Dombret war zwanzig Jahre alt und sehr hübsch. Die knisternde Seide kleidete sie gut.

 

»Wollen Sie Miss Joyner empfangen, gnädiges Fräulein?«

 

»Miss Joyner?« Diana starrte die Zofe an. »Haben Sie richtig gehört? – Miss Joyner?«

 

»Jawohl, gnädiges Fräulein. Eine sehr hübsche junge Dame.«

 

Diana überlegte schnell.

 

»Bitten Sie die Dame, näher zu treten.«

 

Dombret verließ das Zimmer nur einen Augenblick.

 

»Miss Joyner.«

 

Diana ging quer über das Parkett. Sie streckte dem Besuch ihre Hand entgegen. Ein entzücktes Lächeln spielte auf ihrem blassen Gesicht. Sie trat selbstbewußt auf, denn sie wußte, wie vollendet die Linien ihrer Gestalt waren und wie verführerisch ihr rötlich-blondes Haar glänzte.

 

»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie kommen, Miss Joyner.«

 

Hope Joyner nahm die Hand. Ihre klaren grauen Augen begegneten Dianas Blick weder feindlich noch argwöhnisch. Sie war drei Jahre jünger als Diana und befand sich in dem Alter, in dem es schwierig ist, sich an das Aussehen vor einem Jahr zu erinnern.

 

»Ist Ihnen mein Besuch auch recht?« fragte sie.

 

Das also war Hope Joyner. Sie sah liebreizend aus. Diana war sehr kritisch, aber hier fand sie nichts auszusetzen, weder an ihrer Figur noch an ihrer Stimme, noch am Teint.

 

»Es ist mir sehr angenehm – bitte, nehmen Sie Platz!«

 

Sie nahm das verschlafene Hündchen vom Kissen. Durch heftiges Bellen protestierte der Kleine, bis er durch einen Puff zur Ruhe gebracht wurde. Prügel und Liebkosungen wechselten bei Togo ab, daran war er schon gewöhnt. Aber Hope blieb stehen. Nur ihre weiße Hand legte sie auf die Polsterlehne des Sessels.

 

»Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen – einen sehr merkwürdigen Brief«, sagte sie. »Darf ich ihn noch einmal vorlesen? Vielleicht haben Sie vergessen, was Sie geschrieben haben.«

 

Diana vergaß solche Dinge nie, aber sie erhob keinen Widerspruch. Sie beobachtete das Mädchen mit besonderem Interesse, als sie ihre Handtasche öffnete. Hope zog einen Umschlag heraus und entnahm diesem einen schweren grauen Bogen. Ohne Einleitung begann sie zu lesen:

 

»Liebe Miss Joyner, ich hoffe, Sie werden es nicht unverschämt von mir finden, daß ich Ihnen in einer Angelegenheit, die mich nahe angeht, schreibe. Ich weiß genug von Ihnen, um zu glauben, daß Sie mein Vertrauen respektieren werden. Kurz gesagt, ich bin in einer verwirrenden Lage. Vor Ihrem Erscheinen war ich mit Sir Richard Hallowell verlobt. Wir sind durch eine Familienangelegenheit, die kein besonderes Interesse für Sie hat, zur Zeit entfremdet. Sie sind mit ihm in der letzten Zeit sehr häufig gesehen worden, und man spricht sehr unfreundlich von Ihnen. Man fragt, wer Sie sind, woher Sie kommen, wie es mit Ihrer Familie steht. Dies geht mich jedoch weniger an als meine persönliche Lage. Ich liebe Dick zärtlich, und er liebt mich, obgleich wir im Augenblick nicht miteinander sprechen. Darf ich mich nun an Ihre Großmut wenden und Sie bitten, uns eine Gelegenheit zu geben, unsere Freundschaft zu erneuern?«

 

Als sie zu Ende war, steckte sie den Brief wieder in ihre Handtasche und schloß sie leise.

 

»Ich glaube nicht, daß ich eine unvernünftige Bitte an Sie gerichtet habe«, sagte Diana kühl.

 

»Ich soll mich selbst unglücklich machen?« fragte Hope mit ruhiger, betonter Stimme. »Warum denn? Sie haben doch alle Vorteile auf Ihrer Seite. Nehmen Sie sich nicht etwas viel heraus?«

 

Diana biß sich gedankenvoll auf die Lippen.

 

»Es mag sein – es war ein dummer Brief, aber ich war etwas verwirrt. Aber das macht ja nichts. Sie sind ja nur seine Freundin und sorgen sich um ihn –«

 

Hope schüttelte den Kopf.

 

»Das meine ich nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht zuviel herausnehmen, wenn Sie ein so großes Opfer von mir verlangen?«

 

Diana kniff die Augen zusammen.

 

»Sie meinen – daß Sie ihn lieben?«

 

»Ja, das meine ich«, sagte sie.

 

Dieses Bekenntnis nahm Diana den Atem, und es dauerte einige Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte.

 

»Wie interessant!« sagte sie, aber Hope Joyner reagierte auf die höhnische Bemerkung nicht. »Ich muß also annehmen, daß meine verständliche Bitte Sie von Ihrem« – sie machte eine wohlüberlegte Pause – »ehrgeizigen Plan nicht abhält?«

 

»Ist es denn so ehrgeizig«, fragte Hope mit verblüffender Unschuld. »Dick Hallowell gern zu haben oder ihn zu lieben?«

 

Diana nahm sich zusammen. Sie hatte nicht erwartet, daß ihr der Brief von Nutzen sein konnte, sie hatte ihn nur in einer Laune geschrieben. Vielleicht beabsichtigte sie, Dick Hallowell zu verletzen oder zu ärgern. Und jetzt, da das Mädchen mit ihrem reinen, festen Vertrauen zur Liebe vor ihr stand, sah sie eine Herausforderung darin, daß sie hierherkam und ihr furchtlos in die Augen schaute. Und es war nicht gut, Diana herauszufordern.

 

Es war seltsam, daß in diesem Augenblick alles längst erstorbene Gefühl wieder in ihr lebendig wurde und die Glut, die sie vor vier Jahren verzehrt hatte, wieder heiß aufloderte. Die dunklen Schatten früherer Möglichkeiten tauchten in ihr auf …

 

Hope sah, wie Diana schluckte und wie sie die Zähne aufeinanderbiß, selbst als sie lächelte.

 

»Ich will Ihnen etwas zeigen.«

 

Diana sprach mit einer ihr selbst fremden Stimme. Sie verließ den Raum für einige Sekunden. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines Lederkästchen in der Hand. Sie drückte den Deckel auf. Es lag ein Ring mit drei feurigen Brillanten darin. Sie nahm ihn heraus und gab ihn Hope, die darüber nicht gerade erfreut war.

 

»Lesen Sie bitte die Inschrift.«

 

Mechanisch tat sie es, obgleich es ihr unangenehm war. Auf der Innenseite war eingraviert: »Dick seiner Diana.«

 

Hope gab den Ring zurück.

 

»Nun?« fragte Diana.

 

»Ein Verlobungsring?«

 

Diana nickte, Hope schaute sie verwirrt an.

 

»Ändert denn das – etwas an der Lage?« fragte sie. »Wiegt dieser Grund schwerer als das, was Sie mir bereits gesagt haben? Sollte ich deswegen Dick Hallowell meiden? Ich weiß, daß Sie mit ihm verlobt waren – wenigstens sagte er mir, daß er früher verlobt war. Die meisten Leute sind mehr als einmal verlobt, nicht wahr? Miss Martyn, erwarten Sie im Ernst von mir, daß ich Richard Hallowell nicht wiedersehen soll?«

 

»Ich erwarte von Ihnen, daß Sie tun, was Ihnen beliebt.« Dianas Stimme klang beinahe streng. Dann zuckte sie die Schultern. »Es ist natürlich eine Sache des Geschmacks und der guten Erziehung.« Sie schaute auf Hopes Handtasche. »Vielleicht war es doch zu indiskret, einen solchen Brief zu schreiben«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Geben Sie ihn mir bitte zurück.«

 

Wieder trafen sich ihre Augen. Dann machte Hope ihre Handtasche auf, nahm den Brief heraus, riß ihn in vier Stücke und legte die Papierfetzen auf den Tisch. Mit einem leichten Nicken verließ sie den Raum so unerwartet, daß die neugierige Dombret, die ihr Ohr ans Schlüsselloch gelegt hatte, beinahe ins Zimmer gefallen wäre, als Hope die Tür öffnete.

 

Diana ging zum Fenster, um sie noch einmal zu sehen, wenn sie das Haus verließ, aber sie bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Warum in aller Welt …?

 

Diana Martyn war über sich selbst und über ihre Motive im unklaren. Sie hatte schon vor Jahren alle Gedanken an Dick Hallowell aufgegeben. Er bedeutete ihr kaum noch etwas. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, warum sie diesen Brief geschrieben hatte. Es war etwas Unberechenbares in Diana Martyn, eine merkwürdige Bosheit, die sie schon früher in manche kleine – einmal sogar in eine große – Unannehmlichkeit gebracht hatte. Sie mochte nicht mehr an diesen Brief denken, da er mit Dick Hallowell zu tun hatte. Sie hatte ihn böswilligerweise geschrieben, denn sie zweifelte nicht, daß Hope ihm das Schreiben zeigen würde, und erwartete dann von ihm einen jener wütenden Briefe, die er schreiben konnte. Auf keinen Fall hatte sie angenommen, daß diese Hope mit ihrer ruhigen, aufreizenden Schönheit hier in ihrer eigenen Wohnung erscheinen würde.

 

Sie versuchte ihrer Erregung Herr zu werden, als Dombret eintrat, um einen Besuch anzumelden, der ihr auf dem Fuß folgte. Diana saß in einem der breiten Sessel am Fenster, das eine gute Übersicht auf die Curzon Street ermöglichte. Ihre Arme waren gekreuzt, mit einer Hand stützte sie ihr Kinn. Als der Besucher hereinkam, betrachtete sie kritisch und unbarmherzig seinen schäbigen Anzug. Er blickte düster drein und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sie wartete, bis sich die Tür hinter Dombret geschlossen hatte, dann fragte sie: »Warum?«

 

»Was willst du mit dem ›Warum‹ sagen?« entgegnete er rauh.

 

»Warum kommst du so abgerissen?«

 

Graham Hallowell schaute an seinem schmutzigen Anzug hinunter und grinste. »Ich vergaß, mich umzuziehen«, sagte er.

 

Sie nickte langsam.

 

»Du hast in diesem Aufzug den großen Richard besucht– hat deine sichtliche Armut keinen Eindruck auf ihn gemacht?«

 

Er ließ sich in einen großen Sessel fallen, zog eine Packung Zigaretten hervor und zündete eine an, ohne zu antworten.

 

»Hast du einen besonderen Grund, in der Curzon Street als Vagabund aufzutauchen? Mich läßt das ganz kalt.«

 

»Auch er war nicht sehr erbaut«, sagte er, indem er eine Rauchwolke zur Decke emporblies und wartete, bis sie sich auflöste. »Er gab mir schäbige fünfzig Pfund – beinahe hätte ich sie ihm an den Kopf geworfen!«

 

»Aber du hast es doch bleibenlassen!«

 

Er ließ sich durch ihren höhnischen Ton nicht aufbringen. Das gehörte eben einmal zu ihr. Früher hatten ihn ihre spöttischen Bemerkungen wild und verrückt gemacht, aber das war schon sehr lange her.

 

»Ich vermute«, sagte sie gedankenvoll, »daß du dir einbildest, er zahlt dir irgendeine Summe, die du ihm nennst, nur um dich loszuwerden. Natürlich hat er das nicht getan. Ich wollte, du kenntest Dick so genau wie ich.«

 

»Ich kenne ihn nur zu genau«, grollte er, »diesen niederträchtigen Pharisäer!«

 

Sie antwortete ihm lange nicht. Ihre weißen Zähne preßten sich in die Unterlippe.

 

»Nein, Dick ist kein Pharisäer.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Er hat mich nicht erwähnt?«

 

»Er sagte, daß er von dir nichts mehr hören wollte. Wenn dir das eine Genugtuung ist –«

 

Sie nickte.

 

»Was soviel heißt, daß du über mich gesprochen hast.«

 

»Er hat eine neue Liebe«, platzte Graham heraus. »Und sie ist tatsächlich eine Schönheit; ich sah, wie sie zusammen den Tower besichtigten.«

 

Sie schien sich nicht dafür zu interessieren. Er schaute sich prüfend im Raum um und hätte gerne eine Frage gestellt, wenn er den Mut dazu gefunden hätte. Er empfand dieser Frau gegenüber stets eine gewisse Scheu, wenn nicht Furcht.

 

»Du hast eine herrliche Wohnung, Diana. Ich bin nicht gerade neugierig, wundere mich aber doch, wie du das machen kannst. Wenn ich mich recht besinne, bewohntest du ein paar möblierte Zimmer, als ich fortging. Ich erfuhr von deinem Wohnungswechsel – aber diese Pracht ist wirklich verblüffend.«

 

Wie er wußte, hatte sie ein Einkommen von ein paar hundert Pfund im Jahr, die kaum ausreichten, um die Miete für diese Wohnung zu bezahlen. Sie schriftstellerte ein wenig und hatte ausgezeichnete Verbindungen mit Fleet Street. Aber ihre träge Veranlagung ließ diese Einnahmequelle nicht groß werden. Sie lächelte ein wenig unzufrieden.

 

»Du fürchtest wohl das Schlimmste? Das brauchst du nicht, ich bin jetzt sehr tätig. Hast du vom Fürsten von Kishlastan gehört?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Du weißt nichts von ihm?« Sie zeigte mit ihrer Hand ringsumher. »Das verdanke ich alles seiner Güte!«

 

Sie lachte über die Bestürzung, die sich in seinem Gesicht zeigte.

 

»Ich bin als seine Hof Journalistin tätig«, sagte sie dann kühl. »Das klingt zwar nicht nach einer erstklassigen Anstellung, aber es bringt mir im Jahr viertausend Pfund ein, und ich glaube, daß ich mein Geld verdient habe. Der Fürst beklagt sich über die Welt im allgemeinen und über die Regierung im besonderen. Colley Warrington hat mich ihm vor zwei Jahren vorgestellt. Ich glaube, daß er versucht hat, unseren unheimlich reichen Freund ein wenig zur Ader zu lassen, aber er hatte wohl kein Glück damit und wollte mich nun ins Geschäft bringen. Es gelang mir schnell, das volle Vertrauen des Fürsten zu erwerben, und es war mir bald möglich, mir einen einträglichen Posten zu sichern. – Er hat nämlich zwei Salutschüsse eingebüßt –«

 

»Was sagtest du eben? Zwei …?« fragte Graham verständnislos.

 

»Zwei Salutschüsse«, sagte sie. »Der französische Gouverneur billigte ihm früher einen Salut von neun Kanonenschüssen zu, dann hat er aber wegen einer Skandalgeschichte Differenzen mit der französischen Regierung gehabt, und der Salut des Fürsten wurde auf sieben Schüsse herabgesetzt. Du kannst dir natürlich nicht vorstellen, daß solche Dinge einen erwachsenen Mann beunruhigen können, aber in Indien scheint das eine verflucht wichtige Sache zu sein. Abgesehen davon ist er verrückt auf kostbare Steine. Er hat die prächtigste Sammlung in Indien.«

 

»Ist er verheiratet?« fragte Graham argwöhnisch.

 

»Neunmal«, erwiderte sie ruhig. »Ich habe noch keine seiner Frauen gesehen. Sie werden in strenger Abgeschiedenheit gehalten. Ich bin ihm wirklich sehr nützlich gewesen – ich habe unseren Gesandten in Paris für seine Sache interessiert und habe eine Menge Artikel über ihn geschrieben oder angeregt.«

 

Er schaute sie noch immer mißtrauisch von der Seite an und fuhr mit der Hand über sein Kinn. Sie mußte lachen.

 

»Ich sehe dir an, Graham, daß du jetzt sagen willst: ›Ost ist Ost und West ist West.‹ Und ich vermute auch, daß du mir eine Lektion über Haltung und anständiges Benehmen geben willst.«

 

»Es klingt alles recht seltsam«, sagte er und steckte sich eine Zigarre an.

 

Ihre Stimmung ihm gegenüber war nicht gerade freundlich, das fühlte er. Plötzlich warf er die Zigarre mit einem Fluch in den Kamin.

 

»Ich werde jetzt heimgehen und mich umziehen«, sagte er mißmutig, als er aufstand. »Deine Tätigkeit als Presseagentin gefällt mir durchaus nicht, Diana!«

 

»Das läßt mich kalt«, antwortete sie gelassen. »Du weißt doch, daß ich das jährliche Einkommen von vierhundert Pfund, das ich früher hatte, nicht mehr besitze. In einem verrückten Augenblick lieh ich das Kapital einem jungen Gentleman, der einen großen Plan hatte, schnell reich zu werden – beiläufig verlor ich dabei auch meinen Verlobten.«

 

Sie sagte das alles leichthin, aber es lag eine gewisse Bitterkeit in ihren Worten. Er drehte sich, unangenehm berührt, um.

 

»Das werde ich dir alles zurückgeben. An meinem nächsten Geburtstag bekomme ich zwanzigtausend Pfund –«

 

»Das hast du mir früher auch erzählt«, sagte sie höhnisch zu ihm, »du hast sogar das Testament deiner Mutter, um es zu beweisen. Leider hast du nur die ganze Erbschaft schon verpfändet, wie ich feststellte, als du ins Gefängnis kamst.« Aber dann änderte sie ihren Ton. »Geh jetzt nach Hause, zieh anständige Kleider an und komm um ein Uhr zurück.« Sie sah auf ihre juwelenbesetzte Armbanduhr. »Du hast nicht viel Zeit und mußt dich beeilen. Ich erwarte Colley bald hier. Wenn er dich nicht hier findet, glaubt er, daß ich ihn belogen habe.«

 

Sie begleitete ihn zur Tür und schloß sie hinter ihm – ein wenig zu schnell, so daß es fast wie eine Beleidigung aussah. Sie verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Lächeln, ging wieder zur Couch zurück und schien in einen sensationellen Roman vertieft zu sein, als ihr Colley gemeldet wurde.

 

Colley Warrington war ein sehr hagerer Mann mit einem zu schmalen Kopf. Das spärliche gelbe Haar genügte kaum, die beginnende Glatze zu verdecken. Sein langes Gesicht war von Furchen durchzogen und schien vor der Zeit gealtert. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, meinten, daß er ausschweifend lebte, und wunderten sich, wo er das Geld hernahm, um sich einen solchen Lebenswandel gestatten zu können.

 

Es gibt in London, in New York, ja, in allen Zentren der Welt stets Menschen, die sich um aller Leute Geschäfte kümmern; besonders um die Geschäfte solcher Leute, die zu den Spitzen der Gesellschaft gehören.

 

Colley kannte sie alle – er wußte, ohne die Ranglisten zu Rate zu ziehen, ihre Titel und Ehren und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen bis zu den entferntesten Vettern, vorausgesetzt, daß auch diese eine Rolle in der Gesellschaft spielten. Er war im Bild über ihre Vermögensverhältnisse, wußte; wie hoch sich ihr Einkommen belief, welche Beziehungen sie hatten und wie wertvoll diese waren. Wenn man mit ihm die Bond Street entlangging, so erzählte er einem alle Komödien und Tragödien, die sich hier in Vergangenheit und Gegenwart abgespielt hatten.

 

Er hatte eine feine Spürnase und konnte auch aus nebensächlichen Dingen Schlüsse ziehen.

 

»… Lily Benerley in ihrem Rolls-Royce – ein Herr von der Ägyptischen Gesandtschaft schenkte ihn ihr –, ein verschrobener Sonderling. Hier kommt die alte Lady Wannery, trinkt wie ein Fisch – hat aber eine halbe Million Pfund; ihr Neffe Jack Wadser erbt einmal alles, wenn sie stirbt – er heiratete Mildred Perslow –, Sie wissen doch, die Dame, die mit Leigh Castol nach Kenya durchbrannte, er ist der Sohn von Lord Mensem…«

 

Niederträchtige Menschen vermuteten, daß Colley aus seinem Wissen um diese Skandalaffären Vorteile zog. ›Mit dem Verstand und dem Gefühl eines gemeinen Kerls‹, hatte einmal der Lord Chancellor zutreffend von ihm gesagt. Im Paddock-Klub hatte es eine Skandalaffäre im Spielzimmer gegeben. Daraufhin war Colley ohne weiteres ausgetreten. Die Sache wurde mit Stillschweigen übergangen. Er war auch in die Torkinton-Affäre verwickelt, wobei es sich um Erpressung handelte. Er zog es vor, solange der Prozeß dauerte, aus Gesundheitsrücksichten nach Aix-en-Provence zu gehen. Sein Name wurde auch nicht vor Gericht erwähnt. Aber als der Verteidiger den Angeklagten fragte: »Wie ich vermute, hatten Sie noch eine andere Person ins Vertrauen gezogen, als Sie diese Drohbriefe schrieben?« wußte jeder, wer mit der anderen Person gemeint war.

 

Das war Colley Warrington. Er trat mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck in den Empfangsraum und betrachtete Diana düster.

 

»Hallo, Diana!«

 

Von beiden Seiten war die Begrüßung nicht begeistert.

 

»Nimm Platz und mach kein solches Gesicht.«

 

»Wo ist Graham?« fragte er.

 

»Er ist nach Hause gegangen, um sich umzukleiden.«

 

Er setzte sich vorsichtig auf die Ecke eines Stuhls und zog die tadellos gebügelten Beinkleider hoch; zu seinen glänzenden Lackschuhen trug er weißseidene Strümpfe. »Es ist nicht klug, daß du dich wieder mit diesem Graham einläßt – du kennst doch seinen Ruf.«

 

»Er kennt den deinen auch«, antwortete sie halb lächelnd. »Ich glaube, ihr denkt beide ungefähr das gleiche voneinander. Nur ist Graham davon überzeugt, daß du zu den Männern gehörst, mit denen sich eine anständige Frau am besten nicht sehen läßt.«

 

Colley murmelte etwas Unverständliches.

 

»Beschwere dich nicht und sei nicht beleidigt. Ich muß dich etwas fragen. Du bist doch das reinste Nachschlagebuch, Colley … Ich habe dich bis jetzt mit meiner Neugierde nicht geplagt, aber jetzt möchte ich wissen: Wer ist Hope Joyner?«

 

Sie hatte ihn bei seiner schwachen Seite gefaßt, und er war gleich so in seinem Element, daß er seine schlechte Stimmung ganz vergaß.

 

»Hope Joyner?« wiederholte er. »Das ist doch die junge Dame, die eine große Wohnung in Devonshire House hat. Sie fährt zwei erstklassige Wagen, einen Rolls-Royce und einen Buick. Hat große Gelder. Sie ist sehr eng mit Dick Hallowell befreundet.«

 

»Das weiß ich alles«, sagte sie ungeduldig. »Ich wollte wissen, woher sie kommt.«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Das weiß ich nicht. Sie tauchte hier auf, aber man wußte nicht, von woher. Sie hat erstklassige Schulen besucht; soviel ich weiß, eines der teuren, hochmodernen Institute in Ascot, wo Abstammung durch Reichtum ersetzt werden kann. – Es ist aber merkwürdig, daß du dich für sie interessierst. Erst gestern sprach ich mit Longfellow, dem Gardeleutnant, über sie –«

 

»Ich wußte nicht, daß du mit ihm befreundet bist«, unterbrach ihn Diana schnell.

 

»Das bin ich auch nicht«, gab er offen zu. »Aber man spricht doch auch mit seinen Feinden. – Sie ist eine Waise, ihr Vater war ein Chilene, der ihr sein ganzes Vermögen vermacht hat. Es wird von Roke & Morty verwaltet. Weshalb gerade die damit beauftragt sind, ein derartiges Vermögen zu verwalten, mag der Himmel wissen.« Sie zog die Stirn in Falten, als sie das hörte. Sie kannte diese Firma nicht, und Colley gab eine nähere Erklärung.

 

»Es sind Rechtsanwälte, besonders bekannt, weil sie oft in Kriminalfällen auftreten – sie selbst sind auch keine glänzenden Existenzen. Aber soviel ich weiß, verteidigen sie in den meisten großen Prozessen, die in Old Bailey verhandelt werden. Wenn jemand wegen solcher Sachen in Verlegenheit kommt, muß er sich an diese Leute wenden.«

 

»Aber was weißt du denn von ihr selbst?« fragte Diana, um ihn daran zu hindern, mehr von diesen beiden interessanten Rechtsanwälten zu erzählen.

 

»Verdammt, ich weiß nicht viel.« Colley fuhr mit der Hand durch seine Haare. »Sie hielt sich gewöhnlich in Monk’s Chase auf, einem Landsitz in Berkshire. Ein sehr schöner, alter Besitz. Er geht bis auf den letzten Henry zurück …«

 

»Um Gottes willen, ich will keine Architekturgeschichte hören«, sagte Diana nervös.

 

»Also sie hielt sich gewöhnlich dort auf«, fuhr Colley fort, der bemüht war, seine Partnerin zufriedenzustellen. Er kannte ihre Begabung für unangenehme Bemerkungen. »Sie wurde dort von einem alten Herrn, einem Mr. Hallett, betreut. Ich glaube, sie war lange Jahre dort. Hallett selbst war häufig in Amerika, und während der Zeit hat sein Verwalter für sie gesorgt. Als sie Monk’s Chase verließ, kam sie zur Schule und von dort nach Paris, um ihre Ausbildung zu vollenden. Sie hatte immer sehr viel Geld. Roke & Morty richteten ihr auch die große Wohnung ein. Mehr weiß ich nicht. Warum bist du so neugierig?«

 

Diana blies eine lange Rauchspirale von ihren Lippen, bevor sie antwortete.

 

»Ich interessiere mich so sehr für sie, weil dieses junge, hübsche Mädchen in aller Stille, aber mit allen Mitteln kaltgestellt werden muß.«

 

Colley starrte sie erstaunt an, dann grinste er.

 

»Sie wird wohl bald vollständig außer Konkurrenz sein, liebe Diana. Hier in London ist jemand, der verrückt nach ihr ist.«

 

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn scharf. »Dick Hallowell!«

 

»Dick Hallowell!« sagte er verächtlich. »Der doch nicht!«

 

Nun war es an ihr, erstaunt zu sein.

 

»Wen meinst du denn? Wer ist in sie verliebt?«

 

Colley liebte es, theatralisch zu sein, und er nahm erst die nötige Haltung an, bevor er antwortete: »Unser hoher Herr und Freund, Seine Hoheit, der Fürst von Kishlastan.«

 

Der Fürst! Diana glaubte Colley nicht und dachte, er erlaube sich einen dummen Scherz mit ihr.

 

»Er kennt sie doch gar nicht!« rief sie.

 

Colley nickte.

 

»Er hat sie öfters gesehen, meine Liebe, und sehen heißt lieben, sagt der Dichter. Er fährt jeden Morgen aus, um ihr bei ihrem Morgenritt zu begegnen. Er gibt Geld aus, um zu erfahren, in welches Theater sie geht, und ist zufrieden, wenn er sie von seiner Loge aus beobachten kann. Er beschäftigt sich mit ihr in seinen Gedanken ebensoviel wie mit seinen verrückten Salutschüssen und seinen meilenlangen Perlenschnüren. Heute abend trifft er sie.«

 

»Heute abend? Wie – auf dem großen Empfang?« fragte sie schnell. Colley bejahte.

 

»Der Empfang ist hauptsächlich deswegen arrangiert worden, um Riki eine Möglichkeit zu geben, seine Angebetete zu sehen. Weshalb denn sonst? Er haßt doch die Engländer, und er würde sonst ebensowenig das Geld für einen solchen Empfang hinauswerfen wie ich. Er wollte Hope ganz einfach dadurch kennenlernen, daß er sie für die ›Gesellschaft zur Befreiung der orientalischen Frau‹ interessierte. Du kennst doch diese Art Unsinn – rettet unsere braunen Schwestern vor den Schrecken der Polygamie! Es ist eine ganz einfache Sache, um eine junge Dame, die man gern hat, kennenzulernen.«

 

Diana stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

 

»Mir hat er davon keinen Ton gesagt.«

 

»Warum sollte er auch?« meinte Colley gedehnt. »Im allgemeinen zieht man Journalistinnen in Liebesangelegenheiten nicht zu Rate.«

 

»Du bist gemein«, sagte Diana.

 

Sie ging, um sich aus ihrem Schlafzimmer ein Taschentuch zu holen. Als sie die Tür öffnete, war sie starr vor Erstaunen.

 

Draußen stand eine dicke Frau in mittleren Jahren. Sie hatte eine mächtige Nase und zwei lustig dreinschauende Augen.

 

»Wer – sind Sie?« brachte Diana mit Mühe hervor.

 

»Guten Morgen, gnädige Frau. Mein Name ist Ollorby.«

 

Sie suchte in ihrer Handtasche, zog eine große Karte heraus und übergab sie Diana, die zu erstaunt war, um die Visitenkarte genau anzusehen.

 

»Ich unterhalte einen Stellennachweis für Dienstboten. Wenn Sie eine Zofe oder einen Koch brauchen, würde ich mich freuen, wenn Sie mich anläuteten. Drei – sieben – neun – vier Soho …«

 

»Wie sind Sie hereingekommen?« fragte Diana. Ihr Ärger wuchs. »Wie dürfen Sie überhaupt ohne Erlaubnis diese Wohnung betreten?«

 

Sie sah sich nach Dombret um.

 

»Ich bin allein schuld«, sagte Mrs. Ollorby fast unterwürfig. »Die Tür stand offen, ich konnte mich bei niemand melden so bin ich eben hereingekommen. Ich stehe Ihnen gern zu Diensten, wenn Sie einen Dienstboten –«

 

»Ich brauche keinen Dienstboten.« Diana zeigte auf die äußere Tür, die von der Treppe zu der Wohnung führte. Mrs. Ollorby war in keiner Weise gekränkt und ging mit einer Behendigkeit hinaus, die man ihr bei ihren Jahren kaum zugetraut hätte. Diana warf die Tür hinter ihr zu und ging wieder zu Colley hinein.

 

»Worüber hast du dich geärgert?« fragte er nachlässig.

 

»Eine freche Stellenvermittlerin!«

 

Sie klingelte wütend. Nach einer Weile kam Dombret ins Zimmer.

 

»Wie konnten Sie die Tür offenlassen?«

 

»Ich habe die Tür nicht offengelassen, gnädige Frau«, protestierte das Mädchen.

 

»Lügen Sie nicht«, sagte Diana aufgebracht. »Sie ließen die Tür offenstehen, so daß eine zudringliche Frau hereinkommen konnte. Wer weiß, wie lange sie schon draußen stand …«

 

Die Ankunft Grahams schnitt die Strafpredigt ab, die Dombret zugedacht war. Diana vergaß die aufdringliche Person, und während des Essens sprach sie vornehmlich von dem Fürsten von Kishlastan und seiner Leidenschaft für schöne Menschen und schöne Dinge.

 

Kapitel 20

 

20

 

Tiger Trayne, der Regisseur des nächtlichen Dramas, war der einzige, der sich weder durch bekannte oder unbekannte Ereignisse noch durch bestätigte oder unbestätigte Vermutungen aus der Fassung bringen ließ. Um elf Uhr saß er bei seinem Frühstück und las eine Zeitung, die an einer Flasche lehnte. Er hatte seine Brille aufgesetzt. Der Kaffee schmeckte ihm nicht, er beklagte sich bei dem Mann, der ihn bediente. Er beschwerte sich über einen Schmutzfleck, der nicht aus seiner Hose ausgeklopft worden war. Es hatte den Anschein, als ob er in diesem Augenblick sich nur mit den kleinen Unannehmlichkeiten des Lebens beschäftigte. Der Diener brachte ihm eine Zigarrenkiste, und er wählte lange und mit großer Sorgfalt. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und rauchte gemächlich. Dabei las er langsam den Börsenbericht. Wenn man ihn so sah, hätte man denken müssen, daß es für ihn keine größere Sorge auf der Welt gab als sein leibliches Wohl. Ein schwaches Klingeln ertönte, der Diener ging hinaus.

 

»Wollen Sie Mrs. Ollorby empfangen?« fragte er, als er zurückkam.

 

Tiger Trayne faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann nahm er seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem seidenen Taschentuch. Aber er tat alles gründlich und mit Ruhe.

 

»Ja, ich möchte die Dame sehen. Bitten Sie sie, hereinzukommen.«

 

Er stand mit dem Rücken gegen den marmornen Kamin gelehnt, eine Zigarre im Mund. Ein etwas spöttisches Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als die dicke Frau in den Raum trat. Der Diener ließ die beiden allein. Es sah so aus, als ob Mrs. Ollorby in der letzten Nacht in ihren Kleidern geschlafen hätte. Ihr Gesicht war ein wenig aufgeregt und mehr gerötet als sonst. Ihre große Nase und ihr Kinn traten noch mehr hervor. Er hatte Mrs. Ollorby oft gesehen, aber niemals in solchem Aufzug wie heute – er vermutete, daß gewisse Ereignisse im Tower daran schuld waren.

 

»Guten Morgen, Mrs. Ollorby, das ist ein unerwartetes Vergnügen – wie geht es Hektor?« fragte er freundlich.

 

»Ich habe ihn eben nach Hause geschickt. Der arme Junge ist halbtot. Er mußte mich mitten in der Nacht über den Fluß rudern – und ich bin nicht leicht zu rudern, Mr. Trayne – und der Regen und die Aufregung und alles andere, ich wundere mich, daß ich nicht auch tot bin!«

 

»Wollen Sie sich nicht setzen?«

 

Er lächelte nicht mehr. Die Gegenwart von Mrs. Ollorby um Mitternacht auf dem Fluß konnte seine ganzen Pläne vernichtet haben. Er kannte diese Frau sehr gut, auch ihre weitschweifigen Einleitungen und ihre Taktik, den Punkt, auf den es ankam, zuerst möglichst zu umgehen.

 

»Es war kein Wetter zum Rudern letzte Nacht«, sagte er leichthin.

 

»Nein, wirklich nicht«, entgegnete sie und setzte sich. Sie suchte in ihrem großen Beutel herum, bevor sie ein farbiges Taschentuch fand, mit dem sie ihr Gesicht abwischte. »Hektor sagte: ›Wenn ein Detektiv immer so etwas tun muß, gebe ich es auf.‹ Sie haben keine Vorstellung, wie stark die Strömung ist, Mr. Trayne. Als wir unter der Londonbrücke waren, dachte ich, das Boot würde umschlagen und wir müßten ertrinken. Man sagt, daß dicke Leute gut schwimmen, aber ich wollte es nicht versuchen.«

 

»Was machten Sie auf dem Fluß – nachts?«

 

»Das fragte Hektor auch«, nickte Mrs. Ollorby. »Er sagte: ›Wozu, Mutter? Sie haben ein Motorboot, und alles, was wir haben, sind zwei Ruder‹… Ich wünschte, wir hätten dieses Ruderboot nicht gefunden, aber es war an die Stufen angebunden, und ich konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, zu sehen, wohin sie gingen. Es war nicht so schwer, sie zu verfolgen, denn Thames Street ist eine sehr dunkle Straße, und ich war ganz nahe bei ihnen, als er von der Motorjacht sprach.«

 

Trayne runzelte die Stirn. »Motorjacht?«

 

Mrs. Ollorby nickte feierlich.

 

»Nach dem, was er sagte, lag sie weiter draußen, mitten im Strom, so daß wir nicht weit hätten zu rudern brauchen. Dann dachte ich, sie würde unter der Brücke sein, als sie diesen Weg einschlugen. Wir landeten nicht vor ein Uhr, und dann kamen wir an ein Ufer, wo Hunde bellten. Das Tor der Werft war verschlossen, und wir konnten nicht heraus, bis am Morgen die Arbeiter kamen. Aber wie ich Hektor sagte: ich möchte diesem Boot mein Leben nicht mehr anvertrauen.«

 

Tiger Trayne lachte leise.

 

»Es scheint mir, Mrs. Ollorby, daß Sie auf die Elefantenjagd gegangen sind und eine Maus gefunden haben – Sie hatten eine falsche Fährte. Aber warum kommen Sie zu mir?«

 

Getreu ihren Grundsätzen gab Mrs. Ollorby keine direkte Antwort.

 

»Ich kam nicht vor sieben Uhr nach Hause, und dann schlief ich ein paar Stunden. Wenn ich dieses kurze Schläfchen nicht gemacht hätte, wäre ich fertig gewesen. Ich sehe wohl ein wenig derangiert aus?«

 

»Sie sehen bezaubernd aus«, sagte Trayne ironisch. Sie neigte den Kopf, um für das Kompliment zu danken.

 

»Als ich aufwachte, dachte ich nach und sagte mir – der arme Hektor schlief noch –, das beste, was ich tun kann, ist, Mr. Trayne zu besuchen und ihm die Sache zu erzählen, weil – weil ich zufälligerweise gewisse Dinge über ihn erfahren habe und ich sicher weiß, daß er Colley Warrington nicht leiden kann.«

 

»Colley Warrington?« Trayne drehte sich bei diesen Worten schnell um. »Was ist mit Colley Warrington?«

 

»Er war mit ihr zusammen.«

 

»Mit ihr? Mit wem?« Die Worte kamen jetzt wie Hammerschläge aus seinem Mund.

 

»Mit Miss Joyner.«

 

Sie dachte, seine Augen wären geschlossen, aber er betrachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit.

 

»Nun erzählen Sie mir die Geschichte von Anfang an. Sie folgten Colley Warrington und Miss Joyner – wohin?«

 

»Zu einem der kleinen Durchgänge in Upper Thames Street. Er hatte ein Motorboot dort, und er sagte, er wolle sie mitnehmen, um jemand zu treffen, der auf einer Jacht wartete.«

 

»Um welche Zeit war das?«

 

»Ungefähr um elf.«

 

»Sie fuhren stromabwärts, sagen Sie? – Ging die junge Dame freiwillig mit?«

 

»Sie stieg freiwillig in das Boot, obwohl ich glaube, daß sie lieber nicht mitgegangen wäre«, sagte Mrs. Ollorby.

 

Er hatte seine Zigarre ins Feuer geworfen. Sein Gesicht sah aus, als wäre es aus Stein gemeißelt.

 

»Sie fuhren stromab in einem Motorboot? Haben Sie niemand in dem Motorboot sprechen hören?«

 

»O ja, Mr. Trayne, es klang sehr nach der Stimme eines der Söhne von Eli Boß.«

 

Er nahm seine Uhr heraus und sah nach dem Zeiger. Sie dachte, es sei mechanisch, aber Tiger Trayne tat nie etwas mechanisch.

 

»Es kann auch keine eigenwillige Flucht gewesen sein«, fuhr Mrs. Ollorby fort, »denn die junge Dame liebt Dick Hallowell!«

 

»Dick Hallowell?« Schrecken und Ungläubigkeit lagen in seinem Ton. »Meinen Sie Sir Richard Hallowell, den Gardeoffizier?«

 

Sie nickte.

 

»Sie waren im Begriff zu heiraten, das habe ich so unter der Hand erfahren. Er wollte das Regiment verlassen, weil man nichts von ihren Eltern weiß – obwohl ich glaube, daß ich etwas darüber hätte erzählen können.« Sie sah Tiger Trayne aufmerksam an und neigte dabei ihren Kopf nach der Seite.

 

Er drückte einen Klingelknopf an der Wand.

 

»Ich danke Ihnen, Mrs. Ollorby. Sie sind eine ganz verteufelt kluge Frau, und ich will hoffen, daß Sie mich nicht ins Gefängnis bringen wollen. Nun sagen Sie mir die Wahrheit – warum kamen Sie? Warum haben Sie mir das alles erzählt?«

 

Mrs. Ollorby nagte an den Lippen.

 

»Ich bin eine Mutter – Sie verstehen –«

 

Er streckte seine Hand aus und drückte die ihre. Und obwohl sie eine starke Frau war, zuckte sie unter diesem Druck zusammen. Der Diener trat ins Zimmer.

 

»Meinen Wagen«, sagte Trayne. Ohne ein Wort an Mrs. Ollorby zu richten, ging er in sein Schlafzimmer.

 

Er zog eine Schublade auf, nahm seinen Revolver heraus, prüfte das Magazin und steckte ihn in seine Rocktasche, suchte noch drei Reservemagazine und verbarg sie sorgfältig in seiner Weste. Als er in die Halle trat, nahm er im Vorübergehen Mantel und Hut. Mrs. Ollorby stand im Eingang.

 

»Ich werde an Sie denken!« sagte er und war gegangen, bevor sie etwas erwidern konnte.

 

Der Wagen fuhr ihm allzu langsam durch die lebhaften Straßen der City. Er sprang ab, bevor er in der Nähe des geschlossenen Tores zum Tower hielt.

 

»Es tut mir sehr leid, Sir, Sie können nicht hereinkommen«, sagte der Polizist an der Tür. »Der Tower ist heute für Besucher geschlossen.«

 

»Ich habe eine sehr wichtige Mitteilung für Sir Richard Hallowell«, sagte Trayne. »Ich muß ihn unbedingt sehen.«

 

Der Polizist rief einen anderen, der ihn zu dem ersten bewachten Tor brachte.

 

»Sie können ihn mit hineinnehmen«, sagte der Sergeant, »aber er muß geradewegs zu der Wohnung Sir Richard Hallowells gehen und darf mit niemand sprechen.«

 

Die Gründe für diese Vorsichtsmaßregeln waren Tiger kein Geheimnis. Er warf kaum einen Blick nach der Schatzkammer, als er vorüberging.

 

»Trayne? Trayne? Ich kenne den Namen«, sagte Dick, als ihm der Besucher gemeldet wurde. »Führen Sie ihn herein. Der Polizist wartet besser draußen.«

 

Tiger Trayne eilte in das Zimmer, die Tür fiel hinter ihm zu. Einen Augenblick standen sich die beiden Männer gegenüber und schauten sich in die Augen.

 

»Nun?« sagte Dick. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Trayne?«

 

Als er ihn fragte, erinnerte er sich an den Mann und an seinen seltsamen Ruf.

 

»Es wurden heute nacht zwei große Raubzüge ausgeführt. Ich muß über den wichtigsten mit Ihnen sprechen«, sagte Tiger einfach. »Hope Joyner ist entführt worden – ich nehme an, Sie wissen das?«

 

»Nein, ich weiß es nicht – ich wage nicht, daran zu denken«, sagte Dick erbleichend. »Ist es wahr?«

 

Der Mann nickte kurz.

 

»Sie liebt Sie?«

 

Welches Recht er hatte, danach zu fragen, kam Dick Hallowell nicht zum Bewußtsein.

 

»Ja, wir lieben uns«, sagte er schlicht. »Warum fragen Sie?«

 

Tiger blickte starr durch die Fenster auf die starken Mauern des Weißen Turmes, dann richtete er seine Augen langsam wieder auf Dick Hallowell.

 

»Sie ist meine Tochter – jetzt werden Sie verstehen«, sagte er.

 

Kapitel 21

 

21

 

Seine Tochter! Hope Joyner die Tochter Tiger Traynes! Dick konnte ihn nur ansehen, die Stimme versagte ihm.

 

»Niemand außer Ihnen weiß es«, fuhr Trayne fort, »nur die alte Ollorby vermutet es vielleicht.«

 

»Ihre Tochter?«

 

Trayne zuckte seine breiten Schultern.

 

»Wir wollen ein andermal darüber sprechen«, sagte er. »Ich kam, um Sie zu bitten, Hope mit mir zu retten – und noch etwas anderes. Kennen Sie einen guten Fliegeroffizier, einen Mann, dem Sie trauen können?«

 

»Ich selbst bin Flugzeugführer«, sagte Dick ruhig. »Ich glaube, daß ich eine Maschine bekommen kann. Wissen Sie, wo Hope ist?«

 

Tiger nickte.

 

»Ich möchte nichts darüber sagen – ich brauche – ein Rettungsboot für mich selbst. – Verstehen Sie, was ich meine?«

 

»Ich glaube, ich verstehe«, sagte Dick leise. »Retten Sie sich selbst, Trayne… Wollen Sie auch meinen Bruder in Sicherheit bringen?«

 

Tiger Trayne biß sich auf die Lippen.

 

»Ist er erkannt worden? Das kompliziert die Sache allerdings. Trotzdem – ich sorge mich nicht einmal um mich selbst. – Hope geht vor. Dürfen Sie den Tower verlassen?«

 

Dick überlegte rasch. »Ich glaube, ja«, sagte er, »aber ich werde den Oberst fragen müssen. Wollen Sie mit mir kommen?«

 

Trayne antwortete nicht, aber er folgte ihm die Treppe hinunter und quer über den Platz bis zur Wohnung des Obersten. Der Polizist wartete oben an der Treppe, er hatte sie nicht belauschen können. Auf dem Weg sprach keiner von ihnen.

 

Dick ließ ihn draußen warten und trat in das Haus. Tiger ging auf und ab, als wäre er eine Schildwache, die den Tower bewachen sollte. Fünf Minuten, zehn Minuten vergingen, dann sah er, wie sich eine Gardine bewegte. Er hielt an und blickte hinauf. Lady Cynthia starrte auf ihn nieder. Erstaunen und Furcht malten sich auf ihren Zügen. Sie verschwand sofort wieder. Einige Sekunden darauf öffnete sich die Tür, und sie kam heraus.

 

»Was willst du hier?« Ihre Stimme klang abgerissen, und er sah, wie sich ihre Brust hob und senkte.

 

»Hope Joyner ist entführt worden!«

 

»Hope Joyner?« fragte sie. Sie wiederholte die Worte langsam. »Oh, mein Gott! Sie–«

 

»Hope Joyner ist meine Tochter!« sagte er. »Ich habe sie meinem Leben ferngehalten und habe ihr die Stellung und den Luxus einer Dame gegeben. Immer habe ich nach ihr gesehen und für sie gesorgt – von dem Tag an, als ich sie der verbrecherischen Frau abnahm, der ihre Rabenmutter sie übergeben hatte. Hope Joyner!« Seine Stimme wurde rauh. »Wessen Familie ist nicht gut genug für die Tochter der Frau des Oberst Ruislip? Erinnere dich daran, Cynthia!«

 

Sie streckte ihre Hände gegen die Wand des Hauses aus, um sich zu halten. Sie war kreidebleich, ihre Knie trugen sie kaum noch.

 

»Ein Mensch mit Namen Warrington hat sie entführt. Sie ist auf dem Weg nach Kishlastan – und ich glaube das Schiff zu kennen. Nun sei nicht töricht.« Seine Stimme wurde weicher und freundlicher. Sie sah ihn an und nickte.

 

»Ich will wieder ins Haus zurück«, sagte sie schwach. Sie konnte kaum gehen, ihre Füße waren so schwer wie Blei. Bevor sie in der Tür verschwand, wandte sie sich noch einmal um. »Du wirst mir sagen – was sich ereignet?«

 

»Ich werde dir Nachricht zukommen lassen«, sagte er. In diesem Augenblick kam Dick zurück.

 

»Es ist alles in Ordnung.« Er bemerkte Lady Cynthia kaum. »Der Oberst war so unbeweglich wie ein Backstein. Glücklicherweise war jemand von der Regierung bei ihm.«

 

»Was sagten Sie ihnen?« fragte Trayne, als sie eilig ausschritten. Der Polizist hatte Mühe, ihnen zu folgen.

 

»Ich deutete an, daß Sie eventuell die Krone zurückbringen könnten, und damit waren sie natürlich auf meiner Seite. Die Zeitungen wissen noch nichts von der Sache. Man würde alles auf der Welt dafür geben, wenn man der Presse nichts mitteilen müßte.«

 

In höchster Eile raste Traynes Wagen nach Kenley, dem nächsten Militärflugplatz. Der Kommandant war telefonisch von ihrer Ankunft verständigt. Ein Flugzeug des Küstendienstes stand startbereit für sie.

 

Fünf Minuten nach ihrer Ankunft erhob sich die kleine Maschine zum Himmel.