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Das Telefon läutete schon zum drittenmal. Diana Martyn legte endlich den kleinen, langhaarigen Schoßhund auf ein Kissen und nahm nachlässig den Hörer ab. Es war natürlich Colley, der sie wie immer mit Vorwürfen quälte, weil es zu lange dauerte, bis sie sich meldete.
»Wenn wir gewußt hätten, daß Eure gestrenge Hoheit am Apparat wären, hätten wir uns gleich beim ersten Läuten beeilt«, sagte Diana ironisch.
Colley ärgerte sich über diesen Ton. Er haßte sarkastische Frauen.
»Kannst du mich zum Essen bei Ciro treffen?« fragte er.
»Nein, wir können mit Euch nirgends speisen. Mr. Graham Hallowell wird heute bei mir zu Tisch sein.«
Anscheinend war die Nachricht eine Überraschung für ihn.
»Hallowell? Ich kann dich nicht deutlich verstehen, Diana – rauchst du?«
Sie blies eine graue Wolke zur Decke und streifte dann die Asche ihrer Zigarette in die Kristallschale.
»Nein«, sagte sie. »Aber ich bin heute morgen etwas durcheinander. Die Aussicht, mit einem Mann allein zu sein, der gerade aus dem Gefängnis kommt, ist wenig verlockend. Er sieht im Augenblick nicht eben zum Fotografieren aus. Auch war er wirklich nicht zu Unrecht verurteilt –«
»Höre einmal, Di –«
»Du sollst mich nicht immer Di nennen«, unterbrach sie ihn ärgerlich.
»Diana, der große Herr möchte dich sprechen – in allen Ehren – er sagte es mir –«
»Bestelle dem großen Herrn, daß ich ihn nicht sehen will«, entgegnete sie ruhig. »Ein Verbrecher am Tag bringt gerade genug Ärger.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Sei doch nicht so komisch, ich glaube ja gar nicht, daß du mit Hallowell speist!«
Sie legte den Hörer auf den Tisch und nahm ihr Buch wieder auf. Wenn Colley Warrington ungezogen oder schwierig wurde, legte sie unweigerlich den Hörer fort und ließ ihn ruhig summen.
Und Colley konnte sehr unangenehm sein. Manchmal war er in sie verliebt; und manchmal war er rasend eifersüchtig. Augenblicklich war er wieder ihr Liebhaber, aber er langweilte sie.
Es wurde leise an die Tür geklopft. Dombret kam herein, ihr Taftkleid rauschte. Diana kleidete ihre Zofe stets in dunkelrote Taftseide und bestand auf Tändelschürzen und hohen Frisuren, wie sie die Kellnerinnen in den Cafés tragen. Dombret war zwanzig Jahre alt und sehr hübsch. Die knisternde Seide kleidete sie gut.
»Wollen Sie Miss Joyner empfangen, gnädiges Fräulein?«
»Miss Joyner?« Diana starrte die Zofe an. »Haben Sie richtig gehört? – Miss Joyner?«
»Jawohl, gnädiges Fräulein. Eine sehr hübsche junge Dame.«
Diana überlegte schnell.
»Bitten Sie die Dame, näher zu treten.«
Dombret verließ das Zimmer nur einen Augenblick.
»Miss Joyner.«
Diana ging quer über das Parkett. Sie streckte dem Besuch ihre Hand entgegen. Ein entzücktes Lächeln spielte auf ihrem blassen Gesicht. Sie trat selbstbewußt auf, denn sie wußte, wie vollendet die Linien ihrer Gestalt waren und wie verführerisch ihr rötlich-blondes Haar glänzte.
»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie kommen, Miss Joyner.«
Hope Joyner nahm die Hand. Ihre klaren grauen Augen begegneten Dianas Blick weder feindlich noch argwöhnisch. Sie war drei Jahre jünger als Diana und befand sich in dem Alter, in dem es schwierig ist, sich an das Aussehen vor einem Jahr zu erinnern.
»Ist Ihnen mein Besuch auch recht?« fragte sie.
Das also war Hope Joyner. Sie sah liebreizend aus. Diana war sehr kritisch, aber hier fand sie nichts auszusetzen, weder an ihrer Figur noch an ihrer Stimme, noch am Teint.
»Es ist mir sehr angenehm – bitte, nehmen Sie Platz!«
Sie nahm das verschlafene Hündchen vom Kissen. Durch heftiges Bellen protestierte der Kleine, bis er durch einen Puff zur Ruhe gebracht wurde. Prügel und Liebkosungen wechselten bei Togo ab, daran war er schon gewöhnt. Aber Hope blieb stehen. Nur ihre weiße Hand legte sie auf die Polsterlehne des Sessels.
»Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen – einen sehr merkwürdigen Brief«, sagte sie. »Darf ich ihn noch einmal vorlesen? Vielleicht haben Sie vergessen, was Sie geschrieben haben.«
Diana vergaß solche Dinge nie, aber sie erhob keinen Widerspruch. Sie beobachtete das Mädchen mit besonderem Interesse, als sie ihre Handtasche öffnete. Hope zog einen Umschlag heraus und entnahm diesem einen schweren grauen Bogen. Ohne Einleitung begann sie zu lesen:
»Liebe Miss Joyner, ich hoffe, Sie werden es nicht unverschämt von mir finden, daß ich Ihnen in einer Angelegenheit, die mich nahe angeht, schreibe. Ich weiß genug von Ihnen, um zu glauben, daß Sie mein Vertrauen respektieren werden. Kurz gesagt, ich bin in einer verwirrenden Lage. Vor Ihrem Erscheinen war ich mit Sir Richard Hallowell verlobt. Wir sind durch eine Familienangelegenheit, die kein besonderes Interesse für Sie hat, zur Zeit entfremdet. Sie sind mit ihm in der letzten Zeit sehr häufig gesehen worden, und man spricht sehr unfreundlich von Ihnen. Man fragt, wer Sie sind, woher Sie kommen, wie es mit Ihrer Familie steht. Dies geht mich jedoch weniger an als meine persönliche Lage. Ich liebe Dick zärtlich, und er liebt mich, obgleich wir im Augenblick nicht miteinander sprechen. Darf ich mich nun an Ihre Großmut wenden und Sie bitten, uns eine Gelegenheit zu geben, unsere Freundschaft zu erneuern?«
Als sie zu Ende war, steckte sie den Brief wieder in ihre Handtasche und schloß sie leise.
»Ich glaube nicht, daß ich eine unvernünftige Bitte an Sie gerichtet habe«, sagte Diana kühl.
»Ich soll mich selbst unglücklich machen?« fragte Hope mit ruhiger, betonter Stimme. »Warum denn? Sie haben doch alle Vorteile auf Ihrer Seite. Nehmen Sie sich nicht etwas viel heraus?«
Diana biß sich gedankenvoll auf die Lippen.
»Es mag sein – es war ein dummer Brief, aber ich war etwas verwirrt. Aber das macht ja nichts. Sie sind ja nur seine Freundin und sorgen sich um ihn –«
Hope schüttelte den Kopf.
»Das meine ich nicht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht zuviel herausnehmen, wenn Sie ein so großes Opfer von mir verlangen?«
Diana kniff die Augen zusammen.
»Sie meinen – daß Sie ihn lieben?«
»Ja, das meine ich«, sagte sie.
Dieses Bekenntnis nahm Diana den Atem, und es dauerte einige Zeit, bevor sie wieder sprechen konnte.
»Wie interessant!« sagte sie, aber Hope Joyner reagierte auf die höhnische Bemerkung nicht. »Ich muß also annehmen, daß meine verständliche Bitte Sie von Ihrem« – sie machte eine wohlüberlegte Pause – »ehrgeizigen Plan nicht abhält?«
»Ist es denn so ehrgeizig«, fragte Hope mit verblüffender Unschuld. »Dick Hallowell gern zu haben oder ihn zu lieben?«
Diana nahm sich zusammen. Sie hatte nicht erwartet, daß ihr der Brief von Nutzen sein konnte, sie hatte ihn nur in einer Laune geschrieben. Vielleicht beabsichtigte sie, Dick Hallowell zu verletzen oder zu ärgern. Und jetzt, da das Mädchen mit ihrem reinen, festen Vertrauen zur Liebe vor ihr stand, sah sie eine Herausforderung darin, daß sie hierherkam und ihr furchtlos in die Augen schaute. Und es war nicht gut, Diana herauszufordern.
Es war seltsam, daß in diesem Augenblick alles längst erstorbene Gefühl wieder in ihr lebendig wurde und die Glut, die sie vor vier Jahren verzehrt hatte, wieder heiß aufloderte. Die dunklen Schatten früherer Möglichkeiten tauchten in ihr auf …
Hope sah, wie Diana schluckte und wie sie die Zähne aufeinanderbiß, selbst als sie lächelte.
»Ich will Ihnen etwas zeigen.«
Diana sprach mit einer ihr selbst fremden Stimme. Sie verließ den Raum für einige Sekunden. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines Lederkästchen in der Hand. Sie drückte den Deckel auf. Es lag ein Ring mit drei feurigen Brillanten darin. Sie nahm ihn heraus und gab ihn Hope, die darüber nicht gerade erfreut war.
»Lesen Sie bitte die Inschrift.«
Mechanisch tat sie es, obgleich es ihr unangenehm war. Auf der Innenseite war eingraviert: »Dick seiner Diana.«
Hope gab den Ring zurück.
»Nun?« fragte Diana.
»Ein Verlobungsring?«
Diana nickte, Hope schaute sie verwirrt an.
»Ändert denn das – etwas an der Lage?« fragte sie. »Wiegt dieser Grund schwerer als das, was Sie mir bereits gesagt haben? Sollte ich deswegen Dick Hallowell meiden? Ich weiß, daß Sie mit ihm verlobt waren – wenigstens sagte er mir, daß er früher verlobt war. Die meisten Leute sind mehr als einmal verlobt, nicht wahr? Miss Martyn, erwarten Sie im Ernst von mir, daß ich Richard Hallowell nicht wiedersehen soll?«
»Ich erwarte von Ihnen, daß Sie tun, was Ihnen beliebt.« Dianas Stimme klang beinahe streng. Dann zuckte sie die Schultern. »Es ist natürlich eine Sache des Geschmacks und der guten Erziehung.« Sie schaute auf Hopes Handtasche. »Vielleicht war es doch zu indiskret, einen solchen Brief zu schreiben«, sagte sie und streckte ihre Hand aus. »Geben Sie ihn mir bitte zurück.«
Wieder trafen sich ihre Augen. Dann machte Hope ihre Handtasche auf, nahm den Brief heraus, riß ihn in vier Stücke und legte die Papierfetzen auf den Tisch. Mit einem leichten Nicken verließ sie den Raum so unerwartet, daß die neugierige Dombret, die ihr Ohr ans Schlüsselloch gelegt hatte, beinahe ins Zimmer gefallen wäre, als Hope die Tür öffnete.
Diana ging zum Fenster, um sie noch einmal zu sehen, wenn sie das Haus verließ, aber sie bekam sie nicht mehr zu Gesicht. Warum in aller Welt …?
Diana Martyn war über sich selbst und über ihre Motive im unklaren. Sie hatte schon vor Jahren alle Gedanken an Dick Hallowell aufgegeben. Er bedeutete ihr kaum noch etwas. Sie versuchte, sich zu vergegenwärtigen, warum sie diesen Brief geschrieben hatte. Es war etwas Unberechenbares in Diana Martyn, eine merkwürdige Bosheit, die sie schon früher in manche kleine – einmal sogar in eine große – Unannehmlichkeit gebracht hatte. Sie mochte nicht mehr an diesen Brief denken, da er mit Dick Hallowell zu tun hatte. Sie hatte ihn böswilligerweise geschrieben, denn sie zweifelte nicht, daß Hope ihm das Schreiben zeigen würde, und erwartete dann von ihm einen jener wütenden Briefe, die er schreiben konnte. Auf keinen Fall hatte sie angenommen, daß diese Hope mit ihrer ruhigen, aufreizenden Schönheit hier in ihrer eigenen Wohnung erscheinen würde.
Sie versuchte ihrer Erregung Herr zu werden, als Dombret eintrat, um einen Besuch anzumelden, der ihr auf dem Fuß folgte. Diana saß in einem der breiten Sessel am Fenster, das eine gute Übersicht auf die Curzon Street ermöglichte. Ihre Arme waren gekreuzt, mit einer Hand stützte sie ihr Kinn. Als der Besucher hereinkam, betrachtete sie kritisch und unbarmherzig seinen schäbigen Anzug. Er blickte düster drein und hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Sie wartete, bis sich die Tür hinter Dombret geschlossen hatte, dann fragte sie: »Warum?«
»Was willst du mit dem ›Warum‹ sagen?« entgegnete er rauh.
»Warum kommst du so abgerissen?«
Graham Hallowell schaute an seinem schmutzigen Anzug hinunter und grinste. »Ich vergaß, mich umzuziehen«, sagte er.
Sie nickte langsam.
»Du hast in diesem Aufzug den großen Richard besucht– hat deine sichtliche Armut keinen Eindruck auf ihn gemacht?«
Er ließ sich in einen großen Sessel fallen, zog eine Packung Zigaretten hervor und zündete eine an, ohne zu antworten.
»Hast du einen besonderen Grund, in der Curzon Street als Vagabund aufzutauchen? Mich läßt das ganz kalt.«
»Auch er war nicht sehr erbaut«, sagte er, indem er eine Rauchwolke zur Decke emporblies und wartete, bis sie sich auflöste. »Er gab mir schäbige fünfzig Pfund – beinahe hätte ich sie ihm an den Kopf geworfen!«
»Aber du hast es doch bleibenlassen!«
Er ließ sich durch ihren höhnischen Ton nicht aufbringen. Das gehörte eben einmal zu ihr. Früher hatten ihn ihre spöttischen Bemerkungen wild und verrückt gemacht, aber das war schon sehr lange her.
»Ich vermute«, sagte sie gedankenvoll, »daß du dir einbildest, er zahlt dir irgendeine Summe, die du ihm nennst, nur um dich loszuwerden. Natürlich hat er das nicht getan. Ich wollte, du kenntest Dick so genau wie ich.«
»Ich kenne ihn nur zu genau«, grollte er, »diesen niederträchtigen Pharisäer!«
Sie antwortete ihm lange nicht. Ihre weißen Zähne preßten sich in die Unterlippe.
»Nein, Dick ist kein Pharisäer.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Er hat mich nicht erwähnt?«
»Er sagte, daß er von dir nichts mehr hören wollte. Wenn dir das eine Genugtuung ist –«
Sie nickte.
»Was soviel heißt, daß du über mich gesprochen hast.«
»Er hat eine neue Liebe«, platzte Graham heraus. »Und sie ist tatsächlich eine Schönheit; ich sah, wie sie zusammen den Tower besichtigten.«
Sie schien sich nicht dafür zu interessieren. Er schaute sich prüfend im Raum um und hätte gerne eine Frage gestellt, wenn er den Mut dazu gefunden hätte. Er empfand dieser Frau gegenüber stets eine gewisse Scheu, wenn nicht Furcht.
»Du hast eine herrliche Wohnung, Diana. Ich bin nicht gerade neugierig, wundere mich aber doch, wie du das machen kannst. Wenn ich mich recht besinne, bewohntest du ein paar möblierte Zimmer, als ich fortging. Ich erfuhr von deinem Wohnungswechsel – aber diese Pracht ist wirklich verblüffend.«
Wie er wußte, hatte sie ein Einkommen von ein paar hundert Pfund im Jahr, die kaum ausreichten, um die Miete für diese Wohnung zu bezahlen. Sie schriftstellerte ein wenig und hatte ausgezeichnete Verbindungen mit Fleet Street. Aber ihre träge Veranlagung ließ diese Einnahmequelle nicht groß werden. Sie lächelte ein wenig unzufrieden.
»Du fürchtest wohl das Schlimmste? Das brauchst du nicht, ich bin jetzt sehr tätig. Hast du vom Fürsten von Kishlastan gehört?«
Er schüttelte den Kopf.
»Du weißt nichts von ihm?« Sie zeigte mit ihrer Hand ringsumher. »Das verdanke ich alles seiner Güte!«
Sie lachte über die Bestürzung, die sich in seinem Gesicht zeigte.
»Ich bin als seine Hof Journalistin tätig«, sagte sie dann kühl. »Das klingt zwar nicht nach einer erstklassigen Anstellung, aber es bringt mir im Jahr viertausend Pfund ein, und ich glaube, daß ich mein Geld verdient habe. Der Fürst beklagt sich über die Welt im allgemeinen und über die Regierung im besonderen. Colley Warrington hat mich ihm vor zwei Jahren vorgestellt. Ich glaube, daß er versucht hat, unseren unheimlich reichen Freund ein wenig zur Ader zu lassen, aber er hatte wohl kein Glück damit und wollte mich nun ins Geschäft bringen. Es gelang mir schnell, das volle Vertrauen des Fürsten zu erwerben, und es war mir bald möglich, mir einen einträglichen Posten zu sichern. – Er hat nämlich zwei Salutschüsse eingebüßt –«
»Was sagtest du eben? Zwei …?« fragte Graham verständnislos.
»Zwei Salutschüsse«, sagte sie. »Der französische Gouverneur billigte ihm früher einen Salut von neun Kanonenschüssen zu, dann hat er aber wegen einer Skandalgeschichte Differenzen mit der französischen Regierung gehabt, und der Salut des Fürsten wurde auf sieben Schüsse herabgesetzt. Du kannst dir natürlich nicht vorstellen, daß solche Dinge einen erwachsenen Mann beunruhigen können, aber in Indien scheint das eine verflucht wichtige Sache zu sein. Abgesehen davon ist er verrückt auf kostbare Steine. Er hat die prächtigste Sammlung in Indien.«
»Ist er verheiratet?« fragte Graham argwöhnisch.
»Neunmal«, erwiderte sie ruhig. »Ich habe noch keine seiner Frauen gesehen. Sie werden in strenger Abgeschiedenheit gehalten. Ich bin ihm wirklich sehr nützlich gewesen – ich habe unseren Gesandten in Paris für seine Sache interessiert und habe eine Menge Artikel über ihn geschrieben oder angeregt.«
Er schaute sie noch immer mißtrauisch von der Seite an und fuhr mit der Hand über sein Kinn. Sie mußte lachen.
»Ich sehe dir an, Graham, daß du jetzt sagen willst: ›Ost ist Ost und West ist West.‹ Und ich vermute auch, daß du mir eine Lektion über Haltung und anständiges Benehmen geben willst.«
»Es klingt alles recht seltsam«, sagte er und steckte sich eine Zigarre an.
Ihre Stimmung ihm gegenüber war nicht gerade freundlich, das fühlte er. Plötzlich warf er die Zigarre mit einem Fluch in den Kamin.
»Ich werde jetzt heimgehen und mich umziehen«, sagte er mißmutig, als er aufstand. »Deine Tätigkeit als Presseagentin gefällt mir durchaus nicht, Diana!«
»Das läßt mich kalt«, antwortete sie gelassen. »Du weißt doch, daß ich das jährliche Einkommen von vierhundert Pfund, das ich früher hatte, nicht mehr besitze. In einem verrückten Augenblick lieh ich das Kapital einem jungen Gentleman, der einen großen Plan hatte, schnell reich zu werden – beiläufig verlor ich dabei auch meinen Verlobten.«
Sie sagte das alles leichthin, aber es lag eine gewisse Bitterkeit in ihren Worten. Er drehte sich, unangenehm berührt, um.
»Das werde ich dir alles zurückgeben. An meinem nächsten Geburtstag bekomme ich zwanzigtausend Pfund –«
»Das hast du mir früher auch erzählt«, sagte sie höhnisch zu ihm, »du hast sogar das Testament deiner Mutter, um es zu beweisen. Leider hast du nur die ganze Erbschaft schon verpfändet, wie ich feststellte, als du ins Gefängnis kamst.« Aber dann änderte sie ihren Ton. »Geh jetzt nach Hause, zieh anständige Kleider an und komm um ein Uhr zurück.« Sie sah auf ihre juwelenbesetzte Armbanduhr. »Du hast nicht viel Zeit und mußt dich beeilen. Ich erwarte Colley bald hier. Wenn er dich nicht hier findet, glaubt er, daß ich ihn belogen habe.«
Sie begleitete ihn zur Tür und schloß sie hinter ihm – ein wenig zu schnell, so daß es fast wie eine Beleidigung aussah. Sie verzog ihr Gesicht zu einem spöttischen Lächeln, ging wieder zur Couch zurück und schien in einen sensationellen Roman vertieft zu sein, als ihr Colley gemeldet wurde.
Colley Warrington war ein sehr hagerer Mann mit einem zu schmalen Kopf. Das spärliche gelbe Haar genügte kaum, die beginnende Glatze zu verdecken. Sein langes Gesicht war von Furchen durchzogen und schien vor der Zeit gealtert. Leute, die ihn nur oberflächlich kannten, meinten, daß er ausschweifend lebte, und wunderten sich, wo er das Geld hernahm, um sich einen solchen Lebenswandel gestatten zu können.
Es gibt in London, in New York, ja, in allen Zentren der Welt stets Menschen, die sich um aller Leute Geschäfte kümmern; besonders um die Geschäfte solcher Leute, die zu den Spitzen der Gesellschaft gehören.
Colley kannte sie alle – er wußte, ohne die Ranglisten zu Rate zu ziehen, ihre Titel und Ehren und ihre verwandtschaftlichen Beziehungen bis zu den entferntesten Vettern, vorausgesetzt, daß auch diese eine Rolle in der Gesellschaft spielten. Er war im Bild über ihre Vermögensverhältnisse, wußte; wie hoch sich ihr Einkommen belief, welche Beziehungen sie hatten und wie wertvoll diese waren. Wenn man mit ihm die Bond Street entlangging, so erzählte er einem alle Komödien und Tragödien, die sich hier in Vergangenheit und Gegenwart abgespielt hatten.
Er hatte eine feine Spürnase und konnte auch aus nebensächlichen Dingen Schlüsse ziehen.
»… Lily Benerley in ihrem Rolls-Royce – ein Herr von der Ägyptischen Gesandtschaft schenkte ihn ihr –, ein verschrobener Sonderling. Hier kommt die alte Lady Wannery, trinkt wie ein Fisch – hat aber eine halbe Million Pfund; ihr Neffe Jack Wadser erbt einmal alles, wenn sie stirbt – er heiratete Mildred Perslow –, Sie wissen doch, die Dame, die mit Leigh Castol nach Kenya durchbrannte, er ist der Sohn von Lord Mensem…«
Niederträchtige Menschen vermuteten, daß Colley aus seinem Wissen um diese Skandalaffären Vorteile zog. ›Mit dem Verstand und dem Gefühl eines gemeinen Kerls‹, hatte einmal der Lord Chancellor zutreffend von ihm gesagt. Im Paddock-Klub hatte es eine Skandalaffäre im Spielzimmer gegeben. Daraufhin war Colley ohne weiteres ausgetreten. Die Sache wurde mit Stillschweigen übergangen. Er war auch in die Torkinton-Affäre verwickelt, wobei es sich um Erpressung handelte. Er zog es vor, solange der Prozeß dauerte, aus Gesundheitsrücksichten nach Aix-en-Provence zu gehen. Sein Name wurde auch nicht vor Gericht erwähnt. Aber als der Verteidiger den Angeklagten fragte: »Wie ich vermute, hatten Sie noch eine andere Person ins Vertrauen gezogen, als Sie diese Drohbriefe schrieben?« wußte jeder, wer mit der anderen Person gemeint war.
Das war Colley Warrington. Er trat mit einem unfreundlichen Gesichtsausdruck in den Empfangsraum und betrachtete Diana düster.
»Hallo, Diana!«
Von beiden Seiten war die Begrüßung nicht begeistert.
»Nimm Platz und mach kein solches Gesicht.«
»Wo ist Graham?« fragte er.
»Er ist nach Hause gegangen, um sich umzukleiden.«
Er setzte sich vorsichtig auf die Ecke eines Stuhls und zog die tadellos gebügelten Beinkleider hoch; zu seinen glänzenden Lackschuhen trug er weißseidene Strümpfe. »Es ist nicht klug, daß du dich wieder mit diesem Graham einläßt – du kennst doch seinen Ruf.«
»Er kennt den deinen auch«, antwortete sie halb lächelnd. »Ich glaube, ihr denkt beide ungefähr das gleiche voneinander. Nur ist Graham davon überzeugt, daß du zu den Männern gehörst, mit denen sich eine anständige Frau am besten nicht sehen läßt.«
Colley murmelte etwas Unverständliches.
»Beschwere dich nicht und sei nicht beleidigt. Ich muß dich etwas fragen. Du bist doch das reinste Nachschlagebuch, Colley … Ich habe dich bis jetzt mit meiner Neugierde nicht geplagt, aber jetzt möchte ich wissen: Wer ist Hope Joyner?«
Sie hatte ihn bei seiner schwachen Seite gefaßt, und er war gleich so in seinem Element, daß er seine schlechte Stimmung ganz vergaß.
»Hope Joyner?« wiederholte er. »Das ist doch die junge Dame, die eine große Wohnung in Devonshire House hat. Sie fährt zwei erstklassige Wagen, einen Rolls-Royce und einen Buick. Hat große Gelder. Sie ist sehr eng mit Dick Hallowell befreundet.«
»Das weiß ich alles«, sagte sie ungeduldig. »Ich wollte wissen, woher sie kommt.«
Er schüttelte den Kopf.
»Das weiß ich nicht. Sie tauchte hier auf, aber man wußte nicht, von woher. Sie hat erstklassige Schulen besucht; soviel ich weiß, eines der teuren, hochmodernen Institute in Ascot, wo Abstammung durch Reichtum ersetzt werden kann. – Es ist aber merkwürdig, daß du dich für sie interessierst. Erst gestern sprach ich mit Longfellow, dem Gardeleutnant, über sie –«
»Ich wußte nicht, daß du mit ihm befreundet bist«, unterbrach ihn Diana schnell.
»Das bin ich auch nicht«, gab er offen zu. »Aber man spricht doch auch mit seinen Feinden. – Sie ist eine Waise, ihr Vater war ein Chilene, der ihr sein ganzes Vermögen vermacht hat. Es wird von Roke & Morty verwaltet. Weshalb gerade die damit beauftragt sind, ein derartiges Vermögen zu verwalten, mag der Himmel wissen.« Sie zog die Stirn in Falten, als sie das hörte. Sie kannte diese Firma nicht, und Colley gab eine nähere Erklärung.
»Es sind Rechtsanwälte, besonders bekannt, weil sie oft in Kriminalfällen auftreten – sie selbst sind auch keine glänzenden Existenzen. Aber soviel ich weiß, verteidigen sie in den meisten großen Prozessen, die in Old Bailey verhandelt werden. Wenn jemand wegen solcher Sachen in Verlegenheit kommt, muß er sich an diese Leute wenden.«
»Aber was weißt du denn von ihr selbst?« fragte Diana, um ihn daran zu hindern, mehr von diesen beiden interessanten Rechtsanwälten zu erzählen.
»Verdammt, ich weiß nicht viel.« Colley fuhr mit der Hand durch seine Haare. »Sie hielt sich gewöhnlich in Monk’s Chase auf, einem Landsitz in Berkshire. Ein sehr schöner, alter Besitz. Er geht bis auf den letzten Henry zurück …«
»Um Gottes willen, ich will keine Architekturgeschichte hören«, sagte Diana nervös.
»Also sie hielt sich gewöhnlich dort auf«, fuhr Colley fort, der bemüht war, seine Partnerin zufriedenzustellen. Er kannte ihre Begabung für unangenehme Bemerkungen. »Sie wurde dort von einem alten Herrn, einem Mr. Hallett, betreut. Ich glaube, sie war lange Jahre dort. Hallett selbst war häufig in Amerika, und während der Zeit hat sein Verwalter für sie gesorgt. Als sie Monk’s Chase verließ, kam sie zur Schule und von dort nach Paris, um ihre Ausbildung zu vollenden. Sie hatte immer sehr viel Geld. Roke & Morty richteten ihr auch die große Wohnung ein. Mehr weiß ich nicht. Warum bist du so neugierig?«
Diana blies eine lange Rauchspirale von ihren Lippen, bevor sie antwortete.
»Ich interessiere mich so sehr für sie, weil dieses junge, hübsche Mädchen in aller Stille, aber mit allen Mitteln kaltgestellt werden muß.«
Colley starrte sie erstaunt an, dann grinste er.
»Sie wird wohl bald vollständig außer Konkurrenz sein, liebe Diana. Hier in London ist jemand, der verrückt nach ihr ist.«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn scharf. »Dick Hallowell!«
»Dick Hallowell!« sagte er verächtlich. »Der doch nicht!«
Nun war es an ihr, erstaunt zu sein.
»Wen meinst du denn? Wer ist in sie verliebt?«
Colley liebte es, theatralisch zu sein, und er nahm erst die nötige Haltung an, bevor er antwortete: »Unser hoher Herr und Freund, Seine Hoheit, der Fürst von Kishlastan.«
Der Fürst! Diana glaubte Colley nicht und dachte, er erlaube sich einen dummen Scherz mit ihr.
»Er kennt sie doch gar nicht!« rief sie.
Colley nickte.
»Er hat sie öfters gesehen, meine Liebe, und sehen heißt lieben, sagt der Dichter. Er fährt jeden Morgen aus, um ihr bei ihrem Morgenritt zu begegnen. Er gibt Geld aus, um zu erfahren, in welches Theater sie geht, und ist zufrieden, wenn er sie von seiner Loge aus beobachten kann. Er beschäftigt sich mit ihr in seinen Gedanken ebensoviel wie mit seinen verrückten Salutschüssen und seinen meilenlangen Perlenschnüren. Heute abend trifft er sie.«
»Heute abend? Wie – auf dem großen Empfang?« fragte sie schnell. Colley bejahte.
»Der Empfang ist hauptsächlich deswegen arrangiert worden, um Riki eine Möglichkeit zu geben, seine Angebetete zu sehen. Weshalb denn sonst? Er haßt doch die Engländer, und er würde sonst ebensowenig das Geld für einen solchen Empfang hinauswerfen wie ich. Er wollte Hope ganz einfach dadurch kennenlernen, daß er sie für die ›Gesellschaft zur Befreiung der orientalischen Frau‹ interessierte. Du kennst doch diese Art Unsinn – rettet unsere braunen Schwestern vor den Schrecken der Polygamie! Es ist eine ganz einfache Sache, um eine junge Dame, die man gern hat, kennenzulernen.«
Diana stand auf und ging im Zimmer auf und ab.
»Mir hat er davon keinen Ton gesagt.«
»Warum sollte er auch?« meinte Colley gedehnt. »Im allgemeinen zieht man Journalistinnen in Liebesangelegenheiten nicht zu Rate.«
»Du bist gemein«, sagte Diana.
Sie ging, um sich aus ihrem Schlafzimmer ein Taschentuch zu holen. Als sie die Tür öffnete, war sie starr vor Erstaunen.
Draußen stand eine dicke Frau in mittleren Jahren. Sie hatte eine mächtige Nase und zwei lustig dreinschauende Augen.
»Wer – sind Sie?« brachte Diana mit Mühe hervor.
»Guten Morgen, gnädige Frau. Mein Name ist Ollorby.«
Sie suchte in ihrer Handtasche, zog eine große Karte heraus und übergab sie Diana, die zu erstaunt war, um die Visitenkarte genau anzusehen.
»Ich unterhalte einen Stellennachweis für Dienstboten. Wenn Sie eine Zofe oder einen Koch brauchen, würde ich mich freuen, wenn Sie mich anläuteten. Drei – sieben – neun – vier Soho …«
»Wie sind Sie hereingekommen?« fragte Diana. Ihr Ärger wuchs. »Wie dürfen Sie überhaupt ohne Erlaubnis diese Wohnung betreten?«
Sie sah sich nach Dombret um.
»Ich bin allein schuld«, sagte Mrs. Ollorby fast unterwürfig. »Die Tür stand offen, ich konnte mich bei niemand melden so bin ich eben hereingekommen. Ich stehe Ihnen gern zu Diensten, wenn Sie einen Dienstboten –«
»Ich brauche keinen Dienstboten.« Diana zeigte auf die äußere Tür, die von der Treppe zu der Wohnung führte. Mrs. Ollorby war in keiner Weise gekränkt und ging mit einer Behendigkeit hinaus, die man ihr bei ihren Jahren kaum zugetraut hätte. Diana warf die Tür hinter ihr zu und ging wieder zu Colley hinein.
»Worüber hast du dich geärgert?« fragte er nachlässig.
»Eine freche Stellenvermittlerin!«
Sie klingelte wütend. Nach einer Weile kam Dombret ins Zimmer.
»Wie konnten Sie die Tür offenlassen?«
»Ich habe die Tür nicht offengelassen, gnädige Frau«, protestierte das Mädchen.
»Lügen Sie nicht«, sagte Diana aufgebracht. »Sie ließen die Tür offenstehen, so daß eine zudringliche Frau hereinkommen konnte. Wer weiß, wie lange sie schon draußen stand …«
Die Ankunft Grahams schnitt die Strafpredigt ab, die Dombret zugedacht war. Diana vergaß die aufdringliche Person, und während des Essens sprach sie vornehmlich von dem Fürsten von Kishlastan und seiner Leidenschaft für schöne Menschen und schöne Dinge.