Kapitel 18

 

18

 

»Aktienschieber kenne ich, aber Aktienzieher sind mir neu. Wohl kein intimer Freund von Ihnen?«

 

»Durchaus kein Freund«, erwiderte Ursula nachdrücklich, »er ist mir im höchsten Grade widerlich.«

 

»Weiblicher Instinkt«, murmelte Elk erfreut. »Ich sage meinem Chef immer: ›Sie sollten eine Frau im Amt anstellen, die nichts weiter tut, als ihren Instinkt arbeiten zu lassen – das würde uns viel Mühe ersparen.‹ Waren Sie schon einmal in seinem Haus, gnädiges Fräulein?«

 

Sie verneinte heftig.

 

»Komische alte Bude. Sieht aus, als war sie aus einem Roman von Charles Dickens. Er ist Wissenschaftler.«

 

»Sind Sie eigentlich zu mir zu Besuch gekommen, Mr. Elk?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

 

»Na ja«, zögerte er, »teils ja, teils nein.«

 

Er blickte sich im Zimmer um.

 

»Schönes Haus, das Sie da haben, Miß Frensham. Muß allerhand Arbeit machen, das in Ordnung zu halten. Wie machen Sie es eigentlich, wenn Sie Herren zu Tisch haben? Sie können Ihnen doch nicht gut eine Zigarre anbieten – das schickt sich doch nicht für eine Dame.«

 

Sie hatte von Tony viel über Elk gehört. Sie lachte, sagte aber ganz ernsthaft: »Ich will meinen Ruf riskieren. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?«

 

Ehe er antworten konnte, verließ sie das Zimmer und kam mit zwei Zigarrenkisten zurück. Mr. Elk verging vor Scham, wählte aber mit großem Kennerblick.

 

»Ich verstehe nicht, daß mir so etwas entschlüpfen konnte«, heuchelte er. »Was werden Sie bloß von mir denken! Sieht aus, als hätte ich betteln wollen! Ich werde lieber zwei nehmen, weil ich nicht genau weiß, welche die bessere ist, und ich möchte doch keinen schlechten Eindruck von Ihren Zigarren bekommen. Ich habe heute eine sehr unangenehme Arbeit. Das ist das schlimmste bei der Polizei, daß sie einen nicht einen wirklich interessanten Fall ausarbeiten lassen, sondern daß sie einen mit lauter kleinen dummen Dingen belasten, die jeder Straßenpolizist genauso gut erledigen könnte. Womit ich beileibe nichts gegen die Uniformierten sagen will – ich war selbst mal einer.«

 

»Haben Sie gerade einen interessanten Fall?«

 

Er schnitt die Zigarrenspitze mit einem riesigen Taschenmesser ab und tat eine Weile sehr beschäftigt.

 

»Der ›Fall Guelder‹ an sich ist ein Verbrechen«, bedeutete er. »Er ist eine Beleidigung des Naturgesetzes. Ich glaube, ich habe nie ein größeres Verbrechen gesehen als ihn.«

 

Sie lachte heiter.

 

»Befassen Sie sich sehr viel mit Mr. Guelder?« fragte sie.

 

»Ja – und nein, gnädiges Fräulein.«

 

Dann wechselte er das Thema und erzählte ihr von seinem neuen Fall.

 

Die Polizei hatte in Plumstead, in der Nähe von Woolwich, eine kleine, armselige Villa entdeckt, die ein Mann, anscheinend ein Geschäftsinhaber, mit seiner Frau bewohnte, ein wohlbeleibter Herr, der jeden Morgen nach Woolwich mit großer Pünktlichkeit ins Geschäft fuhr und Sonnabend nachmittag friedlich seinen Garten bestellte. Daß er sonntags nicht zur Kirche ging, sprach nicht gegen ihn, weil die wenigsten Leute es taten.

 

»Und der Bursche ist der abgefeimteste Hehler südlich der Themse! Durch einen Zufall haben wir es entdeckt. Man behauptete, die Villa sei voll von Diebesgut, von Brillantringen bis zu den kostbarsten Gobelins. Einer der Kollegen von Scotland Yard erzählte mir, sie hätten gestohlenes Gut im Wert von mehr als einer Viertelmillion Pfund gefunden. Der Bursche hat alles aufgekauft, was ihm angeboten wurde. Es wird nicht leicht sein, ihn zu überführen, weil er auch ein regelrechtes Geschäft hatte, einen großen Laden in Woolwich, wo er offen kaufte und verkaufte. Man sagt, manches Mal habe er ganze Schiffsladungen erstanden, wenn sie ihm das richtige Zeug brachten. Alle Flußpiraten kamen zu ihm. Nichts war ihm zu groß, nichts zu klein. Ich bearbeite den Fall eigentlich nicht«, erläuterte er, »ich führe nur die Oberaufsicht, das heißt, ich ernte den Ruhm, wenn es welchen zu ernten gibt, und der Kollege unter mir kriegt die Rüffel.«

 

»Hat das irgend etwas mit Mr. Guelder zu tun?« »Mit dem? Aber nein!« wehrte Elk mit einer Verachtung, die er sich nicht zu verbergen bemühte. »Dieser Hehler ist gegen ihn ein lauterer Ehrenmann.«

 

Kapitel 19

 

19

 

Am Ende der Hill Street nahm Guelder eine Taxe und stürzte sich in ungewohnte Unkosten. Er war noch immer sehr erregt und außer Atem, als er ins Büro kam. Julian war ausgegangen, doch als er einige Minuten später zurückkehrte, fand er den Freund ziemlich aufgelöst.

 

»Sie wollte nichts herausgeben«, gestand er.

 

Julian grinste.

 

»Hast du dir das etwa eingebildet, du Simpel? Dein Plan war von Anfang an zum Mißlingen verurteilt, Hoffentlich hast du mich wenigstens aus dem Spiel gelassen.«

 

»Warum hast du das nicht vorher gesagt?« zischte Guelder ihn an. »Hast du nicht gesagt, das wäre ein ausgezeichneter Plan? … Elk war dort.«

 

»Elk?« Julian stutzte. »Er hat dich verfolgt?«

 

»Das weiß ich nicht«, grollte der Holländer. »Jedenfalls war er dort. Kam gerade in dem Augenblick, in dem ich sie soweit hatte. Aber wir werden das Geld schon kriegen! Ich gehe zum Rechtsanwalt und …«

 

»Unnötig«, rief Julian zu Guelders Überraschung. »Ich habe die Leute gesprochen, die, wie wir verabredet haben, unseren großen Coup finanzieren sollen. Sie sind bereit, alles, was wir brauchen, aufzubringen.«

 

Guelders Gesicht hellte sich auf.

 

»Sie sind nur noch ein bißchen skeptisch gegen deine Erfindung. Zwei oder drei von ihnen kommen dann her, sich die Sache anzusehen. Zeige mir doch noch einmal den Stein.«

 

Guelder öffnete den Safe, entnahm ihm ein Schmuckkästchen, öffnete es und stellte es auf den Tisch. Darin lag ein kleiner reiner, weißer Diamant, der im Licht seine bunten Strahlen zur Wirkung brachte.

 

»Wie lange hast du zu dem gebraucht?«

 

»Drei Stunden«, gab Guelder Bescheid. »Mit der Zeit wird es schneller gehen. Aber die Eile ist eigentlich unnötig. Man braucht nichts weiter, mein lieber Julian, als noch einige Instrumente, etwas verstärkte Lichtkraft und verbesserte Apparate.«

 

»Wenn sie nachher kommen und zufrieden sind«, sagte Julian, »beginnen sie sofort ihre Börsenmanipulationen, noch ehe sie dein Experiment mit eigenen Augen gesehen haben. Ich habe ihnen gesagt, daß du noch viel größere Steine bearbeiten kannst.«

 

Guelder nickte.

 

»Stimmt! Heute abend mache ich einen Versuch mit einem großen Zehnkaräter. Das zu sehen wird sich lohnen.«

 

Er wollte gern wissen, warum diese sonst so vorsichtigen City-Leute ihre Börsenmanöver beginnen wollten, ehe sie sich noch von dem Wert der Erfindung überzeugt hatten.

 

»Der Markt ist schwach«, erklärte Julian, »besonders der Diamantenmarkt. Man hat eine Anzahl freier, kleiner Alluvialfelder in Afrika entdeckt, deren Ausbeutung die großen Gesellschaften gern durch gesetzliche Maßnahmen verhindern möchten. Sie behaupten, der Diamantenmarkt sei so schwach, daß er selbst ohne deine Erfindung leicht ins Wanken geraten könnte.«

 

Er erzählte dann dem Holländer, der nur ein sehr geringes Interesse für Minenangelegenheiten zeigte, daß eine heftige Konkurrenz entstanden sei zwischen einer kleinen Gruppe Millionäre, die man aus der Diamantenindustrie »hinausgequetscht« hätte, und einer größeren Gruppe. Die Millionäre wollten sich rächen und der Industrie einen tödlichen Schlag versetzen.

 

Gern hätte Julian auch noch über einige andere Dinge gesprochen. Und hätte Guelder nicht neulich jene furchtbare Drohung ausgesprochen, würde Julian ihm jetzt ungeschminkte Vorwürfe gemacht haben. Guelder war verschwenderisch, hatte keine Ahnung vom Wert des Geldes, kaufte für seine Versuche zusammen, was ihm in den Sinn kam, und überließ es seinem Partner, die Rechnungen zu begleichen. Heute waren wieder einige sehr hohe eingegangen, von denen eine, beträchtlich über zweitausend Pfund, umgehend bezahlt werden mußte.

 

Ganz vorsichtig machte er ihm Vorhaltungen.

 

»In ein oder zwei Wochen können wir uns das gestatten. Aber gerade jetzt müssen wir sehr haushalten. Ich stecke ja viel in deinen großen Coup, aber ich muß mir doch schließlich einen Weg offenhalten, falls die Sache mißlingt.«

 

Guelder lächelte sarkastisch.

 

»Du brauchst dir keinen Weg offenzuhalten, mein Freund«, sagte er sehr gelassen. »Geld werden wir in jedem Fall verdienen. Woher es kommt, ist gleich. Vielleicht verdienen wir ein Vermögen durch meine Erfindung, vielleicht allein schon durch die Aussicht auf meine Erfindung.«

 

»Ich verstehe dich nicht«, entgegnete Julian zögernd.

 

Guelder fuhr fort.

 

»Deine Freunde wollen einen Kurssturz auf dem Diamantenmarkt erzeugen. Schön! Ist es nicht ganz gleich für dich, ob du dein Geld durch diesen Kurssturz auf Grund meiner Erfindung einheimst oder direkt durch meine Erfindung? Geld bleibt Geld. Wie man es gewinnt, ist völlig schnuppe. Ob du den ›gerissenen Kerl‹ überredest, dir fünfzigtausend Pfund zu geben, oder ein Loch in die Erde buddelst und eine Goldader findest – alles völlig egal!«

 

Julian Reef war ein wenig verdutzt, stellte aber keine Fragen.

 

Eine halbe Stunde später kamen drei sauber gekleidete City-Herren, die kein Hauch von Romantik umwehte und kein Schimmer sagenhafter Abenteuer verklärte. Und doch waren sie Piraten, Schatzsucher und Mörder, alles in einer Person …

 

*

 

Mr. Elk führten seine Pflichten an viele seltsame Orte, teils angenehme, teils zweifelhafte. Bei seinem Besuch in Woolwich fand er beides. Die Villa in Plumstead, die er klein genannt hatte, war in Wirklichkeit ein recht anspruchsvolles Gebäude. Es prunkte mit einer Garage und sehr geräumigen Kellergewölben. Hier herrschte Ordnung. Wenn die Gegenstände, die das Haus schmückten, auch gestohlen waren, so waren sie von bestem Geschmack.

 

Mr. Weldin, der Eigentümer, hatte seine gestohlenen Bilder nicht in dem Keller verstaut. Das war der Platz für den Wein. Seltene Weine waren es und in gewaltigen Mengen. Im Louvre war ein Meister des vorigen Jahrhunderts aus seinem Rahmen geschnitten worden und hing jetzt in neuem, festlichem Gewand in Mr. Weldins Schlafzimmer. Und das wurde ihm zum Verhängnis. Denn in seinem Badezimmer war ein Rohr leck geworden. Man hatte einen Klempner zitiert, diesen häuslichen Schaden zu beseitigen. Es war eine besondere Auszeichnung, denn kein Mensch durfte jemals diese Schwelle übertreten. Mrs. Weldin verrichtete alle Hausarbeit höchst eigenhändig.

 

Es war das Pech dieses Königs der Hehler, daß der Klempner künstlerische Neigungen hatte und in seiner freien Zeit eine Malklasse der Fortbildungsschule besuchte. Niemals hätte man von einem Handwerker erwartet, daß er einen gestohlenen Corot wiedererkennen würde. Doch dieser Mann erkannte nicht nur dessen Herkunft, er hatte auch von dem Diebstahl gehört.

 

Nachdem er seine Pflicht als Klempner getan hatte, verließ er das Haus und lief zur Polizei, um dort seine Pflicht als Künstler und Bürger zu erfüllen.

 

»Scheint mir etwas sonderbar«, meinte Elk. »Ich dachte, diese Gewerkschaften trennen Malerei und Klempnerei.«

 

Man führte ihn durch das herrliche Haus und dann dorthin, wo Mr. Weldin die weniger vornehmen Geschäfte seines Handelszweiges erledigt hatte. Es war ein schmutziger, langgestreckter Bau am Ufer, der mit einer unbeschreiblichen Sammlung aller möglichen Gegenstände vollgepfropft war, von alten Kleidern, die in Haufen an Haken hingen, bis zu noch ungeöffneten Warenballen, die von den Flußpiraten stammten.

 

»Eine Masse von dem Zeug da ist ehrlich gekauft und bezahlt worden. Der größere Teil ist fraglos auf gesetzwidrige Weise in seinen Besitz gelangt«, erklärte der Ortspolizist, ein sehr genauer Mann mit einem amtlichen Wortschatz. »Tatsächlich besitzt er Quittungen für die meisten großen Gegenstände in seinem Hause – zum Beispiel die Bilder. Weldin behauptet, er habe den Wert des Corot nicht gekannt.«

 

»Des was?« fragte Elk verdutzt. »Ah, dieses Gemälde! Spricht man das so aus? Bildung ist doch was Schönes, Kollege! Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf – untersuchen Sie mal den ganzen Haufen da etwas genauer – besonders die Kleider. Höchstwahrscheinlich wird sich dann die Anklage gegen ihn etwas verändern. Vielleicht tun Sie ihm einen Gefallen, wenn Sie ihn dann nur wegen Raub anklagen.«

 

Er besuchte Mr. Weldin in seiner Zelle und fand einen sehr frohgemuten und selbstsicheren Mann.

 

»Nie hat man einen Bürger und Steuerzahler ungerechter behandelt«, begann er. Doch Elk brachte ihn schnell zum Schweigen.

 

»So hätten Sie vor der Erfindung der Fingerabdrücke sprechen können, mein lieber Weldin. Wir haben eben Ihr Sündenregister vom Polizeipräsidium erhalten, Mr. Weldin, Martin, Cootes, Oberst Slane, Mr. John B. Sennet, oder wie Sie in Wirklichkeit heißen mögen. Auswahl haben Sie ja genug.«

 

Weldin hatte Sinn für Humor und lachte.

 

»Wenn Sie mal zufällig dem Mann begegnen, der die Fingerabdrücke erfunden hat, dann pudern Sie ihn noch mal in meinem Namen mit dem Klammerbeutel, mein lieber Inspektor.«

 

»Ich werd’s mir überlegen«, gelobte Elk liebenswürdig und überließ den dicken Räuber seinem Schicksal.

 

*

 

Als er nach Scotland Yard zurückgekehrt war, sagte er zu seinem Schreiber:

 

»Ich habe jetzt eine sehr wichtige Untersuchung zu machen und wünsche nicht gestört zu werden.«

 

»Wann soll ich Sie wecken?« fragte der Schreiber ohne jede beleidigende Absicht.

 

»Um fünf – mit einer Tasse Tee«, entgegnete Elk und war zwei Minuten, nachdem er den Schlüssel im Schloß umgedreht hatte, sanft und fest entschlummert.

 

Der Abend rief ihn wieder nach Woolwich. Ohne Klage machte er sich auf den Weg. An einem Zeitungsständer las er flüchtig etwas über »Kurssturz in Diamanten«.

 

Es interessierte ihn nicht. Tony Braid aber hatte dieselbe Nachsicht schleunigst nach London gehetzt.

 

Braid besuchte mehrere Firmen in Mayfair und erörterte in verschiedenen verschwiegenen Privatkontoren den Grund dieses Sturzes. Bei einem der Diamantenmillionäre fand er wenigstens eine Erklärung dieser unbegreiflichen Baisse.

 

»Sleser ist auf dem Markt«, sagte dieser, ein hübscher graubärtiger Mann, eine Säule der Diamantenindustrie. »Vielleicht verbrennt er sich die Finger, vielleicht auch nicht. Wir werden jedenfalls kein Geld verschleudern, ihn zu bekämpfen. Unsere Aktien sind genau das wert, was sie vor dem Sturz galten. Sie werden auch wieder ihren normalen Kurs erreichen. Zu einer Panik liegt nicht der geringste Anlaß vor.«

 

Tony lächelte.

 

»Persönlich neige ich nicht zur Panik«, bemerkte er. »Ich möchte nur wissen, ob Reef dahintersteckt.«

 

»Reef?« Der bärtige Mann staunte. »Wer zum Teufel ist Reef?«

 

Hätte Reef das gehört, hätte er sich nicht geschmeichelt gefühlt.

 

»Ah, jetzt erinnere ich mich! Dieser kleine Gernegroß! Warum sollte er den Diamantenmarkt beunruhigen? Und wie könnte dieser kleine Bursche das! Jedenfalls werden wir nichts unternehmen. Und ich kann Ihnen nur den einen Rat geben …«

 

»Ganz unnötig«, lachte Tony, »wenn die Baisse anhält, kaufe ich, obwohl meine Käufe den Kurs nicht stark beeinflussen werden.«

 

Doch andere nahmen die Sache nicht so philosophisch hin wie der große bärtige Finanzmann. Sie waren aufgescheucht und fürchteten einen weiteren Kurssturz. Jeder nannte einen anderen, der angeblich hinter dieser Bewegung stecken sollte, aber alle nannten außerdem Sleser – jenen Millionär, der die Diamantengruppe bitterer haßte als alles andere in der Welt. Und jedenfalls wurde Tony klar, daß dieser Ansturm gegen die Diamantenindustrie weit heftiger und ernster war, als er anfangs geglaubt hatte. Von einem der Herren, die er besuchte, hörte er eine ganz merkwürdige Geschichte. Der Bruder seines Kammerdieners wohnte in Greenwich und hatte von einer Fabrik am Ufer gehört, die sich angeblich mit der Herstellung künstlicher Diamanten befaßte.

 

»Was natürlich Unsinn ist«, sagte Tony. »Man kann Diamanten herstellen, aber sie sind so winzig, daß sie keinen Handelswert haben. Auch sind die Kosten der Herstellung so groß, daß sie nicht konkurrenzfähig sind.«

 

Und doch war er beunruhigt … Greenwich!

 

Guelder wohnte in Greenwich und besaß dort, wie er gehört hatte, ein Laboratorium. Der Mann war Chemiker, nach allen Berichten ein sehr scharfsinniger. Sollte Julian doch hinter dem Kurssturz stecken? Er machte sich keine falschen Vorstellungen von Julians Wichtigkeit. Er war ein Blender, spielte sich gern auf, hatte aber nicht den geringsten finanziellen Rückhalt. Er lebte von der Hand in den Mund, verdiente in manchen Jahren enorme Summen, in anderen – dies wurde freilich nicht so laut hinausposaunt – verlor er größere; kurz, er arbeitete ohne jede solide Grundlage. Tony hatte sich die größte Mühe gegeben, dies durch Andeutungen und Anspielungen Lord Frensham klarzumachen, doch Frensham litt an übertriebenem Zartgefühl und glaubte unerschütterlich an die Fähigkeiten seines Neffen.

 

Kapitel 2

 

2

 

Nach Tony Braids Abschied lastete über dem Zimmer ein langes, besonders für den einen der beiden Männer sehr peinliches Schweigen. Frensham stand am Tisch, die Augen müde auf die Schreibmappe geheftet, und spielte zerstreut mit dem Brieföffner. Er war ein armer Mann. Sein Ausflug in die City war in gewissem Sinn ein Akt der Verzweiflung gewesen. Einem Mann seines Namens boten sich Präsidentenstellen in Hülle und Fülle. Zuerst hatte er jedes Angebot angenommen, doch schmerzliche Erfahrung lehrte ihn sehr bald die Notwendigkeit einer vorsichtigen Wahl.

 

Lulanga-Öl war sein Steckenpferd. Er hatte ein großes Aktienpaket davon gekauft, hatte seinen gesamten übrigen Besitz verpfändet und weigerte sich zu verkaufen. Er glaubte an diese Aktien, glaubte vor allem an seinen klugen Neffen, der mehrere Jahre vor ihm in die City gegangen war.

 

Ja, gerade der Erfolg Julian Reefs, der fast ohne einen Penny begonnen hatte und jetzt in bestimmten Kreisen als großer Finanzexperte galt, war der leuchtende Stern gewesen, der den älteren Mann in die Netze der Börsengeschäfte gelockt hatte. Auf Julians Rat hatte er die Lulanga-Aktien gekauft und den Vorsitz im Aufsichtsrat der Gesellschaft übernommen. Als eine Tante Ursula sechzigtausend Pfund hinterließ, hatte Julian ihn bewogen, ihm die Verwaltung dieses Vermögens zu übertragen. Er hatte das Geld sehr glücklich angelegt. Die Aktien, die er zuerst gekauft hatte, waren pures Gold.

 

»Was hat er mit den gelben Diamanten gemeint?« brach Lord Frensham das Schweigen.

 

»Ach, das!« lachte Julian. »Der Lümmel hat mein Steckenpferd entdeckt. Ich bin wild auf Diamanten, aber unglücklicherweise kann ich sie mir nicht leisten. So habe ich mich auf gefleckte Steine eingestellt, besonders gelbe, die nur ein Zehntel des Wertes der weißen haben.«

 

Frensheim erinnerte sich plötzlich, daß er dem Neffen ein gewisses Mitgefühl schulde.

 

»Aber nein!« rief Julian wegwerfend, »nein, er hat mir nicht weh getan!« Er rieb sich die schmerzlich pochende Backe. »Der Schlag kam nur so plötzlich, daß ich ganz unvorbereitet war. Natürlich konnte ich in deinem Haus nicht Vergeltung üben.«

 

»Er hat es zum letztenmal betreten«, versicherte Frensham. Dabei blickte er finster zur Tür, durch die Ursula gerade hereintrat.

 

»Verzeiht, wenn ich störe – doch, wo ist Anthony?« Sie blickte sich verwundert um.

 

Lord Frensham räusperte sich. »Braid ist gegangen und wird nie wieder seinen Fuß in mein Haus setzen. Er hat ohne jeden Anlaß Julian brutal überfallen. Ich finde das einfach unerhört!«

 

Sie starrte ihn verblüfft an.

 

»Er hat Julian geschlagen? Weshalb?«

 

»Es war meine Schuld«, warf Julian ein. »Ich nannte ihn einen Lügner. Das ist nach dem Ehrenkodex eine Todsünde. An seiner Stelle hätte ich genauso gehandelt.«

 

Diese Auskunft betrübte und verwirrte sie. »Das tut mir furchtbar leid … Ich habe Tony sehr gern. Vater, ist das wirklich dein Ernst, daß er dich nicht mehr besuchen darf?«

 

»Bitterster Ernst«, entgegnete Frensham kurz.

 

Sie sah Julian an, wollte etwas sagen, unterdrückte es aber und verließ das Zimmer.

 

Reefs tückische Augen blickten ihr nach.

 

»Unbegreiflich«, sagte er, als spräche er in Gedanken.

 

»Was?« Frensham blickte rasch auf. »An dieser Freundschaft ist durchaus nichts unbegreiflich. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß dieser Mann auf ein Mädchen einen bezwingenden Zauber ausübt.«

 

Julian nickte sehr bedächtig. »Ursula hat ein sehr empfängliches Gemüt«, sagte er. Ein Unterton in seiner Stimme machte den alten Mann stutzig.

 

»Du glaubst doch nicht etwa, daß er ihr den Kopf verdreht oder … Dummheiten …?«

 

Julian Reef war auf gefährlichem Boden. Doch im Hintergrund lauerten ernstere Gefahren. Als Ablenkungsmanöver schien ihm dieses Thema gerade recht.

 

»Ich will nicht behaupten, daß er ihr den Kopf verdreht oder ihr Liebeserklärungen gemacht hat. So was tut man heutzutage nicht mehr. Man treibt in ein gegenseitiges Verstehen hinein und gleitet dann unversehens in die Ehe. Ich glaube, du hast ihn gerade noch im letzten Moment an die Luft gesetzt.«

 

Er nahm seinen Hut.

 

»Jetzt muß ich schleunigst in mein Büro. Mein Professor Guelder ist ein grimmiger Sklavenhalter.«

 

»Wo hast du diesen Holländer eigentlich aufgegabelt?«

 

»Ich habe ihn vor zwölf Jahren in Leyden kennengelernt«, gab Julian geduldig Bescheid. Frenshams Gedächtnis wurde immer schlechter. Immer wieder stellte er dieselben Fragen. »Ich hörte an der Universität Chemie; er war dort einer der jüngeren Professoren. Ein außerordentlich kluger Bursche.«

 

Lord Frensham kaute nachdenklich an seiner Unterlippe. »Ein Chemiker …? Was versteht der von Finanzgeschäften? Ja«, bedachte er langsam, »ich erinnere mich, du hast mir erzählt, daß er Chemiker ist und nichts von Finanzgeschäften versteht. Ich begreife nicht, wozu du ihn in deinem Büro in einer Vertrauensstellung hältst.«

 

»Gerade, weil er etwas von Chemie versteht«, lächelte Reef. »Bei meinen Minengeschäften werden mir oft die abenteuerlichsten Pläne unterbreitet. Da ist mir ein Mann sehr wertvoll, der mir genau die geologischen Formationen angeben kann, aus denen ein Mineral stammt.«

 

Er hatte die Hand auf der Türklinke, als Frensham ihm nachrief: »Einen Augenblick, Julian! So eilig hast du’s wohl nicht. Natürlich berührt mich nicht im geringsten, was dieser Mensch von Ursulas Geld angedeutet hat. Aber – es ist doch wohl alles in Ordnung, wie? Ich habe neulich die Liste der Papiere überprüft. Sie scheinen ziemlich gut und sicher.«

 

Julian hatte einen sehr ausdrucksvollen Mund. Jetzt verriet er gutmütigen Ärger.

 

»Soviel ich weiß, hat Ursula ihre Halbjahresdividenden pünktlich erhalten«, grollte er. »Aber natürlich, wenn du dem Rat des ›gerissenen Kerls‹ folgen willst – dieser Bursche wird auf seine alten Tage schrecklich ehrlich und bedenklich! –, dann schicke ruhig deinen Buchhalter zu mir, mein lieber Onkel, und laß ihn die Papiere mitnehmen oder gib sie einer Bank –«

 

»Red keinen Unsinn!« unterbrach Frensham hastig. »Kein Mensch hat behauptet, daß du das Vermögen nicht genauso verwalten kannst wie irgendeine Bank. Du hast doch keins der Papiere ausgetauscht?«

 

»Natürlich habe ich sie ausgetauscht!« rief Julian heftig. »Wenn ich sehe, daß eine Aktie unrentabel wird, stoße ich sie ab und kaufe eine günstigere. Ich habe mir über Ursulas Geld in diesem letzten Jahr mehr den Kopf zerbrochen als über alle meine eigenen Geschäfte. Als ich zum Beispiel die erste Nachricht von der Baisse in Brasilien erhielt, verkaufte ich die Brasilianischen Eisenbahn-Aktien, ehe der Markt flau wurde. Damit habe ich ihr über tausend Pfund gerettet. Du wirst dich auch erinnern, daß ich dir mitteilte, daß ich die Spanischen Straßenbahn-Aktien –«

 

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Frensham ihn eilig.

 

»Es liegt mir fern zu behaupten, daß du das nicht glänzend gemacht hast. Nur, sieh mal, Julian, ich bin ein armer Mensch und nicht sehr vorsichtig. Aber ich muß an Ursulas Zukunft denken.«

 

Damit verließ ihn Mr. Julian Reef. Auf dem Weg zu seinem Büro überlegte er, was wohl geschehen wäre, wenn der Onkel seinen Vorschlag angenommen und Ursulas Vermögen in die Hände eines tüchtigen Bankiers gelegt hätte. Denn die Aktien im Wert von sechzigtausend Pfund, die er für sie verwaltete, waren durchaus kein pures Gold mehr.

 

Kapitel 20

 

20

 

Um neun Uhr abends, als Tony gerade überlegte, ob er in seinen Klub gehen sollte, wo er sicher einige Herren treffen würde, die an der letzten Entwicklung des Markts beteiligt waren, oder ob er nach Ascot fahren sollte, klingelte das Telefon. Der Diener ging nicht an den Apparat. Er war ein ziemlich fauler Bursche und grollte wegen der erhaltenen Kündigung. Tony nahm den Hörer ab und vernahm nach einer kleinen Weile wie aus weiter Ferne Elks Stimme.

 

»Ich habe Sie schon in Ihrem Landhaus angerufen – hat mich neun Pence gekostet. Wenn ich ›mich‹ sage, meine ich die Regierung. Können Sie sofort hierherkommen?«

 

»Wo sind Sie?« fragte Tony.

 

»In Woolwich.« Er gab die Adresse an. »Und, Mr. Braid, halten Sie es für möglich, die junge Dame mitzubringen?«

 

»Lady Frensham?« rief Tony überrascht.

 

»Ja. Sie ist mir wichtiger als Sie.

 

»Was ist denn los?«

 

Offenbar überlegte Elk die Antwort.

 

»Es handelt sich um die Feststellung einer Identität. Man hat einen Rock gefunden. Ich würde sie nicht belästigen, doch es ist ziemlich wichtig.«

 

»Aber wie um alles in der Welt soll sie einen Rock wiedererkennen?«

 

»Das werde ich Ihnen sagen, wenn Sie hier sind. Mein Kollege hier hat Reef angerufen. Doch zum Glück für alle Beteiligten war er ausgegangen. Also wollen Sie die Dame mitbringen?«

 

»Selbstverständlich, wenn es notwendig ist und ich sie erreichen kann.«

 

»Und, Mr. Braid, was ich noch sagen wollte, hier regnet es. Kommen Sie also nicht in Ihrem Zweisitzer. Ich hoffe stark, Sie werden mich in die Stadt zurückbringen, und ich hasse die Hockerei auf dem Notsitz. Sie tun mir einen persönlichen Gefallen, wenn Sie im Rolls-Royce kommen, dem großen roten; ich meine den, in dem Sie immer eine silberne Zigarrenkiste unter dem Sitz hatten.«

 

»Ich werde im Rolls-Royce kommen und die Zigarrenkiste mitbringen und werde zusehen, daß sie auch gefüllt ist, Sie alter Schnorrer.«

 

»Was sagen Sie da, Mr. Braid?« fragte Elk mit ängstlicher Stimme. »Schnorr – was? Ah, jetzt verstehe ich! Wenn die Coronas für die Kiste zu groß sein sollten, legen Sie sie ins Gepäcknetz.«

 

Sobald er eingehängt hatte, läutete Tony Ursula an und teilte ihr Elks Wunsch mit.

 

»Wozu er Sie braucht, weiß der Himmel. Jedenfalls machte er es sehr dringlich. Haben Sie Lust, einen Ausflug in die Wildnis von Woolwich zu unternehmen?«

 

»Mit Wonne«, rief sie. »Ich werde in meinem Wagen …«

 

»Nein, ich komme in meinem«, widersprach Tony. »Elk wünscht absolut meinen Rolls-Royce.«

 

Sie erwartete ihn in Hut und Mantel. Der Regen aus Woolwich hatte West-London erreicht, als sie abfuhren. Den größten Teil des Weges sausten sie durch einen wütenden Sturm, der sich am heftigsten austobte, als sie Blackheath erreichten.

 

Sie hatte Braid seit Guelders Besuch nicht gesehen und erzählte ihm jetzt davon. Zu ihrem Erstaunen war Tony über die Gaunerei des Holländers nicht erzürnt.

 

»Diese Schlamperei, dieses Hin- und Herschieben der Aktien scheint wirklich Tatsache zu sein«, bestätigte er. »Ihr armer Vater war der argloseste Geschäftsmann, der jemals gezwungen war, eine Gesellschaft zu leiten. Wenn es zum Prozeß käme, würde es uns verflixt schwerfallen, zu beweisen, daß Ihre zweihunderttausend Aktien nicht irgend jemand anderem gehören. Die Zessionsbücher sind miserabel geführt. Ganze Bündel Aktien standen bis zum Schluß noch auf Reefs Namen. Im Grunde bin ich an diesem Besuch Mr. Guelders bei Ihnen schuld. Ich fand eine Anzahl Aktien, die nicht ordnungsgemäß zediert waren, und schickte die notwendigen Papiere an Julian. Daraus entstand der arglistige Plan.«

 

»Er flößt mir Angst ein, Tony – nein, nein, nicht Julian. Der ist mir so verächtlich, daß er überhaupt nicht mehr zählt. Ich meine Guelder! Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie gemein er ist – nicht in seinen Worten und Handlungen, sondern in seinen Augen.«

 

Er fühlte den Schauder, der sie schüttelte, und suchte und fand ihre Hand im Dunkeln.

 

»Greenwich wird um Guelder trauern, wenn er Sie noch einmal besucht«, knurrte er. »Ich werde nächstens mal ein kleines Privatgespräch mit ihm führen.«

 

»Ich benehme mich albern«, wehrte sie.

 

Er schob das Fenster zum Fahrer zur Seite, um ihm die Richtung anzugeben. Sie hatten Woolwich erreicht. Und obwohl Elk ihm die Gegend sehr ausführlich beschrieben hatte, fuhren sie doch eine Weile kreuz und quer, bis sie die kleine, einsame Straße mit der Baracke fanden.

 

Elk stand, gegen den Regen geschützt, im Torweg neben einem Polizisten in glänzendem Wettermantel.

 

»Tut mir leid, Sie bei diesem Sauwetter herauszulotsen, Lady Frensham, noch dazu in so einer albernen Hehlersache. Ist der Schiffer angekommen?«

 

Er stellte die Frage an eine in der Dunkelheit unsichtbare Person, und eine Stimme bejahte.

 

»Bitte, hier entlang, Lady Frensham – achten Sie auf die Stufe!«

 

Er leuchtete ihnen mit seiner Taschenlampe, und sie durchschritten einen kurzen Gang, in dem es feucht und moderig roch. Am Ende dieses Ganges öffnete er eine Tür. Ursula sah ein Zimmer, das von drei gelben, düsteren Lampen erleuchtet war, die von den Balken der Decke herabhingen und gerade genug Helligkeit verbreiteten, um einen hoffnungslosen Wirrwarr zu bescheinen. Da gab es Bretter und Regale, die mit Packen aller Art vollgehäuft waren; gewaltige leinwandumhüllte Ballen versperrten den Weg. Selbst an den dunklen Balken hingen formlose Bündel.

 

»Vorsicht!«

 

Elk nahm ihren Arm und führte sie durch den Wirrwarr hindurch in ein kleines Büro am anderen Ende des Raumes. Hier war die Beleuchtung etwas besser.

 

Ein altmodisches Schreibpult mit Rolldeckel, ein viereckiger Tisch und ein Stuhl bildeten die Einrichtung. An der Wand hingen ein verjährter Kalender und einige alte, verstaubte Regale, die mit zerrissenen Papieren und zerbrochenen Büroutensilien überladen waren.

 

Auf dem Tisch lag ein dunkler Mantel. Tony wußte sofort, daß dieses Kleidungsstück Veranlassung war zu ihrem nächtlichen Ausflug nach Woolwich.

 

»Ich will Ihnen keine lange Geschichte über diesen Weldin erzählen«, sagte Elk. »Es ist auch gar nicht meine, sondern Inspektor Frames Sache.«

 

Er nickte einem großen, gutaussehenden Mann zu, der ihnen in das Büro gefolgt war. »Frame bearbeitet diesen Fall. Wollen Sie bitte den Schiffer herbringen.«

 

Inspektor Frame verschwand und kam sehr bald mit einem untersetzten Mann mit wettergegerbtem Gesicht und grauem Haarschopf zurück.

 

»Warten Sie, bitte, noch einen Augenblick draußen, Schiffer«, rief Elk, und der Mann ging wieder hinaus.

 

»Die Sache ist nämlich die: wir fanden den Mantel – oder vielmehr der Kollege fand ihn – unter anderem Plunder und durchsuchte ihn, ob wir nicht zufällig den Eigentümer feststellen könnten. Das fanden wir im Nu: sein Name steht mit der Schneiderfirma auf der Innenseite der Tasche. Es ist ein gemeinsamer guter Freund.«

 

»Ich glaube, ich kenne ihn«, rief Tony.

 

»Darauf kommen wir gleich«, bedeutete Elk. »Wir riefen den Herrn an –«

 

»Julian Reef?« fragte Braid.

 

»Mr. Julian Reef, ja. Er war nicht zu Hause. Dann stellten wir fest, daß der Mantel regelrecht von Weldin gekauft und von dem ollen, ehrlichen Seemann da draußen verkauft worden ist. Die Buchung war ordnungsgemäß eingetragen. So, rufen Sie jetzt den Schiffer!«

 

Der Mann erschien wieder, ziemlich kopfscheu bei dem Gedanken, daß er in irgendeiner unheimlichen Weise in ein Verbrechen verwickelt sein könnte.

 

»Na, mein Lieber, nun spinnen Sie mal Ihr Garn«, forderte Elk ihn auf.

 

»Wie ich Ihnen schon vorhin sagte, Sir«, begann der Schiffer mit einer tiefen, brummigen Stimme, »es ist wohl eine Woche oder so was her, da kam ich den Fluß mit der ›Polly Ann‹ herauf, die leer war. Wir hatten eine Ladung Ziegel nach Kingston gebracht. Wir wurden von einem Schlepper stromauf gezogen, und ich war gerade vorne im Steven – ich muß schon zugeben, daß ich fast döste, weil ich die Nacht vorher doch nur vier Stunden geschlafen hatte. Der Schlepperführer ließ die Sirene heulen, gerade, als wir unter der Westminster-Brücke durchfuhren – ich glaube, da war ein Boot im Weg –, und das hat mich aufgeweckt, obwohl ich ruhig hätte schlafen können, weil wir doch an ein anderes Schiff vertäut waren. Wir kommen nun unter der Brücke durch, und wie wir gerade ‚raus sind,. fällt mir was auf den Kopf. Ich wundere mich und denke, mein Gehilfe erlaubt sich einen schlechten Scherz mit mir, aber wie ich’s ‚runterziehe, ist niemand in Sicht, außer dem Mann auf dem anderen Schiff. Da war mir klar, daß es einer von der Westminster-Brücke ‚runtergeschmissen haben mußte. Es war der Mantel da. Ich wußte nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich bin viel zu groß, so’n Ding zu tragen. So verkaufte ich ihn nach meiner nächsten Reise an Zonnerheim in der Artilleriestraße.«

 

»Das ist ein anderer Name für Weldin. Er hatte eine Menge Sammelplätze«, erklärte Elk. Dann wandte er sich an den Schiffer: »Danke, Herr Seemann, die Polizei glaubt Ihnen ihre Geschichte. Inspektor Frame hat Ihre Adresse, wenn er Sie noch brauchen sollte.«

 

Der Mann schien froh, daß das lästige Verhör zu Ende war.

 

»Eine sehr interessante Geschichte«, sagte Tony, »aber ich begreife nicht recht, wozu Sie uns hierhergelockt haben, Elk. Ich kann Julian Reefs Kleidung durchaus nicht wiedererkennen und bin sicher, daß Lady Frensham noch weniger dazu imstande ist.«

 

Sie war aber offenbar doch dazu imstande.

 

»Ich kenne den Mantel. Ich habe Julian darin gesehen«, sagte sie und nahm das Kleidungsstück in die Hand. Es war ein dunkler Sergemantel, sehr leicht, ein Mantel, wie man ihn über dem Frack trägt. Das Futter war aus Seide, und Tonys erfahrenes Auge stellte sofort fest, daß er fast neu war.

 

»Zeigen Sie den Herrschaften das Papier, Frame«, gebot Elk.

 

Mr. Frame entnahm seiner Tasche einen Bogen dünnes Papier und breitete ihn auf dem Tisch aus. Er war offenbar arg zerknüllt worden, zusammengeballt. Anderthalb Zeilen Schrift standen darauf.

 

»Lesen Sie!« sagte Elk. Tony beugte sich darüber und las:

 

Seit Jahren habe ich mich in törichte Spekulationen eingelassen.

 

Ich bekenne …

 

Tony überlegte. Die Worte schienen ihm bekannt.

 

»Nun?« fragte Elk und beobachtete sein Gesicht.

 

»Darf ich es auch sehen?« fragte Ursula.

 

Elk reichte ihr das Papier. Ihre Lippen öffneten sich vor Bestürzung.

 

»Das ist doch …«

 

Sie beendigte den Satz nicht, blickte in wachsender Erregung von einem zum andern.

 

»Stimmt.« Elk nickte.

 

»Das ist doch das, was Vater schrieb, ehe – ehe –«

 

Plötzlich durchzuckte Tony die Erkenntnis. Das waren ja die Worte, die man auf dem Schriftstück neben der Leiche Frenshams gefunden hatte.

 

»Erkennen Sie die Handschrift, Lady Frensham?«

 

Sie schwieg. Sie kannte die Handschrift nur zu gut.

 

»Kennen Sie sie nicht?«

 

Ihre Lippen zitterten.

 

»Ich weiß nicht, ich möchte mich nicht äußern. Was bedeutet das? Bitte, wollen Sie mir sagen, was davon abhängt, wenn ich diese Handschrift wiedererkenne?«

 

»Nicht viel«, erklärte Elk zu ihrer großen Erleichterung.

 

»Es gibt Leute genug, die sie erkennen werden. Wie ist’s mit Ihnen zum Beispiel, Mr. Braid?«

 

Tony betrachtete sie noch einmal.

 

»Ja«, sagte er gelassen, »es ist Julian Reefs Handschrift.«

 

Wieder nickte Elk. »Das dachte ich mir. Merkwürdig, die ersten Worte seiner Beichte … Dieselben Worte, die Frensham schrieb, aber in anderer Handschrift. Wie erklären Sie sich das, Braid?«

 

Tony schüttelte den Kopf.

 

»Gar nicht«, sagte er. »Es ist erschütternd.«

 

»Mich erschüttert es durchaus nicht«, bekannte Elk. Er nahm das Papier, faltete es zusammen und versenkte es in seine Tasche. »Das werde ich für Scotland Yard aufheben. Wir sind ja ganz wild auf Kuriositäten … Wir eröffnen nächstens ’ne kleine Ausstellung. Werde Ihnen eine Empfangsbescheinigung geben, Inspektor. Es gehört ja eigentlich nicht zu diesem Fall, sondern zu einem anderen. Ich werde auch den Mantel behalten. Er scheint mir ziemlich wichtig. Kann ich wohl einen Bogen Packpapier haben, um ihn einzuwickeln?«

 

Auf dem Rückweg saß Elk bei dem Chauffeur. Die Scheibe war beiseite geschoben, so daß er sich mit Ursula und Braid unterhalten konnte.

 

»Das Leben ist voller Zufälle«, sann er vor sich hin, schwelgerisch an der langen Zigarre ziehend, die er als seinen Tribut erhalten hatte. »Wenn man diese Dinge in einem Buch schildern wollte, würde sie kein Mensch glauben. Der Fall Weldin wächst sich aus, aber er hat nichts mit dem verstorbenen Lord Frensham zu tun. Und doch haben wir hier ein Faktum gefunden, das damit sehr viel zu tun hat.« Er hob triumphierend den Mantel. »Und jetzt sitzt ein Schiffer zu Hause am Busen seiner Familie und erzählt seinem dicken Weib – ich möchte wetten, daß sie dick ist –, wie ihn die Polizei geschunden hat wegen eines blöden, alten Mantels. Hätte er nicht in Kingston Ziegel abgeliefert, wäre der Mantel jetzt nicht in diesem Wagen.«

 

»Was beweist der Mantel und dieses Papier? Ich verstehe es nicht recht«, fragte Ursula.

 

Elk war wenig mitteilsam.

 

»Alles hat etwas zu bedeuten«, orakelte Elk. Dann wandte er sich an Tony.

 

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir über Greenwich zurückfahren? Es ist zwar nicht gerade der beste Weg, aber ich habe eine Idee. Möchten Sie gern Detektiv sein, Lady Frensham?«

 

»Nicht um die Welt!« lehnte sie heftig ab. Ihre Antwort bereitete Elk viel Vergnügen. Er lachte lange in sich hinein.

 

»Wollen Sie heute abend einer sein? Ich wollte mir nur mal Mr. Guelders trautes Heim begucken.«

 

»Wohnt er in Greenwich?« fragte sie.

 

»Ja. Und Greenwich ist ein sehr hübscher Ort«, lobte Elk zur allgemeinen Überraschung. »Ich bin dort geboren. Ich bin der einzige Mensch, der jemals in Greenwich geboren wurde, soviel ich weiß. Jedenfalls habe ich noch nie einen zweiten getroffen.«

 

Immer wieder gab er dem Fahrer neue Anweisungen. Sie hatten die Hauptstraße verlassen und tasteten sich durch ein Labyrinth kleiner Gassen, sich immer rechts haltend.

 

»Da ist der Fluß.« Elk zeigte zwischen zwei hohen Häusern durch. Irgendwo draußen im Regen schimmerte ein rotes Licht.

 

»Ein Schiff«, sagte Elk kurz. »Es liegt vor Anker dort, wartet auf die Flut. Müssen hier sehr vorsichtig sein, am Millwall-Tunnel.«

 

Sie machten jetzt einen ziemlich weiten Umweg und kamen wieder auf die Hauptstraße zurück. Tony begriff nicht, wozu der Detektiv sie so sinnlos umherkutschierte. Doch Elk gab keine Erklärungen. Er machte oft etwas derart Unverständliches, das völlig zwecklos schien.

 

Er besuchte leidenschaftlich gern altvertraute Gegenden, gestand er endlich. Erst viel später erfuhr Tony, daß der Detektiv aus höchst sentimentalen Gründen den Umweg gemacht hatte. – Er wollte an dem Haus vorüberfahren, in dem er geboren war. Er hatte es fünfunddreißig Jahre nicht gesehen.

 

Kapitel 21

 

21

 

Hinter dem großen grauen Palast, in dem so mancher König gestorben ist, bogen sie wieder von der Hauptstraße ab und tauchten in ein dunkles Gewirr kleiner Gassen, bis sie an eine öde, winkelige Durchfahrt kamen, die so eng war, daß zwei Wagen einander nur mit großer Schwierigkeit hätten ausweichen können.

 

»Hier wollen wir bleiben«, rief Elk. »Die anderen Chauffeure werden dann glauben, wir gehören zur Gesellschaft.«

 

Tony beugte sich vor und blickte durch die regentrübe Scheibe. In der Gasse standen noch andere Wagen, nach ihrer Beleuchtung zu urteilen, ziemlich große.

 

»Guelder gibt eine Gesellschaft«, flüsterte Elk, »bitte, warten Sie hier.«

 

Er sprang aus dem Wagen und verschwand in der Nacht.

 

»Das scheint das Haus und das Laboratorium zu sein«, sagte Tony und ließ das Fenster herab. Ursula blickte hinaus und schüttelte sich.

 

»Gräßlich! Über diesem Ort liegt es wie eine Drohung, die mir das Blut gerinnen läßt. Es, ist hier so unheimlich und schaurig! Warum wohnt dieser Mensch hier?«

 

»Weil es hier unheimlich und schaurig ist«, entgegnete Tony.

 

Sie glaubte, er wolle aussteigen und faßte seinen Arm.

 

»Bitte, lassen Sie mich nicht allein! Sehen Sie die kleine Tür dort … wie ein düsteres altes Gefängnis! Keine Fenster … und die Straßenlaterne an dem Wandarm sieht aus wie auf einem Bild von Alt-London.«

 

»Vielleicht hat es in Guelders Augen etwas Romantisches«, meinte Tony. »Bei Tageslicht mag es ganz malerisch aussehen.«

 

Er hatte im Licht der Laterne einige Gestalten gesehen und beugte den Kopf aus dem Wagenfenster. Es waren, wie Elks scharfes Auge sofort erkannt hatte, Chauffeure. Tony flüsterte mit seinem Fahrer, worauf der Mann ausstieg und entschwand.

 

»Ich möchte gern wissen, wer dieser Besuch ist«, erklärte er Ursula. »Unter den Chauffeuren herrscht ein gewisser Korpsgeist, so daß er höchstwahrscheinlich mehr ausspionieren wird als Elk.«

 

Der Detektiv kehrte zuerst zurück.

 

»Dunkle Sache«, knurrte er. »Dieser Halunke Guelder hält den oberen Zehntausend irgendeinen Vortrag. Wo ist Ihr Chauffeur?«

 

»Ich habe ihn auf Kundschaft ausgesandt. Ich möchte wissen, wem die Wagen gehören.«

 

»Gut«, lobte Elk. »Ich wollte sie nicht fragen, um keinen Verdacht zu erregen. Es sind heute abend einige prominente Leute in Greenwich – man sieht es schon an den Wagen.«

 

Bald darauf kehrte der Fahrer zurück und gab ausführlich Bericht.

 

»Meistens Herren aus der City«, sagte er. »Einer heißt Sleser – soll ein Millionär sein.«

 

»Sleser!« rief Tony hastig, in Erinnerung an die Andeutungen seines bärtigen Freundes. »Wer noch?«

 

Der Chauffeur nannte zwei Braid bekannte Namen von Leuten, die auf allen Börsen zu Hause waren. Es waren die kühnsten Spieler der City, die heute ihr Vermögen in Minen, morgen in Gummi wagten, je nachdem sich eine Chance bot.

 

»Hat man Sie gefragt, wer Sie sind?« fragte Tony.

 

»Ich habe von vornherein gesagt, ich sei Taxifahrer und hätte einen Herrn von Grosvenor Place hergefahren.« Er erntete reichlich Lob für sein Märchen.

 

Der Wagen mußte die enge Gasse rückwärts fahren. Erst als sie die hellerleuchtete Hauptstraße wiedergewonnen hatten, atmete Ursula befreit auf.

 

»Ich bin ein Angsthase«, lächelte sie. »Ich bin kindisch, aber ich bin wirklich nicht immer so, Tony. Warum besuchen diese großen Herren Guelder?«

 

»Ich würde viel darum geben, es zu wissen. Sie haben doch nicht etwa zufällig den Weg in Guelders Haus gefunden, Elk?«

 

Er hatte es versucht, es war ihm aber mißglückt.

 

»Ich klopfte an die Tür, und eine alte Dame öffnete. Ich schätze sie auf einige hundert, vielleicht auch mehr. Sie konnte nicht englisch sprechen. Ich kann sechs Sätze französisch. Die probierte ich der Reihe nach an ihr aus, aber sie kapierte nicht. Wahrscheinlich ist sie ’ne Deutsche oder Holländerin. Übrigens hielt sie die ganze Zeit, die ich mit ihr sprach, die Kette vor. Ein Trost in meiner Ausgeschlossenheit war der herrliche Küchengeruch, der zu mir herausströmte. Die Kerls sind zum Abendessen geladen. Es war eine Qual für mich, den einzigen Menschen, der heute abend in London verhungert. Wenn Sie mich jetzt zum Abendessen einladen, Mr. Braid, vergehe ich vor Scham. Immer haben die Leute von mir den Eindruck eines Knickers; dabei bin ich der freigebigste Mensch auf Gottes Erdboden. Ich habe mehr Leuten Kost und Logis verschafft; als irgendeiner meiner Bekannten. Auf Jahre hinaus. Aber wenn Sie mich doch zum Abendessen einladen – ich kann so schlecht nein sagen –, wie denken Sie über Kirro? Wenn man auf dem Balkon ißt, braucht man sich noch nicht einmal umzuziehen, und bis eins gibt’s fabelhafte Getränke.«

 

»Kirro ist die Losung«, lachte Tony, »wenn Sie nicht lieber zu mir nach Hause kommen.«

 

»Ihre Küche schmeckt mir nicht«, lehnte Elk scherzhaft ab. »Zunächst bitte ich Sie, mich am Präsidium abzusetzen. In einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen – ich will nur erst dieses Paket an einem sicheren Ort verstauen.«

 

Man setzte Elk also an dem düsteren Tor von Scotland Yard – und einen Steinwurf entfernt von jener Stelle ab, an der ein leichter Sommermantel über das Geländer der Brücke geflattert war, geradewegs auf den Kopf eines erstaunten Schiffers.

 

*

 

Obwohl es im Saal bei Kirro ziemlich lebhaft zuging, war der Balkon verödet, denn die Theater hatten noch nicht geschlossen.

 

»Ein drolliger Mensch, dieser Elk«, sagte Tony in Gedanken. »Man weiß nie, was in seinem Kopf vorgeht, und dabei scheint er Gott weiß wie durchsichtig.«

 

»Ich mache mir große Sorgen wegen des Zettels und des Mantels«, klagte Ursula gequält. »Ich habe das unangenehme Gefühl, daß etwas Schreckliches dabei herauskommt – und daß ich irgendwie mit hineingezogen werde.«

 

Auf dem Weg von Woolwich war sie sehr still gewesen, und seit sie Greenwich verlassen hatten, hatte sie kaum ein Wort gesprochen.

 

»Ich hab‘ so ein quälendes Gefühl dabei, Tony. Haben Sie eine Ahnung, was hinter diesem Fund steckt?«

 

»Selbst wenn ich es wüßte, würde ich es Ihnen nicht verraten«, wich er aus.

 

Er blickte sie bekümmert an. Sie war erschreckend bleich. Er äußerte seine Besorgnis.

 

»Machen Sie sich keine Gedanken«, wehrte sie ab. »Es ist nichts. Nur dieses gräßliche Haus in Greenwich. Als ich noch klein war, sagte meine Erzieherin immer, wenn ich plötzlich erschauerte, jemand gehe über mein Grab. Genau dasselbe Gefühl hatte ich in dieser grauenvollen Straße. Aber es ist bestimmt nicht Hysterie. Mr. Elk sagt ja, ich hätte Instinkt, und hätte ich ihn ermutigt, hätte er mich als ›Instinkt-Dame‹ an Scotland Yard empfohlen.«

 

»Sagen Sie mal, Ursula, aber ganz aufrichtig: hat Guelder Ihnen irgend etwas getan?«

 

Sie schüttelte den blonden Kopf.

 

»Nein. Und doch, Tony … als ich vorhin in seiner Straße war, ertappte ich mich plötzlich dabei, daß ich ihm den Tod wünschte! Ich verstehe mich selbst nicht. Es ist irgend etwas Gespenstisches. Ich habe noch nie einem Menschen gegenüber solch entsetzliche Gedanken gehegt. Und habe nicht den geringsten Anlaß. Im Gegenteil, er war gegen mich immer außerordentlich liebenswürdig und tat furchtbar freundlich. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, daß er mir irgendein schreckliches Leid antun wird. Und jedesmal, wenn ich sein blödes, feistes Gesicht sehe, möchte ich hineinschlagen.«

 

Sie bebte, ihr Atem ging hastig. Er hatte sie niemals so heftig und unbeherrscht gesehen. Er führte ihre Erregung auf ihr kürzlich erlebtes Leid zurück, hielt sie für übermüdet und überreizt.

 

»Wir haben ja Elk«, beruhigte er sie. »Sie haben nichts zu fürchten.«

 

»Gottlob, daß wir Elk haben!« flüsterte sie.

 

»Was ist mit Elk?« fragte der Detektiv, der plötzlich am Tisch stand und sich setzte.

 

Sie fuhr nervös auf.

 

»Sie konnten doch unmöglich meine Worte hören!«

 

»Ich habe es Ihnen von den Lippen abgelesen – eine leichte Aufgabe, wenn man Übung hat. Sehen Sie den jungen Mann dort unten?«

 

Er zeigte auf einen jungen Mann, der an einem der Tische neben einem sehr hübschen Mädchen saß und sich temperamentvoll zu ihr vorbeugte. »Wissen Sie, was er ihr sagt? Sie dürfen dreimal raten.«

 

»Sicher etwas sehr Liebes«, riet Ursula.

 

»Er spricht über Creme – Schuhcreme«, berichtete Elk und beobachtete scharf den ahnungslosen Herrn. »Jetzt weiß ich’s genau – er erzählt ihr, wo er die Wichse für seine Jagdstiefel kauft.«

 

»Unmöglich!« lachte Ursula.

 

Elk dozierte:

 

»Eine Lebensweisheit müssen Sie sich einprägen, junge Dame: Die Menschen sprechen immer über das, was man nicht erwartet. Sie sind übrigens ein leichtes Objekt für einen Beobachter, weil Sie ihre Lippen bewegen. Die meisten Damen heutzutage sprechen durch die Nase. Und ein Nasenleser bin ich nicht. Aber was sagten Sie gerade von mir, als ich kam?«

 

»Ob Sie Guelder nicht ein bißchen deportieren könnten«, lächelte Tony.

 

»Das ist der einzige Mensch in England, den ich niemals deportieren ließe«, rief der Detektiv energisch. »Nein, ich liebe den alten Guelder. Habe ihn gern um mich. Ich werde ihm wohl in den nächsten Tagen ein hübsches Heim besorgen. Heutzutage behandeln sie die Leute im Gefängnis so rücksichtsvoll, daß sie es dort viel besser haben als zu Hause.«

 

»Mr. Elk«, sagte Ursula und senkte die Stimme, »welche Folgen wird das Blatt Papier haben, das Sie in Julians Mantel fanden?«

 

»Allerlei«, murmelte Elk. »Ich sehe die Folgen deutlicher als den o-beinigen Jüngling da, der mit der herrlichen Königin aus dem Wäschegeschäft tanzt. Ich kenne sie. Ihr Vater war Buchmacher und ein großer Sünder. Ihnen, Mr. Braid, sind die Folgen wohl auch ziemlich klar?«

 

Tony zögerte.

 

»Nein«, sagte er schließlich. »Ich habe auch gar keine Lust, mir die Folgen vorzustellen.« »Ich glaube, Sie sind ein Weiser«, flüsterte Elk.

 

Der Kellner kam und stand erwartungsvoll am Tisch.

 

»Ein Rumpsteak mit einem großen Ei darauf«, bestellte Elk. Dann wandte er sich an Braid. »Bitte, bieten Sie mir keinen Sekt an, sonst trinke ich ihn. Mein Arzt sagt, ich würde zwanzig Jahre länger leben, wenn ich recht viel Champagner trinke. Aber er muß extra trocken sein. Was, Lady Frensham, so ein Kerl wie ich ist Ihnen noch nicht vorgekommen? Wissen Sie, wie man mich bei der Abteilung nannte? – ›Johnney Frechdachs‹ – Dabei bin ich doch wirklich die personifizierte Bescheidenheit.«

 

Plötzlich hörte er auf zu lachen und sagte ernst:

 

»Sie wollen die Wahrheit über das Stückchen Papier wissen? Nun, ich werde es Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, ich brauche noch etwa drei weitere Indizien, ehe ich Ihnen etwas sagen kann; und dann werde ich es höchstwahrscheinlich unterlassen. Sie werden sich schon an die Zeitung halten müssen.«

 

Mit ungewohnter Schroffheit wechselte er das Gespräch. Um halb eins verließen sie das Lokal. Es goß noch immer in Strömen. Der Portier, der sonst mit einem Schirm die Gäste zum Wagen begleitete, war gerade abgerufen.

 

»Wir müssen zum Parkplatz gehen«, schlug Tony vor und half Ursula in den Regenmantel.

 

Um den stillen Platz zu erreichen, wo die Wagen standen, gingen sie durch eine enge Gasse, die eine noch engere kreuzte. Auf der Kreuzung stand ein Auto quer zur Straße, durch die sie kamen. Sie hörten das Summen eines Motors, ehe sie noch die unbeleuchteten Umrisse des Wagens erkennen konnten.

 

»Mir scheint«, sagte Elk, »daß das ein gefährlicher Ort ist zum Halten.«

 

Sie sahen zwei kurze Blitze im Innern des Wagens aufzucken, etwas pfiff an Elks Ohr vorbei und schlug mit lautem Aufprall in ein Ladenschild.

 

»Verfluchter Hund«, brüllte Elk und sprang beim Knall des Revolvers wie ein Jagdhund vor.

 

Ehe er sein Ziel erreicht hatte, fuhr der Wagen an und entfernte sich in rasendem Tempo. Er konnte die Nummer nicht erkennen, denn das Schlußlicht brannte nicht. »Galt das mir oder Ihnen?« sann Elk. »Das ist das einzige, was mich dabei interessiert. Wenn es Ihnen galt, kenne ich den Mann, aber wenn es für mich bestimmt war, habe ich die Wahl unter sechsen.«

 

Kapitel 11

 

11

 

Guelder starrte entgeistert.

 

»Ich sah es«, würgte er. »Mit meinen zwei Augen. Ich sah es! Mein Gott, war ich denn hirnverbrannt? Mein Freund …« Er wandte sich um, doch Julian war nicht mehr neben ihm. Er bahnte sich wütend einen Weg durch die Menge. Und überall hörte er dasselbe Lied:

 

»Er hat es ja gesagt, daß sie das bessere Pferd sei … Was kann man mehr verlangen …?«

 

An den Tribünen empfing Tony die ziemlich reuevollen Glückwünsche seiner Bekannten.

 

»Sapperment, das war ’ne Überraschung, Braid!«

 

»Es war die Wahrheit«, sagte Tony gelassen. »Ich habe kein Hehl aus den Fähigkeiten der Pferde gemacht. Ich sagte euch die Wahrheit, aber ihr wolltet mir ja nicht glauben.«

 

Er sah Elk abseits des Gedränges stehen. Als sich die Menge verlaufen hatte, ging er auf ihn zu. Aus Elks Augen schimmerte eine größere Zufriedenheit, als er je an diesem melancholischen Mann gesehen hatte.

 

»Es war keine kleine Versuchung, nicht wie die anderen dem Geld nachzulaufen«, begann Elk. »Aber ich widerstand, und jetzt läuft das Geld der anderen mir nach. Als Tipgeber sind Sie erstklassig, Mr. Braid. Ich habe aber einen gesehen, der mit dem Rennen nicht so ganz zufrieden war. Reef sieht aus, als sei ihm die Ernte verhagelt. – Wetterprognose: Donner und Blitz, Regen und Sturm. Jetzt gehe ich mein Geld einkassieren. Mir werden sie es ja auszahlen, weil ich von der Polizei bin.«

 

Tony lachte. »Ihnen würden sie es in jedem Fall auszahlen, Sie alter Pessimist. Warum halten Sie jeden für einen Betrüger?«

 

»Bereit sein ist alles«, entgegnete Elk prompt.

 

*

 

Julian Reef hatte seinen Wagen an der Straße nach Singleton stehenlassen. Hier wartete er in ungeduldiger Wut eine halbe Stunde auf den Holländer. Endlich kam Guelder langsam dahergetrottet, quietschvergnügt, als habe er nie die Tücke des Schicksals kennengelernt.

 

»Ach, das war übel!« rief er, während er in den Wagen stieg. »Dieser gerissene Kerl! Dabei habe ich den Proberitt mit eigenen Augen gesehen!«

 

»Dein Fehler ist: du bist verdammt zu klug«, schnauzte Julian, schaltete und ließ dann die Kupplung so wütend los, daß der Wagen einen wilden Sprung nach vorn tat. »Es ist dir wohl klar, daß du mich mehr Geld gekostet hast, als ich bis Montag auftreiben kann?«

 

»Dann treib es eben nicht auf, mein Freund«, erwiderte Guelder gleichmütig. »Buchmacher sind doch keine Zahltage. Ehe sie dir ernstlich zusetzen können, werden wir reich sein, enorm reich, über alle Maßen!«

 

Julian blickte den Gefährten von der Seite an und sah, daß er sich eine lange, dünne, übelduftende Zigarre anzündete.

 

»Wohl wieder einer deiner Riesengewinne?« fragte er ironisch. »Bisher hast du mich nur mit Versprechungen gefüttert. Ein Vermögen habe ich für deine Experimente hinausgeworfen. Jetzt will ich endlich was zurückhaben.«

 

»Du sollst etwas haben«, besänftigte ihn Guelder. »Millionen und aber Millionen. Bald wirst du im Gold ersticken!«

 

»Bald, bald«, äffte der andere ungeduldig, »wann ist bald?«

 

Guelder hob die breiten Schultern.

 

»In einer Woche – vielleicht. Meine Experimente sind vielversprechend. Heute nacht oder in irgendeiner anderen Nacht mache ich den letzten Versuch. Dann kannst du nach Greenwich kommen und dich überzeugen.«

 

Julian sprach kein Wort mehr, bis sie zur Stadt kamen. Am Victoria-Bahnhof setzte er Guelder ab und fuhr zu seiner Wohnung und einem trüben Abend entgegen. Er hatte Grund genug zum Trübsinn. Frenshams Papiere waren jetzt geordnet und würden in wenigen Tagen Tony Braid zur Verfügung übergeben werden. Heute früh vor seinem Aufbruch hatte er einer Brief von Frenshams Anwalt mit der Aufforderung erhalten, sich mit Tony wegen der Lulanga-Öl-Angelegenheit in Verbindung zu setzen.

 

Lulanga war ein westafrikanisches Papier. Die Ölfelder waren in Nord-Angola entdeckt und von Leuten, die mit dieser Emission ein großes Vermögen verdient hatten, auf den Markt gebracht worden. Doch nach und nach waren die Aktien immer tiefer gesunken und stürzten nach Frenshams größtem Kauf von achtunddreißig Schilling bis etwas unter einem Pfund.

 

Dieser Sturz war rätselhaft. Rätselhaft für die City, rätselhaft selbst für die Ölexperten, da der Bericht des Sachverständigen, eines in der City hochangesehenen Mannes, höchst günstig lautete. Freilich wiesen zynische Bankiers auf die sonderbare Tatsache hin, daß dieser Bericht erst vierzehn Tage nach dem Tod des Sachverständigen veröffentlicht worden war. Er war ein sehr vorsichtiger Mann gewesen und hatte niemals vorher die Verantwortung für eine so optimistische Prophezeiung wie in dem Lulanga-Gutachten übernommen.

 

Julian vertrieb diese unangenehmen Gedanken, schlug alle Heimlichkeiten aus dem Sinn, griff zu einem Bogen Papier und setzte einen Brief an Ursula auf, mit dem er ihr Vertrauen in ihn zurückgewinnen wollte.

 

Schon nach einigen Worten merkte er, daß sein Füllfederhalter leer war. Es war noch einer von der alten Sorte, die mit einem besondern Füller aufgefüllt werden. Er suchte in seiner Schublade vergeblich nach dieser Spritze. Dann erinnerte er sich, daß Guelder so ein Ding aus Glas und Gummi besitze und ging in dessen Zimmer.

 

Der Holländer hatte die Rolljalousie seines Schreibtischs offengelassen. Julian suchte auf der Tischplatte, doch dort lag der Füller nicht. Dann öffnete er eine Schublade nach der anderen und fand in der untersten … Ursula Frenshams Gesicht blickte zu ihm auf. Es war ein Bild, das er vor langer Zeit einmal gesehen hatte. Doch jetzt hatte es jemand mit einem Rand von Amoretten und Herzen geschmückt. Die Zeichnungen waren ausgezeichnet. Zuerst hielt Reef den Rand für gedruckt. Doch dann sah er in der linken Ecke die Initialen des Künstlers.

 

Guelder! Unglaublich! War das ein schlechter Scherz des Holländers?

 

Er nahm die Fotografie heraus; darunter fand er noch eine, ohne Zeichnung, dafür aber mit einem Gedicht beschrieben. Doch da es holländisch war, konnte er es nicht lesen.

 

Er drehte das Bild um und fand auf der Rückseite entweder eine Übersetzung des Gedichts oder einen anderen poetischen Erguß des Holländers auf englisch.

 

Er war perplex. Guelder? Es war nicht zu glauben! Und doch, er kannte den Ruf dieses Mannes und hatte über ihn sehr kompromittierende Gerüchte vernommen.

 

Er vergaß den Anlaß seines Suchens, nahm, von Wut gepackt, die Bilder, zerriß sie in Fetzen und schleuderte sie in den Papierkorb. Er war über seine Entdeckung außer sich. Der Gedanke, daß dieser Mensch seine Wünsche zu Ursula zu erheben wagte, empörte ihn.

 

Als Guelder am nächsten Morgen heiter und ahnungslos mit einem Lächeln und einem gnädigen Winken seiner dicken Hand vor seinem Chef erschien, fuhr Julian ihn an:

 

»Ich habe heute nacht deinen Schreibtisch durchsucht. Du Schuft, ich habe in deinem Schub Fotografien von Ursula Frensham gefunden. Jemand hat die Unverschämtheit besessen, sie mit Herzen und Kupidos zu beschmieren!«

 

Rex Guelders Gesicht errötete, die Augen sanken in ihre Höhlen.

 

»Ich bin der Jemand«, stieß er grob hervor. »Es geht keinen etwas an, was ich in meinem Schreibtisch habe!«

 

»So? Vielleicht geht’s mich doch etwas an!« wetterte Reef. »Es wird dich interessieren, daß ich die Bilder zerrissen und in den Papierkorb geschmissen habe!«

 

Er sah den Holländer erbleichen. Seine Lider zuckten, seine dicken Lippen bebten, aber er beherrschte sich.

 

»Das war töricht von dir, mein Freund«, sagte er heiser. »Sie taten keinem was zuleide und mir brachten sie Freude. Die junge Dame ist herrlich – ich bin Kenner. Wahrscheinlich wäre es dir lieber, wenn ich diese Bilder an Mr. Braid geschickt hätte?«

 

»Von mir aus kannst du sie dem Satan schicken«, wütete Julian. »Braid ist wenigstens ein Gentleman, du aber bist ein gemeines Schwein! Ich nehme vor dir kein Blatt vor den Mund, ich kenne deinen Ruf. Ich weiß, warum du Amsterdam so eilig verlassen hast, und habe so einiges davon läuten hören, was in Niederländisch-Indien passiert ist. Du bist mir nützlich – das heißt, vorläufig bist du ein sehr kostspieliger Luxus. Wenn wir auch gemeinsame Geschäfte haben – privat haben wir nichts miteinander gemein, nicht das geringste. Verstanden?«

 

Guelder atmete schwer. Sein Gesicht hatte einen bösen, grausamen Ausdruck.

 

»So, so?« flüsterte er. »Ich bin ein Schwein, wie? Gut genug für deine schmutzigen Geschäfte, aber nicht für deine feinen Freundinnen, nicht wahr? Ich soll dir Millionen schaffen, aber im übrigen bin ich dein Knecht – so, so!«

 

»Bisher hast du mir noch sehr wenige Millionen verschafft, hast mich nur ein Vermögen gekostet«, schalt Reef.

 

Guelder lehnte sich über den Tisch hinüber und stieß seinen dicken Zeigefinger Reef fast ins Gesicht.

 

»Aha! Du meinst, ich darf zu Lady Frensham nicht meine Gedanken erheben, weil ich zu niedrig stehe, weil ich – wie war doch dein schönes Wort? – gemein bin. Jetzt will ich dir einmal etwas sagen. Es war an dem Abend, an dem Frensham sich erschoß – er erschoß sich doch, wie? Ich habe viel Zeit, gehe in der Stadt umher und sehe mir die hübschen Mädels an. Und wie ich so gehe, wen sehe ich? Meinen Freund Reef. Ich bin von Natur aus neugierig. Ich denke mir: nanu, wohin geht mein Freund, der erhabene Mr. Julian Reef? Ich folge ihm. Er merkt es nicht. Ich beobachte dich so von acht bis neun. Du bist ahnungslos. Ich immer hinter dir her. Wir gehen über die Brücke von Westminster. Du lehnst dich sorglos, über das Geländer – etwas fällt ins Wasser, aber nur etwas. Und einiges, das du fallen läßt, plumpst nicht ins Wasser! Einige Kleinigkeiten fand ich auf einem Mauervorsprung der Brücke!«

 

Er hielt seine findigen Hände empor. Julians Gesicht wurde weiß wie der Tod. Er hätte nur die Kraft, auf den grinsenden Menschen zu starren, der mit seinen kurzen Wurstfingern höhnisch vor ihm herumfuchtelte. »Diese netten kleinen Dinger liegen wohlgeborgen in meinem Geldschrank in Greenwich. Als ich in mein trautes Heim kam, habe ich sie genau untersucht und dann in meinen Safe gesteckt. Eines Tages …« Er fuchtelte mit seinen Händen so dicht vor Julians blassem Gesicht herum, daß dieser den leichten Luftzug aus ihrer Bewegung spüren konnte.

 

»Eines Tages wird dieser Julian vielleicht von Ursula Frensham als von seiner Braut sprechen. Dann werde ich sagen: ›Nein, mein Lieber, diese Märchenprinzessin ist nicht für dich, sondern für – das gemeine Schwein.‹ Du hast meine schönen Bilder vernichtet. Glücklicherweise habe ich noch andere zu Hause. Sonst würde ich dich schon jetzt ans Messer liefern – du – Bilderstürmer!«

 

Er hielt keuchend inne. Julian sagte nichts. Sein Gesicht war wie versteinert. Nur in den glühenden Augen brannte der Haß. Er hätte gern Fragen gestellt. Doch er wagte nicht, diesen triumphierenden Unhold zu bitten. Auch vertrugen die Dinge, um die es ging, keine lauten Worte. Wider Erwarten wurde Rex Guelder plötzlich versöhnlich.

 

»Wir wollen nicht so unangenehme Geschichten erörtern«, sagte er besänftigend. »Wir wollen sie vergessen. Wir beide müssen miteinander auskommen. Du brauchst mich, mein Freund, und ich brauche dich. Wir sind eine ideale Verbindung. Wir haben die Zukunft vor uns, die große Zukunft! Die ganze Nacht hindurch habe ich mir für dich den Kopf zerbrochen. Jetzt sehe ich genau den Weg. Du mußt deine Angelegenheiten ordnen. Es darf nicht den Schatten eines Skandals geben. Wir müssen Geld auftreiben – ich werde Geld auftreiben –, die Leute dürfen sich nicht zuflüstern: ›Reef ist kaputt!‹«

 

Julian befeuchtete seine trockenen Lippen und bemühte sich, seiner zitternden Stimme Festigkeit zu geben.

 

»Wo soll das Geld herkommen?«

 

Guelder grinste ihn an.

 

»Wer ist dieser Mensch, der mit fünfundsechzig- oder fünfundsiebzigtausend Pfund um sich wirft, um den Pleitegeier von Lord Frensham zu verscheuchen? Wer anders als der gerissene Braid? Er soll unsere Kriegskasse auffüllen, ohne zu ahnen, daß er der Feind ist, den wir bekämpfen.«

 

Julian betrachtete den Mann mit eisiger Verachtung. »Bildest du dir denn ein, Braid werde dir oder mir vielleicht solche Summen borgen?«

 

Der andere nickte.

 

»Da bist du schief gewickelt, mein Lieber. Braid würde nicht einmal den Strick bezahlen, an dem sie mich aufknüpfen.«

 

Guelder lachte. »So weit ist es ja noch nicht. Ich habe einen Plan ersonnen, der uns retten wird. Es ist nichts weiter dazu nötig, als daß unser Freund Braid sich weiter um seine Rennen kümmert und einige Tage seine Finger aus der Lulanga-Angelegenheit läßt.«

 

In diesem Augenblick kam ein Angestellter mit einem Telegramm herein. Es war an Julian gerichtet. Er öffnete es ohne übertriebene Hast und las den Inhalt. Guelder sah, wie sich dessen Augenbrauen zusammenzogen.

 

»Ein böser Zufall«, sagte Julian Reef.

 

Guelder nahm ihm die Depesche aus der Hand und las:

 

Ich möchte morgen um zehn Uhr in Frenshams Büro die Angelegenheit der Lulanga-Öl-Kompanie mit Ihnen besprechen.

 

Die Unterschrift lautete: »Anthony Braid«.

 

Die beiden Männer sahen sich an. Guelder schüttelte den Kopf.

 

»Das ist Pech«, murmelte er, »verdammtes Pech!«

 

Kapitel 12

 

12

 

Tony war am nächsten Morgen um neun Uhr im Büro von St. James‘ Street. Das Personal der Lulanga-Öl-Gesellschaft bestand jetzt nur noch aus drei Stenotypistinnen und einem alten Buchhalter, der mit Frensham ein halbes Leben lang zusammengearbeitet hatte.

 

»Ich habe alle Dokumente der Gesellschaft auf Ihren Tisch gelegt, Mr. Braid«, sagte er. »Leider werden Sie merken, daß wir eine etwas – leichtfertige Arbeitsmethode hatten. Nur das Aktienbuch ist in Ordnung. Das habe ich selbst geführt.«

 

Tony hatte sich erst kurze Zeit mit den Schriftstücken der Lulanga-Gesellschaft befaßt, als er bemerkte, daß »leichtfertig« ein sehr milder Ausdruck für Lord Frenshams Arbeitsmethode war. Er fand ungeöffnete Briefe – einer enthielt einen Scheck über mehrere hundert Pfund – und zahlreiche Schreiben, die umgehende Erledigung verlangten, aber bis heute nicht beantwortet waren.

 

»Seine Lordschaft schob immer alles Peinliche auf«, erklärte Main, der alte Buchhalter. »Und seit die Aktien so gefallen sind, hat er die Post, die ich ihm vorlegte, kaum noch überflogen.«

 

Tony nickte, er kannte diese Eigentümlichkeit des alten Herrn.

 

»Hat Mr. Reef nicht hier im Büro gearbeitet?« fragte er.

 

Main zögerte. »Nein. Seine Lordschaft liebten keine Einmischung, und obwohl Mr. Reef offenbar gern helfen wollte, forderte Seine Lordschaft ihn nie auf. Aber es kam oft vor, daß ich, wenn etwas entschieden werden mußte und Lord Frensham zu keiner Entscheidung kam, in die Stadt zu Mr. Julian ging. So hat er zum Beispiel fast die ganze Korrespondenz mit Südafrika erledigt.«

 

Tony unterdrückte jede Bemerkung. Je tiefer er in die Verwirrung der Geschäfte Frenshams eindrang, desto glaubhafter wurde ihm der Bericht des Buchhalters. Er hatte noch nicht den sechsten Teil der angehäuften Schriftstücke durchgesehen, als Julian sehr heiter und liebenswürdig eintrat.

 

»Es tut mir schrecklich leid, daß ich zu spät komme«, rief er.

 

Unter dem Arm trug er eine große Aktenmappe, die Schriftstücke der Gesellschaft enthielt.

 

»Nichts Wichtiges«, erklärte er und blickte auf den Stapel, der sich vor Tony türmte. »Haben Sie schon alles durchgesehen?«

 

»Noch nicht«, entgegnete Braid, »was haben Sie da?«

 

Julian schwenkte eine Handvoll Papiere.

 

»Nur ein paar Briefe. Sie beziehen sich auf Angelegenheiten, die ich für Frensham erledigt habe.« Er legte sie auf den Tisch neben die anderen Papiere.

 

»Frensham pflegte die wichtigsten Dokumente der Gesellschaft in einem schwarzen japanischen Kasten in dem Zimmer dort drüben zu verwahren«, klärte er Braid auf.

 

»Ich habe jetzt alles geöffnet«, erklärte Tony.

 

»Aber sicher nicht den Lulanga-Kasten«, vermutete Reef.

 

Tony ging ins Nebenzimmer und prüfte noch einmal alle Aktenschränke. Mit einer Ausnahme waren sie leer, und auch die Ausnahme hatte nicht den leisesten Bezug auf Lulanga-Öl. Als er zurückkam, stand Julian am Fenster und blickte hinaus.

 

»Donnerwetter, hier könnte man leicht einbrechen«, rief er, »sehen Sie mal die Feuertreppe, unmittelbar unter dem Fenster!«

 

»Ihre Ansicht wird von einem hervorragenden Mitglied des Geheimdienstes geteilt«, sagte Tony trocken. »Mr. Elk – Sie kennen ihn wohl?«

 

»Ja, ich kenne ihn. Ich kann aber nicht behaupten, daß ich ihn maßlos schätze. Wir hatten mal einen kleinen Zusammenstoß – nur in Worten, aber doch recht erbittert.«

 

Er ging nicht näher auf Art und Grund des Streits ein, den er mit Elk gehabt hatte.

 

Tony hörte zum erstenmal von diesem Streit. Julian wandte sich vorn Fenster ab und setzte sich dem verhaßten Nebenbuhler gegenüber.

 

»Was wollen Sie tun?« fragte er. »Mir scheint das beste, Sie verbrennen den ganzen Plunder.«

 

»Eine sehr einfache Lösung«, bemerkte Tony gelassen. »Ich ziehe aber vor, Stück für Stück durchzusehen. Über vieles werden Sie mir sicher wertvolle Auskünfte geben können.«

 

Julian Reef nickte zu dieser Ironie. Er entnahm seiner Tasche ein goldenes Etui, zündete sich eine Zigarette an und beobachtete neugierig und mit dem Ausdruck der Überhebung Braids für ihn langweilige Lektüre der Briefe und Dokumente. Aus dem Winkel seines Auges sah er Tony Braid zwei eng mit Maschinenschrift beschriebene Folioseiten aufnehmen, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden.

 

»Nanu! Was ist denn das!« entfuhr es Tony verwundert, als er die ersten Worte las.

 

Nachdem er die Seite hastig überflogen hatte, wandte er die Blätter und suchte die Unterschrift.

 

»Das ist ja ein Bericht des aufsichtführenden Ingenieurs in Lulanga«, sagte er sehr langsam. »Sind Sie einer von den Direktoren?«

 

Julian schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich habe auf meinen Direktorposten wenige Tage vor Frenshams Tod verzichtet«, belehrte er geschmeidig.

 

Tonys Augen hingen ungläubig an Reefs rotem Gesicht.

 

»Frensham hat mir davon nichts gesagt«, bemerkte er.

 

»Ich bezweifle sehr, daß überhaupt irgend jemand in der Gesellschaft davon weiß. Höchstwahrscheinlich werden Sie meinen Verzichtbrief unter den Papieren finden. Offen gesagt, Braid«, fuhr er in einem plötzlichen Ausbruch intimer Vertraulichkeit fort, »ich hatte die Torheiten meines Onkels herzlich satt. Seit Monaten habe ich ihm geraten, seine Aktien zu verkaufen. Was ist das eigentlich, was Sie da so eifrig lesen?« fragte er mit gut gespielter Neugier.

 

Tony hatte das Dokument jetzt zu Ende gelesen. Es begann:

 

Bericht über Quelle 15, 16 und 18, Lulanga-Öl-Felder, Majasaka, West-Afrika.

 

Mylord! Offenbar sind mehrere Postsäcke auf dem Weg hierher verlorengegangen. Denn ich vermisse die Veröffentlichung des Berichts, den ich Eurer Lordschaft über die obengenannten Quellen übersandt habe. Ich erwartete, daß die Gesellschaft diese beunruhigende Nachricht unverzüglich veröffentlichen würde. Doch die letzten Zeitungen, die ich erhalten habe, enthalten nur die Nachricht, daß Lulanga-Öl ihren Kurs behaupten. Wie ich schon früher schrieb, zeigten diese drei Ölquellen Zeichen des Versiegens. Jetzt sind die ersten beiden stillgelegt. Bohrungen sind durchgeführt worden auf 85, 96 und 132 auf Plan T, doch bisher ohne befriedigenden Erfolg. Ich würde meine Pflicht der Gesellschaft gegenüber vernachlässigen, wenn ich dem Vorstand verschweigen wollte, daß nach meinem Urteil Lulanga-Öl keinen Marktwert mehr hat. Der Vorstand wird sich erinnern, daß ich niemals Mr. Colburn zugestimmt habe. Ich habe die Aussichten der Gesellschaft stets pessimistisch beurteilt, und mein Pessimismus ist zu meinem Bedauern durch die Entwicklung der letzten Zeit vollauf gerechtfertigt worden …

 

Colburn?! Der Name schien ihm vertraut, und plötzlich wie ein Blitz kam Tony die Erinnerung an Elks seltsamen Hausgenossen. »Wer war Colburn?« fragte er unvermittelt.

 

»Colburn?« tat Reef erstaunt. »O der! Ein Kerl, den wir wegen Trunksucht und allgemeiner Unfähigkeit entlassen haben. Er hat irgendwo an der Küste Arbeit gefunden. Ich weiß nicht, was weiter aus ihm geworden ist.«

 

Tony überreichte dem jungen Mann den Bericht. Er las, seine Augen öffneten sich weiter und weiter, seine Brauen stiegen zur Stirn empor, und jeder Fremde, der ihn ohne genaue Kenntnis der näheren Umstände beobachtet hätte, würde die Überzeugung gewonnen haben, Reef erlebe die größte Überraschung seines Lebens.

 

»Das sind ja ganz erstaunliche Dinge, die ich da lese!« ließ er sich vernehmen.

 

»Nie vorher gesehen?«

 

Die Frage kam wie ein Peitschenknall.

 

»Wie sollte ich das gesehen haben? Es war doch an Frensham gerichtet. Das war eine von seinen Merkwürdigkeiten. Er haßte jede Unannehmlichkeit … Das ist eine höchst ernste Angelegenheit …«

 

»Sie haben es also nie vorher gesehen?« fragte Tony wieder sehr betont.

 

Ein heißes Rot überzog Julians Stirn.

 

»Zum Teufel, was wollen Sie eigentlich?« fragte er. »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich diesen Bericht niemals gesehen habe, oder glauben Sie etwa, ich würde meine Hand dazu bieten, daß so etwas unterdrückt wird?«

 

Tony biß sich nachdenklich auf die Lippen, seine Augen hielten den anderen fest im Bann.

 

»Vor einigen Monaten, nach dem Tod des Sachverständigen, wurde von der Gesellschaft ein Bericht mit der Unterschrift dieses Mannes herausgegeben. Wer gab ihn heraus?«

 

Julian überlegte rasch. Hier durfte er nicht lügen. Diese Tatsachen waren zu leicht nachzuprüfen.

 

»Ich gab ihn heraus«, gestand er kühn.

 

»Haben Sie das fragliche Dokument gesehen?«

 

Wieder überlegte Reef.

 

»Ja«, antwortete er.

 

»Haben Sie das Original des Berichts, in dem der Ingenieur bekundet, daß die Aussichten der Quellen niemals besser gewesen seien – dieses Berichts, den Sie ja veröffentlicht haben?«

 

Eiskalt erwiderte Julian:

 

»Nein, ich besitze das Original nicht. Man schickte es mir, ich ließ es abschreiben. Meine Abschrift übersandte ich dem Drucker. Anscheinend hat Frensham …«

 

»Wollen Sie etwa andeuten, daß Frensham einen gefälschten Bericht herausgegeben und die Wahrheit über diese Quellen unterdrückt hat?« Und da Reef die Antwort schuldig blieb, fuhr Braid unerbittlich fort: »Sie kannten Frensham weit besser als ich. Hat er jemals einen Gaunerstreich oder einen Betrug verübt? Halten Sie ihn für fähig, die Öffentlichkeit mit Überlegung und Tücke zu beschwindeln?«

 

Julian zuckte die Achseln. »Was weiß ich!« sagte er. »Natürlich war er ein anständiger Mensch, aber wer kann anderen ins Herz sehen? Das einzige, was ich bestimmt von dieser Sache weiß, ist, daß dieser Bericht mir nie zu Augen gekommen ist. Aber den anderen Bericht, den der Ingenieur unterzeichnet hat, der die günstigen Aussichten der Quellen schilderte, den habe ich gesehen. Und sicher hatte der Ingenieur recht gewichtige Gründe, wenn er so günstige …«

 

Mit einer herrischen Geste unterbrach ihn Braid.

 

»Jetzt werde ich Ihnen etwas sagen, Reef!«

 

Er stand auf, beugte sich über den Tisch vor und preßte die Knöchel hart auf die Platte.

 

»Dieser Bericht, den Sie eben gelesen haben, war nicht unter Lord Frenshams Papieren, bis Sie kamen.«

 

»Was heißt das?« fragte Julian mit fliegendem Atem.

 

»Das heißt, daß ich den ganzen Haufen durchgesehen hatte. Und wenn ich auch kein gutes Gedächtnis für manche Dinge habe, so habe ich doch ein ausgezeichnetes für andere. Zu diesen gehören Farben. Unter diesem Stapel war kein Dokument auf blauem Papier wie das hier.«

 

Tödliches Schweigen folgte.

 

»Worauf zielen Sie also ab?« Julian fand seine Stimme wieder.

 

»Darauf, daß Sie diesen Bericht unter die Papiere geschmuggelt haben, während ich auf Ihren Rat hin im Nebenzimmer erdichtete Dokumente suchte.«

 

»Das ist eine Vermutung!«

 

»Das ist keine Vermutung, sondern eine Feststellung.«

 

Julian schwieg. Ein panischer Schrecken schüttelte ihn. Seine Nerven waren schon bei seinem Eintritt erschüttere gewesen. Die grausige, von Guelder angedeutete Anklage hatte ihm jeden Halt genommen.

 

»Sie haben nicht nur diesen Bericht unter die Papiere geschoben, Sie haben auch das Sachverständigengutachten gefälscht, das Sie veröffentlicht haben und das die Lulanga-Aktien auf siebzehn Schilling hinauftrieb. Ich habe in diesem Büro nicht sehr viel entdeckt; aber etwas habe ich mit aller Bestimmtheit gefunden: Sie haben die ganze Korrespondenz mit Afrika geführt. Es ist eine Kinderei, festzustellen, wieviel Aktien Sie auf Grund dieses gefälschten Berichts verkauft haben, und eine ebensolche Kleinigkeit, Sie dorthin zu bringen, wo Sie hingehören. Ich habe mich doch deutlich genug ausgedrückt?«

 

Auch hierauf blieb Julian die Antwort schuldig.

 

»Ich kann die Polizei rufen und Sie verhaften lassen. Ich habe genügend Beweise in der Hand, Sie auf sieben Jahre ins Gefängnis zu bringen. Ich verzichte aber darauf. Nicht Ihretwegen. Ich will Frenshams Namen reinhalten. Ich will nicht, daß Ihre schmutzige Behauptung, er wäre für diesen Betrug verantwortlich, vor Gericht laut wird. Nur das rettet Sie.«

 

Julian zwang sich zu einem Lächeln.

 

»Und Ursula – könnte man vielleicht auch in diesem Zusammenhang erwähnen … Was Sie für Blödsinn zusammenreden, Braid! Sie könnten mich verhaften lassen? Nichts können Sie mir beweisen. Und aus gutem Grund«, fuhr er hastig fort, »weil ich vollkommen schuldlos bin. Ich weiß nicht, ob Frensham ein Betrüger war oder ein Ehrenmann – interessiert mich auch nicht. Ich kann aber beschwören, daß er die Veröffentlichung des einen Berichts veranlaßte und daß ich diesen Bericht hier niemals vorher gesehen habe.«

 

»Mit anderen Worten, daß er ihn absichtlich unterdrückt hat?«

 

Julian Reef sah die Gefahr und wich feige aus.

 

»Das behaupte ich nicht. Ich sage nur, was alle Welt sagen würde, was jeder Mann auf der Straße behaupten würde.«

 

Tony zeigte zur Tür.

 

»Verwandeln Sie sich schleunigst in einen Mann auf der Straße! Aber schleunigst.«

 

Julian schien der Augenblick für ein Rededuell nicht geeignet. Er machte, daß er fort kam. Wenige Sekunden später hatte er das Büro in St. James‘ Street verlassen.

 

Kapitel 13

 

13

 

Tony studierte die Gedenktafel der im Weltkrieg gefallenen Beamten von Scotland Yard, als ein junger Beamter ihm meldete, daß Inspektor Elk ihn bitten lasse. Er folgte dem Beamten viele Treppen hinauf, durch endlose Flure und kam schließlich zu einem sehr kleinen Zimmer und dem faul auf einem Stuhl ausgestreckten Elk.

 

»Kommen Sie herein, Mr. Braid. Junger Mann, schließen Sie die Tür. Sie müssen schon ein bißchen weiter ins Zimmer treten, Braid, damit der Mann die Tür schließen kann. Es ist das kleinste Zimmer in Scotland Yard. Ich bin eben ein Niemand. Nächstens wird der Abteilungsleiter einen Käfig für mich als Behausung bauen und zum Fenster hinaushängen lassen.«

 

Er stand auf und bot dann Tony den einzigen verfügbaren Stuhl an.

 

»Lassen Sie nur. Ich sitze immer auf dem Tisch. Es sieht würdiger aus«, beruhigte Elk. »Eine Zigarre haben Sie wohl nicht zufällig bei sich? Ich habe mein Etui zu Hause gelassen. Als der Bote kam und mir einen Herrn meldete, dachte ich, es wäre ein Einbrecher, ein lieber Freund von mir, der herrlich melodiös pfeift, geradezu ein Künstler. Aber schließlich nehme ich auch mit Ihnen fürlieb. Wo drückt Sie der Schuh, Mr. Braid? Hat Ihr Buchmacher Sie beschwindelt? Das ist das Dumme an diesen Krediten, daß man nie weiß, wie man steht, bis Sonnabend. Ich hab‘ mir ja gleich bares Geld auszahlen lassen und …«

 

»Was macht Mr. Colburn?« fragte Tony.

 

Elk starrte ihn an.

 

»Mein Mieter – ihm ist doch nichts zugestoßen?«

 

»Wohnt er noch in Ihrem Haus?«

 

Elk nickte.

 

»Natürlich. Wenn er schläft. Das ist die einzige Zeit, in der er seßhaft ist.«

 

»Halten Sie es für möglich, daß ich mit ihm sprechen kann? Erinnern Sie sich, Sie wollten ihn mal nach Ascot mitbringen?«

 

Elk kratzte sich das Kinn und blickte auf die Uhr.

 

»Ascot ist ein bißchen weit«, entschuldigte er sich.

 

»Sie brauchen ihn ja nicht nach Ascot zu bringen. Ich kann ihn auch in der Stadt sehen. Können Sie ihn heute abend auftreiben?«

 

Elk nickte, sah aber nicht sehr überzeugt aus.

 

»O ja, er ist nur ein bißchen schwer zu finden«, erwiderte er. »Er ist, was man einen Wandervogel nennen könnte. Und wenn er mal in gemütliche Gesellschaft kommt … dann … ich meine, er verträgt nicht viel Alkohol. Eine Menge, die mir nichts weiter anhaben würde, als meinen sinkenden Mut zu heroischer Fackel anzufachen – wenn Sie mir diesen poetischen Ausdruck gestatten wollen –, treibt ihn zu der ernsthaften Behauptung, er sei der rechtmäßige Erbe eines Herzogs.«

 

»Mit anderen Worten, Sie wollen sagen, er könnte einen sitzen haben. Macht mir gar nichts. Bringen Sie ihn mir nur.«

 

Elk nickte wieder, doch sein Selbstvertrauen war nicht gerade groß.

 

»Er wird kommen, und wenn ich ihn mit einem Wagen der Rettungsgesellschaft bringen muß«, erklärte er. Dann blickte er aus dem Fenster und sagte, da ihm offenbar gerade ein Gedanke kam: »Sie haben heute morgen allerhand Papiere durchgesehen?«

 

»Donnerwetter, wer hat Ihnen das erzählt?«

 

»Ein Vögelchen«, versicherte er. »Der arme, junge Reef tut mir so leid. Ich sah ihn in St. James‘ Street, er war ganz hin. Armer Kerl! Es muß schrecklich sein, einen Onkel zu verlieren.«

 

Tony wollte gerade gehen, doch er kam schnell noch einmal zurück.

 

»Beobachten Sie das Büro?« fragte er.

 

Der Detektiv war ein Bild beleidigter Unschuld.

 

»Ich beobachte nie etwas«, bemerkte er. »Und wenn, dann nicht lange. Es macht mich schwindlig. Das einzige, was ich gern beobachte, ist das Leben und seine seltsamen Verwicklungen.«

 

»Aber wer hat Ihnen verraten, daß ich Frenshams Papiere prüfte?«

 

Mr. Elk hob die Augen zur Decke und überlegte heftig. »Eben hab‘ ich’s noch gewußt, und im Moment habe ich’s vergessen! Nehmen wir an, es wäre der alte Buchhalter Frenshams. Ich glaube, Main heißt er. Ich trank in einer achtbaren Teestube eine Tasse Tee, als er hereinkam und sich an meinen Tisch setzte.«

 

»Oder Sie kamen herein und setzten sich an seinen Tisch«, stellte Tony richtig.

 

»Auch das ist möglich«, gab Elk zu. »Ein lieber Mensch, der Alte. Er hält Hühner. Ich kannte mal einen anderen lieben Menschen, der auch Hühner hielt. Ich ging zu seiner Hinrichtung, was nicht mehr als billig war, weil ich die unschuldige Ursache dieses frühen Morgenspaziergangs war. Übrigens, Mr. Braid, lassen Sie nächste Woche irgendwas in Brighton laufen? Ich liebe Rennen. Man verbringt einen angenehmen Tag in frischer Luft.«

 

Tony verließ Scotland Yard ziemlich verdutzt. Er wäre noch viel mehr verdutzt gewesen, wenn er die Befehle gehört hätte, die Inspektor Elk einem Untergebenen jetzt übermittelte.

 

»Beobachten Sie Mr. Braid. Lassen Sie ihn nicht aus dem Auge. Ich werde es so einrichten, daß ich Sie um acht Uhr abends ablöse.«

 

Kapitel 14

 

14

 

Ursula war schließlich auf eigene Verantwortung und ohne die heimliche Hilfe von Telegrammen und Ausreden nach London zurückgekehrt. Freilich hatte sie ihren sanft empörten Verwandten nicht gerade ins Gesicht gesagt, daß sie bei ihnen vor Langeweile langsam umkomme. Sie waren ohnedies hinreichend überzeugt, daß sie mehr als herzlos, höchst exzentrisch und bodenlos oberflächlich sei. Als sie fort war, zogen sie alle die Augenbrauen hoch, blickten einander eindeutig an, doch keiner wußte, was der andere meinte, was weiter nicht erstaunlich ist, da keiner wußte, was er selbst meinte.

 

Die Umgestaltung des Hauses erforderte Zeit. Alte vertraute Gegenstände, die so eng mit dem Tod des Vaters verbunden waren, daß schon ihr Anblick sie schmerzte, mußten umgestellt werden. Sie ließ seine beiden Zimmer aufräumen und schloß sie ab. Vielleicht kam einmal die Zeit, daß sie sie wieder benutzen konnte. Vorläufig bedeuteten sie ihr Tragödie und Herzweh. Nur einen glücklichen Menschen hatte sie in Somerset zurückgelassen. Der Butler, der wie ein Heiliger aussah, trug ihr den Koffer zum Wagen und drückte ihr in erregtem Flüsterton seine Dankbarkeit für ihre Hilfe und ihren Rat aus.

 

»Ich habe hundert zu sechs Pfund gewonnen, gnädiges Fräulein, und würde es für einen Vorzug erachten, wenn Sie Mr. Braid meinen Dank aussprächen. Und wenn Sie vielleicht so freundlich wären, gnädiges Fräulein, ihn zu fragen, ob sein Zweijähriger in Lewes irgendwelche Chancen hat … Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht, gnädiges Fräulein.«

 

»Ich werde ihn bestimmt fragen«, versicherte sie dem ängstlichen Mann und verließ während eines tiefen Bücklings diesen Heiligen und Kirchenvater, der zwei Konten in London und in Glasgow bei sehr bekannten Buchmachern laufen hatte.

 

Der Rennsport begann sie allmählich zu interessieren. Sie war überrascht, wie weit sich das Interesse erstreckte. Sie entdeckte, daß sie eine wichtige Persönlichkeit geworden war, nicht nur in den Augen der Dienerschaft, sondern auch bei den Geschäftsleuten in Somerset, seit Lydia Marton den Steward-Pokal gewonnen hatte. Denn der Butler hatte über seine Wette und sein Glück ausgiebig berichtet.

 

Glücklicherweise brauchte sie nach ihrer Heimkehr kein Personal zu entlassen. Lord Frenshams Haushalt war immer sehr klein gewesen. Er hatte niemals einen Diener gehalten, er behauptete, das mache ihn nervös. Die häuslichen Veränderungen verursachten wenig Mühe. Die entfernte Tante in Cumberland hatte einen Brief geschrieben, der jedes Für und Wider erwog, aber doch die Hoffnung nicht ausschloß, daß sie »sehr bald« kommen könne.

 

»Die Aussicht auf eine Anstandsdame ist schon so gut wie eine Anstandsdame«, sagte sie Tony am Telefon.

 

»Ich mache mir Sorge, daß Sie allein in dem Haus wohnen, ohne einen Diener. Schicken Sie lieber Ihren Schmuck auf eine Bank.«

 

Sie belächelte seine Sorge, schloß aber schließlich mit ihm einen Kompromiß dahin, daß sie den vertrauenswürdigen Chauffeur im Hause schlafen ließ. Die Fragen der Juwelen ließ sie diskret in der Versenkung verschwinden.

 

Es gab andere und wichtigere Fragen zu lösen. Sie hatte nun ihr Vermögen in eigene Verwaltung genommen und fand es mager genug.

 

Ihre Reise nach Somerset hatte auch das Mysterium der »großen Erbschaft« gelöst, die ihr eines Tages zufallen sollte. Ein kaltblütiger Priester, einer ihrer Cousins, erläuterte ihr mit vielen Einzelheiten – denn er war ein Rechtsfanatiker –, daß die Erbschaft eine etwas nebelhafte Angelegenheit sei, da erst drei Leben dahinschwinden müßten, ehe sie an die Reihe käme. Zwei dieser Leben waren besonders jung und gesund. In Wahrheit hatte sie nie an diese Erbschaft geglaubt, sondern sich mit dem Gedanken getröstet, daß irgendwo in märchenhafter Ferne ungeheure Reichtümer ihrer harrten, die irgendwie eines Tages, ohne Leid für einen Dritten, ihr zufallen würden.

 

Am Tag ihrer Ankunft kam Tony zu ihr zum Tee. Sie erklärte ihm genau ihre Lage.

 

»Ich glaube, wir können diese sagenhafte Erbschaft aus unseren Betrachtungen ausschalten und lieber überlegen, wie wir für mich eine anständige Arbeit finden. Ich habe Stenografie und Schreibmaschine gelernt; das war Vaters Idee, und ich glaube, ich würde für einen wohlhabenden Finanzmann eine bewundernswerte Sekretärin abgeben.«

 

»Der bin ich nicht!« rief Tony prompt. »Und etwas muß ich Ihnen noch sagen«, lenkte er grimmig ab. »Aus einem mir unverständlichen Grund übertrug Ihr Vater auf Ihren Namen alle seine Lulanga-Aktien. Dies geschah am Tag seines Todes.«

 

Sie staunte. »Haben sie irgendeinen Wert?« fragte sie.

 

»Meiner Meinung nach nicht. Ich bin nur froh, daß sie keine Verpflichtung für Sie enthalten.«

 

»Was sagt denn Julian dazu?« fragte sie unvermittelt.

 

»Was Julian sagt, ist wohl ganz gleichgültig, Ursula«, erwiderte er mit Nachdruck. »Ich wünsche, daß Sie Julian weder sehen noch ihm schreiben.«

 

Sie sah ihn lange Zeit wortlos an, dann senkte sie langsam den Kopf. »Gut, Tony, ich will nicht einmal nach dem Grund fragen. Das ist das größte Kompliment, das ich Ihnen machen kann. Es fällt mir übrigens nicht schwer, Julian aufzugeben.«

 

Dann war zwischen ihnen eine lange Pause. Als das Schweigen zu lastend wurde, fragte sie leise:

 

»Was wollten Sie vorhin sagen, Tony?« und ließ die Augen sinken, ohne recht zu wissen, weshalb.

 

»Ich hätte sehr viel zu sagen.« Seine Stimme klang fest. »Ob Sie wirklich wissen, wie furchtbar schwer es mir wird, nichts zu sagen?«

 

Er hörte einen kleinen Seufzer. Und jetzt hätte er sie in die Arme nehmen und ihr das eine sagen können, das sie erriet und das sie wußte: daß er sie liebe.

 

Und doch hätte er gegen seinen Charakter gehandelt, wenn er es getan hätte, gestand sie sich, als er gegangen war. Er hätte sich vor sich selbst geschämt. Es wäre ihm gewesen, als habe er einen unbewachten Augenblick ausgenutzt, als habe er sie in dem Schmerz über den Tod des Vaters arglistig überrumpelt.

 

Tony speiste nicht daheim. Er kam um Viertel neun nach Hause und wartete auf Elk und dessen herumstrolchenden Freund. Da der Detektiv nicht angerufen hatte, durfte Tony hoffen. Doch es wurde nach neun, ehe Elk den geheimnisvollen Mr. Colburn in Tonys Arbeitszimmer hineinbugsierte.

 

Er war ein sehr dicker Mann mit einem rosigen Gesicht, einer beträchtlichen Glatze, blauen, starren Augen und einem ingwerfarbenen Schnurr- und Backenbart. Er war ein ziemlich geräuschvoller Herr und sehr freimütig. Er begrüßte Tony als Bruder.

 

»Schon von Ihnen gehört, Braid«, jubelte er, »Elks Freunde sind meine Freunde. Entschuldigen Sie mich heute abend, aber ich hatte eine freundliche Auseinandersetzung mit einem alten Bekannten – einem Mann von Genie, doch leider ohne Glauben ans Leben oder Hoffnung auf den Himmel!«

 

Er lachte dumpf in sich hinein und schlug sich mit einem lauten Klaps aufs Knie. Elk blickte Entschuldigung heischend drein. Er fühlte sich verantwortlich. Ohne besonderen Grund, es sei denn, daß er die begrenzten akustischen Verhältnisse des Zimmers erkannte, ließ Mr. Colburn die Stimme sinken.

 

»Nächste Woche fahre ich nach Afrika, Mr. Braid«, erzählte er. »Ich hätte Sie in jedem Fall aufgesucht, selbst wenn mein lieber, alter Freund von der Polente mich nicht hierhergeschleift hätte. Ich kann Ihnen sagen, ich bin in dieses Land mit zwölfhundert Pfund gekommen und hätte jetzt zwölfhundert Pfund minus, wenn mich mein Glück nicht unter sein gastliches Dach geführt hätte.«

 

Bisweilen sprach er sehr holprig, dann wieder flammte seine Rede dahin. Augenscheinlich bewunderte Elk diese Wandlungsfähigkeit seiner Redekunst.

 

»Er erzählte mir, Sie interessieren sich für Lulangas.«

 

Tony nickte. »Allerdings – und seltsamerweise entdeckte ich heute, daß Sie einst der Ingenieur der Gesellschaft waren.«

 

»Der Gehilfe des Ingenieurs und Leiters«, berichtigte Colburn. »Ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Braid; ich besitze nicht die Würde eines Dr.-Ing. Ich bin nur ein besserer Mechaniker und gar nicht einmal so ein besonders besserer. Ich habe mich nur selbst gebildet, mir selbst alles beigebracht und bin mit mir selbst zufrieden.«

 

Dies war offenbar sein Leib- und Magenwitz. Elk begann schon zu grinsen, ehe der Satz noch recht begonnen hatte. Dann wurde Colburn wieder nüchtern.

 

»Ich gehe nach Lulanga zurück. Aber ehe ich abdampfe, will ich mit einem, der ein Paket Aktien hat, einen Handel abschließen. Aber das Paket muß sich lohnen.«

 

»Was für einen Handel?« fragte Tony voller Teilnahme.

 

Colburn betrachtete ihn mit forschenden Augen, bevor er antwortete.

 

»Ich weiß nicht, ob’s fair oder nicht fair ist, ich brauche zwanzigtausend Aktien – umsonst. Ich weiß, sie sind zu einem lächerlichen Preis an der Börse zu haben, und mit ein bißchen Glück kann ich zwanzigtausend Stück für tausend Pfund kaufen. Aber ich denke nicht daran, tausend Pfund dafür zu spendieren.«

 

»Und was bekommt der edle Spender der zwanzigtausend Aktien?« fragte Tony.

 

Es schien ihm, als lache der andere ausgiebig und mitleidig.

 

»Öl«, erwiderte er mit einer schönen Geste. »Tausende und vielleicht Millionen Tonnen Öl!«

 

»Wohl aus Quelle 16 und Quelle 18?« forschte Tony. Doch Colburn lachte vorwurfsvoll.

 

»Das waren keine Quellen, das waren Nadelstiche ins Ufergelände! Ich höre, man hat auch seitdem gebohrt. Der schwindsüchtige Ingenieur, den sie nach mir angestellt haben, war ein kluger Kerl, aber ein Bücherwurm. Jetzt ist er tot. Gott hab‘ ihn selig. Er war ein guter Mann, aber ohne Initiative. Solche Leute sterben leicht. Ich würde Sie nicht behelligen, Sir, aber der alte Elk hat ’ne Schwäche für Sie. Er nennt Sie immer den ›gerissenen Kerl‹.«

 

»Das ist nicht wahr!« protestierte Elk laut.

 

»Mensch, lüg doch nicht so unverschämt!« tadelte Colburn und schüttelte traurig den Kopf.

 

»Ich habe gesagt, gemeine Leute nennen ihn den ›gerissenen Kerl‹.«

 

»Ich bin ein gemeiner Mann, aber ich weiß, was einer ist, wenn ich ihn sehe. Betrunken oder nüchtern, mich kann keiner verschieben. Alle meine Karten liegen vor Ihnen auf dem Tisch, Mr. Laid …«

 

»Braid«, verbesserte Tony sanft.

 

Colburn fuhr fort: »Sie schmissen mich hinaus, weil ich mir ein bißchen die Nase begossen hatte, wie man zu sagen pflegt. Ich machte eine kleine Sauftour, die drei Wochen dauerte. Dann nahm mich ein Freund auf einem deutschen Schiff nach Mossamedes – aber meine Irrfahrten werden Sie kaum interessieren. – Jedenfalls kenne ich jene Lulangafelder besser als Sie die Regent Street. Besonders genau kenne ich den Bergrücken, der sich hindurchzieht. Er heißt Pogolaki-Gebirge. Gebirge! Lächerlich, ist ein Misthaufen. Geben Sie mir tausend Mann, und ich schaufele Ihnen das Ding in einem Jahr fort und lasse Ihnen noch ein Loch im Boden. Alle Bohrungen liegen westlich des Pogolaki. Ich lege Ihnen meine Karten offen auf den Tisch«, wiederholte er, »vertraue Ihnen als Ehrenmann. Das Öl liegt östlich vom Pogolaki. Dort wollen sie nicht bohren, weil da Sand ist und kein Anzeichen von Petroleum. Aber ich verstehe von Petroleum und Öl mehr als die Durchschnittssardine. Man braucht nämlich an der Oberfläche gar nichts von dem kostbaren Stoff darunter zu merken, aber ich wittere ihn. Haben Sie Papier und Bleistift?«

 

Tony holte das Geforderte. Der Mann entwarf eine rasche und, wie Tony beurteilte, sehr genaue Skizze der Ölfelder.

 

»Die Konzession verläuft westlich und östlich hiervon, das ist der M’ninga-Fluß – es ist kein Fluß, es ist ein Wasserloch – da gibt’s kein Öl. Aber kommen sie näher an die Höhenzüge heran, können sie nicht bohren, ohne daß sie auf eine Quelle stoßen. Und was die Hauptsache ist, Mr. Braid, die Gesellschaft hat alles, was zum Bohren und zum Handel mit einer höllischen Menge Petroleum notwendig ist. Sie können es über das Gebirge fortleiten. Der Boden ist mit nutzlosen Maschinen und Bodentanks übersät, die nutzbar gemacht werden könnten. Das einzige, was ihnen fehlt, sind Beförderungsmittel. Sobald sie zu bohren anfangen, müßten sie Tankdampfer chartern – ’ne ganze Masse!«

 

Sprach er die Wahrheit? Jedenfalls glaubte es Tony und war davon überzeugt.

 

»Wie können Sie Ihre Behauptungen beweisen?« fragte er. »Wenn Sie mir einen befriedigenden Beweis bringen, werde ich Ihnen nicht zwanzig-, sondern dreißigtausend Aktien geben. Ich glaube, damit können Sie wirklich zufrieden sein.«

 

Mr. Colburn lächelte.

 

»Der einzige Beweis für Öl ist – Öl«, sagte er treffend. »Wenn Sie den Beweis hätten, würden Lulanga nicht zweieinhalb Penny stehen. Ich habe Sie nicht um Geld gebeten, nicht wahr? Ich habe Sie nicht einmal um eine Arbeit gebeten – obwohl Sie mich natürlich später zum Ingenieur und Betriebsleiter machen müßten. Ich verlange dafür nicht einmal ein Gehalt. Ich würde mich mit meinen zwanzig- oder dreißigtausend Aktien begnügen und einer Provision. Ich brauche auch kein Geld, meine Reise zu bezahlen, aber ich brauche eine gewisse Anzahl Aktien und die in ihnen verbrieften Rechte, um jenes Feld zu bearbeiten. Und die habe ich nicht. Sehen Sie sich das an!«

 

Er nahm eine Handvoll Papiergeld aus der Tasche und warf es auf den Tisch. »Da liegen achthundert Pfund bares Geld. Ich verlange nichts als das Recht, Sie zum Millionär zu machen.«

 

»Ein anständiges Angebot«, murmelte Elk.

 

Der Mann hatte noch etwas auf dem Herzen. Gleich darauf kam er damit heraus.

 

»Sie wollen einen Beweis? Sie sollen ihn in ein bis zwei Tagen haben. Ich will Ihnen die volle Wahrheit sagen, Mr. Braid. Ich habe so’n bißchen privatim gebohrt, an der Grenze des Geländes – ich und ein Kerl, der sich vor Tod und Teufel nicht fürchtet, und zwei Eingeborene. Eigentlich müßte ich ja draußen sein und es überwachen, anstatt hier herumzulungern und zu versuchen, die Aktien aufzutreiben. Vor ein paar Tagen habe ich diesen Burschen Reef besucht. Aber er war fort, beim Rennen. Der hat auch ’ne Menge Aktien. Auch Lord Frensham, der Mann, der sich erschoß, hatte einen ganzen Schrank voll.«

 

»Ich habe Lord Frenshams Aktien«, sagte Tony. »Wann erwarten Sie den Beweis?«

 

»Täglich. Wir haben nur einen primitiven Bohrer, und das braucht Zeit. Und natürlich bekomme ich keine Kabel, denn die könnten nur über das Telegrafenamt der Lulanga-Gesellschaft gehen.«

 

»Mit anderen Worten«, lächelte Tony, »wildern Sie so’n bißchen Öl?«

 

Der Mann schüttelte den Kopf.

 

»Ausgeschlossen! Ich habe die Genehmigung für alles, was ich tue. – Wenn Sie die Bücher der Gesellschaft durchsuchen, werden Sie sie finden. Wie ist es also mit meinen dreißigtausend Aktien?«

 

»Ich werde es beschlafen«, sagte Tony.

 

Er begleitete seine Gäste hinaus, und nachdem sie Colburn in eine Taxe verfrachtet hatten, nahm er Elk beiseite.

 

»Machen Sie Ihrem Freund klar, daß es um so besser ist, je weniger Leute von seinem Traume wissen – nehmen wir mal an, es wäre nichts anderes.«

 

»Wenn ich fünftausend Pfund hätte«, begann Elk …

 

»Sie haben Sie aber nicht«, verwies ihn Tony. »Aber wenn ich einige Aktien für Sie kaufen darf, werde ich so viel Geld für Sie verdienen, daß Sie Scotland Yard kaufen können.«

 

Kapitel 15

 

15

 

Als zwei Tage später ein Angestellter von Julian Mr. Braid meldete, fühlte sich Reef versucht, sich verleugnen zu lassen. Doch fast mechanisch sagte er: »Gut« und bereitete sich auf eine sehr ungemütliche Begegnung vor. Tony war wie immer tadellos gekleidet. Er zog die zitronengelben Handschuhe aus, legte sie in das Innere seines Zylinders und setzte sich.

 

»Wieviel Lulanga-Aktien besitzen Sie?« eröffnete er die Unterhaltung.

 

Julian blickte finster drein.

 

»Soll das wieder ein Verhör werden? Ich denke, ich habe Ihnen schon klargemacht …«

 

»Über Ihre eigenen Aktien haben Sie mir gar nichts klargemacht.«

 

»Ich besitze hunderttausend – oder, um ganz genau zu sein, hundertzehntausend. Aber was interessiert Sie das? Haben Sie vielleicht ein neues Gutachten entdeckt?« höhnte er. »Eins, das die Aktien bis zum Himmel emportreiben wird?«

 

»Ich habe kein neues Gutachten entdeckt« – Tony wählte seine Worte mit großer Umsicht –, »noch habe ich eines erdichtet. Ich bin aber der Ansicht, daß auf dem Gelände noch Öl zu finden ist. In diesem Fall würden die Aktien fünfmal soviel wert sein wie heute. Liegt aber diese Möglichkeit vor, so möchte ich gern die ausschlaggebende Majorität besitzen. Ich habe zweihunderttausend von Lord Frensham – oder vielmehr von Lady Frensham. Das Aktienkapital beträgt sechshunderttausend. Ich brauche also noch eine Anzahl zur Majorität.«

 

Julian ging ein Licht auf. Nicht umsonst hieß dieser Mann der »gerissene Kerl«.

 

»Ich begreife«, rief er. »Sie wollen einen Rummel in Lulangas machen, Ihren Besitz losschlagen und mit einem großen Gewinn raussteigen, wie? Das nennen Sie dann Hochfinanz, nicht wahr?«

 

»Von Hochfinanz verstehe ich nichts«, erwiderte Tony, »aber von niedriger Finanz habe ich die letzten zwei, drei Tage allerhand gesehen. Bitte, antworten Sie nur jetzt, ob Sie mir Ihren gesamten Besitz an Lulangas verkaufen wollen?«

 

Julian wollte nur gar zu sehr, war geradezu erpicht darauf, den ganzen Schwung loszuwerden. Wenn Braid es ernst meinte und wirklich bar kaufen wollte, war ihm sein Geld höchst willkommen. Er brauchte dringend neue Mittel. Denn das neue Unternehmen ging seiner Geburtsstunde entgegen.

 

»Zur Zeit stehen die Aktien tief unter ihrem inneren Wert«, wandte er ein.

 

»Ich kann ja morgen das Gutachten des Ingenieurs veröffentlichen«,, fiel Tony ein, »damit Sie ein endgültiges Urteil über ihren inneren Wert gewinnen.«

 

Reef flammte vor Ärger auf.

 

»Das heißt, Sie wollen jeden Wert, den die Aktien noch haben, vernichten. Was planen Sie eigentlich, Braid?«

 

Tony schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen meine privaten Pläne zu erörtern. Ich frage Sie noch einmal, zu welchem Preis Sie verkaufen wollen.«

 

Julians Gedanken flogen. Er wußte zu seinem Kummer, daß es praktisch unmöglich war, Lulanga am offenen Markt zu veräußern. Er hatte seinen Besitz erst am Tag zuvor zu wenigen Pence für die Aktie angeboten. Vergeblich. Er nannte jetzt einen Preis und sah Tony lächeln.

 

»Das sind sie wert«, beharrte er, »und wenn Sie Ursulas Aktien …«

 

»Ich ersuche Sie, die Dame nicht bei ihrem Vornamen zu nennen!«

 

Wütend zeigte Reef die Zähne.

 

»Sie sprechen ein bißchen anmaßend, scheint mir. Im übrigen ist die Dame meine Cousine. Aber ich habe wirklich keine Lust, mit Ihnen zu streiten. Sie haben Ihre besondere Ansicht über Lulanga, Vielleicht haben Sie recht. Ich habe ja immer Vertrauen zu dem Gelände gehabt. Sie stolzieren auf unbekanntem Gebiet einher. Soviel ich weiß, sind Sie Diamantenfachmann, Ölfelder sind eine sehr riskante Sache. Ich verkaufe Ihnen mein Aktienpaket zu sechs Schilling. Zu diesem Preis sind sie zuletzt an der Börse gehandelt worden.«

 

Er glaubte nicht im Traum daran, daß Braid ihm einen Wert bewilligen würde, den er selbst für enorm hielt. »Eine anständige Summe für knochentrockene Quellen«, meinte Braid, »aber ich nehme sie. Schreiben Sie die Zession aus, dann gebe ich Ihnen den Scheck.«

 

Julian war vor Freude wie gelähmt. Dann aber kam ihm der Humor der Lage zum Bewußtsein.

 

Er lachte herzlich.

 

»Sie sind ja ein toller Spieler!« rief er gut gelaunt. Er entlockte aber Anthony Braid kein Lächeln der Erwiderung.

 

Es dauerte genau zehn Minuten, um Julians gesamten Lulanga-Besitz dem anderen abzutreten. Mit einem Gefühl höchster Befriedigung faltete er Tonys Scheck zusammen und steckte ihn in die Tasche.

 

»Sie wissen natürlich, was Sie kaufen. Sie haben den Bericht gelesen, und vielleicht interessiert Sie auch das hier.«

 

Er nahm ein Kabeltelegramm vom Tisch und reichte es dem Besucher.

 

»Vor einem Monat habe ich einen unabhängigen Ingenieur zur Untersuchung der Quellen hinübergeschickt«, erläuterte er. »Das ist die Antwort:

 

Tony las:

 

Ausbeute minimal. Meiste Quellen ausgetrocknet. Die noch arbeiten, produzieren verminderte Menge. Kleine, von Gesellschaft genehmigte Bohrungen östlich des Gebirges. Meiner Meinung nach geringste Hoffnung auf Erfolg.

 

Dann reichte er das Telegramm zurück.

 

An der Tür blieb er noch einmal stehen.

 

»Wenn Freunde von Ihnen größere Posten von diesen Werten haben, nehme ich sie ihnen gern ab«, erklärte er.

 

»Warum kaufen Sie nicht an der Börse?« entgegnete Julian keck. »Das ist eine nicht ganz unwichtige Einrichtung, von der Sie vielleicht schon einmal gehört haben. Ich bin überzeugt, es gibt eine ganze Anzahl Aktienbesitzer, die gern Ihre interessante Sammlung vermehren wollen.«

 

*

 

Als Guelder einige Zeit später kam, fand er seinen Sozius in sehr gehobener Stimmung und erfuhr bald den Grund. Guelder kratzte sich die Nase und war durchaus nicht allzu erfreut.

 

»Hm«, machte er, »der gerissene Kerl!«

 

Er las das Kabel, das er noch nicht kannte.

 

»Mit Genehmigung? Was bedeutet das? Wer bohrt da auf der anderen Seite des Gebirges?«

 

Julian erklärte ihm, daß die Gesellschaft häufig die Genehmigung an Leute erteile, die ihr Glück auf unerforschten Gebieten des Geländes versuchen wollten.

 

»Der Gesellschaft schadet das nichts. Denn haben sie Erfolg, müssen sie der Gesellschaft 75 Prozent ihrer Ausbeute abgeben und den Handel mit ihrem Öl überlassen. Vor einiger Zeit gab Frensham jenem Burschen Colburn eine Lizenz, der früher mal Ingenieur bei uns war und wegen Trunksucht flog.«

 

»Colburn?« fragte Guelder und blickte scharf auf. »Der kam vor etwa drei Wochen hier ins Büro, als du in Cornwall warst. Ein etwas lärmender Geselle.«

 

»Ich kenne ihn nicht«, entgegnete Julian gleichgültig.

 

»Er ist in London, mein Freund. Stimmt dich das nicht nachdenklich?«

 

»Nein. Auch der wird kein Öl nach Lulanga pumpen«, lachte Julian.

 

Kurz vor dem Lunch kam Guelder herein, einen Morsestreifen in der Hand, schloß behutsam die Tür hinter sich, ging langsam auf Reef zu und legte den Papierstreifen ohne ein Wort vor ihn hin. »Was ist das?« fragte Julian und blickte auf.

 

»Lies«, befahl der andere.

 

Reef nahm das Papier auf, las und starrte.

 

»Lulanga-Öl 17,9, 18,6, 18,9, 20,3.«

 

Er traute seinen Augen nicht.

 

»Dieser verrückte Narr kauft!«

 

Guelder schüttelte den Kopf. »Wahnsinn hat viele Gesichter«, bedeutete er. »Dieser Mann ist sicher nicht zu seinem Schaden verrückt geworden. Er mag ein Spieler sein, aber er spielt nicht blindlings. Wollen wir nicht auch kaufen, mein guter Julian. Wenn es für ihn gut ist zu kaufen, wird es für uns nicht schlecht sein.«

 

»Du magst ja verteufelt viel von deiner Wissenschaft verstehen«, schimpfte Julian, »von Aktien hast du keinen blauen Dunst. Begreifst du nicht, du Schafskopf, daß die Papiere bis Börsenschluß Hals über Kopf stürzen werden?«

 

Er war kein guter Prophet. Die letzte Notierung der Lulanga war 27 Schilling.

 

»Dahinter steckt eine Schiebung«, schimpfte Julian wütend. Und vielleicht hatte er recht.

 

Als er am nächsten Morgen im Bett die Zeitung las, fand er einen Artikel mit der Überschrift: »Romantik der Ölfelder … Sensationelles Steigen der Lulangas … Wertlose Aktien stehen jetzt auf zwei Pfund!«

 

Gestern früh beweinten Lulanga-Öl-Besitzer ihr Los … Wer gestern zu niedrigem Kurs verkauft hat, sieht heute schon seinen Fehler ein. Mr. Anthony Braid, der bisher Diamanten-Interessen vertrat, war der Hauptkäufer. Wie wir erfahren, übernahm er ein Paket von über hunderttausend Stück von einem wohlbekannten City-Mann zum Kurs von sechs Schilling. Am Schluß der gestrigen Börse hatte er einen Gewinn von über hunderttausend Pfund in der Tasche! Bei einem Interview, das er gestern abend unserem Mitarbeiter in seiner Wohnung gewährte, erklärte Mr. Braid, das Steigen der Aktien sei nicht verwunderlich. Unabhängige Ölsucher wären bei ihren Bohrungen am Rande des Geländes auf das wahre Ölfeld gestoßen. Das Ergebnis sei verblüffend, die Möglichkeiten seien unberechenbar. Mr. Colburn, der neue Ingenieur, reise Sonnabend nach Afrika. Ein Kabel seines Vertrauensmannes, der die Versuchsbohrungen, unternommen hat, rief ihn dringend zurück.

 

*

 

Julian warf die Zeitung auf den Boden, sprang aus dem Bett und trampelte wütend darauf herum. Tony Braid hatte ihn darauf hingewiesen, daß das Gelände Öl enthalte, daß die Aktien fünfmal soviel wert waren, als er dafür zahlte. Es war eine Gerissenheit – diese Wahrheitsliebe war wieder einmal eine der ihm eigenen Gerissenheit!