Kapitel 32

 

32

 

An demselben Tag wollte auch Mr. Chesney Praye die Wahrheit ergründen. Für gewöhnlich konnte er sie nicht brauchen, aber wie er der Gräfin während des Essens erklärte, wollte er jetzt genau erfahren, woran er sei. Er wußte viel mehr, als sie vermutete, denn er war ein schlauer Mann, der einen ausgesprochenen Instinkt dafür hatte, verborgene Dinge herauszubringen. Er handelte jederzeit nur nach Zweckmäßigkeitsgründen und holte aus jeder Lage stets das Beste für sich heraus.

 

»Du willst mich heiraten, Leonora, sobald diese Angelegenheit geklärt ist. Aber bevor wir weitergehen, mußt du mir deine Karten aufdecken. Zunächst will ich wissen, was ich getan habe. Blinder Gehorsam ziemt einem Soldaten, aber ich bin kein Soldat. Ich habe mir die Hände mit dieser Sache schon böse beschmutzt, und ich kann fünf Jahre im Gefängnis sitzen, wenn Dorn mir jemals auf die Spur kommt. Es gibt so viele Dinge, die du mir noch nicht erzählt hast – und ich möchte jetzt vor allen Dingen Klarheit haben.«

 

Die Gräfin nahm die Zigarette aus dem Mund, blies eine Rauchwolke von sich und verfolgte sie mit den Augen, bis sie sich auflöste. Dann drückte sie die Zigarette langsam in dem Aschenbecher aus und erzählte ihm alles. Chesney Praye hörte ihr eine halbe Stunde lang zu, ohne sie zu unterbrechen. Und er beschloß, alles was er erfuhr, zu seinem eigenen Vorteil auszunützen.

 

Nur einmal machte sie eine Pause, als sie ihren Sohn mit Lizzy in dem Palmenhof sah.

 

»Sie ist hübscher, als ich dachte. Wenn sie auch nur das nette Aussehen einer Choristin hat – immerhin –«

 

»Das ist aber jetzt ganz gleichgültig«, sagte Chesney ungeduldig. »Was passierte dann?«

 

Die Gräfin sprach weiter und verheimlichte ihm nichts. Als sie geendet hatte, saß er mit heißem Kopf auf seinem Stuhl.

 

»Bei Gott«, sagte er atemlos, »du bist einfach eine wundervolle Frau – jetzt verstehe ich auch das ganze Geheimnis von Gallows Farm. Ich muß wirklich sagen, ich bin starr vor Staunen.«

 

»Ja – das ist das ganze Geheimnis von Gallows Farm«, sagte Lady Moron. Chesney Praye verließ das Hotel allein. Die Gräfin wollte auf ihr Landgut gehen und lud ihn ein, sie zu begleiten. Aber er schützte rasch eine Verabredung vor, die er im Moment ersonnen hatte. Er war ein schneller Denker und verdankte es dieser Eigenschaft, daß er damals in Indien einer Verurteilung entgangen war.

 

Er schaute nach einer Uhr in der Straße. Es war höchste Zeit, daß er einen Teil seiner Absicht ausführte. Wenn sein Plan auch noch nicht in allen Einzelheiten festlag, als er in ein Auto stieg, so war er doch schon in allen Details durchdacht, als er den St. Pauls-Kirchhof erreichte.

 

Lord Moron und seine Begleiterin saßen in einem gewöhnlichen Autobus, als sein Wagen an ihnen vorbeifuhr.

 

»Mein Stiefvater«, brummte der Graf. »Sie können sich doch auch nicht denken, daß ein so schrecklicher Verbrecher eine Frau wie die Gräfin anziehen kann, Elizabeth?«

 

Aber Lizzy preßte die Lippen zusammen und sagte nur die nichtssagenden Worte: »Gleich und gleich gesellt sich gern«, die man auf die verschiedenste Weise deuten konnte. Als sie nach der Charlotte Street kamen, fanden Sie kein Telegramm vor.

 

»Es wird auch keins kommen«, sagte Lord Moron mit Genugtuung. »Ich will um jede Summe mit Ihnen wetten, daß dieser Doktor es beiseite geschafft hat. Passen Sie auf, Elizabeth! Ich habe Gelegenheit gehabt, ihn aus nächster Nähe kennenzulernen, und was Sie auch immer von mir sagen mögen, Charaktere kann ich gut beurteilen.«

 

»Ich glaube, daß Sie klug sind«, gab Lizzy zu.« Das habe ich immer behauptet. Was wird Ihre Mutter sagen, daß wir in einem so teuren Restaurant Mittag gegessen haben?«

 

Lord Moron antwortete, daß das sehr gleichgültig sei.

 

»Von heute an bin ich mein eigener Herr – man kann nicht früh genug damit anfangen. Die Gräfin macht sich nichts daraus, wenn sie sich in der Öffentlichkeit mit diesem völlig unmöglichen Chesney zeigt, diesem Raubvogel, wie ich ihn manchmal nenne!« Er wartete, daß sie ihm zustimmte, aber sie schaute ihn nur freundlich lächelnd an. »Und wenn sie dabei nichts findet, dann sehe ich auch nicht ein, was sie dagegen haben könnte, daß ich mit einer – ganz gleich, mit einem hübschen Mädchen zum Essen gehe«, fügte er etwas verwirrt hinzu. Und Elizabeth hob ihre Augen in der Art, wie sie es in den Filmen gesehen hatte.

 

Um acht Uhr wurden die Postämter geschlossen. Selwyn ging zu dem nächsten und fragte nach einem Telegramm, aber es war nichts angekommen. Es gelang ihnen auch nicht, in Verbindung mit Mr. Wills zu kommen. Auf dem Rückweg telefonierte er gemäß der Instruktion, die Lizzy von ihrem Chef erhalten hatte, die Blue-Light-Company an, und sie fuhren gerade die breite Great West Road entlang, als ein schneller Wagen sie überholte. Selwyn setzte sich unwillkürlich tiefer in den Sitz zurück.

 

»Wer war das?« fragte Lizzy.

 

Lord Moron hob seinen Finger an die Lippen, obgleich keine Möglichkeit vorhanden war, sie zu belauschen. Erst als das Auto in der Ferne zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft war, drehte er sich zu ihr um.

 

»Chesney – Chesney Praye! Er fährt auch dorthin! Ich wußte doch, daß er daran beteiligt ist!«

 

»Hat er uns gesehen?«

 

»Nein, er saß am Steuer. Aber er grinste wie ein Affe – und das hat sicher etwas zu bedeuten!«

 

In Maidenhead sahen sie sein Auto vor einem Hotel stehen.

 

»Es ist hier«, sagte Selwyn aufgeregt. »Wir müssen uns sehr vorsehen, daß er uns nicht erkennt, sollte er noch einmal vorbeifahren.«

 

Er überlegte, ob sie sich hinter einer Zeitung verstecken sollten, falls Chesneys Wagen wieder vorbeifahren würde. Aber jegliche Sorge war überflüssig, denn es war bereits dunkel, als seine tiefe Hupe ertönte und er gleich darauf in höchster Geschwindigkeit vorübersauste.

 

Zehn Meilen von Gallows Farm entfernt mußten sie Erkundigungen einziehen. Es war schwer, die genaue Lage des Gehöftes festzustellen. Erst als sie Whitcomb Village erreichten, wußten sie, daß sie auf der richtigen Straße waren. Aber es gab noch andere Schwierigkeiten zu überwinden.

 

»Es hat keinen Zweck, daß wir direkt nach Gallows Farm fahren und dort einfach fragen: Wo ist sie?« erklärte der Lord vollkommen richtig. »Wenn irgend etwas Verdächtiges dabei ist – und ich bin sicher, daß jedes Ding faul ist, an dem sich Chesney beteiligt –, dann werden wir überhaupt keine Antwort bekommen. Auf der anderen Seite würden wir in eine unangenehme Lage kommen, wenn wir hineinplatzen, und es ist nichts –«

 

»Böses an der Sache«, vollendete Lizzy, um ihm zu helfen.

 

Zwei Meilen von Whitcomb entfernt hielten sie Kriegsrat und entschieden sich dafür, den Wagen zur Hauptstraße zurückzuschicken und zu Fuß weiterzugehen. Es war ein Vorschlag des jungen Grafen.

 

»Die Lage erfordert einen gewissen Takt, und wenn jemand taktvoller ist als ich, dann möchte ich ihn sehen.«

 

Sie wanderten mühsam auf der staubigen Straße vorwärts und schauten gespannt nach Chesneys Auto aus. Es war vollständig dunkel geworden, und sie hatten nur Streichhölzer bei sich, von denen Lord Moron von Zeit zu Zeit eines anzündete. Als sie das Gehöft endlich sahen, waren sie gänzlich erschöpft.

 

»Das ist kein hübscher Ort«, sagte Selwyn. Seine Unternehmungslust war ziemlich verflogen. »Ein schreckliches Loch! Ich wäre nicht im mindesten erstaunt, wenn hier irgendwo in der Nähe ein wirklicher Galgen stände. Ich glaube, es war ein Fehler, daß wir den Wagen fortgeschickt haben.«

 

»Jetzt ist es zu spät, über Fehler zu sprechen«, sagte Lizzy resolut und ging voraus. »Wir haben die Stelle gefunden – das ist doch immerhin schon etwas. Es sieht allerdings nicht gerade sehr einladend aus.«

 

Schließlich kamen sie an die häßliche Mauer und an das schwarze Tor.

 

»Sollen wir klingeln oder klopfen?« fragte Selwyn. »Da drinnen ist ein Wagen – hören Sie ihn?«

 

Lizzy stieß mit dem Fuß gegen die Tür, als plötzlich aus dem Haus der Schrei einer Frau kam. Er klang durchdringend und angstvoll, daß Selwyns Blut zu Eis erstarrte.

 

Gleich darauf flogen die Türflügel krachend nach außen auf, so daß die beiden zurückprallten. Das Vorderteil eines Autos wurde sichtbar.

 

»Eine Frau sitzt in dem Wagen«, schrie Lizzy, aber das Motorengeräusch übertönte ihre Stimme.

 

Kapitel 26

 

26

 

Es war ein unglückliches Zusammentreffen, daß Michael Dorn gleich von zwei privaten Flugstationen in der Nähe Londons die Nachricht erhielt, daß am frühen Morgen Flugzeuge aufgestiegen waren. Noch schlimmer war es aber, daß er zuerst der Mitteilung aus Cambridgeshire nachging. Durch das Telefon konnte er keine ausreichende Aufklärung erhalten. Erst als er in Morland ankam, erfuhr er, daß der Passagier ein Student aus Cambridge war, der telegrafisch nach Hause gerufen worden war, weil seine Schwester schwer krank lag. Er war nach Cornwall geflogen.

 

»Ich war leider nicht im Büro, als Sie anriefen«, sagte der Kommandant des Flugplatzes. »Sonst hätte ich Ihnen das alles schon vorhergesagt.«

 

»Schade«, entgegnete Michael, »aber daran läßt sich nichts mehr ändern.«

 

Er ging zu seinem Wagen zurück und studierte die Karte. Von Whitcomb war er hundertsieben Meilen entfernt, und die Straßen, die er benutzen mußte, waren nicht die besten. Außerdem hatte er während der ersten zwanzig Meilen zwei Defekte an der Bereifung. Bis der Schaden repariert war, hatte er beinahe eine Stunde Tageslicht verloren. Der schlechteste Teil des Weges lag noch vor ihm, und es war durchaus nicht sicher, daß er der Auffindung der Gesuchten auch nur um einen Schritt näher kam, selbst wenn er sein Ziel noch erreichte.

 

Während er in Market Silby auf den Wechsel des Reifens wartete, studierte er die kleine Zeittafel, die er sich zusammengestellt hatte. Lois war um zwei Uhr morgens aus dem Polizeirevier entführt worden, wie er festgestellt hatte. Um acht Uhr – sechs Stunden später – hatte Chesney Praye von Paris aus telegrafiert. Wenn er mit einem Privatflugzeug in der Nähe Londons aufgestiegen war, so dauerte es mindestens zwei Stunden, bis er die französische Hauptstadt erreichte. Er mußte etwa gegen fünf Uhr abgeflogen sein. Zwischen zwei und fünf Uhr morgens lag also die unbekannte Fahrt. Lois mußte an einen Ort gebracht worden sein, der anderthalb bis zwei Stunden von der Hauptstadt entfernt war. Wenn seine Annahme wegen des Flugzeuges richtig war, wurde sie an einem Platz zurückgehalten, der vom Flugplatz nicht mehr als zwanzig Meilen entfernt lag, wenn Chesney Praye ein Auto benutzt hatte, dagegen sechs oder sieben Meilen, wenn er den Weg in einem Pferdewagen zurückgelegt hatte oder zu Fuß gegangen war.

 

Der Flugplatz in Cambridge hätte seinen Voraussetzungen am besten entsprochen, aber auch Whitcomb an der Grenze von Somerset war denkbar. Er erreichte den Flugplatz gegen Abend, gerade als der Kommandant nach Hause gehen wollte. Michael Dorn gab sich zu erkennen, und seine Befugnisse hatten doch mehr amtlichen Charakter, als Lady Moron annahm. Dann ging er mit dem Kommandanten in das Büro.

 

»Der Herr, der heute früh abflog, hieß Stone. Gestern abend spät hat er von London aus angerufen, daß wir eine Maschine für ihn bereithalten sollten, die ihn nach Paris brächte. Heute morgen kam er zeitig hier an.«

 

Er beschrieb den Reisenden so genau, daß Michael glaubte, Chesney Praye leibhaftig vor sich zu sehen.

 

»Das wäre die Persönlichkeit«, sagte er. »Wie kam er hierher? Hatte er ein Auto?«

 

»Nein – er kam in einem kleinen Wagen bis zur Abgrenzung des Platzes und ging den Rest zu Fuß.«

 

»Kam er in einem Pferdewagen? Wer hat das Gefährt gelenkt?«

 

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Die Entfernung war zu groß, als daß ich jemand hätte sehen können. Auch kenne ich nur wenig Leute hier in der Umgebung.«

 

Dorn überlegte einen Augenblick.

 

»Aber vielleicht können Sie mir die Stelle zeigen, wo er den Wagen verließ.« Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Haben Sie eine Generalstabskarte von dieser Gegend?«

 

Der Kommandant konnte ihm eine solche Karte zeigen und ihm sogar genau die Stelle angeben, wo der Passagier aus dem Wagen gestiegen war. Michael fuhr den Weg mit dem Finger nach und begann dann nach einem Gehöft zu suchen.

 

»Das ist der Wohnsitz Lord Kelvers‘ – zufälligerweise kenne ich ihn, ich war schon dort. Dies ist das Haus eines Rechtsanwalts.« Michael deutete auf eine andere Stelle. »Hier geht die Straße nach Ilfey Village, da liegt ein Gasthaus, der ›Rote Löwe‹. Von dorther hätte er kommen können.« Aber Michael lehnte die Möglichkeit ab, daß Chesney sich so dicht in der Nähe aufgehalten hätte.

 

»Was ist hier?« Er zeigte mit dem Finger auf einen Punkt der Karte, aber der Kommandant schüttelte den Kopf. »Ich kann mich auf den Namen nicht besinnen, vielleicht weiß einer von den Mechanikern, wie der Platz heißt.«

 

Er ging hinaus und kam mit einem Werkmeister zurück, der sich über die Karte beugte.

 

»Das ist Gallows Farm«, sagte er gleich. »Ein ganz altes Gehöft. Steht schon seit Jahrhunderten dort. Ich kann nicht sagen, wie der Besitzer jetzt heißt, aber es ist kein Landwirt – wenigstens habe ich noch niemals gesehen, daß Vieh ausgetrieben wurde.«

 

Michael rief das nächste Polizeirevier an, gab sich zu erkennen und fragte nach dem Besitzer von Gallows Farm. Er mußte einige Zeit warten, bis man die nötigen Unterlagen herausfand.

 

»Das Gehöft wurde vor zwölf Monaten an einen Mr. – verpachtet.« Er hörte einen Namen, den er nicht kannte. »Außer diesem Herrn und seiner Haushälterin wohnt niemand dort.«

 

Das war gerade keine glänzende Auskunft, aber Michael ließ sich nicht verblüffen. Wieder studierte er die Karte, und nach einiger Überlegung kam er zu dem Schluß, daß Gallows Farm das einzige Anwesen in der Nachbarschaft sein konnte, das irgendwie in Betracht kam. Er aß schnell etwas in dem Restaurant des Flughafens. Es wurde schon dunkel, als er den Platz überquerte und die Straße entlangfuhr, die Chesneys Wagen gekommen war. Als er über die Kuppe des Hügels fuhr, tauchten die Umrisse des Gehöftes undeutlich in dem Licht seiner hellen Scheinwerfer auf, er konnte aber kein Licht oder irgendein Anzeichen von Leben in dem Haus erkennen. Die graue, häßliche Mauer war oben mit Glassplittern bedeckt, und das Tor, das zur Straße lag, war fest verriegelt.

 

Er ging zu seinem Wagen zurück, holte seine elektrische Taschenlampe und setzte seine Nachforschungen fort. Das Gehöft lag an dem Abhang des Hügels, und er mußte weiter hinuntersteigen, um auf die Rückseite zu kommen. Hier war eine größere und leicht verschlossene Tür zu sehen. Als er zu öffnen versuchte, hörte er drinnen wütendes Bellen und Kettenrasseln. Er horchte gespannt auf. Das Hundegebell kam ihm bekannt vor. Es war nicht das tiefe Bellen von Bulldoggen oder das helle Gekläff eines Terriers, sondern das Geheul, das er in früheren, längst vergangenen Nächten in indischen Dörfern gehört hatte.

 

»Wenn das keine indischen Paria sind, habe ich nie welche gehört«, sagte er vor sich hin und setzte seinen Weg fort.«

 

Von dem Abhang auf der Rückseite des Hauses konnte er die oberen Fenster des niedrigen Gebäudes sehen. Dann ging er wieder nach vorn und klopfte an das dicke, schwarze Holztor.

 

Das Heulen der Hunde mußte jemanden aufgeweckt haben, denn gleich darauf hörte er die scharfe Stimme einer Frau: »Wer ist da?«

 

»Ich möchte den Hausherrn sprechen«, sagte er.

 

»Sie können ihn jetzt nicht sprechen – er ist schon zu Bett gegangen.«

 

»Dann will ich Sie sprechen. Offnen Sie das Tor.«

 

Ein Schweigen folgte, dann sagte die Frau plötzlich: »Machen Sie, daß sie fortkommen, oder ich rufe die Polizei an.«

 

Die Pause verriet dem scharfsinnigen Detektiv, daß noch jemand anders zugegen war, der mit der Frau im Flüsterton sprach.

 

»Wollen Sie bitte Ihrem Herrn sagen, der schon zu Bett liegt, aber vermutlich noch nicht schläft, daß ich über die Mauer klettere, wenn Sie nicht öffnen?«

 

Diesmal schien die Frau auf keine Anweisung zu warten.

 

»Wenn Sie sich unterstehen, das zu tun, werde ich die Hunde auf Sie hetzen!« schrie sie.

 

Sie lief über das holprige Pflaster des Hofes, und gleich darauf ertönte das Geheul der Hunde, die vor ihr herstürmten.

 

»Werden Sie nun endlich machen, daß Sie fortkommen? Wenn ich das Tor öffne, werden sie Ihnen das Herz aus dem Leibe reißen, ek dum!«

 

Michael Dorn stieß unwillkürlich einen Ruf aus. Ek dum? Das war ein indischer Ausdruck. Wer konnte ihn gebrauchen?

 

»Ich denke, es ist besser, daß du mich einläßt, meine Schwester«, sagte er in Hindostani.

 

Es kam nicht sofort eine Erwiderung, aber Michael hörte deutlich, daß jemand energisch und eindringlich flüsterte.

 

»Ich weiß nicht, was Sie mit Ihrem fremden Kauderwelsch wollen«, antwortete die Frau dann heiser. »Gehen Sie endlich fort, sonst werden Sie es noch bereuen.«

 

Michael leuchtete mit seiner Lampe den oberen Rand des Tores ab und sah eine Reihe von rostigen Eisenspitzen. Sollte er es wagen? Aber es konnten ja redliche Leute sein. Es war nichts Außergewöhnliches, daß eine Frau ein paar indische Worte gebrauchte. Ihr Mann mochte ein Soldat gewesen sein, der früher in Indien gedient hatte, und sie hatte einige Redensarten von ihm aufgeschnappt.

 

»Seien Sie doch nicht so argwöhnisch und lassen Sie mich herein. Ich möchte nur ein paar Fragen an Sie stellen.« Es kam ihm ein guter Gedanke. »Ich komme nämlich von Chesney Praye.«

 

Es folgte ein langes, tiefes Schweigen, so daß er dachte, die Leute seien fortgegangen. Aber plötzlich sprach die Frau wieder.

 

»Wir kennen keinen Chesney Praye.«

 

»Wir? Wer ist denn Ihr Freund?« fragte Michael, aber er erhielt keine Antwort mehr.

 

Die Haustür wurde laut zugeworfen. Hinter dem Tor heulten und bellten die Hunde, und als er seine Fußspitzen vorsichtig zwischen den Boden und die Tür schob, hörte er das böse Schnappen und lächelte im Dunkeln.

 

Gleich darauf vernahmen sie drinnen im Haus von dem oberen Fenster aus das Geräusch des abfahrenden Autos. Der helle Schein der beiden Lampen zeigte ihnen, daß er sich in der Richtung nach London entfernte.

 

Lois Reddle packte Verzweiflung, und sie warf sich schluchzend auf ihr Bett.

 

Kapitel 27

 

27

 

Zwei Stunden waren nach Michael Dorns Abfahrt vergangen. Dr. Tappatt saß in seinem Wohnzimmer, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und sein dickes Gesicht in die Hände vergraben. Neben ihm stand ein halbgefülltes Whiskyglas. Er starrte düster ins Feuer, das Sommer und Winter für ihn brannte, seitdem er aus Indien zurückgekommen war. Früher hatte er einen berühmten Namen in der medizinischen Welt besessen, aber ein unglücklicher Vorfall trieb ihn von Edinburgh fort, wo er, obwohl er noch jung war, eine glänzende Praxis gehabt hatte. So war er nach Indien gekommen, aber auch dort hatte er einen schweren Stand. Ihm war nichts als seine sicherlich großen wissenschaftlichen Kenntnisse, seine geringen Ersparnisse und seine Vorliebe für guten Wein geblieben. Eine Zeitlang war er der Leibarzt eines indischen Fürsten, dann gründete er in einem bösen Augenblick ein Sanatorium für geisteskranke, reiche Inder.

 

Wenn nicht seine immer mehr zunehmende Trunksucht gewesen wäre, hätte er sich nach einigen Jahren angestrengter Tätigkeit mit einem Vermögen zurückziehen können, von dessen Zinsen er für den Rest seines Lebens sorglos hätte leben können. Aber Dr. Tappatt hatte böse Einfälle, die sich leider auch bei der Führung der Anstalt bemerkbar machten. Er mußte die Nordwestprovinzen in größter Eile verlassen und ließ sich in Bengalen nieder, wo er eine neue Anstalt gründete. Aber bald passierten auch hier merkwürdige Geschichten. Die Verwandten der Patienten zeigten ihn bei Gericht an, daß er Angehörige in der Anstalt festhielt oder verschwinden ließ, weil andere Leute daran interessiert waren. Schließlich wurde die Anstalt geschlossen, und er zog nach dem Pandschab.

 

Sein glänzender Verstand war durch den Konflikt mit den Behörden nur noch schärfer geworden; denn Strategie ist die Kunst, die Absichten seines Feindes genau zu erkennen.

 

Während er in die Flammen schaute, dachte er über die Charaktereigentümlichkeiten Michael Dorns nach, und er kam zu ganz bestimmten Schlüssen. Die Haushälterin war schon lange zu Bett gegangen und lag in festem Schlaf, als er den Gang entlangschlürfte und an ihre Tür klopfte.

 

»Kommen Sie heraus, ich will mit Ihnen sprechen.«

 

Er hörte sie schimpfen und ging zu seinem Studierzimmer zurück. Während er wartete, blickte er aufs Telefon und war versucht, die Hand nach dem Hörer auszustrecken. Aber er wußte, daß er die Person, die er anrufen wollte, nicht gut noch einmal stören durfte. Er hatte bereits seinen Bericht durchgegeben. Sein Plan war gut, und wenn er sich in der Beurteilung Michael Dorns auch täuschen sollte, konnte die Sache doch nicht weiter schlimm werden.

 

Als die Frau blinzelnd eintrat und ihr Kleid zuknöpfte, ließ er sie in einem Stuhl Platz nehmen und sprach ungefähr eine halbe Stunde mit ihr.

 

Sie war ärgerlich und machte viele Einwendungen, aber er beachtete sie nicht.

 

»Ich habe die letzten beiden Nächte kaum geschlafen«, beklagte sie sich, »und ich sehe gar nicht ein, warum –«

 

»Sollen Sie denn überhaupt etwas einsehen?« fuhr er sie an. »Sie haben zuzuhören – verstanden?«

 

Fast zwanzig Jahre lang diente sie ihm und fürchtete nur ihn. Nachdem sie vergeblich gemurrt hatte, fing sie an zu weinen. Da schickte er sie unwillig aus dem Zimmer.

 

+++

 

Um sieben Uhr morgens hüllte sich Dr. Tappatt in einen dicken, wollenen Mantel, denn er fröstelte in der kühlen Morgenluft. Dann zog er die Jalousien hoch und öffnete die Fenster des Wohnzimmers. Nachdem er auf einem Rundgang das Haus noch einmal inspiziert hatte, legte er Holzklötze aufs Feuer, nahm zwei große Stücke Fleisch und trug sie den Hunden hinaus, die ihn mit heiserem Gebell empfingen. Er ließ sich Zeit und hatte eine teuflische Freude daran, sie möglichst lange warten zu lassen. Als er sich umgesehen hatte, ging er zu der Vordertür des Gehöftes, drehte den Schlüssel um, schob die Riegel zurück und öffnete. Gerade im Eingang ihm gegenüber stand ein Mann. Der Doktor war verblüfft.

 

»Guten Morgen, Dr. Tappatt«, sagte Michael Dorn. »Ich dachte mir schon, daß ich Sie sehen würde, wenn ich nur früh genug zur Stelle wäre.«

 

»Großer Gott!« rief Tappatt. »Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen, Mr. Dorn!«

 

»Ich freue mich, daß Sie so denken – hat Miss Reddle gut geschlafen?«

 

Der Doktor runzelte die Stirn.

 

»Miss Reddle? Wer ist denn das? Ach so – das war doch die nette, junge Dame, die ich im Haus der Gräfin von Moron traf – was fragen Sie mich da für sonderbares Zeug!«

 

»Sie haben mich nicht einmal hereingebeten – Sie haben wohl die alte anglo-indische Gastfreundschaft vollständig vergessen?« sagte Michael spöttisch.

 

Tappatt stand mit vorgebeugtem, rot aufgedunsenem Gesicht in der Tür und hatte die Hände in den Taschen vergraben.

 

»Ich kann mich nicht besinnen, Dorn, daß wir gerade sehr gute Freunde waren. Wir hatten doch im Gegenteil verschiedene recht unangenehme Auseinandersetzungen!« »Trotzdem – entweder laden Sie mich ein oder –«

 

»Oder?« wiederholte der Doktor.

 

»Oder ich lade mich selbst ein. Ich habe so einen ganz besonderen Wunsch, mich einmal in Ihrem kleinen Haus umzusehen.«

 

Ein Grinsen ging über das häßliche Gesicht Dr. Tappatts.

 

»Kommen Sie mit oder ohne Erlaubnisschein von der Polizei, mein Haus zu durchsuchen?« fragte er höflich.

 

»Im Augenblick habe ich noch keinen, aber Sie und ich sind doch zwei alte Gesetzesübertreter, Tappatt, wir haben uns beide nie viel Sorgen um Formalitäten gemacht.«

 

Inzwischen war er durch das Tor gegangen, aber merkwürdigerweise schien er sich nicht um die Hunde zu kümmern. Tappatt sah es, und es kam eine plötzliche Bewegung in ihn.

 

Er hatte früher, als Dorn noch ein höherer Polizeibeamter war, öfter böse Zusammenstöße mit ihm gehabt und dabei fast immer den kürzeren gezogen.

 

»Ich kann Ihnen nicht widerstehen«, sagte er und öffnete die Haustür. »Treten Sie ein.«

 

Er brauchte Michael nicht zweimal einzuladen. Sorglos ging er in das Haus und wandte sich gleich dem Studierzimmer zu, als ob er schon früher hier gewesen wäre. Der Doktor folgte ihm.

 

»Nun, was wünschen Sie denn?«

 

»Ich möchte das Grundstück durchsuchen. Ich bin nämlich auf der Spur der Mrs. Pinder und ihrer Tochter, Lois Margeritta Reddle, und ich vermute, daß sie gewaltsam hier zurückgehalten werden.«

 

Tappatt schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte nur, Sie sind auf einer ganz falschen Fährte. Keine von diesen beiden Damen bewohnt mein Haus. Im Augenblick habe ich keine Patienten.«

 

»Sie haben ja auch gar nicht die Erlaubnis dazu«, sagte Michael. »Ich habe mir die Mühe genommen, die Akten durchzulesen. Man kann sie sogar mitten in der Nacht bekommen – ich fürchtete schon, daß eine Behörde mit zu kurzem Gedächtnis Ihre verschiedenen schweren Vergehen übersehen und vergessen hätte, und ich freute mich, daß Ihre Akten auch hier vollständig vorhanden sind.«

 

»Ich habe noch kein Gesuch eingereicht«, erwiderte Tappatt kurz. Jede Frage nach seinem Beruf berührte bei ihm einen wunden Punkt. »Ich sehe nicht ein, warum ich Ihnen erlauben sollte, mein Haus zu durchsuchen«, fuhr er fort. »Sie haben ebensowenig amtliche Autorität als Detektiv, wie ich die Erlaubnis habe, eine Anstalt für Geisteskranke zu führen. – Sie können ja meinethalben hier anfangen – sehen Sie doch unter den Tisch oder unter das Sofa.« Er wurde sarkastisch. »Es ist ja möglich, daß ich irgendeinen Unglücklichen verborgen habe!«

 

Dorn verließ das Zimmer, ging den Gang entlang, blieb vor einer Tür stehen, die gleich neben der Treppe lag und drückte die Klinke herunter.

 

»Das ist das Zimmer meiner Haushälterin.«

 

»Wo ist sie jetzt?« fragte Michael.

 

»Sie ist in der Küche.«

 

Michael trat in das Zimmer, zog die Vorhänge auf und sah sich um. Seine Gemütsverfassung war nicht zu erkennen. Die Willfährigkeit aber, mit der Dr. Tappatt ihm die Erlaubnis gab, das Haus zu untersuchen, schien ihm verdächtig. Die Sache entwickelte sich anders, als er erwartet hatte.

 

»Oben sind noch zwei Räume – wollen Sie die vielleicht auch sehen?«

 

Dorn nickte und folgte dem Doktor auf dem Fuße.

 

»Diesen Raum würde ich als Krankenzimmer benützen, wenn ich das Glück hätte, Patienten zu bekommen.«

 

Er stieß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem Lois sich aufgehalten hatte. Es war leer, die Bettbezüge waren von den Betten abgenommen und die Bettücher sorgfältig am Fußende zusammengelegt. Michael ging in den Raum, sah sich auch in dem Badezimmer um, untersuchte die Fenster und kam wieder heraus, ohne ein Wort zu sagen. Die meisten Frauen haben ein bestimmtes Parfüm, das sie stets gebrauchen. Er wußte, daß Lois stets ein wenig Lavendel nahm – hier hatte er, allerdings nur ganz schwach, denselben Duft wahrgenommen.

 

Das Zimmer gegenüber war weniger bequem eingerichtet und stand auch leer. Er wußte, daß zwischen der Decke und dem Dach nur wenig Platz war und daß man dort nur jemand unterbringen konnte, der selbst ein Interesse daran hatte, nicht aufgefunden zu werden.

 

Er begnügte sich deshalb mit einer ganz kurzen Untersuchung. Der andere Flügel des Hauses war kaum bewohnbar. An manchen Stellen schaute der Himmel durch große Lücken im Dach, und die Balkenlage des oberen Geschosses war durch Regenwasser und Feuchtigkeit vollkommen verfault. Der Verfall war schon so weit fortgeschritten, daß nicht einmal ein Kind ohne Gefahr den Fußboden hätte betreten können.

 

»Wohin kommt man da?« fragte Michael, als er auch das Untergeschoß des zerfallenen Teiles besichtigt hatte. Er zeigte auf eine Treppe, die nach unten führte.

 

»Das ist eine Art Keller – Sie können hineingehen«, sagte Tappatt gleichgültig.

 

Michael stieß die Tür auf und trat in einen kleinen Raum. Ein wenig Luft und Licht wurde durch ein Gitter in der Wand eingelassen, sonst war kein Fenster oder irgendeine Öffnung vorhanden. Nur in der Tür bemerkte er ein Guckloch. Mit seiner Taschenlampe leuchtete er den Raum ab und entdeckte in der einen Ecke eine alte Bettstelle und einen einfachen Waschtisch. Er trat an das Lager, drehte die zusammengefalteten Bettücher um und kam dann wieder nach oben an das Tageslicht. »Ein luftiger Raum!« sagte er trocken. »Ist das auch ein Krankenzimmer?«

 

»Mancher arme Kerl, der draußen kampieren muß, wäre froh, wenn er einen solchen Raum hätte«, entgegnete Dr. Tappatt.

 

Michael zeigte seine Zähne und lächelte grimmig.

 

»Sind Sie jemals im Gefängnis gewesen, Tappatt? Vermutlich nicht«, sagte er, als er die Treppe wieder hinaufstieg.

 

Niemand wußte besser als Dorn, daß der Doktor mehrere Male der Verurteilung nur mit knapper Not entgangen war. Aber er wollte ihm auf diese Weise eine Warnung geben.

 

»Ich hatte nicht diesen Vorzug.«

 

»Noch nicht«, sagte Dorn. »Die Zellen in Dartmoor sind bedeutend gesünder als dieses schwarze Loch hier im Keller – wie Sie sich überzeugen können. Viel frische Luft und viel Licht, und das Essen ist auch gut.«

 

Tappatt schluckte ärgerlich, aber er, sagte nichts.

 

»Was ist hier drin?« Dorn blieb vor einem verschlossenen Schuppen stehen.

 

»Ein Auto, das einem meiner Freunde gehört – wollen Sie es sehen?« »Ach, das ist der blaue Buick!«

 

»Ja, es ist ein Buick.«

 

»Der ist gestern abend hier eingestellt worden?«

 

Tappatt lächelte und schüttelte den Kopf.

 

»Er ist schon eine ganze Woche hier. Manchmal sind Sie auch etwas zu schlau.«

 

»Kann ich ihn sehen?« fragte Dorn.

 

Der Doktor ging zum Haus zurück, um den Schlüssel zu holen, während Michael schnell die übrigen Gebäude besichtigte. Die beiden Hunde bellten furchtbar, als er in ihre Nähe kam, rissen an ihren Ketten, so daß es schien, als ob sie sich erwürgen wollten. Als der Doktor zurückkam, untersuchte Dorn gerade das hintere Tor und seine nähere Umgebung. Der Boden war hart, und er konnte keine Fußspuren entdecken; selbst das Auto hatte keine Eindrücke hinterlassen.

 

»Hier ist der Schlüssel.«

 

»Ich glaube nicht, daß der Wagen mich noch interessiert«, sagte Dorn langsam. »Ich kenne ihn ja sehr gut und den Eigentümer noch besser.« Er schaute sich wieder um. »Aber ich sehe die Haushälterin nirgends.«

 

»Sie wird ins Dorf gegangen sein, um für die Küche einzukaufen.«

 

Michael zog langsam ein goldenes Etui aus seiner Tasche, nahm eine Zigarette heraus, zündete sie an und warf das noch brennende Streichholz den Hunden zu. Hierdurch wurde ihre Wut aufs neue angestachelt.

 

»Nehmen Sie sich bloß vor den Tieren in acht«, warnte ihn der Doktor. »Man darf nicht mit ihnen spaßen oder sie zu sehr ärgern. Ich wüßte nicht, was sie mit Ihnen machen würden, wenn sie sich losrissen – selbst wenn ich dabeistünde.«

 

»Die Hunde müßten sich im Gegenteil vor mir sehr in acht nehmen«, sagte Dorn. »Ich habe während meiner Dienstzeit in Indien mehr Pariahunde getötet als irgendein anderer Polizeioffizier.«

 

»Die hätten sie eher geschnappt, als Sie nur den Finger rühren könnten«, erwiderte Tappatt ärgerlich.

 

Dorn lächelte und streckte seine Hand gerade aus.

 

»Sehen Sie das?« fragte er. »Passen Sie mal auf.«

 

Wie es kam, konnte Tappatt nicht sehen oder sich auch nur im mindesten erklären, aber obwohl Dorn die Hand nicht bewegt hatte, hielt er plötzlich eine kurze, schwerkalibrige Browningpistole in der Hand.

 

»Wie haben Sie das bloß gemacht?« staunte er. »Sie hatten sie schon immer in der Hand –«

 

»Nein – die Pistole kam aus meiner Tasche«, lachte Michael. Er liebte es, durch seine Taschenspielerkunststückchen anderen Furcht einzujagen.

 

»Ich möchte schwören, daß sie nicht in Ihrer Tasche war!«

 

»Passen Sie auf!«

 

Wieder streckte er die Hand mit der Pistole aus. Eine unauffällige Bewegung – ob nach oben oder nach rückwärts, konnte Tappatt nicht sagen –, und die Pistole war wieder verschwunden.

 

»Da ist eben ein Trick dabei«, sagte Dorn gleichgültig. »Und wenn Sie die Hundesprache sprechen können, dann erklären Sie Ihren Bestien, daß sie mich besser in Ruhe lassen. Aber ich erinnere mich – Hundehetzen ist doch immer Ihre Spezialität gewesen? War nicht in Bengalen einmal ein großer Skandal wegen eines Patienten, der von den Hunden zerrissen wurde?«

 

Der Doktor schaute zur Seite.

 

»Warum liegen eigentlich die Hunde jetzt an der Kette?«

 

»Ich habe sie meistens angeschlossen.«

 

»Aber letzte Nacht waren sie doch frei – Sie wissen ja, daß ich mich in der Nähe aufgehalten habe. Dagegen waren sie heute morgen um vier Uhr wieder festgemacht, und das scheint doch nicht die richtige Zeit zu sein, sie an die Kette zu legen. Warum haben Sie das getan?«

 

Tappatt schwieg. Dorn war um vier Uhr morgens zurückgekommen! Er hatte also die Menschen nicht mehr gesehen, die Gallows Farm verließen und querfeldein gingen.

 

»Soll ich Ihnen sagen, warum?« fragte Dorn wieder.

 

»Sie haben ja ein außerordentliches Bedürfnis, mir Mitteilungen zu machen«, knurrte der Doktor.

 

»Sie haben die Hunde an die Kette gelegt, weil Sie die beiden Frauen in der vergangenen Nacht aus dem Haus geschafft haben. Sie mußten über den Hof gehen, und das konnte nur geschehen, wenn die Hunde nicht frei umherliefen. Bitte sagen Sie es, wenn ich nicht recht habe. Sie sind hier auf diesem Weg hinausgegangen, und auf diesem Weg werden sie auch zurückkommen.«

 

Dr. Tappatts Gesicht wurde lang. Das war eine Entwicklung zu seinen Ungunsten. Er hatte erwartet, daß Dorn sich mit der Durchsuchung zufriedengeben und dann das Gehöft wieder verlassen würde. Sein Plan klappte nicht so, wie er gedacht hatte.

 

»Sie können mich zum Frühstück einladen – ich bleibe so lange, bis die beiden Frauen zurückkommen.«

 

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts von den Frauen weiß, von denen Sie da fabeln«, protestierte Tappatt heftig. »Sie irren sich, Dorn, außerdem haben Sie überhaupt kein Recht hier zu sein – das weiß ich!«

 

»Ich irre mich niemals«, sagte Dorn herausfordernd, »und ich habe volle Berechtigung, hier zu sein und zu bleiben. Es ist die erste Pflicht eines Staatsbürgers, Verbrechen zu vereiteln, und die erste Pflicht eines Gastgebers ist es, seinen Gast einzuladen, wenn er hungrig ist. Nun laden Sie mich eben zum Frühstück ein und während des netten Essens will ich Ihnen dann noch verschiedenes erzählen, was Sie sehr interessieren und belustigen wird.«

 

Tappatt schaute verwirrt zur Seite. Jetzt saß er in der Falle. Seine List hatte nicht nur versagt, sondern sich sogar gegen ihn selbst gekehrt. Dorn beobachtete ihn unauffällig von der Seite und bemerkte, daß er schwer atmete. Mit Befriedigung sah er, daß er ihm einen Schrecken eingejagt hatte.

 

»Sie können nicht hier bleiben. Ich kann Sie nicht gebrauchen«, rief Tappatt ärgerlich. »Diese wahnsinnige Geschichte, daß zwei Frauen in meinem Haus sein sollen, ist irgendeine Mondscheinphantasie von Ihnen. Das wissen Sie auch ganz genau. Ich gebe Ihnen eine Minute Zeit, das Gehöft zu verlassen! Denken Sie doch ja nicht, daß ich mich von Ihnen bluffen lasse!«

 

Michael lachte leise.

 

»Nun, was wird denn passieren, wenn ich nicht fortgehe? Wollen Sie zur Polizei schicken? Damit wäre doch der Polizei die Möglichkeit gegeben, einmal die ganze Gegend gründlich abzusuchen und Sie zu überführen. Denken Sie doch nur an den scharfen Polizeikommissar, der damals Ihre Anstalt in den Nordwestprovinzen in Indien schloß. Sie wären damals fünf Jahre ins Delhi-Gefängnis gesperrt worden, wenn sich die Regierung etwas schneller entschlossen hätte. Holen Sie nur die Polizei, mein Lieber, das wird ja für Sie eine große Reklame werden.«

 

Tappatt hatte wirklich nicht die Absicht, das zu tun. Für ihn war die Polizeitruppe keine öffentliche Einrichtung, die er brauchen konnte. Da er selbst einen scharfen Verstand besaß, glaubte er sich über die Polizei lustig machen zu können.

 

»Na ja«, brummte er endlich, »kommen Sie herein. Aber Sie werden ja sehen, daß Sie sich bei der Geschichte mit den Frauen geirrt haben.«

 

»Wir wollen auch nicht weiter darüber reden«, sagte Michael mit einer freundlichen Handbewegung.

 

Kapitel 28

 

28

 

Michael Dorn konnte wirklich zufrieden sein mit diesem Teilerfolg. Aber er war ein nüchterner Kopf, der Eier nicht als Hühner rechnete. Auch unterschätzte er nicht die Schlauheit dieses ränkevollen Mannes, mit dem er hier zu tun hatte.

 

Die Gedanken des Doktors arbeiteten schnell, und ein volles Glas Whisky half ihm. Er hatte seine volle Denkkraft und Leistungsfähigkeit immer erst erreicht, wenn er ein Anregungsmittel zu sich genommen hatte. Dorn wollte also vorläufig in seinem Haus bleiben. Es kamen ihm allerhand Gedanken, wie er sich dieses unliebsamen Besuchers entledigen könnte, aber er verwarf sie alle wieder.

 

»Sagen Sie mir, wo der Kaffee steht, und ich werde ihn selbst kochen«, sagte Dorn. »Seien Sie nicht böse, wenn ich ein wenig argwöhnisch bin, aber die Ärzte haben eine unheimliche Kenntnis gewisser Drogen und Gifte, und ich würde nicht gern aus dem einen oder anderen Grund hier einschlafen, nur weil Sie die Möglichkeit hatten, mir etwas in mein Getränk zu gießen.«

 

Er ging in die Küche, machte Feuer und setzte den Wasserkessel auf. In einer Schublade des Schranks fand er eine Schachtel Keks und eine Büchse Kondensmilch – die Zutaten zum Frühstück hatte er schon beisammen. Er kannte den Doktor nur zu gut. Er hatte durch seine Bemerkung Tappatts Gedanken in bestimmter Richtung in Bewegung gesetzt. Würde er wohl den ihm angedeuteten Schritt tun oder würde er anders handeln, als der Detektiv vermutete?

 

Im Arbeitszimmer lag der Doktor zusammengerollt in seinem Sessel vor dem Feuer und schmiedete Pläne. Merkwürdigerweise hatte er nicht an ein Betäubungsmittel gedacht, bis Dorn die Bemerkung machte. Er hörte, wie Michael draußen vor sich hinpfiff, erhob sich leise, ging zu seinem Pult und suchte unter den Medizinflaschen, die in verschiedenen Schubladen untergebracht waren. Er fand auch sofort, was er suchte.

 

Aus einer Glashülse nahm er eine kleine, graue Pille, ließ sie in seine flache Hand gleiten und stellte das kleine Fläschchen wieder an seinen Platz. Dann zog er die Jalousie wieder vorsichtig über den Schreibtisch und schloß ihn ab. Es war möglich, daß er keine Gelegenheit finden würde, das Betäubungsmittel zu gebrauchen. Aber selbst ein Mann wie Dorn, der so sehr auf seine eigene Sicherheit bedacht war, hatte manchmal seine schwachen Momente, in denen er die nötige Vorsicht außer acht ließ. Er klemmte die Pille zwischen den zweiten und dritten Finger seiner linken Hand und setzte sich wieder an den Kamin. Michael Dorn fand ihn dort, als er mit dem fertigen Kaffee hereinkam. Tassen, Teller und alles nötige Zubehör trug er auf einem Tablett, die Schachtel mit Keks hatte er unter dem Arm.

 

»Es ist am besten, wenn Sie mir gleich die Zeit mitteilen, in der Sie unsere Freundinnen zurückerwarten, oder wenn Sie das nicht wollen, sagen Sie mir wenigstens, welches Signal Sie verabredet haben, um ihnen anzudeuten, daß die Luft wieder rein ist?«

 

»Sie sind doch verrückt, wenn Sie so etwas sagen«, entgegnete Tappatt böse. »Ich dachte, Sie wollten nicht mehr über die Frauen reden. Glauben Sie mir doch, sie sind wirklich nicht hier.«

 

»Also habe ich doch schon wieder von der Sache reden müssen«, murmelte Michael entschuldigend. »Wollen Sie nicht etwas Kaffee nehmen? Er ist unvergleichlich besser und bekömmlicher als der gelbe Whisky, den Sie da auf dem Kamin stehen haben, auch kostet Kaffee nur den zwanzigsten Teil!«

 

Er goß eine Tasse ein und schob sie dem andern hin, aber der Doktor schaute sich nicht einmal danach um.

 

Dorn schlürfte mit größtem Wohlbehagen das heiße, belebende Getränk und beobachtete dabei Tappatts mürrisches Gesicht.

 

Plötzlich hob der Doktor den Kopf, als ob er irgend etwas gehört hätte.

 

»Es kommt jemand«, sagte er.

 

Der Detektiv ging zur Tür und horchte. Als er sich wieder umdrehte, saß der Doktor in seiner alten Stellung am Kamin.

 

»Es war eine Einbildung – scheint vom Whisky zu kommen, alter Freund!« sagte Dorn.

 

Er goß sich wieder ein, nahm reichlich Milch und rührte seine Tasse um.

 

»Sie sagten doch vorhin, daß Sie mir etwas Interessantes erzählen wollten«, erinnerte Tappatt, der noch immer ins Feuer starrte, seinen unwillkommenen Gast.

 

»Ja, es betrifft Sie. Man beabsichtigt, Sie wegen der indischen Geschichte vor das ärztliche Ehrengericht zu stellen – und es ist ja klar, daß Ihnen dann Ihr Titel und Ihre Approbation als Arzt genommen werden.«

 

Das war selbst Tappatt ganz neu. Er sprang erregt auf.

 

»Das ist eine Lüge«, rief er laut.

 

Plötzlich neigte Michael seinen Kopf zur Seite.

 

»Was war das?« fragte er.

 

Tappatt schaute sich um.

 

»Ich habe nichts gehört.«

 

Aber der Detektiv brachte ihn durch einen Wink zum Schweigen. Er stand auf, nahm seine Tasse Kaffee mit und ging wieder an die Tür, um zu lauschen.

 

»Bleiben Sie hier«, sagte er leise und ging hinaus.

 

Eine Minute später kam er wieder zurück, blieb aber an der Tür stehen und trank seine Tasse aus. Der Doktor wandte sich zur Seite, um sein Grinsen zu verbergen.

 

»Sie sind nervös, mein Lieber«, sagte er. »Wenn Sie mir genug Vertrauen geschenkt und Ihre Tasse hiergelassen hätten, dann hätte ich Ihnen etwas gegeben, um Sie zu heilen!«

 

»Das glaube ich auch!« sagte Michael und setzte die leere Tasse auf den Tisch. »Ich bin meinem Gastgeber gegenüber nicht gern unhöflich, aber ich habe den Grundsatz, in solchen Fällen stets meinen Trunk auszugießen, wenn ich in zweifelhafter Gesellschaft bin.«

 

Der Doktor schaute in Dorns Tasse und war befriedigt, als er sah, daß er sie ganz ausgetrunken hatte. Es war diesmal leichtgefallen, ihn zu überlisten, aber immerhin war die Gefahr keineswegs vorüber.

 

»Wissen Sie, Dorn, was ich an Ihnen schätze? Sie sind ein Gentleman – ich will Ihnen damit kein Kompliment machen, ich konstatiere nur eine Tatsache. Ich habe schon mit Polizeibeamten zu tun gehabt, die der Abschaum der Gesellschaft waren, und es ist doch sehr angenehm, wenn man auch einmal das Gegenteil kennenlernt. Sie wollten mich doch nur zum besten haben, als Sie mir eben erzählten, daß mir meine Approbation als Arzt aberkannt werden soll?«

 

»Ich habe Sie nicht zum besten gehabt – im Gegenteil, ich bin ja gerade derjenige, der bei der Sitzung des Ehrengerichts persönlich den Antrag stellen will, und Sie können sicher sein, daß ich in der Lage bin, genügend Material über Sie zu liefern, so daß Ihre Stellung in England unhaltbar wird.«

 

Tappatt lächelte gezwungen.

 

»In diesem Fall ist es besser, daß ich alles tue, um mich mit Ihnen gut zu stellen.« Er erhob sich. »Wenn Sie mit mir kommen, werde ich Ihnen etwas zeigen, was Sie übersehen haben.«

 

Er lächelte Dorn an, und dieser folgte ihm auf den Hof.

 

»Sie haben sich sehr ungünstig über die Lüftung dieser kleinen, netten Gefängniszelle ausgesprochen«, sagte der Doktor. Er stand am Eingang der Treppe, die zu dem Kellerraum führte. »Es ist Ihnen anscheinend entgangen, daß das Gelaß doch mehr Luftzufuhr hat, als Sie dachten. Kommen Sie mit.«

 

Er eilte die Treppe hinunter, stieß die schwere Tür auf und ging hinein.

 

»Haben Sie nicht die Falltür in der Ecke des Raumes gesehen?«

 

Michael folgte ihm und ging quer über den mit Ziegelsteinen ausgelegten Fußboden, aber kaum hatte er drei Schritte getan, als die Tür zuschlug. Der Schlüssel drehte sich im Schloß, und er hörte Tappatts hämisches Lachen …

 

»Das ist mein Trick – und zeigen Sie mir noch mal Ihren mit der Pistole«, lachte der Doktor.

 

Ein scharfer Schuß ertönte, und Holzsplitter flogen von der Tür. Tappatt stieg die Treppe hinauf und lachte hysterisch.

 

Er ging zum Wohnzimmer zurück. Michaels Tasse stand noch auf dem Tisch. Er schüttete etwas lauwarmen Kaffee hinein und probierte vorsichtig den Geschmack.

 

»Geist gegen Geist! Verstand gegen Verstand! Ich denke, daß ich in diesem Kampf den Schlußpunkt gesetzt habe«, sagte er dann befriedigt. Die Überrumpelung war einfach gewesen. Er machte sich keine Sorge um das, was jetzt noch geschehen konnte.

 

Für Dr. Tappatt war das Spiel im Prinzip schon beendet. Seine Auftraggeberin war mehr als freigebig gewesen – eine bedeutende Summe war ihm für seine letzten Dienste versprochen worden, und dann lag die ganze Welt offen vor ihm. Zwei Jahre lang hatte er nun der Gräfin treu und gut gedient. Es war eine ziemlich langweilige Arbeit, aber was von ihm verlangt wurde, hielt sich immer noch innerhalb der Grenzen des Gesetzes. Der Doktor war sich aber über die Konsequenzen seiner letzten Handlungen durchaus klar. Er wußte, daß dieses Abenteuer ihn in eine sehr böse Lage bringen konnte. Er wollte es unter keinen Umständen zu einer Aburteilung kommen lassen. Daß er Michael Dorn eingesperrt hatte, gab ihm eine Atempause, einen Aufschub. Bevor die schwerfällige Gesetzesmaschine in Gang kam, würde es noch einige Zeit dauern. Und heute konnte ein Mann, der kurz entschlossen und umsichtig handelte, in vierundzwanzig Stunden von einem Ende Europas zum anderen kommen.

 

Eine halbe Stunde verging, eine ganze halbe Stunde – er schaute wohl schon zum zwanzigstenmal auf seine Uhr. Endlich erhob er sich und zog eine Schublade in seinem Schreibtisch heraus. Er nahm ein Paar Handschellen heraus und summte vergnügt eine Melodie vor sich hin, als er sie aufschloß.

 

Dann klopfte er laut an die Tür des Kellerraums und rief den Gefangenen beim Namen. Als er keine Antwort erhielt, schloß er auf und schaute vorsichtig hinein. Er öffnete einen schmalen Schlitz, so daß er auf das Bett schauen konnte. Michael Dorn lag bewegungslos mit dem Gesicht nach unten und hatte seinen Kopf auf den Arm gelegt.

 

Ohne Zögern ging Tappatt hinein, drehte die steife Gestalt um und durchsuchte schnell die Taschen. In der Hüfttasche fand er die Pistole nicht, sie stak in einer besonderen Tasche innerhalb seines Rocks. Als er den Detektiv durchsuchte, blinzelte dieser und murmelte etwas Unverständliches.

 

»Das viele kluge Reden ist Ihnen jetzt vergangen, alter Freund«, meinte der Doktor vergnügt.

 

Er nahm einige Papiere aus der Tasche Dorns und steckte sie in seine eigene. Uhr und Kette ließ er zurück, aber alles, was Michael irgendwie als Waffe hätte brauchen können, sogar das kleine Taschenmesser, nahm er an sich. Als er damit fertig war, legte er seinem Gefangenen die Handschellen an und schaute dann befriedigt lächelnd auf sein Werk. Darauf ging er zum Haus zurück, nahm die Keksschachtel, füllte einen Krug mit Wasser, brachte beides in den Kellerraum und stellte es neben das Bett.

 

»Sie haben sich leicht übertölpeln lassen«, sagte er, zu dem Bewußtlosen gewandt, »und die Sache ist noch viel einfacher, weil Sie keine offizielle Stellung einnehmen und nur ein paar Freunde haben, die sich um Sie kümmern oder die Polizei von Ihrem Verschwinden verständigen könnten. Und wenn die Polizei auch wirklich alarmiert wird – wo sollte die mit Nachforschungen beginnen?«

 

Er verschloß die Tür wieder, ging durch das vordere Tor der Umfassungsmauer und sah sich um. Dorn mußte seinen Wagen irgendwo hier in der Nähe gelassen haben, und ein Auto, das im Freien steht, konnte die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich ziehen. Es war auch möglich, daß er nicht allein gekommen war. Aber obwohl der Doktor eine Meile im Umkreis alles absuchte, konnte er nichts entdecken und kehrte müde zu dem Haus zurück.

 

Die Gewißheit hatte er freilich: nie wieder würde der Gedanke an Michael Dorn wie ein drohendes Gespenst seine angenehmen Zukunftsträume stören.

 

Er triumphierte.

 

Kapitel 29

 

29

 

 

Meine liebe Miss Smith,

 

ich habe versucht, meinen Assistenten John Wills zu benachrichtigen. Vielleicht hat er auch meinen Brief bekommen, aber es wäre möglich, daß ihn meine Botschaft durch irgendeinen unglücklichen Umstand nicht erreicht hat. Ich wäre Ihnen nun zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie ihn aufsuchen und ihm den eingeschlossenen Brief übergeben wollten, der eine genaue Abschrift aller Instruktionen enthält, die ich bereits an ihn absandte. Ich hoffe, daß ich den Aufenthaltsort Miss Reddles gefunden habe und Ihnen morgen weitere Nachrichten senden kann. Aber ich habe es hier mit einem Mann von außerordentlicher Verschlagenheit und Schlauheit zu tun. Miss Reddle ist in Gallows Farm in der Nähe von Whitecomb in Somerset. Wenn Sie im Lauf des nächsten Tages kein Telegramm von mir erhalten, so sitze ich vielleicht – aber gegen meinen Willen – gefangen. Ich habe alle Möglichkeiten überdacht, aber trotzdem könnte es sein, daß ich etwas vergessen hätte, oder es könnten unvorhergesehene Ereignisse eintreten. Würden Sie mir daher den Gefallen tun, den ganzen Tag über in Ihrer Wohnung in der Charlotte Street zu bleiben? Es wäre das beste, wenn Sie Mr. Shaddles bäten, Ihnen den Tag freizugeben. Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief. Er wird meinen Namen kennen, ich habe vor einigen Jahren seine Bekanntschaft gemacht.

 

Mit bestem Gruß

Michael Dorn

 

 

Die Worte »Zeigen Sie ihm, wenn nötig, diesen Brief« waren dick unterstrichen.

 

Ein Eilbote hatte ihr den Brief gebracht. Der Poststempel zeigte den Namen einer Stadt in Somerset. Lizzy Smith las ihn dreimal. Zuerst mußte sie die Worte entziffern, dann verstand sie den Inhalt, und das drittemal las sie ihn mit persönlicher Genugtuung, denn sie fühlte sich plötzlich zu einer wichtigen Persönlichkeit gestempelt. Heimlich mußte sie darüber lachen, daß Michael sich einbildete, ihr alter, geiziger Chef würde ihr Urlaub geben, nur weil er früher einmal Mr. Dorn flüchtig kennengelernt hatte. Der Alte würde ihn wahrscheinlich längst wieder vergessen haben und ihr unter keinen Umständen gestatten, von ihrer Arbeit fernzubleiben.

 

Die Neuigkeit war viel zu interessant, als daß Lizzy sie lange für sich allein behalten konnte. Sie nahm den Brief und ging zu Mr. Mackenzie hinunter. Als sie bei ihm eintrat, war er gerade damit beschäftigt, eine neue Saite auf seine Violine zu ziehen.

 

»Letzte Nacht habe ich es ausgehalten«, sagte sie nicht unhöflich. »Ich hörte Sie in einem fort Ihre Geige stimmen.«

 

»Ich habe doch meine Geige nicht dauernd gestimmt«, erwiderte der alte Mackenzie überrascht. »Ach so –ich habe klassische Musik gespielt, und da ist es möglich, daß Sie es für Stimmen hielten, weil Sie nicht daran gewöhnt sind. Es war die Arie aus ›Samson und Delila‹, es ist ein wundervolles Stück.«

 

Er zog die Brille, die er auf die Stirn geschoben hatte, wieder herunter, und nahm den Brief aus ihrer Hand.

 

»Soll ich das lesen?« fragte er, und als sie nickte, entzifferte er die kleine merkwürdige Schrift Dorns Zeile für Zeile.

 

»Das scheint ja eine sehr gute Nachricht zu sein. Wird Miss Reddle heute abend wieder zurückkommen?«

 

Lizzy seufzte ungeduldig.

 

»Wie soll ich wissen, ob sie schon heute abend zurückkommt?« Sie war empört darüber, daß der Brief auf ihn nicht denselben Eindruck machte wie auf sie. »Es ist möglich, daß sie überhaupt nicht wiederkommt! Verstehen Sie denn gar nichts anderes, als was Sie auf der Violine spielen können, Mr. Mackenzie? Sie ist doch in der Gewalt dieses fürchterlichen Menschen in Gallows Farm! Die ganze Sache hängt jetzt nur von mir ab. Mike versteht nur zu gut die menschlichen Naturen, und wenn er irgendwie in eine schwierige Lage gerät, dann nimmt er seine Zuflucht zu Elizabeth Smith. Der Mann hat Menschenkenntnis.«

 

»Natürlich«, murmelte Mr. Mackenzie.

 

»Nun ist die Frage«, überlegte Lizzy und zog ihre Stirn in nachdenkliche Falten, »soll ich zuerst versuchen, diesen Wills aufzusuchen, oder soll ich zunächst ins Büro gehen?«

 

»Ich würde an Ihrer Stelle in Mr. Dorns Wohnung anrufen«, sagte der alte Mann …

 

Auf Ihrem Weg zum Büro machte sie bei der ersten öffentlichen Telefonzelle halt und rief Michaels Nummer an, aber es meldete sich niemand. Die Nachrichten, die sie heute morgen erhalten hatte, schmeichelten ihr außerordentlich, und die Verantwortung gab ihr das angenehme Gefühl, daß sie persönlich mit großen Ereignissen in Zusammenhang stand. Trotzdem sah sie mit Besorgnis der Unterhaltung mit dem alten Shaddles entgegen. Daß er ihr den Tag freigeben würde, war eine völlig aussichtslose Hoffnung. Viel wahrscheinlicher war es, daß er mit seinem knöchernen Finger auf die Tür zeigen und sie aus seinem Büro verweisen würde. Aber auch wenn sie ihre Lebensstellung dabei opfern sollte – sie war entschlossen, bei der Hand zu sein, wenn man ihre Hilfe brauchte. Was sie aber tun sollte oder auf welche Weise sie Michael zu Hilfe kommen konnte, darüber machte sie sich weiter keine Sorgen.

 

Als sie ins Büro kam, hatte sie sich bereits drei verschiedene Entschuldigungsgründe zurechtgelegt, aber leider standen sie in keinerlei Beziehung zueinander. Glücklicherweise brauchte sie später nur zwei davon vorzubringen.

 

Mr. Shaddles war schon im Büro. Unweigerlich kam er als erster und ging als letzter. Ohne ihren Hut abzunehmen, klopfte sie an die Glastür und als sie sein unfreundliches Herein hörte, hätte sie beinahe ihre Absicht aufgegeben, ihn um Urlaub zu bitten. Er sah sie von der Seite an, als sie hereinkam, und bemerkte auch gleich, daß sie Hut und Mantel noch nicht abgelegt hatte.

 

»Nun, was gibt’s? Warum sind Sie nicht an der Arbeit? Es ist bereits fünf Minuten nach Beginn!«

 

Lizzy legte ihre Hand leicht auf den Tisch und begann in ihrer süßesten und höflichsten Art zu sprechen.

 

»Mr. Shaddles, es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie störe, aber infolge eines Todesfalles in der Familie möchte ich Sie bitten, mir den Tag freizugeben.«

 

»Wer ist gestorben?« brummte er.

 

»Eine Tante«, sagte sie kleinlaut und fügte noch hinzu: »Mütterlicherseits.«

 

»Tanten sind keine nahen Verwandten«, entgegnete der alte Mann und winkte ihr zur Tür. »Onkel haben auch nicht viel zu sagen. Ich kann Sie heute nicht entbehren. Wozu müssen Sie denn auch immer zu Begräbnissen laufen?«

 

»Nun ja – der wirkliche Grund ist dieser Brief«, sagte Lizzy, die ganz außer Fassung geraten war, und zeigte ihm Dorns Schreiben. »Ich erhielt ihn heute morgen.«

 

Er nahm den Bogen mit offenbarem Widerwillen, las ihn aber trotzdem sorgfältig durch. Dann saß er lange und schwieg. Sie dachte, er überlege sich, welche Grobheiten er ihr wieder an den Kopf werfen könnte, denn das war eine seiner nichtswürdigen Angewohnheiten.

 

»In dem Brief steht ja gar nichts von einer Tante«, fuhr er sie plötzlich an.

 

»Aber Mr. Dorn ist mir mehr als eine Tante – ich habe ihm den kleinen Spitznamen ›Tante‹ gegeben –, und wenn er auch nicht tot ist, so könnte er bei diesem gefahrvollen Unternehmen doch leicht sterben.«

 

Er schaute aus dem Fenster, strich ärgerlich über sein unrasiertes Kinn und sah sie dann wieder an.

 

»Also Sie können den Tag freihaben«, sagte er dann.

 

Lizzy wäre vor Schrecken beinahe umgefallen. Sie flüsterte ein paar zusammenhanglose Dankesworte, dann schwebte sie aus der Tür.

 

»Warten Sie!«

 

Er steckte die Hand in die Tasche, legte seine Brieftasche auf den Tisch und nahm drei Banknoten heraus.

 

»Es ist möglich, daß Sie Geld brauchen, es ist zwar nicht gewiß, aber es könnte sein. Sie müssen mir aber eine genaue Abrechnung darüber geben, wenn Sie irgendwelche Ausgaben machen. Wenn Sie ein Auto benützen müssen, mieten Sie eins von der Blue Light Company, die Leute sind meine Klienten, und ich bekomme dort Rabatt.«

 

Wie im Traum verließ Lizzy das Büro. Shaddles hatte ihr drei Zwanzigpfundnoten gegeben. Sie hatte keine Ahnung, daß soviel Geld auf der Welt existierte.

 

Sie grüßte den Clerk nicht, der auf der Treppe an ihr vorüberkam, und hatte ihre Fassung noch nicht ganz wiedererlangt, als sie nach Hiles Mansions kam. Der Fahrstuhlführer sagte ihr, daß Mr. Dorn nicht im Hause sei. Auch Mr. Wills war seit gestern nicht wiedergekommen. Lizzy ging zur Brompton Road, rief großartig ein Auto an und fuhr nach Hause. Sie hatte gerade noch genug Kleingeld, um die Taxe bezahlen zu können.

 

Die Ereignisse überstürzten sich, und sofort mußte sie Mr. Mackenzie alles mitteilen.

 

+++

 

»Shaddles ist ein großzügiger Mann«, sagte Mackenzie schlicht, »ein wirklich weitherziger Mensch!«

 

Lizzy schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, ob ich nicht mit der Polizei in Konflikt komme, weil ich das Geld von dem armen, alten Mann angenommen habe. In der letzten Zeit ist er mir schon so sonderbar vorgekommen. Ich habe schon die ganzen letzten Tage vorausgesehen, daß sich irgend etwas ereignen würde. Als er das Gehalt von Lois Reddle auf drei Pfund wöchentlich erhöhte, wußte ich, daß es nicht mehr richtig bei ihm ist.« Sie schaute mit ehrfürchtiger Scheu auf die drei Banknoten. »Wenn die Männer erst neunzig Jahre alt sind, dann werden sie kindisch«, sagte sie. Plötzlich kam ihr ein guter Gedanke – er war so tollkühn und so ungeheuer, daß sie selbst darüber erschrak.

 

Sie borgte sich etwas Kleingeld von Mr. Mackenzie, eilte zu der nächsten Telefonzelle und rief Lady Morons Nummer an. Der Diener, der an den Apparat kam, sagte ihr, daß die Gräfin noch zu Bett liege.

 

»Ach bitte, bemühen Sie sich nicht«, sagte Lizzy von oben herunter. »Würden Sie vielleicht Seine Lordschaft den jungen Grafen bitten, einmal herzuspringen?«

 

»Wie bitte, gnädige Frau?«

 

»Ich möchte ihn sprechen«, verbesserte sich Lizzy.

 

»Welchen Namen darf ich nennen?«

 

»Sagen Sie ihm nur, Lady Elizabeth sei am Telefon«, erklärte Lizzy und tat so müde und distinguiert, als ob sie selbst von allerhöchstem Adel sei.

 

Sie mußte aber noch lange warten, bis Lord Moron, der zu dieser Stunde noch fest schlief, vom Diener aufgeweckt werden konnte und das nötige Interesse an der Dame zeigte, um sich zum Telefon zu begeben.

 

»Hallo?« fragte er schwach. »Guten Morgen – tut mir sehr leid, daß ich Ihren Namen nicht verstanden habe.«

 

»Hier ist Miss Smith«, sagte Lizzy heiter. Sie hörte, wie Selwyn aufatmete.

 

»Ach so, Sie sind es! Hier war ein furchtbarer Trubel – das ist immer so zwischen sechs und sieben morgens. Dieser schreckliche Vagabund, der Chesney Praye – Sie erinnern sich doch an den Kerl – der Raubvogel – wie? (Lizzy konnte so früh am Morgen nicht darüber lachen.) Er ist mit der Gräfin in der Bibliothek.«

 

»Hören Sie, Selwyn«, sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, um ihn so familiär anzusprechen, »können Sie mich besuchen? Sie wissen, wo ich wohne – Sie wollten ja sowieso zum Abendessen bei mir sein. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie früher kämen. Ich muß über eine wichtige Angelegenheit mit Ihnen sprechen, ich kann es Ihnen am Telefon nicht sagen.« »Ich werde jetzt gleich kommen. Ich wollte eigentlich zum South Kensington Museum gehen, um einige Modelle zu studieren, aber schon gut, Oberst, ich danke Ihnen sehr für Ihren Anruf!«

 

Die letzten Worte hatte er in einem lauten und offiziellen Ton gesprochen. Lizzy, der diese unschuldigen, kleinen Täuschungen auch geläufig waren, vermutete, daß der Diener oder die Mutter in den Salon gekommen war.

 

Sie ging in gehobener Stimmung nach Hause. Es war ihr nicht nur gelungen, sich die Hilfe eines Mitgliedes der höchsten Aristokratie zu sichern, sondern sie hatte dieses Mitglied auch kühn beim Vornamen angeredet, und das war doch ein großer Erfolg. Sie erzählte Mr. Mackenzie mit gleichgültiger Miene, daß sie gleich den Besuch Lord Morons erwarte. Diesmal machte ihre Mitteilung auf ihn wirklich den gewünschten Eindruck.

 

»Ich sagte ihm, er möchte doch kommen – ich kenne ihn ja sehr gut.« Lizzy wischte dabei in einer vornehmen Haltung den Staub von ihrem Kleid.

 

»So, so«, sagte er und schaute sie bewundernd an. »Ich hätte niemals gedacht, daß einer der Morons mein Haus betreten würde. Sie sind eine sehr alte Familie, ich erinnere mich noch an den alten Earl – er kam sehr häufig ins Theater, allerdings meist nicht in der besten Verfassung.«

 

Lizzy Smith interessierte sich nicht für den alten Lord, sie kümmerte sich nur um den jungen, und das allerdings in hohem Maße. Als das Taxi Selwyns am Bürgersteig hielt, stand sie schon an der Tür, um ihn hereinzulassen.

 

»Was für eine nette, alte Küche«, sagte er, als er sich in dem Raum umschaute, auf den nicht einmal Lizzy stolz war.

 

»Ich hätte Eure Lordschaft nicht hierher gebeten –«

 

»Ach, bitte, fangen Sie nun nicht mit ›Eurer Lordschaft‹ und dergleichen an – für meine Freunde heiße ich Selwyn«, bat er. »Da hängt ja eine wundervolle Bratpfanne – haben Sie die selbst angefertigt?«

 

Lizzy verneinte. Er schien seine eigenen Ansichten über Kochgeräte zu haben und hatte selbst schon eine elektrische Heizplatte erfunden. Er trug sich mit dem Plan, einen neuen elektrischen Kochherd zu konstruieren.

 

»Ich habe schon immer beabsichtigt, von der ganzen verrückten Lordschaft und dem ganzen verrückten Kram wegzulaufen und praktisch zu arbeiten. Ich habe nämlich auch etwas eigenes Geld, von dem die Gräfin nichts weiß. Es ist so gut und sicher angelegt, daß weder sie noch der alte Raubvogel ihre Krallen danach ausstrecken können!«

 

Er war in bester Stimmung und unterhielt sich ausgezeichnet mit Lizzy, die nur so viel von Elektrizität wußte, daß eine Lampe brennt, wenn man den Schalter andreht. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Selbst ein Ingenieur hätte sich dafür interessieren können, so tief war er in die Materie eingedrungen. Aber dann erinnerte sie ihn daran, daß sie den Brief mit ihm besprechen wollte.

 

Als sie ihm das Schreiben gab, las er es durch. Bei jeder Zeile hielt er an und bat um Erklärung, aber schließlich verstand er den Sinn. Sie hatte schon vorher beobachtet, daß Selwyn bei wirklich wichtigen Dingen ganz vernünftige Meinungen äußerte. Daß er nicht schwächsinnig war, erfuhr sie später, als er ihr erzählte, wie er die verräterische Absicht seiner Mutter durchkreuzt hatte, die ihn für verrückt erklären lassen wollte, um sein ganzes Vermögen in die Hand zu bekommen. Da er ihre Hinterlist durchschaute, konsultierte er drei hervorragende Spezialisten in der Harley Street und brachte von ihnen drei glänzende Zeugnisse über seine Zurechnungsfähigkeit bei.

 

»Ich kenne die Zusammenhänge nicht alle«, sagte er, als er den Brief zurückgab. Er begegnete ihrem bekümmerten Blick. »Ja, ich verstehe den Brief schon ganz gut, aber ich meine all diese Unfälle, daß der alte Braime in der Bibliothek wie tot umfiel und dergleichen. Die Gräfin ist meine Mutter, und ich sollte sie eigentlich nicht erzürnen. Aber sie ist ein fürchterlicher Teufel, Miss Smith, ein ganz entsetzlicher Teufel!«

 

Er strich über die lange, schmale, rote Narbe auf seiner Wange.

 

»Sie können niemals wissen, was sie im Schilde führt. Seit dieser Schuft, dieser Praye, und der betrunkene Doktor im Hause verkehren, ist sie schlimmer als jemals. Wissen Sie, was sie mir einmal zurief? Sie sagte, daß ich morgen tot sei, wenn das ihrer Meinung nach besser für sie wäre – das sind ihre eigenen Worte! Denken Sie, morgen tot, meine liebe Lizzy – ist das nicht schrecklich?«

 

»Was für eine Frau!« sagte Lizzy.

 

»Aber haben Sie niemals etwas davon gehört – ich meine Gallows Farm?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie redet niemals in meiner Gegenwart, aber sicher hat sich etwas ereignet, das ist gewiß. Dieser Chesney war schon seit heute morgen um acht Uhr bei der Gräfin. Man sagte Ihnen, daß sie noch zu Bett liege – das war gar nicht wahr, sie war in der Bibliothek. Das Telefon scheint die ganze Nacht geläutet zu haben. Was halten Sie eigentlich von diesem Detektiv, der das junge Mädchen ins Gefängnis gesteckt hat? Das ist doch ein starkes Stück, nicht?«

 

»Er tat es aus einem sehr guten Grund«, sagte Lizzy geheimnisvoll. »Ich kann Ihnen nicht alles sagen, Selwyn. Eines Tages werden Sie die ganze Wahrheit erfahren.«

 

»Es scheint, daß mir niemand etwas sagen darf«, bemerkte er mißmutig. »Aber was hat der Brief zu bedeuten? Jemand hat sie in dem Gehöft mit dem schrecklichen Namen eingesperrt.« Er schlug sich vor die Stirn. »Tappatt, der Kerl, der den Wein immer so hinuntergießt – Sie kennen ihn doch, den fürchterlichen Doktor? Ich wette, daß er bei der ganzen Sache eine schurkische Rolle spielt. In den letzten Tagen ist er nicht hier gewesen – vorher hat er häufig hier herumspioniert.« Er schlug sich aufs Knie. »Gestern abend kam doch tatsächlich ein Fernruf vom Lande! Ich war in der Halle, als das Telefon klingelte, und ich bin sicher, daß es dieser Tappatt war. Er wollte die Gräfin sprechen. Gallows Farm! Das ist doch der Ort, wo er lebt.«

 

Plötzlich sprang er auf, und Lizzy sah die Erregung in seinen Augen.

 

»Sie ist dort, ich will jede Summe wetten – Gallows Farm in Somerset!« Dann fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Ich habe doch irgendein Schriftstück, eine Kaufurkunde unterschrieben, darauf möchte ich schwören. Es gehört zu den Ländereien, die die Gräfin vor zwei oder drei Jahren gekauft hat. Auch möglich, daß es einer ihrer Anwälte für sie tat. Sie kauft immer alte Besitzungen auf und veräußert sie wieder mit Gewinn. Und ich weiß auch, daß dieser alte Doktor irgendwo eine Anstalt hat – denn die Gräfin hat mir schon öfters gesagt, sie würde mich dorthin schicken, wenn ich mich nicht in acht nehme. Dieser Kerl mit der roten Nase hat sicher Miss Reddle bei sich eingesperrt.« »Selwyn, Sie sind ja wie ein Detektiv!« rief Lizzy atemlos vor Bewunderung.

 

Er drehte an seinem dünnen Schnurrbart und war beglückt.

 

»In manchen Dingen bin ich sehr klug«, sagte er. »Wie wäre es, wenn wir sie befreiten?« fragte er impulsiv.

 

»Was wollen Sie?« Lizzys Herz schlug schneller.

 

»Ich meine, wenn wir sie befreiten?« nickte er. »Wir könnten doch nach Somerset fahren, den alten Doktor besuchen und ihm sagen: Sehen Sie, alter Kerl, solche Dinge können in der zivilisierten Gesellschaft nicht geduldet werden, lassen Sie die Hand von Miss Reddle, oder es geht Ihnen schlecht.«

 

Lizzys Begeisterung war schnell verschwunden.

 

»Ich glaube nicht, daß das großen Eindruck auf ihn machen würde«, meinte sie. »Auch wäre es unnötig, Selwyn, denn wenn Michael Dorn dort ist, wird sie heute nachmittag noch befreit.«

 

Selwyn war etwas verletzt.

 

»Außerdem – was würde denn die Gräfin sagen, wenn wir den ganzen Tag wegblieben?« fuhr Lizzy fort.

 

»Auf die gebe ich gerade noch so viel.« Er schnippte mit den Fingern. »Ich habe genug von ihr, wirklich genug! Ich habe mir überlegt, daß ich jetzt mit Chester Square Schluß machen werde. Ich habe mich schon umgesehen, da ist eine ganz nette kleine Wohnung in Knightsbridge. Es ist an der Zeit, daß ich mich selbständig mache. Ich habe die Absicht, demnächst inkognito zu leben, und ich werde mich dann Mr. Smith nennen.«

 

»Tatsächlich?« fragte Lizzy kühl.

 

»Das ist doch ein ganz hübscher Name – Brown ist allerdings ebensogut.« Und er erzählte ihr noch mehr von seinen Plänen.

 

»Wie wär’s, wollen wir nicht zusammen Mittag essen?«

 

Eine Stunde später betrat Lizzy den großen Speisesaal des Ritz-Carlton, und Lady Moron, die auch mit einem Herrn an einem der Tische saß, schaute sie durch ihre Lorgnette an und zuckte nur die Achseln.

 

»Selwyn macht seine Seitensprünge im Leben ziemlich spät«, sagte sie, und Chesney Praye, der an diesem Morgen von Paris zurückgekommen war, lächelte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Der düstere Eingang der Strafanstalt von Telsbury wird gnädig von einer Gruppe dunkler Fichten verborgen. Die roten Wände haben mit der Zeit ihre grelle Farbe verloren, und wenn nicht der hohe Turm in der Mitte emporragte, würde ein Wanderer daran vorübergehen, ohne das Gebäude zu bemerken.

 

Lois hatte das Gefängnis schon zweimal besucht, um Aufträge ihres Chefs dort zu erledigen. Einer seiner Klienten hatte eine Frau wegen Betrugs angezeigt. Sie war zu fünf Jahren verurteilt worden. Es war nun notwendig, ihre Unterschrift unter gewisse Dokumente zu erhalten, um die Aktien, die betrügerischerweise verschoben worden waren, ihrem rechtmäßigen Eigentümer wieder zustellen zu können.

 

Sie ließ ihren Wagen an der Seite des hohen Straßentors halten, stieg aus und klingelte. Gleich darauf wurde ein Gitter von einem Fenster zurückgeschoben, und die wachsamen Augen des Pförtners richteten sich auf sie. Obwohl er sie wiedererkannte, mußte sie ihm doch erst ihren Passierschein zeigen. Dann schloß er auf und führte sie in einen mit Steinfliesen gepflasterten Raum. Die Einrichtung war sehr einfach, sie bestand nur aus einem Pult mit einem Schreibsessel, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen.

 

Der Wärter las den Passierschein noch einmal durch und drückte dann auf eine Klingel. Er, die beiden Leute, die ihn ablösten, und der Direktor der Anstalt waren die einzigen Männer, die in diese Mauern kamen. Sein Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf den kleinen Raum und den Torweg, der vom Innenhof durch starke, eiserne Gitter getrennt war.

 

»Ist es Ihnen nicht unangenehm hierherzukommen, mein Fräulein?« fragte er lächelnd.

 

»Gefängnisse machen mich immer elend und krank«, sagte sie.

 

Er nickte.

 

»Hier drinnen leben sechshundert Frauen, die noch viel matter und kränker sind, als Sie, hoffentlich, jemals in Ihrem Leben sein werden«, erwiderte er zuvorkommend. »Nicht daß ich eine von ihnen zu sehen bekomme – ich öffne ihnen nur das Tor zum Gefängnis und dann sehe ich sie, solange sie hier sind, nicht wieder. Nicht einmal, wenn sie entlassen werden.«

 

Eine Tür wurde aufgeschlossen, und eine junge Wärterin in gutsitzender blauer Uniform trat ein. Sie grüßte Lois mit einem freundlichen Kopfnicken und führte sie durch eine kleine Stahltür über einen großen Hof, der einsam und verlassen dalag. Danach traten sie durch eine andere Tür und gingen einen langen Gang entlang bis zu dem kleinen Büro des Gefängnisdirektors.

 

»Guten Morgen, Direktor. Ich möchte gern mit Mrs. Desmond sprechen.« Sie entfaltete ihre Dokumente und legte sie dem grauhaarigen Mann auf den Tisch.

 

»Sie wird jetzt in ihrer Zelle sein«, sagte er. »Kommen Sie mit, Miss Reddle, ich werde Sie persönlich hinbringen.«

 

Am Ende des Ganges befand sich eine andere Tür, die in eine große Halle führte. Auf beiden Seiten liefen eiserne Verbindungsgänge, die man über eine breite Mitteltreppe erreichen konnte. Lois schaute in die Höhe, sah die Drahtnetze über ihrem Kopf und schauderte. Sie wußte, daß sie angebracht waren, um zu verhindern, daß diese unglücklichen Frauen sich von oben herabstürzten und ihrem Leben so ein Ende machten.

 

»Wir sind da«, sagte der Direktor und öffnete die Zellentür.

 

Fünf Minuten mußte sie mit der eigensinnigen, verbitterten Frau verhandeln, die sich mit weinerlicher Stimme über alles beschwerte und allen Vorwürfe machte. Schließlich trat Lois mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung wieder zu dem Direktor hinaus.

 

»Gott sei Dank – ich werde nie wieder hierherkommen!« sagte sie, als er die Zelle verschloß.

 

»Wollen Sie Ihre Anwaltstätigkeit aufgeben?« fragte er scherzend. »Ich habe schon immer gesagt, daß das kein passender Beruf für eine junge Dame ist.«

 

»Sie überschätzen mich und meine Stellung. Ich bin nur eine einfache Stenotypistin und weiß von dem Gesetz kaum mehr, als daß Stempelmarken auf gewisse Urkunden gehören und an bestimmten Stellen aufgeklebt werden müssen!«

 

Sie kehrten nicht auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren, sondern gingen durch die große Halle in den Hof. Die Organisation der Anstalt war so vorzüglich, daß sich in der kurzen Zeit, die sie in der Zelle verbrachte, der ganze Hof mit grauen Gefangenen gefüllt hatte, die im Kreis umhergingen.

 

»Um diese Zeit machen sich die Gefangenen immer Bewegung«, erklärte der Direktor. »Ich dachte, Sie würden es vielleicht gern einmal sehen.«

 

Lois war von Mitleid erfüllt, und ihr Herz lehnte sich gegen das Gesetz auf, das diese Frauen zu anonymen Nummern erniedrigte. Die einfachen Kattunkleider und die weißen Hauben erschienen ihr häßlich, und dieser Anblick stimmte sie traurig. Kummer und namenlose Furcht packten sie. Jedes Alter war hier vertreten, sie sah junge Mädchen und alte, verstockte Frauen. Auf jedem Gesicht las Lois den unleugbaren Stempel des Ungewöhnlichen. Als sich dieser gespenstische Kreis langsam an ihr vorüberbewegte, sah sie wilde und schlaue, aber auch ermattete und in ihrem Kummer ergreifende Gesichter. Trübe Augen starrten gedankenlos vor sich hin, dunkle Augen blitzten boshaft auf, sorglose Blicke streiften Lois oberflächlich. Die sich vorwärts schiebenden Frauen erschienen ihr unheimlich und unwirklich.

 

Beinahe der ganze gräßliche Kreis war an ihr vorübergegangen, als sie eine große stattliche Gestalt wahrnahm, die nicht in diese grauenvolle Umgebung zu gehören schien. Die Frau ging aufrecht, mit erhobenem Kopf, und ihre ruhigen Augen sahen geradeaus. Sie mochte zwischen Vierzig und Fünfzig sein. Ihre feingeschnittenen Züge waren nicht gefurcht, aber ihr Haar war weiß. Eine göttliche Ruhe strahlte von ihr aus.

 

»Was tut denn diese Frau hier?« fragte Lois, bevor sie sich bewußt wurde, daß sie eine Frage gestellt hatte, die kein Besucher an einen Gefängnisbeamten richten darf.

 

Direktor Stannard antwortete ihr nicht. Er beobachtete die Gestalt auch, als sie näher kam. Einen Augenblick ruhten die Augen der Frau ernst auf dem jungen Mädchen, aber nur eine Sekunde lang, so lange, wie eine Frau von Haltung das Gesicht einer Fremden anschauen würde. Dann war sie vorübergegangen.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie gefragt habe«, sagte sie, als sie an der Seite des Direktors durch das Gitter in sein Büro ging.

 

»Schon viele haben dieselbe Frage gestellt«, entgegnete er, »und haben auch keine Antwort erhalten. Es verstößt gegen die Gefängnisregeln, den Namen irgendeiner Gefangenen zu verraten. Das wissen Sie wohl. Aber merkwürdig –«

 

Er schaute sich um und nahm ein aufgeschlagenes Buch von einem Seitenbrett herunter. Es war ein dicker, in Kalbsleder gebundener Band. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er ihr das Buch. Sie las den Titel: »Fawleys Kriminalfälle.«

 

»Mary Pinder«, sagte er kurz, und sie entdeckte, daß das Buch an der Stelle aufgeschlagen war, wo das Kapitel mit diesem Namen begann. »Es ist doch merkwürdig, daß ich gerade, bevor Sie kamen, den Fall nachgelesen habe. Ich bin alle Einzelheiten durchgegangen, um zu sehen, ob mein Gedächtnis mich nicht im Stich gelassen hat. Ich gestehe Ihnen, daß ich ebenso verwundert über diese Frau bin wie Sie.« Bei den letzten Worten senkte er seine Stimme, als ob er irgendwelche Horcher fürchtete.

 

Sie schaute wieder auf die Überschrift: »Mary Pinder. Begangenes Verbrechen: Mord.« Sie war sehr erstaunt.

 

»Eine Mörderin?« fragte sie ungläubig.

 

Der Direktor nickte.

 

»Aber das ist doch unmöglich!«

 

»Lesen Sie den Fall.«

 

Sie schaute in das Buch:

 

Mary Pinder – verurteilt wegen Mordes vor dem Schwurgericht zu Hereford. Das Urteil lautete auf Tod, wurde später aber in zwanzigjährige Kerkerstrafe umgewandelt. Hier haben wir den typischen Fall eines Raubmordes. Die Pinder lebte mit einem jungen Mann zusammen, der allem Anschein nach ihr Gatte war. Dieser verschwand einige Zeit vor dem Verbrechen. Man nimmt an, daß er sie ohne Mittel zurückließ. Ihre Wirtin, Mrs. Curtain, war eine reiche Witwe, deren exzentrische Launen beinahe an Geisteskrankheit grenzten. Sie verwahrte große Summen und viel alten Schmuck in ihrem Haus. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, annoncierte die Pinder um eine Stellung. Eine Frau, die sie in dem Haus aufsuchen wollte, fand die Haustür geöffnet. Nachdem sie verschiedentlich geklopft und keine Antwort erhalten hatte, trat sie ein. Sie bemerkte, daß eine der Zimmertüren offenstand, und als sie in den Raum schaute, sah sie zu ihrem größten Schrecken, daß Mrs. Curtain auf dem Boden lag und anscheinend einen Anfall hatte. Sie eilte sofort zu einem Polizisten, der aber nur feststellen konnte, daß die Frau tot war. Die Schubladen eines alten Sekretärs waren geöffnet und ihr Inhalt auf dem Boden verstreut; auch ein Schmuckstück war darunter. Da man Verdacht hatte, wurde das Zimmer der Mieterin, die das Haus kurz vor der Entdeckung verlassen hatte, in ihrer Abwesenheit durchsucht. Man fand dort in einem verschlossenen Kasten eine Flasche Zyankali und viele Juwelen. Die Verteidigung machte geltend, daß die Verstorbene schon mehrmals versucht hatte, Selbstmord zu verüben, und daß man nicht beweisen konnte, daß die Pinder das Gift gekauft hatte, das in einer Flasche ohne Etikett gefunden wurde. Die Pinder selbst lehnte es ab, über sich und ihren Mann irgendwelche Aussagen zu machen. Ein Trauschein wurde nicht gefunden. Der Richter Darson leitete als Vorsitzender die Verhandlung ihres Falles. Sie wurde verurteilt. Man nimmt an, daß die Pinder, die dringend Geld brauchte, einer plötzlichen Versuchung unterlag, Zyankali in den Tee der Frau goß und darauf deren Schreibtisch plünderte. Der Fall zeigt keine außergewöhnlichen Züge mit Ausnahme der Weigerung der Gefangenen, sich zu verteidigen.

 

Lois las den Bericht zweimal durch.

 

»Ich kann es trotzdem nicht glauben – es ist unfaßbar. Sie wurde zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt – aber sicher wird sie doch begnadigt? Gibt es denn keinen Straferlaß wegen guter Führung?«

 

»Unglücklicherweise machte sie zwei Versuche auszubrechen, und so wurde ihr die gute Führung von früher gestrichen. Es ist sehr schade, denn sie ist eine wohlhabende Frau. Ihr Onkel, der erst fünf Jahre nach ihrer Verurteilung erfuhr, daß sie im Gefängnis war, hinterließ ihr ein großes Vermögen. Sie hat uns niemals gesagt, wer sie war. Er besuchte sie ein paar Wochen vor seinem Tode hier, und wir wurden davon auch nicht klüger. Wir konnten nur feststellen, daß er einer ihrer Verwandten mütterlicherseits war.«

 

Lois sah wieder auf das Buch.

 

»Diese wundervolle Frau soll eine Mörderin sein?«

 

Er nickte.

 

»Ja – es ist merkwürdig, aber selbst Leute, die vollkommen unschuldig aussehen, begehen böse Verbrechen. Ich bin seit zwanzig Jahren hier auf meinem Posten – ich habe alle Illusionen verloren.«

 

»Aber wenn man doch davon überzeugt war, daß sie eine Mörderin sei, warum hat man sie denn nicht –«

 

Sie konnte es nicht über sich bringen, »aufgehängt« zu sagen.

 

Der Direktor sah sie an.

 

»Nun ja – es war da ein Grund, ein sehr wichtiger Grund sogar –«

 

Lois war einen Augenblick erstaunt, aber plötzlich wurde es ihr klar. Sie verstand.

 

»Ja, das Baby wurde hier in diesem Gefängnis geboren. Es war das entzückendste kleine Mädchen, das ich jemals gesehen habe ein wirklich schönes Kind. Es tat mir furchtbar leid, als es aus dem Gefängnis gebracht werden mußte, das arme kleine Ding!«

 

»Es wußte von nichts, vielleicht weiß es heute noch nicht –« Lois‘ Augen füllten sich mit Tränen.

 

»Nein, ich glaube nicht, daß die Kleine es erfahren hat«, fuhr der Direktor fort. »Sie wurde von einer Nachbarin der Mrs. Pinder adoptiert, die stets an ihre Unschuld glaubte. Wenn ich aber vorher sagte, das arme, kleine Mädchen, dann dachte ich an die dumme Kinderpflegerin, durch deren Nachlässigkeit sich das Kind den Arm an einer Flasche mit kochendem Wasser verbrannte. Es hat eine recht ansehnliche Brandnarbe gegeben, ich erinnere mich deutlich daran. Es blieb eine sternförmige Narbe nahe des Ellenbogens zurück – der Knopf der Heißwasserflasche war so geformt.«

 

Lois Reddle hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. Ihr Gesicht war schneeweiß geworden. Der Direktor stellte das Buch in das Fach zurück und wandte ihr den Rücken zu. Mit Aufbietung aller Energie riß sie sich zusammen.

 

»Wissen Sie – können Sie sich an den Namen des Kindes erinnern?« fragte sie leise.

 

»Ja, denn es war ein ganz ungewöhnlicher Name, ich werde ihn nicht vergessen: Lois Margeritta!«

 

Kapitel 30

 

30

 

Obgleich Lois Reddle schon viele recht unangenehme Tage in ihrem Leben durchgemacht hatte, konnte sie sich doch auf keine Zeit besinnen, die so schrecklich gewesen wäre wie die letzten zwanzig Stunden nach ihrem Fortgang von Gallows Farm. Sie war von der Haushälterin mitten in der Nacht aufgeweckt worden. Die Frau hatte ihr gesagt, daß sie sich anziehen und herunterkommen solle. Die erste Aufforderung war leicht zu erfüllen, denn sie hatte sich angekleidet aufs Bett gelegt. Als sie in den Gang hinunterkam, fand sie den Doktor, der auf sie wartete. Er trug seinen dicksten Mantel, hatte einen starken Stock in der Hand und prüfte eine Taschenlampe, als sie zu ihm trat.

 

»Wo bringen Sie mich denn jetzt hin?« fragte sie, als er sie quer über den Hof führte, während die Hunde an ihren Ketten fürchterlich bellten.

 

»Das werden Sie noch rechtzeitig erfahren«, war die unbefriedigende Antwort. »Ich wünsche nicht, daß Sie sprechen oder Fragen stellen. Bis Sie dieses Haus verlassen haben, müssen Sie ruhig sein verstehen Sie mich?«

 

Sie stiegen den sanften Abhang des Hügels hinan und gingen auf der anderen Seite wieder in ein Tal hinab. Obgleich der Mond nicht schien, war es doch genügend hell, daß sie den Weg über den Sturzacker finden konnte und seinen Arm ablehnte, den er ihr bot. Sie machten einen weiten Umweg, um einer sumpfigen Stelle aus dem Wege zu gehen. Einmal mußte er ihr doch helfen, als sie über eine Weißdornhecke kletterten. Dann lag eine dunkle Baumreihe vor ihnen, die noch zu der Farm gehörte. Er sagte ihr, daß das ganze Gut zwölfhundert Morgen groß sei. Nur ein kleiner Teil war in Pacht gegeben, und keines der Felder war bestellt.

 

»Es ist nur magerer Boden wie all dieses Land in den Niederungen – da drüben ist Gallows Wood.« Er zeigte auf ein Gehölz. »Die Farm hat ihren Namen von dem Wald – vor langen Jahren stand ein Galgen auf der Spitze des Hügels. Fürchten Sie sich nicht?«

 

Er lachte, als sie verneinte.

 

Nach einiger Zeit kamen sie auf einen schlechten Pfad, der sie mitten in das Gehölz führte. Jetzt benützte er zum erstenmal die Taschenlampe, denn der Weg war überwachsen, und es war sehr schwierig, ihm zu folgen. Obwohl ihre Stimme fest und ihre Haltung zuversichtlich schien, war ihr doch bang zumute. Es war eine schlechte Vorbedeutung, daß sie das Gehöft verlassen mußte. Vermutlich brachte sie der Doktor zu einer anderen Stelle, weil er die Rückkehr Michael Dorns erwartete. Sie fürchtete nur das eine, daß Michael während ihrer Abwesenheit das Haus durchsuchen und sich damit zufrieden geben könnte, daß sie nicht dort war. Nachdem sie zehn Minuten weitergegangen waren, hielt er an, und sie glaubte, er hätte den Weg verloren. Aber dann sah sie bei dem Licht seiner Lampe ein kleines Steinhäuschen, das seitwärts von dem Pfad stand und ganz von Bäumen und Sträuchern verborgen war. Das war also ihr neues Gefängnis!

 

»Halten Sie die Lampe!« befahl er ihr, und sie gehorchte, während er von seinem Bund einen Schlüssel nach dem anderen probierte, um aufzuschließen. Nach einiger Zeit sprang die Tür auf, und er ging hinein, schaute sich aber um, ob sie ihm folgte. Auf dem Fußboden lag dick der Staub, und ein alter Stuhl mit abgebrochener Lehne war das einzige Mobiliar des Raumes, in den er sie brachte. An einer Wand hing ein alter Abreißkalender. Anscheinend war das Haus seit dieser Zeit nicht mehr bewohnt worden.

 

»Sie bleiben hier und verhalten sich vollständig ruhig. In einigen Stunden wird es hell. Wenn Sie etwas brauchen, dann fragen Sie Mrs. Rooks – sie wird gleich hier sein.«

 

Er ging hinaus, schloß aber die Tür nicht zu. Später entdeckte Lois, daß das Schloß nicht in Ordnung war. Sie wartete eine halbe Stunde, dann hörte sie Schritte und Stimmen in dem Vorraum. Irgend etwas fiel polternd zu Boden. Einen Augenblick erschrak sie furchtbar, aber wahrscheinlich hatte Mrs. Rooks, die bleiche Wirtschafterin, nur eine schwere Last abgeworfen. Sie hörte, wie die Frau darüber schimpfte. Sie hatte wohl alle möglichen Dinge mitgebracht, die für diesen Umzug notwendig waren. Es schien ziemlich viel Vorrat zu sein. Tappatt hatte sie darauf vorbereitet, daß ihr Aufenthalt hier länger dauern sollte.

 

»Es hätte mir beinahe das Kreuz eingedrückt«, knurrte Mrs. Rooks. »Warum konnte sie es denn nicht tragen, Doktor?«

 

Lois schlich sich näher an die Tür und horchte. Sie hoffte zu hören, daß sie nur hier versteckt wurde, weil Tappatt die Rückkehr Dorns erwartete.

 

»Holen Sie einen Stuhl aus dem anderen Zimmer«, hörte sie ihn brummen. »Warum machen Sie denn all diesen Lärm? Es ist für Sie doch nicht schlimmer als für mich. Es ist doch nicht das erstemal, daß Sie eine Nacht wachen müssen!«

 

»Ich sehe bloß nicht ein, warum Sie soviel Umstände machen«, brummte die Frau. »Er wird nicht wiederkommen, und wenn er wirklich kommt – wie wollen Sie ihn denn daran hindern, auch hierher zu gehen?«

 

»Er wird bestimmt zurückkommen – darüber gibt es gar keinen Zweifel. Ich kenne diesen Mann. Aber Sie brauchen sich keine Sorge zu machen, daß er sie finden wird. Er kann doch nicht jedes Gehölz in der Umgegend absuchen.«

 

Ein paar Minuten später schlug er die Haustür zu, als er fortging, und Lois hörte die Frau noch mit sich selbst reden. Sie saß dicht neben der Tür und konnte jedes Geräusch und jede Bewegung in dem leeren Raum verfolgen. Vielleicht hätte man auch das Fenster öffnen können, aber es war unmöglich, das zu tun, ohne daß es die Frau gehört hätte.

 

Kurz nach Tagesanbruch nahm Mrs. Rooks das Mädchen mit in die Küche. Sie kamen an dem Raum vorbei, in dem die zweite Gefangene untergebracht sein mußte. Lois sah, daß ein Schlüssel in der Tür steckte, und wenn die Lage in dem Zimmer ebenso war, so konnte die unbekannte Frau unmöglich entfliehen. Wer mochte sie sein? Irgendeine arme Person, die von ihren Freunden oder ihrer Familie der Pflege Dr. Tappatts übergeben worden war? Sie empfand schmerzliches Mitleid mit ihr.

 

Während des langen, unangenehmen Tages, der nun folgte, sah sie außer der Haushälterin kein einziges menschliches Wesen. Der Wald gehörte zu einem Privatgrundstück, und der zugewachsene Weg sagte ihr, daß nicht einmal die Leute, die dort wohnten, ihn häufig gingen. Vom Fenster aus konnte sie nur die Stämme von Buchen und das grüne Laubdach der Bäume sehen. Die fürchterliche Einsamkeit bedrückte selbst Mrs. Rooks, die sonst so unzugänglich war. Sie war wahrscheinlich nicht an ein einsames Leben gewöhnt. Am Nachmittag kam sie in das Zimmer, und Lois benützte die Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Sie mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen, schaute rauh und böse drein und schien mit der Welt und den Menschen zerfallen zu sein.

 

»Es ist so verteufelt ruhig hier, daß man den Verstand verlieren könnte«; klagte sie.

 

Lois war neugierig, ob sie die Frau zum Sprechen bringen und in eine Unterhaltung verwickeln könnte.

 

»Sind Sie schon lange in England?« fragte Lois.

 

Mrs. Rooks mußte erst ihren natürlichen Widerwillen überwinden, bevor sie antwortete.

 

»Erst zwei Jahre – vorher waren wir in Indien. Aber ich weiß gar nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«

 

»Ich hörte, wie Sie die Hunde mit indischen Namen riefen. Mali heißt doch Geld, nicht wahr?«

 

»Stellen Sie keine Fragen«, sagte die Frau. »Verhalten Sie sich nur ruhig, Sie werden nicht schlecht behandelt. Aber wenn Sie sich närrisch aufführen, dann wird man Ihnen –« Sie nickte bedeutungsvoll. »Natürlich heißt Mali Geld.« Dann sagte sie noch einige hindostanische Worte.

 

Lois schüttelte lächelnd den Kopf. Sie vermutete, daß die Frau sie fragte, ob sie Hindostani spräche oder verstände.

 

»Warum werde ich hier gefangengehalten? Können Sie das nicht sagen?«

 

»Weil Sie nicht richtig im Kopf sind.«

 

Diese Antwort hätte Lois wütend gemacht, wenn ihr die Vermutung nicht schon selbst gekommen wäre, daß man dies als Vorwand benützte, um sie gefangenzuhalten.

 

»Sie haben Dinge gehört und gesehen, die nicht existieren, und solche Leute sind immer verrückt.«

 

Lois lachte. »Sie wissen ganz genau, daß ich nicht verrückt bin.«

 

»Keiner von diesen Menschen weiß, daß er verrückt ist«, sagte Mrs. Rooks zur größten Beruhigung von Lois. »Das ist doch eines der Symptome. Sobald jemand glaubt, daß er vernünftig ist, ist er verrückt! Der Doktor weiß das, er ist der klügste Mann in der Welt!«

 

Sie schaute durch die offene Tür. Lois hörte von dort dauernd Schritte, als ob jemand auf und ab ginge.

 

»Wer ist in dem anderen Zimmer?« fragte sie, aber sie erwartete keine befriedigende Antwort.

 

»Eine Frau – die ist auch verrückt.« »Habe ich sie nicht neulich abends gesehen?« fragte das Mädchen und bemühte sich, so gleichgültig wie möglich zu sein. »Haben Sie nicht mit ihr im Hof – gesprochen?«

 

Die Frau musterte sie von oben bis unten.

 

»Sie haben gesehen, wie ich sie mit der Peitsche beruhigte – manchmal wird sie nämlich ein wenig frech, aber daran bin ich schon gewöhnt. Die meisten sind so. Bei Ihnen kommt das auch noch.«

 

Lois schauderte vor dieser furchtbaren Prophezeiung.

 

»Da ist doch nichts dabei – ein paar Schläge – Mondsüchtige sind eben keine Menschen mehr, sie sind wie Tiere, sagt der Doktor. Und man muß sie eben auch wie Tiere behandeln. Das ist die einzige Methode, die sie verstehen.«

 

Lois versuchte ihren Schrecken und ihren Abscheu zu verbergen, aber es gelang ihr nicht ganz.

 

»Ich hoffe, Sie werden mich nicht wie ein Tier behandeln«, sagte sie.

 

Mrs. Rooks rümpfte die Nase.

 

»Wenn Sie sich ordentlich betragen, werden Sie auch gut behandelt. Alle verrückten Leute haben eine gute Zeit bei uns, wenn sie nicht frech und aufsässig sind. So hält es der Doktor immer.«

 

Es war Lois klar, daß diese brutale Frau ohne zu fragen jede Diagnose annahm, die der Doktor stellte. Für Mrs. Rooks war sie eben verrückt, genau wie die andere unglückliche Frau. Und wenn sie widerspenstig wurde, sollte sie in derselben Weise behandelt werden.

 

»Warum haben Sie sie denn eine Zuchthäuslerin genannt?«

 

Wieder traf sie ein argwöhnischer Blick.

 

»Ich habe eine Menge Schimpfnamen für sie«, sagte Mrs. Rooks kühl. »Wenn Sie nicht spioniert hätten, wüßten Sie nichts davon. Aber Schimpfnamen verletzen niemanden, sie sind immer noch viel besser als die Peitsche. Kennen Sie den Mann, der gestern abend kam?«

 

»Mr. Dorn?«

 

»Ja – wer ist das?«

 

»Ein Polizeibeamter.«

 

Lois hatte nicht erwartet, daß diese Worte solchen Eindruck auf die Frau machen würden. Das Gesicht der Haushälterin wurde plötzlich blaß.

 

»Ein Detektiv?«

 

Lois nickte, aber Mrs. Rooks‘ Gesicht hellte sich wieder auf.

 

»Das ist ein Teil Ihrer verrückten Ideen«, sagte sie ruhig. »Er ist ein Mann, dem der Doktor Geld schuldet, ich weiß es, weil er es mir selbst erzählt hat. Der Doktor ist in Geldnot, aber deswegen hat er noch lange keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei. Man hat viele Lügen über ihn in Indien verbreitet, aber er ist ein guter Mensch, der beste Mann, den es auf der Welt gibt.«

 

Plötzlich kam Lois ein Gedanke.

 

»An welchem Irrwahn leide ich denn?« fragte sie.

 

Mrs. Rooks sah das Mädchen mit einem schlauen Blick an.

 

»Ich bin erstaunt, daß Sie das fragen. Sie haben wirklich die verrückte Idee, zu glauben, daß Sie jemand anders sind als in Wirklichkeit!«

 

Lois runzelte die Stirn.

 

»Wollen Sie damit sagen, daß ich unter dem Eindruck stehe, eine hohe Persönlichkeit zu sein?

 

Mrs. Rooks nickte.

 

»Ja – Sie denken, daß Sie die Gräfin von Moron sind!«

 

Kapitel 31

 

31

 

Lois wollte ihren Ohren nicht trauen.

 

»Ich bilde mir ein, daß ich die Gräfin von Moron bin?« fragte sie verwirrt. »Das ist doch ganz unmöglich – ich bilde mir wirklich nichts Derartiges ein!«

 

»Doch, das tun Sie – der Doktor sagt, Sie glauben, daß Sie die Gräfin sind. Sie versuchten, Lady Moron umzubringen, weil Sie ihren Titel haben wollten!«

 

Diese Unterstellung war so absurd, daß Lois lachen mußte.

 

»Aber das ist doch vollkommener Unsinn! Ein solcher Gedanke ist mir niemals gekommen! Lady Moron! Ich bin doch eine Stenotypistin. Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

 

»Der Doktor – er sagt immer die Wahrheit. Nur die Leute belügt er, denen er Geld schuldig ist. Und das ist doch sehr natürlich!«

 

Die alte Frau erhob sich und ging aus dem Zimmer. Sie blieb eine halbe Stunde fort und versorgte anscheinend in dieser Zeit die andere Gefangene, denn als sie zurückkam, brummte sie etwas von unzufriedenem Volk.

 

»Sie hat alles, was sie braucht – zu essen und zu trinken –, und doch ist sie unzufrieden, das zeigt, daß sie verrückt ist. Ich habe noch nie eine verrückte Frau gesehen, die zufrieden war.«

 

Lois dachte, daß sich diese Schwäche nicht nur auf verrückte Leute beschränkte.

 

»Wann gehen wir wieder von hier fort?«

 

»Ich weiß es nicht – wahrscheinlich heute abend. Der Doktor wird dann herkommen und mich ablösen, damit ich schlafen kann. Ich bin nahezu tot.«

 

Mrs. Rooks war nicht geneigt, die Unterhaltung fortzusetzen, und mit jeder Stunde wurde sie schweigsamer und gereizter. Als die Dunkelheit hereinbrach, hielt sie sich außerhalb des Hauses auf. Lois hörte ihre Schritte vor dem Fenster. Sie saß auf ihrem Stuhl und war halb eingeschlafen, als sie plötzlich die Stimme des Doktors hörte und sofort wieder wach wurde.

 

»Nehmen Sie die andere – ich gehe mit dem Mädchen hinterher. Lassen Sie alle Ihre Sachen hier, es ist möglich, daß wir zurückkommen. Ich glaube zwar nicht, daß es nötig sein wird, aber immerhin müssen wir damit rechnen.«

 

Das Zimmer wurde dunkel, als er eintrat. Er drehte seine Taschenlampe an und ließ den Lichtschein über sie hingleiten.

 

»Sie hatten einen schlechten Tag, aber dafür müssen Sie Ihren Freund tadeln«, sagte er. »Heute abend werden Sie wieder in Ihrem Bett schlafen, und Sie werden es besser haben als er!«

 

Sie erwiderte nichts, denn sie konnte seine geheimnisvolle Anspielung auf Michael nicht verstehen.

 

»Ein schlauer Kerl, dieser Dorn – wie? Ein tüchtiger Detektiv! Hat viel Witz und Verstand.«

 

Aber sie gab ihm wieder keine Antwort.

 

»Er ist wirklich schlau«, sagte Tappatt.

 

Er war in so heiterer, ausgelassener Stimmung, daß sie annahm, Michael Dorn sei zurückgekommen und von ihm überlistet worden. Ihr Mut sank.

 

»Sehen Sie einmal her.« Er beleuchtete mit seiner Lampe eine automatische Pistole von schwerem Kaliber. Sie erschrak.

 

»Seien Sie nicht bange, ich werde Sie nicht töten. Wir bringen die Leute nicht um, wir heilen sie. Deswegen sind Sie doch auch hier, daß Sie geheilt werden.« Als er ihr auf die Schulter klopfte, schauderte sie vor ihm zurück.

 

»Ich wollte Ihnen das Ding nur zeigen, weil es Dorn gehörte ich nahm es ihm weg, und das war so leicht, als wenn man einem Kind Geld wegnimmt. Ich zog es aus der Tasche, und er sagte nicht einmal etwas dazu – obwohl er so schlau ist.«

 

»Ist er denn tot?« fragte sie, und ihre Frage reizte ihn aufs neue.

 

»Nein, er ist nicht tot«, sagte er redselig. »Nichts so Dramatisches – ich bringe die Leute nicht um, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich heile sie. Aber der ist endgültig geheilt. Die Manie, überall herumzuschnüffeln, ist ihm vollständig genommen.«

 

Mrs. Rooks und ihre Gefangene hatten das Haus schon verlassen. Lois hörte, wie sie durch das Unterholz gingen, und sie sah einen Augenblick lang das Aufblitzen der Taschenlampe, mit der die alte Frau den Weg suchte.

 

»Wir lassen sie vorausgehen«, sagte der Doktor, »und dann folgen wir ihnen – die Rooks ist langsam, sie wird alt.«

 

»Wer ist denn die andere Frau?«

 

»Eine meiner Patientinnen«, erwiderte er gleichgültig. Sie leidet unter einer ganz außergewöhnlichen Einbildung.«

 

»Warum haben Sie Mrs. Rooks erzählt, daß ich verrückt sei?«

 

»Weil das stimmt«, war die ruhige Antwort. »Ich habe Ihnen die Diagnose gestellt, daß Sie an Wahnvorstellungen leiden und Neigung zum Selbstmord haben. Und wenn ich eine Diagnose gestellt habe, ist sie noch nie bezweifelt worden. Und nun, wenn Sie fertig sind –«

 

»Warum sagen Sie denn, daß ich mir einbildete, ich sei die Gräfin von Moron?«

 

»Weil Sie das tun! Ich habe es in die Krankheitsgeschichte eingetragen, und Krankheitsrapporte sind beweiskräftig vor Gericht!« Und er schüttelte sich vor Lachen, als ob er einen guten Witz gemacht hätte.

 

Sie kehrten zu dem anderen Haus zurück, und selbst in ihrer Müdigkeit und Traurigkeit war ihr der Weg durch die Felder angenehm, denn ihre Beine waren von dem langen Sitzen ganz steif geworden, und alle Glieder schmerzten sie. Als sie den letzten Hügel emporstiegen, tauchte die lange graue Mauer von Gallows Farm vor ihnen auf. Das Tor stand offen, sie gingen hindurch. Halbwegs auf dem Hof faßte er ihren Arm, und sie blieb stehen. Sie hörte das Rasseln der angeketteten Hunde und war gespannt, ob er sie wieder vor den Gefahren warnen wollte, die ein Fluchtversuch mit sich brachte.

 

»Da unten ist ein netter kleiner Raum«, sagte er und zeigte auf die kleine Gefängniszelle. »Jemand hat gesagt, daß sie nicht luftig sei, obgleich sie nur ein ganz klein wenig unterhalb des Erdbodens liegt. Ich werde sie Ihnen eines Tages einmal zeigen – sie hat eine interessante Geschichte.«

 

»Wollen Sie mich da hineinsperren?« fragte sie. All ihr Mut verließ sie.

 

»Sie, meine Teure? Sie sind die letzte Person in der Welt, die ich dort unterbringen würde.« Wieder fühlte sie das Streicheln seiner verhaßten Hand. »Gehen Sie nur ruhig vorwärts – Ihr schönes Zimmer wartet auf Sie.« Er nahm die Lampe, die im Gang auf einem Stuhl stand, und leuchtete ihr die Treppe hinauf. Sie schaute auf den Raum gegenüber und sah, daß ein neues Schloß an der Tür angebracht worden war. Wahrscheinlich würde die andere Frau jetzt ihre Nachbarin werden. Tappatt folgte der Richtung ihres Blicks.

 

»Sie bekamen Gesellschaft«, sagte er. »Diese alte Anstalt füllt sich schnell. Alles, was man zur Gründung eines Heims für Geisteskranke braucht, ist vorhanden, und zufriedene Patienten sind die beste Reklame!«

 

»Wo ist Mr. Dorn?« fragte sie, als er den Raum verließ.

 

»Er ist nach London zurück. Ich habe ihm einen Floh ins Ohr gesetzt – der Kerl wird mich nicht so bald wieder belästigen.«

 

»Sprechen Sie wohl jemals die Wahrheit?«

 

Aus irgendeinem Grund wurde er wütend über diese Frage und änderte plötzlich sein Verhalten ihr gegenüber.

 

»Ich werde Ihnen an einem dieser Tage die Wahrheit sagen, mein junges Fräulein, und es wird Ihnen sehr unangenehm sein, sie zu hören!« fuhr er sie böse an.

 

Dann schlug er die Tür hinter sich zu und schloß ab.

 

Kapitel 22

 

22

 

Als Michael Dorn die Polizeistation verließ, eilte er in seinem Wagen nach der Charlotte Street. Um diese frühe Morgenstunde war die Straße völlig leer. Er war auf ein langes Warten gefaßt, aber wenn er die Gewohnheiten des alten Mackenzie gekannt hätte, wäre er nicht erstaunt gewesen, daß er ihm sofort öffnete.

 

Der alte Mann war im Schlafrock und hatte sich erst vor einer halben Stunde zur Ruhe gelegt. Er schaute den Besucher ein wenig argwöhnisch an, und sein Verdacht verstärkte sich noch, als er erfuhr, weshalb er kam.

 

»Ja, Sir. Miss Smith ist zu Hause – kommen sie von der Polizei?«

 

»Ja«, erwiderte Dorn, ohne damit die Wahrheit zu verletzen, »kann ich Miss Smith sprechen?«

 

»Sie ist erst sehr spät nach Hause gekommen und war sehr aufgeregt. Soviel ich weiß, hat die gute Gräfin versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um Miss Reddle wieder zu befreien. Es ist wirklich schrecklich, was da passiert ist. Wollen Sie bitte eintreten, Sir.«

 

Michael folgte ihm die Treppe hinauf zu seinem kleinen Zimmer und setzte sich nieder, während der alte Mann die Treppe hinaufstieg, um Lizzy zu wecken. Sie hatte aber das Klopfen an der Haustür auch gehört und wartete an der offenen Tür ihres Zimmers, als Mackenzie heraufkam.

 

»Ist Dorn unten?« fragte sie böse. »Dann komme ich gleich hinunter und rede einmal einen Ton mit ihm. Er wird ganz klein sein, wenn ich zu Ende bin!« Sie kam wutentbrannt herunter.

 

»Na, das ist aber eine Dreistigkeit, noch hierher zu kommen, nachdem Sie die arme Lois so heimtückisch verraten haben –«

 

»Ist sie nicht hier?« unterbrach er sie barsch.

 

»Hier? Natürlich ist sie nicht hier! Sie ist doch auf dem Polizeirevier. Wie konnten Sie bloß –«

 

»Sie ist nicht mehr auf dem Polizeirevier – sie ist freigelassen worden, und ich muß den Mann finden, der ihre Entlassung durchgesetzt hat.«

 

Sein Auftreten und seine Stimme schüchterten Lizzy vollständig ein.

 

»Ist sie denn nicht bei Lady Moron?«

 

»Ich fahre jetzt sofort zum Chester Square – aber ich erwarte nicht, Miss Reddle dort zu finden. Ich habe sie einsperren lassen, um ihr Leben zu retten – hoffentlich begreifen Sie das nun endlich! Man hat schon drei Versuche gemacht, sie zu töten, und nach meinen Ermittlungen war ein vierter Anschlag geplant, der mehr Erfolg versprach. Ich wußte, daß ihre Mutter jetzt aus dem Gefängnis entlassen werden sollte, und sie ist auch tatsächlich gestern abend herausgekommen – es ist jetzt dringend notwendig, daß ich Lois Reddle unter meiner Aufsicht habe.«

 

Lizzy sank in einen Stuhl.

 

»Ihre Mutter ist aus dem Gefängnis entlassen? Was sagen Sie da? Ihre Mutter ist doch tot! Man versucht, Lois umzubringen – wer will denn Lois ermorden? Das Unglück mit dem Balkon war doch ein Zufall.«

 

»Es war kein Zufall«, erwiderte Michael ruhig. »Der Balkon war schon seit Jahresfrist baufällig, und die Baupolizei hatte angeordnet, daß er repariert werden sollte. Bis Miss Reddle das Zimmer dort oben am ehester Square bezog, wurden die großen Fenster, die auf den Balkon führten, auch stets geschlossen gehalten.«

 

Lizzy atmete schwer. »Aber die Dienstboten –«

 

»Die Dienstboten waren alle neu engagiert. Keiner war länger als vierzehn Tage im Haus. Sergeant Braime kam von Newbury, und selbst er wußte nichts.«

 

»Sergeant Braime?« wiederholte sie und schaute ihn groß an.

 

»Braime ist ein Beamter der Staatsanwaltschaft, der seit sechs Monaten im Haushalt der Gräfin angestellt war«, lautete die überraschende Antwort. »Niemand durfte auf den Balkon hinausgehen. Es war auch ein Holzgitter dort angebracht, das die Dienerschaft davon abhalten sollte – aber als Lois an jenem Abend in ihr Zimmer kam, war es vorher entfernt worden.«

 

»Wer hat das getan?« fragte Lizzy.

 

Michael zuckte die Achseln.

 

»Ich weiß es nicht – aber ich werde es noch entdecken.«

 

»Aber wo ist Lois denn?«

 

»Das will ich ja gerade herausbringen. Ich fahre jetzt direkt zum Chester Square. Wollen Sie mich begleiten?«

 

Sie verschwand im Augenblick aus dem Zimmer.

 

»Aber, Mr. Dorn, es ist doch fürchterlich, daß sich alle Leute gegen dieses unschuldige Mädchen verschwören«, sagte der alte Mackenzie, von Schrecken gepackt. »Sicherlich werden Sie Miss Reddle im Haus der guten Gräfin finden.«

 

»Ich hoffe es, aber ich bin nicht davon überzeugt«, entgegnete er.

 

Die Lippen des alten Mannes zitterten.

 

»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich gehe ja niemals aus dem Haus, aber ich würde selbst das tun –«

 

Michael schüttelte den Kopf.

 

»Ich fürchte, Sie können nichts helfen, höchstens wenn das Unvorhergesehene eintreten sollte, daß Miss Reddle hierher zurückkommt. Dann sorgen Sie bitte dafür, daß sie nicht wieder weggeht, und daß sie unter keinen Umständen irgendwelchen Besuch empfängt. Aber ich bezweifle stark«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu, »daß Ihre Hilfe nötig sein wird.«

 

Lizzy erschien in Mantel und Hut, und während sie zum Chester Square fuhren, erzählte sie Dorn, was sie inzwischen unternommen hatte, um Lois Reddle zu befreien.

 

»Ich ging los, um die Gräfin zu suchen, und fand sie in dem Haus eines Freundes. Ich teilte ihr alles mit, was mit Lois geschehen war. Sie war furchtbar aufgeregt – ich hatte früher noch nicht mit ihr gesprochen, aber sie war sehr liebenswürdig zu mir.«

 

»War sie in Begleitung? Kennen Sie Chesney Praye?«

 

Lizzy schüttelte den Kopf. »Nein, persönlich nicht. Lois hat mir nur von ihm erzählt. Aber ich habe ihn noch nie zu sehen bekommen.«

 

Michal beschrieb ihr den Mann genau, aber sie schüttelte wieder den Kopf.

 

»Nein, das war er nicht.«

 

»Was tat die Gräfin?«

 

»Sie telefonierte mit jemand und sagte, sie würde dem Polizeioffizier vom Dienst einen Brief schicken. Dann bat sie mich, wieder in die Charlotte Street zu gehen und ruhig zu warten, bis Lois käme.«

 

Dorn nickte.

 

»Da hätten Sie lange warten können – die Gräfin wußte ganz genau, daß Lois nicht in ihr Haus zurückkehren würde«, sagte er grimmig. »Und wenn sie sich nicht am ehester Square eingefunden hätte und Sie hätten sie dort erwartet, dann hätten Sie wissen wollen, wo man sie hingebracht hat.«

 

Der Wagen fuhr vor dem Haus Nr. 307 vor. Dorn stieg aus und drückte auf die Klingel. Aber es meldete sich niemand. Er läutete noch einmal und klopfte dann – aber es kam immer noch keine Antwort. Als er wieder aus der Vorhalle heraustrat und zu den Fenstern hinaufsah, wurde ein Schiebefenster in die Höhe gezogen, und ein zerzauster Kopf zeigte sich oben. Es war Lord Moron, der anscheinend in dem Geschoß schlief, das sonst dem Dienstpersonal überlassen war.

 

»Hallo – was gibt es?«

 

»Wollen Sie herunterkommen?« rief Michael.

 

Sie warteten lange, bevor sich die Tür öffnete, aber dann war eine weitere Erklärung für die Verzögerung nicht mehr notwendig, denn neben Selwyn stand die Gräfin in der Halle. Sie war in einen Mantel gehüllt, und ihre majestätische Erscheinung bot ein imposantes Bild.

 

Kapitel 23

 

23

 

»Was soll das bedeuten?« fragte sie.

 

»Ich komme wegen Miss Reddle«, erwiderte Dorn kurz.

 

»Sie ist nicht hier, sie ist außerhalb des Bereichs Ihrer Rachsucht.«

 

»Wo ist sie?«

 

»Darüber gebe ich Ihnen keine Auskunft, nachdem Sie sich letzte Nacht so nichtswürdig betragen haben und das arme unschuldige Kind festnehmen ließen.«

 

»Sie können sich Ihre Worte schenken, Lady Moron«, sagte Michael wild. »Niemand weiß besser als Sie, warum sie festgenommen wurde. Wo ist sie?«

 

»Ich habe sie zu einem Freund geschickt.«

 

»Die Adresse?«

 

»Sie sind ein sehr draufgängerischer junger Mann«, sagte die Gräfin beinahe vergnügt. »Wollen Sie in die Bibliothek kommen? Ich kann in dieser zugigen Halle nicht mit Ihnen sprechen. Sie haben Miss Smith mitgebracht? Sie soll auch hereinkommen.«

 

»Sie ist draußen in größerer Sicherheit«, sagte er kühl und ging durch die Halle.

 

Während dieser ganzen Zeit hatte Selwyn nichts gesagt, aber jetzt wandte er sich an seine Mutter.

 

»Wo ist Miss Reddle? Vielleicht sagst du es mir?«

 

»Ich werde dir nichts sagen«, antwortete sie eisig. »Du gehst jetzt in dein Zimmer zurück.«

 

»Ich will mich schlagen lassen, wenn ich jetzt in mein Zimmer zurückgehe«, protestierte Lord Moron. »Hier geht irgend etwas Verdächtiges vor, und ich wünsche zu wissen, was hier gespielt wird.«

 

Es war eine heldenhafte Rede für Selwyn, und Michael fühlte eine leise Bewunderung für ihn, denn er wußte, wieviel Mut dazu gehörte, dieser Frau zu trotzen. Sogar die Gräfin war bestürzt.

 

»Selwyn«, sagte sie milder, »in diesem Ton verkehrt man nicht mit seiner Mutter.«

 

»Das kümmert mich sehr wenig«, gab er trotzig zurück. »Es ist irgend etwas verdächtig hier – ich habe immer gesagt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist. Was ist mit Miss Reddle?«

 

»Sie ist bei Freunden auf dem Lande«, sagte Lady Moron.

 

Die Antwort schien seinen Widerstand zu brechen.

 

»Nun gut«, meinte er freundlicher. Er schaute durch die offene Tür auf Lizzy, lächelte und winkte ihr mit der Hand, sah dann zurück auf seine Mutter, nahm all seinen Mut zusammen und ging in seinem Pyjama und seinem Schlafrock die Treppe hinab, um mit dem Mädchen zu sprechen.

 

»Sind Sie zufrieden, Mr. Dorn?«

 

»Ich bin weit davon entfernt, zufrieden zu sein, Lady Moron«, erwiderte Michael, während er ihr in die Bibliothek folgte.

 

Er bemerkte den Flecken auf dem Teppich, wo das Wasser auf Braime geschüttet worden war, und sah, daß auch ihre Augen an dieser Stelle hafteten.

 

»Es gibt keinen Grund, warum wir uns streiten sollten, Mr. Dorn«, sagte sie fast liebenswürdig. »Was haben Sie mit Miss Reddle vor? Das arme Mädchen war ganz außer sich in der letzten Nacht. Ich habe sie aus Mitleid aufs Land geschickt.«

 

»Wer hat sie fortgebracht?«

 

»Mein Chauffeur.« Sein scharfer Blick ruhte auf ihr, aber sie hielt ihm stand.

 

»War es nicht Mr. Chesney Praye?«

 

»Mr. Praye ist seit einigen Tagen in Paris. Sie glaubten etwas Außerordentliches entdeckt zu haben, aber hinter den Unglücksfällen, die sich hier ereignet haben, steckt wirklich kein Geheimnis. Ich habe Miss Reddle doch nur engagiert, weil ich den Wunsch hatte, ein nettes, liebes Mädchen um mich zu haben.« Dann fuhr sie fort: »Geht es Braime besser?«

 

»Sergeant Braime hat sich gut erholt«, erwiderte Michael und sah, daß er sie mit dieser Bemerkung schwer getroffen hatte. Sie zuckte wie vom Blitz getroffen zusammen, und ihre Stimme verlor alle Selbstsicherheit.

 

»Sergeant Braime?« stotterte sie. »Ich sprach von meinem Butler.«

 

»Und ich spreche von Sergeant Braime von der Kriminalpolizei, der sechs Monate lang in Ihren Diensten stand.«

 

»Aber – er wurde mir doch empfohlen von –«

 

»Von einer Gesellschaft zur Unterstützung früherer Gefangener. Damit wollte man Sie sicher machen. Er hatte größere Aussicht, von Mylady angestellt zu werden, wenn er schon ein Verbrechen begangen hatte.«

 

Im nächsten Augenblick war sie wieder gefaßt.

 

»Warum bringt man einen Detektiv in mein Haus? Das ist eine Beleidigung, ich werde die Sache sofort der Polizei anzeigen.«

 

Er schaute sich in dem Raum um, und seine Blicke streiften den Bücherschrank, der durch die Sicherheitstür verschlossen war.

 

»Sie haben dort ein Buch, das ich gern sehen möchte. Ich beabsichtigte schon gestern abend zu kommen, aber ich wurde leider abgehalten.«

 

»Ein Buch?«

 

»Ein Buch, das den Titel trägt: ›Das Leben Washingtons‹. Das ist doch ein ganz unschuldiger Titel, nicht?«

 

Sie ging zu dem Bücherschrank, nahm einen Schlüssel aus der Schublade ihres Pults und öffnete die mit einem starken Drahtnetz gesicherte Tür.

 

»Bitte – lesen Sie es zu Ihrer Beruhigung.«

 

Sie ging zur Tür, wandte sich um und beobachtete ihn. Aber er tat etwas Außergewöhnliches. Er nahm einen dicken, roten Handschuh aus seiner Tasche, zog ihn über die rechte Hand und riß dann das Buch aus dem Schrank heraus. Es knackte verdächtig, und ein hell leuchtender, blendender Funke sprang heraus. Weiter ereignete sich nichts. Er legte das Buch auf den Tisch.

 

»Eine gute Imitation«, sagte er ruhig. »Es ist ein Stahlkasten, und jeder, der ihn herauszunehmen versucht, kommt automatisch mit einem starken elektrischen Strom in Verbindung. Wo ist der Schalter?«

 

Sie gab keine Antwort. Ihr Gesicht sah plötzlich eingesunken und alt aus. Michael ging zur Tür, suchte einen Augenblick, beugte sich nieder und drehte an einem großen Schalter.

 

»Haben Sie den Schlüssel zu dem Stahlkasten?«

 

»Er ist nicht verschlossen«, sagte sie. Sie trat zu ihm und drückte auf eine Feder. Der Deckel sprang auf.

 

Das ›Buch‹ war, wie er vermutete, innen vollständig leer.

 

»Gibt es etwa ein Gesetz, das verbietet, sich eine Sparbüchse in Gestalt eines Buches anfertigen zu lassen?« fragte sie sanft. »Kann man in Ungelegenheiten kommen, weil man sein Eigentum vor diebischen Butlern und – Spürhunden von Detektiven schützt?«

 

»Es gibt ein Gesetz gegen Mord«, erwiderte Dorn kurz. »Wenn ich das Buch ohne Gummihandschuhe angefaßt hätte, wäre ich jetzt tot. Braime ist mit knapper Not davongekommen, weil er eine Konstitution wie ein Riese hat.«

 

»Ich habe Sie ja gar nicht darum gebeten, das Buch herauszuziehen.«

 

»Aber Sie haben mich auch nicht gewarnt«, sagte Michael mit grimmigem Lächeln. »Leer ist es auch – natürlich! Sie hatten einen Verdacht auf Braime und ließen ein kleines Notizbuch in Ihrem Schlafzimmer herumliegen, in dem Sie verschiedene Bemerkungen über das ›Leben Washingtons‹ machten. Braime las sie und ging in die Falle. Er wäre ein toter Mann, wenn ich nicht die Erste Hilfe geleistet hätte.«

 

Es entstand eine lange Pause.

 

»Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte Lady Moron.

 

»Nein, nicht alles – ich will wissen, wo Miss Reddle ist.«

 

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Als sie heute früh entlassen wurde, wollte sie weder hierher noch in ihre Wohnung zurückkehren. Sie erklärte, daß sie einige Tage aufs Land gehen wollte, um sich zu erholen –«

 

»Drückte auch Mrs. Pinder den Wunsch aus, aufs Land zu gehen?« fragte er und fixierte sie mit eisigem Blick.

 

»Mrs. Pinder? Ich weiß nicht, wer das ist.«

 

»Wünschte Mrs. Pinder auch aufs Land zu gehen?« fragte er drohend. »Lady Moron, Sie stürzen sich und die Leute, die Ihnen verbündet sind, in fürchterliche Gefahr.«

 

Sie zuckte die breiten Schultern.

 

»Wenn diese Gefahr in nichts anderem als in dem Besuch eines theatralischen Detektivs am frühen Morgen besteht, dann sehe ich allem, was kommt, mit Gleichmut entgegen«, sagte sie und ging in die Halle hinaus. Michael Dorn folgte ihr.

 

Als sie zur Seite trat, um ihn zur Haustür zu lassen, sah sie Selwyn, der an der Seite des Autos stand und sich über die Tür lehnte. Er schien sich eifrig zu unterhalten – sie schaute ihn mit einem verächtlichen Lächeln an.

 

»Mein Sohn hat jemanden gefunden, dessen Intelligenz der seinen gleicht«, sagte sie, dann rief sie ihn beim Namen.

 

Zu Michaels Verwunderung drehte sich der junge Mann nur kurz um und sprach dann mit dem jungen Mädchen weiter.

 

»Selwyn!« Er nahm sich immer noch Zeit.

 

»Also leben Sie wohl, liebes Fräulein, und vergessen Sie nicht« – das flüsterte er ihr zu – »Schweinswürstchen, kein Rindfleisch – das mag ich nicht.« Dann winkte er ihr zum Abschied und ging zu seiner Mutter zurück. Ihr Gesicht war von Wut und Zorn entstellt.

 

»Es klang ja beinahe so, als ob Sie mit dem jungen Mann ein Stelldichein verabredet hätten«, sagte Michael, als sie abfuhren.

 

»Er kommt zum Abendessen«, erwiderte Lizzy. »Ist Lois dort?«

 

»Nein, das vermutete ich ja auch nicht.«

 

Aber selbst die Aussicht auf ein gemeinsames Essen mit einem Mitglied des hohen Adels war kein Ausgleich für die beunruhigende Nachricht.

 

»Wo mag sie bloß sein, Mr. Dorn?«

 

»Irgendwo auf dem Land. Ich nehme an, daß ihr in den nächsten beiden Tagen kein Unglück zustößt.«

 

Lizzy schaute ihn ruhig an.

 

»Glauben Sie das wirklich?«

 

»Ja.«

 

Sie betrachtete ihn immer noch.

 

»Sie sehen aber totenbleich aus«, sagte sie dann. »Sie haben Lois furchtbar gern, nicht wahr?«

 

Er war über diese Frage sehr betroffen.

 

»Lois gern haben? Warum fragen Sie mich? Ja, ich liebe sie.«

 

Er brachte Lizzy Smith zur Charlotte Street, lehnte aber ihre Einladung ab, mit hinaufzukommen. Dann fuhr er heim, ließ seinen Wagen im Hof der Hiles Mansions stehen und schleppte sich todmüde in seine Wohnung.

 

Er lag angezogen auf seinem Bett und schlief, als Wills schweigend mit einem Telegramm hereinkam. Dorn fuhr aufgeregt in die Höhe, nahm es, riß es auf und las. Es war um acht Uhr in Paris aufgegeben und lautete:

 

›Würden Sie mir bitte angeben, wer Distriktskommissar von Karrili war, als Sie im Pandschab weilten? Chesney Praye, Grand Hotel.‹

 

»Das tat er nur des Alibis wegen«, sagte Michael und gab Wills das Telegramm zurück. »Er will beweisen, daß er in diesem Augenblick in Paris weilt. Telefonieren sie an alle Flugstationen im Umkreis von hundert Meilen, die Flugzeuge an Privatleute vermieten. Suchen Sie herauszubringen, ob heute in den frühen Morgenstunden jemand nach Paris geflogen ist.«

 

Wills nickte und verließ das Zimmer.

 

»Solch einen dummen Bluff zu versuchen!« sagte Michael böse, als sich die Tür hinter dem Mann schloß.