Kapitel 24

 

24

 

Es war bereits drei Uhr nachmittags, als Lois Reddle aus tiefem Schlaf erwachte und entsetzlichen Hunger fühlte. Schnell sprang sie aus dem Bett, zog ihre Schuhe an und ging zum Fenster. Die Aussicht, die sie von hier aus hatte, war wirklich wenig reizvoll. Sie schaute auf den Wirtschaftshof hinunter, in den sie heute früh eingefahren waren. In der schlampigen Frau, die die Hühner fütterte, erkannte sie die Pförtnerin wieder, die ihnen das Tor geöffnet hatte. Hinter der grauen Mauer senkte sich ein kahler Abhang, auf dem nicht ein einziger Baum oder Strauch stand. Als sie ihr Gesicht dicht an die Scheibe drückte und seitwärts blickte, konnte sie nichts anderes als eine Talsenkung zwischen den Hügeln erblicken, die von dunklem Gebüsch überragt war.

 

Nachdem sie sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser gewaschen hatte, fühlte sie sich erfrischt, aber ihr Hunger hatte sich noch gesteigert. Sie ging zur Tür und versuchte sie zu öffnen, aber sie rührte sich nicht. Sie war verschlossen. Auch die Fensterflügel öffneten sich nur ein wenig; wie sie jetzt feststellte. Aber sie konnte wenigstens die Frau auf dem Hof anrufen, und es gelang ihr auch, sie auf sich aufmerksam zu machen. Die Alte winkte aber nur ungeduldig mit der Hand und fütterte die Hühner weiter. Nach ein paar Minuten ging sie seitwärts in den Hof, so daß Lois sie aus dem Gesichtskreis verlor. Es dauerte noch einige Zeit, bis sie ihren schweren Tritt auf der Treppe hörte. Sicherlich war die Tür nicht nur zufällig verschlossen worden, denn als die Frau mit einem Tablett hereinkam, sah sie den Schlüssel an ihrem Gürtel hängen.

 

»Bitte schließen Sie die Tür nicht wieder ab«, sagte Lois, während sie erfreut auf das einfache Essen sah.

 

»Essen Sie nur ruhig und kümmern Sie sich nicht um die Tür«, war die unerwartete Antwort.

 

Lois war sich nicht im Zweifel darüber, daß diese Frau ihr feindlich gesinnt war, und sie besaß Klugheit genug, nicht weiter mit ihr zu streiten. Die Alte entfernte sich und schloß den Raum wieder zu. Lois eilte bestürzt zur Tür und schlug heftig dagegen.

 

»Schließen Sie die Tür sofort wieder auf«, rief sie. Aber sie erhielt keine Antwort. Nur die harten Tritte der Frau klangen von der Treppe zu ihr herauf. Lois ging langsam zum Tisch zurück, auf dem das Essen noch stand. Sie fand sich vor einem neuen Problem.

 

Aber der gesunde Hunger der Jugend siegte, und als sie ihre Mahlzeit beendet hatte, kehrte ihr Selbstbewußtsein bis zu einem gewissen Grad zurück. Es war doch unmöglich, daß man sie hier gefangenhielt. Dieser Gedanke schien ihr lächerlich. Wahrscheinlich hatte die Frau die Tür nur in ihrem Übereifer geschlossen, um sie – vor wem? – zu schützen. Sie schüttelte den Kopf. Doch nicht etwa vor Michael Dorn? Was die Gräfin auch immer von ihm denken und so unverzeihlich sein Betragen auch gewesen sein mochte, sie trug ihm nichts nach. Er würde sie nicht verfolgen, um sich zu rächen. Das war ausgeschlossen.

 

Sie versuchte noch einmal vorsichtig, die Tür zu öffnen. Aber sie war fest verschlossen. Als sie sich zu dem Fenster wandte, entdeckte sie, daß zwei starke Hölzer mit großen Schrauben von außen angebracht waren, so daß man nur ein paar Zentimeter weit öffnen konnte. Das andere Fenster war in ähnlicher Weise gesichert. Da sah sie den Doktor unten im Hof. Er trug einen zerschlissenen Anzug und hatte keinen Kragen an. Eine alte Golfkappe bedeckte seinen Kopf.

 

Mit unsicheren Schritten ging er zu dem Tor, durch das sie heute morgen gekommen waren. Es stand weit auf, und er hatte Mühe, es zu schließen. Es bedurfte keiner eingehenden Kenntnis menschlicher Schwächen, um an seinem schwankenden Gang zu sehen, daß er mehr getrunken hatte, als er vertragen konnte. Als er sich umwandte und zum Haus zurückging, sah er sie und rief ihr mit schriller Stimme einen Gruß zu.

 

»Haben Sie gut geschlafen, junge Freundin?« brüllte er hinauf. »Hat Ihnen die alte Hexe auch das Mittagessen gebracht?«

 

»Doktor –«, sie sprach durch den engen Fensterspalt zu ihm, »kann ich nicht nach unten kommen? Sie hat mich eingeschlossen.«

 

»Sie eingeschlossen?« Diese Feststellung schien ihm Vergnügen zu bereiten, denn er schüttelte sich vor Lachen. »Sie hat Sie sicherlich zum Spaß eingeschlossen, sie muß Angst vor Ihnen gehabt haben, meine Liebe! Das ist schon alles in Ordnung. Ich werde nach Ihnen sehen. Haben Sie wieder Stimmen gehört? Haben Sie jemand gesehen, der Ihnen folgte, als Sie umhergingen? In ein paar Tagen geht es Ihnen wieder besser.«

 

Diese Worte beunruhigten sie. Er hatte schon bei ihrer ersten Begegnung von geheimnisvollen Stimmen gesprochen und von Leuten, die ihr folgten. Glaubte er denn, daß sie verrückt sei? Bei diesem Gedanken lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Sie ging zur Tür und wartete, daß er die Treppe heraufkommen sollte, aber sie vernahm nur ein weiches Tappen, und gleich darauf schnüffelte etwas an der Tür. Dann hörte sie ein leises, unterdrücktes Knurren und die harte Stimme der Frau.

 

»Bati, Bati hiserao! Komm herunter, du schwarze Bestie!«

 

Das Tier rannte die Treppe hinunter, und Lois hörte noch einen Hieb und ein scharfes Bellen. Später sah sie zwei schwarze Hunde auf dem Hof, die viel größer und stärker als Alaskahunde waren, aber viel plumper aussahen. Sie liefen umher und durchwühlten den Stallmist. Eines der Tiere knurrte mit gesträubten Haaren und zeigte ein starkes Gebiß. Sie trat schnell vom Fenster zurück. Dann klopfte sie wieder an die Tür und stampfte auf den Fußboden, aber niemand kümmerte sich um sie, und obwohl sie die Stimme des Doktors hörte und nach ihm rief, meldete er sich nicht. Ihre Lage war gefährlich, und es begann ihr langsam klarzuwerden, warum Dorn jene ungeheuerlich erscheinende Maßnahme ergriffen hatte.

 

Sie wußte nicht, in welcher Gegend sie sich befand, denn die Landschaft zeigte, soweit sie sehen konnte, keine besonderen Merkmale. Sie konnte nur feststellen, daß ihre Fenster nach Norden gingen, sonst war sie unfähig, die Lage des Gehöftes näher zu bestimmen.

 

Am Nachmittag brachte ihr die Frau Tee, aber er war schlecht zubereitet. Lizzys Tee war dagegen ein wahrer Göttertrank.

 

»Ich bestehe darauf, daß Sie die Tür offenlassen«, sagte Lois.

 

»Die Hunde würden Sie in Stücke reißen, wenn ich das täte«, erwiderte die Frau. »Man kann sie nicht haken, wenn Fremde hier sind. Horchen Sie, wie Bati jetzt bellt!«

 

Von der Tür kam ein Schnüffeln und Knurren.

 

»Willst du wohl fort, Juldi!« rief sie mit kreischender Stimme in ihrem komischen Gemisch von Englisch und Hindostani.

 

Lois sah sie fest an. »Ich fürchte mich nicht vor Hunden«, sagte sie bestimmt und ging zur Tür.

 

Aber die Frau überholte sie, faßte sie am Arm und riß sie herum.

 

»Sie bleiben hier und tun das, was man Ihnen sagt, oder es geht Ihnen schlecht«, rief sie drohend.

 

»Wo ist der Doktor? Ich muß ihn sprechen!«

 

»Er ist nicht da – er ist ins Dorf gegangen, um seinen Whisky zu trinken.«

 

Sie stieß den Hund, der durch die halboffene Tür hereinkommen wollte, mit einem Tritt zurück und schloß wieder ab.

 

+++

 

Eine halbe Stunde saß Lois vor ihrem Essen, ohne es anzurühren, und versuchte nachzudenken. Es begann bereits zu dunkeln, als sie den zweiten dramatischen Auftritt erlebte. Sie stand am Fenster, schaute in den trostlosen Hof hinunter und dachte an Michael Dorn. Neue Hoffnung regte sich in ihr. Er würde sie finden, er würde ihr überallhin folgen, wo sie auch sein mochte. Woher ihr dieser Gedanke kam, war ihr selbst nicht ganz klar. Es war ein Geheimnis für sich, daß er ihrem Schutz seine ganze Kraft und Zeit widmete. Aber er beschäftigte sich mit ihr und er tat es sicherlich auch jetzt. Dieser Gedanke beruhigte sie, und sie vergaß die Furcht.

 

Plötzlich tönte vom Hof die schrille Stimme der alten Frau herauf.

 

»Ich sagte Ihnen doch, daß Sie diese Schüsseln waschen sollten haben Sie das nicht getan? Wenn ich Ihnen einen Auftrag gebe, dann haben Sie ihn auszuführen! Sie alte Zuchthäuslerin!«

 

»Warum hält man mich hier fest?« hörte Lois eine sanfte Stimme und zitterte. »Er sagte mir doch, daß –«

 

»Ganz gleich, was er Ihnen sagte – waschen Sie die Schüsseln, und danach können Sie den Fußboden schrubben; wenn die Arbeit nicht in einer halben Stunde getan ist, sperre ich Sie in den Keller zu den Ratten, oder ich lasse die Hunde auf Sie los – die werden Sie in Stücke reißen. He, Bati, Mali!«

 

Die Hunde bellten heiser und rasselten mit ihren Ketten.

 

»Das tue ich nicht – das tue ich nicht!«

 

Da hörte Lois ein unheimliches Klatschen.

 

»Wenn Sie mir nicht gehorchen, werde ich Sie bis aufs Blut peitschen!«

 

Die beiden mußten wohl miteinander ringen. Lois blickte entsetzt hinunter. Sie sah, wie eine schwache Frau schwankte und zu Boden fiel und wie die Alte mit der Peitsche auf sie einschlug.

 

»Halten Sie ein!« schrie Lois heiser. Im selben Augenblick beugte sich die alte Hexe über die am Boden liegende Frau und zog sie beiseite. Lois Reddle taumelte und fiel ohnmächtig zu Boden.

 

Kapitel 25

 

25

 

Lois lag mindestens eine halbe Stunde auf dem Boden, bevor sie sich wieder rühren konnte und zu sich kam. Krank, schwach und zitternd schleppte sie sich mühsam zum Bett.

 

Sie fühlte sich elend und barg ihr Gesicht in den Händen, um den entsetzlichen Anblick der niedersausenden Peitsche zu vergessen und eine vernünftige Erklärung für diese Vorgänge zu finden. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Michael Dorn zurück. Wer war diese andere Gefangene? Welche Rolle spielte die Gräfin bei dieser ganzen Sache? Waren die Unfälle, die sie erlebt hatte, wirklich wohlüberlegte Versuche, sie zu töten, wie Michael Dorn ihr erzählt hatte?

 

Als die Frau ihr das Abendessen brachte, war Lois äußerlich wieder ganz ruhig. Sie hatte eingesehen, daß es nutzlos war, die Alte zu fragen. Als sie später abräumte, brachte sie eine kleine Petroleumlampe mit und zündete sie an. Dann zog sie die zerrissenen Vorhänge vor den Fenstern zusammen. An der Tür blieb sie stehen und wünschte ihr gute Nacht.

 

»Wenn Sie irgend etwas wollen, stampfen Sie auf den Fußboden. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so fragen Sie nicht nach dem Doktor, er ist schwer betrunken. Kümmern Sie sich auch nicht um die Frau da unten – die ist verrückt!«

 

Das waren keine beruhigenden Mitteilungen. Aber es war jedenfalls sicher, daß man sie in der Nacht nicht mehr stören würde. Sie wollte jetzt den Plan ausführen, den sie sich überlegt hatte.

 

In ihrer Handtasche befand sich eine kleine Nagelfeile. Die Holzbalken, die die Fenster verschlossen, waren mit Schrauben an den Fensterrahmen befestigt, und Lois vermutete, daß sie das Instrument als Schraubenzieher benutzen könnte, wenn sie die Spitze abbräche. Es fiel ihr leicht, das zu tun; als sie aber die Feile in die Kerbe der ersten Schraube einsetzte, merkte sie, daß weder das kleine Werkzeug noch ihre Kraft ausreichten, die Schraube zu bewegen. Sie versuchte es noch an einer anderen Stelle, hatte aber ebensowenig Erfolg und gab schließlich in größter Verzweiflung ihr Vorhaben auf. Sie hätte das Glas eindrücken können, aber die einzelnen Scheiben waren kaum einen Fuß breit. Und dann sah sie unten die Hunde. Sie waren durch das Geräusch, das sie machte, angelockt worden und knurrten und heulten nun vor dem Fenster.

 

Sie wußte nicht, was sie anfangen sollte – sie hatte nichts zu lesen bei sich. Ihre Armbanduhr war stehengeblieben, sie konnte die Zeit nur nach dem Himmel schätzen. Sie ging in dem Zimmer auf und ab, um sich nicht von Furcht übermannen zu lassen. Immer wieder wollte sie die Angst packen, und sie war versucht, laut zu schreien. Aber dann dachte sie nach. Was mochte Lizzy jetzt tun? Wo war Michael Dorn?

 

»Ob ich mich wohl in ihn verliebt habe?« sagte sie laut und lächelte bei dem Gedanken. Sie hätte niemals geglaubt, daß sie sich gerade in ihn verlieben würde. Lizzy nahm natürlich fest an, daß sie ihn schon immer gern gehabt habe.

 

Er würde sie hier finden, dessen war sie sicher. Aber wenn es ihm doch nicht gelänge? Sie seufzte schwer, schraubte die Lampe herunter, stützte die Ellbogen auf das Fensterbrett und starrte in die Dunkelheit hinaus. Irgendwo auf der anderen Seite des Hauses mußte der Mond aufgegangen sein. Sie sah das weiße, gespenstische Licht, das immer heller wurde und die düsteren Gegenstände mit seinem Silberlicht überstrahlte. Plötzlich hörte sie eilige Schritte in der Halle unten, ging schnell zum Tisch zurück und drehte die Lampe wieder hoch. Es wurde aufgeschlossen, und der Doktor kam herein. Aber er war nicht betrunken, sein Gesicht war eingefallen, und er zitterte.

 

»Kommen Sie hier heraus«, rief er und zog sie aus dem Zimmer und die Treppe hinunter in die Halle. »Gehen Sie schnell hinauf und machen Sie das Licht aus«, sagte er zu jemand in der Dunkelheit. Die Frau erschien aus irgendeiner Ecke und eilte hinauf.

 

»Was ist los, Doktor? Ist etwas –«

 

»Wollen Sie wohl ruhig sein!« zischte er. »Haben Sie das Licht ausgemacht?«

 

»Ja«, erwiderte eine verdrießliche Stimme von der Treppe her. »Warum sollten wir uns denn fürchten? Sie waren betrunken und haben geträumt.«

 

»Ich schlage Ihnen den Schädel ein, wenn Sie noch mal so reden«, sagte er ohne Erregung. »Ich sah ein Auto über den Hügel herüberkommen. Es hielt direkt vor dem Haus. Denken Sie denn, ich bin blind? Gehen Sie in mein Zimmer hinauf, da können Sie die Scheinwerfer sehen. Es stieg einer aus und ging die Mauer entlang. Dann konnte ich ihn nicht mehr entdecken.«

 

Lois‘ Herz schlug so wild, daß sie beinahe erstickte.

 

»Wo ist er jetzt?« fragte die Frau.

 

»Mund halten!«

 

Es folgte ein schreckliches, langes Schweigen, das nur von dem entfernten Heulen der Hunde unterbrochen wurde.

 

»Jetzt ist er hinten!«

 

Der Doktor hielt noch immer Lois‘ Arm fest und schüttelte sie leicht.

 

»Wenn Sie brüllen oder sonst etwas tun, schneide ich Ihnen die Kehle durch! Ich tue auch, was ich sage – haben Sie verstanden?«

 

»Warum haben Sie sie denn nicht oben gelassen?« brummte die Frau.

 

»Weil ich sie hier bei mir haben will. Holen Sie mein seidenes Taschentuch, es liegt in meinem Studierzimmer. Bringen Sie mir auch die Eisen – ich will sicher sein.«

 

Die Frau verließ das Zimmer und kam bald wieder zurück. Plötzlich fühlte Lois, wie er ihr einen Knoten des Taschentuchs in den Mund steckte und es hinter ihrem Kopf festband.

 

»Wehren Sie sich nicht, es geschieht Ihnen nichts – nur wenn Sie schreien. Geben Sie mir die Eisen.«

 

»Hier sind sie«, sagte die Frau.

 

Er ergriff ihre Handgelenke und drehte sie auf den Rücken. Im nächsten Augenblick war sie gefesselt.

 

»Setzen Sie sich hierher!« Er stieß sie auf einen Stuhl. Dann fühlte er, ob der Knebel richtig saß, und brummte zufrieden.

 

»Hören Sie! Es klopft.«

 

Tap, tap, tap, tap!

 

Geräuschlos gingen die beiden auf den dunklen Hof.

 

»Wer ist da?« rief die Frau.

 

Dann hörte Lois eine Stimme, die sie auffahren ließ.

 

»Ich möchte den Hausherrn sprechen«, sagte Michael Dorn.

 

Kapitel 17

 

17

 

Lois empfand es als eine Liebenswürdigkeit der Gräfin, daß sie ihr den Nachmittag und den Abend freigab.

 

»Meine Liebe, ich werde froh sein, wenn ich Sie los bin«, sagte Lady Moron ganz offen. »Dieser niederträchtige Dorn hat mich wirklich aufgeregt. Aber ich will meine Empörung nicht auf Sie übertragen. Gehen Sie aus und vergessen Sie, daß es dieses Haus gibt. Wenn Sie heute abend gerne noch ins Theater gehen wollen, dann tun Sie es ruhig; ich werde dem Bediensteten, der Nachtdienst hat, den Auftrag geben, auf Sie zu warten. Ich habe eben vom Krankenhaus gehört, daß Braime das Bewußtsein wiedererlangt hat vielleicht wird uns sein Bericht den sonderbaren Vorfall aufklären. Ich habe die Bibliothek durchsuchen lassen, aber man fand nicht das geringste, was in Zusammenhang mit dem Unglücksfall stehen könnte. Ich bezweifle, daß selbst der kluge Mr. Dorn erfolgreicher gewesen wäre«, sagte sie, und ihre Worte hatten einen spöttischen Unterton.

 

Lois freute sich, daß sie gehen konnte, und ihr erster Gedanke war, ihre Freundin aufzusuchen und ihr all ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie machte sich auf den Weg zum Büro in der Bedford Row, und als sie den ihr so vertrauten Hauseingang erreichte, sah sie den alten Fordwagen vor der Tür. Daneben stand Mr. Shaddles, der sich eben die Handschuhe anzog und fortfahren wollte.

 

Er wohnte in Hampstead und benützte jeden Tag als erster und als letzter den ausgedienten Wagen. Er schaute sie unfreundlich an, als sie die Treppe hochkam.

 

»Nun?« fragte er. »Kommen Sie zu uns zurück? Sind Sie mit Ihrer Stellung nicht mehr zufrieden? Ich dachte mir schon, daß Sie sich zur Privatsekretärin nicht recht eignen würden.«

 

»Ich bin nicht unzufrieden mit meiner Beschäftigung, aber ich gehe trotzdem wieder fort«, sagte sie lächelnd.

 

»Junge Leute müssen immer Veränderung haben«, erwiderte Mr. Shaddles vorwurfsvoll. »Das ist nun einmal die unruhige Jugend. Wie lange waren Sie bei mir?«

 

»Ein paar Jahre, Mr. Shaddles.«

 

»Zwei Jahre, neun Monate und sieben Tage«, entgegnete er schnell. »Das scheint Ihnen vermutlich wie eine Ewigkeit, mein kleines Fräulein? Für mich ist es aber«, er schnippte mit den Fingern, »als ob Sie gestern zu mir gekommen wären. Ich habe Sie von Leith geholt – einer meiner Klienten erzählte mir von Ihnen –, und ich gab Ihnen die Möglichkeit, vorwärtszukommen. Wie?«

 

»Das ist richtig«, sagte sie und wunderte sich, warum er sich plötzlich an all das erinnerte.

 

»Ach ja!« Er schaute zum Himmel, als ob er irgendwelche Inspiration oder Zustimmung von dort erwartete. »Also Sie möchten gern wieder Ihre alte Stellung bei mir haben?« Ohne auf ihre Antwort zu warten, fuhr er fort: »Nun gut, Sie können wieder kommen. Ich werde Ihnen drei Pfund wöchentlich geben. Morgen früh um halb neun fangen Sie wieder an.«

 

Er legte auf die letzten Worte besonderen Nachdruck.

 

»Aber Mr. Shaddles«, sagte das verwirrte Mädchen, »es ist sehr liebenswürdig von Ihnen – äußerst liebenswürdig –, ich würde ja gar zu gern wieder bei Ihnen eintreten, aber morgen früh geht es noch nicht.«

 

»Um halb neun Uhr morgen früh sind Sie hier. Halten Sie mich jetzt nicht auf, ich habe es eilig.«

 

Er stieg in den Wagen, und sie sah ihm nach, bis er in dem starken Verkehr der Theobald Street verschwand.

 

Sie war von der Großzügigkeit ihres Chefs so verblüfft, daß sie Lizzy zuerst das erzählte.

 

»In den beiden letzten Tagen benimmt er sich ganz merkwürdig«, erwiderte Lizzy. »Wenn er nur nicht an Gehirnerweichung leidet. Hat er nicht auch etwas davon gesagt, daß er mein Gehalt erhöhen will? Aber ich würde mich an deiner Stelle nicht soviel darum kümmern. Morgen hat er wahrscheinlich die ganze Sache vergessen. Drei Pfund wöchentlich – der Mann ist ja verrückt. Ich wette, morgen kommt er im Pyjama ins Büro, spielt Trompete und hält sich für Julius Cäsar.«

 

Die männlichen Angestellten waren gegangen, nur Lizzy war noch im Büro. Sie war zurückgeblieben, um einen unendlich langen Vertragsentwurf zu schreiben. Aber nachdem sie Lois‘ Erzählung gehört hatte, schrieb sie ihn an diesem Tage nicht mehr fertig.

 

»Ich denke, Mike hat recht«, sagte sie und bekräftigte ihre Worte mit einem energischen Kopfnicken. »Das ganze Haus steckt voller Tricks. Ich kann mich an den Gedanken, Selwyn zu verlassen, nicht gewöhnen –«

 

»Meinst du Lord Moron?«

 

»Für mich ist er nur Selwyn«, erwiderte Lizzy ruhig. »Ich gehe morgen abend mit ihm ins Kino. Er ist doch ein zu netter Junge. Weißt du, was ihm am meisten fehlt? Die liebende Sorge seiner Mutter. Er hat so etwas nie kennengelernt.«

 

»Ach so – und du willst seine Mutter sein?« Lois mußte lachen, aber dann sagte sie ernst: »Ich kann nicht gleich fort. Du kannst ja tun, was du willst, aber ich versprach Lady Moron, daß ich noch diese Nacht bleiben würde.«

 

Lizzy war unangenehm überrascht.

 

»Ich lasse dich nicht im Stich, aber ich sage dir gerade ins Gesicht, daß ich lieber auf dem Dach einer Leichenhalle in einem Friedhof schlafe, als heute abend am ehester Square. Ich werde mit dir hingehen, aber ich tue es nur deinetwegen – merke es dir genau. Wenn mir jemand anders die Geschichte mit den drei Pfund wöchentlich erzählt hätte, wüßte ich, daß er mich angelogen hätte. Was sagst du dazu, daß wir nun wieder in die Charlotte Street zurückkommen und wieder arme Kirchenmäuse sind?«

 

Lois war sehr froh, daß sie den Abend wieder in ihrer alten Wohnung verbringen konnte. Nichts hätte sie mehr gefreut. Das alte Zimmer mit den einfachen, ja ärmlichen Möbeln, den verblichenen Kattunbezügen, war ihre Heimat, und selbst das laute Geschrei der auf der Straße spielenden Kinder klang Lois heute angenehm. Früher hatte sie das alles nicht bemerkt. Und dann wurde sie auch noch ganz besonders willkommen geheißen. Der alte Mackenzie sah sie ins Haus gehen und kam sofort heraus, um sie zu begrüßen. Er war ganz empört, als er hörte, daß die Mädchen die Nacht nicht im Haus bleiben wollten. Aber er beruhigte sich wieder, als Lizzy ihm ihre weiteren Pläne auseinandersetzte.

 

»Wir wollen ihn zum Abendessen einladen«, sagte Lois, als sie auf dem Küchentisch saß und zusah, wie ihre Freundin mit der Bratpfanne hantierte.

 

Lizzy nickte nur. Sie war mit ihren Gedanken nicht recht bei der Sache.

 

»Wenn ich es mir nur eher überlegt hätte, dann hätte ich Selwyn eingeladen, der wäre sicher gekommen – er hat eine ganz demokratische Gesinnung, er ist absolut nicht hochmütig. Als du gestern abend hinausgingst, um dir ein Taschentuch zu holen, gestand er mir, daß er sich in meiner Gesellschaft sehr wohl fühle und daß ich das erste Mädchen sei, das ihm gefalle. Da gehört doch was dazu, wenn ein wirklicher Lord so etwas sagt. Und dabei weiß er ganz genau, daß ich ein einfaches Schreibmädel mit fünfunddreißig Shilling wöchentlich bin!«

 

Ihre Stimme zitterte ein wenig, und Lois betrachtete sie plötzlich mit ganz anderen Augen. Sie kannte Lizzy doch schon seit einigen Jahren, aber sie war bisher noch nie gefühlvoll gewesen.

 

»Der arme Junge hat noch nie erfahren, wie wohl die Fürsorge einer Mutter tut«, sagte sie wieder bewegt.

 

Lois erwiderte nichts, obgleich dieser arme Junge mindestens achtundzwanzig Jahre zählte.

 

»Dieses Weib hat nicht mehr Mitgefühl mit Selwyn als ich mit ihr. Sie muß ein Herz von Stein haben, sie ist –«

 

»Mr. Mackenzie wird allerdings nur ein schlechter Ersatz für deinen Selwyn sein – aber wollen wir ihn einladen?« fragte Lois wieder.

 

»Ruf ihn herauf«, war die bündige Antwort.

 

Mr. Mackenzie war aber doch ein viel unterhaltsamerer Gast, als Lizzy jemals erwartet hätte. Er lauschte gespannt ihrem Bericht über das Haus der Gräfin Moron und das Leben, das sich dort abspielte. Lizzy erzählte alles aus eigener Erfahrung, nur manchmal mußte Lois ihre Worte bestätigen.

 

»Seidene Vorhänge – wirklich?« fragte der alte Mann.

 

»Und Portieren aus Atlas! Überall Silberbeschläge! In den Badezimmern sind die Wände aus rotem Marmor – ist es nicht so, Lois? Und ein silbernes Gitter steht vor dem Kamin in dem Salon.«

 

Mr. Mackenzie seufzte.

 

»Es muß ein großartiges Leben sein in solcher Umgebung. Aber ich will niemand beneiden. Ist die Gräfin eine liebenswürdige Dame?«

 

»So würde ich sie nicht nennen«, meinte Lizzy. »Sie ist soweit ganz nett bis auf – sie ist nämlich eine schlechte Mutter, aber eine gute Aufpasserin und Spionin. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

 

»Hat sie kleine Kinder?« fragte Mackenzie interessiert.

 

»Ihr Sohn ist nicht gerade ganz jung«, erklärte ihm Lizzy eingehend, »aber man könnte sagen, daß er in der ersten Jugend steht. Nein, er geht nicht mehr zur Schule«, antwortete sie fast beleidigt auf seine Frage. »Ein ganz wundervoller Mensch! Selwyn möchte zu gern zum Theater gehen, und ich wundere mich, daß seine Mutter es nicht zuläßt.«

 

»Es ist kein schönes Leben auf der Bühne, das habe ich Ihnen doch schon früher erzählt. Mein Kummer und meine Sorgen kommen nur davon, daß ich früher einmal beim Theater war.« Dann sagte er plötzlich zusammenhanglos: »Sie war ein so schönes Mädchen, und sie hatte ein Gesicht wie eine – wie eine –« »Engel«, schlug Lizzy vor und sah ihn erwartungsvoll mit der aufgerichteten Gabel in der Hand an.

 

»Ich wollte sagen ›Madonna‹. Für mich ist es immer noch ein großes Wunder, daß sie mich überhaupt angesehen hat. Nehmen Sie doch einmal meine einfache Kleidung. Allerdings lebte ich damals in sehr guten Verhältnissen. Einige meiner Operetten wurden aufgeführt, und ich verfügte über beträchtliche Summen. Glücklicherweise hatte ich mein Geld in Häusern festgelegt. Das war gut, denn sie war ein wenig – extravagant. Aber vielleicht war es auch mein Fehler.«

 

Ein langes Schweigen trat ein. Er hing seinen Gedanken nach, hatte den Kopf auf die Brust geneigt und seinen Blick auf das Tischtuch gesenkt.

 

»Ach ja, es ist mein Fehler. Ich sagte es meinem guten Freund Shaddles, als er mir riet, mich scheiden zu lassen.«

 

Lizzy schaute ihn verwundert an.

 

»Shaddles ist doch mein Anwalt – so sind Sie doch überhaupt erst meine Mieter geworden. Sie besinnen sich doch sicher darauf, daß Mr. Shaddles Ihnen die Zimmer in meinem Haus empfahl?«

 

»Shaddles – großer Gott!« sagte Lizzy und schob ihren Teller zurück. »Wenn ich das gewußt hätte, würde ich wahrscheinlich niemals hier in meinem Bett geschlafen haben!«

 

»Er ist ein guter Mensch und ein treuer Freund«, sagte Mr. Mackenzie.

 

»Aber auch ein böser, alter Geizhals.« Lizzy übersah die warnenden Blicke Lois‘.

 

»Er ist ein bißchen sparsam«, gab Mr. Mackenzie zu. »Aber das scheint der Beruf mit sich zu bringen. Ich kenne mehrere Anwälte, die diese Eigenschaften haben. Sein Vater war ebenso.«

 

»Was, Sie kannten auch seinen Vater?« fragte Lizzy. »Hat er denn jemals einen Vater gehabt?«

 

»Sein Vater und sein Großvater waren auch sparsam. Aber die Shaddles‘ sind tüchtige Rechtsanwälte und haben große Vermögen verwaltet. Seit Hunderten von Jahren sind sie die Anwälte der Familie Moron.«

 

»Kennen Sie die Familie Moron?« fragte Lois.

 

Er zögerte.

 

»Ich will nicht behaupten, daß ich sie kenne, aber ich weiß einiges von ihr. Den alten Earl von Moron, den Vater des jetzigen Lord Moron, habe ich einmal gesehen – er lebte lange Jahre im Ausland. Ich will nicht gerade sagen, daß er einen schlechten Charakter hatte, aber er führte ein vergnügtes Leben. Er war ein Lebemann, von dem so manche Skandalgeschichte mit Recht oder Unrecht erzählt wurde. Sein Sohn Willy war ein feiner Junge, aber der starb leider. Selwyn, der Sohn seiner zweiten Frau, ist wohl der, von dem Sie mir erzählt haben.«

 

Selbst auf Lizzy machte seine genaue Kenntnis der Familienverhältnisse der Morons einen gewaltigen Eindruck.

 

»Es ist für die Familie von großem Wert, daß ein so guter Sohn wie Selwyn da ist. Wenn die Gräfin nur eine Tochter hätte, würde diese den Titel erben, denn die Morons gehören zu den wenigen Familien, bei denen die Tochter den Titel erhält, wenn direkte männliche Erben fehlen.«

 

Als der Tisch abgeräumt war, holte er seine Violine herauf und spielte ihnen vor. Lizzys Musikverständnis war anscheinend größer geworden, denn sie ertrug sein Spiel mit bewunderungswürdiger Ruhe, ohne etwas zu sagen.

 

Der Abend ging nur zu schnell vorüber. Um zehn Uhr sah Lois auf ihre Uhr und schaute ihre Freundin an. Lizzy erhob sich mit einem Frösteln.

 

»Also zurück zu dem Haus des Schicksals«, sagte sie mit Pathos. »Gott sei Dank, es ist die letzte Nacht, die wir dort schlafen!«

 

Aber weder sie noch Lois Reddle ahnten, daß sie dieses Haus des Schicksals nicht wieder betreten würden.

 

Kapitel 18

 

18

 

Um fünf Uhr nachmittags drehten sich die Schlüssel in den Schlössern, die Türen dröhnten im Gefängnis von Telsbury, die Stunde der Abendmahlzeit war vorüber, und die Wärterin hatte ihre letzte Runde beendet. Die Waschhäuser, die großen Küchen und die Arbeitssäle waren von den verantwortlichen Beamtinnen verschlossen worden, die fünf großen Hallen, die sternförmig von einem Mittelpunkt ausstrahlten, lagen verlassen da. Nur die Wärterin vom Dienst saß an ihrem Pult und las die Post durch, die den Gefangenen am nächsten Morgen ausgehändigt werden sollte. Sie arbeitete mit der Sicherheit jahrelanger Erfahrung. Während sie damit beschäftigt war, hörte sie plötzlich das Klingeln einer Glocke. Sie schaute sich um und sah, daß eine der vielen Klappen an der Tafel heruntergefallen war. Sie legte ihren Blaustift hin, ging die Halle entlang und machte vor einer Zelle halt. Sie schloß auf und öffnete die Tür.

 

Die Frau, die sich von ihrem Bett erhob, trug keine Gefangenenkleidung. Sie hatte ein dunkelblaues Kostüm an, auf dem Bett lagen Hut und Mantel und ein Paar neue Handschuhe. In einer Ecke der Zelle standen eine kleine Handtasche und ein Schirm.

 

»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigt habe«, sagte die Gefangene nervös, »aber ich dachte, man hätte mich vergessen. –« Ihre Stimme versagte, und es wurde ihr schwer, weiterzusprechen.

 

»Sie sind nicht vergessen worden, Mrs. Pinder«, erwiderte die Wärterin ruhig. »Man hätte Ihre Zelle nicht zuschließen sollen.« Sie öffnete die Tür weit. »Wenn Sie sich allein fühlen, kommen Sie nur zu mir heraus.«

 

»Das ist sehr lieb von Ihnen«, sagte die Frau dankbar, und die Beamtin sah, daß ihr die Tränen nahe waren. »Wissen Sie, es ist nur deswegen – der Direktor sagte mir, daß er meinen Freunden telegrafiert hat. Ist noch keine Antwort gekommen?«

 

»Es wird auch wahrscheinlich keine Antwort eintreffen«, sagte die Wärterin taktvoll. »Ihre Freunde werden bald hierherkommen. Möglicherweise denken sie auch, daß Sie noch bis morgen warten wollen.« Sie lächelte. »Gewöhnlich werden Gefangene ja auch des Morgens entlassen. Aber das Justizministerium hat dem Direktor die Erlaubnis gegeben, Sie schon heute nacht in Freiheit zu setzen. Ich würde mich nicht aufregen, Mrs. Pinder.«

 

Sie wartete an der Tür.

 

»Kommen Sie doch heraus, wenn Sie mögen«, meinte sie gutmütig. »Sie können in der ganzen Halle umhergehen. Die anderen Frauen sehen Sie nicht, es ist schon alles abgeschlossen.«

 

Mary Pinder ging langsam in die weite Halle und blickte auf die ihr so vertrauten schmalen, schwarzen Türen, als sie an den langen Reihen vorbeikam. Schließlich trat sie an das große Fenster am Ende des Ganges. Das rosige Licht der untergehenden Sonne schien herein. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren waren die Beschränkungen für sie gefallen, durfte sie unbeobachtet umhergehen, und bald würde sie durch die schwere, eiserne Gittertür wieder in Gottes freie Welt hinaustreten.

 

Sie unterdrückte einen traurigen Seufzer, legte die Hände zusammen und stand versunken und nachdenklich da. Ihre Gedanken wanderten. Sie wagte nicht, die Geschichte zu glauben, die man ihr erzählt hatte, und sie durfte noch nicht an das Glück denken, das jenseits der eisernen Tür auf sie wartete.

 

Die Wärterin war zu ihrem Pult und zu ihrer Beschäftigung zurückgekehrt. Mrs. Pinder betrachtete sie gedankenvoll. Die Frau kam täglich mit der Außenwelt in Berührung – vielleicht war sie verheiratet und hatte Kinder, die außerhalb dieser roten Mauern aufwuchsen. Mary Pinder war vom Leben und der menschlichen Gesellschaft nun schon zwanzig Jahre lang abgeschnitten. Draußen war die Welt ihren alten Gang weitergegangen. Neue Männer waren zur Macht gekommen und wieder von anderen ersetzt worden, nationale Erhebungen waren vorübergerauscht, Kriege hatten sich ausgetobt, aber hier in diesem düsteren Schatten blieb das Leben grau und ohne Trost, und selbst der Schmerz wurde monoton.

 

Sie ging furchtsam auf die Beamtin zu und setzte sich auf einen Stuhl in ihrer Nähe. Die Wärterin hielt in ihrer Arbeit inne und schaute sie mit einem ermutigenden Lächeln an. Nach einer Weile legte sie ihren blauen Stift wieder hin.

 

»Hoffentlich vergessen Sie diesen Ort bald ganz, Mrs. Pinder.«

 

Die schüttelte den Kopf.

 

»Ich glaube, es ist unmöglich – das zu vergessen. Das war mein Leben – der größte Teil meines Lebens, auf den ich mich besinnen kann. Ich war achtzehn Jahre alt, als ich zuerst hierherkam, und dreiundzwanzig, als man mich in das Gefängnis in Aylesbury brachte, und dreißig, als ich wieder hierher zurückkam. Ich kann mich nicht an viel mehr erinnern«, sagte sie schlicht.

 

Die Wärterin sah sie interessiert an.

 

»Sie sind die einzige Gefangene, zu der ich Zutrauen hatte und an die ich in gewisser Weise glaubte, Mrs. Pinder!«

 

Mary Pinder neigte sich eifrig zu ihr.

 

»Waren Sie von meiner Unschuld überzeugt?«

 

Die Wärterin nickte.

 

»Ich danke Ihnen. Ich – wünschte, ich hätte früher gewußt, daß jemand an mich glaubte.«

 

»Dann wollte ich, daß ich es Ihnen eher gesagt hätte«, erwiderte die Beamtin kurz. »Hier kommt noch jemand, der auch von Ihrer Unschuld überzeugt ist.« Die Wärterin ging dem Gefängnisdirektor entgegen.

 

»Haben Sie sich schon angezogen und sind Sie fertig?« fragte er liebenswürdig. »Sie sind eine glückliche Frau! Ich muß hier an diesem schrecklichen Platz aushalten. Auch ich bin eine Art Gefangener, aber ich muß hier auf meinem Posten bleiben, bis ich sterbe!«

 

Das war eine stehende Redensart von ihm, und Mrs. Pinder lächelte, als er mit ihr die Halle entlangging.

 

»Ihre Freunde werden nicht vor zehn Uhr kommen – eben traf ein Telegramm ein. Sie glaubten, daß Sie erst nach Einbruch der Dunkelheit das Gefängnis verlassen wollten. Wissen Sie, wo Sie von hier aus hingehen?«

 

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. Dann änderte sich ihr Ton. »Es ist wie ein Traum, was Sie mir erzählten über – über –«

 

»Über das junge Mädchen, das Sie gesehen hat? Es ist doch ein merkwürdiger Zufall. Ich hätte es eigentlich merken müssen, als ich sah, wie die Erwähnung der Brandwunde am Arm sie aufregte.«

 

»Meine Tochter!« sagte sie atemlos. »Ach Gott, wie wundervoll!«

 

»Man hat es Ihnen nicht mitgeteilt – Ihre Freunde glaubten, die freudige Überraschung würde zu groß sein. Sie ist ein hübsches Mädchen geworden.«

 

»Ja, ist sie schön? Weiß sie es schon?«

 

Er nickte.

 

»Sie erfuhr es, als sie damals in meinem Zimmer war und als ich ihr den Namen Lois Margeritta nannte. Wenn noch irgendein Zweifel darüber bestehen könnte, so ist der Brief, den ich vom Unterstaatssekretär erhielt, der beste Gegenbeweis. Sie hat ihn aufgesucht, um noch mehr Einzelheiten über die Gerichtsverhandlung und das Verbrechen zu erfahren, dessen man Sie beschuldigt hatte. Mrs. Pinder, wollen Sie mir eine Frage beantworten?« Er ließ ihren Arm los und sah sie an. »Ich bin ein alter Mann und habe nicht mehr lange zu leben. Ich habe fast allen Glauben an die Menschheit verloren – waren Sie unschuldig?« Er machte eine Pause. »Waren Sie unschuldig oder schuldig?«

 

»Ich war unschuldig.« Sie schaute ihm furchtlos in die Augen. »Ich sage Ihnen die reine Wahrheit. Ich bin damals nur aus dem Haus gegangen, um mir Arbeit zu suchen, und als ich zurückkam, wurde ich verhaftet.«

 

»Aber wer war denn Ihr Mann, und wo war er?«

 

»Er war tot«, sagte sie schlicht. »Ich wußte es damals nicht – aber ich habe es inzwischen erfahren. Glauben Sie mir?«

 

Er nickte schweigend.

 

»Sie haben mich stets so gut behandelt«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen für Ihre Güte danken.«

 

»Das können Sie«, erwiderte er in seiner rauhen Art. »Wenn Sie wieder in die Welt kommen und andere Frauen treffen, die Ihnen raten, Ihr Haar rot zu färben – dann tun Sie es bitte nicht!«

 

Er war froh, daß er sie nicht zum Lachen gebracht hatte.

 

»Und nun kommen Sie mit und essen Sie mit mir und meiner Frau zu Abend.«

 

+++

 

Fünf Minuten nach zehn hielt ein kleines, elegantes Auto vor den Toren des Gefängnisses. Der Chauffeur stieg aus und klingelte. Der Pförtner fragte durch das Schiebefenster nach seinem Wunsch.

 

»Ich bin hergekommen, um Mrs. Pinder abzuholen«, sagte er.

 

»Bitte, kommen Sie herein und sprechen Sie selbst mit dem Direktor.«

 

»Ich bleibe lieber hier.«

 

Der Chauffeur zündete sich eine Zigarette an und ging auf und ab, um sich die Zeit zu vertreiben, aber er brauchte nicht lange zu warten. Einige Minuten später sprang eine kleine Tür auf, und eine Frau trat heraus.

 

»Sind Sie Mrs. Pinder?« fragte der Mann leise, fast flüsternd.

 

»Ja.«

 

»Geben Sie mir Ihr Gepäck.«

 

Er öffnete die Tür, stellte den kleinen Koffer hinein und half ihr beim Einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr in der Richtung nach London davon. Im Schatten des Gefängnistores beobachtete der Direktor die Abfahrt, dann ging er mit einem Seufzer in sein Büro zurück.

 

Das Gefängnis hatte in dem Augenblick für ihn an Interesse verloren, als die Frau es verließ, die in allen Zeitungen als die Hereford-Mörderin geschildert worden war.

 

Kapitel 19

 

19

 

Lois Reddle war nicht gerade froh gestimmt, als sie an die Rückkehr in das Palais am Chester Square dachte. Aber noch weniger wollte sie ihr Wort brechen, das sie der Gräfin gegeben hatte, obwohl sie diese Frau jetzt zu hassen begann. Sie unterhielt sich darüber mit Lizzy, als sie vor ihrer Haustür in der Charlotte Street standen.

 

»Wir wollen lieber hier bleiben«, drängte Lizzy. »Auf keinen Fall gehen wir jetzt schon zurück. Selwyn bekommen wir doch nicht zu sehen – und dann denke doch an das, was Mike dir sagte.«

 

»Was Mr. Dorn sagt, ist mir gleichgültig«, erwiderte Lois ruhig. »Wir müssen zurückgehen, Lizzy – ich habe es versprochen.«

 

Lizzy murrte.

 

»Ach, du mit deiner Ehrbarkeit und deinem Worthalten – ich bekomme Kopfschmerzen davon! Aber wir wollen doch wenigstens jetzt noch nicht gehen. Die Frau hat dir doch ausdrücklich gesagt, daß du ausbleiben und sogar ins Theater gehen könntest. Warum beeilst du dich denn so?

 

Lois zögerte.

 

»Wir gehen jetzt zurück«, sagte sie dann bestimmt.

 

Sie schaute über die Straße. Ein Müßiggänger stand mit dem Rücken gegen ein Schaufenstergitter gelehnt, aber sie sah sofort, daß es nicht Dorn sein konnte. Sobald sie der Oxford Street zugingen, kam Leben in den Mann. Er folgte den beiden langsam im Schatten der Häuser, und als Lois sich umsah, entdeckte sie, daß er hinter ihnen herkam.

 

»Wir wollen auf die rechte Seite hinübergehen«, sagte sie. »Ich glaube, wir werden beobachtet.«

 

»Wir wollen uns lieber an die Hauptstraße halten«, meinte die kluge Lizzy. »Wenn schon jemand hinter uns herkommt, ist es besser, daß wir dort gehen.«

 

Sie kamen zur Oxford Street und gingen quer über die Straße, aber der Schatten folgte ihnen in gewisser Entfernung.

 

»Wir versuchen es in der Regent’s Street«, schlug Lizzy vor. »Wenn wir ein Stück entlanggegangen sind, kreuzen wir die Straße und gehen wieder auf die andere Seite. Wenn er uns dann noch folgt, wissen wir sicher, daß er es auf uns abgesehen hat.«

 

Als sie ihren Plan durchgeführt hatten, stand es außer jedem Zweifel, daß man ihnen folgte. Sie stiegen deshalb in einen Autobus, der nach dem Westen fuhr. Lois sah, daß der Mann eine Taxe anrief, die neben dem Autobus herfuhr.

 

»Wenn ich wüßte, daß es Mike ist, würde ich zurückgehen und ihm einmal ganz gehörig die Meinung sagen«, grollte Lizzy.

 

»Er ist es gewiß nicht«, beschwichtigte sie Lois. »Mr. Dorn ist nicht so groß und sieht auch besser aus.«

 

Sie verließen den Autobus in der Nähe der Victoria Street, und als sie über die Straße eilten, sahen sie, daß auch das Mietauto anhielt und der Mann ausstieg. Er machte nie den Versuch, sie zu überholen, und zeigte auch nicht die leiseste Neigung, sich ihnen zu nähern. Wenn sie langsam gingen, tat er dasselbe, wenn sie sich beeilten, beschleunigte er ebenfalls seine Schritte.

 

Plötzlich sah Lois Michael Dorn vor sich. Er stand mitten auf dem Gehsteig, und es war unmöglich, an ihm vorüberzugehen.

 

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Miss Reddle. Sie gehen doch nicht zu Lady Moron zurück?«

 

»Ich bin eben dabei, das zu tun«, sagte Lois ruhig.

 

»Sie werden es nicht tun«, erwiderte er entschieden. »Miss Reddle, ich habe Ihnen so manchen Dienst erwiesen, ich würde es gern sehen, wenn Sie auch einmal etwas für mich täten.« Er schien um Worte verlegen zu sein. »Ich habe ein persönliches Interesse daran. Ich vermute zwar, daß Sie mich nicht leiden können – aber immerhin, ich habe Sie gern.«

 

»Danke schön«, entgegnete sie kurz.

 

»Sie können ruhig sarkastisch sein – ich kümmere mich nicht darum. Ich sage Ihnen einfach die nackte Wahrheit. Ich verehre Sie, wie nur irgendein anständiger Mann ein Mädchen von Ihrem Charakter und Ihrer –«

 

»Schönheit«, ergänzte Lizzy, die interessiert zuhörte.

 

»Anmut – das ist das richtige Wort«, sagte Dorn und lächelte schwach.

 

»Und gerade weil ich mich persönlich so für Sie interessiere und Sie gern habe – ich fühle, daß meine Ausdrücke nicht richtig sind und meine Worte Sie nicht überzeugen, aber ich bin Damen gegenüber immer verlegen –, jedenfalls will ich, daß Sie in die Charlotte Street zurückgehen.«

 

Lois schüttelte den Kopf.

 

»Wohin ich gehe, kann Ihnen sehr gleichgültig sein!«

 

»Ich habe das größte Interesse daran, daß Sie in Ihre Wohnung in die Charlotte Street zurückkehren!«

 

»Obwohl oder gerade weil Sie es gesagt haben, werde ich diese Nacht im Haus der Lady Moron bleiben. Morgen werden Miss Smith und ich wieder in die Charlotte Street gehen.«

 

»Sie gehen heute abend noch zurück!« sagte er fast schroff.

 

Sie reckte sich empört auf.

 

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie kühl.

 

»Ich meine genau das, was ich eben gesagt habe. Ich will nicht, daß Sie noch eine Nacht in diesem schrecklichen Haus zubringen. Lassen Sie sich doch davon überzeugen, Miss Reddle«, fuhr er sanfter fort. »Sie müssen sich nicht einbilden, daß es eine Laune von mir wäre oder daß ich irgendein ungerechtes Vorurteil gegen Lady Moron oder ihren Sohn hätte. Ich bitte Sie nur, heute abend nicht zum ehester Square zu gehen.«

 

»Können Sie mir irgendeinen Grund dafür angeben?«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie müssen mir vertrauen und glauben, daß ich sehr triftige Gründe habe, wenn ich sie Ihnen im Augenblick auch nicht sagen kann. Sehen Sie denn das nicht selbst ein?«

 

»Nein«, erwiderte sie. »Es sind mehrere Unglücksfälle vorgekommen – meinen Sie etwa, daß Lady Moron daran schuld ist?«

 

»Ich meine gar nichts.«

 

»Dann gute Nacht.« Sie wollte weitergehen, aber er vertrat ihr den Weg. Er mußte der dunklen Gestalt im Hintergrund ein Zeichen gegeben haben, denn plötzlich kam der große Mann auf sie zu.

 

»Dies ist Sergeant Lighton von der Kriminalpolizei«, sagte er kurz. Dann zeigte er auf das Mädchen. »Dies ist Lois Reddle – ich beschuldige sie des versuchten Mordes an John Braime!«

 

Das Mädchen hörte die Worte und war wie vom Donner getroffen.

 

»Wessen beschuldigen Sie mich?« fragte sie erschrocken. »Aber Mr. Dorn –«

 

Der Detektiv winkte stumm, und der große Mann nahm Lois höflich am Arm. Eine halbe Stunde nachdem sich das Gefängnistor vor Mrs. Pinder geöffnet hatte, schloß sich die Tür einer Polizeizelle hinter ihrer Tochter.

 

Kapitel 2

 

2

 

Sie gingen zusammen aus dem Haus und machten sich auf den Weg zum Büro. Nur einmal schaute sich Lois argwöhnisch nach ihrem unwillkommenen Kavalier um, aber er war glücklicherweise nicht in der Nähe.

 

»Ich weiß einen verhältnismäßig billigen Schönheitssalon in der South Moulton Street«, sagte Lizzy, als sie quer über die Theobald Road gingen, »wo man sich solche Narben entfernen lassen kann, wie du eine am Arm hast. Ich habe auch daran gedacht, mein rotes Gesicht einmal behandeln zu lassen. Denk dir, der Bürovorsteher hat mir das geraten; der Kerl fängt an, frech zu werden – ich muß ihn einmal etwas auf Eis stellen! Und dabei ist er achtundvierzig Jahre alt und hat bereits erwachsene Kinder!«

 

Zwei Stunden später nahm Mr. Oliver Shaddles einige Schriftstücke vom Tisch, las sie schnell durch, rieb sich nervös das unrasierte Kinn mit den grauen Bartstoppeln und schaute auf die Bedford Row hinaus.

 

Dann wandte er sich zu der kleinen elektrischen Tischglocke, zögerte einen Augenblick und drückte den Knopf.

 

»Miss Reddle!«, sagte er kurz zu der Angestellten, die eilig hereinkam. Er nahm die Urkunden wieder auf und las noch darin, als sich die Tür öffnete und Lois eintrat.

 

Sie war etwas über mittelgroß, aber ihre Schlankheit ließ sie größer erscheinen, als sie wirklich war. Sie trug das einfache schwarze Bürokleid, das die Firma Shaddles & Soan ihren weiblichen Angestellten vorschrieb. Mr. Shaddles hatte das Alter erreicht, in dem Schönheit keinen Eindruck mehr auf ihn machte. Über Lois Reddle lag eine zarte, ätherische Lieblichkeit. Aber für den Rechtsanwalt war sie nur eine Angestellte, die allwöchentlich fünfunddreißig Shilling erhielt. Davon wurden jedoch noch die Kosten der Unfallversicherung und Krankenkasse abgezogen.

 

»Sie fahren nach Telsbury.« Shaddles hatte eine rauhe, abgerissene Sprechweise. »Sie sind in anderthalb Stunden dort. Nehmen Sie die beiden eidesstattlichen Erklärungen und bringen Sie die zu Mrs. Desmond. Sie soll sie unterschreiben. Das Auto steht unten –«

 

»Ich dachte, Mr. Dorling hätte es«, begann sie.

 

»Der Wagen ist vor der Tür«, sagte er kurz. »Sie werden eine glatte Fahrt haben und müßten eigentlich dankbar sein, daß Sie so viel frische Luft auf dem Weg schnappen können. Hier, vergessen Sie das nicht«, rief er ihr nach, als sie mit den Urkunden weggehen wollte. Er hielt ihr ein kleines Papier entgegen. »Vergessen Sie den Passierschein nicht – seien Sie doch nicht so unaufmerksam! Wie sollen Sie denn sonst ins Gefängnis kommen, Mädchen? Und dann sagen Sie der Desmond – machen Sie jetzt, daß Sie fortkommen!«

 

Lois verließ den Raum und schloß die Tür leise hinter sich. Die vier blassen Angestellten, die nicht mehr allzu jung waren, saßen an hohen Büropulten und schauten nicht einen Augenblick von ihrer Arbeit auf. Nur das dralle Mädel mit dem runden Gesicht, das die Schreibmaschine bearbeitete, drehte sich nach ihr um.

 

»Fährst du nach Telsbury – mit seinem sogenannten Auto?« fragte sie. »Ich dachte mir schon, daß er dich damit wegschicken würde. Der alte Teufel ist so niederträchtig geizig, daß er nicht einmal seine Fahrt zum Himmel bezahlen würde!«

 

Die Firma Shaddles & Soan besaß ein Auto, das vor dem Krieg einmal schön und modern gewesen war. Es stand in einer benachbarten Garage, für die keine Miete gezahlt zu werden brauchte, denn das Grundstück wurde von Mr. Shaddles verwaltet. Den Wagen selbst hatte er für eine verschwindend geringe Summe bei einer Zwangsversteigerung erworben. Es war ein Fordwagen, und jeder Angestellte mußte ihn fahren können.

 

Mr. Shaddles benutzte ihn, wenn er zum Gericht mußte, die Angestellten absolvierten damit ihre Botengänge, und die Fahrten wurden auf allen Kostenrechnungen nicht zu gering in Ansatz gebracht. So war das Auto für die Firma obendrein noch eine recht einträgliche Sache.

 

»Bist du nicht froh, daß du fahren darfst?« fragte Lizzy etwas neidisch. »Großer Gott, wenn ich einmal aus diesem staubigen Loch heraus könnte! Möglich, daß du deinem Schicksal begegnest!«

 

Lois runzelte die Stirn.

 

»Was meinst du?«

 

»Dein Schicksal«, erwiderte Elizabeth, nicht im mindesten eingeschüchtert. »Ich habe ihn schon heute morgen gesehen, als ich durch das Fenster schaute – na, wenn der nicht in dich verliebt ist!«

 

Lois sah sie kühl und ablehnend an.

 

»Aber da ist doch nichts dabei«, fuhr Lizzy fort. »Der junge Mann wartete neulich sogar im Regen stundenlang auf mich, nur um nach dir zu fragen. Ich glaube, der ist nicht ganz richtig im Kopf.«

 

Lois lachte leise, band sich ein grellfarbenes Halstuch um und zog ihre Handschuhe an. Plötzlich wurde sie ernst.

 

»Ich hasse dieses Telsbury, ich hasse überhaupt alle Gefängnisse – mich schaudert, wenn ich nur daran denke. Ich freue mich, daß ich bald nicht mehr hier in diesem Büro von Mr. Shaddles arbeiten muß.«

 

»Nenne ihn bloß nicht Mister – dieses Kompliment verdient er nicht!«

 

Der Tag war schön und warm, es wehte eine laue, milde Luft. Als Lois aus dem lärmenden Treiben Londons herauskam, wichen Niedergeschlagenheit und Unlust von ihr. Bevor sie abgefahren war, hatte sie sich instinktiv nach dem Mann umgesehen, von dem Lizzy vorhin so schmeichelhaft gesprochen hatte und dessen beständige und unerschütterliche Ergebenheit sie sehr in Erstaunen setzte. Aber sie konnte ihn nicht entdecken und vergaß ihn auch bald. Außerhalb Londons bog sie von der Hauptstraße auf eine der gewundenen Landstraßen ab, die parallel zur Chaussee liefen. Von hier aus konnte man die Natur und die ganze Landschaft besser genießen als auf der geraden, langweiligen Chaussee, die obendrein noch von hohen Hecken eingefaßt war.

 

Sieben Meilen vor Telsbury fuhr sie mit zu hoher Geschwindigkeit wieder auf die asphaltierte Hauptstraße zurück. Als sie eben die hohen Hecken passieren wollte, hörte sie das Hupen eines Autos und bremste. Der kleine Wagen rutschte aber trotzdem weiter auf die Hauptstraße. Zu spät gab sie die Bremsen frei, um Gas zu geben. Plötzlich sah sie das Verdeck eines schwarzen Wagens, der gerade auf sie zukam, und fühlte den Ruf des Fahrers mehr, als sie ihn hörte.

 

Krach!

 

Dem Fahrer des großen, eleganten Wagens war es im letzten Augenblick gelungen, sein Auto zum Stehen zu bringen; trotzdem war er noch leicht mit dem alten Ford zusammengestoßen. Das Mädchen hatte die Hände am Steuer ihres Wagens und schaute verzweifelt auf die zerbrochene Windschutzscheibe. Michael Dorn ließ seinen Wagen langsam rückwärtsrollen, so daß das lange Trittbrett seines Wagens aus dem Schutzblech des anderen herauskam, und er bewies dabei eine so höfliche Geduld, daß es ihr noch peinlicher war, als wenn er ihr Vorwürfe gemacht hätte.

 

»Sagen Sie doch etwas – irgend etwas Heftiges – oder meinetwegen schimpfen Sie! Es ist doch besser, daß man sich die Sache vom Herzen herunterredet, als daß man seinen Groll in sich hineinfrißt.«

 

Graue Augen, durch dunkle Wimpern gehoben, dachte er. Auch hatte sie eine feingeformte Nase, wie er sie an Frauen so gern hatte, Ihr Kinn gefiel ihm, und da sie es angriffslustig gehoben hatte, konnte er auch ihren Hals sehen, der ihm trotz des seidenen Halstuchs in den schreienden roten und gelben Tönen in der Form vollkommen erschien. Sie war sehr geschmackvoll, wenn auch einfach gekleidet.

 

»Ich habe ja gar keinen Groll und bin höchstens etwas verwirrt. Aber wenn ich schon etwas aussetzen soll, so muß ich sagen, daß mir Ihr Halstuch durchaus nicht gefällt.«

 

Sie schaute an dem Tuch herunter, das sein Schönheitsgefühl beleidigte, und runzelte die Stirn.

 

»Sie haben kein Recht, mich mit Ihrem Wagen anzurennen, weil Ihnen mein Halstuch nicht gefällt«, sagte sie kühl. »Wollen Sie bitte noch weiter zurückfahren, damit mein Auto freikommt? Hoffentlich sind Sie versichert?«

 

Er fuhr rückwärts. Sie hörte, wie Blech schrammte und Glassplitter zur Erde fielen, dann war ihr Wagen wieder frei.

 

»Sie sind mit einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen aus der Seitenstraße herausgekommen – Ihr Wagen wäre sicher umgeschlagen, wenn ich Sie nicht angefahren hätte«, sagte er halb entschuldigend. »Ich hoffe jedoch, Sie haben sich nicht verletzt?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Ich bin nicht verletzt, aber ich glaube, mein Chef wird sehr böse sein, wenn er den Schaden sieht. Immerhin, Sie haben Ihren Zweck erreicht, Mr. Dorn, Sie haben auf diese Weise meine Bekanntschaft gemacht.«

 

Er fuhr auf und wurde rot.

 

»Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, daß ich diesen Zusammenstoß absichtlich herbeigeführt hätte, um Ihre Bekanntschaft zu machen?«

 

Als sie ernst nickte, war er wie vom Donner gerührt und starrte sie groß an.

 

»Sie folgen mir schon seit Monaten«, sagte Lois ruhig. »Sie machten sich sogar die Mühe, mit einer Stenotypistin in Shaddles‘ Büro bekannt zu werden, nur um mit mir zusammenzukommen. Ich weiß, daß Sie mich stets auf dem Heimweg verfolgen – einmal nahmen Sie denselben Autobus wie ich, und auf dem einzigen Ball, den ich in diesem Jahr besuchte, waren Sie auch.«

 

Michael Dorn machte sich am Steuer zu schaffen und war im Augenblick sprachlos. Sie war sehr ernst geworden. Ihre wundervollen Augen sahen ihn mit einem leisen Vorwurf an.

 

»Nun ja, wirklich –«, begann er zögernd. Dann fehlten ihm die Worte.

 

Sie wartete, daß er seinen angefangenen Satz beenden würde.

 

»Also wirklich –?« Ein schwaches Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. »Nun, Mr. Dorn, es ist ja kein Vergehen von einem Mann, ein junges Mädchen treffen zu wollen – das sehe ich ein. Es wäre lächerlich von mir, mich dadurch beleidigt zu fühlen. Aber wie ich schon ihrer Gesandtin, Miss Lizzy Smith, sagte –«

 

Er schaute rasch auf und wollte etwas erwidern, aber sie fuhr unbeirrt fort.

 

»Ich wünsche Ihre Bekanntschaft wirklich nicht, und ich bezweifle nicht, daß Lizzy Ihnen das von mir ausrichtete. Deshalb halte ich Ihr Benehmen auch für ein wenig – wie soll ich es gleich nennen?«

 

»Aufdringlich heißt das Wort, das Sie suchen«, sagte er kühl. »Ich will zugeben, daß es fast so aussieht.«

 

Er stieg langsam aus, ging an ihren Wagen und stützte seine Arme auf die Oberkante des Schlages.

 

»Bitte, glauben Sie mir, Miss Reddle, daß mir nichts ferner liegt, als Sie zu belästigen. Wenn ich nicht so ungeschickt gewesen wäre, würden Sie niemals erfahren haben, daß ich Sie –« Es fehlte ihm wieder das richtige Wort. Sie vollendete seinen Satz. Obwohl er so ernst war, mußte er lachen.

 

»Verfolgen ist ein häßliches Wort, ich wollte es eben etwas liebenswürdiger ausdrücken«, sagte er.

 

Als sie ihn jetzt ansah, gefiel ihr der treue, fröhliche Blick seiner blauen Augen doch, und hätten sie sich in diesem Augenblick getrennt, ohne noch mehr miteinander zu sprechen, so hätte sie freundlicher von ihm gedacht. Aber er setzte die Unterhaltung fort.

 

»Wo wollen Sie an diesem schönen Herbstmorgen hin?«

 

Sie wurde wieder ablehnend und zurückhaltend.

 

»Wenn Sie mir jetzt folgen, werden Sie einen Schrecken bekommen. Ich bin nämlich auf dem Weg zum Telsbury-Gefängnis.«

 

Der Eindruck, den diese Worte auf ihn machten, war verblüffend. Er schaute sie entsetzt und verwirrt an.

 

»Wohin wollen Sie fahren?« fragte er heiser, als ob er seinen Ohren nicht traute.

 

»Zum Telsbury-Gefängnis – bitte!«

 

Sie winkte ihm, Platz zu machen, und der Wagen mit der zerbrochenen Windschutzscheibe fuhr die breite Chaussee entlang.

 

»Großer Gott!« sagte Michael Dorn und starrte hinter ihr her.

 

Kapitel 20

 

20

 

»Das wäre also erledigt«, sagte Michael traurig, als er die Polizeistation mit dem Sergeanten wieder verließ. »Ich fasse jetzt einen richtigen Dieb, Lighton, wenn meine Schlußfolgerungen richtig sind. Ich ließ mir einen Brief vom Justizministerium schicken, der heute nachmittag an meine Adresse aufgegeben wurde.«

 

»Glauben Sie, daß man Ihren Briefkasten beraubt?« fragte Lighton.

 

Der Detektiv antwortete erst, als sie in einem Auto saßen.

 

»Wir wollen nicht Briefdiebstahl, sondern Briefverzögerung sagen. Ich kam nämlich dahinter, daß alle Briefe meines Nachrichtenagenten und meines Freundes bei der Regierung stets ohne jeden Grund mit Verspätung ankamen. Ich beschäftigte mich mit der Sache und merkte, daß ich von beiden Stellen Briefe in blauen Umschlägen erhielt.«

 

»Wie geht es Braime?« fragte der Sergeant.

 

»Besser«, war die kurze Antwort. »Ich habe ihn heute abend gesprochen – das wird er sein Leben lang nicht vergessen.« Er lachte leise vor sich hin, obwohl sein Herz schmerzte, als er an das bestürzte und empörte Mädchen dachte, das zu dieser Stunde in der großen und luftigen Frauenzelle einer Polizeistation saß.

 

Der Wagen hielt vor den Hiles Mansions, und der Fahrstuhlführer brachte sie zu Dorns hübscher Wohnung. Zwei oder drei Briefe lagen in seinem Briefkasten. Er nahm sie heraus, prüfte sie, ging dann wieder auf den Treppenflur hinaus und klingelte nach dem Fahrstuhl.

 

»Haben Sie die Briefe heraufgebracht?« fragte er.

 

»Ja, Sir!«

 

»Wann kamen sie an?«

 

»Um halb zehn.«

 

»Heute nachmittag um halb vier wurde ein Brief in einem blauen Umschlag an mich abgesandt – er befindet sich nicht unter meiner Post. Wie kommt das?«

 

Der Fahrstuhlführer schaute beiseite.

 

»Ich weiß es nicht.« Er vermied Michaels Blick ängstlich. »Ich bringe die Briefe herauf, sobald sie kommen, und werfe sie dann in den Kasten.«

 

»Sie haben von neun Uhr abends bis neun Uhr morgens Dienst, das stimmt doch?«

 

»Jawohl, Sir!«

 

»Sie haben also die Morgen- und Abendpost zu besorgen. Wie kommt es, daß alle Briefe, die blaue Umschläge haben, mich stets vierundzwanzig Stunden später erreichen, als sie es eigentlich sollten?«

 

»Ich kann es Ihnen nicht sagen.«

 

»Dann sagen Sie es wenigstens diesem Herrn hier – er ist ein Detektiv von Scotland Yard –, und sagen Sie es ihm schnell und ohne alle Umschweife, sonst werden Sie diese Nacht nicht sehr bequem schlafen.«

 

Eine Zeitlang wehrte sich der Mann noch und widersprach, aber plötzlich wurde er klein.

 

»Ich habe eine Frau und vier Kinder«, jammerte er. »Und meine Militärpension werde ich auch verlieren –«

 

»Sie werden nichts verlieren, wenn Sie jetzt die Wahrheit sagen. Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, meine Briefe aufzuhalten?«

 

»Ein Herr – ich kenne nicht einmal seinen Namen. Und wenn ich diesen Augenblick sterben soll, kann ich Ihnen den Namen nicht sagen. Er gibt mir zwei Pfund die Woche, damit ich alle Briefe in blauen Umschlägen aufhalte, auch alle amtlichen Schreiben, die an Sie kommen. Ich habe sie niemals gestohlen, ich habe sie immer wieder in Ihren Briefkasten gelegt –«

 

»Das weiß ich«, unterbrach ihn Dorn kurz. »Sie verschwenden nur Ihre Lunge, wenn Sie mir das alles erzählen. Wer hat Ihnen diesen Auftrag gegeben?«

 

»Ich schwöre Ihnen, daß ich ihn nicht kenne, Sir. Ich traf ihn eines Abends in einer Wirtschaft. Er beschwatzte mich, bis ich auf die Sache einging. Ich wünschte, ich hätte ihn nie gesehen.«

 

»Kommt er wegen der Briefe hierher?«

 

»Ja, er kam auch heute morgen, nachdem die Post hier war. Aber ich habe ihm den blauen Brief nicht gegeben, weil ich ihn noch nicht hatte. Der Postbeamte mußte ihn übersehen haben, er kam eine Viertelstunde später nochmals zurück und gab ihn mir.«

 

»Den blauen Brief? Welchen blauen Brief?« fragte Michael schnell. »Er liegt unten«, winselte der unzuverlässige Portier der Hiles Mansions.

 

»Ich werde jetzt mit Ihnen hinunterfahren und ihn holen.«

 

In den Eingangsflur war ein kleiner Raum eingebaut, der dem Portier als Büro diente. Unter einer Schreibunterlage zog er zwei blaue Briefe heraus.

 

Den ersten erkannte Michael als den Brief wieder, den er selbst geschrieben hatte, den zweiten öffnete er schnell und las. Lighton sah, wie sich seine Gesichtszüge veränderten. Er steckte den Brief rasch in seine Tasche und wandte sich zu dem erschrockenen Portier.

 

»Was ist sonst noch gekommen? Heraus damit, schnell!«

 

Ohne ein Wort langte der Mann in die Tasche eines Rockes, der an der Wand hing, und nahm ein Telegramm heraus, das allem Anschein nach geöffnet und wieder geschlossen worden war. Michael las es wuterfüllt.

 

»Zum Teufel mit diesem Kerl«, sagte er, rannte aus der Halle und sprang in die nächste leere Taxe, die er sah.

 

Zehn Minuten später war er bei seiner Garage, und gleich darauf fuhr ein großer, schwarzer Wägen mit Blitzgeschwindigkeit aus London hinaus.

 

Es schlug Mitternacht von der Dorfkirche von Telsbury, als das Auto vor dem Gefängnis hielt. Michael Dorn sprang heraus und drückte auf die Klingel.

 

»Der Direktor schläft schon, Sir.«

 

»Ich muß ihn sofort sprechen. Es geht um Leben und Tod. Geben sie ihm meine Karte.« Er steckte sie durch das Gitter und wartete ungeduldig, bis er eingelassen und zum Haus des Direktors geführt wurde, der ihn im Pyjama und Schlafrock in seinem kleinen Arbeitszimmer erwartete.

 

»Mrs. Pinder ist um zehn Uhr fortgefahren. Hatten Sie denn nicht den Wagen geschickt?«

 

»Nein, ich wußte gar nichts von ihrer Entlassung. Der Brief vom Justizministerium, der mich davon unterrichten sollte, ist aufgehalten worden. Zehn Uhr? Wer holte sie ab?«

 

»Ich weiß es nicht, ich dachte, Sie wären es. Ich sah den Wagen und kümmerte mich nicht weiter darum.«

 

»Wissen Sie, welchen Weg er nahm?« »Sie fuhren in der Richtung nach London. Es war ein kleiner Wagen – ein Buick, denke ich. Ist sie nicht angekommen?«

 

Michael schüttelte den Kopf. »Nein, sie ist nicht in London.«

 

Es war keine Zeit zu verlieren. Er stieg wieder in sein Auto und fuhr in höchster Eile die London Road entlang. Am Telsbury-Kreuzweg befand sich eine Tankstelle, und er wußte, daß dort jemand im Rückgebäude schlief. Es dauerte einige Zeit, bis er auf sein Klopfen eine Antwort erhielt, aber dann bekam er eine wertvolle Information.

 

»Ich sah den Wagen vorbeifahren. Er fuhr nach Süden, auf Letchford zu.«

 

»Nicht auf der London Road?«

 

»Nein, er wendete hier um. Kurz bevor ich mich schlafen legte, sah ich das Schlußlicht vor dem Hügel.«

 

Michael Dorn stieg wieder ein und legte die fünfzehn Meilen von Telsbury nach Letchford in genau fünfzehn Minuten zurück. Hier hatte er wieder Glück. Ein Polizist hatte den Wagen gesehen, der westwärts gefahren war. Aber dann kam er an einen Punkt, an dem sich vier Straßen kreuzten, und er konnte nicht herausfinden, welche Richtung der unbekannte Chauffeur eingeschlagen hatte. Auf keinen Fall waren sie nach London gefahren. Er fuhr erfolglos die eine Straße entlang, nahm dann seinen Weg über das Feld, um die zweite abzuschneiden, aber er traf niemand, der ihm die geringste Auskunft geben konnte.

 

Um vier Uhr morgens hielt er wieder vor dem Polizeirevier von Chelsea und stieg langsam die Stufen zu dem Dienstzimmer hinauf.

 

»Hallo, Mr. Dorn!« sagte der Sergeant. »Der Inspektor hat die ganze Nacht nach Ihnen gefragt wegen dieses Falles.«

 

»Was gibt es denn?« fragte Michael müde.

 

»Das geht mit dem Teufel zu! Die Gräfin gibt an, das Mädchen sei nicht in dem Zimmer gewesen, als Braime verletzt wurde. Wir haben eine vollständige schriftliche Aussage von ihr, und der Inspektor sagte, daß er Ihnen etwas sagen wird, was Sie nicht so schnell vergessen werden!«

 

Dorns Lippen zogen sich wütend zusammen.

 

»Wenn er sich untersteht, irgend etwas Nennenswertes zu sagen, werde ich den Dienst quittieren! Aber immerhin, Sie können sie jetzt freilassen. Ich möchte mich bei ihr entschuldigen.«

 

»Sie freilassen!« lachte der Sergeant. »Da kommen Sie ein bißchen spät! Sie ist schon um zwei Uhr morgens wieder entlassen worden.«

 

Der Detektiv fuhr zusammen.

 

»Um zwei Uhr morgens?« wiederholte er leise. »Ging sie allein weg?«

 

»Nein, ein Herr holte sie mit einem blauen Buickwagen ab.«

 

Michael wankte einen Schritt rückwärts, sein Gesicht war erschöpft und verstört, und er schien plötzlich gealtert zu sein.

 

»Der Mann, der das Mädchen befreite, hat wahrscheinlich Beihilfe an einem Mord geleistet!« sagte er. »Erzählen Sie das dem Inspektor, wenn Sie ihn sehen!«

 

Dann wandte er sich um und verließ den Raum.

 

Das Büro des Staatsanwalts wurde erst morgens um zehn Uhr geöffnet, und Michael Dorn wartete dort. Er war verstaubt, unrasiert, und sein Gesicht sah grimmig aus.

 

»Hallo, Dorn – was ist Ihnen denn passiert?« fragte der Beamte.

 

In wenigen Worten erklärte der Detektiv die Lage.

 

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf.

 

»Wir können nichts tun. Wir haben nicht den Beweis, den wir brauchen, und können infolgedessen keine Anklage erheben. Wir haben Ihnen in Anbetracht der seltsamen Umstände dieses Falles freie Hand gelassen, aber ich kann keinen Haftbefehl ausstellen, bevor Sie mir nicht den positiven und unumstößlichen Beweis beibringen.«

 

Dorn biß sich auf die Lippen.

 

»Wenn man in früheren Zeiten einen Mann nicht dazu bringen konnte, die Wahrheit zu sagen – was tat man da, Sir Charles?«

 

»Nun ja, man goß ein wenig kochendes Öl auf ihn! Damals war die Untersuchung von Verbrechen etwas leichter als heute!«

 

»Sie war nicht leichter.« Michael schüttelte den Kopf. »Ich werde die Wahrheit erfahren. Ich bringe heraus, wohin sie diese beiden Frauen gebracht haben! Und die Streckfolter und die Daumenschrauben sollen ein Kinderspiel sein im Vergleich zu den Mitteln, die ich gegen sie anwenden werde! Ich erfahre die Wahrheit – und wenn ich Chesney Praye Glied um Glied ausreißen müßte!«

 

Kapitel 21

 

21

 

Als die Zellentür geöffnet wurde, erwachte Lois aus einem lähmenden Schlaf; sie erhob sich unsicher und wußte kaum, was sie tat, als sie der Wärterin ins Büro folgte. Sie war müde und abgestumpft von der Anklage, die man gegen sie erhoben hatte. Der Sergeant sagte irgend etwas, und sie hörte auch den Namen der Gräfin. Dann gab ihr jemand die Hand – sie dachte, es sei der Sergeant. Ein junger Mann, den sie nur mit halbem Bewußtsein bemerkt hatte, nahm ihren Arm und führte sie langsam auf die dunkle Straße. Er öffnete den Schlag eines Wagens, und bevor sie wußte, was geschah, hatte sich das Auto schon in Bewegung gesetzt. Sie fühlte eine grenzenlose Abgespanntheit – und schlief wieder ein.

 

Sie erwachte davon, daß ihr Kopf gegen den Führersitz stieß. Die Dämmerung war schon nahe.

 

»Wo sind wir?« fragte sie.

 

Es interessierte sie nicht, wer der Chauffeur war, aber als er sich umwandte, erkannte sie das Gesicht Chesney Prayes.

 

»Es ist schon alles in Ordnung, Miss Reddle«, sagte er mit einem Grinsen, das seine Zähne zeigte. »Ich fahre Sie aufs Land.«

 

Sie zog die Stirn kraus und versuchte sich über die Ereignisse der letzten Nacht klarzuwerden. Als sie sich an ihre Verhaftung erinnerte, wurde sie plötzlich wieder ganz wach. Aber bevor sie weiterfragen konnte, gab er ihr über die Schulter hinweg schon eine Erklärung.

 

»Lady Moron dachte, es sei besser, wenn Sie diesem Bluthund einmal ein oder zwei Tage aus dem Gesicht kämen. Er hat eine Abneigung gegen Sie, und er ist ein rachsüchtiger Kerl.«

 

»Mr. Dorn?« fragte sie. »Warum ließ er mich festnehmen? Ich weiß doch gar nicht, wie Braime verletzt wurde.«

 

»Natürlich wissen Sie es nicht«, sagte er beruhigend. »Aber er hat sich nun eben auf diese Weise gerächt.«

 

An wem er sich auf diese Weise gerächt hatte, erklärte Chesney nicht, und selbst Lois schien es in ihrem abgespannten Zustand doch etwas unlogisch, daß Michael Dorn sie hatte festnehmen lassen, um sich an Praye oder an der Gräfin zu rächen.

 

Der Wagen fuhr einen Hügel hinab. Unten sah sie das glitzernde Wasser eines Flusses, der sich in vielen Windungen durch die Gegend schlängelte, den grauen Rauch, der von den kleinen Häusern im Tal aufstieg. Die Straße war schmal und uneben, kaum mehr als ein Feldweg. Sie wunderte sich, warum sie hier entlangfuhren, denn sie erblickte nicht weit entfernt eine breite Chaussee, die fast genau mit ihrer Fahrtrichtung parallel lief.

 

»Wir sind gleich da.«

 

Sie erreichten den Ausgang eines Tales. Ihr Weg führte unerwartet in eine dichtbestandene Baumpflanzung, wandte sich dann in rechtem Winkel, kreuzte einen gewöhnlichen Feldweg, und fünf Minuten später sah sie eine lange, graue Mauer, die ein breitgelagertes, mit einem niedrigen Dach gedecktes Gebäude umschloß.

 

An der anderen Seite des Hauses lief eine Straße entlang, und sie wunderte sich aufs neue, daß sie ihr Ziel nicht auf einem besseren Weg erreicht hatten. Offensichtlich erwartete man sie, denn das unansehnliche Tor wurde aufgestoßen, und sie fuhren in einen schmutzigen Bauernhof ein. Ein halbes Dutzend Hühner gackerte durcheinander, und aus einem zerfallenen Stall hörte man das Grunzen eines Schweines.

 

»Wir sind angekommen«, sagte er, brachte den Wagen zum Stehen und sprang heraus. Das Mädchen schaute sich erstaunt um und sah ein langes, heruntergekommenes Bauernhaus. Von den Fenstern, die man von hier sehen konnte, waren nur zwei gesäubert, die anderen starrten von jahrealtem Schmutz. Links erhob sich eine niedrige, höhlenartige, düstere Scheune, deren Tore halb zerbrochen in den rostigen Angeln hingen und sich wahrscheinlich überhaupt nicht mehr bewegen ließen. Sie war leer, nur ein alter, verrosteter Pflug und das Gestell eines zerbrochenen Bauernwagens ohne Räder standen auf der Tenne. Überall sah man schlimmsten Verfall, und obwohl sie das Gebäude nur oberflächlich betrachtete, bemerkte sie, daß das eine Ende des Daches fast keine Ziegel mehr trug.

 

»Dies ist doch nicht etwa der Landsitz von Lady Moron?« fragte sie.

 

»Nein, es ist ein kleines Besitztum, das einem unserer Freunde ich meine einem ihrer Freunde gehört. Sie haben doch Dr. Tappatt bei ihr getroffen?«

 

»Dr. Tappatt?« Sie runzelte die Stirn. Das war der merkwürdige, unsaubere Arzt mit der großen Nase, der im Palais am Chester Square am Essen teilgenommen hatte.

 

»Ist er hier?« fragte sie, unangenehm berührt. Der letzte, mit dem sie einen Tag zusammen verbringen wollte, war dieser Mann.

 

»Ja – er ist hier. Er ist kein schlechter Mensch – ich kenne ihn von Indien her, und ich glaube, daß er Ihnen auch ganz gut gefallen wird.«

 

Offensichtlich waren sie von der Rückseite zu dem Gehöft gekommen, denn das einzig sichtbare Tor, das ins Haus führte, war verschlossen und verriegelt.

 

Er klopfte einige Male, bis eine Frau mit einer häßlichen, harten Stimme fragte, wer da sei. Kurz darauf wurden die verrosteten Riegel zurückgeschoben, und eine große, hagere Frau erschien in der Türöffnung. Sie trug ein verblichenes Kattunkleid, ihr Gesicht war bleich und abstoßend. »Kommen Sie herein, Sir«, sagte sie und trat in den dunklen Korridor.

 

In dem Haus roch es muffig und schlecht. Der alte Teppich auf dem Boden war so dünn, daß ihre Schritte hohl klangen.

 

»Der Doktor ist hier.« Die Frau wischte sich die Hände mechanisch an ihrer schwarzen Schürze ab und führte sie in einen Raum, der an den Vorplatz stieß.

 

Das Zimmer war so schmutzig wie das ganze Haus. Auf einem Sofa schlief zusammengekauert ein Mann, der in einen alten Schlafrock gehüllt war. Ein übler Geruch von Rauch und Whisky lag über dem Raum und schreckte Lois zurück.

 

Chesney ging hinter ihr her und rüttelte den Schlafenden auf.

 

»Wach auf!« sagte er barsch. »Es ist jemand gekommen, der dich sprechen will.«

 

Tappatt fuhr in die Höhe. Wenn er schon am hellen Tag am ehester Square unleidlich war, so war er jetzt unausstehlich.

 

»Was ist los?« brummte er. Er stand langsam auf und reckte sich. »Ich bin müde; ich sagte dir doch, daß ich schlafen will. Du hast mir versprochen, eher zu kommen. Sie schläft, und ich wette, daß sie diese Nacht ein besseres Bett hatte als in den letzten zwanzig Jahren.«

 

»Halt den Mund, verdammter Kerl!« sagte Chesney leise zu ihm. »Miss Reddle ist hier.«

 

Der Doktor blinzelte, dann erkannte er das Mädchen.

 

»Hallo – freue mich, Sie zu sehen, Fräulein. Schade, daß Sie mich so überraschen, aber ich war schon die ganze Nacht auf – war beschäftigt mit einem Patienten –« Er sprach das letzte Wort besonders laut aus, als ob er ihm durch die Betonung mehr Überzeugungskraft geben könnte.

 

»Nun hör mal zu, Tappatt. Es ist ein Haftbefehl gegen die Dame erlassen worden, aber es ist uns gelungen, sie aus dem Polizeirevier zu befreien. Sie soll ein paar Tage hierbleiben, bis Lady Moron die Sache in Ordnung bringen kann.«

 

Lois erschrak.

 

»Was – ein Haftbefehl gegen mich?« fragte sie entsetzt. »Sie sagten mir doch, daß Dorn kein Recht hatte, mich festzunehmen?«

 

Er lächelte und gab ihr ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten.

 

»Hat die Frau das Zimmer für Miss Reddle fertiggemacht? Sie ist sehr müde und möchte gern schlafen.«

 

»Sicher, sicher!« murmelte der Doktor. Er versuchte, aus einer Flasche einzuschenken, aber zu seiner unangenehmen Überraschung war die Flasche fast leer, es kamen nur noch ein paar Tropfen heraus. »Ich muß etwas trinken«, brummte er. »Das Fieber hat mich wieder gepackt.«

 

»Mr. Praye, mir ist die Lage nicht ganz klar. Warum bin ich hier? Wo liegt dieses Gehöft?« fragte Lois.

 

»In der Nähe von Nottingham«, antwortete Chesney. »Und um Himmels willen, verlassen Sie das Haus bloß nicht! Das könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Aber es ist ja alles in Ordnung – Sie brauchen nur ein paar Tage hier zu bleiben; ich versichere Ihnen, daß kein Grund zur Beunruhigung vorhanden ist.«

 

Er sah nach der Uhr und wurde ungeduldig.

 

»Ist das Zimmer für Miss Reddle fertig?« fragte er jetzt scharf.

 

Der Doktor ging hinaus, den Gang entlang und stieg eine schmale Treppe empor. Oben auf dem Absatz schloß er eine Tür auf.

 

»Hier ist das Zimmer.«

 

»Aber ich bin nicht müde, Mr. Praye – tatsächlich, ich war noch niemals so wach. Ich würde lieber aufbleiben. Könnte ich vielleicht etwas Tee bekommen?«

 

»Sie können alles bekommen, was Sie wünschen, mein Kind«, sagte der Doktor höflich. »Wo steckt denn bloß diese Frau? He, Sie!« Er brüllte die Treppe hinunter. »Bringen Sie dieser Dame etwas Tee – und zwar schnell, so schnell wie möglich!«

 

Lois ging in das Schlafzimmer. Es war nur ärmlich, aber sauber möbliert, und sie hatte den Eindruck, daß alle Einrichtungsgegenstände erst in letzter Minute dorthin gekommen waren.

 

»Dieses Zimmer hatten wir eigentlich für die andere fertiggemacht«, sagte Tappatt, »aber als ich hörte, daß die junge Dame kommen würde –«

 

Chesney Praye sah ihn scharf an, und er schwieg.

 

Die andere – schon zweimal hatte er eine Person erwähnt, die bereits hier sein sollte.

 

»Die andere Tür führt zu einem Badezimmer«, erklärte der Doktor. »Es ist der netteste kleine Landsitz, den Sie finden können.«

 

Er schloß die Tür hinter ihr und drehte leise den Schlüssel um. Die beiden Männer gingen zusammen die Treppe hinunter. Als sie allein in dem Zimmer des Doktors waren, fragte Chesney Praye: »Wo ist Mrs. Pinder?«

 

»Die ist gut aufgehoben«, sagte der andere nachlässig.

 

»Sie ist aber doch nicht hier in der Nähe des Mädchens?«

 

»Nein, im anderen Flügel – mit der kann man leicht umgehen. Zwanzig Jahre Gefängnisdisziplin brechen den Eigenwillen. Die wird keine großen Schwierigkeiten machen!«

 

»Was hast du ihr denn gesagt?«

 

»Die Geschichte, die du mir erzähltest, daß jemand hinter ihr her ist und sie sich hier ein oder zwei Tage aufhalten soll. Meine Haushälterin wird schon nach ihr sehen, sie hat früher eine meiner Anstalten in Indien betreut.«

 

Chesney sah wieder auf die Uhr.

 

»Es sind vier Meilen bis zum Whitcomb-Flugplatz – du kannst mich dorthin fahren.«

 

»Warum nimmst du denn nicht das Auto?«

 

»Weil ich nicht will, daß der Wagen gesehen wird, du Dummkopf! Beeile dich gefälligst!«

 

Fünf Minuten später war ein starkknochiges Pony an einen alten Dogcart angeschirrt. Das blaue Auto brachten sie in einen Schuppen und schlössen die Tür zu. Dann fuhren sie die Straße nach Whitcomb entlang, so schnell das alte Tier nur laufen konnte. Eine Viertelstunde vor dem Flugplatz stieg Chesney ab.

 

»Die beiden Frauen dürfen einander nicht begegnen –« »Das werden sie auch nicht«, unterbrach ihn der andere.

 

»Es ist besser, du bleibst im Haus und siehst nach dem Rechten.«

 

»Wie steht es denn mit Geld?« fragte der Doktor.

 

Chesney nahm ein paar Banknoten aus der Tasche und gab ihm zwei davon.

 

»Versuche, wenigstens die nächste Woche nicht zu trinken – du hast Aussicht, viel zu verdienen, Tappatt. Aber es ist auch möglich, daß du gefaßt wirst. Wenn Dorn auch nur entfernt auf unsere Spur kommt, kannst du sicher sein, daß er dich faßt, bevor du es ahnst.«

 

Tappatt grinste.

 

»Weshalb soll man etwas gegen mich haben?« fragte er. »Sie kamen doch beide freiwillig zu mir – ich behaupte ja gar nicht, daß man schon ein Gutachten über sie abgegeben hat.«

 

»Aber es könnte doch sein, daß die beiden auch freiwillig wieder gehen wollten«, sagte Praye bedeutungsvoll.

 

Dann ging er schnell durch die großen Tore des Flugplatzes und eilte quer über den Rasen zu einem zweisitzigen Sportflugzeug, bei dem drei Leute standen.

 

»Guten Morgen – ich bin Mr. Stone«, sagte er. »Ist das mein Flugzeug?«

 

»Ja, Sir. Sie haben einen selten klaren Morgen für Ihre Reise.«

 

Praye schaute zweifelnd auf die leichte, zerbrechliche Maschine.

 

»Können Sie mit dem Ding ohne Zwischenlandung nach Paris fliegen?«

 

Der Kommandant des Flugplatzes nickte.

 

»Sie sind in zwei Stunden fünfzig Minuten dort – vielleicht auch schneller, Sie haben Rückenwind.«

 

Er half dem Passagier in einen schweren Lederrock. Der Pilot hatte seinen Platz schon eingenommen. Praye legte noch warme Handschuhe an, und man gab ihm letzte Instruktionen. Der Propeller surrte, das Flugzeug rollte leicht über den Rasen, erhob sich dann in den blauen Himmel und verschwand als kleiner weißer Punkt über dem östlichen Horizont.

 

Kapitel 13

 

13

 

»Du bist wirklich ein ganz unnützer Junge«, sagte Lady Moron noch einmal, wischte das Messer mit ihrem Taschentuch ab und beschäftigte sich wieder damit, den Bleistift anzuspitzen. »Geh in dein Zimmer und spiel mit deinen elektrischen Batterien.«

 

Der junge Mann keuchte vor Furcht, drehte sich plötzlich um und rannte aus dem Zimmer. Sein Gesicht war mit Blut besudelt.

 

Ein tödliches Schweigen folgte, dann schaute die Gräfin auf.

 

»Sie denken vermutlich, daß ich eben etwas Entsetzliches getan habe, aber Selwyn macht manchmal furchtbare Schwierigkeiten und ist so eigensinnig und trotzig, daß ich ihm gegenüber meinen Willen durchsetzen muß – es ist nur zu seinem eigenen Besten. Er ist nicht mehr verletzt, als wenn er sich mit seinem Rasiermesser gründlich geschnitten hätte.«

 

Die Kaltblütigkeit, mit der sie dies alles sagte, versetzte Lois in atemlosen Schrecken. Sie konnte kaum glauben, daß dies alles nicht nur ein fürchterlicher Traum war. »Es war sehr – ungewöhnlich«, erwiderte sie nach einer Pause. Das Sprechen fiel ihr schwer.

 

Wieder trafen sie die dunklen Augen der Gräfin.

 

»Ungewöhnlich? Ja. Dr. Tappatt wünscht, daß ich ihm gegenüber so ungewöhnlich auftrete und noch härter mit ihm verfahre. – Haben Sie Ihre Freundin gesprochen?«

 

»Ja«, sagte Lois, die froh war, daß nicht mehr von der Sache gesprochen wurde.

 

»Wird sie kommen? Wie nett von ihr. Wie ich Ihnen schon heute morgen sagte, Miss Reddle, fürchte ich mich. Ich vermute, daß Sie den Grund nicht ahnen, selbst nachdem Sie Zeugin dieses belustigenden, kindischen Benehmens des jungen Grafen waren.«

 

Lois hatte wirklich keine Ahnung, was es sein mochte, und schwieg vorsichtig. Die Gräfin erwähnte die Szene auch nicht weiter, und als Lord Moron später zum Mittagessen mit einem großen Verband um sein Gesicht erschien, nahm seine Mutter keine Notiz von ihm und sagte nur am Schluß der Mahlzeit: »Komm doch bitte nicht in solchem Aufzug zum Essen, Selwyn, man könnte sich sonst einbilden, du hättest ein Erdbeben mitgemacht.«

 

»Jawohl Mutter«, antwortete er bescheiden.

 

Der Umzug war vorgenommen, und Lois bewohnte nun ein prachtvolles Zimmer, das ein Staatsraum eines königlichen Palastes hätte sein können. Auch das zweite Bett war aufgestellt. Als die Stunde von Lizzys Ankunft herankam, fühlte sich Lois sehr erleichtert, und die bösen Gedanken, die sie bedrückt hatten, verschwanden. Die Gräfin speiste wieder außerhalb, hatte aber strikte Anweisung gegeben, daß ihr Sohn beim Abendessen zugegen sein solle. Bevor sie fortfuhr, ließ sie Lois zu sich rufen.

 

»Wenn Sie Selwyn unterhalten können, so tun Sie es bitte. Er ist ein ganz guter Gesellschafter, wenn man versteht, sich seiner kindlichen Auffassung anzupassen. Möglicherweise wird es Ihrer Freundin leichter fallen als Ihnen.«

 

Lois erschrak beinahe über diese Worte.

 

Lizzy kam pünktlich um sechs und brachte eine vollgepackte schwarze Handtasche mit, die auch ihr ›Hof- und Krönungskleid‹ enthielt, wie sie es nannte. Aber Lois jagte ihr keinen geringen Schrecken ein. »Weißt du auch, daß du heute abend mit Lord Moron speisen wirst?« fragte sie.

 

Lizzy sank vollständig aufgelöst in einen Stuhl.

 

»Das kann ich nicht – das will ich nicht!« rief sie energisch. »Ich wußte schon, daß irgend etwas im Hintergrund lauerte!«

 

Lois beschwichtigte ihre Aufregung und Furcht, und obwohl sie nicht dem Beispiel der Dienstboten folgen und schlecht von dem Grafen sprechen wollte, beruhigte sie ihre Freundin doch so weit, daß sie weder in Ohnmacht fiel noch davonlief, als ihr der junge Graf vorgestellt wurde.

 

Er stand im Wohnzimmer mit dem Rücken gegen den Kamin und hatte eine Zigarette im Mund, als die beiden Mädchen in das Zimmer traten. Lois zog ihre Freundin mit sich. Selwyn gab ihr leicht die Hand.

 

»Es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen. Sehr schönes Wetter heute«, sagte er. Dann wandte er sich liebenswürdig an Lois: »Ist die Gräfin fort? Dieser schreckliche Vagabund Praye hat sie vorhin angerufen.«

 

Lois erinnerte sich an die Szene, die sie gegen ihren Willen miterlebt hatte. Sie dachte auch an das Verhalten Mr. Chesney Prayes der Gräfin gegenüber, das ihr bis dahin noch unerklärlich erschienen war, das sie jetzt aber verstand. Er war der Gräfin also viel mehr als nur ein Ratgeber in finanziellen Dingen. Offensichtlich hatte er sie auch in Herzensangelegenheiten unterwiesen, obwohl Lois sich nur schwer vorstellen konnte, daß diese herrschsüchtige Frau auch zärtlich sein konnte.

 

»Ein fürchterlicher Kerl«, sagte der junge Graf energisch. Lois erkannte, daß sein Widerstand noch lange nicht gebrochen war. »Dieser ekelhafte, betrunkene Doktor ist entsetzlich, aber Chesney Praye ist noch viel schlimmer. Ich nenne ihn nur einen Raubvogel ist das nicht ein ganz guter Witz? Denken Sie, Chesney ist ein Raubvogel!«

 

Er lachte leise und kam offensichtlich unter dem Einfluß seines eigenen Humors in Stimmung.

 

Zum zweitenmal wurde dieser merkwürdige Doktor erwähnt. Lois war gespannt, ob sie ihn auch kennenlernen würde.

 

»Ich bin froh, daß sie mit ihrem Raubvogel fort ist. Wir wollen jetzt ins Speisezimmer gehen und essen.«

 

Lizzy machte ein erstauntes Gesicht, als sie diese wenig vornehme und auch ihr vertraute Sprache hörte. In diesem Augenblick begann sie, sich für den höheren Adel zu interessieren, und dieser Umstand sollte ihr Leben noch schicksalhaft beeinflussen.

 

Die Stimmung bei Tisch wurde sehr fröhlich, und Lois erinnerte sich nicht, jemals in so lustiger Gesellschaft gewesen zu sein. Auch für den jungen Grafen war es sicher ein sehr vergnügter Abend, denn er brachte seinen Witz von dem Raubvogel mindestens ein halb dutzendmal an und freute sich jedesmal mehr darüber.

 

»Zuerst habe ich den Witz gar nicht verstanden«, sagte Lizzy, die Tränen lachte.

 

»Die Sache ist doch sehr einfach«, erklärte er eifrig. »Er heißt doch Praye, und prey bedeutet doch Raub. Deswegen nenne ich ihn Raubvogel; das ist doch ein guter Witz – finden Sie nicht? Wir wollen Dame spielen – ich bin ein Meister darin.«

 

Lois ließ sich diese gute Gelegenheit nicht entgehen, ihn besser kennenzulernen, und war klug genug, sich allerhand Informationen von ihm geben zu lassen. Sie erfuhr, daß er zwei Jahre lang die berühmte Public School von Harrow besucht hatte – dann hatte ihn seine Mutter herausgenommen. Er hatte den Aufenthalt in der Schule nicht ertragen können, es war ihm dort zu roh. Und seit der Zeit war er tatsächlich nicht von seiner Mutter fortgekommen. Er war auch Mitglied irgendeines Klubs, aber er wußte nicht, welcher Klub das war, auch war er niemals dort gewesen.

 

»Sind Sie verheiratet?« fragte Lois kühn.

 

Die Frage verursachte ihm unheimliches Vergnügen.

 

»Ich verheiratet? Großer Gott, nein! Wer würde denn so einen alten, verrückten Kerl wie mich heiraten wollen? Nein, meine Liebe – allerdings gab es mal eine junge Dame, die mich heiraten wollte, aber meine Mutter gab unter keinen Umständen ihre Zustimmung.«

 

Er hatte niemals irgendeine verantwortliche Stellung eingenommen. Seine Mutter verwaltete seine großen Güter mit Hilfe hoher Beamter und Rechtsanwälte. Von Zeit zu Zeit wurden ihm Dokumente vorgelegt, die er unterschreiben mußte. Dann war er auch einmal im Oberhaus gewesen, um den ihm angestammten und ererbten Sitz einzunehmen.

 

»Aber nie wieder gehe ich dahin – es ist zu verrückt!« sagte er. »Man muß einen roten Samtmantel anlegen und so eine Art Krone aufsetzen!«

 

Später entdeckte Lois zu ihrem großen Erstaunen, daß er eine Liebhaberei hatte, und plötzlich wurden ihr auch die Sticheleien seiner Mutter über seine elektrischen Batterien verständlich. Er hatte eine Leidenschaft für elektrische Maschinen und Apparate. In seinem Arbeitszimmer standen Modelle von Dynamos, elektrischen Eisenbahnen, Batterien und so weiter.

 

»Ich habe eine sehr nette Arbeit für die Gräfin in der Bibliothek geleistet – fragen Sie sie nur, sie wird es Ihnen zeigen.« Er machte ein ernstes Gesicht. »Aber besser, Sie fragen nicht«, sagte er dann schnell.

 

Die Beschäftigung mit elektrischen Dingen war jedoch nicht nur ein Vergnügen und eine Spielerei für ihn. Stolz erzählte er, daß er die Klingelleitung im ganzen Haus selbst angelegt habe. Lois konnte sich später überzeugen, daß seine Angaben stimmten. Lizzy, die zuerst vor seinem hohen Adelstitel in Ehrfurcht erstarb, war bald mit ihm vertraut.

 

»Ich habe mich noch nie so gut amüsiert, wie heute abend«, sagte der junge Graf. Vorher hatte er schon verschiedene Male nervös nach der Uhr gesehen. »Jetzt werde ich aber losziehen, bevor die Gräfin nach Hause kommt.«

 

Er verschwand schnell, und die beiden Mädchen gingen in die Halle. Braime stand vor der Haustür und schaute durch die Glasscheiben auf die Straße.

 

»Gute Nacht, gnädiges Fräulein«, sagte er respektvoll. Dann schaute er wieder aufmerksam nach draußen.

 

»Ich mag den Mann nicht«, sagte Lizzy, als sie in ihrem Zimmer waren.

 

»Braime? Ich konnte ihn zuerst auch nicht leiden, aber ich verdanke ihm so viel. Wenn er mir letzte Nacht nicht geholfen hätte –«

 

»Wie ist er aber dorthin gekommen – das ist die Frage«, meinte Lizzy. »Er muß schon im Zimmer gewesen sein, als der Balkon einstürzte, denn ich fühlte sofort, daß mich jemand beiseite zog.«

 

»Was hältst du eigentlich von Lord Moron?« fragte Lois, die das Gespräch gern auf einen angenehmeren Gegenstand bringen wollte.

 

»Oh, er ist sehr nett«, sagte Lizzy verträumt. »Als du mir zuerst von ihm erzähltest, dachte ich, er sei ein wenig dumm. Aber der junge Mann hat doch Verstand!«

 

Plötzlich klopfte es an die Tür.

 

Lois lag schon im Bett, und Lizzy, die zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, um sich schnell auszuziehen, war gerade so tief im Negligé, daß sie sich nicht zeigen konnte.

 

»Wer ist da?« fragte Lois.

 

»Ich bin es, meine Damen. Kann ich hereinkommen?«

 

Sie erkannten die Stimme des jungen Lord Moron.

 

Kapitel 14

 

14

 

»Das ist leider unmöglich – wünschen Sie irgend etwas?«

 

»Ja, ich habe etwas vergessen«, sagte er aufgeregt.

 

»Kann ich es Ihnen nicht herausreichen?« fragte Lois, die an die Tür gegangen war.

 

»Nein, ich fürchte, das geht nicht. Es ist – ja, es ist –« Seine Stimme erstarb in einem undeutlichen Murmeln. Dann sprach er wieder: »Also, es tut mir leid, ich vermute nicht – ich wollte nur sagen, lassen Sie sich nicht durch irgend etwas erschrecken. Ich – ich meine, sagen Sie der Gräfin nichts, wenn Ihnen etwas verwunderlich erscheinen sollte –«

 

Lois schüttelte verständnislos den Kopf.

 

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wenn ich Ihnen irgend etwas herausreichen kann, tue ich es gern.«

 

Aber es kam keine Antwort mehr, er war anscheinend schon gegangen. Lizzy, die immer praktisch und robust war, meinte, er hätte seine falschen Zähne vergessen. »Und er ist so schüchtern und wohlerzogen, daß er das einer Dame nicht zu sagen wagt.«

 

Aber Lois war mit dieser Erklärung nicht einverstanden.

 

Lizzy ließ sich durch die Pracht und den Prunk nicht im mindesten beeinflussen und schlief sofort ein. Aber Lois blieb vollkommen wach. Sie hörte die Uhren im Haus jede Viertelstunde schlagen. Sie änderte ihre Lage und drehte sich auf die andere Seite, sie zählte von eins bis tausend und versuchte alle bekannten Mittel, um einzuschlafen, aber um halb zwei war sie noch immer munter. Ein Auto hielt draußen vor dem Tor – sicher kam Lady Moron jetzt nach Hause.

 

Lois lag in einem Himmelbett, und vielleicht war es dieser ungewöhnliche Umstand, der sie nicht einschlafen ließ. Sie starrte auf den kaum sichtbaren seidenen Thronhimmel über ihr und überlegte sich, daß sie vielleicht besser schlafen würde, wenn sie sich auf das große Sofa legte, das quer vor dem Bett stand. Das tiefe Atmen Lizzys störte sie auch. Sie richtete sich eben auf, um ihr Kissen zu nehmen, als sie plötzlich jemand sprechen hörte.

 

»Hat sie die Fotografie erkannt?«

 

Es war die Stimme Chesney Prayes, und sie kam aus der Seidendraperie des Baldachins! Es klang, als ob sich jemand oben versteckt hätte und von dort aus spräche. Die Worte waren sehr deutlich und klar.

 

»Nein«, hörte sie plötzlich die tiefe Stimme der Gräfin. »Ich legte sie in die Schublade, bevor sie kam.«

 

Es entstand eine Pause.

 

»Das war eigentlich etwas riskant.«

 

Lady Moron lachte laut.

 

»Ich habe heute abend sicher mehr riskiert, Chesney.«

 

»Aber, liebe Leonora, du kannst mir vertrauen.« Die Antwort klang gedrückt.

 

»Ja, das muß ich wohl«, kam die vorsichtige Stimme der Gräfin von oben her. »Und ich denke, du wirst verständig genug sein, keinen Unsinn zu machen. Selwyn quält mich.«

 

»Ach was, Selwyn!« sagte er verächtlich.

 

»Selwyn weiß mehr, als ich für möglich hielt. Woher mag er wohl erfahren haben, daß wir heiraten wollen? In seiner Wut sagte er es heute. Und woher weiß er, daß ich dir Geld geliehen habe?«

 

»Komm in den Speisesaal.«

 

Eine Türklinke wurde niedergedrückt, und Lois hörte Braimes Stimme in weiter Entfernung.

 

»Es ist serviert, Mylady.«

 

Dann war alles still.

 

»Was war das? Hat jemand gesprochen?« Lizzy war aufgewacht. »Hast du etwas gesagt, Lois? Ich hörte etwas vom Geldleihen.«

 

Lois war aufgestanden und hatte die kleine Taschenlampe angedreht, die neben ihrem Bett stand. Erschrocken schaute sie nach dem Thronhimmel, der wie alle solche Draperien einen schweren, vornehmen Eindruck machte. Lois kam plötzlich der Gedanke, daß die Tür aufgestanden habe. Aber es gab nur eine einzige, die auf den Korridor führte, und die war bestimmt zugeschlossen.

 

Lizzy warf schnell ihren Morgenrock über.

 

»Sag doch, Lois, was war das?«

 

»Ich weiß nicht, ich hörte jemand sprechen. Es muß hier im Raum gewesen sein.«

 

»Ich hörte, daß die Stimme von deinem Bett herkam«, sagte Lizzy. »Großer Gott, das ist ein merkwürdiges Haus. Ich liebe so was nicht, Lois. Da ist mir der alte Mackenzie mit seiner Fiedel noch lieber!«

 

Lois Reddle hob die Lampe und stieg in ihr Bett. Als sie die Falten der Draperie genauer untersuchte, stieß sie plötzlich einen Ruf des Erstaunens aus. Oben in einer Ecke sah sie ein schwarzes Stück Ebenholz, das die Form einer Glocke hatte und von zwei Drähten gehalten wurde. Zuerst glaubte sie, es sei der Schalltrichter eines Telefons, aber dahinter war ein flacher, runder Kasten mit Drähten in dem Thronhimmel befestigt.

 

»Von dort kamen die Worte – es ist ein Lautsprecher!«

 

Als sie weitersuchte, fand sie auch den Draht, der sorgfältig in den Falten verborgen und an einem der Bettpfosten heruntergeleitet war. Dann entdeckte sie an der Wand hinter dem Bett einen Schalter. Das Geheimnis war also aufgeklärt, jetzt verstand sie die Aufregung Lord Morons und sah, daß seine elektrotechnischen Kenntnisse ernst zu nehmen waren. Auf diese Weise belauschte er wahrscheinlich seine Mutter. Irgendwo im Haus, wahrscheinlich irrt Salon, hatte er versteckt ein Mikrophon angebracht, und nun war ihm zu spät eingefallen, daß der Apparat nicht abgestellt war. Lady Moron war verwundert, woher ihr Sohn ihre Geheimnisse wissen konnte. Lois hätte sie jetzt aufklären können.

 

»Was für ein schlauer Kerl!«, sagte Lizzy bewundernd. »Das hat er nun alles selbst angelegt! Ich sagte dir ja schon, der junge Mann hat Verstand. Was hast du denn gehört, Lois?«

 

Aber Lois war nicht dazu aufgelegt, ihrer Freundin ihre Erlebnisse mitzuteilen. Sie stellte den Apparat ab, ließ Lizzy wieder zu Bett gehen und folgte dann ihrem Beispiel.

 

Wessen Fotografie mochte man in ihr Zimmer gelegt haben? Was hatte Lady Moron riskiert? Sie erinnerte sich an das Bild des hübschen jungen Offiziers, der für die Gräfin ein junger Mann war, den sie früher einmal gekannt hatte.

 

Ihre Neugierde war erwacht, und sie wollte mehr hören. Sie stand auf und schaltete den Apparat wieder ein. Es war ihr bewußt, daß sie etwas Ungehöriges tat, aber es war so viel geschehen, das lebenswichtiges Interesse für sie hatte, daß sie sich über diese Anstandsregeln hinwegsetzte. Sie hörte im Augenblick nichts mehr, aber es war ja möglich, daß sie nach dem Essen noch einmal in den Raum zurückkehrten. Vielleicht würde das langweilige Warten ihr den Schlaf bringen, der sie bis jetzt geflohen hatte.

 

Es schlug drei Uhr, halb vier und schließlich halb fünf. Die erste leichte Dämmerung zeigte sich schon durch die Fenster, und Lois war beinahe eingeschlafen, als sie plötzlich einen schwachen Laut vernahm und sofort aus ihrem Kissen wieder in die Höhe fuhr.

 

Klick! Klick!

 

Es war ein Geräusch, als ob jemand das Licht im Salon andrehte. Sie wartete gespannt, ob sie wieder etwas hören würde. Zuerst kam ein unbestimmtes Flüstern, und dann tönten die klaren Worte an ihr Ohr: »Lois Reddle schwebt in großer Gefahr!«

 

Sie kannte die Stimme und konnte sich auch den Sprecher gut vorstellen. Es war Michael Dorn!