Kapitel 14

 

14

 

Wentworth Gold kehrte Ende Mai nach England zurück. Er hatte seine Angelegenheiten aufs beste geordnet; seine Vorgesetzten sahen jetzt endlich ein, wie schwierig seine Aufgabe war, und behandelten ihn äußerst zuvorkommend.

 

Helder war ihm während seines Aufenthalts in Washington nicht begegnet. Er wußte auch nicht, daß Helders Besuch einen sehr dringenden Grund hatte. Die große Falschmünzerorganisation war durcheinandergeraten. Nachrichten, nach denen die dringende Gefahr der Entdeckung bestand, hatten alarmierend gewirkt, und es wurde jetzt versucht, die Arbeitsmethoden von Grund auf zu ändern.

 

Helder fuhr einige Tage früher als Gold zurück.

 

Auf der Rückreise nach England hatte Gold genügend Zeit, über Comstock Bell und dessen Frau nachzudenken. Die amerikanischen Zeitungen, die sich in großer Aufmachung mit dem Fall beschäftigt hatten, waren nicht zuletzt die Ursache gewesen, daß er jeden Tag an seinen merkwürdigen Freund erinnert wurde.

 

Vor allem war es der Fund, den Gold in Comstocks Haus am Cadogan Square gemacht hatte, an dem er herumrätselte. Es handelte sich um die Papphülle des Cookschen Reisebüros. Zwei Fahrkartenhefte waren darin gewesen, auf denen jeweils nur die Billetts von London nach Dover und von Dover nach Calais fehlten. Für die übrige Reise bis nach Wien waren noch alle Fahrkarten vorhanden. Nun wäre es ja möglich gewesen, daß Bell die Fahrkarte nach Dover und die Schiffskarte nach Calais vorher herausgenommen und die übrigen Fahrkarten zu Hause liegengelassen hätte. Seltsamerweise aber war die Karte von Calais nach Amiens gelocht, und das wiederum stand im Gegensatz zu der Vermutung, daß Bell die Fahrkarten bei seiner Abreise vergessen hatte.

 

Gold erwartete mit Sicherheit, bei seiner Ankunft in London zu erfahren, daß Comstock Bell von seiner Hochzeitsreise zurückgekehrt sei – sehr erstaunt war er, statt dessen einige Briefe von ihm vorzufinden. Einer war in Paris am Tag nach der Ankunft des Brautpaares aufgegeben worden, ein anderer, auf das Briefpapier des Swizerhof-Hotels geschrieben, kam aus Luzern. In beiden Briefen berichtete Bell von der Reise, erzählte von kleinen Erlebnissen, beschrieb das Wetter, und drückte die Hoffnung aus, daß es in London besser sei. Der dritte Brief stammte aus Wien und machte das Geheimnis nur noch undurchsichtiger. Vor allem stand in keinem der Schreiben ein Wort über den Verlust der Fahrkarten – und gerade über solche kleinen Unannehmlichkeiten ärgern sich Reisende für gewöhnlich, selbst wenn sie noch so reich sind.

 

Gold mußte sich eingestehen, daß er die Zusammenhänge in keiner Weise verstand. Er wußte nicht mehr ein noch aus. War es möglich, daß diesmal sein kriminalistischer Spürsinn so versagt hatte? Er mußte Licht in diese dunkle Angelegenheit bringen! Und es war ihm dabei ganz gleichgültig, daß er mit Comstock Bell befreundet war – er wäre der Sache jetzt nachgegangen, auch wenn es sich um seinen eigenen Bruder gehandelt hätte.

 

Am Tag nach seiner Ankunft erhielt Gold einen Brief von Scotland Yard, in dem er aufgefordert wurde, zu Chefinspektor Symons zu kommen.

 

Dieser Beamte galt als äußerst tüchtig. Er war ein hagerer, großer Mann mit einer beginnenden Glatze. Seine blauen Augen konnten so durchdringend blicken, daß schon mancher Verbrecher vor ihnen kapituliert hatte.

 

Als Gold das Büro des Chefinspektors betrat, begrüßte ihn der Beamte freundlich und schob ihm einen Stuhl hin.

 

»Setzen Sie sich bitte Mr. Gold«, sagte er. »Ich habe nach Ihnen geschickt, weil ich Sie bitten möchte, uns bei dieser Comstock-Bell-Affäre zu helfen. Die Zeitungen können sich ja nicht beruhigen – und sie würden noch sensationellere Überschriften drucken, wenn sie das wüßten, was wir wissen.«

 

Gold trat ans Fenster und schaute auf das Themseufer.

 

»Ich kann eigentlich nicht ganz einsehen«, sagte er dann ein wenig ärgerlich, »warum man so viel Wesens um die Sache macht.«

 

Der Beamte lächelte ironisch.

 

»Kommt Ihnen denn an der Geschichte nichts seltsam vor?«

 

»Natürlich, sie ist recht merkwürdig – aber auf was wollen Sie hinaus?«

 

»Bringen Sie Bells Verschwinden nicht auch noch mit anderen Dingen in Zusammenhang, die gerade Sie sehr viel angehen?«

 

»Sie denken an die Banknotenfälschungen?« fragte Gold überrascht. »Nein – warum denn?«

 

»Für gewöhnlich halte ich nicht viel von anonymen Briefen«, entgegnete Symons nachdenklich, »aber die Briefe, die ich kürzlich in dieser Angelegenheit erhielt, gingen so ins Detail und enthielten so viel schlüssige Beweise; daß ich sie in gewisser Weise ernst nehmen muß. Es werden Vermutungen darin ausgesprochen, die man nicht von der Hand weisen kann.«

 

»Zum Beispiel?« fragte Gold.

 

»Ist es vielleicht nicht merkwürdig, daß ausgerechnet die beiden Menschen, die das Mittel zur Entdeckung der Fälschungen kannten, spurlos verschwanden? Der eine war Maple …«

 

»Und der andere?«

 

»Natürlich seine Nichte.«

 

»Aber sie …«

 

»Sie kannte wahrscheinlich die Zusammensetzung der geheimnisvollen Flüssigkeit ganz genau. Es ist kaum anzunehmen, daß sie in demselben Haus wie ihr Onkel lebte, ohne von ihm ins Vertrauen gezogen worden zu sein. Und sieben Tage nach Maples Verschwinden heiratete Comstock Bell ausgerechnet Verity Maple – ein Mädchen, das ganz außerhalb seines Bekanntenkreises stand.«

 

Gold war betroffen.

 

»Es ist wirklich seltsam«, gab er zu, »aber vielleicht läßt sich doch eine einleuchtende Erklärung finden.«

 

»Das wünschte ich auch. Auf alle Fälle müssen wir der Sache nachgehen. Die Zeitungen berichten, daß das Paar London an seinem Hochzeitstag verlassen hat und auch in Paris eingetroffen ist – aber Mrs. Bell wurde doch gleichzeitig hier in London gesehen, nicht wahr?«

 

Er sah Gold scharf an.

 

Der Beamte nickte.

 

»Ja, sie war in London«, entgegnete er ernst.

 

Die Sache hatte sich jetzt so verwickelt, daß freundschaftliche Rücksichten auf Bell nicht mehr in Frage kamen.

 

»Wir haben also jetzt zwei Aufgaben vor uns«, meinte der Chefinspektor. »Einmal müssen wir den Aufenthaltsort von Verity Bell ermitteln und zum andern ihren Onkel wieder auffinden. Wenn wir wissen, wo sich die beiden aufhalten, sind wir bestimmt ein Stück weiter gekommen. Ich habe mir gedacht, daß es am besten ist, wenn wir Sie von allen unseren Schritten in dieser Angelegenheit unterrichten, und ich hoffe, daß wir mit Ihrer Mitarbeit rechnen können.«

 

Gold nickte höflich.

 

»Ich stehe selbstverständlich zu Ihrer Verfügung, nur muß ich Sie bitten, mir noch zwei Mitarbeiter zu überlassen.«

 

»Sie können so viel Leute haben, wie Sie brauchen«, entgegnete Chefinspektor Symons.

 

»Am besten schicken Sie die beiden zu mir nach Hause«. Ich möchte nämlich einen gewissen Helder beobachten lassen.«

 

»Helder?«

 

Symons runzelte die Stirn.

 

»Ja«, sagte Gold ruhig. »Er ist der Absender der anonymen Briefe.«

 

Der Chefinspektor schaute seinen Besuch einen Augenblick lang erstaunt an, dann begleitete er ihn bis zur Tür und verabschiedete sich von ihm.

 

Gold trat auf die belebte Straße hinaus. Er hatte jetzt einen bestimmten Plan und wollte keine Zeit verlieren, ihn auszuführen. Die beiden Beamten würden bestimmt gut auf Helder aufpassen. Aber Comstock Bell – sollte er tatsächlich auch mit dieser Falschmünzerbande in Verbindung stehen? Gold verzog grimmig den Mund.

 

Er gab eine Reihe von Telegrammen auf, und seine Agenten, die an allen möglichen Orten arbeiteten, schickten ihm nacheinander ihre Berichte.

 

Um neun Uhr abends verließ Gold seine Wohnung in Begleitung zweier Herren. Es blies ein scharfer Ostwind, und alle drei fröstelten, als sie rasch in eine Nebenstraße einbogen, wo ein Wagen auf sie wartete.

 

»Haben Sie den Haftbefehl?« wandte sich Gold an seinen Begleiter. Der Kriminalbeamte nickte.

 

»Ist es auch der Mann, den ich meinte?«

 

» Ja, Sir. Man konnte ihn nicht verwechseln. Er hat eine Narbe am Kinn und war offensichtlich betrunken. Ich folgte ihm von Soho zur Great Central Station. Dort traf er mit dem Amerikaner zusammen.«

 

»Und von dort aus sind Sie den beiden bis zu ihren Wohnungen nachgegangen?«

 

»Nein. Den Amerikaner haben wir aus den Augen verloren.«

 

Der Wagen fuhr jetzt die belebte High Street und die Comercial Road entlang. Als sie die Sidney Street hinter sich gelassen hatten, hielten sie in einer engen Straße.

 

»Ich habe absichtlich diese Stelle gewählt«, erklärte Gold, »weil hier der Bühnenausgang eines Konzertsaals ist, vor dem dauernd Autos parken.«

 

Der eine Beamte übernahm die Führung. Sie gingen an dem Bühnenausgang vorbei, bogen in eine andere Straße ein, überquerten sie und befanden sich dann in einer der verkehrsreichen Straßen des östlichen Stadtteils. Die Umgebung war armselig und wenig einladend. Obwohl es schon spät war, trieben sich noch eine Menge Kinder vor den Haustüren herum.

 

Die drei Männer erregten weiter keine Beachtung; Polizeibesuche waren in dieser Gegend ziemlich häufig.

 

Sie schritten schnell aus und kamen in ein Gäßchen, das noch ärmlicher und verfallener wirkte als die andern, die sie schon passiert hatten. Hier war kaum jemand zu sehen, nur ab und zu huschte eine dunkle Gestalt an den Häuserwänden entlang. Vor einer der Haustüren stand ein Mann, der offensichtlich auf sie wartete.

 

»Hier ist es«, sagte einer der Beamten.

 

Gold öffnete die Tür und trat ein, die anderen folgten dicht hinter ihm. Er hatte kaum einen Schritt gemacht, als ihm im Hausgang ein Mann begegnete.

 

»Was gibt’s?« fragte er argwöhnisch.

 

Gold leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht.

 

»Wo ist der Russe?« erkundigte er sich scharf.

 

»Eine Treppe hoch«, entgegnete der Mann bereitwillig. Offensichtlich war er froh, daß der Polizeibesuch nicht ihm galt.

 

»Nach vorn oder nach hinten?«

 

»Hinten hinaus. Gleich das erste Zimmer von der Treppe aus.«

 

Gold eilte hinauf, so schnell er konnte. Die Kriminalbeamten hielten sich hinter ihm.

 

Er hatte die Tür erreicht und versuchte, sie leise zu öffnen. Sie war verschlossen. Vorsichtig klopfte er, doch es meldete sich niemand. Erst als er mit der Faust dagegenschlug, hörte man jemand auf die Tür zuschlurfen.

 

»Wer ist draußen?« fragte eine rauhe Stimme.

 

Gold sagte etwas in einer Sprache, die die Beamten nicht verstanden.

 

Sie warteten gespannt. Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloß, und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet.

 

Gold stieß sie ganz auf und trat über die Schwelle. Auf den ersten Blick sah er, daß der Mann, den er suchte, vor ihm stand. Er erkannte ihn genau nach der Beschreibung, die Narbe am Kinn war nicht zu übersehen. Offensichtlich hatte er getrunken und wollte gerade seinen Rausch ausschlafen.

 

»Wer sind Sie?« fragte er und blinzelte in den grellen Strahl der Taschenlampe.

 

»Machen Sie Licht«, wandte sich Gold an einen Begleiter.

 

Der Beamte schaute sich im Zimmer um, entdeckte auf dem Tisch eine kleine Petroleumlampe und zündete sie mit einem Streichholz an.

 

Der Raum war nicht mehr als ein elendes Loch; außer einem schmutzigen Bett und einem Stuhl enthielt er nichts.

 

»Sie sind verhaftet«, sagte Gold auf russisch zu dem Mann. »Hände hoch, los!«

 

Der Lauf seiner Pistole zielte auf die Magengrube des Russen, und der hob widerwillig die Hände. Gleich darauf schnappten ein Paar Handschellen über seinen Handgelenken zusammen.

 

»Setzen Sie sich auf den Stuhl dort«, befahl Gold. »Wenn Sie uns alles erzählen, was Sie wissen, wird Ihnen nicht viel passieren.«

 

»Ich werde Ihnen nichts erzählen«, erwiderte der Mann verdrossen.

 

Sie durchsuchten den Raum gründlich und revidierten auch alle Taschen des Verhafteten. Leider fanden sie nichts, was ihnen irgendeinen Aufschluß hätte geben können – weder Briefe noch Papiere und selbst keine noch so kleine Notiz. Nur aus der hinteren Hosentasche zogen sie einen Browning heraus. Während der Untersuchung hatte sich einer der Beamten entfernt, und als Gold die Lampe ausblies und seinen Gefangenen nach unten führte, wartete schon der Wagen vor der Tür.

 

Schnell schoben sie den Russen hinein, und bevor noch die Bewohner der Little John Street merkten, was vorgefallen war, fuhr das Auto in westlicher Richtung davon.

 

Kapitel 15

 

15

 

Der Raum war groß und langgestreckt. Früher hatte eine Möbeltischlerei ihre Werkstatt darin untergebracht, doch jetzt saßen an kleinen Tischen und Pulten Leute, die im Schein starker Lampen fleißig und schweigsam arbeiteten. Vom einen Ende des Raumes hörte man durch eine Holzwand das eintönige Stampfen einer Maschine.

 

Die Leute, die hier beschäftigt waren, setzten sich fast ausschließlich aus Ausländern zusammen. Es waren Druckereifacharbeiter, Lithographen und Graveure, und sie beschäftigten sich mit Arbeiten, die es durchaus nicht nötig hatten, sich vor dem Auge des Gesetzes zu verbergen. Es handelte sich hauptsächlich um die Herstellung von Kunstdrucken, für die auf dem Kontinent eine verhältnismäßig große Nachfrage bestand.

 

Nachfrage bestand auch für die Produkte, die die kleine Maschine im Hintergrund in gleichmäßigen Abständen auswarf – es waren vollendet gedruckte Fünfdollarnoten.

 

Die Druckmaschine war kleiner als die üblichen Banknotenpressen, doch waren die Scheine, die sie lieferte, tadellos. Auch ein geübtes Auge konnte keinen Fehler an ihnen entdecken.

 

Ein untersetzter Mann saß auf einem Stuhl neben der Maschine. Er kaute auf dem erloschenen Stummel einer Zigarre herum, seinen weichen Filzhut hatte er in den Nacken geschoben, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben.

 

So lässig er dasaß, so scharf beobachtete er doch den Gang der Druckmaschine und jede Bewegung des Druckers, der die ausgeworfenen Scheine in kleine Bündel ordnete und sie dann sachgemäß mit einem Streifband versah. Als hundert solcher Bündel verpackt waren, legte der Mann auf dem Stuhl einen Schalter um, und die Maschine kam zum Stillstand.

 

»Genug für heute abend«, sagte er.

 

Mit einigen Handgriffen löste der Drucker die Platte, von der die Banknoten gedruckt worden waren, reinigte sie sorgfältig mit einer scharfriechenden Flüssigkeit und wickelte sie dann in Seidenpapier. Der Mann auf dem Stuhl streckte die Hand aus, nahm die Platte und steckte sie in seine Brusttasche. Er wartete noch, bis der Drucker eine Platte in die Maschine gespannt hatte, von der Etiketten für Lagerbier abgezogen wurden. Dann nahm er das übriggebliebene Banknotenpapier unter den Arm, schob die fertig gedruckten Noten in eine Aktentasche und öffnete die kleine Tür, die früher in das Büro des Möbeltischlers geführt hatte.

 

Dort schloß er einen Geldschrank auf, legte Banknotenpapier und Aktentasche hinein und verschloß die große Stahltür sorgfältig.

 

Von einem Tischchen nahm er eine Flasche Whisky und ein Glas. In letzter Zeit war er sehr nervös geworden. Verschiedentlich hatte es falschen Alarm gegeben, und besonders seit einigen Wochen mußte er ständig in der Furcht leben, daß die Polizei überraschend an die Tür klopfte.

 

Er goß sich einen kräftigen Schluck ein, trank aus und seufzte befriedigt. Morgen würden alle Banknoten sauber verpackt in zweihundert verschiedenen Briefumschlägen an die zweihundert Agenten in den Vereinigten Staaten abgeschickt werden, und so weiter jeden Tag dieser Woche.

 

Es war jetzt ein größerer Vorrat an Banknoten gedruckt worden, und die Platten würden trotzdem noch eine ganze Menge aushalten. Außerdem waren schon wieder neue in Vorbereitung, die einer der ersten Spezialisten auf diesem Gebiet graviert hatte – allerdings ganz gegen seinen Willen.

 

Er sah nach der Uhr – Viertel nach acht. Gemächlich schlenderte er durch den kleinen Maschinenraum zu der großen Werkstatt.

 

»Sie können für heute abend Schluß machen«, sagte er zu dem Meister, einem älteren Mann, der mit einer starken Lupe gerade eine Autotypie untersuchte.

 

Die Arbeitsstunden hier waren ganz unregelmäßig. Er richtete es immer so ein, daß die mit ehrlicher Arbeit beschäftigten Leute auch an ihren Pulten saßen, wenn die kleine Notenpresse in Betrieb war. Als weiteres Mittel, das dem ganzen Unternehmen einen harmlosen Anstrich geben sollte, diente die kleine Zeitung Helders, die in einem angrenzenden Nebengebäude gedruckt wurde.

 

Außer ihm und seinem Chef waren nur noch zwei Leute in das Geheimnis eingeweiht. Einer von beiden war der Drucker, der vormittags noch in einer anderen Stellung arbeitete. Er war ein verschwiegener Mann, auf den man sich verlassen konnte. Helder hatte ihn mit größter Sorgfalt ausgewählt.

 

Über den zweiten dagegen machte sich Tiger Brown Sorgen: Die Tatsache, daß dieser Mann ein Trinker war, hatte ihm schon manche schlaflose Nacht bereitet.

 

Es klopfte leise an die Hintertür des Büros, in das Brown inzwischen wieder zurückgegangen war. Tiger drehte das Licht aus und öffnete vorsichtig. Diese zweite Tür führte direkt in einen Schuppen und von dort ins Freie.

 

»Schon gut, ich bin’s.«

 

Mit diesen Worten trat Helder ein und schloß die Tür.

 

»Haben Sie bis jetzt gedruckt?«

 

»Vor zehn Minuten sind wir fertig geworden«, entgegnete Brown.

 

»Sehen Sie zu, daß Sie noch heute nacht alles fortsenden können.«

 

Helder war äußerst aufgeregt und nervös.

 

»Was ist denn los?« fragte Brown scharf.

 

»Ich weiß es selbst nicht genau«, war die mürrische Antwort. »Ich werde das Gefühl nicht los, daß mir jemand auf Schritt und Tritt folgt.«

 

»Dann ist es ausgesprochen blödsinnig, daß Sie hierherkommen«, fuhr Tiger ihn ziemlich respektlos an.

 

»Ich mußte aber noch heute abend mit Ihnen sprechen«, entgegnete Helder hastig. »Brown, die Sache wird im höchsten Grade brenzlig. Verbrauchen Sie so schnell wie möglich alles vorrätige Notenpapier, und vernichten Sie dann die Platten. Wir müssen die Druckerei hier schließen, verstanden?«

 

Tiger Brown nickte; offensichtlich fiel ihm ein Stein vom Herzen.

 

»Je eher, desto besser! Wir haben schon viel zu lange gewartet. Seitdem Iwan verhaftet worden ist, brennt mir der Boden unter den Füßen.«

 

»Verhaftet worden?« Helder taumelte fast. »Warum ist er verhaftet worden? Und wann ist das passiert?« Sein Gesicht war kreidebleich geworden, seine Hände zitterten. »Wenn er nicht die Klappe hält, sind wir verloren. Und es sollte mich wundern, wenn ihn Gold nicht zum Sprechen bringt! Wo ist er?«

 

»Das weiß ich selber nicht. Glauben Sie vielleicht, daß es zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört, in den einzelnen Polizeigefängnissen nachzufragen? Was seine Schweigsamkeit betrifft, so können wir übrigens ziemlich beruhigt sein. Reden tut er eigentlich nur, wenn er besoffen ist – und zu einem Rausch wird ihm die Polizei ja wohl kaum verhelfen.«

 

»Warum haben Sie mich denn nicht benachrichtigt?« fragte Helder und fluchte leise, »jetzt können wir nur hoffen, daß Iwan dichthält – dann kommen wir vielleicht noch einmal mit einem blauen Auge davon. Glücklicherweise ist die Polizei halb davon überzeugt, daß Comstock Bell mit der ganzen Geschichte zusammenhängt. Man sucht ganz Europa nach ihm ab! Und solange man hinter ihm her ist, läßt man uns hier hoffentlich in Ruhe.«

 

»Aber nehmen Sie doch einmal an, er taucht plötzlich wieder auf«, meinte Brown.

 

»Ich glaube kaum, daß das geschieht«, entgegnete Helder lächelnd. »Der Verdacht, den ich habe, scheint sich zu bestätigen; morgen werde ich mich vergewissern können, ob ich richtig vermute. Übrigens sind tatsächlich fast alle amtlichen Stellen in London der Ansicht, daß Comstock Bell in Zusammenhang mit der Falschgeldaffäre steht.«

 

»Was sagt man denn in London sonst noch über die falschen Banknoten? Ich habe schon seit Tagen keine Zeitung mehr gelesen.«

 

Helder sah ihn erstaunt an.

 

»Na, das sollten Sie aber tun, mein Lieber. Die amerikanische Regierung hat … «

 

Er brach plötzlich ab, weil er sich überlegte, daß es eigentlich gar nicht klug sei, diesem Mann zu erzählen, daß eine Belohnung von einer Million Dollar für denjenigen ausgesetzt war, der entscheidend zur Festnahme der Falschgeldbande beitrug.

 

»Was hat die, amerikanische Regierung getan?« erkundigte sich Brown neugierig.

 

»Sie hat eine große Belohnung ausgesetzt«, entgegnete Helder ruhig. Tiger würde es ja auf irgendeine Weise doch erfahren. »Diese Belohnung wird an jedermann ausgehändigt, mit Ausnahme der Leute, die direkt an den Fälschungen beteiligt sind.« Er betonte jedes Wort des letzten Satzes. »Das heißt, zwei bekommen diese Belohnung unter keinen Umständen – nämlich Sie und ich.«

 

Tiger Brown schenkte sich ein neues Glas Whisky ein. Helder beobachtete ihn, und plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Brown sehr gefährlich werden konnte. Nun, dann würde es Mittel und Wege geben, ihn für allemal loszuwerden.

 

»Was werden Sie denn mit Maple anfangen?« fragte Brown plötzlich.

 

»Darüber wollte ich mich gerade mit Ihnen unterhalten«, entgegnete Helder, der unruhig in dem kleinen Raum hin und her ging. »Wir müssen noch heute mit ihm reden –« Er brach mitten im Satz ab und lauschte. »Was war das?«

 

»Ich habe nichts gehört«, erwiederte Brown. »Die Leute nebenan machen Schluß, da gibt es natürlich allerhand Lärm.«

 

Helder schlich zu der Tür, durch die er hereingekommen war, und horchte angespannt.

 

»Dort draußen steht jemand«, flüsterte er Brown zu.

 

»Sie sind wirklich übernervös – es ist bestimmt niemand da.«

 

Helder knipste das Licht aus, schloß die Tür auf und öffnete sie mit einem Ruck.

 

Niemand. Der Strahl seiner Taschenlampe wanderte durch den leeren Schuppen bis zur Tür – sie war angelehnt.

 

Die beiden Männer sahen sich an und liefen dann zu der Schuppentür. Helder spähte vorsichtig hinaus – er sah eine Gestalt, die sich im tiefen Schatten der Rückwand des Gebäudes zu einem kleinen Tor zuschlich, das einen Zugang durch die hintere Umfassungsmauer bildete. Brown riß einen Revolver aus der Tasche, aber Helder packte ihn am Arm.

 

»Sie sind wohl ganz verrückt! Wollen Sie uns die Polizei unbedingt auf den Hals hetzen? Los, schnell, hinter ihm her!«

 

Die beiden rannten hinter der Gestalt drein, die gerade durch das Tor schlüpfte. Sie hörten das Schnappen des Schlosses und eilige Schritte, die sich auf der Straße entfernten.

 

»Haben Sie einen Schlüssel? Ich habe meinen oben gelassen.«

 

Brown durchsuchte nervös seine Taschen, fand den Schlüssel endlich und schloß mit zitternder Hand auf.

 

Sie traten auf die Straße, und wieder war es Helder, der den Fliehenden zuerst entdeckte. Es war jemand von sehr kleiner Statur. Beide sahen ihn deutlich, als er an einer Straßenlaterne vorbeieilte.

 

»Wir müssen ihn erwischen! Laufen Sie, so schnell Sie können!«

 

Die Gestalt verschwand um eine Ecke, und gleich darauf hörten sie einen Motor aufheulen. Als sie in die Nebenstraße einbogen, sahen sie, wie sich ein Wagen mit abgeblendeten Lichtern entfernte.

 

»Schnell!« rief Helder. »Mein eigenes Auto steht dort drüben.«

 

Er stürzte zu dem Wagen, beide sprangen hinein, Helder gab Gas, und sie nahmen die Verfolgung auf.

 

»Ein Glück, daß mein Wagen hier stand«, keuchte Helder. »So haben wir noch eine Chance, ihn zu erwischen. Ich hatte den Eindruck, daß es kein Erwachsener, sondern ein Junge ist …«

 

»Glauben Sie wirklich, daß er was gehört hat?«

 

»Ganz bestimmt. Er muß unmittelbar an der Tür gelauscht haben.«

 

»Na, viel gehört hat er ja nicht«, meinte Brown.

 

»Die Tatsache allein, daß er uns belauschte, genügt mir«, entgegnete Helder grimmig.

 

Helder war ein guter Fahrer und hatte einen so starken Wagen, daß die beiden roten Schlußlichter, denen sie folgten, immer näher kamen.

 

Sie sausten durch die City, die Queen Victoria Street und dann das Themseufer entlang. Helders Nerven vibrierten, als sie sich dem Ende der breiten Uferstraße näherten. Auf der rechten Seite hob sich der große Gebäudekomplex ab, der in der ganzen Welt berühmt ist.

 

»Wenn er bei Scotland Yard hält, müssen wir noch diese Nacht England verlassen – und hoffentlich gelingt es uns dann noch.«

 

Er atmete auf, als der Wagen an dem großen Torbogen! des Polizeipräsidiums vorbeiraste, rechts einbog und über die Westminster Brücke fuhr. Am ändern Ufer bremste das Auto scharf, jemand sprang heraus, und als die Verfolger eben anhielten, lief der Unbekannte bereits eine lange Treppe hinunter, die zum Fluß führte.

 

»Jetzt haben wir ihn!« rief« Helder triumphierend.

 

Er eilte hinterher, so schnell er konnte, doch auf den untersten Stufen machte er erschrocken halt. Ein kleiner Landungssteg lag vor ihm, grell beleuchtet vom Scheinwerfer eines Motorboots, in dem zwei Leute saßen. Und unmittelbar vor ihm stand – Mrs. Verity Bell.

 

»Gehen Sie ruhig wieder fort, Mr. Helder«, sagte sie und richtete so nebensächlich eine langläufige Pistole auf ihn, als ob es ein Sonnenschirm sei. »Sie haben meinen Mann eines Verbrechens beschuldigt, das Sie selbst begehen«, fuhr sie fort. »In Ihrem eigenen Interesse kann ich Ihnen nur raten, sich jetzt in acht zu nehmen.«

 

Kapitel 1

 

1

 

Monsieur Trebolino, der Chef der französischen Kriminalpolizei, saß in seinem Büro und tat genau das, was von ihm erwartet wurde – er dachte nach. Den Schreibtischsessel hatte er an das lodernde Kaminfeuer geschoben; es war unangenehm kalt an diesem Märznachmittag, ganz Paris lag unter einer dichten Schneedecke begraben.

 

Eigentlich hätte sich Monsieur Trebolino nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen. Der Tatkraft dieses klugen Italieners, der schon als junger Mann die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, war es zu verdanken, daß in Frankreich kaum noch Verbrechen größeren Ausmaßes begangen wurden.

 

Aber gerade weil Monsieur Trebolino nicht viel zu tun hatte, kümmerte er sich zur Zeit auch um kleinere Dinge, die er früher seinen Untergebenen überlassen hatte. Einen solchen Fall ließ er sich gerade durch den Kopf gehen, und merkwürdigerweise schien ihm verschiedenes daran durchaus nicht klar zu sein.

 

Er drückte auf einen Klingelknopf neben dem Kamin, und gleich darauf klopfte es. Monsieur Lecomte, der dazu ausersehen war, einmal der Nachfolger seines Vorgesetzten zu werden, trat ins Zimmer und wurde von seinem Chef mit einem wohlwollenden Lächeln begrüßt.

 

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Monsieur Trebolino und wies auf einen Ledersessel in seiner Nähe. »Eine Frage – haben Sie schon einmal von dem ›Klub der Verbrecher‹ gehört, der hier in Paris bestehen soll?«.

 

Lecomte nickte.

 

»Dieser Klub mag ja ganz interessant sein«, fuhr Trebolino fort. »Meiner Meinung nach sollte man aber doch daran denken, damit Schluß zu machen – Studenten sind nun einmal unruhige Leute.«

 

»Ich glaube, daß der Verein bald ganz von selbst eingehen; wird – wie es meist in solchen Fällen ist«, entgegnete Lecomte verwundert.

 

Trebolino zog die Stirn in Falten.

 

»Was wissen Sie überhaupt davon?«

 

»Nicht mehr, als Sie selbst«, sagte Lecomte achselzuckend. »Eine Anzahl von Studenten hat einen Verein gegründet. Bei ihren Zusammenkünften befolgen Sie feierliche Rituale, gebrauchen Kennworte, leisten Eide – kurz, treiben all den Unsinn, der bei Geheimbruderschaften und Logen nun einmal üblich ist. Ihre Treffen finden jeweils an irgendeinem anderen geheimen Platz statt – der der Polizei aber jedesmal schon mindestens eine Woche vorher bekannt ist.«

 

Lecomte amüsierte sich, und Trebolino nickte ihm verständnisinnig zu.

 

»Jedes Klubmitglied schwört, irgendein französisches Gesetz zu übertreten«, fuhr Lecomte dann fort. »Bis jetzt haben sich ihre Gesetzwidrigkeiten allerdings darauf beschränkt, daß sie einen Polizisten belästigten.«

 

»Sie haben ihn in die Seine geworfen, nicht wahr?« warf Trebolino ein.

 

»Ganz richtig – und zwei der bösen Buben wären beinahe ertrunken, als sie ihn wieder herausfischten. Wir haben sie zwei Tage lang eingesperrt und ihnen außerdem noch zweihundert Franc Geldstrafe aufgebrummt. – Was sie sonst noch anstellen, kann man übrigens nur als Kindereien und den üblichen Studentenulk bezeichnen.«

 

Der Chef der Kriminalpolizei schien trotzdem nicht befriedigt zu sein.

 

»Das klingt alles sehr harmlos«, meinte er nachdenklich, »aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn diesem Unfug ein Ende gemacht würde. Es gibt immerhin einige Klubmitglieder, die mir durchaus nicht so harmlos zu sein scheinen – ich denke zum Beispiel an diesen Willetts.«

 

Lecomte nickte.

 

»Soviel ich weiß«, fuhr Trebolino fort, »ist Mr. Willetts eine Art Künstler. Er wohnt mit einem jungen Amerikaner – ich glaube, er heißt Comstock Bell – zusammen.«

 

»Das heißt, er wohnte«, verbesserte Lecomte. »Mr. Bell ist sehr reich und lebt ganz seinen Neigungen. Er ist ein Mann von Geschmack – Mr. Willetts dagegen trinkt ziemlich viel.«

 

»Dann haben sie sich also getrennt«, entgegnete Trebolino überrascht. »Das wußte ich noch gar nicht. Bis jetzt wurde ich nur darüber informiert, daß die beiden sich vorgenommen hatten, uns einige ziemlich unangenehme Überraschungen zu bereiten. Überraschungen, die keine Lausbubenstreiche mehr gewesen wären, sondern die man unter die Kategorie schwerer Verbrechen – bis zum Mord – hätte einreihen müssen.«

 

Er stand auf und trat ans Fenster.

 

»Also, Monsieur Lecomte«, sagte er dann nach einigen Minuten nachdenklichen Schweigens, »sorgen Sie dafür, daß dieser ganze Unfug ein Ende findet. Studenten schlagen manchmal über die Stränge, gewiß – aber hier scheint sich etwas anzubahnen, was man durchaus nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Berichten Sie mir dann bitte, was Sie unternommen haben!«

 

Lecomte verließ das Büro seines Vorgesetzten und war eigentlich ein wenig belustigt. Lohnte es sich wirklich, dieser Sache so viel Bedeutung beizumessen? Noch dazu, da er alle Mitglieder des ›Klubs der Verbrecher‹ sehr gut kannte und sogar von Zeit zu Zeit zu ihren Zusammenkünften eingeladen wurde. Na, man würde sehen … Noch am gleichen Abend ging Monsieur Lecomte nach Dienstschluß in das ›Café der Barbaren‹, einen der Treffpunkte der Studenten.

 

Er wurde mit Hallo begrüßt, ein Student machte ihm sofort an einem großen Tisch einen Platz frei, während ein anderer, ein gutaussehender junger Mann, ein Glas Wein für den Beamten bestellte. Lecomte betrachtete ihn interessiert. Er war groß und schlank, dabei aber sehr kräftig gebaut. Seine grauen Augen blickten so freundlich und unbekümmert in die Welt, wie man es bei einem jungen Mann seines Alters erwarten konnte.

 

»Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um einer Unterhaltung beizuwohnen, die Sie persönlich besonders interessieren dürfte«, sagte der Student lachend und deutete auf einen seiner Kommilitonen, einen bärtigen, hageren Jüngling. »Mein Freund hier vertritt eben die Ansicht, daß die Ermordung eines Polizeispitzels nach der Lehre des Aristoteles durchaus entschuldbar wäre. Was halten Sie davon?«

 

»Nicht viel, wie Sie sich denken können«, entgegnete Lecomte grinsend und leerte sein Glas zur Hälfte. »Aber wenn Sie unbedingt die Probe aufs Exempel machen wollen – der Staatsanwalt wird bestimmt gerne mit Ihnen debattieren.«

 

»Vielleicht wäre das am besten«, rief der Bärtige trotzig. »Mein Freund Willetts jedenfalls …« Er fuhr fort, seine Theorie durch allerhand Erlebnisse und Erfahrungen zu bekräftigen, die sein Freund Willetts – ein blasiert dreinschauender Mann mit bleichem Gesicht, der etwas älter als seine Kommilitonen zu sein schien – angeblich gemacht hatte.

 

»Ist dieser Willetts auch Ihr Freund, Mr. Bell?« fragte Lecomte leise.

 

Der Student mit den grauen Augen, an den die Frage gerichtet war, machte eine abwehrende Handbewegung.

 

»Wie meinen Sie das?« erkundigte er sich kühl.

 

Lecomte zuckte die Schultern.

 

»In meinem Beruf hört man so allerlei«, sagte er leichthin. »Besonders was den ›Klub der Verbrecher‹ angeht.«

 

Comstock Bell sah ihn argwöhnisch, fast ängstlich an.

 

»Die ganze Angelegenheit ist doch nur ein Scherz …«, begann er, verstummte aber sofort wieder. Lecomte gab sich vergeblich Mühe, ihn noch einmal zum Reden zu bringen.

 

Plötzlich erhob sich allgemeines Stimmengewirr. Lecomte gebot mit einer Handbewegung Schweigen und beantwortete die Frage, die ein Student aufgeworfen hatte.

 

»Nein – gestorben ist er nicht, bloßes Untertauchen genügt nicht, um einen richtigen Polizisten ins Jenseits zu befördern. Aber da Sie gerade diese Sache erwähnen, meine Herren, möchte ich Ihnen auch gleich sagen, daß es höchste Zeit ist, Ihren ›Klub der Verbrecher‹ aufzulösen. Der Chef der Kriminalpolizei persönlich hat mich beauftragt, Ihnen dies mitzuteilen!«

 

»Und wir sollen natürlich brav gehorchen!« rief Willetts mit schriller Stimme. Es war das erstemal, daß er sich in die Unterhaltung mischte.

 

Lecomte beobachtete ihn. Er sah ungesund aus, jeder Zug in seinem Gesicht zeugte von einem sehr unsoliden Lebenswandel.

 

»Na schön«, fuhr Willetts mit lauter Stimme fort. »Wir werden den Klub schließen – aber sein Geist soll wenigstens in einigen Mitgliedern weiterleben.«

 

Lecomte sah Comstock Bell an, dem diese Worte offensichtlich galten. Der Student wurde blaß, als der anscheinend ziemlich betrunkene Willetts weitersprach.

 

»Mr. Bell natürlich ist fahnenflüchtig geworden. Noch vor kurzem war er mein Komplice – aber jetzt vertragen wir uns nicht mehr richtig. Er ist eben Amerikaner – und außerdem ein Kapitalist! Vielleicht ist er aber auch nur ein Feigling …!«

 

Die letzten Worte hatte er laut über den Tisch gerufen. Willetts war in betrunkenem Zustand zu allem fähig, das wußte jeder.

 

Comstock Bell antwortete nicht.

 

»Wir haben nämlich …«, wollte Willetts eben fortfahren, als ein Herr das Café betrat, sich suchend umschaute und auf Lecomte zuging.

 

»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren«, sagte der Polizeibeamte, stand auf und trat zu dem Fremden. Sie unterhielten sich leise miteinander. Die Studenten sahen, daß Lecomte die Stirn runzelte und hörten einen unterdrückten Ausruf. Nach einer Zeit kam er zurück.

 

»Meine Herren«, sagte er, und seine Stimme klang durchaus nicht mehr freundlich. »Heute nachmittag wurde in Cooks Reisebüro eine englische Fünfzigpfundnote gewechselt – und diese Note war gefälscht!«

 

Niemand sprach. Es herrschte tödliches Schweigen.

 

»Der Geldschein wurde von einem Studenten gewechselt, und auf der Rückseite standen die Buchstaben ›K. d. V.‹. Hier hört der Spaß auf, und ich möchte den Verantwortlichen ersuchen, morgen früh auf das Polizeipräsidium zu kommen!«

 

Am nächsten Morgen kam niemand in Trebolinos Büro. Willets wurde noch am selben Abend telegrafisch nach London zurückgerufen, und Comstock Bell verließ Paris mit demselben Zug.

 

Die beiden wußten nicht, daß sie hei der Abfahrt von Lecomte beobachtet wurden. Drei Tage später erhielt er eine englische Fünfzigpfundnote in einem Briefumschlag. Es war kein Absender angegeben, und außer dem Geldschein befand sich in dem Kuvert nur noch ein Stück Papier, auf dem in Maschinenschrift stand: »Bitte leiten Sie dieses Geld an die Firma Cook weiter.«

 

Lecomte berichtete seinem Vorgesetzten von dieser Sache. Trebolino nickte.

 

»Wir wollen die Angelegenheit damit erledigt sein lassen. Es hat keinen Zweck, die Öffentlichkeit deswegen zu alarmieren.«

 

Er legte die gefälschte Banknote in seinen Schreibtisch und vergaß sie bald. –

 

Einige Jahre später wurde Monsieur Trebolino, der Chef der französischen Kriminalpolizei, bei der Festnahme eines Verbrechers erschossen. Ein Beamter, der seinen Schreibtisch aufräumte, fand in einem Fach eine englische Fünfzigpfundnote, die offensichtlich gefälscht war. Unschlüssig hielt er sie eine Zeitlang in der Hand und gab sie dann seinem Sekretär mit dem Auftrag, den Geldschein an die Bank von England zu schicken.«

 

»Vielleicht können sie etwas damit anfangen«, meinte er achselzuckend.

 

Lecomte hätte erklären können, wie diese Banknote in Trebolinos Besitz gekommen, war, aber er befand sich zu dieser Zeit in Lyon.

 

Im Terriers-Klub fand ein großer Empfang statt – vor dem vornehmen Gebäude stand eine lange Reihe chromblitzender Wagen. ›Terriers‹ ist einer der vornehmsten Klubs, und dieser große Empfang bedeutete wie jedes Jahr den Beginn der Saison.

 

Zahlreiche der alten Klubmitglieder fühlten sich ziemlich ungemütlich. Es war ihnen gar nicht recht, daß die Räume, in denen sie sich sonst wie zu Hause fühlten, heute von einer plaudernden, eleganten Gesellschaft belebt waren. Am meisten störten sie die vielen Damen – ein ganz ungewohnter Anblick in einem Herrenklub.

 

Draußen regnete es, und Wentworth Gold stieg schnell die Marmortreppen hinauf, um in die große Empfangshalle zu gelangen. An der Garderobe legte er Hut und Mantel ab und ordnete vor dem Spiegel seine Krawatte.

 

Wentworth Gold war ein außergewöhnlicher Mann – und er hatte auch außergewöhnliche Interessen. Von mittlerer Größe, mit buschigen Brauen, unter denen seine grauen Augen durch einen Klemmer lebhaft in die Welt blickten, konnte man ihn. nicht gerade einen gutaussehenden Mann nennen. Er war eher häßlich, übte aber doch auf Frauen eine faszinierende Wirkung aus. Als Amerikaner hatte er sich außerdem eine gewisse Unbekümmertheit des Auftretens bewahrt, die fast schon an Frechheit grenzte.

 

In England lebte Mr. Gold schon seit langer Zeit. Er hatte die Engländer gern – und sagte das mit einem liebenswürdigen, mitleidigen Lächeln und einem Ton, als ob er arme Mitmenschen darüber trösten wollte, daß sie nicht das Vorrecht mit ihm teilten, in Amerika geboren worden zu sein. Im übrigen fand ihn jedermann sympathisch, gerade weil er so offen und typisch amerikanisch war.

 

Welchen Beruf Mr. Gold eigentlich hatte, wußte niemand so richtig. Ein- oder zweimal in der Woche machte er dem amerikanischen Konsulat seinen Besuch, »um seine Post abzuholen«. Merkwürdigerweise holte er diese Post manchmal um drei Uhr morgens ab, und Seine Exzellenz der Konsul kam dann im Pyjama zu einer Unterredung ins Büro herunter.

 

Solch ein Gespräch fand auch statt, als der Präsident einer kleinen südamerikanischen Republik, die als sehr aggressiv bekannt war, einer benachbarten größeren Republik den Krieg erklären wollte. Die wichtigsten darauffolgenden Ereignisse dieses Tages kann man folgendermaßen zusammenstellen:

 

5.00 nachmittags. Senor de Silva (Privatsekretär des Präsidenten von Furina) kommt ins Carlton-Hotel.

 

5.30 nachmittags. Monsieur Dubec (Generalvertreter der Vereinigten Belgischen Waffen- und Munitionsfabriken) erscheint ebenfalls im Carlton-Hotel und führt eine geheime Besprechung mit dem vorerwähnten Privatsekretär.

 

8.00 abends. Beide essen zusammen in einem Einzelzimmer.

 

9.00 abends. Monsieur Dubec reist nach Belgien ab.

 

2.00 nachts. Wentworth Gold kommt in das amerikanische Konsulat.

 

5.00 morgens. Senor de Silva erhält den Besuch des Polizeiinspektors Grayson (Spezialabteilung der Interpol).

 

9.00 vormittags. Senor de Silva verläßt London in größter Eile und offensichtlicher Verwirrung, um sich nach Paris zu begeben.

 

11.00 vormittags. Inspektor Grayson und Wentworth Gold begegnen sich zufällig am Themseufer und grüßen einander sehr formell und höflich.

 

Wentworth Gold hatte überall zu tun. Anscheinend war es sein Beruf, alles zu wissen – und tatsächlich wußte er auch alles. Das meiste, was er erfuhr, behielt er für sich, denn er vertraute niemand. Er hatte kein Büro, keine Angestellten und bekleidete keine offizielle Stellung. Aber in seiner Westentasche trug er einen kleinen silbernen Stern, der einen überwältigenden Eindruck auf gewisse Leute machte. Er verkehrte in den ersten Kreisen der Gesellschaft, doch sah man ihn auch häufig mit Leuten aus der Unterwelt. Gerade deshalb wußte er alles.

 

Gold ging zur Eingangshalle zurück, stieg eine große breite Treppe empor, lehnte sich über die Brüstung und beobachtete das farbenprächtige Schauspiel, das sich seinen Augen bot.

 

Unten stand der spanische Botschafter mit seiner hübschen Tochter und nickte dem italienischen Geschäftsträger zu. Es entging Gold auch nicht, daß Mrs. Granger Collok in die große Halle trat, gefolgt von einer Schar junger Herren. Manche Frauen besaßen eben eine außerordentliche Gabe, sich über die Meinung ihrer Mitmenschen hinwegzusetzen, und erschienen auch nach einem aufsehenerregenden Scheidungsprozeß unbefangen in der Öffentlichkeit.