Kapitel 66

 

66

 

Mr. Howett und Valerie saßen beim Frühstück, als Spike Holland mit einer großen Neuigkeit zu ihnen kam. Sie sah sofort an seinem Gesicht, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war.

 

»Ist Featherstone vorigen Abend hier gewesen?« fragte er schnell.

 

»Nein,« sagte Valerie besorgt, »warum meinen Sie?«

 

»Ich habe gerade telephonisch mit Jackson gesprochen, er ist der Assistent Featherstones,« berichtete Spike. »Er sagt, daß der Captain in der vergangenen Nacht fortgerufen worden sei. Seine Wohnung war leer, als sein Diener heute morgen dorthin kam, – auch sein Auto war fort – es wurde sternchenland.com dann später im Fluß gefunden, drei Meilen von hier entfernt.«

 

Valerie Howett wurde es dunkel vor den Augen, und sie war einer Ohnmacht nahe. Spike sprang schnell an ihre Seite.

 

»Er hatte eine Botschaft von Garre bekommen. Die Polizei hat die Telephonzentrale kontrolliert. Das Gespräch ist von der Burg aus geführt worden. Danach kann man genau feststellen, wann Featherstone weggefahren ist,« fuhr Spike fort. »Ob er zu der Burg gegangen ist, wissen wir nicht. Jackson will nicht, daß ich mit Bellamy spreche, bis er hier ist. Er kommt von Scotland Yard mit einem Erlaubnisschein, die Burg zu durchsuchen. Ich glaube, daß es für Bellamy sehr viel Unannehmlichkeiten geben wird.«

 

Mr. Howett wollte eigentlich in die Stadt fahren, aber auf diese Nachricht hin entschloß er sich zu bleiben. Valerie bestand jedoch darauf, daß er doch abfuhr, denn sie wollte allein sein. Sie war davon überzeugt, daß Jim noch am Leben sei, eine innere Stimme sagte es ihr, aber ebenso stand es bei ihr fest, daß er in Bellamys Hand gefallen war.

 

Als die Polizeiautos ankamen, war sie auch im Ort. Der weißhaarige Chefinspektor selbst leitete die Unternehmung und interviewte Spike sofort nach seiner Ankunft.

 

»Sie haben doch nicht etwa Bellamy gesehen und ihn gewarnt?«

 

»Allein,« antwortete Spike bestimmt.

 

»Sind Sie auch ganz sicher, daß Captain Featherstone hierherkam – zu der Burg – meine ich?«

 

»Ich kann Ihnen auch nur das erzählen, was mir gesagt wurde. Ein Arbeiter, der heute morgen auf der Straße ging, sah einen Wagen, der dem Auto Featherstones sehr ähnlich war, aus dem Parktor herausfuhr und die Richtung nach London nahm.«

 

»Das muß auch stimmen,« sagte der Beamte. »Der sternchenland.com Wagen zeigte die Richtung nach London, als er aufgefunden wurde.«

 

Er sah sich die festgeschlossenen Parktore an. An der Seite des einen Mauerpfeilers war eine elektrische Glocke angebracht, und er klingelte. Es kam keine Antwort vom Portier. Er klingelte noch einmal länger. Die Tore waren zu hoch, um darüber wegzuklettern, und der Chefinspektor faßte einen schnellen Entschluß. Ein Traktor kam gerade des Wegs und er hielt ihn an.

 

»Fahren Sie doch einmal mit Ihrem Wagen mit aller Gewalt gegen dieses Tor,« sagte er kurz.

 

»Da geht das Tor doch in Trümmer,« entgegnete der aufgebrachte Chauffeur.

 

»Das wollen wir doch gerade.«

 

Der Traktor donnerte gegen das Tor mit halber Geschwindigkeit. Mit lautem Krachen und Poltern öffneten sich die Torflügel, und der Weg war frei.

 

Sie traten gerade aus den Büschen heraus und konnten von den vorderen, gittergeschützten Fenstern der Burg gesehen werden, als sie einen scharfen Knall hörten. Einer der Beamten, der neben Spike ging, strauchelte, fiel auf die Knie, schaute sich wild um und brach dann in einer Blutlache zusammen.

 

»Schnell aus der Schußlinie,« rief der Chefinspektor und seine Leute warfen sich auf die Erde.

 

Bellamy war also zum Äußersten entschlossen.

 

Valerie hörte den ersten Schuß und wußte gefühlsmäßig, was sich ereignet hatte. Eine kleine Menschenmenge, die sich an den zerstörten Toren angesammelt hatte, wurde von der Lokalpolizei zurückgetrieben.

 

»Es ist gefährlich, mein Fräulein,« warnte ein Polizist. »Er feuert aus der Schießscharte in dem Turm, ich sah den Rauch dort herauskommen.«

 

Schon pfiff wieder eine Kugel dicht an ihr vorüber. Der sternchenland.com Mann zog sie schnell aus der Schußlinie fort. Das Geschoß hatte das Glas einer Straßenlaterne zerschlagen und die Dachziegel eines Hauses zerbrochen.

 

»Das ist noch einmal gut gegangen, mein Fräulein. Ich wette, daß die für Sie bestimmt war.«

 

Valerie war froh, daß ihr Vater fortgefahren war, bevor die Polizei ankam, denn er würde sehr erschrocken sein über die Gefahr, in die sie sich begab. Sie handelte nicht richtig, weder ihm noch Jim gegenüber – Jim, der in diesem Augenblick als Gefangener hinter jenen grauen Mauern saß. Und doch konnte sie nicht fortgehen, bis sie wußte, was sich ereignen würde.

 

Spike kam auf sie zu, sein Gesicht war rot vor Aufregung.

 

»Bellamy verteidigt die Burg,« rief er mit einem fast hysterischen Lachen. »Ich sagte ja Syme, daß sich die Sache entwickeln würde, aber der arme alte Narr glaubte es nicht.«

 

Krach!

 

»Er schießt weiter,« schrie Spike.

 

»Ist Captain Featherstone hier?«

 

»Vermutlich.« Ihr schien das die größte Gefühllosigkeit. »Sie werden niemals die Burg stürmen können. Der Polizeiinspektor schickt nach Reading um eine Kompagnie Soldaten, und sie glauben, daß sie Artillerie mitbringen um die Tür einzuschießen, aber das würde nicht viel nützen.« Ohne ein Wort der Entschuldigung eilte er fort zu dem Gasthof und zu dem Telephon, um den bestürzten Mr. Syme zu sprechen.

 

Später erfuhr Valerie, daß man in London abgeneigt war, militärische Kräfte zur Einnahme der Burg zu verwenden, da Bellamy Bürger eines Landes war, das man nicht beleidigen wollte. Man hatte versucht, in telephonische Verbindung mit Bellamy zu kommen und nach verschiedenen Mißerfolgen wurde schließlich eine Verbindung hergestellt.

 

»Sie ergeben sich besser, Bellamy,« sagte der Polizeiinspektor. »Es wird am Ende leichter für Sie sein.«

 

sternchenland.com »Ich weiß, was am leichtesten für mich ist,« sagte Bellamy. »Geben Sie mir zwölf Stunden Bedenkzeit.«

 

»Sie können eine Stunde haben.«

 

»Zwölf,« war die kurze Antwort. »Es wird länger als zwölf Stunden dauern, bevor Sie mich auf irgendeine andere Weise haben.«

 

Valerie kam noch einige Male zu dem Parktor. Die Polizeikräfte waren verstärkt worden, und es wurde ein großer Cordon gezogen, um die Annäherung jedes Unbeteiligten zu verhindern. Gewehre wurden für die Polizisten gebracht, und das planlose Schießen auf beiden Seiten ging während des Nachmittags fort.

 

In großer Sorge kehrte sie am Nachmittag nach Hause zurück. Alle Dienstboten waren fortgegangen, um dieses seltsame Schauspiel zu sehen. Es kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie ging zu der Gartenmauer, legte eine Leiter an und stieg auf die Spitze. Von hier ans hatte sie eine klare Übersicht über das Feuergefecht. Die Schüsse und der Rauch kamen von den Schießscharten oberhalb der Burgkapelle. Es war ein außerordentlich guter Platz, denn von hier aus beherrschte man nicht nur den Eingang zu dem Pförtnerhaus, sondern auch alle anderen Stellen, von denen aus man sich dem Gebäude nähern konnte. Dort hinter den alten grauen Steinmauern, die so manche Belagerung ausgehalten und Blüte und Niedergang der englischen Ritterschaft gesehen hatten, über denen die Banner der Kreuzfahrer geweht hatten, als sie ins heilige Land zogen, stand ein Mann, der alle Gesetze der Welt verachtete.

 

Plötzlich schlug ein Geschoß dicht neben ihr auf der Gartenmauer ein, so daß der Stein zersplitterte. Im Nu eilte sie die Leiter hinunter, aber ein zweiter Schuß traf die Oberfläche der Mauer an der Stelle, wo sie eben gestanden hatte. Ein Steinsplitter streifte ihre Hand und verwundete sie leicht.

 

sternchenland.com Bellamy hatte diese Schüsse nicht abgefeuert. Er wandte sich dem stummen Chinesen zu, der an einer anderen Schießscharte kauerte. Plötzlich packte ihn Bellamy am Arm, richtete ihn auf und schaute ihn drohend an.

 

»Das ist nun schon das zweitemal, daß du nach ihr geschossen hast, du dummer Kerl! Habe ich dir nicht gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen?«

 

Über Sens Gesicht huschte ein merkwürdiges Lächeln, dann lud er sein Gewehr wieder.

 

»Schieß doch lieber auf die Büsche, wo die Polizisten sind!« sagte der Alte.

 

Bellamy selbst ging nach unten in sein Schlafzimmer, um die eisernen Fensterläden herunterzulassen, denn in dieser Nacht würde der Gegner eventuell versuchen, die Burg zu stürmen.

 

Nachdem er dies getan hatte, ging er in die Halle, um das Fallgatter zu besichtigen, das nur wenige Besucher jemals gesehen hatten. Es hing in einem Schlitz der Steinmauer, war den Blicken verborgen und konnte heruntergelassen und aufgezogen werden mit derselben Leichtigkeit, mit der man die äußeren Türen öffnen konnte. Er machte die Stricke, die sie festhielten, lose, und zog daran. Langsam kam das Gatter herunter und schloß den Eingang. Als er es unten befestigt hatte, eilte er den Gang entlang zu den Kerkerzellen.

 

»Sind Sie da, Featherstone?«

 

Jim antwortete ihm.

 

»Ihre Freunde sind draußen, vermutlich wissen Sie das schon!«

 

»Ich hörte die Schüsse.«

 

»Zuerst habe ich geschossen, aber jetzt haben sie Gewehre unter den Mannschaften ausgeteilt. Über Nacht werden sie irgend etwas unternehmen, Featherstone.«

 

Langsam kam Jim die Treppe herauf, faßte an zwei der eisernen Gitterstangen und schaute aus dem Gefängnis hinaus. sternchenland.com »Sie werden Sie fassen, Bellamy,« sagte er ruhig.

 

»Ja, wenn ich tot bin. Glauben Sie, daß ich mich deshalb gräme?« Er schaute gelassen in Featherstones Gesicht, der ihn unentwegt ansah. »Sie irren sich, ich bin niemals in meinem Leben so zufrieden und glücklich gewesen wie jetzt. Ich fühle mich so vergnügt, daß ich Sie und die andern alle herauslassen konnte, aber dann würde ja alles verdorben werden. Ich bin in so guter Stimmung, weil ich weiß, daß Sie hier eingesperrt sind, und weil ich weiß, daß die Polizisten draußen sind. Die Burg kann Widerstand leisten, und ich stehe hier und lache Sie aus! Das ist etwas ganz Wunderbares, Featherstone! Beneiden Sie mich nicht darum?«

 

»Ebenso könnte ich auch eine ekelhafte Kröte beneiden,« sagte Jim. Er hatte noch rechtzeitig seine Hände fortgezogen, denn die schweren Schuhe Bellamys donnerten gegen das Eisengitter, wo er noch eben seine Finger gehabt hatte.

 

Jim ging wieder die Treppe hinunter und kroch zu der vergitterten Öffnung, um mit Fay zu sprechen.

 

»Ich muß schon sagen, dieser Abel Bellamy ist ein angenehmer junger Mann,« meinte er.

 

»Was ist denn passiert, Featherstone? Wer schießt draußen?«

 

»Die Polizeitruppen – in sehr starker Zahl. Die Lage ist offenbar so ernst, daß man sie mit Gewehren bewaffnet hat. Der Alte hat sich wahrscheinlich auf ein Gefecht mit ihnen eingelassen, um die Burg zu verteidigen.«

 

Sie nickte.

 

»Dann ist es also nur noch eine Frage von Stunden,« erwiderte sie ruhig. »Featherstone, was denken Sie jetzt von Julius?«

 

Er zögerte.

 

»Ich möchte nichts mehr gegen ihn sagen, nach allem, was er für mich und Miß Howett getan hat.«

 

»Aber Sie halten ihn doch noch für einen schlechten Menschen, sternchenland.com nicht wahr? Sie hüben gehört, wie ich ihn früher bis aufs Blut verhöhnt habe. Vielleicht glauben Sie, daß ich ihn verachte – aber das stimmt nicht. Ich liebe ihn, und oft möchte ich gern wissen, ob er es weiß. Leute wie wir kümmern sich nicht viel um Liebe, und selbst eine Trennung bedeutet uns nicht viel mehr, als daß wir gut für die Zukunft vorsorgen. Aber ich liebe ihn jetzt so sehr, daß ich mich beinahe glücklich fühle, wenn ich mit ihm zusammen sterbe.«

 

Er streckte seine Hand durch das Gitter und streichelte ihren Arm.

 

»Sie sind ein gutes Kind, Fay. Wenn wir jemals wieder hier herauskommen sollten, dann –«

 

»Erzählen Sie mir nicht, daß Sie irgendeine gute Stelle für mich suchen wollen,« bat sie. »Ich würde es doch immer mehr vorziehen zu stehlen als Fußböden zu scheuern. In der Beziehung bin ich nicht stolz.«

 

Jim hörte Hammerschläge und eilte die Treppe hinauf, um zu sehen, was das bedeutete. Bellamy stand mit nacktem Oberkörper dort und nagelte schwere Holzbalken gegen die Tür, die aus dem Wachtraum in den Gang führte. Er arbeitete mit fieberhafter Eile.

 

»Wozu machen Sie das, Bellamy? Wollen Sie uns hier noch fester einschließen?«

 

Bellamy drehte sich nach ihm um.

 

»Ach, Sie sind es. Ja, ich mache die Luke hier dicht.«

 

Jim beobachtete ihn eine Weile schweigend, wie er fußlange Nägel in die Balken trieb. Querholz erhob sich über Querholz, und die Holzmauer reichte schon bis zu den Knien Bellamys.

 

»Man wird Sie aufhängen, wenn man Sie fängt, Bellamy.«

 

»Bilden Sie sich nichts ein – mich kriegen Sie nicht!« Er richtete sich auf und streckte seine Arme nach oben.

 

sternchenland.com Jim handelte blitzschnell. Als Bellamy mit dem Hammer in die Nähe der Eisenstangen kam, ergriff er das obere Ende des Hammers und entriß Bellamy das Werkzeug durch einen schnellen Drehgriff. In weitem Bogen warf er es die Treppe hinunter.

 

»Geben Sie mir den Hammer zurück!« brüllte der Alte. »Geben Sie mir ihn zurück, oder ich schieße Sie auf der Stelle tot!«

 

»Kommen Sie doch herunter und holen Sie sich ihn!« höhnte Jim.

 

Er wartete unten am Fuß der Treppe und war bereit, den Hammer auf ihn zu werfen. Aber Bellamy führte seine Drohung nicht aus. Jim hörte seine Schritte, als er sich auf dem Gang entfernte. Fünf Minuten später nahm das Gewehrfeuer oben von der Burg aus wieder an Stärke zu. Jim vermutete richtig, daß Bellamy seinen Posten an der Schießscharte wieder eingenommen hatte.

 

Kapitel 67

 

67

 

Valerie war noch ganz verwirrt von dem Erlebnis, bei dem sie nur mit knapper Not der Gefahr entgangen war. Sie wußte nicht, daß dem alten Bellamy so viel an ihrer Sicherheit lag. Sie ging zurück in das Haus. Alle Dienstboten waren fort, ihr Vater konnte erst um sieben Uhr abends zurück sein. Das dauernde Krachen der Schüsse fiel ihr auf die Nerven. Sollte sie wieder auf die Dorfstraße gehen und mit den andern sich das Schauspiel ansehen? Sie wünschte, daß Spike kommen würde, aber der Reporter war abwechselnd in der Schützenlinie oder am Telephon und diktierte dem lauschenden Stenographen abgerissene, wilde Sätze.

 

Die Sache war so phantastisch, so ganz außerhalb des sonst Möglichen, daß sie fast nicht mehr die Grenzen der sternchenland.com Wirklichkeit unterscheiden konnte. Aber wieder klangen die abgerissenen Schüsse zu ihr herüber und erinnerten sie daran, daß Garre Castle belagert wurde. In den Gebüschen, wo die Bluthunde einst hinter ihr her gewesen waren, lagen Schützen in Khakiuniformen, preßten die Kolben ihrer Gewehre gegen das Gesicht und warteten, ob sie nicht etwas von Bellamy sehen könnten. Und Jim! Sie dachte an die entsetzliche Gefahr, in der er schwebte. Sie trat auf die Straße, aber sie konnte nur die Leute sehen, die dort auf den Höhepunkt der Tragödie warteten. Ein Kind sprang an ihr vorbei, und sie rief es an.

 

»Nein, mein Fräulein, es ist noch nichts geschehen, es sind nur noch mehr Soldaten angekommen.«

 

Langsam ging sie wieder heim. Sie zögerte vor der offenen Tür, aber in ihrer schrecklichen Unruhe wollte sie sich auch nicht im Garten aufhalten. Es tat ihr nun leid, daß ihr Vater nicht geblieben war. Sie ging noch einmal auf die Straße zurück und hoffte, jemand zu treffen, der die Dienerschaft rufen konnte. Sie hätte ja selbst gehen können, aber –

 

Es war wirklich schrecklich, so nervös zu sein. John Wood hatte sich vor dem Mittagessen verabschiedet, um seinen Zug zu erreichen. Wenn er wenigstens noch da wäre, würde sie sich auch sicherer fühlen.

 

Das Feuergefecht ging immer weiter, manchmal war es stärker, manchmal schwächer.

 

Mitten in einem friedlichen, englischen Dorfe tobte ein Kampf, und die Bewohner schauten zu. Sie sah zwei Leute auf dem Dach eines Hauses stehen, die ganz in der Beobachtung des Gefechts vertieft waren.

 

Mit einem Seufzer trat sie in das Haus, ging in das Wohnzimmer und versuchte zu lesen. Plötzlich hörte sie Schritte in dem Gang. Sie glaubte, daß einer der Dienstboten zurückgekehrt wäre und eilte in die Küche, um ein wenig Gesellschaft zu haben.

 

sternchenland.com Die Küche lag im Dämmer. Die Dunkelheit war beinahe hereingebrochen, und dieser Teil des Hauses war nur noch schwach erleuchtet.

 

»Ist jemand hier?« fragte sie.

 

Sie ging in den Keller. Plötzlich umfaßten sie zwei lange grüne Arme von hinten.

 

Sie kam erst nach einigen Minuten wieder zu sich. Jemand trug sie einen langen Tunnel entlang, die Luft war dumpf und moderig, und es war vollständig finster.

 

Wo befand sie sich? Langsam begann sie sich zu erinnern. Sie hing sich an den Mann, der sie trug.

 

»Bist du es?« flüsterte sie furchterfüllt. »Bist du es, Vater?«

 

Der andere erwiderte nichts darauf, sondern fragte sie nur mit kaum verständlicher Stimme, ob sie gehen könne.

 

»Ich glaube, ich kann den Weg nicht sehen.«

 

»Es ist nicht weit. Taste nur mit der Hand an der Wand entlang.«

 

Die Wände bestanden aus roh behauenen Felsen und fühlten sich feucht an. Schließlich kamen sie an eine Stelle, wo der Gang im rechten Winkel abbog. Er nahm ihren Arm und hielt sie an.

 

»Dorthin!«

 

Sie stieg drei Treppenstufen hinauf.

 

»Kopf beugen! Es ist sehr niedrig hier.«

 

Sie gehorchte und folgte ihm in gebückter Haltung etwa zwölf Schritte. Es kamen noch zwei Stufen, dann ging es langsam bergab. Hier konnte sie einen schwachen Schimmer des letzten Tageslichts von draußen hereinfallen sehen.

 

Sie trat durch einen niedrigen Bogen in einen Raum, an dessen Seiten vier Regale standen, die zum Teil mit Konserven und Nahrungsmitteln gefüllt waren.

 

»Wo bin ich?« fragte sie. Aber sie wandte sich ab, als sie das gräßliche weiße Gesicht ihres Begleiters sah.

 

sternchenland.com »Sie sind in Garre Castle,« antwortete der andere jetzt laut. »Und hier werden Sie bleiben, mein Fräulein!«

 

Sie machte sich aus seinem Griff los und eilte zur Tür zurück, aber sie war verschlossen und verriegelt. Bevor sie den Kücheneingang auf der anderen Seite erreichen konnte, hatte er sie gepackt. In dem Kampf, der sich jetzt entspann, riß sie ihm die Maske vom Gesicht und schrie plötzlich auf.

 

»Du – Sie – der Grüne Bogenschütze!«

 

Vor ihr stand – Lacy!

 

Kapitel 68

 

68

 

Lacy antwortete nicht. Er stieß sie durch eine kleine Tür unter der Treppe, dann noch durch einen anderen Eingang in die Halle. Sie erkannte den Raum sogleich wieder und wußte auch, daß in der Nähe eine Treppe zu den Gefängniszellen führte. Zuerst dachte sie, daß er sie dort hinbringen würde, aber er führte sie zur Bibliothek. Bellamy, unrasiert und schweißbedeckt, wartete dort auf sie.

 

Das tödliche Schweigen zwischen ihnen wurde nur von dem Krachen der Schüsse unterbrochen, das gedämpft hierhertönte. Plötzlich näherte sich ihr der alte Mann und packte sie mit beiden Armen an den Schultern.

 

»Nun sind Sie also doch gekommen, mein liebes Kind,« sagte er. »Sie sind der letzte meiner Gäste – der allerletzte.« – Er lachte ihr ins Gesicht mit einer Freude, die an Wahnsinn grenzte. »Ich habe sie alle geschnappt! Eigentlich hätte ich noch den alten, blinden Kerl, Ihren Vater fangen sollen, obgleich er gar nicht einmal Ihr Vater ist. Aber das ist jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich habe alle, auf die es ankommt, in meiner Hand. Alle, die schwätzen können, alle, die mich haßten – sie sind alle hier unten!« Er zeigte auf den Fußboden.

 

Sie schaute sich nach Lacy um.

 

sternchenland.com »Um Gottes willen, helfen Sie mir,« bat sie ihn. »Mein Vater wird Sie fürstlich dafür bezahlen!«

 

»Wozu bitten Sie Lacy? Der hilft Ihnen nicht! Ebensogut können Sie sich direkt an mich wenden!« höhnte Bellamy.

 

Mit einem Stoß rückte er den Schreibtisch zur Seite, zog das Stück vom Parkettboden heraus und öffnete die Tür. Er hatte das Gewehr in die Hand genommen, das so lange an einen Stuhl gelehnt stand, und wies mit der Mündung in die gähnende Öffnung.

 

»Da hinunter – Sie werden einige Freunde dort finden – gute Freunde – gehen Sie nur hinunter, Valerie! Diesmal mache ich keinen Fehler, und Sie entkommen mir nicht! Zweimal sind Sie mir entwischt, aber das drittemal habe ich Sie sicher!«

 

Er zeigte wieder auf die Treppe, und sie ging ohne ein Wort hinunter. Er beobachtete sie mit dem Gewehr in der Hand. Plötzlich entdeckte er, daß sich ihre Gestalt gegen einen helleren, erleuchteten Raum abhob.

 

»Die Tür ist ja offen!« brüllte er. Ein schwacher Geruch von verbranntem Holz drang zu ihm herauf.

 

Er hatte die Lösung dieses Rätsels sofort erfaßt.

 

»Die haben du unten das Schloß herausgebrannt? Nun ja, dann haben sie ein wenig mehr Raum zum Krepieren!« sagte er und ließ die steinerne Platte wieder herunter.

 

Lacy sah, daß er den Parkettboden nicht wieder an seine Stelle brachte.

 

»Also hier sind sie eingesperrt, Bellamy?« fragte er atemlos vor Verwunderung. »Wer ist denn alles da unten?«

 

»Julius Savini und seine Frau. Featherstone ist auch da.«

 

»Featherstone?« sagte Lacy starr vor Staunen. »Wer sind denn die Leute, die uns draußen angreifen?«

 

»Die Polizei,« entgegnete Bellamy kurz.

 

Lacy erschrak. Er war eine groteske Erscheinung in seinem sternchenland.com schlechtsitzenden grünen Anzug, den er gekauft hatte, um als Grüner Bogenschütze aufzutreten. Es war Bellamys Idee gewesen. Er hatte Lacy ausgeschickt, um Lady’s Manor zu beobachten, und auch damals hatte er dieses phantastische Kostüm getragen. An jenem Abend hätte ihn Wood beinahe gefangen, die Erinnerung daran war ihm schrecklich.

 

»Dann haben Sie mich also beschwindelt – Sie haben doch vorher erzählt, daß das Militär in der Gegend eine Übung abhält! Sie verfluchter, alter Lügner! Wo ist mein Geld? Ich gehe!«

 

»Auf welchem Weg wollen Sie denn hinausgehen?« fragte Bellamy ruhig.

 

»Zurück durch Lady’s Manor, sobald ich mich umgezogen habe. Ich habe jetzt wirklich genug von Ihnen, Bellamy! Sie sitzen in der Falle drin, aber ich möchte hier nicht gefunden werden. Und wenn ich später gefragt werden soll, um gegen Sie zu zeugen, bei Gott –«

 

»Dann werden Sie alles sagen.«

 

Bellamy öffnete seinen Geldschrank, nahm einen Pack Banknoten heraus und warf sie auf die Tischplatte vor ihn hin.

 

»Da haben Sie Ihr Geld! Sie können sofort gehen! Haben Sie eine Pistole?«

 

»Natürlich!« schrie ihn Lacy an. »Glauben Sie Schurke denn, daß ich mich in dieses Haus ohne eine Waffe gewagt hätte?«

 

Als Antwort öffnete Bellamy die steinerne Schwingtür mit dem Fuß.

 

»Bringen Sie Savini heraus. Er ist nicht bewaffnet, aber er wird sich wahrscheinlich mit allen Kräften wehren.«

 

Lacy runzelte die Stirn.

 

»Holen Sie ihn doch selbst herauf!«

 

»Damit Sie inzwischen der Polizei die Türen öffnen können,« meinte Bellamy höhnisch. »Gehen Sie sofort hinunter! Wovor fürchten Sie sich denn?«

 

sternchenland.com Lacy stand mit der Pistole in der Hand schußbereit. Er war weiß bis in die Lippen.

 

»Ich tue es nicht,« sagte er heiser, »wenn Sie nicht vorausgehen.«

 

Bellamy zuckte die breiten Schultern und stieg hinunter, ohne ein Wort zu verlieren. Lacy folgte ihm in einiger Entfernung. Aber Lacy war zu vorsichtig, denn Bellamys Treppe war eng, und wer zuerst unten auf dem Fußboden ankam, konnte sich seitwärts an die Wand neben die Treppe stellen, und als Lacy nach unten kam, fühlte er sich plötzlich um Handgelenk ergriffen. Er versuchte, sich zu halten, aber Bellamy gab ihm einen furchtbaren Tritt in den Rücken, so daß er der Länge nach hinschlug. Mit einem kurzen Ruck entriß ihm der Alte den Revolver, steckte ihn in die Tasche und war im nächsten Augenblick oben. Die Steinplatte schloß sich wieder.

 

Valerie stand am Eingang des kleinen Ganges durch die Fundamentmauer und wußte nicht, was sie beginnen sollte. Sie war nicht fähig, einen Fuß vor den andern zu setzen, und es kam ihr kaum zum Bewußtsein, daß eine Frauenstimme sie anrief.

 

»Miß Howett!«

 

Valerie starrte sie verständnislos an.

 

»Sind Sie Mrs. Savini?« fragte sie dann mit schwacher Stimme.

 

Im nächsten Augenblick lag sie in Fays Armen und schluchzte. Fay fühlte, daß sie wie im Fieber zitterte.

 

»Ist Captain Featherstone hier?«

 

»Ja, Sie können ihn sehen, aber er ist nicht im selben Raum.«

 

»Wo ist er denn? Ich muß ihn sprechen.«

 

Sie achtete kaum auf Julius, obgleich er es war, der ihr das Eisengitter zeigte und Jim Featherstone herbeirief.

 

»Jim, Jim!« rief sie heftig.

 

sternchenland.com Er war entsetzt, als er ihre Stimme hörte.

 

»Sind Sie das, Valerie? Ach, mein Gott!«

 

»Wir werden nicht mehr lange hier sein,« sagte sie. »Die Polizei ist durch Militär verstärkt worden. Sie glauben bestimmt, daß sie ihn fangen werden. Mr. Holland sagt, daß die Burg noch diesen Abend genommen wird.«

 

»Wie war es nur möglich, daß Bellamy Sie hierherlocken konnte?«

 

»Der Grüne Bogenschütze hat mich hergebracht.«

 

»Der Grüne Bogenschütze? Das ist doch unmöglich!«

 

Sie nickte.

 

»Es war Lacy.«

 

»Aber es kann unmöglich Lacy gewesen sein,« sagte er nach einer Pause. »Sind Sie ganz sicher?«

 

»Ich habe ihm die Maske abgerissen, ich weiß es gewiß.«

 

»Es ist unglaublich, ich kann es nicht verstehen. Aber im Augenblick ist es ja ganz gleich, wer der Grüne Bogenschütze ist, liebe Valerie. Daß auch Sie noch hier sind, ist das Entsetzlichste von allem.«

 

»Was beabsichtigt Bellamy wohl? Was könnte er uns denn tun?«

 

»Ich glaube, daß er etwas Fürchterliches im Schilde führt – aber was es auch sein mag, Valerie; wir müssen ihm stark entgegentreten, beinahe hätte ich gesagt, als brave Engländer, aber ich vergaß im Augenblick, daß Sie Amerikanerin sind. Wir müssen sterben wie gute Angelsachsen, wenn es zum letzten kommt.«

 

»Besteht denn gar keine Hoffnung, daß wir wieder nach oben kommen?« fragte sie.

 

»Nein,« sagte Jim eindringlich. Es war besser, daß sie es wußte. »Wie hat der Grüne Bogenschütze Sie denn hergebracht? Die ganze Burg ist doch von Polizei abgesperrt?«

 

»Wir kamen durch einen unterirdischen Gang, der Lady’s sternchenland.com Manor mit der Burg verbinden muß. Ich habe immer vermutet, daß er existierte.«

 

»Ich auch, nachdem Sie mir erzählt hatten, daß die Diener über einen Liebesweg sprachen. Außerdem erklärt der Name Ihres Hauses den Zusammenhang. Lady’s Manor ist das Haus, das ein de Curcy für seine Geliebte baute. Diese Liebeswege waren in alten Zeiten zwischen verschiedenen Häusern nicht so selten. Durch diesen Gang ist auch der Grüne Bogenschütze gekommen, und nun erklärt sich auch, warum Sie ihn in Lady’s Manor in der Nähe sahen. Er war damals auf seinem Weg zu der Burg.«

 

»Aber Sie vergessen, daß ich ihm auch draußen im Park begegnet bin.« Jim erinnerte sich wieder daran.

 

Julius, der einen Augenblick weggegangen war, kam mit einer wichtigen Nachricht wieder.

 

»Lacy ist auch hier unten?« fragte Jim überrascht.

 

»Der Alte hat ihn eben die Treppe hinuntergeworfen, und Fay wascht seine Wunden gerade aus. Er trägt das Kostüm des Grünen Bogenschützen.«

 

»Lacy? Wie entsetzlich!« flüsterte Valerie ängstlich. »Jim, können Sie nicht durch diese Öffnung kommen?«

 

»Julius wird Sie schon beschützen, ängstigen Sie sich nicht,« antwortete Featherstone, aber er war von seinen Worten nicht überzeugt. »Später kann ich vielleicht durchkommen, liebe Valerie. Ich habe schon zwei Eisenstäbe aus dem Zement herausgeschlagen. Ich habe nämlich dem Alten den Hammer weggenommen, er ist mir schon sehr nützlich gewesen.«

 

Er fing wieder an zu hämmern.

 

Valerie wandte sich an Julius.

 

»Ist er schwer verwundet?« fragte sie.

 

»Nein, er ist nur auf den Kopf gefallen und blutet etwas. Er ist der einzige Körperteil an Lacy, den man unmöglich verwunden kann, selbst wenn man mit einem schweren Wagen sternchenland.com darüberfährt. War er es nicht, der Sie von Lady’s Manor weggebracht hat? Ich hörte eben, wie Sie es Featherstone erzählten. Es ist schließlich ganz gut, daß er die Treppe herunterfiel. Ich fand eine brauchbare Waffe bei ihm, die er unter seinem Kostüm versteckt hatte. Die können wir gut gebrauchen.«

 

Julius zeigte mit Stolz seinen Fund.

 

»Natürlich hatte ich sofort den richtigen Gedanken, ihn zu durchsuchen. Aber außer der Pistole hatte er nichts bei sich,« sagte er dann laut. »Er hat mir gesagt, daß Bellamy ihm ein Paket Banknoten gegeben hätte. Entweder bildet er sich das ein, oder der Alte hat sie ihm wieder weggenommen, als er mit ihm handgemein wurde. Bellamy verschwendet kein Geld, und damit hat er auch wohl recht.« Er klopfte unbewußt auf seine volle Brusttasche.

 

Valerie fand Fay damit beschäftigt, einen einfachen Verband um Lacys Kopf zu legen. Er bot einen lächerlichen Anblick. Sein grasgrünes Kostüm war zerrissen, mit Blut befleckt und schmutzig.

 

»Ich hatte eine Menge Geld, als ich hier hinfiel,« sagte er, »ich kann es aber nicht mehr finden. Geld hat doch keine Beine – es kann doch nicht weglaufen!«

 

»Wenn Sie Geld bei sich gehabt hätten, würden Sie es jetzt auch noch haben,« erwiderte Fay ruhig. »Und ich habe früher Geld gehabt, das viel schneller weglief als die Flugpost bei günstigem Winde. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß mein Julius es Ihnen weggenommen hat?«

 

»Ich weiß nicht, ob ich Julius beschuldigen soll, aber er hat auch meine Pistole geholt – ebensogut kann er auch das Geld genommen haben!«

 

»Die Pistole war eben da, aber das Geld nicht. Es ist doch eigentlich unklug, Leute anzuklagen, die Ihnen helfen und Sie verbinden. Wahrscheinlich hat Bellamy Ihnen das Geld wieder weggenommen.«

 

sternchenland.com »Warum hat er denn aber nicht meine zweite Pistole genommen?« fragte Lucy folgerichtig. »Die wäre ihm doch sicher wichtiger gewesen. Wo ist sie denn?«

 

»Julius hat sie,« antwortete Fay. »Und Julius wird sie auch behalten!« fügte sie nachdrücklich hinzu.

 

»Was will denn der Alte hier mit uns machen? Er kann uns doch nicht in alle Ewigkeit hier sitzen lassen? Wo kann ich schlafen?«

 

»Entweder auf oder unter der Treppe.«

 

»Sind denn keine Betten hier unten?« fragte Lucy aufsässig.

 

»Hier ist ein Steinbett,« sagte Fay ironisch. »Und da können Sie auch schlafen. Und wenn Sie sich nicht fügen wollen, dann werden Sie schon zur Vernunft gebracht werden. Sie sind ein ganz gemeiner Kerl, Sie haben Miß Howett aus ihrem Hause weggebracht – wenn Featherstone Sie kriegt –«

 

»Ist der hier?« fragte Lacy erschrocken.

 

»Im Augenblick noch nicht, aber er ist auf der anderen Seite des Eisengitters.«

 

»Hoffentlich bleibt er auch dort!«

 

Julius und Jim lösten sich während des ganzen Abends bei den Arbeiten am Eisengitter ab.

 

Kurz vor neun konnten sie mit vereinten Kräften das Gitter ausbrechen, und Jim kam durch die Öffnung. Als er Valerie sah, nahm er sie ohne ein Wort und ohne Entschuldigung in die Arme und küßte sie leidenschaftlich.

 

Sie verloren keine Zeit mit Fragen und Erklärungen, Jim hatte seinen Entschluß Savini mitgeteilt, und Julius war der selben Ansicht. Sie nahmen den Diwan von der Wand und brachen die Füße ab. So war er schmal genug, daß sie ihn durch die Öffnung schaffen konnten, obgleich sie dabei den kostbaren Bezug zerrissen.

 

sternchenland.com »Wozu geschieht denn das? Wollen Sie vielleicht den anderen Raum möblieren?« fragte Fay.

 

»Dort wird noch allerhand passieren,« antwortete Jim. »Den Tisch kann ich auch gebrauchen,« meinte er dann. Gleich darauf schlug er mit seinem Hammer alle Beine ab und reichte sie Julius. »Sie können hier helfen, Lacy!« rief Jim und Lacy beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen.

 

»Was soll ich tun, Captain?« fragte er.

 

»Gehen Sie diese Treppe hinauf. Sobald Sie Bellamy sehen, rufen Sie und machen, daß Sie wieder herunterkommen! Also los, marsch nach oben!« Jim nahm ihn am Ohr, führte ihn hinauf und stellte ihn direkt hinter der vergitterten Eisentüre auf. Er konnte gerade über die aufgeschichteten Balken hinwegsehen. »Sobald er kommt, rufen Sie laut! Verstanden?«

 

»Ja!« sagte Lacy unwillig. »Glauben Sie, ich bin so schrecklich dumm?«

 

»Ich möchte Ihnen jetzt nicht sagen, was ich von Ihnen denke.«

 

Jim wandte sich ab, ließ den Mann auf seinem Posten zurück und ging wieder zu Julius.

 

»Ich bin allerdings nicht sicher, ob unsere Vorsichtsmaßregeln etwas nützen werden. Wenn wir nur ein paar Nägel hätten!«

 

Er errichtete eine Barrikade um die Öffnung in der Wand, aus der das Eisengitter herausgebrochen war. Fay unterstützte ihn dadurch, daß sie den Gummischlauch wieder an einem der Gashähne befestigte und ihm bei der Arbeit leuchtete. Tische und Betten wurden zu der Barrikade gebraucht, und während die anderen unten rastlos arbeiteten, saß Lacy oben am Eingang der Treppe und gab sich seinen Gedanken hin. Er verabscheute Bellamy, aber sein Haß gegen den Mann, in dessen Gesellschaft er durch diesen Zufall geraten war, kannte keine Grenzen.

 

Kapitel 64

 

64

 

Die graue Frau war also die ganze Zeit in der Nähe gewesen! Vielleicht war sie noch hier und verbarg sich in der Nachbarschaft, so daß er sie unmittelbar hätte erreichen können. Sicher war sie es, er hatte das graue Kleid nach der Beschreibung genau wiedererkannt. Nie hatte sie Kleider von ihm annehmen wollen, und obgleich er ihr die schönsten französischen Modeschöpfungen brachte, trug sie doch von dem Tage an, an dem sie in die Burg kam, stets ihr grauseidenes Kleid.

 

Diesen Abend ging er nicht zu Bett, und am Morgen schloß er sich in der Bibliothek ein, um nicht gestört zu werden. Dann ging er die geheime Treppe zu Savinis Gefängnis hinunter, sternchenland.com öffnete schnell die Tür und war in dem Raum, bevor Julius nach seiner Pistole greifen konnte.

 

»Hände hoch!« rief der Alte. »Ich will Ihren Revolver haben!«

 

Er nahm seinem hilflosen Gefangenen die Waffe aus der Tasche und schloß dann die Tür von innen fest zu.

 

»Ich möchte mich ein wenig mit Ihnen unterhalten, Savini,« sagte er, als er zu Julius zurückging. »Sie haben mir doch gesagt, daß neulich in der Nacht jemand hierherkam, um ein Buch zu holen. Haben Sie mich damals belogen?«

 

»Warum sollte ich denn die Unwahrheit sagen?« fragte Julius finster.

 

»Haben Sie gesehen, wer es war?«

 

»Nein, ich hörte nur das Geräusch, wie die Tür geschlossen wurde.«

 

»Meinen Sie diese Tür?« Der Alte zeigte auf die Öffnung, durch die er gekommen war.

 

Savini nickte.

 

Bellamy ging in das Schlafzimmer und zog den Vorhang vor dem Schrank beiseite. Die Kleider der grauen Frau hingen noch dort wie an dem Tage, als er die Savinis eingesperrt hatte. Er nahm sie und legte sie über den Arm.

 

»Wie lange wollen Sie uns noch hier lassen, Bellamy?« fragte Fay. »Es wird etwas langweilig.«

 

»Sie sind doch bei Ihrem Mann, das ist doch für eine Frau alles, was sie braucht. Und Sie sind ja eine gute Frau, nach allem, was ich von Ihnen gehört habe.«

 

»Werden Sie nicht anzüglich,« sagte Fay. »Das hat hiermit nichts zu tun. Wie lange wollen Sie uns noch hier gefangenhalten?«

 

»Sie werden so lange hier bleiben, wie ich will. Und wenn es Ihnen zu langweilig ist, und Sie Gesellschaft haben wollen, kann ich diese Frage schon lösen.«

 

Sie antwortete nicht. Aber als er sich der Tür zuwandte, sternchenland.com sprang sie ihn plötzlich wie eine wilde Katze an, umfaßte mit ihren Armen krampfhaft seinen Hals und zog ihn nach hinten zurück.

 

»Schnell, Julius!« schrie sie.

 

Aber bevor Savini näherkommen konnte, hatte der alte Mann sie schon abgeschüttelt wie ein Hund eine Ratte und sie fiel dumpf auf den Steinboden. Bellamy nahm sich nicht einmal die Mühe, die Pistole zu ziehen. Mit bloßer Hand stieß er Savini zurück. Julius hätte weinen können, als er seine vollkommene Machtlosigkeit einsehen mußte. Fay war sofort wieder aufgesprungen. Sie sah bleich und gebrochen aus. Aber Bellamy schaute sie jetzt mit anderen Augen an, es lag etwas von Bewunderung für diese kühne Frau in seinem Blick.

 

»Wenn Ihr Mann nur ein klein wenig von der Energie und dem Mut hätte, den Sie besitzen!« sagte er dann.

 

»Das geht Sie gar nichts an,« erwiderte sie verächtlich. »Geben Sie ihm seine Pistole zurück und probieren Sie es mal, Sie Gorilla!«

 

Bellamy lachte und wandte sich wieder dem Ausgang zu. Fay packte ihn noch einmal am Arm und versuchte ihn aufzuhalten, aber er schüttelte sie wieder ab. Als er zur Bibliothek zurückkam, rief er Sen. Dann nahm er die Kleider und ging mit seinem Chauffeur zu einer entlegenen Stelle des Parks in der Nähe der Garage. Sie durchtränkten die Kleider mit Benzin und steckten sie an.

 

»Die Sache wäre also in Ordnung,« sagte Bellamy und stieg wieder in den Gefängniskeller hinunter, um seine Arbeit fortzusetzen.

 

Den ganzen Nachmittag hörte Julius das Klopfen von eisernen Werkzeugen. Aber er gab sich keine Mühe zu sehen, was der alte Mann machte, da er ganz richtig vermutete, daß Bellamy die vergitterte Öffnung dicht verschlossen hielt.

 

sternchenland.com Zum erstenmal kam die Verzweiflung über Julius. Er hatte keine Waffe mehr, mit der er sich und Fay verteidigen konnte. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage bedrückte ihn furchtbar.

 

»Es hat gar keinen Zweck,« sagte er, »wir müssen damit rechnen, daß wir hier jahrelang eingesperrt werden.«

 

»Der Gedanke würde mich trösten,« antwortete sie. »Aber hast du noch niemals daran gedacht, was geschieht, wenn der Alte plötzlich stirbt?« Sie schauderte.

 

»Um Himmels willen, gib dich doch nicht so fürchterlichen Gedanken hin!« rief er nervös. »Du glaubst doch nicht – daß wir hier verhungern müssen?«

 

»Julius, ist es denn nicht möglich, die Tür aufzubrechen?«

 

»Keins der Möbelstücke ist schwer genug, es ist auch nichts anderes da, womit man die Tür einschlagen könnte.«

 

Sie biß sich nachdenklich auf die Lippen.

 

»Ich wünschte nur, der alte Teufel käme noch einmal hier herunter. Ich müßte eigentlich eine Dusche haben.«

 

»Was willst du haben?« fragte er ungläubig.

 

»Eine Dusche,« sagte sie ruhig. »Das ist nun einmal eine meiner Schrullen.«

 

Abel Bellamy war immer noch an der Arbeit, wie sie aus dem andauernden Hämmern unten hören konnten. Plötzlich ging Fay zu der Öffnung und kroch so dicht wie möglich an das eiserne Gitter. Sie konnte aber nicht hindurchsehen, die Öffnung war mit einem Sack verhängt.

 

»Bellamy!« rief sie, und nach einer Weile hörte er sie auch.

 

»Was wollen Sie denn?« fragte er und hörte auf zu hämmern.

 

»Wenn Sie uns hier gefangenhalten wollen, dann können Sie es uns doch wenigstens behaglich machen,« sagte Fay kühl, als er den Sack wegzog und sie anstarrte.

 

»Im Gefängnis haben Sie es nicht so komfortabel gehabt, junge Frau. Was wollen Sie denn?«

 

sternchenland.com »Ich mochte eine Dusche haben. Diese Vollbäder bekommen meiner zarten Konstitution nicht.«

 

»Was wollen Sie?« brüllte er und brach in ein schallendes Gelächter aus. Sein Gesicht wurde rot, und sie betrachtete ihn furchtsam. Aber er beherrschte sich sofort wieder.

 

»Vielleicht soll ich Ihnen auch ein Boudoir einrichten? Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen eine Dusche anbringen werde?«

 

»Ich will gar nicht, daß Sie irgend etwas anbringen, ich will auch nicht, daß Sie hereinkommen, weil Sie Manieren wie ein Schwein haben,« sagte Fay offen. »Ich will nur einen Gummischlauch haben, um ihn am Wasserhahn anbringen zu können.«

 

Er brummte etwas vor sich hin und ließ den Sack wieder herunterfallen. Nach einer halben Stunde hörte sie, daß er ihren Namen rief und lief zu der Öffnung. Er schob einen roten Gummischlauch hindurch.

 

»Der ist vielleicht etwas zu lang, Sie können ihn ja abschneiden. Wenn Sie aber denken, er wäre zu gebrauchen, um mir damit ins Gesicht zu spritzen, wenn ich hereinkomme, damit ich nichts sehen kann – dann sollen Sie einmal etwas erleben!«

 

Triumphierend nahm sie den Schlauch in Empfang.

 

»Wozu brauchst du ihn denn?« fragte Julius leise, aber sie legte nur ihren Finger an die Lippen und sah ihn bedeutungsvoll an.

 

Als am Abend alles ruhig war, schob sie den Schlauch über eine der Gaslampen. Der Schlauch war zu weit, sie suchte einen Bindfaden und band ihn dicht an den Hahn. In das andere Ende steckte sie die Spitze, die sie von dem Brenner genommen hatte, und machte auch dieses durch Umwickeln mit Bindfaden dicht. Der Sicherheit halber strich sie noch Seife herum. Als sie damit fertig war, drehte sie den Gashahn auf und steckte vorne den Brenner an. Eine lange Stichflamme sternchenland.com schoß heraus. Sie brachte sie an die Türe in die Gegend des Schlosses. Der Schlauch war gerade lang genug, das Holzwerk begann zu rauchen und verkohlte langsam.

 

»Hole Wasser,« flüsterte Fay. »Wir müssen das Feuer auslöschen, sobald helle Flammen herausschlagen.«

 

So arbeiteten sie die ganze Nacht zusammen. Der Raum unten war von beißendem Rauch erfüllt. Um drei Uhr morgens konnte Julius die Türe endlich aufbrechen. Polternd fiel das Schloß heraus.

 

Sie waren vollständig erschöpft, ihre Gesichter waren schwarz vom Rauch, ihre Augen schmerzten fürchterlich, und sie husteten. Fay ging durch die Tür in den Raum unter der Bibliothek und lehnte sich an die Wand. Sie atmete schwer – nun blieb nur noch die Tür unter dem Schreibtisch Bellamys. Sie sah wohl ein, daß dies eine viel schwierigere Aufgabe war, als die Holztür. Wie schwer es sein würde, konnte sie nur vermuten, denn sie besann sich nicht auf alle Einzelheiten, als sie damals hindurchgegangen waren.

 

Durch die offene Tür fiel das Gaslicht aus ihrem Wohnzimmer in diesen Raum. Sie stiegen die Treppe in die Höhe und durchsuchten die Decke.

 

»Es ist vollkommen nutzlos, Fay,« meinte Julius. »Wir können uns höchstens unter der Treppe verstecken und den Alten von hinten niederschlagen, wenn er herunterkommt und uns drüben sucht.«

 

»Womit denn?« fragte sie.

 

»Mit dem Gasschlauch!«

 

Sie gingen beide zurück und betrachteten den Schlauch.

 

»Er ist doch nicht stark genug,« sagte Julius. »Wir müssen etwas Schwereres finden.«

 

Aber trotzdem sie den Raum eingehend durchsuchten, fanden sie nichts, das sie als Waffe hatten gebrauchen können. Julius ging wieder die Treppe hinauf und untersuchte die steinerne Platte. Er stemmte sich in der Nähe der Stelle, wo er sternchenland.com das Schloß vermutete, mit aller Macht dagegen. Plötzlich hörte er Fußtritte über sich und bückte sich instinktiv. Das schwache Läuten einer Telephonglocke drang zu ihm hin, dann sprach jemand.

 

»Ist dort Captain Featherstone? … Können Sie sofort nach Garre Castle kommen? Mr. Bellamy ist um zwei Uhr morgens gestorben. Er hat ein großes Schriftstück hinterlassen, das für Sie bestimmt ist.«

 

Julius war vollständig erstarrt über diese Nachricht und ging schreckensbleich wieder die Treppe hinunter.

 

»Was ist los, Julius?« Fay packte ihn am Arm und sah ihn ängstlich an.

 

»Nichts – es ist nichts,« sagte er heiser.

 

»Du hast doch jemand sprechen hören – hast du etwas verstanden?«

 

»Es war – ich weiß nicht … ich glaube, es war Lacy.«

 

»Lacy? Um diese Morgenstunde? Zu wem sprach er denn?«

 

Julius schluckte.

 

»Er sprach zu Featherstone. Aber es ist besser, daß du es weißt – Bellamy ist tot!«

 

Sie war entsetzt.

 

»Bellamy ist tot?« sagte sie ungläubig. »Wer hat dir das gesagt?«

 

»Lacy hat an Featherstone telephoniert, daß Bellamy ein Schriftstück hinterlassen hätte, das Featherstone lesen soll.«

 

Sie sah ihn argwöhnisch an.

 

»Bellamy ist tot? Und Lacy ruft Featherstone an, daß er herkommen soll? Featherstone würde Lacy doch sofort ins Gefängnis stecken. Glaubst du denn, daß Lacy so dumm ist? Wenn der Alte wirklich ein solches Schriftstück zurückgelassen hat, dann konnte Lacy es ihm doch per Post zuschicken, nachdem er sich selbst gedrückt hatte. Daß Bellamy tot ist, hilft Lacy doch nicht. Die Polizei ist deswegen genau sternchenland.com so hinter ihm her wie früher. Was wird Featherstone nun wohl tun? Glaubst du, daß er Lacy um den Hals fällt, sich an seiner Brust ausweint und sagt, daß alles vergeben und vergessen ist? Nein, Julius! Es ist ja möglich, daß Featherstone in die Falle geht, weil er in Valerie Howett verliebt ist und seine Gedanken nicht beieinander hat. Aber wenn er wirklich bei der Sache ist, dann müßte er doch merken, daß das ein Trick ist. Julius, du bist doch ein merkwürdiger Mensch! Du zitterst hier wie Gelee bei einem Erdbeben und du könntest ohne Hilfe mit Bellamy fertig werden! – Wir wollen aber jetzt wieder in unser Wohnzimmer zurückgehen und die Sache miteinander besprechen. Der Rauch verzieht sich allmählich.«

 

Die Ventilation war so gut, daß sich die Luft schon wieder erneuert hatte, als sie zurückkamen.

 

»Wir werden Gesellschaft bekommen,« meinte Fay. »Der alte Bellamy hält sein Versprechen.«

 

Kapitel 6

 

6

 

Der tadellos gekleidete junge Mann, der als Dritter an dem Mittagessen der Howetts teilgenommen hatte, war denn doch älter, als sein rosiges, jugendliches Gesicht vermuten ließ. Valerie hatte das auch gleich angenommen, als ihr Vater ihn ihr vorstellte. Sie interessiere sich zuerst wenig für ihn. Auf ihren Reisen mit ihrem Vater, die ihn auch häufig nach Amerika führten, hatte sie in Chicago und in New York, ja in jeder größeren Stadt der Vereinigten Staaten, die verzogenen Söhne eingebildeter Väter gefunden, junge Leute, die an nichts anderes im Leben dachten, als die Stunden möglichst totzuschlagen, die sie von ihren nächtlichen Abenteuern trennten. Sie kannte nur zu genau die Grenzen ihrer Interessen, die gewöhnlich zwischen ihren schnellen Automobilen und ihren nächtlichen Gelagen schwankten, aber zum erstenmal war sie einem solchen jungen Mann in England begegnet.

 

In mancher Weise war James Lamotte Featherstone besser als alle anderen, die sie bisher kenngelernt hatte. Sein Leben war zwar auch ohne Ziel und Zweck, aber er besaß den großen Vorzug, sehr gute Manieren zu haben und ihr gegenüber äußerst zurückhaltend zu sein. Er sprach niemals von sich selbst, aber über andere Dinge konnte er sehr unterhaltsam sein.

 

Valerie hatte ihn zuerst geduldet, weil er viel stattlicher und vornehmer war als der Detektiv, den ihr Vater früher engagiert hatte, um sie auf ihren etwas gefährlichen, einsamen Streifzügen in die Umgebung zu begleiten. Aber schließlich mochte sie ihn ganz gerne trotz seiner übertrieben eleganten Kleidung.

 

Am Tage nach der Ermordung Creagers sprach er bei ihr vor, um mit ihr in den Park zu gehen.

 

Als sie in dem sonnigen Park angelangt waren und er sternchenland.com einen Stuhl für sie an der Seite des großen Reitweges besorgt hatte, wandte sie sich plötzlich an ihn.

 

»Ich möchte Sie etwas fragen, und zwar etwas ganz Persönliches.«

 

»Was tun Sie eigentlich anders, als anständige junge Damen auf ihren Spaziergängen begleiten?«

 

Er schaute sie scharf an.

 

»Sie sind sehr anziehend,« sagte er dann ernst. »Sie erinnern mich immer an Beatrice d’Este, die Dame, die Leonardo malte, nur ist Ihr Gesicht noch zarter und Ihre Augen sind viel schöner –«

 

Sie wurde dunkelrot und unterbrach ihn.

 

»Mr. Featherstone,« sagte sie ärgerlich, »haben Sie denn nicht gemerkt, daß ich mir einen Scherz erlaubte? Haben Sie denn als Engländer gar keinen Sinn für Humor? Ich sprach doch nicht von mir selbst.«

 

»Sie kennen aber doch niemand anders, den ich jemals begleitet hätte,« verteidigte er sich und gab dem Gespräch taktvoll eine andere Wendung. »Nein, ich habe sonst nichts zu tun.«

 

»Sie bügeln nicht einmal Ihre eigenen Beinkleider,« sagte sie streng, denn sie hatte sich über ihn geärgert.

 

»Nein, das tue ich nicht, ich habe einen Mann dafür angestellt,« gab er zu. »Aber ich bürste meine Haare allein,« fügte er stolz hinzu.

 

Sie mußte trotz ihrer schlechten Laune lachen, aber plötzlich wurde sie wieder ernst.

 

»Mr. Featherstone, ich bitte Sie um einen großen Gefallen. Ich weiß selbst nicht, warum ich Sie eben ärgerte. Mein Vater ist ängstlich besorgt um mich, er ist ein wenig altmodisch und bildet sich ein, daß eine junge Dame nicht allein ausgehen dürfte. Er ist sogar auf den Einfall gekommen, einen Detektiv zu engagieren, der mich beschützen soll.«

 

sternchenland.com »Ihr Vater ist ein sehr vernünftiger Mann,« sagte Jimmy Featherstone prompt. Aber das war gerade das, was er nicht hätte sagen sollen.

 

»Das vermute ich auch.« Valerie unterdrückte mit Mühe eine scharfe Entgegnung. »Aber … ich möchte offen sein, Ihnen gegenüber. Ich sehne mich danach, allein zu sein. Ich brauche ganze Tage für mich – verstehen Sie, Mr. Featherstone?«

 

»Ja.«

 

»Ich kann wirklich nur allein sein, ohne meinen Vater zu ängstigen, wenn er denkt, daß Sie mich irgendwohin begleiten – ins Theater oder … oder ins Museum.«

 

»Ich würde Sie niemals dorthin bringen,« widersprach Jimmy, und die gereizte junge Dame seufzte schwer.

 

»Ich meine etwas anderes – ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich möchte, daß Sie morgen kommen und mich zu einem Spaziergang abholen, mich dann aber allein lassen, so daß mein Wagen da hinfahren kann, wo ich will. Sie können ja ruhig sagen, daß Sie mich zu einer Tagestour mitnehmen – Vielleicht auf den Fluß –«

 

»Die Jahreszeit ist aber eigentlich schon etwas weit vorgeschritten für eine Partie auf dem Fluß.«

 

»Also schön, zu irgendeinem anderen Ausflug, der mich den ganzen Tag von Hause fernhält. Mein Vater reist Mittwoch abend nach Schottland ab –«

 

»Sie wünschen also von mir, daß ich vorgeben soll, mit Ihnen auszugehen, und dann soll ich Sie sich selbst überlassen?«

 

Sie seufzte wieder.

 

»Wie klug Sie sind! Ja, das möchte ich.«

 

Jimmy Featherstone bohrte mit seinem Spazierstock ein Loch in den Kies.

 

»Ich will Ihren Wunsch unter einer Bedingung erfüllen,« sagte er dann langsam.

 

sternchenland.com Sie schaute ihn erstaunt an.

 

»Unter einer Bedingung? Was soll das heißen?

 

Er hob den Kopf und schaute ihr gerade in die Augen.

 

»Überlassen Sie die Nachforschungen nach Abel Bellamys Angelegenheiten jemand anders. Das ist keine Aufgabe für eine Dame. Wenn die Polizei die Pflanzung hinter Creagers Haus abgesucht hätte, dann wäre es Ihnen sicher schwer gefallen, Ihre Anwesenheit dort zu erklären, Miß Howett!«

 

Einen Augenblick starrte Valerie ihren Begleiter sprachlos an. Sie war blaß geworden.

 

»Ich – ich verstehe Sie nicht, Mr. Featherstone,« stotterte sie.

 

Der junge Mann wandte sich zu ihr und sah sie lächelnd an, halb belustigt, aber es lag auch eine gewisse Warnung in seinem Blick.

 

»Miß Howett, Sie haben mir eben den Vorwurf gemacht, daß ich ein zweckloses Leben führe. Ein Müßiggänger hat sehr viel Zeit, Beobachtungen anzustellen. Sie kamen an meiner Wohnung in St. James‘ Street in einem Mietauto vorbei und fuhren hinter dem Fordwagen Mr. Creagers her.«

 

»Sie kannten Creager?« fragte sie erstaunt.

 

»Ich kannte ihn oberflächlich,« sagte Mr. Featherstone, der mit seinem Spazierstock spielte und ihren Blicken auswich. »Ich kenne fast alle Leute oberflächlich,« fügte er dann lächelnd hinzu, »manche allerdings sehr eingehend. Zum Beispiel weiß ich, daß Sie Ihren Wagen am Ende der Field Road entließen und zu Fuß die Straße entlang gingen – bis zu Creagers Haus. Dann schien es so, als ob Sie nicht recht wüßten, was Sie tun sollten. Sie kamen zu dem Eingang eines kleinen Fußpfades, der durch die Pflanzung neben Creagers Garten führt. Sie gehörte ihm nicht, er hatte sie nur gepachtet. Er hatte sich auch nicht die Mühe gegeben, den Hinteren Teil seines Gartens nach der Pflanzung zu mit sternchenland.com einem Zaun abzuschließen. Dort haben Sie letzten Abend bis acht Uhr gewartet.«

 

»Das haben Sie alles nur vermutet,« entgegnete sie scharf. »Mein Vater hat Ihnen erzählt, daß ich zum Abendessen nicht zurückkam –«

 

»Es ist nicht nur bloße Vermutung,« sagte er ruhig. »Sie haben in der Pflanzung gewartet, weil Sie fürchteten, daß man Ihre Anwesenheit wahrnehmen würde.«

 

»Von wo aus haben Sie mich denn beobachtet?«

 

Er lächelte wieder.

 

»Ich war auch in der Pflanzung. Es tut mir leid, daß es so war, sonst hätte ich unseren Freund, den Grünen Bogenschützen, wahrscheinlich gesehen.«

 

»Was haben Sie denn dort zu tun gehabt? Wie dürfen Sie es wagen, hinter mir her zu spionieren, Mr. Featherstone?«

 

Er zwinkerte mit dem Auge, aber kein Muskel seines Gesichts rührte sich.

 

»Sie sind inkonsequent, Miß Howett. Noch vor kurzem haben Sie sich darüber beklagt, daß ich nichts täte und nun erzähle ich Ihnen, daß ich Sie auf einer sehr gefährlichen Expedition geschützt habe –«

 

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Ich weiß nicht, was ich davon denken soll. Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, Mr. Featherstone. Wie kamen Sie überhaupt auf den Gedanken, daß ich Creager folgte?«

 

Nachdenklich nahm er ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche.

 

»Gestatten Sie, daß ich rauche?« fragte er. Als sie nickte, zündete er sich eine Zigarette an und blies den blauen Rauch in die stille Morgenluft.

 

»Sie folgten Creager,« sagte er langsam, »weil – das vermute ich allerdings nur – weil Sie dachten, daß er in seinem Groll Bellamy verraten und Ihnen vielleicht die Aufklärung sternchenland.com geben würde, nach der Sie nun schon seit Jahren suchten.«

 

Sie starrte ihn verblüfft an.

 

»Sie suchen nach einer Frau, die unter merkwürdigen Umstanden verschwand, Miß Howett,« fuhr der elegante junge Mann fort und zeichnete mit der Spitze seines Spazierstocks allerhand Figuren in den Kies. »Und ob es nun richtig ist oder falsch, Sie vermuten, daß Bellamy für das Verschwinden dieser Frau verantwortlich ist. Sie haben schon viel gewagtere Streifzüge unternommen als gerade gestern. Es hat viel Zeit gekostet, bevor ich Ihre Gedankengänge rekonstruieren konnte. Aber Sie dachten wahrscheinlich, daß Bellamy Creager nach seinem Hause folgen würde, und daß Sie dann die Möglichkeit hätten, das Gespräch der beiden zu belauschen. Sie warteten ungefähr zwei Stunden in der Pflanzung – und wollten gerade zu dem Haus gehen, als Sie die Polizei bemerkten.«

 

Er nahm sein Zigarettenetui und steckte es wieder in die Tasche. Er fand plötzlich keinen Gefallen mehr am Rauchen.

 

»Ich hätte viel Geld darum gegeben, wenn ich den Grünen Bogenschützen getroffen hätte,« sagte er leise.

 

»Dann glauben Sie wirklich –?« fragte sie entsetzt.

 

Er nickte.

 

»Ich vermute es nicht nur, sondern ich weiß es ganz genau.«

 

Sie sah ihn mit einem neuen Interesse an, und es wurde ihr manches klar.

 

»Sie sind doch ein merkwürdiger Mann, Mr. Featherstone! Sie sind schlauer als der Detektiv, den mein Vater anstellen wollte, um mich zu beschützen.«

 

Er lachte.

 

»Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, Miß Howett. Ich bin nämlich der Detektiv, der diesen Auftrag hat. Ich bin Kapitän Featherstone von Scotland Yard, und ich beobachte Sie schon, seit Sie in London ankamen.« sternchenland.com

 

Kapitel 60

 

60

 

Julius Savini war philosophisch veranlagt und nahm die Lage, in der er sich jetzt befand, mit solcher Ruhe auf, daß sich selbst Fay darüber wunderte. Er saß nun schon zwei Tage in einem der Kerker von Garre Castle und hatte in dieser Zeit nichts mehr von Bellamy gesehen, der ihn hier eingesperrt hatte. Es war keine Gefahr, daß sie verhungerten, denn die kleine Vorratskammer war mit Lebensmittelkonserven angefüllt. Als er Nachforschungen anstellte, fand er auch noch eine große Anzahl ungeöffneter Tins mit Zwieback. Auch konnte er die Wasserleitung benützen, und es war bis jetzt kein Versuch gemacht worden, das Gas abzustellen.

 

Eine Eigentümlichkeit ihres Gefängnisses zeigte Bellamys mitternächtliche Tätigkeit in einem neuen Licht. Es war eine Öffnung, ungefähr vier Fuß im Quadrat. Sie war durch eine Wand geschlagen und auf der anderen Seite durch ein quadratisches Gitter geschlossen. Savini hatte sich umsonst bemüht, es zu öffnen oder auch nur zu bewegen. Als er in das Mauerloch hineinkroch und durch das Gitter schaute, entdeckte er, daß die Öffnung in die Kerker führte, die Bellamy damals seinen Gästen gezeigt hatte.

 

»Das war also das Geräusch, das wir gehört haben, Fay,« sagte er dann. »Der alte Bellamy hat seit Wochen gearbeitet, um hier durchzukommen, und er muß auch noch den Rest der Nacht dazu gebraucht haben, um dieses Gitter zu befestigen, nachdem wir die Explosion hörten.«

 

sternchenland.com »Kannst du es nicht irgendwie bewegen?« fragte sie ängstlich.

 

»Es ist mit Zement eingelassen, und selbst wenn wir durch die Öffnung kämen, wäre es doch unmöglich, die Gittertür oben an der Treppe zu öffnen.«

 

»Bist du sicher, daß es die Kerker sind, die du von früher her kennst?«

 

Er nickte.

 

»Ich kann die Falltür in der niedrigen Öffnung sehen, aber die ist auch vollständig mit Zementmörtel befestigt. Ich weiß nicht, warum Bellamy so stolz auf diese Kerker war. – Fay, wir sitzen nun hier in der Falle,« sagte er dann ruhig. »Und trotzdem ich nun einen Revolver und acht Patronen habe, glaube ich doch, daß wir nicht einmal die Aussicht haben, in nächster Zukunft die Schußwaffe zu gebrauchen. Es war eine Dummheit von mir, dem Alten zu zeigen, daß ich bewaffnet war. Wir wollen sehr sparsam mit den Nahrungsmitteln umgehen und uns einen Plan machen, wie wir möglichst lange mit ihnen auskommen.«

 

Julius überlegte sich, ob es nicht möglich wäre, das Schloß aus der Tür herauszuschießen, aber nach einer eingehenden Prüfung überzeugte er sich, daß der Versuch mißlungen wäre. Er hätte höchstens damit erreicht, daß man die Tür überhaupt nicht mehr hätte öffnen können.

 

»Vielleicht will er uns auch nur Angst einjagen,« sagte er. Aber Fay wußte nur zu gut, daß er das selbst nicht glaubte.

 

»Wir wollen so lange leben als irgendmöglich, Julius,« sagte sie und legte ihren Arm in den seinen. »Sicher vermutet Featherstone, was sich hier ereignet hat.«

 

»Featherstone hat damals auch angenommen, daß die Frau in der Burg versteckt sei, aber er hat sie doch nicht gefunden, und man kann ihm deswegen auch keinen Vorwurf machen. Ich wundere mich nur, wie sie entkommen konnte.«

 

sternchenland.com Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er machte sich an eine eingehende Untersuchung der Wände, die fast den ganzen Tag in Anspruch nahm.

 

»Der ganze Platz hier ist von Geheimgängen durchfurcht,« sagte er schließlich. »Es ist möglich, daß es einen Weg hier heraus gibt, es handelt sich nur darum, daß wir ihn entdecken.«

 

Aber nach einiger Zeit gab er verzweifelt seine Nachforschungen auf, setzte sich nieder und versuchte, sich mit der schlimmen Lage, in der er sich befand, abzufinden.

 

Am nächsten Tag fand Fay ein Buch mit rotem Umschlag in der Schreibtischschublade, die sie entdeckt hatte. Die Seiten waren in einer sauberen, aber sehr kleinen Handschrift eng beschrieben. Selbst auf dem Rücken des Bandes fand sie noch Text. Es war offensichtlich ein Tagebuch.

 

»Julius,« rief sie laut und Savini, der den Steinfußboden untersuchte, um vielleicht dadurch einen Ausweg zu finden, kam zu ihr.

 

»Das ist das Tagebuch der Frau,« sagte sie mit leiser Stimme. »Es ist Hunderte, ja Tausende wert, wenn wir herauskommen können.«

 

Er nahm ihr das Buch ab, setzte sich unter eine der Gaslampen und las eine Stunde. Es war eine unheimliche Geschichte, und Julius ließ kein Wort aus. Dann legte er das Buch wieder hin, erhob sich und reckte sich steif und müde.

 

»Verwahre es gut und lege es an einen Platz, wo wir es wiederfinden können. Ich glaube ja nicht, daß wir jemals wieder aus diesem Loch herauskommen, aber wenn es uns gelingen sollte, dann können wir uns eine Villa in Monte Carlo und eine Prachtwohnung in Berkeley Square leisten, solange wir leben.«

 

Den Rest des Tages lasen sie abwechselnd, und Julius, der ein hervorragendes Gedächtnis hatte, merkte sich die wichtigsten Tatsachen. Als seine Taschenuhr zehn zeigte, gingen sie sternchenland.com zu Bett, nachdem sie ihren Fund wieder in dem Schreibtisch verborgen hatten.

 

Das Entlüftungssystem ihres Kerkers war wirklich bewunderungswürdig. Selbst in dem abgelegenen Raum, in dem sie schliefen, war die Luft stets rein. Sie wurde durch eine Leitung zugeführt, die an den Wänden und Gewölben des Raumes entlanglief. Diese Tatsache war Julius nicht entgangen, und er empfand Respekt und Hochachtung vor Bellamys Leistungen.

 

»Es muß ihm unheimlich viel Zeit gekostet haben, diesen Kerker so auszustatten,« sagte er, als er in seinem Bett lag und zu der Steindecke emporstarrte, die sich über ihm wölbte. »Er hat doch tatsächlich alles allein gemacht. Der Pförtner erzählte mir, daß er monatelang in dem Schloß beschäftigt war, bevor er irgendwelche Dienstboten anstellte oder die Burg möblierte. Bellamy ist schlau, und er hat ja auch seine Laufbahn als Maurer begonnen. Vermutlich fiel es ihm bei seiner ungewöhnlichen persönlichen Körperkraft nicht schwer, die Änderungen am Gebäude ohne fremde Hilfe vorzunehmen.«

 

Fay saß vor dem Toilettentisch und manikürte sich in aller Ruhe.

 

»Julius, weißt du, was ich denke?« fragte sie.

 

»Das würde ich manchmal gerne wissen.«

 

»Ich glaube, wir sind erst die ersten von den Leuten, die Bellamy hier einsperren will. Dieses eiserne Gitter, das in die unteren Kerker führt, ist mit einer ganz bestimmten Absicht hier angebracht worden. Er ist darauf aus, noch andere zu fangen, und wir brauchen uns wohl keine Sorge über Lebensmitteleinteilung zu machen.«

 

»Warum nicht?« fragte Julius überrascht.

 

»Wenn erst die anderen Gefangenen ankommen, wird Bellamy ein Geschäft hier einrichten und das Billigste, was zu haben ist, wird das Leben von Mr. und Mrs. Savini sein.« sternchenland.com Savini schüttelte sich vor Furcht.

 

»Was meinst du damit?« fragte er heiser.

 

»Ich meine es genau so, wie ich es sage. Er hat dich in der Falle gefangen und mich auch. Er ist auf das große Ende vorbereitet, und es wird ihm seht leicht sein, da Coldharbour Smith tot ist. Er hat nur noch mit mir, mit dir, mit Lacy und Featherstone zu rechnen –«

 

»Und mit Miß Howett,« ergänzte Julius nach einer Pause.

 

»Ich mußte an sie denken, aber ich weiß nicht genau, was er gegen sie haben könnte. Sicherlich will er sie nach Garre Castle bringen und vielleicht tut er das auch.«

 

Fay hatte einen leisen Schlaf, das geringste Geräusch weckte sie sofort auf.

 

Julius fühlte plötzlich, daß er leise an der Schulter berührt wurde und sich eine Hand auf seinen Mund legte.

 

»Mache keinen Lärm,« flüsterte Fay und nahm ihre Hand fort.

 

»Was ist los?« fragte er ebenso vorsichtig.

 

»Draußen ist jemand.«

 

Julius tastete nach der Pistole unter seinem Kissen, erhob sich lautlos und öffnete die Türe. Er hatte die sechs Lampen brennen lassen, aber nun waren sie alle mit Ausnahme einer einzigen ausgelöscht und der unterirdische Raum lag im Dunkel. Behutsam spähte er umher, aber er konnte niemand entdecken. Und doch mußte jemand hier gewesen sein und die Lichter ausgemacht haben. Von seinem Standpunkt aus konnte er die Tür sehen, durch die ihn Bellamy damals hereingestoßen hatte, und während er noch darauf hinstarrte, hörte er, daß sie leise einschnappte.

 

»Es war Bellamy,« sagte er bitter, als er in das Schlafzimmer zurückkam. »Wenn ich das nur vorher gewußt hätte – warum hast du mich nicht eher geweckt?«

 

sternchenland.com »Ich hörte das Geräusch und habe dich sofort angestoßen. Bist du denn sicher, daß es Bellamy war?«

 

Er antwortete nicht, sondern packte sie nur krampfhaft am Arm und machte eine Bewegung, daß sie schweigen sollte. Dann lauschten sie angestrengt und hörten, wie sich die steinerne Tür in der Bibliothek schloß.

 

»Es war also doch Bellamy,« sagte Julius und ging wieder in den größeren Raum hinaus, um den Grund für diesen nächtlichen Besuch zu entdecken.

 

Er steckte die Gaslampen wieder an und hoffte, daß der Alte einen Brief zurückgelassen hätte. Aber es war nichts davon zu sehen.

 

»Warum mag er nur gekommen sein?« fragte er.

 

Fay gähnte und schüttelte den Kopf.

 

»Ja, warum macht er das alles – wie spät ist es, Julius?«

 

»Fünf Uhr. Ich bin eigentlich nicht mehr müde und möchte nicht mehr zu Bett gehen, Fay. Mache bitte Tee.«

 

Während sie in die Küche ging, suchte er weiter nach einer Erklärung für Bellamys Erscheinen.

 

»Ich freue mich, daß ich wach bin,« meinte Fay, als sie den Tee hereinbrachte. »Hierdurch unterscheidet sich dieses Gefängnis von allen anderen, in denen ich früher war.«

 

Sie setzte die Tassen auf den Tisch.

 

»Ich möchte jetzt am liebsten in dem Tagebuch weiterlesen,« sagte sie und zog die Schreibtischschublade auf.

 

Er hörte, wie sie einen leisen Schrei ausstieß und sah, wie sie die zweite Schublade aufzog und schnell durchsuchte.

 

»Was hast du?«

 

»Das Tagebuch ist verschwunden, Julius!« sagte sie erschrocken. sternchenland.com

 

Kapitel 61

 

61

 

Savini war verstört.

 

»Bist du deiner Sache auch ganz sicher?«

 

Sie zogen beide Schubladen heraus und leerten ihren Inhalt auf eine Decke, die sie auf den Boden legten.

 

»Hast du es auch wirklich wieder in die Schublade zurückgelegt?« fragte er. Er wußte, daß seine Frage nutzlos war, da er sie ja selbst dabei beobachtet hatte.

 

Sie sahen sich bestürzt an.

 

»Deshalb ist er auch hier heruntergekommen – wahrscheinlich hat er sich daran erinnert,« meinte Fay.

 

Julius fluchte leise.

 

»Es war eine unverzeihliche Dummheit von mir, das Buch in dem Schubfach zu lassen. Wir hätten uns doch denken können, daß er zurückkommen würde, um es an sich zu nehmen. Er hat sicher nicht gewußt, wo es lag.«

 

Es mußte ungefähr neun Uhr morgens sein. Sie saßen verzweifelt zusammen auf dem großen Divan. Julius hatte den Kopf in die Hände vergraben, und Fay machte einen Versuch, sich durch Lesen zu zerstreuen, als sie plötzlich hörten, wie das hölzerne Brett, das das Eisengitter verdeckte, zurückgezogen wurde. Bellamy rief sie an.

 

Julius hatte im Augenblick seine Pistole zur Hand und sprang hinter einen Pfeiler, um Deckung zu suchen.

 

»Savini, legen Sie Ihren Revolver nur ruhig beiseite,« sagte der Alte. »Legen Sie ihn dort auf den Tisch, damit ich ihn sehen kann. Dann will ich auch mit Ihnen sprechen. Aber nur wenn Sie mir gehorchen und das Schießeisen weglegen!«

 

Julius überlegte schnell. Durch Widerspruch wurde nichts gewonnen, und er legte die Pistole auf einen kleinen Tisch.

 

»Kommen Sie einmal zur Tür, fürchten Sie sich nicht. Wenn ich Sie hätte erschießen wollen, dann hätte ich das sternchenland.com längst unbeobachtet von dem Gitter aus tun können, ebenso wie ich von dort aus zu Ihnen sprechen kann.«

 

»Was wollen Sie denn, Mr. Bellamy?« fragte Julius aufsässig. »Ich verstehe nicht, warum Sie uns hier gefangenhalten. Sie hätten uns doch vertrauen können.«

 

»Das hätte ich ganz gewiß nicht tun können. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß man nach Ihnen sucht. Ein Polizist war den ganzen Morgen oben und hat mich ausgefragt. Er sagte, man hätte einige Schriftstücke in Ihrer Wohnung gefunden, die einen Anhaltspunkt dafür geben, daß Sie außer Landes gehen wollten. Vermutlich wird man bald aufhören, nach Ihnen zu suchen, Savini. Sehen Sie zu, daß Sie mit Ihren Nahrungsmitteln möglichst lange aushalten, denn neue gibt es nicht, und heraus kommen Sie auch nicht. Sie werden für immer in dem Gefängnis bleiben! Den Schlüssel habe ich weggeworfen – in den tiefen Brunnen, Savini.«

 

»Sie lügen,« sagte Julius ruhig. »Sie sind ja noch in der vorigen Nacht hier gewesen, um das Tagebuch wegzunehmen.«

 

Bellamy starrte ihn entsetzt durch das Gitter an.

 

»Was sagten Sie da eben?« Seine Stimme war heiser.

 

»Sie sind in der letzten Nacht hier gewesen und haben das Tagebuch geholt.«

 

»Welches Tagebuch?«

 

»Sie brauchen uns doch nichts vorzumachen. Sie kamen kurz vor fünf heute morgen herunter, und Sie können von Glück sagen, daß ich Sie nicht gesehen habe!«

 

»Was für ein Tagebuch meinen Sie denn?« fragte Bellamy. »Hat sie etwa Aufzeichnungen hier zurückgelassen? Das hätte ich mir doch denken können! Wo ist denn das Tagebuch?«

 

»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es fort ist,« erwiderte Julius ungeduldig. »Sie kamen –«

 

»Sie sind wohl nicht ganz bei Sinnen, Sie Narr!« sternchenland.com brüllte Bellamy. »Ich bin nicht mehr hergekommen, seitdem ich Sie eingeschlossen habe.«

 

Es dauerte einige Zeit, bevor Bellamy seine Fassung wiedergewann.

 

»Sagen Sie mir, Savini, und wenn Sie das tun, werde ich Sie gut behandeln, was war es denn – war es das Tagebuch der Frau?«

 

»Das müssen Sie doch selbst am besten wissen!«

 

Diese Antwort brachte Bellamy in helle Wut.

 

»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich nichts davon weiß – ich habe es niemals gesehen. Ich wußte auch nicht, daß es hier war. Was stand denn darin?«

 

Julius erzählte ihm den Inhalt eines Abschnittes, und Bellamy sank in sich zusammen, als ob er einen Schlag erhalten hätte. Aber dann richtete er sich wieder auf, und die beiden konnten selbst in dem trüben Licht sehen, daß er totenbleich war.

 

»Savini,« sagte er düster, »früher gab es noch eine Möglichkeit, daß ich Sie hier herausgelassen hätte, wirklich, es wäre unter gewissen Bedingungen möglich gewesen. Vielleicht hätte ich den andern an Ihrer Stelle eingesperrt. Aber jetzt wissen Sie zu viel, als daß ich Sie freigeben könnte!«

 

Die Tür wurde zugeschlagen, bevor Julius etwas erwidern konnte. Er drehte sich um und sah in das entsetzte Gesicht Fays.

 

»Wie konntest du ihm nur etwas von dem Tagebuch erzählen, als du sahst, daß er nichts davon wußte? Julius, du warst nicht bei Verstand!«

 

Savini zuckte die schmalen Schultern.

 

»Was macht das auch viel aus?« sagte er. »Ich glaube ihm wirklich nicht, wenn er eben sagte, daß er uns herausgelassen hatte. Er hält uns hier fest, Fay.« Er legte seinen Arm um sie und seine Wange an die ihre. »Es ist nicht so schrecklich, als ich anfangs dachte,« sagte er und streichelte sie. »Ich sternchenland.com habe mich immer so sehr vor dem Tod gefürchtet und der Gedanke, daß man wie eine Ratte in der Falle sterben sollte, hätte mich früher verrückt gemacht. Aber jetzt bin ich ruhig geworden, mein Liebling.«

 

Sie löste sich leise aus seiner Umarmung.

 

»Julius, wenn Bellamy sagt, daß er uns hier sterben lassen will, so kannst du sicher sein, daß er sein Wort hält. Aber höre, wenn jemand einen Weg hierher gefunden hat, dann müßten wir doch auch einen Weg herausfinden können.«

 

Julius schüttelte den Kopf.

 

»Der Grüne Bogenschütze kam durch die Tür, und nur der Grüne Bogenschütze konnte das tun.«

 

Sie wunderte sich über seine Ruhe und Gelassenheit. Das war nicht mehr der Julius, den sie von früher her kannte, nicht der nervöse, ewig gereizte, unzufriedene Julius, der sich vor allem fürchtete und vor dem alten Bellamy kroch. Seine Verheiratung mit Fay war zuerst eine reizvolle Episode gewesen, nachher war es weiter nichts als eine äußere Form, die sie stolz anderen Frauen gegenüber zeigte, die nicht so glücklich waren wie sie. Es hatte aber schon Zeiten gegeben, da sie ihren Mann verachtete, und Augenblicke, in denen sie bereit war, ihn zu betrügen.

 

»Ich sehe dich jetzt in einem ganz neuen Lichte, Savini« sagte sie zärtlich zu ihm.

 

»Ich komme mir selbst ganz anders vor,« gestand er ihr. »Wir müssen nun der Wahrheit ins Auge sehen. Der alte Bellamy will einen teuflischen Plan gegen uns ausführen, gegen den einfacher Mord eine unschuldige Sache ist. Ich möchte nur wissen, warum er die Gewehre gekauft hat.«

 

»Was meinst du?« fragte sie verwundert.

 

»Oben in dem Turm der Burgkapelle steht eine Kiste. Ich habe sie zufällig gefunden. Sie enthält ein Dutzend Mannlicher-Gewehre und zwei große Kasten mit Munition. Sie steht in dem Raum über dem Zimmer, das Featherstone bewohnte. sternchenland.com Ich habe eine Ahnung, daß wir sie noch hören werden – aber dann wird es auch mit uns zu Ende gehen.«

 

»Was will er denn mit einer Kiste mit Gewehren anfangen?«

 

Aber Julius konnte es ihr nicht sagen.

 

»Er ist ein Schütze, der nie sein Ziel verfehlt, wie er mir einmal sagte.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte ihm nichts von dem Tagebuch erzählt. Vielleicht habe ich dadurch veranlaßt, daß er noch die Gewehre gebrauchen wird.«

 

Bellamy saß in seinem ruhigen Zimmer, um sich über die Lage klar zu werden, die am gefährlichsten für ihn selbst war. Aber darüber dachte er am wenigsten nach. Für diesen unbarmherzigen Mann lag das Unglück darin, daß ihm in zwölfter Stunde, als ihm das Schicksal bereits die Möglichkeit gegeben hatte, sich an der verhaßten Frau zu rächen, der Erfolg doch noch entrungen wurde. Von dem Augenblick ihres Verschwindens an war er auf seiner Hut. Wohin sie gegangen und wie sie entkommen war, konnte er nicht einmal vermuten. Er wußte nur, daß irgendwo in der Ferne oder in der Nähe irgendeine Kraft mit tödlicher Gewißheit gegen ihn arbeitete, eine Kraft, die sich in dem Grünen Bogenschützen offenbarte. Er erschauerte, weil ihm zum Bewußtsein kam, daß Garre Castle wieder einmal eine Festung war, die gegen die Feinde ihres Herrn verteidigt wurde. Wenn er erst seine Pläne durchgeführt hatte, mochten sie ihn ruhig bestürmen, die Eichentore berennen, oder die steilen Mauern erklimmen. Er würde mit Genugtuung sterben.

 

Er war noch in seinen Gedanken versunken, als Sen kam und ein Stück Papier vor ihm hinlegte, auf dem er um Befehle bat.

 

Bellamy winkte ihn ungeduldig beiseite.

 

»Ich will jetzt noch nicht essen, ich werde noch den Auftrag sternchenland.com geben, wenn es soweit ist. Sen, würdest du gern nach China zurückkehren?«

 

Sen schüttelte den Kopf.

 

Der alte Mann brütete eine Weile vor sich hin, dann erhob er sich, öffnete den Geldschrank hinter der Holzvertäfelung, nahm ein Paket Banknoten heraus und gab sie seinem Chauffeur.

 

»Da hast du einen großen Haufen Geld, ich habe es nicht gezählt, aber wenn irgend etwas passieren sollte, Sen, so wäre es besser, wenn du nach Hause zurückgingst.«

 

Der Chinese sah ihn fragend an.

 

»Du möchtest wohl wissen, was mir geschehen könnte?« sagte Abel hart. »Es kann eine ganze Menge passieren. Aber höre, du hast jetzt all diese Jahre keine unnötigen Fragen an mich gestellt, fange jetzt nicht damit an! In ein paar Tagen werde ich dich nach London schicken, du brauchst nicht mehr zurückzukommen. Packe deine Bücher und dein Geschreibsel oder was immer dir Freude macht, zusammen und nimm es mit dir fort.«

 

Sen wartete mit dem Notizblock in der Hand, als ob er noch einmal fragen wollte. Aber dann schien er sich die Sache überlegt zu haben und verschwand mit einer Verbeugung aus dem Raum.

 

Es ging zu Ende – Bellamy wußte es. Eine innere Stimme sagte es ihm deutlich. Der Tag war nahe, an dem die Schatten des Todes jede Erinnerung an Garre Castle mit all seinem Haß und seiner Liebe auslöschen würden. – Wenn er nur die graue Frau finden könnte! Wenn sie doch nur durch irgendwelche außergewöhnlichen Umstände wieder in seine Gewalt käme. In ganz London gab es keine Detektivagentur, die nicht nach ihr suchte. Alle Informationen, die man sich durch Geld verschaffen konnte, standen zu seiner Verfügung. Aber sie war verschwunden, als ob die Erde sich aufgetan und sie verschlungen hätte. Und merkwürdigerweise sternchenland.com hatte die Polizei noch nicht eingegriffen. Dieser eitle Featherstone – wie würde der sich freuen, wenn er in das Schloß kommen könnte mit einem seiner Durchsuchungsbefehle!

 

Das Tagebuch! Was mochte sie wohl geschrieben haben? Wenn man Savini glauben konnte, hatte sie viel zu viel geschrieben, als daß Abel Bellamy ruhig bleiben durfte. Und er sagte sich, daß Julius diesen Absatz in ihrem Tagebuch nicht hatte erfinden können, den er ihm so geläufig wiedererzählt hatte.

 

Schließlich erhob er sich und ging in die Gefängniszellen hinunter, um dort weiterzuarbeiten. Julius hörte ihn, nahm seine Pistole und kroch bis zu der Öffnung in der Mauer, fand aber, daß das Gitter durch ein starkes Brett verdeckt war. Es war ihm unmöglich, Bellamy bei der Arbeit zu sehen, der den ganzen Tag unten blieb. Das Geräusch von Stahl auf Stein drang zu dem Gefangenen, und einmal hörte Fay brummende Laute. Sie erschrak zuerst, aber später wurde ihre Neugierde rege. Es dauerte einige Zeit, bevor sie eine Erklärung fanden. Abel Bellamy sang bei der Arbeit laut, und Fay war sehr verwundert.

 

Kapitel 62

 

62

 

Das große Publikum hatte das Interesse an dem Grünen Bogenschützen verloren. Der Redakteur Mr. Syme sagte das mit nicht mißzuverstehendem Nachdruck, und Spike konnte im Augenblick keine neuen Ereignisse erfinden.

 

»Außerdem hat Bellamy in der letzten Woche geschrieben und mit einer Klage auf Schadenersatz gedroht,« erklärte der Redakteur am Telephon. »Er behauptet, daß Sie mit Ihren Artikeln den Wert des Schlosses heruntersetzen.«

 

»Blödsinn,« rief Spike ärgerlich. »Der Geist hat den Wert seiner Burg um mindestens zehntausend Dollar erhöht. sternchenland.com Aber ganz offen, Mr. Syme, die Geschichte ist wirklich wert, daß ich noch hier bleibe.«

 

»Kommen Sie sofort nach London und warten Sie in der Redaktion auf mich,« sagte Syme rücksichtslos. »Da können Sie Ihre Zeit wenigstens mit nützlicher Arbeit totschlagen.«

 

Der Telephonapparat war ziemlich öffentlich in der großen Halle des »Blauen Bären« angebracht, und wenn Spike telephonierte, standen gewöhnlich viele Leute am Schanktisch. Dies hatte gewisse Vorteile für ihn, denn bei der allgemeinen Unterhaltung hörte man nicht darauf, was er der Redaktion mitzuteilen hatte. Heute war der Raum leer, nur ein alter Farmer saß in einer Ecke und trank aus einem großen Zinnkrug. Der Mann nickte ihm freundlich zu, wie es alte Landleute häufig tun.

 

»Geister – sagten Sie nicht eben etwas von Geistern? In dieser Gegend gibt es sehr viele Geister und Gespenster. Erst vor einigen Tagen ist wieder ein neues im Klosterwald aufgetaucht, wie die Leute erzählen. Einer meiner Fuhrleute hat es gesehen, und seit der Zeit ist er ganz krank.«

 

»Donnerwetter,« sagte Spike. Der Grüne Bogenschütze war ja auch eine Legende; die hier schon lange im Volk existierte. Spike hatte allerdings seine drei letzten Vermutungen längst wieder aufgeben müssen. »Viele Leute hier behaupten, sie hätten den Grünen Bogenschützen gesehen.«

 

Der alte Mann lachte heiser.

 

»Dieses neue Gespenst ist aber nicht grün – auch ist es eine Frau. Mein Fuhrmann hat es aus der Nähe gesehen. Es hat ihn ganz aus der Fassung gebracht! Er war so verstört –«

 

»Wo liegt der Klosterwald?« fragte Spike, dessen Interesse in hohem Maße erwacht war.

 

»Wenn Sie auf der Landstraße gehen, dann sind es sechs Meilen. Aber wenn Sie Ihren Weg über das Mönchsfeld nehmen und die Adderley Road entlang gehen, ist es besser. sternchenland.com Es soll ein verwunschenes Haus im Walde liegen. Es scheint niemand dort zu wohnen, aber doch ist immer jemand in der Nähe.«

 

»Mir können Gespenster nichts anhaben, mein lieber Mann,« sagte Spike.

 

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

 

»Das wollte ich auch nicht behaupten. Was mir am meisten auffällt, sind die Spuren eines großen Autos, die ich in der Gegend gesehen habe. Es ist kein Ford, es muß viel größer sein. Irgend jemand geht und kommt immer in einem großen Wagen.«

 

»Meinen Sie zu dem Hause? Hat man das Auto gesehen?«

 

»Nein. Aber nahe bei dem Hause auf demselben Grundstück liegt eine Scheune, und ich sah, daß die Spuren an einem feuchten Morgen, als der Boden weich war, gerade zu der Scheunentür führten.«

 

»Seit wann ist die Frau dort gesehen worden?«

 

»Ich habe noch nichts von ihr gehört bis zum letzten Sonnabend – da hat sie eben mein Knecht gesehen. Es war ganz früh am Morgen, als er durch den Wald ging, um zu meiner Farm zu kommen. Sie müssen nämlich wissen, daß ich Caddle Heath nun seit fünfundfünfzig Jahren bewirtschafte, und vor mir hat es mein Vater schon gehabt. Nun ja, also mein Fuhrmann heißt Tom – er ging so vor sich hin und dachte an nichts, als er plötzlich diese Frau sah. Er wäre beinahe vor Furcht umgefallen. Sie ging durch den Wald und weinte. Tom hat mir gesagt, er hat ganz genau gesehen, daß sie ein Geist ist. Dann ist er davongelaufen wie ein Hase.«

 

»War das in der Nähe des Hauses, von dem Sie eben sprachen?«

 

»Ja. Deshalb habe ich Ihnen die Sache erzählt. Später überlegte ich mir, daß sie wahrscheinlich dort wohnen wird.«

 

Spike war in einer so verzweifelten Lage, daß er nach jedem sternchenland.com Strohhalm griff, um seine weitere Anwesenheit in Garre zu rechtfertigen. Er hatte am Telephon seinem Redakteur nur die Wahrheit gesagt, als er ihm erzählte, daß er eine Entwicklung des Dramas in der Burg erwartete. Obgleich er rings um Garre Castle nur das gewöhnliche Alltagsleben sah, hatte er es doch in den Fingerspitzen, daß wichtige Ereignisse kommen würden. Wenn er diese Geschichte hätte aufgeben müssen, die er so liebevoll seit langer Zeit verfolgt, großgezogen und bemuttert hatte, so hätte ihm das den Rest gegeben.

 

Aber selbst unter diesen Umständen schien ihm die weinende Frau in dem Walde eine recht unbedeutende Angelegenheit zu sein. Trotzdem machte er sich auf, um in den Klosterwald zu gehen. Schließlich entdeckte er, daß es nicht einmal drei Meilen waren, als er den Richtsteig benützte, den ihm der alte Farmer angegeben hatte. Es war ein frischer Tag, Winterkälte lag in der Luft, und der schnelle Spaziergang war für ihn ein Vergnügen. Er war eher an seinem Ziel angekommen, als er erwartet hatte.

 

Der Wald war meistens eingezäuntes Privateigentum. Aber der Besitzer schien sich wenig um die Instandhaltung der Einfriedigung zu kümmern. Spike hätte leicht über den an manchen Stellen zusammengebrochenen Zaun hinübersteigen können. Dahinter lag nur dichtes Gehölz von Brombeerhecken, Sträuchern und niedrigen Föhren.

 

Von der Straße aus war das Haus nicht zu sehen. Schließlich entdeckte er es an der Ecke einer besonderen Zufahrtsstraße, die im rechten Winkel von der Hauptstraße abbog.

 

Der Weg hieß zwar ein Fahrweg, doch hatten Wagen ihn seit langen Jahren nicht mehr benützt. Die einzigen sichtbaren Radspuren waren die Eindrücke der Pneumatiks eines großen Autos, die ganz frisch waren, wie Spike sich durch Augenschein überzeugen konnte. Nun lag das Haus vor ihm, es hatte nur ein Geschoß, war ganz aus Holz gebaut und von Efeu überwuchert. In der Nähe lag hinter Bäumen versteckt sternchenland.com die Scheune. Kein Rauch stieg aus dem Kamin des Hauses auf. Die Fenster der Vorderseite waren mit Läden dicht geschlossen, und der ganze Platz machte einen leblosen und verlassenen Eindruck. Er ging direkt auf die Tür zu und klopfte. Es meldete sich aber niemand, obgleich er lange wartete. Dann machte er sich daran, das Gebäude naher zu untersuchen. Zunächst ging er um das Haus herum auf die Rückseite. Dort fand er zwei Fenster, deren Läden nicht geschlossen waren, so daß er in ein einfach möbliertes Schlafzimmer sehen konnte. Das Bett war nicht gemacht, es mußte erst kürzlich jemand darin geschlafen haben. Drei Paar Damenschuhe, die neben dem Bett in einer Reihe standen, zogen seine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Selbst auf diese Entfernung konnte er erkennen, daß sie neu waren. Auf dem Boden lagen zwei große Pappschachteln, die mit weißem Seidenpapier gefüllt waren. Gleich darauf bemerkte er auch noch andere Kartons in einer Ecke des Raums. Er setzte seine Untersuchungen fort, fand die Hintertür und rüttelte daran. Aber als er auch dort keine Antwort erhielt, kehrte er zu den Fenstern des Schlafzimmers zurück.

 

Spike konnte sich zuerst nicht dazu entschließen, aber schließlich versuchte er es doch, die Fenster zu öffnen. Zu seiner größten Freude konnte er den einen Flügel nach innen drücken. Sollte er hineingehen? Das war ein richtiger Einbruch, und er hätte keine Entschuldigung gehabt, wenn ihm der wütende Besitzer plötzlich entgegengetreten wäre. Aber diese Reihen von Schuhen erregte doch seine Neugier. Er atmete tief auf und kletterte dann rasch über die Fensterbank in das Zimmer.

 

»Zuerst sichergehen!« sagte er zu sich selbst und machte eine Runde durch das ganze Haus, bevor er zurückkehrte, um das Schlafzimmer genauer zu untersuchen.

 

Im ganzen Hause waren nur zwei Räume möbliert – das Schlafzimmer und ein kleiner Raum, der nur einen Tisch, sternchenland.com einen Stuhl und ein Kleiderregal enthielt. An einem der Haken hing ein schwerer, pelzgefütterter Ledermantel. Der Tisch war nicht mit einem Tuch bedeckt, und außer einem Paar alter, abgetragener Lederhandschuhe war nichts auf der Platte zu sehen.

 

Spike ging in den Gang zurück.

 

»Ist jemand hier?« rief er.

 

Aber seine Worte schallten ohne Antwort durch die leeren Räume des Hauses.

 

»Also ist niemand hier!« sagte Spike laut und kehrte zu dem Schlafzimmer zurück.

 

In dem schmalen Bett lagen harte Matratzen, aber die Bezüge waren von dem besten Leinen. Spike hielt sie für ganz neu. Auf dem Tisch in der Nähe des Bettes stand eine Flasche Kognak, zwei Medizinflaschen und in einem kleinen Schächtelchen lag eine Morphiumspritze. Diese besichtigte er eingehend. Wie die Bettücher und die weichen Kamelhaardecken war auch dieses Instrument neu. Auch die Schuhe waren noch nicht gebraucht, denn als er sie aufhob und die Sohlen betrachtete, sah er, daß sie noch ganz unberührt waren. Sie stammten aus einem sehr teuren Geschäft im Westen Londons.

 

Spike machte plötzlich eine wichtige Entdeckung. Die Schuhe waren von verschiedener Größe, jedes Paar war eine halbe Plummer kleiner als das andere. Er stellte sie wieder hin und wandte seine Aufmerksamkeit den Medizinflaschen zu. Eine der beiden war halb leer, und auf den Etiketten las er den Namen einer Londoner Apotheke.

 

Als er das Bett aufschlug, fand er ein Frauenkleid darin liegen. Es war weit und aus einem Stück gemacht. Das graue Gewand schien sehr alt zu sein, die Ellenbogen waren abgenützt und sorgfältig repariert worden. Auch die Ärmelaufschlage waren neu aufgesetzt. Er fand auch in dem breiten, sternchenland.com unteren Saum des Kleides die Stelle, aus der der nötige Stoff zur Ausbesserung genommen war.

 

Spike kletterte wieder aus dem Fenster und schloß es, so gut er konnte. Dann ging er zu der kleinen Scheune, die sich in geringer Entfernung vom Hause erhob. Hier sah er wieder die Spuren des Autos, die direkt zu diesem unansehnlichen Gebäude führten. Die Tore waren mit einem Vorhängeschloß versehen, als er aber an der Kette zog, öffneten sich die beiden Flügel so weit, daß er einen Blick in das Innere werfen konnte.

 

Es war kein Auto darin zu entdecken, aber an den Wänden standen verschiedene Benzintanks und drei Reserveräder. An ihrer Größe konnte Spike sich die Abmessungen des Wagens ungefähr vorstellen.

 

Er ging in tiefen Gedanken nach Garre zurück. Warum sollte die Bewohnerin der Waldhütte schließlich keine teuren Schuhe tragen? Wenn sie Gefallen daran fand und es ihr besonderen Spaß machte, konnte sie ja jeden Tag Schuhe von anderer Größe anziehen! Aber es war ja auch möglich, daß man sie nur zur Anprobe geschickt hatte. Eine Dame mußte aber doch ihre Schuhgröße kennen! Plötzlich fand Spike die Lösung dieses kleinen Rätsels. Wer die Schuhe zu diesem Hause gebracht hatte, wußte eben nicht, welche Schuhgröße die Frau trug und hatte deswegen verschiedene Paare mitgenommen, damit sie sich das Richtige aussuchen konnte. Das war ihm jetzt ganz klar – und nun blieb nichts mehr zu entdecken übrig. Gewiß war es noch etwas geheimnisvoll, wer die Bewohner dieses Hauses waren, die man nie zu Gesicht bekam und die doch immer dort waren. Sie besaßen ein großes Auto und wohnten trotzdem in einem kleinen Häuschen, das höchstens fünfhundert Dollars wert war. Aber auch die Entwirrung all dieser Fragen hätte ihn der Geschichte des Grünen Bogenschützen um keinen Schritt näher gebracht.

 

sternchenland.com Spike seufzte. Unmöglich konnte er Mr. Syme durch diese Geschichte veranlassen, ihn noch länger in Garre Castle zu lassen.

 

Nach Einbruch der Dunkelheit ging er in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Plötzlich klopfte es an seine Tür, und Jim Featherstone trat herein. Er hatte am Morgen Lady’s Manor verlassen und sein Gepäck nach dem »Blauen Bären« gebracht.

 

»Sie sind doch zum Abendessen bei Mr. Howett eingeladen, Holland? Würden Sie so liebenswürdig sein, mich zu entschuldigen, denn ich kann heute abend nicht kommen. Ich gehe nach London zurück, um die Savinis irgendwo aufzutreiben.«

 

»Ich sage Ihnen nur, Captain, die sind in der Burg,« entgegnete Spike mit Nachdruck. »Sie haben an jenem Morgen Garre Castle nicht verlassen, darauf kann ich einen Eid leisten.«

 

»Es ist sehr leicht möglich, daß sie dort sind,« sagte Jim ruhig. »Aber vergessen Sie nicht, daß Julius Savini, ein so netter Kerl er auch manchmal sein kann, nun einmal zur Verbrecherklasse gehört. Ich muß vor allen Dingen sicher gehen. Es ist ja möglich, daß auch noch andere Wege aus der Burg führen.«

 

»Aber Sie haben diese Wege doch auch nicht entdeckt, als Sie Hausmeister waren,« sagte Spike beharrlich. »Aber es führt doch ein Weg aus Garre heraus, und der alte Syme hat ihn gefunden. Morgen früh muß ich zur Stadt zurück, und dann entschwindet mir der Grüne Bogenschütze – und das wäre doch der größte Erfolg für mich gewesen, wenn ich seine Geschichte im ›Globe‹ hätte veröffentlichen können.«

 

Jim nickte.

 

»Vermutlich geht es zu langsam mit den neuen Ereignissen, und deshalb wird man in der Redaktion müde.«

 

»Aber warum haben Sie es denn so eilig?« Spike band sorgsam seine Krawatte vor dem Spiegel und drehte sich sternchenland.com dann zu Jim um, der sich für einen Augenblick auf die Bettkante gesetzt hatte. »Morgen haben Sie doch auch noch Zeit, nach London zu fahren. Ich weiß, daß Mr. Howett Sie erwartet, ich habe die junge Dame getroffen, als ich durchs Dorf ging, und sie erzählte mir, daß wir alle zusammen heute abend dort eingeladen sind. Mr. Wood wird auch da sein, er kommt von London.«

 

»Ja, das weiß ich,« sagte Jim. Sein Ton ließ Spike aufhorchen.

 

»Ein hoher Polizeibeamter und ein großer Philantrop, zwei Rivalen, die sich um die Hand derselben Millionärstochter bewerben.« Spike dachte immer in Zeitungsüberschriften.

 

Aber er irrte sich doch, denn es war nicht nur das unangenehme Gefühl, das Jim gegen diesen neuen Eindringling und die warme Anteilnahme Valeries an ihm empfand. Er hatte sich auch aus anderen Gründen entschieden, nach London zu gehen. Er hatte viel zu tun, denn er leitete eine große Abteilung von Scotland Yard. Er hatte erkannt, daß es nicht so weitergehen durfte und er seine Arbeit nicht dauernd vernachlässigen konnte. Er hätte dies freilich schon längst allein wissen können, aber heute morgen hatte er einen Brief seines Vorgesetzten bekommen, in dem erwähnt war, daß seine lange Abwesenheit von der Polizeidirektion unangenehm auffiel.

 

Als Spike herunterkam, wartete das Auto schon auf der Straße. Jim stand daneben und zündete sich eine Pfeife an.

 

»Sie können mir einen großen Gefallen tun, Featherstone,« sagte Spike. »Läuten Sie doch Mr. Syme in der Stadt an und sagen Sie ihm, daß es ein unerhörtes Unrecht und eine nationale Katastrophe sei, wenn er mich von Garre wegnähme, bevor die Geschichte aufgeklart ist.«

 

»Wenn es nötig ist, will ich auch kräftig für Sie lügen,« erwiderte Jim. »Aber ich bin auch vollkommen Ihrer Ansicht, daß das Geheimnis von Garre noch genau so wenig sternchenland.com gelöst ist als damals, als Sie zuerst hierherkamen. Also entschuldigen Sie mich bitte bei Miß Valerie!«

 

Spike wartete, bis der Wagen abgefahren war und ging dann nach Lady’s Manor hinüber. Dort erfuhr er, daß John Wood schon eine ganze Stunde da war und fand Miß Howett und ihn Seite an Seite auf dem Diwan sitzen. Sie lauschte in tiefem Stillschweigen seinen Erklärungen, als er ihr von seinem großen Plan erzählte. Die beiden waren so vertieft, daß sie kaum Spikes Kommen merkten.

 

»Wo ist Captain Featherstone?« fragte sie.

 

»Er läßt sich entschuldigen, er mußte zur Stadt fahren. Seitdem er sich hier auf dem Lande aufhält, sind so viele neue Verbrechen begangen worden, daß Scotland Yard nach ihm geschickt hat.«

 

»Meinen Sie im Ernst – daß er zur Stadt gefahren ist?« fragte sie.

 

»Ganz bestimmt. Er beunruhigte sich auch sehr über Julius Savini – er ist der Ansicht, daß der alte Bellamy ihn irgendwo in der Burg gefangenhält. Ich bin übrigens davon fest überzeugt.«

 

Er sah, daß ihr Featherstones Abwesenheit nicht lieb war, aber als sie sich wieder mit Mr. Wood unterhielt, schien sie nach kurzer Zeit die Existenz Jims vollkommen vergessen zu haben. Spike dachte bei Tisch, daß er sie noch niemals so angeregt, liebenswürdig und schön gesehen hatte.

 

Wie gewöhnlich hörte Mr. Howett lieber zu und beteiligte sich kaum aktiv an der Unterhaltung. In letzter Zeit schienen seine Gedanken vollkommen mit irgendeiner anderen Sache beschäftigt zu sein. Auch Valerie hatte dies schon beobachtet, und es hatte ihr viel Kummer verursacht. Spike interessierte sich außerordentlich für Mr. Howett. Seine eigene Ansicht, wer der Grüne Bogenschütze sein könnte, war nun vollkommen gereift. Nach und nach hatte er die einzelnen Indizien zusammengesetzt und war seiner Sache jetzt ganz sicher, sternchenland.com trotzdem der bloße Gedanke ihm zuerst vollkommen phantastisch erschienen war.

 

Wood blieb über Nacht in Lady’s Manor. Es fuhr kein Zug mehr nach der Stadt, und Valerie wollte ihn durchaus nicht im Gasthaus logieren lassen. Merkwürdigerweise hatte sie früher nicht dagegen protestiert, daß Jim Featherstone im »Blauen Bären« wohnte. Spike merkte sich das genau.

 

Um neun Uhr zog sich Mr. Howett aus dem Wohnzimmer zurück, wohin sie nach Tisch gegangen waren. Unbeobachtet verließ er die kleine Gesellschaft, selbst Spike hatte nicht gemerkt, daß er gegangen war. Allmählich kam die Unterhaltung wieder einmal auf den Grünen Bogenschützen, wie es kaum anders zu erwarten war. John Wood brachte als erster die Sprache auf diese merkwürdige Erscheinung in Garre Castle.

 

»Haben Sie ihn schon einmal gesehen, Miß Howett?« fragte er halb im Scherz.

 

Sie zitterte.

 

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

 

»Wie, Sie haben ihn gesehen?« fragte Spike erstaunt. »Das haben Sie mir aber noch gar nicht erzählt, Miß Howett! Täuschen Sie sich auch nicht – haben Sie tatsächlich den Grünen Bogenschützen gesehen?«

 

»Ich möchte nicht gern darüber sprechen,« sagte sie. »Besonders nicht über meine eigenen Erlebnisse. Aber ich habe ihn zweimal gesehen – einmal draußen in dem Park von Garre Castle.«

 

»Aber was haben Sie denn in dem Park von Garre Castle zu tun?« fragte Spike, der aufs neue überrascht war.

 

»Ich habe jemand gesucht. Es war allerdings eine ganz verwegene Sache, die ich mir vorher nicht genau überlegt hatte, und beinahe wäre sie böse für mich ausgegangen. Ich bin nachts in dem Park gewesen.«

 

»Wo haben Sie ihn denn gesehen?« fragte Spike erregt.

 

sternchenland.com Obgleich Valerie bei der Erinnerung noch zitterte, mußte sie doch über Spikes Neugierde lächeln.

 

»Wenn Sie das in Ihre Zeitung setzen, dann sage ich Ihnen kein Wort mehr, Mr. Holland. Wenn Sie aber versprechen, tiefes Stillschweigen darüber zu bewahren, dann will ich Ihnen zeigen, wo ich den Grünen Bogenschützen gesehen habe. Ich habe mir erst heute die Stelle wieder angesehen. Ich wußte nicht, daß man sie von unserem Grundstück aus sehen kann. Es war auf dem Abhang eines kleinen Hügels, Sie können den Platz von unserer Gartenmauer aus sehen. Dort steht ein kleines Gehölz – eine Art Boskett.« Plötzlich stand sie auf. »Ich will es Ihnen gleich zeigen – aber –« sie warnte Spike mit dem Finger – »Sie dürfen niemals, unter welchen Umständen es auch immer sein mag, erzählen, daß ich ihn gesehen habe. Ich kann Ihnen auch sagen, daß er kein Geist ist.«

 

Die beiden folgten ihr in die Halle, in die Küche und durch die Gartentür ins Freie. Der Garten lag im Dunkeln, und sie stand einen Augenblick still.

 

»Ich glaube nicht, daß wir die Stelle bei dieser Beleuchtung sehen können,« meinte sie.

 

»Wenn wir uns erst etwas an die Dunkelheit gewöhnt haben, ist es hell genug,« drängte Spike. »Wenn Sie mir die Stelle zeigen wollen, kann ich vielleicht später selbst näher nachforschen. Morgen früh ist ja Licht genug da. Ich muß jetzt den Beweis bringen, daß der Grüne Bogenschütze überhaupt existiert, oder ich habe mein Ansehen bei dem ›Daily Globe‹ für immer verloren!«

 

Spike hatte recht. Trotz der Dunkelheit konnten sie nicht nur die Umrißlinien der Burg, sondern auch das kleine Gehölz deutlich unterscheiden, als sie auf Leitern stiegen und über die Mauer schauten. Spike kletterte auf die Mauer und setzte sich rittlings darauf. Dann strengte er seine Augen an, um den Erklärungen Valeries folgen zu können. John Wood sternchenland.com stand zwischen den beiden und hatte die Ellenbogen auf den oberen Teil der Mauer gestützt.

 

»Das ist also die Burg,« sagte er.

 

»Und dort liegt das Gehölz.« Sie zeigte es ihm mit der Hand. »Sie können gerade noch die Silhouette des kleinen Hügels erkennen, wo ich ihn entdeckte.«

 

»Heute abend ist allerdings nicht viel zu sehen,« gab Spike zu. »Aber wenn Sie mich vielleicht morgen durch Ihren Garten gehen lassen –«

 

Spike zündete plötzlich ein Streichholz an. Einen Augenblick flackerte das Licht, aber als es hell brannte, hielt er es über den Rand der Mauer. Dann sah er etwas – Valerie stieß einen Schrei aus – er ließ das Streichholz fallen und hielt sie.

 

Nicht weiter als zwei Meter entfernt stand an einem Gebüsch der Grüne Bogenschütze und starrte mit seinen Weißen, geisterhaften Augen auf die Gruppe.

 

Kapitel 63

 

63

 

John Wood erholte sich zuerst von seinem Schrecken. Es waren nur einige Augenblicke vergangen, als er schon über die Mauer sprang. Spike hörte, wie seine Füße den Boden berührten und wie er den kleinen Pfad der Mauer entlanglief. Er selbst war vollständig mit dem halb ohnmächtigen Mädchen beschäftigt.

 

»Haben Sie ihn gesehen?« flüsterte sie und zitterte an allen Gliedern. Er mußte sie beinahe die Leiter hinuntertragen und in das Haus führen.

 

»Haben Sie ihn gesehen?« fragte sie noch einmal.

 

»Sicherlich habe ich etwas gesehen,« gab Spike zu.

 

»Wo ist Mr. Wood?«

 

»Er ist hinter ihm her.« Valerie schloß die Augen, als ob sie die schreckliche Erscheinung nicht sehen wollte. sternchenland.com »Was – was haben Sie gesehen, Mr. Holland?«

 

»Nun – es sah grün aus, vielleicht war es der Bogenschütze. Ich muß zugeben, daß ich vollständig verwirrt bin.«

 

Eine Viertelstunde später kam Wood etwas atemlos zurück.

 

»Ich mußte ohne Leiter über die Mauer zurückklettern,« sagte er.

 

»Es tut mir so leid, ich hätte eine andere Leiter für Sie auf der Seite nach der Burg herunterlassen sollen. Es war doch wirklich gedankenlos von mir!«

 

»Das macht nichts.« Mr. Wood staubte sich die Hände ab. Er lächelte, als ob die ganze Sache nur einen Scherz für ihn bedeutet hätte.

 

»Haben Sie ihn eingeholt und gesehen?«

 

»Ich habe nur etwas von ihm gesehen – nur einen kurzen Augenblick – aber ich habe ihn nicht erreichen können.«

 

Sie sahen einander an.

 

»War es der Grüne Bogenschütze, Miß Howett?« fragte Spike.

 

»Ich denke, daß darüber gar kein Zweifel bestehen kann. Wohin wollen Sie gehen, Holland?«

 

»Ich muß jetzt schnell den alten Bellamy aufsuchen,« sagte er entschieden. »Vor allem muß der Park sofort abgesucht werden, damit wir den Grünen Bogenschützen finden, oder der ›Globe‹ verliert seinen besten Berichterstatter.«

 

Er mußte den Pförtner aus dem Schlaf wecken, der sich schon zur Ruhe gelegt hatte. Dieser arme Mann weigerte sich lange Zeit, zu Mr. Bellamy hinaufzutelephonieren. Aber schließlich gelang es Spike, ihn zu überreden.

 

»Lassen Sie Mr. Holland ans Telephon kommen,« sagte Bellamy und als das geschehen war, fragte er: »Nun, was ist denn schon wieder los?«

 

»Ich habe Ihren Grünen Bogenschützen im Park gesehen, Mr. Bellamy.«

 

sternchenland.com »Kommen Sie herauf,« sagte Bellamy nach einer Pause.

 

Er erwartete Spike am Eingang der dunklen Halle.

 

»Was haben Sie denn da nun schon wieder für eine neue Mär mit dem Grünen Bogenschützen?«

 

»Ich habe ihn gesehen – und zwar viel deutlicher, als ich Sie jetzt sehen kann.«

 

»Sie haben ihn gesehen – wo standen Sie denn?«

 

»Ich schaute über die Mauer von Mr. Howetts Garten. Miß Howett zeigte mir gerade, wie schön das Schloß bei Nacht aussieht.«

 

»Das muß ja ein wunderbarer Anblick gewesen sein,« sagte der Alte sarkastisch, »wo gar kein Licht brannte. Haben Sie vielleicht auf ein Galafeuerwerk gewartet, das ich Ihnen zu Ehren abbrennen sollte? Aber nun erzählen Sie, was haben Sie gesehen?«

 

»Ich habe es Ihnen ja schon gesagt – den Grünen Bogenschützen. Er stand nicht drei Schritte weit von mir entfernt.«

 

»Haben Sie zuviel Wein zum Abendbrot getrunken?« fragte Bellamy wütend. »Sie möchten gern eine interessante Geschichte für Ihre Zeitung haben, Holland! Wenn Sie aber glauben, daß ich Ihnen dabei helfe, irgendeine Geistergeschichte zu erfinden, dann irren Sie sich! Sie hätten sich die Mühe sparen können, hierher zu kommen. Es gibt einen Grünen Bogenschützen,« sagte er belustigt. Spike wunderte sich, denn er hatte ihn noch nie so gesehen. »Aber es ist ein ganz merkwürdiges Gespenst, das nie aus dem Hause gehen kann, ohne sich zu erkälten. Es ist nämlich ein Hausgeist, der an frischer Luft stirbt. Nein, Holland, Sie müssen sich ein anderes Märchen ausdenken!«

 

»Würden Sie nicht wenigstens das Grundstück absuchen lassen?«

 

»Nein, ich lasse nichts absuchen,« erwiderte Bellamy ungeduldig. »Ich habe überhaupt nicht genug Leute dazu. Vielleicht sternchenland.com bringen Sie Ihren Freund Featherstone mit, der kann das ja machen.«

 

Bellamy stand bisher in der Türöffnung und drehte sich plötzlich um.

 

»Kommen Sie herein. Ich möchte Sie noch etwas fragen.«

 

Als sie einander in der Bibliothek gegenübersaßen, begann Bellamy sofort zu sprechen.

 

»Sie haben mir neulich etwas von einem Mann erzählt, den Creager gepeitscht haben soll. Ich war so böse auf Sie, daß ich Ihnen damals unangenehme Dinge sagte, aber nachdem ich mir die Sache reiflich überlegt habe, möchte ich doch noch etwas genauer wissen, was Sie damit eigentlich sagen wollten.«

 

»Ich habe Ihnen erzählt, daß der Mörder Creagers wahrscheinlich ein Mann war, den er einmal mit der Peitsche geschlagen hat. Creager war Gefängnisbeamter und hatte besonders die Pflicht, die dazu verurteilten Verbrecher zu peitschen. Jedenfalls ist es eine Annahme der Polizei, daß Creager von jemand getötet wurde, der schon lange darauf wartete, sich an ihm zu rächen.«

 

Bellamy schob seinem Besucher eine Kiste Zigarren über den Tisch hinüber, nahm sich selbst eine, biß das Ende ab und steckte sie an.

 

»Das ist leicht möglich,« sagte er dann. »Ich weiß ja gerade nicht viel darüber, wie es in den englischen Gefängnissen zugeht, aber ich entsinne mich, in den Zeitungen gelesen zu haben, daß Creager ein Gefängniswärter war. Die Ansicht, die Sie eben darüber äußerten, hat viel für sich.« Er blies die Rauchwolken seiner Zigarre in die Luft und beobachtete, wie sie sich im Räume verteilten. »Haben Sie irgendeinen Anhaltspunkt, wer der Grüne Bogenschütze sein könnte?«

 

»Ich habe schon zu viele Spuren,« erwiderte Spike kurz.

 

»Jede Woche finde ich wieder einen anderen heraus. Zunächst hatte ich Sie im Verdacht –«

 

sternchenland.com »Mich?« fragte Bellamy und mußte laut lachen. »Das ist allerdings spaßhaft. Haben Sie denn nicht Julius Savini einmal verdächtigt?«

 

Spike nickte.

 

»Ich habe schließlich alle Leute damit in Verbindung gebracht. Und bis heute abend war ich ganz sicher, daß ich wußte, wer es war.«

 

»Wen hatten Sie denn im Verdacht?« fragte der alte Bellamy und sah ihn scharf an.

 

»Nach meinen Erfahrungen möchte ich nicht einen unschuldigen Mann bezichtigen. Mr. Bellamy, nebenbei fällt mir ein, daß Sie meiner Zeitung mit einer Klage gedroht haben.«

 

»Ach, kümmern Sie sich nicht darum, ich werde nichts gegen Sie unternehmen. Sie sind ein netter Mensch und ein kluger Reporter – es ist möglich, daß Sie durch mich noch eine ganze Menge Geld verdienen.«

 

»Das ist ja großartig!« erwiderte Spike.

 

»Aber deswegen brauchen Sie nicht unverschämt zu werden,« brummte der Alte, dem es scheinbar wieder leid tat, daß er eben so liebenswürdig gewesen war. »Ich bin bereit, große Summen für große Dienste zu bezahlen, Holland. Und Sie sind gerissen genug, daß Sie leicht ein Vermögen zusammenbringen können. Wer hatte denn eigentlich die Ansicht, daß Creager von einem Mann getötet wurde, den er gepeitscht hatte – war das etwa Featherstone?«

 

»Ich kann Ihnen nur erzählen, daß es eine Ansicht der Polizeidirektion ist, Mr. Bellamy. Und Featherstone wird doch wohl wissen, was die Polizei denkt. Aber sagen Sie mir, wo hält sich Savini auf? Haben Sie nichts von ihm gehört?«

 

Bellamy schüttelte den Kopf.

 

»Warum sollte ich denn etwas von ihm hören? Ich habe sternchenland.com ihn hinausgeworfen, weil er versuchte, mich zu bestehlen. Es ist doch nicht sehr wahrscheinlich, daß er mir alle paar Tage ein Liebesbriefchen schickt. Was hält denn die Polizei von der Sache?«

 

»Die ist davon überzeugt, daß er sich immer noch hier in der Burg aufhält,« erwiderte Spike.

 

Der Alte lachte grimmig.

 

»Denken Sie denn, ich unterhalte hier ein Genesungsheim für Verbrecher?« fragte er verächtlich. »Diese dummen Leute hier glauben natürlich jeden Unsinn, sie glauben ja auch an den Grünen Bogenschützen.«

 

»Und an die graue Frau,« fügte Spike hinzu, der sich plötzlich an seinen Ausflug von heute nachmittag erinnerte.

 

Es trat eine Pause in der Unterhaltung ein, aber Gespräche mit Bellamy wurden häufig durch Schweigen unterbrochen. Spike konnte das Gesicht des Alten nicht sehen, der sich herumgedreht hatte und in das Kaminfeuer starrte. Aber plötzlich überkam Spike ein sonderbares Gefühl, als ob er fröre. Zuerst nahm er an, daß die Tür offenstände und ein kalter Luftzug von dort ihn träfe. Er wandte sich sogar um und wollte sie schließen, aber sie war fest zu. Dann begann Bellamy wieder zu sprechen, aber er hatte das Gesicht immer noch abgewandt.

 

»Was ist denn das für eine graue Frau, Mr. Holland?«

 

»Es ist eine ganz neue Erscheinung, die ich erst heute entdeckt habe. Einer von den Landleuten hat eine Frau gesehen, die im Klosterwald umherwandert, ungefähr drei Meilen von hier entfernt.«

 

»Und wer ist sie?«

 

»Hier in diesen ländlichen Gefilden ist alles grün,« erwiderte Spike in Gedanken. »Die Leute dachten, es wäre ein Gespenst. Aber vielleicht ist es auch nur jemand, der viel frische Luft haben will und deshalb dorthin gegangen ist.«

 

sternchenland.com »Sie sagten doch eben ›graue Frau‹ – wo hält sie sich denn auf?«

 

»Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, daß sie in einem Haus dort im Walde wohnt. Ich habe mir heute die Mühe gemacht, dorthin zu gehen und nachzuforschen, ich habe die Stelle auch gefunden, das Haus war aber vollkommen leer. Heute morgen noch muß jemand dort gewesen sein, ich bin nämlich in das Haus hineingegangen und habe mich genau umgesehen.«

 

Spike wollte sich mit Bellamy gut stellen, und es schien ihm kein Grund vorzuliegen, warum er ihm dieses kleine Abenteuer nicht erzählen sollte.

 

»Neue Schuhe, Medizinflaschen und Spuren von Automobilen,« wiederholte Bellamy. »Das ist merkwürdig, sehr merkwürdig. Und sie war heute morgen da, wie Sie sagen?«

 

»Ich vermute es stark, denn die Spuren der Räder waren noch ganz frisch, sie hat scheinbar auch letzte Nacht in dem Bett geschlafen.

 

»Wahrscheinlich ist es so, wie Sie sagen – sie wird in der Natur leben wollen.«

 

Jetzt erst wandte sich Bellamy um. Spike wollte seinen Augen nicht trauen, denn Abel schien viel älter geworden zu sein und sah noch häßlicher und abstoßender aus als sonst.

 

»Sie sind wirklich ein netter Kerl, Holland,« sagte er langsam. »Als ich Ihnen neulich einmal Geld anbot, waren Sie so furchtbar beleidigt. Aber vielleicht kann ich Ihnen ein neues Auto kaufen. Fahren Sie gern Auto?«

 

»Ich bin gerade nicht so sehr davon entzückt, daß ich selbst einen Wagen brauchte,« erwiderte Spike und wunderte sich, aus welchem Grunde Bellamy plötzlich so liebenswürdig und freigebig wurde.

 

»Sie können doch dann überall hinfahren und sich die Gegend ansehen. Aber ich glaube, ich nehme Ihre Zeit zu sehr in Anspruch. Kommen Sie morgen wieder. Sie können sternchenland.com ruhig den Park absuchen. Ich werde dem Pförtner telephonische Anweisung geben, daß er Sie hereinläßt. Aber ich glaube, Sie werden nichts finden. Ich sagte Ihnen schon, das Gespenst hier in der Burg hält sich nur im Innern auf und kann besonders nasses, feuchtes Wetter nicht vertragen.«

 

Als Spike gegangen war, klingelte Bellamy nach Sen.

 

»Bringe mir einen Regenmantel und mache den Wagen fertig. Es ist möglich, daß ich lange Zeit fortbleibe.«

 

Diese ganze Nacht wartete Bellamy in strömendem Regen darauf, daß die Bewohnerin des einsamen Hauses im Klosterwald zurückkehren sollte. Er stand im tiefen Schatten der Bäume in der Nähe der Schlafzimmerfenster. Er kümmerte sich nicht um den kalten Wind, der durch den Wald heulte, auch nicht um den Regen, der ihm ins Gesicht schlug. Wenn sie zurückgekommen wäre, hätte Abel Bellamy in Zukunft sicher vor ihr sein können, aber der graue Morgen dämmerte herauf, ohne daß er etwas von ihr gesehen hatte, und er fuhr nach Garre zurück, ohne ein neues Verbrechen begangen zu haben.

 

Kapitel 56

 

56

 

Die Hunde waren nicht mehr in Garre. Eines Morgens war ein Hundezüchter gekommen, hatte sie an die Leine gelegt und mit sich fortgenommen. Das ganze Personal von Garre Castle atmete erleichtert auf. Abel Bellamy, der seinen Sekretär bei seiner Rückkehr begrüßte, erzählte ihm nur kurz, daß sie fortgebracht wären.

 

»Ich habe sie weggeschickt,« erklärte er. »Es waren schlechte Hunde, die sich betäuben ließen. Savini, ich brauche eigentlich eine Frau hier, die nach dem Haushalt sehen könnte. Ich möchte keinen Hausmeister mehr engagieren, aber es muß jemand die Dienstboten bei der Arbeit beaufsichtigen. Würden Sie nicht Ihre Frau nach Garre bringen?«

 

Zuerst wollte Julius ablehnen.

 

»Meine Frau wird wahrscheinlich die Stellung eines Hausmeisters nicht übernehmen wollen, sie wäre ja nicht mehr als ein besserer Dienstbote.«

 

»Fragen Sie nur,« sagte der alte Bellamy kurz.

 

Julius schrieb an Fay und hatte nie geglaubt, daß sie annehmen würde. Zu seiner großen Überraschung beantwortete sie seinen Brief durch einen Besuch und brachte schon ihr ganzes Gepäck mit.

 

»Ich bin das Alleinsein müde,« sagte sie, »und ich möchte doch auch gar zu gerne einmal diesen Geist sehen, Julius. Ich habe alte Schlösser und Burgen gern. Es ist zwar nicht so schön wie in Holloway, aber man hat hier doch größere Freiheit.«

 

sternchenland.com Julius zuckte zusammen. Es gab Augenblicke, in denen er nicht daran erinnert werden wollte, daß seine Frau jemals im Gefängnis gesessen hatte.

 

Er nahm sie mit in die Bibliothek, damit sie Bellamy begrüßen konnte. Der Alte schien nicht einmal überrascht zu sein, daß sie so schnell gekommen war. Er war sehr höflich, sogar liebenswürdig zu ihr und übergab ihr die Schlüssel der Burg. Aber dann warnte er sie auch.

 

»Ich habe einen Wachtmann, der nur in der Nacht Dienst tut. Sie müssen sich keine Gedanken machen, wenn Sie nachts Geräusche hören. Er schläft am Tage, und Sie werden ihn nicht zu sehen bekommen.«

 

Als Fay in ihrem Zimmer war, versuchte sie, noch mehr über diesen nächtlichen Wanderer zu erfahren.

 

»Ich weiß auch nicht, wer es ist,« antwortete Julius. »Der Alte hat mir dasselbe gesagt. Vermutlich ist es irgendein Meuchelmörder, ein Kerl, den er angestellt hat, um den Grünen Bogenschützen unschädlich zu machen.«

 

Am Abend las Julius den Bericht über die Totenschau.

 

»Jetzt weiß ich, wer der geheimnisvolle mitternächtliche Wanderer ist,« sagte er plötzlich. »Es kann kein anderer als Lacy sein.«

 

Fay gab ihm recht.

 

Daß weder sie noch Julius eine Vorladung zur Leichenschau erhalten hatten, war ihr unverständlich. Aber sie fand schließlich eine Erklärung, als sie auf der Kante ihres Bettes saß, eine Zigarette rauchte und sich die Sache durch den Kopf gehen ließ.

 

»Featherstone hat alles unterdrückt, um Bellamys Namen nicht mit dem Fall zu verknüpfen.«

 

»Warum denn?« fragte Julius erstaunt. »Das ist doch das Letzte, was Featherstone tun würde. Er will doch gerade Bellamy fassen!«

 

»Du bist sehr schlau, Julius, aber du könntest als Diplomat sternchenland.com niemals dein Vaterland im Ausland vertreten. Das ist nicht deine starke Seite. Nahmen wir an, Featherstone hätte den alten Teufel vor Gericht gestellt – woher hätte er denn die Beweise gegen ihn nehmen sollen? Und wie hätte er ihn zur Rechenschaft ziehen können, ohne die ganze Sache mit Valerie Howett aufzurollen? Und ich weiß ganz sicher, daß sie und Bellamy in eine große, geheime Geschichte verwickelt sind. Warum hätte sie dir denn sonst soviel Geld gegeben, bloß um ein paar Informationen über ihn zu bekommen?«

 

Sie schlüpfte ins Bett, zog die Knie hoch und grübelte angestrengt nach.

 

»Ich habe mir alles überlegt, Julius. Warum wollte er eigentlich, daß ich hierherkommen sollte?«

 

»Das mag der Himmel wissen. Vielleicht kann er einen gewissen Einfluß auf mich ausüben, wenn du hier bist.«

 

Sie antwortete nicht, und er war schon halb eingeschlafen, als sie wieder zu sprechen begann.

 

»Vielleicht war Holloway doch sicherer,« meinte sie. Julius brummte unzufrieden etwas vor sich hin.

 

Fay verbrachte die erste Nacht in Garre Castle nicht besonders gut. Um drei Uhr wachte sie auf und konnte nicht wieder einschlafen. Einmal ging auch jemand an der Tür vorbei. Es war ein geheimnisvolles Schlürfen, und Fay hörte, wie der nächtliche Wanderer vergeblich versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken.

 

Schließlich stand sie auf, schlüpfte in ihren Morgenrock, ging ans Fenster, zog den Vorhang beiseite und schaute in die dunkle Nacht hinaus. Es regnete, und sie konnte draußen nichts erkennen. Aber um so lebhafter arbeitete ihre Phantasie. Schaudernd und fröstelnd ging sie wieder zu Bett.

 

Sie war halb eingeschlafen, als sie plötzlich ein schwaches, regelmäßiges Klopfen vernahm. Zuerst glaubte sie, es sei ein Geräusch im Zimmer, aber als sie genauer aufhorchte, merkte sie, daß es von unten kam.

 

sternchenland.com »Tap, tap, tap!« Eine Pause – dann wieder »tap, tap, tap!«

 

Sie stieß Julius an und er erwachte.

 

»Was ist das?« flüsterte sie.

 

Er saß aufrecht im Bett und lauschte.

 

»Ich weiß es nicht, – es klingt so, als ob unten jemand ist.«

 

»Was für ein Raum ist denn unter uns?«

 

Julius dachte eine Weile nach.

 

»Das Speisezimmer – nein, die Wachtstube. Ich habe dir doch den Platz gezeigt, als du ankamst.«

 

Sie schauderte.

 

»Du meinst den Eingang zu den Kerkern?« flüsterte sie ängstlich. »Ach, Julius, ich fürchte mich schrecklich.«

 

Er klopfte ihr auf die Schulter.

 

»Sei nicht verrückt. Vielleicht ist es auch nur eine Wasserröhre. – Bellamy behauptete stets, daß alle außergewöhnlichen Geräusche hier mit der Wasserleitung zu tun haben.«

 

Trotzdem war auch er verwundert.

 

»Es kann unmöglich aus dem Wachtraum kommen, es klingt, als ob man mit einem Hammer auf Eisen schlägt. Es muß ziemlich weit fort sein, sonst würde ich es genauer hören.«

 

»Wo kann es nur sein?« fragte sie besorgt.

 

Einige Sinne waren bei Julius Savini außergewöhnlich scharf entwickelt. Während seiner etwas stürmischen Vergangenheit hatte sich sein scharfes Gehör und die Fähigkeit festzustellen, woher ein Geräusch kam, von unschätzbarem Wert für ihn erwiesen. Er fand auch bald heraus, daß das Klopfen aus den unterirdischen Kerkern kommen mußte.

 

»Wo ist es denn?« fragte Fay noch einmal.

 

»Es können nur die Wasserröhren sein,« erwiderte Julius. »Versuche du nur wieder zu schlafen, ich will einmal sehen, ob ich sie nicht abstellen kann.«

 

sternchenland.com Er zog seinen Rock an, und sie hörte, wie er die Schublade seines Schreibtisches aufzog.

 

»Du brauchst aber doch keinen Revolver, um eine Wasserröhre abzustellen?« fragte sie erschrocken.

 

»Ich bin etwas nervös geworden,« antwortete er ihr sehr ruhig. »Ich will nicht in der Burg umherwandeln ohne –«

 

Sie stand schnell auf.

 

»Ich bleibe nicht allein hier,« sagte sie bestimmt.

 

Julius war ihre Begleitung nicht unangenehm, denn er war ebenso ängstlich wie sie, allein zu sein.

 

Als sie leise auf den Gang hinaustraten, sahen sie, daß eine Lampe brannte. Die Tür zu Bellamys Schlafzimmer stand weit offen.

 

»Er ist noch nicht zu Bett gegangen,« flüsterte Julius. »Sie stand genau so offen, als ich mich legte.«

 

Auch in der unteren Halle brannte Licht. Julius schlich langsam die Treppe hinunter. Die Bibliothekstür war geschlossen, aber nun konnte er das Hämmern deutlicher erkennen. Es kam aus der Richtung des Speisezimmers, und er ging die langen, dunklen Gänge entlang. Fay folgte ihm auf dem Fuße am Speisezimmer vorbei in den Wachtraum. Bevor er dorthin kam, sah er die Lichtstrahlen einer Laterne, die sich auf dem blanken Fußboden spiegelten. Auch von der Treppe, die zu den Kerkern hinunterführte, kam Lichtschein herauf. Julius schlich sich vorwärts und schaute hinunter, konnte aber niemand sehen, aber die Hammerschläge waren laut und deutlich zu hören.

 

Der Revolver in seiner Hand zitterte, als er den Fuß auf die ausgetretenen Steinstufen der Treppe setzte. Aber plötzlich hörte das Klopfen unten auf, und es erklangen Schritte auf dem unebenen Steinfußboden. Savini zog sich fluchtartig zurück, nahm seine Frau am Arm, und sie liefen den langen Gang entlang, die Treppe in die Höhe. Von dem oberen Podest aus hatte er einen guten Überblick über die Eingangshalle. sternchenland.com Sie mußten noch etwas warten, bevor der nächtliche Arbeiter erschien. Es war Abel Bellamy.

 

Er hatte keinen Rock an, sein Hemd war vorne geöffnet und zeigte seine starke Brust, die Ärmel waren bis zur Schulter aufgerollt. Julius sah auf den muskulösen, mächtigen Armen eine graue Staubschicht. Bellamy trug einen schweren Hammer in der einen Hand, eine Laterne in der anderen, und als er in die Halle heraufkam, wischte er sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne. Julius und Fay eilten in ihr Zimmer und schlossen die Tür leise hinter sich zu.

 

»Was hat er nur gemacht?« flüsterte die erschrockene Frau.

 

»Er wird ein Wasserrohr verlegt haben,« meinte Julius beruhigend. Aber er hätte sich nicht träumen lassen, wie nahe sein Ausspruch der Wahrheit kam.