Kapitel 17

 

17

 

An jenem Morgen, an dem Elk auf die Ankunft des geständigen Mills wartete, wurden umständliche Vorsichtsmaßregeln ergriffen, um den Gefangenen sicher in die Polizeidirektion zu schaffen. Während der ganzen Nacht war das Gefängnis von einem Kordon bewaffneter Wachen umgeben, und Wachen patrouillierten in dem angrenzenden Hof. Der gefangene Frosch war ein gebildeter Mann, dem es nicht schlecht ergangen und der auf der Walze von zwei vagabundierenden Mitgliedern der Brüderschaft angeworben worden war. Aus seinen Aussagen ging hervor, daß er als Abteilungschef fungiert hatte, indem er die Instruktionen und Orders den Unteroffizieren und Gemeinen weitergab.

 

Um elf Uhr brachte man ihn aus seiner Zelle, aber Mills war trotz der Versicherung, die er erhalten hatte, nervös und furchtsam. Außerdem war er erkältet und hustete stark.

 

Um elf Uhr fünfzehn wurden die Gefängnistüren geöffnet, und drei Motorradfahrer fuhren gleichzeitig heraus. Ein geschlossenes Auto mit herabgelassenen Vorhängen folgte ihnen. Auf beiden Seiten begleitete den Wagen eine Patrouille auf Motorrädern, und ein anderes Auto, mit Polizeibeamten bemannt, folgte.

 

Sie erreichten Scotland Yard ohne Mißgeschick. Die Tore an beiden Seitenflügeln des Gebäudes wurden geschlossen, und Mills wurde durch das Haupttor hereingebracht. Elks Beamter Balder und ein Detektivsergeant nahmen den Mann in Obhut, der sehr blaß war und schwankte.

 

Er wurde in ein kleines Zimmer, das an Elks Büro stieß, geführt. Es war ein Raum, dessen Fenster mit schweren Stangen versehen waren, weil er während des Krieges als Arrest für Spione verwendet worden war. Zwei Leute wurden zur Bewachung außerhalb der Tür beordert, und der immer unzufriedene Balder kam herein, um zu berichten.

 

»Wir haben den Burschen ins Wartezimmer gesteckt, Herr Inspektor.«

 

»Hat er etwas gesagt«, fragte Dick, der um des Verhöres willen gekommen war.

 

»Nein, nur verlangt, daß das Fenster geschlossen werden soll. Da habe ich es selber zugemacht.«

 

»Bringen Sie uns den Gefangenen!« sagte Elk.

 

Sie warteten eine Weile und hörten das Rasseln von Schlüsseln und dann ein aufgeregtes Stimmengewirr. Balder stürzte herein.

 

»Er ist krank, ohnmächtig oder so was!« keuchte er. Und Elk stürzte ihm nach, den Korridor entlang in das Wartezimmer. Mills lag halb, den Oberkörper schwer gegen die Mauer gelehnt. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war aschfahl. Dick beugte sich über ihn und legte ihn flach auf den Boden. Er roch an seinem Mund.

 

»Blausäure«, sagte er. »Aus.«

 

An jenem Morgen war Mills bis auf die Haut ausgezogen und alle seine Kleidungsstücke waren gründlich untersucht worden. Aus besonderer Vorsicht hatte man außerdem seine Taschen zugenäht. Den beiden begleitenden Detektiven gegenüber hatte er hoffnungsvoll von seiner bevorstehenden Reise nach Kanada gesprochen.

 

Niemand, außer den Polizeioffizieren, war mit ihm in Berührung gekommen.

 

Dicks erster Blick galt dem Fenster, von dem vorhin Balder erwähnt hatte, er hätte es geschlossen. Es war jetzt etwa sechs Zoll weit geöffnet.

 

»Herr Hauptmann, ich weiß ganz bestimmt, daß ich es geschlossen habe«, sagte der Beamte nachdrücklich. »Der Sergeant Jekler hat es gesehen.«

 

Der Sergeant bestätigte die Aussage. Dick schob das Fenster ganz auf und sah hinaus. Es liefen vier Eisenstangen quer über den Ziegelrahmen, aber sowie er den Kopf hinausstreckte, sah er, daß ungefähr einen Meter vom Fenster entfernt eine lange Eisenleiter an der Mauer befestigt war, die vermutlich vom Dach zur Erde führte. Das Zimmer lag im dritten Stockwerk, und man sah auf das Strauchwerk weiter Gärten hinab. Jenseits wurde der Blick von Gitterzäunen begrenzt.

 

»Was sind das für Gärten?« fragte Dick.

 

»Die Onslow-Gärten«, sagte Elk.

 

»Onslow-Gärten?« wiederholte Dick nachdenklich. »War es nicht von dort aus, daß die Frösche mich zu erschießen versuchten?«

 

Elk schüttelte hilflos den Kopf.

 

»Was meinen Sie damit, Hauptmann?«

 

»Ich weiß es mir wirklich nicht zu erklären! Es scheint mir keine sehr geistreiche Theorie zu sein, wenn wir annehmen, daß jemand die Leiter erklettert hätte, um Mills das Gift durch das Fenster aufzudrängen. Und noch unwahrscheinlicher ist es, daß er es selbst genommen haben soll! Balder schwört, daß das Fenster verschlossen war, und jetzt stand es offen. Können Sie Balder trauen?«

 

Elk nickte überzeugt. Der Polizeiarzt kam bald nachher und bestätigte die Annahme, daß Blausäure die Todesursache gewesen war.

 

Elk begleitete Dick Gordon in sein Büro in Whitehall.

 

»Ich habe mich im ganzen Leben nicht gefürchtet«, sagte er. »Aber diese Frösche wachsen mir über den Kopf. Es ist hier doch tatsächlich ein Mensch vor unseren Augen getötet worden. Er war bewacht, wir haben ihn nie allein gelassen, außer für die wenigen Minuten, die er in dem versperrten Zimmer verbrachte, und doch konnte ihn der Frosch erreichen. Das vermag einen schon ein bißchen bange zu machen, Hauptmann Gordon!«

 

Dick schloß die Tür seines Büros auf und führte Elk in das gemütliche Innere.

 

»Ich kenne keine bessere Kur für zerrüttete Nerven, als eine ›Cabana Cesare‹«, sagte er fröhlich. »Verlieren Sie nicht den Mut, Elk. Der Frosch ist nur ein Mensch wie wir alle und hat, wie wir, seine Befürchtungen. – Wo ist Freund Broad?«

 

Elk zog, ohne zu zögern, das Telefon herbei und verlangte die Nummer. Nach einer kleinen Pause antwortete ihm Broads Stimme.

 

»Sind Sie das, Herr Broad? Was machen Sie denn jetzt?« fragte Elk in jenem schmeichelnd-süßen Ton, den er bei Telefongesprächen anzuwenden pflegte.

 

»Wer spricht? Elk? Ich bin im Begriff, auszugehen.«

 

»Ich war der Meinung, Sie vor fünf Minuten in Whitehall gesehen zu haben«, flötete Elk.

 

»Dann war es ein Doppelgänger«, antwortete Broad. »Ich bin erst vor zehn Minuten aus dem Bad gestiegen. Wünschen Sie etwas von mir?«

 

»Nein, nein«, gurrte Elk. »Ich wollte nur wissen, ob Sie wohlauf wären.«

 

»Warum? Ist etwas geschehen?« kam eine scharfe Gegenfrage.

 

»Nein, nein. Alles in schönster Ordnung!« antwortete Elk unaufrichtig. »Vielleicht kommen Sie einmal herüber und besuchen mich dieser Tage im Amt? Adieu.«

 

Er legte den Hörer zurück und machte eine schnelle Berechnung.

 

»Von Whitehall nach Cavendish Square braucht man in einem guten Auto vier Minuten«, sagte er. »Also hat ein momentaner Aufenthalt in der Wohnung nichts zu sagen.«

 

Er zog das Telefon wieder zu sich heran und rief die Polizeidirektion an. »Ich brauche einen Mann, um Herrn Joshua Broad zu beobachten. Er darf ihn bis acht Uhr abends nicht verlassen und soll mir dann Bericht erstatten.«

 

Elk setzte sich in den Sessel zurück und zündete die lange Zigarre, an, die Dick ihm aufgedrängt hatte. »Heute ist Dienstag«, überlegte er. »Morgen ist Mittwoch, wo schlagen Sie vor, daß wir zuhören sollen?’«

 

»Im Admiralitätsgebäude«, sagte Dick. »Ich habe es mit dem Ersten Lord so arrangiert, daß ich um drei Viertel drei in der Instrumentenkammer sein kann.« Dick ließ eine Frühausgabe der Abendblätter besorgen und war sehr erleichtert, als er darin keine Anspielung auf den Mord fand. Im Lauf des Tages, als er einmal von seinem Fenster nach Whitehall hinaussah, bemerkte er Elk, der auf der anderen Seite der Straße dahinschlenderte, den Regenschirm am Arm, den alten, steifen, runden Hut aus der Stirn geschoben, eine schlampige, unauffällige Figur. Eine Stunde später sah er ihn wieder aus der entgegengesetzten Richtung kommen. Dick wunderte sich, in was für besonderen Geschäften der Detektiv ausgewesen sein mochte und erkundete, daß Elk der Admiralität an jenem Tage zwei Besuche abgestattet hatte. Doch erfuhr er den Grund erst, als sie sich spät am Abend trafen.

 

»Ich verstehe nicht viel von der drahtlosen Telegrafie«, sagte Elk, »aber ich erinnere mich, etwas über ›Peilungen‹ gelesen zu haben. Wenn man wissen will, woher eine drahtlose Botschaft kommt, so muß man sie von zwei oder drei verschiedenen Orten abhören.«

 

»Natürlich, was bin ich für ein Narr!« unterbrach Dick, über sich selbst verärgert. »Es ist mir nicht einmal eingefallen, daß wir doch zu der Radiostation gehen können.«

 

»Mir kommen manchmal solche Ideen«, sagte Elk bescheiden.

 

»Die Admiralität hat Botschaften nach Milford Haven, Harwich, Portsmouth und Plymouth geschickt und den Schiffen den Auftrag gegeben, abzuhorchen und uns die Richtung zu peilen. Hoffentlich haben die Abendblätter die Sache nicht gebracht.«

 

»Sie meinen wegen Mills? Gott sei gedankt, nein. Aber es wird ja sicher bei der Untersuchung herauskommen. Ich habe es schon so eingerichtet, daß sie um eine oder zwei Wochen verschoben wird. Denn ich fühle, daß sich in den nächsten Wochen für uns vieles ereignen muß.«

 

»Hoffentlich nicht«, sagte Elk böse. »Ich traue mich ja nicht einmal mehr, eine Bratwurst zu essen, seitdem Mills um die Ecke gebracht wurde. Und ich habe so eine Schwäche für Bratwürste.«

 

Kapitel 18

 

18

 

Elks mißlauniger Beamter war in anklägerischer Stimmung.

 

»Die beim Rekord haben mir schon wieder eine Nase gegeben«, beschwerte er sich bitter. »Rekord bildet sich mehr ein als das ganze verfluchte Büro zusammen.«

 

Der Krieg zwischen Balder und »Rekord«, was eine Abkürzung für jene Abteilung der Polizeidirektion war, die die genauen Daten der Verbrechervergangenheit aufbewahrt, war schon älteren Datums. Rekord stand allem, was nicht intabulierte Tatsache war, höchst erhaben und ablehnend gegenüber. Die Rekordbeamten respektierten die anderen Leute nicht, sie hätten ebensogut den Polizeichef, der sich gegen ihre unbeugsamen Regeln verging, getadelt, wie den jüngsten Schutzmann des Straßen- und Sicherheitsdienstes.

 

»Was ist denn wieder los?« fragte Elk.

 

»Wissen Sie noch? Sie hatten letzthin eine Menge Material über den Mann, ich kann mich an seinen Namen nicht erinnern…«

 

»Lyme«, meinte Elk.

 

»Ja, so hieß er. Aber es scheint nun, daß eines der Bilder fehlt. Am nächsten Vormittag, nachdem Sie sie angeschaut hatten, bin ich wieder in die Statistik gegangen und habe mir die Dokumente wieder geben lassen, weil ich gemeint habe, Sie wollten sie noch einmal anschauen. Sie haben sie aber nicht verlangt, und ich habe sie zurückgebracht. Und jetzt behaupten die vom Rekord; daß das Bild und die Maße weg sind.«

 

»Wollen Sie damit sagen, daß sie verlorengegangen sind?«

 

»Wenn sie verlorengegangen sind«, sagte der immer mürrische Balder, »dann hat sie die Statistik selber verloren. Die glauben vielleicht, daß ich irgend so etwas wie ein Frosch bin? Sie werfen mir auch immer vor, daß ich ihre Fingerabdruckkarten verlege.«

 

»Balder, ich habe Ihnen versprochen, Ihnen einmal eine große Chance zu geben, und jetzt sollen Sie sie haben. Sie sind letzthin nicht befördert worden, mein Sohn, weil die Leute da oben glaubten, daß Sie einer der Führer im letzten Streik gewesen sind. Ich kenne die Gefühle der Übergangenen. Sie machen einen bitter. Wollen Sie die große Chance ausnützen?«

 

Balder nickte mit angehaltenem Atem.

 

»Hagn ist in der separierten Zelle«, sagte Elk. »Legen Sie Zivilkleidung an, maskieren Sie sich ein bißchen, und ich werde Sie mit ihm zusammen einschließen. Wenn Sie sich fürchten, so können Sie einen Revolver mitnehmen, und ich werde es so einrichten, daß man Sie nicht untersucht. Schauen Sie, daß Sie mit Hagn ins Gespräch kommen. Sagen Sie ihm, daß Sie wegen des Mordes in Dundee eingesteckt worden sind. Er wird Sie nicht erkennen. Tun Sie mir den Gefallen, Balder, und in einer Woche werden Sie den Streifen auf dem Ärmel haben.«

 

Balder nickte. Der streitsüchtige Ton seiner Stimme war verschwunden, als er sprach. »Das ist eine Chance. Und schönen Dank dafür, Herr Inspektor.«

 

Eine Stunde später brachte ein Detektiv einen grimmig aussehenden Gefangenen nach Cannon Row und stieß ihn in die Stahlkammer. Der einzige, der den Gefangenen erkannt hatte, war der Oberinspektor, der auf die Ankunft des Lockvogels wartete. Dieser hohe Beamte geleitete Balder selber zu der separierten Zelle und stieß ihn hinein.

 

»Gute Nacht, Frosch!« sagte er.

 

Balders Antwort ist im Druck nicht wiederzugeben. Nachdem er seinen Untergebenen in Sicherheit wußte, ging Elk in sein Büro zurück, schloß die Tür, nahm den Hörer vom Telefon und legte sich nieder, um endlich ein paar Stunden Schlaf zu finden. Aber der Schlaf kam nicht. Seine Gedanken wanderten von Balder zu Dick Gordon, von Lola zu dem toten Mann Mills.

 

Seine eigene Stellung schien ernstlich gefährdet, aber das machte Elk nicht die geringsten Sorgen. Er war Junggeselle und hatte sich ein hübsches, rundes Sümmchen erspart.

 

Er dachte an Maitland, dessen Verbindung mit den Fröschen nun erwiesen schien. Der Alte lebte ein Doppelleben, am Tage ein Geschäftsmann, vor dem das Personal zitterte, bei Nacht der Mithelfer von Dieben und schlechter noch als ein Dieb. Und wo war das Kind? Das war eine andere harte Nuß!

 

»Nichts als harte Nüsse!« sagte Elk. Und mit den Händen unter dem Kopf blickte er wach und grollend zur Decke auf. Da er doch die gesuchte Ruhe nicht zu finden vermochte, stand er endlich auf und ging nach Cannon Row hinüber.

 

Der Gefängniswärter sagte ihm, daß der neue Arrestant eine ganze Menge mit Hagn gesprochen habe, und Elk lächelte.

 

Er hoffte nur, daß der »neue Arrestant« nicht auch versucht hatte, seine Klagen gegen die Polizeiadministration mit Hagn zu diskutieren.

 

Um drei Viertel drei Uhr traf er in der Instrumentenkammer der Admiralität mit Dick Gordon zusammen. Es war ihnen ein Funker zur Verfügung gestellt worden, und nach den Vorinstruktionen nahmen sie an seinem Tisch Platz, wo er mit seinen Tastern hantierte. Dick lauschte bezaubert den Rufen der fernen Schiffe und dem Geplauder der übermittelten Stationen. Einmal hörte er ein ganz schwaches Quieken, so schwach, daß er nicht sicher war, ob er sich nicht geirrt hatte.

 

»Cap Race«, sagte der Funker. »Sie werden in einer Minute Chicago hören. Um diese Zeit werden sie dort immer gesprächig.«

 

Als die Zeiger der Uhr sich der dritten Stunde näherten, begann der Funker seine Wellenlänge zu verändern, um die zu erwartende Botschaft im Äther zu erreichen. Genau eine Minute nach drei sagte er plötzlich: »Da haben Sie Ihr L. V. M. B.«

 

Dick hörte den Stakkatotönen zu:

 

»Alle Frösche hört: Mills ist tot! Nummer Sieben hat ein Ende mit ihm gemacht.

 

Nummer Sieben bekommt eine Prämie von hundert Pfund.« ..Die Stimme war klar und ganz ungewöhnlich zart. Es war die Stimme einer Frau.

 

»Der dreiundzwanzigste Bezirk soll es so einrichten, daß er die Instruktionen von Nummer Sieben an dem gewöhnlichen Ort empfängt.«

 

Dicks Herz schlug wie ein Hammer. Er hatte die Sprecherin erkannt. Es konnte kein Zweifel sein. Er kannte den weichen Tonfall. Es war Ella Bennetts Stimme. Es wurde ihm plötzlich übel. Elks Augen hingen an ihm, und er machte übermenschliche Anstrengungen, sich zu beherrschen.

 

»Es scheint, als ob noch etwas kommen sollte«, sagte der Funker, nachdem er einige Minuten gewartet hatte.

 

Dick nahm den Kopfhörer ab und erhob sich. »Wir müssen warten, bis die Direktionssignale kommen«, sagte er, so fest er es vermochte.

 

Da kamen sie auch schon und wurden von einem Schiffsoffizier auf einer großen Skalenlandkarte ausgearbeitet.

 

»Die Radiostation befindet sich in London«, sagte der Offizier. »Ich möchte fast behaupten, daß alle Linien sich im Westen treffen, vermutlich im Herzen der City. – Haben Sie es schwer gehabt, den Froschruf aufzunehmen?« fragte er, sich an den Funker wendend.

 

»Ja«, sagte der Mann. »Ich glaube, man hat von ganz nah gesendet.«

 

»In welchem Stadtteil dürfte es Ihrer Ansicht nach gewesen sein?« fragte Elk.

 

Der Schiffsoffizier deutete auf eine Bleistiftlinie, die er in den Plan eingezeichnet hatte. »Ungefähr auf dieser Linie«, sagte er.

 

Und Dick, über dessen Schulter gebeugt, sagte erstickt: »Caverley-Haus.«

 

Es drängte ihn ins Freie hinaus. Er mußte das Ungeheuerliche überdenken. Ob wohl auch der Detektiv die Stimme erkannt hatte?

 

Sie hatten schon Whitehall erreicht, als Elk endlich sagte: »Das klang ja ganz wie eine uns sehr befreundete Stimme, Hauptmann Gordon?«

 

Dick antwortete nicht.

 

»Sehr ähnlich«, sagte Elk, als ob er zu sich selber spräche.

 

»Wirklich, ich könnte unzählige Eide schwören, daß ich die junge Dame kenne, die da für den alten Herrn Frosch gesprochen hat.«

 

»Warum hat sie das nur getan?« stöhnte Dick. »Warum, um Himmels willen, mußte sie das tun?«

 

»Ich erinnere mich, sie schon vor Jahren gehört zu haben«, sagte Elk. »Sie war damals bei der Bühne und noch ein kleiner Fratz.«

 

Dick Gordon blieb stehen und starrte den andern an.

 

»Ich habe etwas bemerkt, Hauptmann. Wenn Sie ein Vergrößerungsglas nehmen und Ihre Haut dadurch betrachten, so sehen Sie die geringsten Defekte, nicht wahr? Dieses drahtlose Telefon wirkt wie eine Art von Vergrößerungsglas auf die Stimme. Sie hat immer ein bißchen gelispelt, was ich sofort gemerkt habe.

 

Sie mögen es vielleicht nicht beobachtet haben, aber ich habe ziemlich scharfe Ohren. Sie kann das S nicht richtig aussprechen. Es ist immer ein Zischen darin. Haben Sie das gehört?«

 

Dick hatte es gleichfalls gehört und bestätigte es stumm.

 

»In manchen Dingen bin ich – wie soll ich sagen? – unfehlbar!« fuhr Elk fort. »Bei den Daten mag es vielleicht ein wenig hapern, zum Beispiel, wann Wilhelm der Eroberer geboren ist – übrigens habe ich selbst auf Geburtstage nie Wert gelegt! Aber Stimmen und Nasen merke ich mir. Unvergeßlich!«

 

Sie durchschritten, den dunklen Eingang von Scotland Yard, als Dick im Ton der Verzweiflung sagte: »Natürlich, das war ihre Stimme! Aber, ich hatte keine Ahnung, daß sie je bei der Bühne war. Ist ihr Vater vielleicht auch Schauspieler gewesen?«

 

»Soweit mir bekannt ist, hat sie doch keinen Vater«, war Elks zögernde Antwort. Und nun blieb Gordon stehen.

 

»Sind Sie wahnsinnig?« fragte er. »Ella Bennett hat keinen Vater?«

 

»Aber ich spreche doch nicht von Ella Bennett!« sagte Elk. »Ich spreche von Lola Bassano.«

 

»Ja, meinen Sie denn wirklich, daß Lola gesprochen hat?« fragte Dick atemlos.

 

»Natürlich war es Lola! Es mag ja eine ganz gute Imitation von Fräulein Bennet; gewesen sein, aber jeder Imitator kann Ihnen sagen, daß solche sanften Altstimmen sehr leicht nachzuahmen sind.«

 

»Sie ganz gemeiner Schuft!« sagte Dick Gordon, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. »Sie wußten wohl, daß ich Ella Bennett meinte, und Sie haben mich so auf die Folter gespannt!«

 

»Wieviel Uhr ist es?« gab Elk kühl zur Antwort. Es war halb vier. Elk sammelte seine Reserve, und zehn Minuten später entstieg vor der geschlossenen Tür des Caverley-Hauses eine kleine Gesellschaft dem Polizeiauto. Die Glocke rief den Nachtportier, der Elk sogleich erkannte.

 

»Schon wieder ein Gasalarm?« fragte er.

 

»Ich möchte das Mieterverzeichnis des Hauses sehen«, sagte Elk und hörte, wie der Portier die Namen, Beschäftigungen und Eigentümlichkeiten der Mieter darlegte.

 

»Wem gehört der Häuserblock?« fragte der Detektiv.

 

»Er gehört den Vereinigten Maitlands. Jetzt hat Maitland auch das Haus des Prinzen von Caux in Berkeley Square gekauft und …«

 

»Bitte bemühen Sie sich nicht, mir seine Familiengeschichte zu erzählen. Um wieviel Uhr ist Fräulein Bassano nach Hause gekommen?«

 

»Sie war den ganzen Abend zu Hause, seit elf Uhr.«

 

»War jemand bei ihr?«

 

Der Mann zögerte. »Herr Maitland kam mit ihr, aber er ist bald wieder fortgegangen.«

 

»Sonst niemand?« Elk faßte den Portier scharf ins Auge.

 

»Niemand, außer Herrn Maitland.«

 

»Geben Sie mir Ihren Nachschlüssel.«

 

Der Portier weigerte sich. »Ich verliere meine Stellung«, bat er. »Können Sie nicht klopfen?«

 

»O doch«, meinte Elk. »Es vergeht kaum ein Tag, ohne daß ich jemanden bei der Verhaftung auf die Schulter klopfe. Aber ich möchte doch gern Ihren Schlüssel haben.«

 

Elk hatte nicht daran gezweifelt, daß Lola ihre Tür von innen verriegelt hatte, und seine Annahme bestätigte sich. Er läutete, und es dauerte lange, bevor Lola im Schlafanzug erschien.

 

»Was soll denn das heißen, Herr Inspektor?« fragte sie. Sie machte nicht einmal den Versuch, erstaunt zu scheinen.

 

»Nur eine freundliche Visite. Darf ich hereinkommen?«

 

Sie öffnete die Tür weiter, und Elk trat, von Gordon und den beiden Detektiven gefolgt, in die Wohnung ein. Lola ignorierte Dick völlig.

 

»Morgen sehe ich den Polizeichef«, sagte sie. »Und wenn er mir nicht volle Satisfaktion gibt, so bringe ich diese Sache in alle Zeitungen. Es ist unerhört, mitten in der Nacht in die Wohnung eines alleinstehenden Mädchens einzudringen, wenn es einsam und unbeschützt ist …«

 

»Wenn es irgendeine Zeit gibt, zu der ein alleinstehendes Mädchen einsam und unbeschützt sein soll, so ist es sicherlich die Nacht«, sagte Elk freundlich. »Ich möchte nur einen Blick in Ihr liebes kleines Heim werfen, Lola. Man hat uns davon benachrichtigt, daß bei Ihnen eingebrochen worden ist. Vielleicht versteckt sich gerade in dieser Minute der schwarze Mann unter Ihrem Bett. Der Gedanke, Sie sozusagen auf Gnade oder Ungnade solch einem gesetzlosen Charakter auszuliefern, widerstrebt unserer Ritterlichkeit. Durchsuchen Sie das Speisezimmer, Williams! Ich werde den Salon vornehmen. Und das Schlafzimmer.«

 

»Sie werden mein Schlafzimmer nicht betreten, wenn Sie nur einen Funken von Anstand haben«, zürnte Lola.

 

»Ich habe ihn aber nicht«, gestand Elk, »nicht das kleinste Fünkchen. Und im übrigen, Lola, stamme ich aus einer großen Familie, ich bin einer von zehn Geschwistern, und wenn es etwas gibt, was ich nicht sehen darf, so sagen Sie nur: machen Sie die Augen zu! Und ich werde sie bestimmt zumachen.«

 

Es gab aber allem Anschein nach nichts, das im geringsten verdächtig ausgesehen hätte. Vom Schlafzimmer aus gelangte man ins Badezimmer, und hier stand das Fenster offen. Elk leuchtete mit seiner Lampe die Außenmauer ab und sah, daß eine kleine Glasspule an der Wand befestigt war.

 

»Das sieht ganz wie ein Isolator aus«, murmelte er.

 

Ins Schlafzimmer zurückgekehrt, begann er nach dem Radiosender zu suchen. Er öffnete die Tür eines riesigen Mahagonischrankes und sah darin die Kleider in regenbogenfarbenen Reihen hängen. Elk tauchte seine Hand hinein. Es war der eleganteste Garderobenschrank, den er je gesehen hatte, und die Rückseite fühlte sich merkwürdig warm an.

 

Lola stand mit verschränkten Armen da und beobachtete ihn, ein verächtliches Lächeln auf ihrem schönen Gesicht. Elk schloß die Schranktür wieder, und seine empfindlichen Finger suchten auf ihrer Oberfläche nach einer Feder. Es brauchte lange Zeit, bis er den Taster entdeckt hatte, aber schließlich fand er doch ein Stückchen Holz, das dem Druck seiner Hand nachgab. Es schnappte etwas, und die Vorderseite des Schrankes begann sich herabzusenken.

 

»Ach, ein Schrankbett! Das ist aber eine praktische Erfindung!«

 

Aber es war durchaus kein Bett, das sich nun zeigte, und Elk wäre auch recht enttäuscht gewesen, hätte er ein solches vorgefunden. Auf einem Rahmen standen reihenweise Röhren, Transformatoren, der ganze Apparat, der für eine Sendestation notwendig ist.

 

»Sie haben doch sicherlich eine Erlaubnis dafür?« fragte er. In Wahrheit aber vermutete er nichts dergleichen, denn Lizenzen für Sendestationen werden in England recht spärlich gegeben.

 

Aber Lola ging an den Schreibtisch und brachte das Dokument zum Vorschein. Elk las, las wieder und nickte.

 

»Sie sind eine tüchtige Person«, sagte er nicht ohne Respekt.

 

»Nun möchte ich auch gerne die Lizenz sehen, die der Frosch Nummer Eins Ihnen ausgestellt hat.«

 

»Und ich möchte gern wissen, ob Sie für gewöhnlich die Leute aufzuwecken pflegen, um mitten in der Nacht nach ihren Lizenzen zu fragen?«

 

»Sie haben heute nacht den Sender im Dienste der Frösche benützt«, sagte Elk kurz. »Und vielleicht werden Sie die Güte haben, Hauptmann Gordon zu erklären, warum Sie dies taten?«

 

Lola wendete sich zum erstenmal zu Dick. »Ich habe den Apparat wochenlang nicht benützt, aber die Schwester eines meiner Freunde bat mich heute abend, ob sie ihn nicht benützen dürfe. Sie ist vor einer Stunde weggegangen.«

 

»Sie meinen Fräulein Bennett?« fragte Gordon, und Lola hob in vollendet gespieltem Erstaunen die schön gebogenen Augenbrauen.

 

»Woher wissen Sie es?«

 

»Liebe Lola, nun hast du dich aber verraten«, lachte Elk freundlich. »Fräulein Bennett hat neben mir gestanden, als du eben anfingst, in der Froschsprache zu plaudern. Du bist erwischt, Lola. Und das beste, was du tun kannst, ist, dich niederzusetzen und uns die ganze Wahrheit zu sagen. Wir haben Nummer Sieben gestern abend gefangen und wissen alles. Morgen wird der Frosch Handschellen tragen, und ich bin hierhergekommen, dir eine allerletzte Chance zu geben. Ich habe dich nämlich im geheimen immer gern gehabt. Etwas an dir erinnert mich an ein Mädchen, in das ich einmal wahnsinnig verliebt war.«

 

»Jetzt will ich Ihnen etwas erzählen, Elk«, sagte Lola. »Sie haben niemanden gefangen und Sie werden niemals jemanden fangen. Sie haben Ihren plattfüßigen Lockvogel Balder mit Hagn in eine Zelle gesperrt, um einen Triumph zu erleben. Aber Sie werden nichts erleben als große, große Unannehmlichkeiten.«

 

Zu anderen Zeiten würde sich Gordon über die Wirkung dieser Offenbarung auf Elk höchlichst amüsiert haben, denn das Kinn des unglücklichen Detektivs fiel herab, und er starrte hilflos über seine Gläser hinweg nach Lola.

 

»Hagn wird nicht gestehen«, fuhr sie fort. »Denn der Arm des Frosches würde ihn erreichen, so wie er Mills und Litnow erreicht hat und Sie erreichen wird, wenn der Frosch Sie dessen überhaupt für wert hält. So, jetzt können Sie mich arretieren, wenn Sie wollen. Sie haben durch das Diktaphon alles mit angehört, was ich Ray Bennett erzählt habe. Warum arretieren Sie mich nicht, um mir den Prozeß zu machen?«

 

Der gedemütigte Elk wußte wohl, daß er keinen Schuldbeweis hatte, um sie anzuklagen. Und Lola wußte, daß er dies wußte.

 

»Glauben Sie, mir so zu entkommen, Bassano?«

 

Gordon hatte gesprochen, und sie blitzte ihn zornig an.

 

»Es steht ein ›Fräulein‹ vor meinem Namen«, fauchte sie ihn an.

 

»Früher oder später werden Sie nur eine Nummer sein«, sagte Dick ruhig. »Sie und Ihresgleichen leben verantwortungslos und in Freuden dahin. Vielleicht, weil ich nicht kompetent genug bin; vielleicht, weil ich kein Glück habe. Aber eines Tages werden wir Sie erreichen, entweder ich oder mein Nachfolger. Sie können in dem Kampf mit dem Gesetz nicht gewinnen, denn das Gesetz ist ewig und beständig.«

 

»Eine Durchsuchung meiner Wohnung kann ich Ihnen nicht verwehren, aber eine Predigt brauch‘ ich mir nicht bieten zu lassen«, sagte sie verächtlich. »Und wenn die Herren zu Ende sind, so möchte ich Sie bitten, mir noch ein wenig Schlaf zu gönnen, damit ich morgen nicht allzu häßlich aufwache.«

 

»Das ist das einzige, was Sie niemals befürchten müssen«, sagte der galante Elk, und Lola lachte.

 

»Sie sind kein schlechter Mensch, Elk«, sagte sie. »Sie sind zwar ein schlechter Detektiv, aber Sie haben ein goldenes Herz.«

 

»Wenn das wahr wäre, so würde ich nicht wagen, allein in Ihrer Gesellschaft zu bleiben!« war Elks Antwort.

 

Kapitel 19

 

19

 

Als sie zur Polizeidirektion zurückfuhren, war Elk noch immer in tiefes Sinnen versunken.

 

»Es ist die größte Unannehmlichkeit für uns, daß die Frösche keine ungesetzliche Verbindung sind«, sagte Dick. »Es wird am Ende noch nötig sein, den Ministerpräsidenten um die Proklamierung der Gesellschaft zu bitten.«

 

»Vielleicht ist der auch ein Frosch!« sagte Elk, hoffnungslos düster. »Lachen Sie mich nicht aus! Hauptmann Gordon, ich sage es Ihnen, es stecken hohe Tiere dahinter. Ich fange schon an, jeden zu verdächtigen.«

 

»Vielleicht beginnen Sie gleich bei mir?« sagte Gordon in seiner befreiten Laune.

 

»Das habe ich schon längst getan«, war die freimütige Antwort.

 

»Und dann ist mir auch noch eingefallen, daß ich als kleiner Junge Nachtwandler war. Vielleicht führe ich ein Doppelleben und bin bei Tag Detektiv und bei Nacht ein Frosch. Das kann man nie wissen! Denn es ist mir ganz klar, daß ein Genie unter den Fröschen sein muß«, fuhr er mit unbewußter Unbescheidenheit fort.

 

»Lola Bassano?« vermutete Dick.

 

»Sie kann nicht organisieren. Sie hat eine Girltruppe geführt, als sie neunzehn Jahre alt war, und die ging an schlechter Organisation zugrunde. Ich glaube, daß man, um die Frösche zu führen, ganz der gleichen Art der Intelligenz bedarf, wie zum Beispiel zur Führung einer Bank. Maitland wäre der Mann! Ich habe den Kreis um ihn noch enger gezogen, nachdem ich mit Johnson über ihn gesprochen habe. Johnson sagt, daß er noch nie das Bankbuch des Alten gesehen hat, und obgleich er sein Privatsekretär ist, kann er über seine Transaktionen nichts aussagen, als daß er Realitäten kauft und verkauft. Das Geld, das der Alte privat verdient, wird auch nicht in den Bankbüchern gebucht, und Johnson war geradezu überrascht, als ich meinte, daß Maitland überhaupt seine Geschäfte außerhalb der Führung der Gesellschaft mache. Ich möchte Sie aber jetzt etwas anderes fragen, Hauptmann Gordon. – Möchten Sie sich nicht ein für allemal davon überzeugen, daß Fräulein Bennett nichts mit alledem zu tun hat?«

 

»Sie glauben doch nicht wirklich, daß das der Fall sein könnte?« fragte Dick, den das Entsetzen von neuem überkam.

 

»Ich bin bereit, alles von allen zu glauben!« sagte Elk. »Die Straße liegt jetzt leer vor uns, wir könnten in einer Stunde in Horsham sein. Ich für meine Person weiß ja ganz gewiß, daß es nicht Fräulein Bennetts Stimme war, aber denken Sie nur daran, daß wir für die Leute da oben Berichte zu schreiben haben (›Die Leute da oben‹ war Elks unveränderlicher Name für seine höchsten Vorgesetzten), und da würde es böse aussehen, wenn wir einfach sagen wollten, daß wir Fräulein Bennetts Stimme im Radio gehört haben und es nicht einmal der Mühe wert fanden, herauszubekommen, wo sie zu dieser Zeit in Wirklichkeit gewesen ist.«

 

»Sie haben recht«, sagte Dick gedankenvoll. Und Elk lehnte sich aus dem Wagen und gab dem Fahrer die neue Fahrtrichtung an. Der Morgen dämmerte schon, als das Auto die verlassene Straße von Horsham durchraste und dann langsam an Maytree Haus entlangfuhr. Das Landhaus zeigte kein Lebenszeichen. Die Vorhänge waren herabgelassen, nirgends brannte Licht.

 

Dick zögerte, als Elk die Hand auf die Türklinke legte. »Ich möchte die Leute nicht gern aufwecken«, gestand er. »Der alte Bennett würde wahrscheinlich glauben, daß wir schlechte Nachrichten über seinen Sohn bringen.«

 

Aber sie brauchten John Bennett nicht erst aus dem Schlaf zu wecken. Elk wurde angerufen, und als er hinaufsah, bemerkte er den geheimnisvollen Mann, der aus dem Fenster lehnte.

 

»Was führt Sie hierher, Herr Inspektor?« fragte er gedämpft.

 

»Nichts Besonderes«, flüsterte Elk hinauf. »Wir haben heute nacht eine Radiobotschaft aufgefangen und uns war, als wäre es die Stimme Ihres Fräulein Tochter gewesen.«

 

John Bennett runzelte die Stirn, und Dick sah, daß er an der Wahrheit dieser Erklärung zweifelte.

 

»Auch ich habe die Stimme gehört, Herr Bennett«, bestätigte er.

 

»Wir haben einer ziemlich wichtigen Nachricht wegen zugehört, und die Umstände machen es uns zur dringenden Notwendigkeit, zu wissen, ob Fräulein Bennett gesprochen hat.«

 

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte Bennett kopfschüttelnd. »Ich werde herunterkommen und Sie einlassen.«

 

Er öffnete, in einen alten Schlafrock gekleidet, die Tür und führte sie in das dunkle Wohnzimmer. »Ich werde Ella wecken, und sie wird wohl imstande sein, Ihnen zu beweisen, daß sie um zehn Uhr im Bett war.«

 

Er ging aus dem Zimmer, nachdem er die Vorhänge zurückgezogen hatte, um das Tageslicht hereinzulassen.

 

Und Dick wartete mit einem freudigen Vorgefühl auf Ellas Erscheinen. Er war nur zu froh gewesen, eine Ausrede für seinen neuerlichen Besuch in Horsham zu haben. Die Tage, die zwischen jedem Wiedersehen mit Ella lagen, schienen sich ihm zu Ewigkeiten zu dehnen.

 

Sie hörten Bennett die Treppe hinaufgehen, aber sogleich kam er wieder, und Entsetzen lag auf seinen Zügen.

 

»Ich kann das nicht verstehen«, murmelte er. »Ella ist nicht in ihrem Zimmer. Sie hat wohl in ihrem Bett geschlafen, aber sie hat sich offenbar wieder angezogen und ist fortgegangen.«

 

Elk kratzte sich das Kinn und vermied es, Dick anzusehen. »Fräulein Ella macht wohl gewöhnlich einen Morgenspaziergang?«

 

John Bennett schüttelte den Kopf. »Sie hat es sonst nie getan. Merkwürdig genug, daß ich sie nicht fortgehen gehört habe, denn ich habe heute nacht sehr wenig geschlafen. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren.«

 

Er ging hinaus und kam in ein paar Minuten angekleidet wieder. Es war jetzt schon ganz hell, obgleich die Sonne noch nicht aufgegangen war. John Bennett schien nicht weniger beunruhigt, als Dick es war, in dessen Hirn tausend zweifelnde und entschuldigende Gedanken sich kreuzten.

 

»Sie sind ja im Auto hierhergekommen, haben Sie im Vorüberfahren niemanden gesehen?«

 

Dick schüttelte den Kopf.

 

»Liegt Ihnen etwas daran, wenn wir die Straße weiter nach Shoreham fahren?«

 

»Das wollte ich Ihnen eben vorschlagen«, sagte Dick. »Ist es nicht ziemlich gefährlich für Ihre Tochter, zu dieser Stunde allein spazierenzugehen? Die Straßen sind von Landstreichern bevölkert!« – Der Alte gab keine Antwort, er saß neben dem Chauffeur, und seine Blicke waren ängstlich auf die Straße vor ihnen gerichtet. Das Auto fuhr mit Eilzugsgeschwindigkeit zehn Meilen dahin, dann wendete es und begann die Seitenstraßen abzusuchen. Als sie sich dem Dorf näherten, zeigte Dick auf einen dichten Wald, zu dem ein schmaler Weg führte.

 

»Wie heißt dieser Wald?« fragte er.

 

»Es ist der Wald von Elsham, dort wird sie doch wohl nicht hingegangen sein!« Bennett zögerte.

 

»Versuchen wir es immerhin«, sagte Dick, und sie fuhren durch einen Hain von hohen Bäumen, deren verwachsene Wipfel die Straße gänzlich verdüsterten.

 

»Hier sind Autospuren«, sagte Dick plötzlich. Aber Bennett schüttelte den Kopf.

 

»Es kommen viele Leute hierher, um Picknicks abzuhalten«, sagte er.

 

Aber Dick hatte wohl gemerkt, daß diese Spuren frisch waren, und nun stellte er auch fest, daß sie von der Straße abbogen und zwischen den Bäumen hinführten. Von dem Auto selbst war jedoch nichts zu sehen. Die Straße endete nach einer weiteren Meile, und vor ihnen lag eine Lichtung, wo es nichts als Heidekraut und Baumstümpfe gab, denn der Wald war während des Krieges fast gänzlich abgeholzt worden. Mit einiger Schwierigkeit wurde das Auto gewendet und schoß zurück. Sie kamen durch den Hain ins Freie, und da stieß Dick einen Schrei aus.

 

John Bennett hatte seine Tochter schon erblickt. Sie ging in der Mitte der Straße rasch vor ihnen her und wich, als das Auto näher kam, auf den grasbewachsenen Rand zur Seite, ohne sich umzusehen. Dann blickte sie auf, sah ihren Vater und erblaßte. Im Augenblick war er neben ihr.

 

»Aber liebes Kind«, sagte er vorwurfsvoll, »wo bist du denn um diese Zeit gewesen?«

 

Es schien Dick, als sähe sie erschrocken aus. Elks Augen zogen sich prüfend zusammen.

 

»Ich konnte nicht schlafen und bin ein wenig ausgegangen, Vater«, sagte sie und nickte Dick zu. »Wie kommen Sie zu dieser Zeit hierher, Hauptmann Gordon? Das ist wirklich eine Überraschung!«

 

»Ich bin gekommen, um Sie um eine Unterredung zu bitten.«

 

»Mich!« rief Ella, aufrichtig erstaunt.

 

»Hauptmann Gordon hat deine Stimme im Radio mitten in der Nacht gehört und wollte etwas Näheres darüber erfahren. Warst du um Rays willen fort? Ist er hier?« fragte er eifrig.

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nein, Vater«, sagte sie ruhig. »Und was das Radiogespräch betrifft, so habe ich noch niemals durchs Radio gesprochen.«

 

»Wir haben auch sogleich gewußt, daß Sie es nicht gewesen sind!« sagte Dick Gordon rasch. »Elk hat sofort erklärt, daß jemand Ihre Stimme imitiert habe.«

 

»Sagen Sie mir nur das eine, Fräulein Bennett«, warf Elk ein, »waren Sie gestern abend in der Stadt?«

 

Ella schwieg.

 

»Meine Tochter ist um zehn Uhr zu Bett gegangen, ich habe es schon gesagt«, sagte John Bennett barsch.

 

»Waren Sie in den Morgenstunden in London, Fräulein Bennett?« beharrte Elk.

 

Und zu Dicks Verblüffung nickte sie.

 

»Waren Sie in Caverley Haus?«

 

»Nein«, antwortete sie sofort.

 

»Aber Ella, was hast du in der Stadt gemacht?« fragte John Bennett. »Hast du Ray besucht?«

 

Nach einem Zögern verneinte sie. – »Warst du allein?«

 

»Nein«, sagte Ella, und ihr Mund zitterte. »Bitte, frage mich nicht weiter. Ich kann in dieser Sache nicht frei reden. – Papa, du hast mir ja immer vertraut, du wirst mir auch jetzt vertrauen, nicht wahr?« sagte sie mit ihrer süßen Stimme.

 

Er nahm ihre Hand und hielt sie mit beiden Händen fest.

 

»Ich werde dir immer vertrauen, Mädel«, sagte er. »Und diese beiden Herren müssen es auch.«

 

Ihr bittender Blick begegnete Gordons Blick, und er nickte.

 

Elk rieb wütend sein Kinn.

 

»Ich bin sicherlich eine besonders vertrauensvoll veranlagte Natur und werde in Ihre Worte so wenig Zweifel setzen wie in meine eigenen, Fräulein Bennett.« Er sah auf die Uhr. »Aber ich denke, wir müssen jetzt wegfahren und den armen alten Balder aus dem Haus der Sünde befreien«, sagte er.

 

»Wollen Sie nicht bleiben und mit uns frühstücken?« lud Bennett ein.

 

Dick sah Elk bittend an, und der Detektiv stimmte zu.

 

»Nun, Balder wird es auf eine Stunde mehr oder weniger nicht ankommen«, sagte er.

 

Während Ella das Frühstück bereitete, spazierten Dick und Elk auf der Straße auf und ab.

 

»Ich habe das absolute Vertrauen in Fräulein Bennetts Wahrhaftigkeit!« sagte Dick begeistert.

 

»Vertrauen ist eine schöne Sache!« murmelte Elk. »Schließlich ist auch Fräulein Bennett nichts anders als eins der kleinen Stückchen, die zu diesem Puzzlespiel gehören, und wird ihren Platz finden, wenn wir nur erst das Stück, das so wie ein Frosch geformt ist, auf die richtige Stelle gelegt haben!«

 

Von dem Platz, auf dem sie nun standen, konnten sie, nach Shorham gewendet, den Anfang der engen Waldstraße von Elsham sehen. »Und das Rätselhafteste ist mir daran«, murmelte Elk, »warum sie auf einmal mitten in der Nacht in den Wald spazieren mußte!«

 

Er hielt an und neigte horchend den Kopf zur Seite.

 

Das Rattern eines Autos kam näher und näher. Langsam ward auch der Kühler eines Autos sichtbar, dem der übrige Körper einer großen Limousine folgte.

 

Der Wagen kam auf sie zu, indem er sein Tempo mehr und mehr beschleunigte.

 

Einen Augenblick später schoß er an ihnen vorbei, und sie sahen den einzigen Insassen.

 

»Aber da soll mich doch der Teufel holen!« sagte Elk, der sehr selten einen Fluch gebrauchte. Und in diesem Augenblick hielt Dick ihn wirklich für gerechtfertigt, denn der Mann in der Limousine, den zu treffen Ella nachts in den Elshamwald gegangen war – war Ezra Maitland.

 

Kapitel 20

 

20

 

Eine halbe Stunde später fuhren sie in tiefem Schweigen an den leerstehenden Villen vorüber, wo Genters Leichnam gefunden worden war. Dick erinnerte sich dessen mit einem kleinen Schauder, daß der Tod Genter ausgerechnet in der Nähe von Horsham ereilt hatte.

 

Und Hagn sollte dafür sterben! Dick war dazu entschlossen. Denn ob er nun ein Frosch war oder nicht, er war an diesem Mord beteiligt gewesen.

 

Als ob Elk Dicks Gedanken lesen konnte, wendete er sich zu ihm und sagte: »Glauben Sie, daß Ihr Beweisverfahren stark genug sein wird, um ihn hängen zu können?«

 

»Unglücklicherweise gibt es keine Indizienbeweise gegen ihn, außer dem Auto, das Sie unter Schloß und Riegel halten, und der Tatsache, daß der Garagenbesitzer Hagn identifizieren kann.«

 

»Mit dem Bart?« kopfschüttelte Elk. »Ich glaube, solange der alte Balder ihn nicht zu einem Geständnis bringt, wird es

 

schwerhalten, die Geschworenen von seiner Schuld zu überzeugen. Was mich betrifft«, fügte er hinzu, »würde ich, wenn ich je dazu verdammt sein sollte, eine ganze Nacht allein mit Balder zu verbringen, die Wahrheit sagen, nur um ihn loszuwerden. Er ist ein pfiffiger Bursche, dieser Balder. Die Leute da oben erkennen ihn nicht genügend an.«

 

Elk gab dem Chauffeur Weisung, geradeaus nach Cannon Row zu fahren. Dicks Geist befaßte sich mit andern Dingen.

 

»Was hatte sie nur, um Gottes willen, mit dem alten Maitland zu tun?« fragte er.

 

Elk schüttelte den Kopf.

 

»Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Natürlich läge es ihr nahe, ihn vielleicht überreden zu wollen, daß er ihren Bruder zurücknimmt. Aber der alte Maitland ist nicht der Abenteurer, der mitten in der Nacht aufsteht, um darüber zu unterhandeln, ob er Ray die Stellung wiedergeben soll. Wenn er ein jüngerer Mann wäre, dann schiene es eher möglich! Aber er ist schon verteufelt bejahrt. Und er ist ein böser alter Mann, der sich nicht einen Pfifferling darum schert, ob Ray an seinem Pult für soundsoviel arbeitet, oder ob er im Zuchthaus zu Dartmoor Steine klopft.«

 

Der Wagen hielt am Eingang des Polizeigebäudes, und die Herren stiegen aus. Der Schreiber stand auf, als sie in das Büro kamen, und sah sie verwundert an.

 

»Wir wollen nur Balder herausholen«, erklärte Elk.

 

»Balder?« sagte der Mann überrascht. »Ich wußte gar nicht, daß er bei uns drinnen ist!«

 

»Ich habe ihn mit Hagn eingesperrt.«

 

Dem Polizeibeamten dämmerte ein Licht. Er blinzelte den Mann an.

 

»Das ist merkwürdig! Ich hatte gar keine Ahnung, daß das Balder war!« sagte er. »Mir hat nur ein anderer Sergeant gesagt, daß man einen Landstreicher zu Hagn hereingelassen hat. Hier ist der Schließer.«

 

Dieser Beamte war ebenso erstaunt wie der Sergeant selbst.

 

»Keine Ahnung gehabt, daß es Balder ist«, sagte er. »Deshalb haben sie so lange getratscht, beinahe bis ein Uhr.«

 

»Nun, und reden sie immer noch?« fragte Elk befriedigt.

 

»Nein, Herr Inspektor, ich habe vor einer Weile hineingeguckt, jetzt schlafen sie. Sie haben mir ja die Order gegeben, sie in Ruhe zu lassen.«

 

Dick und seine Untergebenen folgten dem Schließer auf den langen Gang hinaus, der weiß gekachelt war, und auf den viele schmale, schwarze Türen führten. Sie gingen bis zu der Tür am äußeren Ende. Der Gefängniswärter schloß auf, und Elk trat ein. Er ging zur ersten Schlafbank und zog die Decke herab, die der Schläfer über sein Gesicht gezogen hatte.

 

Da lag Balder auf dem Rücken, um seinen Mund war ein seidener Schal gewunden. Seine Hände waren ebenso wie seine Beine nicht nur mit Handschellen, sondern auch mit Stricken befestigt. Elk stürzte zur zweiten Schlafbank, aber als er die Decke berührte, sank sie leer unter seinen Händen zusammen. Hagn war fort!

 

Als sie Balder in Elks Büro gebracht und mit Branntwein gelabt hatten, erzählte er seine Geschichte: »Es war so um zwei Uhr herum, glaube ich, als das geschehen ist. Ich hab‘ den ganzen Abend mit Hagn geredet, aber es ist mir gleich klar gewesen, daß er mich von dem Moment an als Polizisten erkannt hat, als ich hereingekommen bin. Er hat mich den ganzen Abend zum besten gehalten. Aber ich bin standhaft geblieben, Herr Inspektor! Ich hab‘ schon gedacht, daß er seinen Verdacht überwunden hat, weil er plötzlich von den Fröschen zu reden angefangen hat. Er hat mir erzählt, daß diese Nacht, das heißt letzte Nacht, eine Radiobotschaft an alle Häuptlinge kommen wird. Dann hat er mich gefragt, warum Mills umgebracht worden ist, aber ich bin überzeugt, daß der Schurke ganz genau Bescheid gewußt hat. Nach ein Uhr haben wir nicht mehr sehr viel gequasselt, und um Viertel zwei habe ich mich niedergelegt und bin sicher gleich eingeschlafen. Dann bin ich aufgewacht, und da hat man mir schon einen Knebel in den Mund gesteckt gehabt, ich hab‘ versucht mich zu wehren, aber sie haben mich gehalten.«

 

»Sie?« fragte Elk. »Wie viele waren es denn?«

 

»Es müssen sicher zwei oder drei gewesen sein, ich weiß es nicht genau«, sagte Balder. »Mit zweien wäre ich ja wohl fertig geworden, denn ich bin nicht der Schwächsten einer – ah, es müssen schon mehr gewesen sein! Außer Hagn habe ich bestimmt noch zwei gesehen.«

 

»War die Zellentür offen?« erkundigte sich Elk gespannt.

 

»Ja, sie stand weit offen«, sagte Balder, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte.

 

»Wie haben sie ausgesehen?«

 

»Sie haben ganz lange, schwarze Überröcke angehabt, und sie haben gar keinen Versuch gemacht, die Gesichter zu verstecken. Ich würde sie sofort wiedererkennen. Es waren noch junge Leute, wenigstens der eine. Was dann noch geschehen ist, weiß ich nicht mehr. Sie haben meine Beine umschnürt und haben die Decke über mich gezogen, ich habe nichts mehr gesehen oder gehört. Ich habe die ganze Nacht verlassen dagelegen und habe an meine liebe arme Frau und meine lieben armen Kinder gedacht …«

 

Elk ließ ihn mitten in seiner Jeremiade zurück und ging hinüber, um eine sorgfältige Durchsuchung der Zelle vorzunehmen. Auf dem gleichen Korridor hatte ein Wächter in einem kleinen, mit Glaswänden umgebenen Loch, wo die Zellenindikatoren sich befanden, seinen Platz. Jede Zelle war für den Fall einer Erkrankung mit einer Glocke ausgestattet, die Signale wurden in diesem kleinen Büro an Tafeln sichtbar.

 

Darüber befragt, gab der Wärter an, daß er zweimal während seines Nachtdienstes für wenige Minuten in das Übernahmebüro gerufen worden war. Einmal, als ein wegen Trunkenheit Arretierter nach dem Doktor verlangte, und das andere Mal um halb zwei morgens, als er einen Einbrecher übernehmen sollte, der im Laufe der Nacht gefangengenommen worden war.

 

»Natürlich sind die Leute während dieser Zeit davongegangen«, sagte Elk.

 

Die Tür von Hagns Zelle war beiderseitig zu öffnen. In dieser Beziehung unterschied sie sich von den Türen aller anderen Zellen des Gefängnisses, da man ein Schloß gewählt hatte, das den Polizeioffizieren die Möglichkeit gab, den Gefangenen nach dem Verhör zu verlassen, ohne erst den Schließer herbeiläuten zu müssen. Das Schloß war nicht aufgebrochen worden, ebensowenig wie das der zum Hof führenden Tür. Elk ließ sofort die Polizeileute rufen, die bei den Ausgängen von Scotland Yard Dienst gehabt hatten. Der wachhabende Beamte am Embankment hatte niemanden bemerkt.

 

Der Mann beim Whitehall-Ausgang entsann sich, daß er um halb drei Uhr einen Polizeiinspektor hatte hinausgehen sehen. Er war vollkommen sicher, daß der Beamte ein Inspektor gewesen war, denn jener hatte einen langen Säbel getragen, und der Wachhabende hatte auch den Stern auf seiner Schulter bemerkt. Er hatte den Vorgesetzten gegrüßt, wofür dieser gedankt hatte.

 

»Das kann einer von ihnen gewesen sein«, sagte Elk, »aber was ist dann mit den beiden andern geschehen?«

 

Hier fehlte jede Spur. Die beiden Befreier waren verschwunden, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätten.

 

»Dafür werden wir wohl eine Nase bekommen, Hauptmann Gordon«, sagte Elk. »Und wenn es dabei glimpflich abgeht, so können wir uns noch freuen. Sie sollten lieber nach Hause gehen und sich schlafen legen, Hauptmann. Ich habe heute nacht wenigstens ein bißchen geschlafen. Wenn Sie ein wenig warten wollen, bis ich meinen armen Balder zu seinem Weib und zu seinen Kindern zurückschicke, die ich schon übrigens alle mit Namen kenne, dann will ich auch mit Ihnen gehen.«

 

Dick wartete am Whitehall-Ausgang, bis Elk kam.

 

»Ja, es wird wohl eine Nachfrage vom Department geben, da kann man nichts machen«, sagte er. »Was mich besonders kränkt, ist, daß wir den armen alten Balder in ein schlechtes Licht gestellt haben, und ich wollte ihm doch gerade etwas Gutes tun. Es ist eine alte Erfahrung, daß man dem Mann den schlechtesten Dienst erweist, dem man versucht, einen guten Dienst zu leisten.«

 

Es war jetzt beinahe zehn Uhr vormittags, und Dick war schwach von Hunger und Mangel an Schlaf. Ein- oder zweimal, während sie den Weg nach Harley Terrace zurücklegten, sah Elk sich um.

 

»Erwarten Sie jemanden?« fragte Dick, dem die Möglichkeit einer Gefahr aufdämmerte. »Ich habe gerade einen Mann gesehen, der uns nachgegangen sein kann, einer in einem braunen Überrock.«

 

»Ach nein«, sagte Elk gleichgültig. »Das- ist einer von meinen Leuten. Aber haben Sie etwas dagegen, wenn wir hinübergehen?« Und ohne die Antwort abzuwarten, faßte er Gordons Arm und führte ihn über die breite Straße. »Das dachte ich mir!«

 

Ein kleiner Fordwagen, der in Riesenlettern den Namen einer Wäscherei trug und bis jetzt nur langsam hinter ihnen hergefahren war, überholte sie nun mit größter Geschwindigkeit. Elk folgte dem Auto mit den Blicken, bis es Traf algar Square an der Ecke Whitehall erreichte. Aber statt nun nach links gegen Pall Mall oder rechts nach dem Strand abzubiegen, machte der Wagen einen Halbkreis und kam ihnen entgegen. Elk drehte sich um und gab ein Zeichen.

 

Der Detektiv im braunen Mantel, der ihnen gefolgt war, sprang sogleich auf das Trittbrett des Autos. Eine heftige Unterredung zwischen ihm und dem Chauffeur entspann sich, und endlich fuhren sie zusammen weiter.

 

»Erwischt!« sagte Elk lakonisch. »Jetzt führt er ihn auf die Direktion und hält ihn dort wegen irgendeiner Anschuldigung fest. Es ist nämlich die leichteste Art, jemand zu verfolgen, wenn man ein Geschäftsauto benützt«, sagte Elk. »Ein Geschäftswagen kann nämlich machen, was er will, und niemand nimmt davon die geringste Notiz. Wäre uns eine Limousine nachgefahren, so hätte sie die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Schutzmanns erregt. Es war nichts anderes als ein Aufpasser. Aber mir schien es plötzlich«, sagte er mit einem Schaudern, »als wäre es der Tod selber.«

 

»Nehmen wir ein Auto«, sagte Dick, und seine Vorsicht war so groß, daß er drei leere Taxis abwartete, ehe er das vierte anrief.

 

»Kommen Sie mit«, sagte Dick. »Ich möchte Sie jetzt nicht gleich allein lassen. Ich habe ein leeres Zimmer, wenn Sie schlafen wollen.«

 

Elk begleitete Gordon nach Harley Terrace. Der Diener, der ihnen die Tür öffnete, sagte: »Ein Herr ist da, der auf Sie wartet. Er ist schon seit einer halben Stunde hier.«

 

»Wie heißt er?«

 

»Johnson.«

 

Tatsächlich war es der Philosoph, der sich aus dem Sessel erhob, obgleich Herrn Johnson in diesem Augenblick jeder Beweis für das Gleichgewicht der Seele, das die hauptsächlichste Eigenschaft aller Philosophen zu sein pflegt, mangelte. Der dicke Mann war ganz außer sich. Er saß verstört und unbequem auf dem äußersten Ende seines Sessels, so wie Dick ihn damals im Herons-Klub sitzen gesehen hatte.

 

»Hoffentlich werden Sie mir verzeihen, daß ich hierhergekommen bin, Hauptmann Gordon«, sagte er. »Ich habe ja vielleicht wirklich kein Recht, meine Sorgen zu Ihnen zu tragen.«

 

»Es freut mich, daß Sie in mir Ihren Freund sehen«, sagte Dick, indem er ihm die Hand schüttelte. »Kennen Sie Herrn Elk?«

 

»Wir sind ja alte Bekannte!« sagte Johnson, und für einen Moment kehrte all seine Freundlichkeit zurück.

 

»Ich muß unbedingt frühstücken«, sagte Dick, »wollen Sie nicht mein Gast sein?«

 

»Mit Vergnügen. Ich habe heute morgen noch nichts gegessen. Die Sache steht nämlich so, Hauptmann Gordon, daß er mich hinausgeworfen hat.«

 

Dick sah ihn verblüfft an. »Was? Maitland hat Sie entlassen?« Johnson nickte. »Und zu denken, daß ich dem alten Teufel so viele Jahre für dieses winzige Gehalt gedient habe! Und nie habe ich ihm Anlaß zu irgendeiner Klage gegeben! Hunderte und Tausende Pfund sind durch meine Hände gegangen, ja, auch Millionen. Bei mir hat immer alles auf den Penny gestimmt. Natürlich, denn wenn das nicht der Fall gewesen wäre, so hätte er es ja sofort entdeckt. Er ist der größte Mathematiker, dem ich je begegnet bin. Und er kann doppelt so schnell rechnen und schreiben als sonst irgendein Mensch«, fügte er mit widerstrebender Bewunderung hinzu.

 

»Es ist eigentlich merkwürdig, daß ein Mensch von so ungeschlachtem Benehmen und so roher Sprache solche Talente hat«, sagte Dick.

 

»Für mich ist er ein Wunder gewesen, seit ich ihn kenne«, gestand Johnson. »Wenn man ihn reden hört, so könnte man glauben, er wäre ein Straßenkehrer. Und doch ist er ein sehr belesener Mann von großer Bildung.«

 

»Kann er sich vielleicht auch Jahreszahlen merken?!« fragte Elk.

 

»Natürlich kann er das!« antwortete Johnson ernst. »Er ist ein merkwürdiger Mensch, wenn er auch in mancher Beziehung ein unangenehmer alter Herr ist. Ich sage das nicht, weil er mich jetzt entlassen hat, ich war immer dieser Ansicht. Aber er hat nicht den geringsten Funken von Güte. Ich glaube, das einzig Menschliche an ihm ist seine Liebe zu dem kleinen Jungen.«

 

»Was für ein kleiner Junge?« fragte Elk höchst interessiert.

 

»Ich habe ihn selbst nie gesehen«, sagte Johnson. »Das Kind ist noch nie ins Büro gebracht worden. Ich weiß nicht, wessen Kind es ist, aber möglicherweise ist es ein Enkel von Maitland.«

 

Es folgte eine Pause.

 

»Ich verstehe jetzt!« sagte Dick leise, und er hatte wohl das Recht dies zu sagen, denn in jenem Augenblick dämmerte ihm das Verständnis für den Frosch und für das Geheimnis des Frosches auf.

 

»Warum hat er Sie entlassen?« fragte Dick.

 

Johnson zuckte die Achseln. »Einer ganz törichten Sache wegen. Heute morgen, als ich kam, war er schon zugegen, ein ganz ungewöhnlicher Vorfall, denn er kommt gewöhnlich erst eine Stunde später als wir ins Büro. – ›Johnson‹, sagte er, ›Sie kennen Fräulein Bennett?‹ Ich antwortete, daß ich dieses Vergnügen hätte. ›Und wie ich höre‹, fuhr er fort, ›sind Sie einmal oder zweimal dort zum Essen geladen gewesen‹ – ›Das ist vollkommen wahr, Herr Maitland‹, antwortete ich. ›Sehr schön, Johnson‹, sagte Maitland, ›Sie sind entlassen‹«

 

»Das war alles?« fragte Dick verblüfft.

 

»Ja, das war alles«, sagte Johnson verzweifelt. »Können Sie das begreifen?«

 

Dick antwortete nicht. Der neugierige Elk, der leidenschaftlich danach strebte, mehr über Maitland zu erfahren, stellte noch eine Frage.

 

»Herr Johnson, Sie sind doch jahrelang mit diesem Mann beisammen gewesen, haben Sie nicht irgend etwas an ihm bemerkt, was Ihnen besonders verdächtig vorgekommen ist? Hat er nicht geheime Besuche empfangen? Haben Sie nicht zum Beispiel gewußt, daß er etwas mit den Fröschen zu tun gehabt hat?«

 

»Mit den Fröschen?« Johnson riß die Augen auf, und seine Stimme verstärkte noch den Eindruck seines Unglaubens. »Gott behüte! Nein! Ich kann mir nicht einmal denken, daß er etwas über diese Leute weiß. Nein, Herr Elk, nie habe ich etwas gehört, gesehen oder gelesen, das diesen Eindruck erweckt hätte.«

 

»Sie haben doch die Berichte über die meisten seiner geschäftlichen Transaktionen gesehen, gibt es etwas, das Sie vermuten läßt, Maitland hätte – sagen wir durch den Tod des Herrn Maclean in Dundee oder durch den Überfall, der auf den Wollhändler in Durby gemacht wurde, profitiert? Zum Beispiel, wissen Sie, ob er nicht an dem Einkauf oder Verkauf von französischen Likören und Parfüms interessiert war?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Inspektor, er handelte einzig nur mit Realitäten. Er hat Bodenbesitz in England, in Südfrankreich und in Amerika. Er hat auch ein bißchen auf der Börse gespielt, ja, ja, wir haben sogar ein ziemlich großes Börsengeschäft gehabt, ehe die Mark fiel.«

 

»Was gedenken Sie jetzt zu tun, Herr Johnson?« fragte Dick.

 

Johnson machte eine hilflose Handbewegung. »Was kann ich denn anfangen, Herr«, sagte er. »Ich bin beinahe fünfzig Jahre alt – ich habe den größten Teil meines Lebens in einer Stellung verbracht, und es ist sehr unwahrscheinlich, daß ich noch eine zweite bekommen werde. Glücklicherweise habe ich mir nicht nur Geld erspart, sondern auch ein oder zwei gute Käufe gemacht, für die ich dem Alten dankbar sein muß. Ich glaube ja zwar nicht, daß er sich besonders gefreut hat, als er sah, daß ich seinem Beispiel gefolgt war, aber das gehört jetzt nicht zur Sache. Das verdanke ich ihm jedenfalls. Ich habe gerade genug Geld, um für den Rest meiner Tage, wenn ich keine außerordentlichen Spekulationen anfange und sehr, sehr bescheiden bin, leben zu können. Aber ich kam eigentlich hierher, um mich an Sie zu wenden und Sie zu fragen, ob Sie nicht vielleicht eine Stellung für mich wüßten? Ich würde doch gerne ein bißchen arbeiten und am allerliebsten mit Ihnen.«

 

Dick war ein wenig verlegen, denn für Herrn Johnson gab es, wohin er auch sah, keine Anstellungsmöglichkeit. Nichtsdestoweniger wollte er ihm doch nicht absagen.

 

»Lassen Sie mich die Sache ein paar Tage überdenken«, sagte er. »Wissen Sie eigentlich, wer jetzt Sekretär des Herrn Maitland ist?«

 

»Ich weiß es nicht. Das ist ja meine größte Kränkung. Ich habe einen Brief auf seinem Pult liegen sehen, der an Fräulein Bennett adressiert war. Und da ist mir der Gedanke gekommen, daß er vielleicht ihr meine Stellung anbieten will.«

 

Dick vermochte kaum seinen Ohren zu trauen. »Was veranlaßt Sie, das zu denken?«

 

»Ich weiß nicht, aber ein paarmal hat sich der Alte bei mir nach Rays Schwester erkundigt. Es war ebenso verwunderlich wie alles, was er sonst gemacht hat.«

 

Johnson tat Elk von Herzen leid. Er schien so absolut ungeeignet für den rauhen Konkurrenzkampf, und die Möglichkeiten, die einen Mann von fünfzig Jahren erwarteten, der immer in einer Stellung gewesen war, schienen praktisch genommen gleich Null. »Ich glaube nicht, daß Fräulein Bennett dieses Anerbieten annehmen wird, wenn Herr Maitland es ihr machen sollte. Bitte, geben Sie mir Ihre Adresse für den Fall, daß ich Ihnen etwas mitzuteilen habe.«

 

»Fitzroy Square Nummer 431«, sagte Johnson und murmelte eine Entschuldigung der etwas schmutzigen Visitenkarte wegen, die er überreichte. Er ging zur Tür, aber noch mit der Hand auf der Klinke zögerte er.

 

»Ich … ich habe Fräulein Bennett sehr gerne«, sagte er stockend. »Und ich möchte gerne, daß sie erfährt, daß Herr Maitland gar nicht so schlecht ist, wie er aussieht. Ich möchte mich nicht unanständig gegen ihn betragen.«

 

»Armer Teufel!« sagte Elk und sah dem Mann nach, der niedergeschlagen Harley Terrace entlangging. »Das ist ein Schlag für ihn. Sie hätten ihm fast ausgeplaudert, daß Sie Maitland heute morgen gesehen haben. Ich habe es gemerkt und war schon bereit, Sie zu unterbrechen. Denn es ist das Geheimnis der jungen Dame«, fügte Elk vorwurfsvoll hinzu.

 

»Wollte Gott, dem wäre nicht so«, seufzte Dick. Und nun erst fiel es ihm wieder ein, daß er ja eigentlich Herrn Johnson zum Frühstück eingeladen hatte.

 

Kapitel 3

 

3

 

Es dunkelte bereits, als zwei Landstreicher, die das Dorf Morby umgangen hatten, wieder auf die Poststraße kamen. Die Umgehung des Ortes war für sie ein mühevolles und anstrengendes Unternehmen gewesen, denn der Regen, der den ganzen Tag hindurch gefallen war, hatte die gepflügten Felder in zähe braune Moorstrecken verwandelt, wodurch die Fußwanderung zu einer Geduldsprobe wurde.

 

Der eine der Landstreicher war groß, unrasiert, schäbig. Er trug den verschossenen braunen Rock bis zum Kinn zugeknöpft, den niederhängenden, eingedrückten Hut auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Mit ihm verglichen, schien sein Gefährte nur von kleinem Wuchs, obgleich er übermittelgroß und ein wohlgewachsener breitschultriger Mann war. Während sie so auf der lehmigen Landstraße dahinstapften, sprachen sie kein Wort. Der kleinere Mann blieb zweimal stehen und sah in der zunehmenden Dunkelheit umher, als ob er nach einem Verfolger ausspähe. Und einmal ergriff er des großen Mannes Arm und zog ihn hinter die Büsche, die die Landstraße begrenzten. Dies geschah, als unter Getöse und Aufspritzen des nassen Schlammes ein Auto an ihnen vorbeiraste. Nach einer Weile bogen sie von der Straße ab, überquerten ein Feld und kamen an den Rand eines unbebauten Landstrichs, über den eine alte Wagenspur hinführte.

 

»Jetzt sind wir gleich da«, brummte der kleinere Mann, und der andere grunzte seine Zustimmung. Trotz all seiner anscheinenden Gleichgültigkeit nahmen seine Augen jede Einzelheit der Szenerie auf: Ein einsames Gebäude am Horizont, das wie eine Scheune aussah … Grafschaft Essex … wie er nach der Nummerbezeichnung des Autos vermuten mußte, die er vermerkt hatte, als der Wagen an ihm vorbeisauste. Unbebautes Land … wahrscheinlich zu einer nicht mehr in Betrieb stehenden Lehmgrube führend …oder war es ein Steinbruch? Nahe dem Tor, durch das die Wagenspur lief, war an einem wackligen Pfosten ein altes Ankündigungsbrett befestigt. Es war zu finster, um die verwischte Inschrift zu lesen, aber er erkannte das Wort: »Kalk«. »Kalkstein?« Es würde ein leichtes sein, dies später zu ergründen. Die einzige Gefahr für ihn bestand nur in der möglichen Überzahl der Frösche. Unter dem Schutz seines Überrockes fühlte er nach dem Browning und ließ ihn in seine äußere Tasche gleiten. Hilfe gab es nicht, und er erwartete sie auch nicht. Carlo hatte ihn im Weichbild der City in sein elendes Auto aufgenommen und hatte ihn kreuz und quer durch den Regen gefahren, indem er Nebenstraßen folgte und Städte und Dörfer vermied, so daß Genter, wäre sein Platz auch an der Seite des Fahrers gewesen, sich nicht hätte zurechtfinden können. Aber er war in die Finsternis des kleinen Wagens gesetzt worden und hatte nichts gesehen. Wellingdale und dessen Beobachter, die ihn bewacht hatten, waren auf das Auto nicht vorbereitet gewesen. Ein Vagabund mit einem Auto war eine Ungeheuerlichkeit. Er selbst, Genter, war zurückgezuckt, als der Wagen beim Gehsteig anhielt, wo er wartend gestanden hatte, und Carlos Stimme zischelte: »Steig ein!« Unter sich sah Genter verrostete Eisenkarren, durcheinandergeworfene Eisenbahnschienen, dazwischen tiefe, regengefüllte Sprenglöcher. Jenseits, auf der scharfen Linie des Steinbruchrandes, stand eine winzige Holzhütte. Und zu dieser lenkte Carlo seine Schritte.

 

»Nervös, was?« fragte er, und es klang wie Spott in seiner Stimme.

 

»Nicht sehr«, sagte der andere kühl. »Vermutlich sind die Frösche in der Bude da drunten?« Carlo lachte leise.

 

»Es sind keine da«, sagte er. »Nur der Frosch allein. Er kommt vom Steinbruch herauf. Es ist da eine Treppe unter der Hütte. Guter Einfall, was? Die Hütte hängt gerade über dem Abgrund, und die Stufen kann man nicht einmal sehen, wenn man sich auf dem Bauch vorschiebt und über den Rand hinunterschaut. Ich habe es einmal versucht. Die werden ihn nie fangen, nicht, wenn sie Millionen von Spitzeln schicken!«

 

»Nun, und wenn sie den Steinbruch umstellen würden?«

 

»Du glaubst doch nicht, daß er es nicht weiß, wenn er gefangen werden soll? Er weiß alles, der Frosch.« Er sah auf des anderen Mannes Hand herab. »Weh wird’s nicht sehr tun«, sagte er. »Und es lohnt sich. Du wirst nie mehr ohne Kollegen sein, Harry. Wenn du in eine Patsche kommst, zieht dich der beste Advokat ‚raus. Wir suchen solche Burschen wie du einer bist, es gibt so massenhaft kleine Halunken, die wegen so ganz kleiner Sachen sich schon einbilden, daß sie zu uns gehören. Aber du wirst große Arbeit machen, und wenn du für ihn etwas Besonderes zu tun hast, setzt er Hunderte und Hunderte von Pfunden für dich. Wenn du krank wirst, oder du bist hungrig oder so, so werden die Frösche zu dir kommen und dir helfen.«

 

Genter schwieg. Sie waren jetzt etwa zwölf Schritte von der Hütte entfernt, einem starken Gebäude, aus kräftigem Bauholz gezimmert, mit einer Tür und einem geschlossenen Fensterladen. Der Mann, der sich Carlo nannte, machte Genter ein Zeichen, zu verweilen. Er selber ging vorwärts und klopfte an die Tür. Genter sah, wie der Mann zum Fenster trat und dessen Laden um eines Zolles Breite sich öffnete. Es schien ein Gespräch im Flüsterton zu folgen, dann kam Carlo zurück.

 

»Er hat gesagt, daß er Arbeit für dich hat, die dir Tausende einbringen kann. Du hast wirklich Glück! Kennst du Roche-More?«

 

Genter nickte. Er kannte diese Vorstadt der Aristokraten.

 

»Es wohnt ein Mann dort, der um die Ecke gebracht werden soll. Er kommt jede Nacht mit dem 11.50-Zug aus seinem Klub und geht zu Fuß nach Hause. Es steigt eine dunkle Straße an, und mit einem Knüttel kann man ihn ganz ohne Mühe erwischen. Bloß ein Schlag, und es ist aus mit ihm. Das heißt noch nicht töten, verstehst du?«

 

»Warum will er, daß ich das tu‘?«

 

»Alle Neuen müssen etwas tun, um ihren Mut zu beweisen. Also, was meinst du dazu?«

 

Genter hatte nicht gezögert. »Wird besorgt!« sagte er.

 

Carlo kehrte zum Fenster zurück und hieß seinen Gefährten folgen.

 

»Bleib hier stehen und streck den linken Arm durchs Fenster!«

 

Genter streifte die Manschetten eines durchnäßten Ärmels zurück und streckte seinen nackten Arm durch die Spalte. Seine Hand wurde mit festem Griff erfaßt, und sogleich fühlte er, wie etwas Weiches und Nasses sich gegen sein Handgelenk preßte. – Ein Gummistempel, dachte er und wappnete sich gegen den Schmerz, der nun folgen mußte. Er kam wie das schnelle prickelnde Stechen von tausend Nadeln. Dann ließ der Griff nach, Genter riß seine Hand zurück und starrte verwundert auf die verwischte Zeichnung von Tinte und Blut, die der Tätowierende auf seiner Hand zurückgelassen hatte.

 

»Wisch es nicht ab!« sagte eine erstickte Stimme aus der Finsternis der Hütte her. »Und jetzt kannst du hereinkommen.«

 

Der Fensterladen schloß sich und wurde von innen verriegelt, dann kam das Knarren eines Schlüssels, der sich im Schloß drehte, und die Tür öffnete sich. Genter trat in die pechschwarze Finsternis ein und vernahm, daß die Tür der Hütte von dem unsichtbaren Insassen verriegelt wurde.

 

»Deine Nummer ist K 971«, sagte die hohle Stimme, »und wenn du sie in den Personalnachrichten der Times siehst, so berichtest du hierher, wo immer du auch bist. Nimm das…«

 

Genter streckte seine Hand aus, und ein Briefumschlag wurde in sie gelegt. Es war, als ob der geheimnisvolle Frosch selbst in dieser Finsternis zu sehen vermöchte.

 

»Das ist dein Reisegeld und eine Landkarte der Gegend. Wenn du das Geld für dich verbrauchst oder nicht dorthin kommst, wo man deiner bedarf, wird man dich töten. Hast du mich verstanden?«

 

»Jawohl.«

 

»Du wirst weiteres Geld erhalten, das du für deine Ausgaben verwenden kannst. Hör mich jetzt an. In Roche-More, Nr. 7, Park Avenue, wohnt Hallwell Jones, der Bankier –« Er mochte gefühlt haben, daß der Neuling überrascht zusammenfuhr. »Du kennst ihn?«

 

»Ja, ich habe vor Jahren für ihn gearbeitet«, sagte Genter. Er zog seinen Browning hervor und entsicherte ihn mit dem Daumen.

 

»Zwischen heute und Freitag muß er niedergeschlagen werden. Du brauchst ihn aber nicht zu töten. Wenn es geschieht, so macht es nichts aus. Aber ich vermute, daß sein Schädel zu hart sein …«

 

Genter hatte nun festgestellt, wo der Mann stand, da seine Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen begannen. Seine Hand griff plötzlich zu und erfaßte den Arm des Frosches.

 

»Ich habe eine Pistole«, sagte er zwischen den Zähnen. »Ich bin Inspektor Genter von der Polizeidirektion, und wenn du dich zur Wehr setzt, so töte ich dich.«

 

Eine Sekunde lang herrschte Totenstille. Dann fühlte Genter, wie die Hand, die die Pistole hielt, mit schraubengleichem Griff umfaßt wurde. Er schlug mit der anderen Faust zu, aber der Mann bückte sich, und der Schlag fuhr in die Luft. Dann wurde die Pistole mit unerträglicher Drehung aus Genters Hand gewunden, und er kam mit seinem Gefangenen in ein Handgemenge. Dabei berührte sein Gesicht das des Frosches. War es eine Maske, die jener trug? Er spürte die kalten Glimmerbrillengläser auf seiner Wange. Dies erklärte die erstickte Stimme. So kräftig Genter auch war, er konnte sich aus den ihn umklammernden Armen doch nicht befreien, und sie schwankten in der furchtbaren Finsternis hin und her. Plötzlich hob der Frosch den Fuß, und um dem vorausgesehenen Stoß zu entgehen, machte Genter eine heftige Wendung. Das Splittern von gebrochenem Glas ward hörbar und ein scharfer, kalter, durchdringender Geruch drang auf den Detektiv ein. Er versuchte tief zu atmen, aber er meinte zu ersticken, und seine Arme fielen schlaff und machtlos herab.

 

Der Frosch hielt die gebeugte Gestalt eine Minute lang, dann ließ er sie zu Boden fallen.

 

Am Morgen fand die Londoner Polizeipatrouille Inspektor Genter im Garten eines leeren Hauses liegend und rief die Rettungsgesellschaft an.

 

Aber ein Mann, der mit konzentrierten Blausäuredämpfen vergiftet worden ist, stirbt schnell. Zehn Minuten, nachdem der Frosch den Glaszylinder, den er für ähnliche Notfälle in der Hütte vorbereitet hielt, zerbrochen hatte, war Genter eine Leiche.

 

Kapitel 21

 

21

 

Elk wurde um die Mittagsstunde dringend nach Fitzroy Square Nummer 431 gerufen.

 

Es hatte ein Einbruch in Herrn Johnsons Wohnung stattgefunden, und als der Philosoph den Eindringling überraschte, war er mit einem schweren Gegenstand über den Kopf geschlagen worden, so daß er bewußtlos zusammengesunken war.

 

Als Elk ankam, war der Philosoph schon verbunden und saß bleich und zitternd auf seinem Sofa.

 

Das Haus wimmelte von Polizisten, und auf der Straße hatte sich eine erregte Menschenmenge angesammelt.

 

»Er hat Ihnen einen ganz schönen Hieb versetzt«, sagte Elk anerkennend. »Aber ich zweifle daran, daß es der Frosch selbst gewesen ist, obgleich Sie sagen, daß er sich dafür ausgegeben hat. Denn der Frosch hat, soweit ich mich erinnern kann, niemals irgendeinen Überfall selbst ausgeführt.«

 

Elk untersuchte die Wohnung auf das genaueste, und als er in das Schlafzimmer kam, fand er in der Nähe des offenen Fensters einen Gepäckschein. Es war ein grüner Zettel, der die Aufbewahrung einer Handtasche bestätigte. Und er war von der Endstation der Nordbahn ausgestellt.

 

Elk hielt das Papier ans Licht und prüfte den Datumsstempel.

 

Das Gepäckstück war vor vierzehn Tagen hinterlegt worden. Elk legte den Schein vorsichtig und zärtlich in seine Brieftasche.

 

Was den Überfall für Elk bemerkenswert machte, war, daß der Mann, der ihn ausgeführt hatte, sich für den Frosch ausgegeben haben sollte.

 

Elk begriff die Organisation gut genug, um zu wissen, daß keiner der untergeordneten Sklaven des Frosches es gewagt haben würde, dessen Namen zu mißbrauchen.

 

Elk begriff nicht, warum der Frosch gerade Johnson seiner persönlichen Anwesenheit für würdig gehalten haben sollte.

 

»Und Sie meinen, daß es der Frosch selber gewesen ist?« fragte er skeptisch.

 

»Es war entweder der Frosch selbst oder einer seiner vertrauten Gesandten«, sagte Johnson. »Sehen Sie her.«

 

In der Mitte eines rosafarbenen Löschblattes sah Elk das gestempelte Zeichen des unausbleiblichen Frosches.

 

Es erschien auch auf dem Türpaneel.

 

»Das war als Warnung gemeint, nicht wahr?« sagte Johnson. »Nun, ich hatte Zeit, mich an diese Warnung zu gewöhnen, bevor ich meinen Teil bekam.«

 

»Es gibt ärgere Dinge als den Knüppel«, sagte Elk fröhlich. »Vermissen Sie irgend etwas?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. »Nein, nichts!«

 

»Haben Sie vielleicht irgendwelche Privatpapiere von Maitland hierhergebracht, die Sie ihm wiederzugeben vergaßen?« fragte Elk nachdenklich.

 

»Die Formulierung Ihrer Frage ist sehr liebenswürdig«, sagte Johnson lächelnd und mit seinen Augen zwinkernd. »Es gibt hier nicht ein einziges Dokument von geringstem Wert. Ich war allerdings früher daran gewöhnt, mir Arbeit von Maitlands Büro nach Hause zu nehmen und habe oft bis Mitternacht darüber gesessen. Das ist auch der Grund, warum meine Verabschiedung mir als ein solcher Beweis von Undankbarkeit erscheint. Aber wenn Sie wollen, können Sie den Inhalt meiner sämtlichen Schränke, Schubladen und Kasten durchsuchen, ich kann Ihnen versichern, daß ich ein reichlich pedantischer Mann bin und tatsächlich jedes Papier kenne, das sich bei mir befindet.«

 

Auf dem Nachhauseweg überdachte Elk die ganze Angelegenheit in allen ihren überraschenden Erscheinungen. Er war in Wahrheit froh, daß ein neues Problem ihn von dem Gedanken an die ihm bevorstehende Untersuchung ablenkte.

 

Hauptmann Gordon würde sicherlich alle Verantwortung dem Präsidium gegenüber auf sich nehmen, aber dem Kriminalpolizisten kamen »die Leute dort oben« ebenso furchtbar vor wie der Frosch selber.

 

Elk beabsichtigte, den Bahnhof von Kings Gross zeitig zu besuchen, um den Inhalt der deponierten Reisetasche zu prüfen, aber als er am nächsten Morgen erwachte, war er einzig von der kommenden Untersuchung erfüllt.

 

Obgleich er den Einbruch bei Johnson sorgfältig in sein Rapportbuch eintrug und den grünen Gepäckschein in seinen Safe versperrte, war er viel zu beschäftigt, um sofortige Nachforschungen anzustellen. Dick stellte sich zur Untersuchung ein, und Elk gab ihm eine kurze Skizze von dem Einbruch in Fitzroy Square. Und dann holte Elk den grünen Schein heraus.

 

»Der Schein ist an irgend etwas anderes angeheftet gewesen«, sagte Dick, der den Zettel gegen das Fenster gehalten hatte. »Hier ist der ganz frische Abdruck einer Papierklammer. Vielleicht kann das irgendwie zur Information beitragen.«

 

»Ach, ich fürchte, daß die Leute da oben uns jetzt die Hölle heiß machen werden«, sagte Elk seufzend.

 

»Machen Sie sich keine Sorgen darüber«, tröstete Dick. »Unsere Freunde dort oben sind so froh über die Auffindung des Vertrages, daß sie uns nicht allzusehr mit Hagn quälen werden.«

 

Es war dies eine bemerkenswerte Prophezeiung, die sich in ebenso bemerkenswerter Weise erfüllte.

 

Als Elk zu den Großen hereingerufen wurde, zu all diesen Polizeichefs und Räten, die um den grünen Untersuchungstisch herumsaßen, fand er zu seiner freudigen Überraschung, daß die Haltung seiner Vorgesetzten eher freundliches Interesse als kalte Mißbilligung verriet.

 

»Unter gewöhnlichen Umständen wäre das Entweichen Hagns der Anlaß gewesen, strenge Maßregeln gegen die verantwortlichen Stellen zu erlassen«, sagte der Polizeipräsident. »Aber in diesem besonderen Fall möchte ich keinen Tadel aussprechen. Die Wahrheit ist, daß die Frösche ungeheuer mächtig sind.«

 

Nicht alle Mitglieder der Untersuchungskommission waren so freundlich gesinnt wie der Polizeipräsident.

 

»Es ist Tatsache«, sagte ein weißhaariger Polizeirat, »daß im Zeitraum einer einzigen Woche zwei Gefangene unter den Augen der Polizei getötet würden und – ebenfalls vor den Augen der Polizei – ein Gefangener aus dem Gewahrsam entfloh! Das ist sehr schlimm, Hauptmann Gordon! Sehr schlimm!« Er schüttelte den Kopf.

 

»Vielleicht würden Sie, Herr Polizeirat, selber sich mit der Untersuchung befassen wollen«, sagte Dick. »Es handelt sich hier nicht um einen gewöhnlichen, unscheinbaren Verbrechertyp, und das hohe Präsidium wird wohl in diesem Falle eine, das gewöhnliche Maß übersteigende Geduld üben müssen. Aber ich kenne jetzt den Frosch«, sagte er einfach.

 

»Sie kennen ihn? Wer ist es?« fragte der Präsident ungläubig.

 

»Obgleich es ganz leicht für mich wäre, noch heute morgen einen Haftbefehl gegen ihn zu erlassen, so ist es doch keine so leichte Sache, einen überzeugenden Schuldbeweis zu scharfen. Ich muß noch um eine Spanne Zeit bitten!«

 

Als Gordon und Elk in ihr Büro zurückgekehrt waren, sagte Elk geheimnisvoll flüsternd: »Wenn das ein Bluff gewesen ist, so war es 4er schönste, den ich je gehört habe!«

 

»Es war kein Bluff«, sagte Dick ruhig.

 

»Also wer, um Himmels willen, wer ist es?«

 

Dick schüttelte den Kopf. »Ich möchte Sie bitten, sich jetzt über den Gepäckschein zu informieren«, sagte er mit Würde.

 

Elk hastete verstört nach dem Bahnhof. Er wies den grünen Schein vor, bezahlte die Extragebühr für die abgelaufene Aufbewahrungsfrist, und es wurde ihm eine braune Ledertasche durch den Beamten ausgehändigt.

 

»Nun, mein Sohn«, sagte Elk, indem er sich zu erkennen gab, »vielleicht können Sie mir jetzt sagen, ob Sie sich erinnern können, wer diese Handtasche gebracht hat?«

 

Der Beamte grinste. »So ein gutes Gedächtnis habe ich leider nicht«, sagte er.

 

»Da sympathisiere ich ganz mit Ihnen«, sagte Elk. »Aber wenn Sie versuchen würden, sich daran zu erinnern, könnten Sie vielleicht doch einige wichtige Aussagen machen. Gesichter sind doch schließlich keine Jahreszahlen.«

 

Der Beamte blätterte in seinem Buch.

 

»Stimmt, an dem Tage hatte ich Dienst. Aber wir bekommen so viel Gepäck herein, daß es mir unmöglich ist, mich an eine bestimmte Person zu erinnern. Ich weiß nur eins, daß ich mich erinnern würde, wenn diese Person etwas Merkwürdiges an sich gehabt hätte.«

 

»So. Sie glauben also, daß der, der das abgegeben hat, ganz gewöhnlich aussah? – War es vielleicht ein Amerikaner?«

 

Der Beamte dachte wieder nach. »Nein, das glaube ich nicht«, sagte er. »Wir haben schon seit Wochen keine Amerikaner hier gehabt.«

 

Elk trug die Handtasche in das Amt des Bahnhofspolizeiinspektors und öffnete sie mit Hilfe eines Dietrichs.

 

Der Inhalt war ganz ungewöhnlich. Ein kompletter Anzug, Hemd, Kragen und Krawatte. Ein funkelnagelneues Rasierzeug. Eine kleine Flasche Annatto – ein Färbemittel. Ein Paß auf den Namen »John Henry Smith« lautend, aber ohne Fotografie, eine Browningpistole mit gefülltem Magazin, ein Kuvert mit fünftausend Franc und fünf Einhundert-Dollar-Scheinen. Die Kleider trugen keine Marke, der Browning war belgisches Fabrikat, und der Paß mochte falsch sein, aber zumindest das Formular, auf dem er ausgestellt war, war zweifellos echt. Eine spätere Nachfrage beim Auswärtigen Amt ergab, daß er nicht amtlich ausgestellt war.

 

Elk beschaute die Gegenstände, die auf dem Schreibtisch des Inspektors in langer Reihe ausgebreitet waren.

 

»Das ist die wunderschönste Reiseausstattung, die ich je gesehen habe«, meinte der Bahnhofsinspektor. »Die schönste Ausstattung, um durchzubrennen.«

 

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Elk. »Und wissen Sie, ich möchte wetten, daß eine gleiche Handtasche auf jeder Endstation von London zu finden ist. Ich werde die Sachen auf die Polizeidirektion bringen. Vielleicht wird der Mann zu Ihnen kommen, um nach der Tasche zu fragen, aber ich halte das für höchst unwahrscheinlich.«

 

Elk trat aus dem Büro des Inspektors.

 

Einer der Nordexpreßzüge war gerade mit zweistündiger Verspätung eingetroffen. Elk stand zerstreut und müßig da und beobachtete die Reisenden, die sich vor den Schranken stauten.

 

Und als er eine Weile so dagestanden hatte, bemerkte er ein bekanntes Gesicht. Da er aber völlig in andere Gedanken versunken war, erkannte er den Betreffenden erst, als dieser schon den Ausgang erreicht hatte.

 

Es war John Bennett. ELk schlenderte durch die Schranken zu dem Stationsbeamten.

 

»Woher kommt der Zug?«

 

»Aus Aberdeen, Herr.«

 

»Letzter Aufenthalt?« fragte Elk.

 

»Letzter Aufenthalt in Doncaster«, antwortete der Beamte.

 

Während sie sprachen, sah Elk zu seinem Erstaunen Bennett zurückkehren. Er arbeitete sich eilig durch den entgegendrängenden Strom der Reisenden durch, die eben die Schranken passiert hatten. Augenscheinlich hatte er etwas vergessen.

 

Als Bennett wieder erschien, trug er den gewohnten, schweren braunen Kasten, und Elk erkannte die Filmkamera, das Steckenpferd des seltsamen Mannes, durch das er seinen Verdienst zu erwerben suchte.

 

»Sonderbarer Kauz!« sagte Elk zu sich selber, rief einen Wagen an und brachte seinen Fund in die Polizeidirektion. Er schickte nach zweien seiner besten Leute.

 

»Die Aufbewahrungsräume jedes Bahnhofs in London sollen nach Handgepäck von dieser Art untersucht werden«, sagte er, indem er die Tasche vorwies. »Alle Stücke sind wahrscheinlich schon wochenlang eingelagert. Stellen Sie die gewöhnlichen Fragen nach dem Mann, der die Sachen hinterlegt hat und, um ganz sicher zu gehen, öffnen Sie auf der Stelle jede der Taschen. Wenn Sie ein vollständiges Rasierzeug, einen Paß und Geld vorfinden, so bringen Sie sie nach Scotland Yard.«

 

Dick bewunderte die Organisation, als Elk ihm seinen Fund zeigte.

 

»Er hat dafür gesorgt, sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in Sicherheit bringen zu können«, sagte Elk. »Bei jeder Endstation hätte er Geld, andere Kleider, den nötigen Paß, um ins Ausland zu fahren, Annatto, um Gesicht und Hände zu färben, gefunden, und brauchte nur seine eigene Fotografie mitzuhaben. – Übrigens, wissen Sie, daß ich John Bennett getroffen habe?«

 

»Wo? Auf dem Bahnhof?« fragte Dick.

 

Elk nickte. »Er kam aus dem Norden, aus einer der fünf Städte – Aberdeen, Arbroarth, Edinburgh, York oder Doncaster. Er hat mich nicht gesehen, und ich habe mich auch nicht vorgedrängt. Geben Sie mir Antwort, Herr Hauptmann, was halten Sie von dem Mann? Ist er vielleicht Ihr Frosch?« forderte ihn Elk heraus.

 

Aber Dick Gordon lächelte nur. »Sie können sich eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie sich den Gedanken aus dem Kopf schlagen wollten.«

 

»Das weiß ich ohnehin«, murmelte Elk. »Dieser John Bennett ist mir ein Rätsel. Wenn er wirklich der Frosch ist, so hat er doch gestern abend nicht in Johnsons Wohnzimmer sein können.«

 

»Außer, falls er mit einem Motorrad nach Doncaster gefahren wäre, um sich ein Alibi zu verschärfen«, sagte Dick lächelnd, und nach einer Pause fuhr er fort: »Ich bin wirklich neugierig, ob die Polizei von Doncaster unsere Direktion anrufen wird, oder ob sie sich auf ihr eigenes Nachrichtendepartement verläßt?«

 

»Nachrichten? Worüber denn?« fragte Elk überrascht.

 

»Mabberley Hall, das außerhalb Doncaster liegt, wurde ge stern von Einbrechern ausgeraubt«, sagte Dick, »und Lady Fitz Hermans Brillantendiadem wurde gestohlen. Das unterstützt Ihre Theorie wohl so ziemlich, Elk, was?«

 

Kapitel 2

 

2

 

Die Vereinigten Maitlands waren aus einem kleinen Büro in verhältnismäßig kurzer Zeit zu ihren jetzigen palastähnlichen Proportionen herangewachsen. Maitland war ein Mann in vorgerückten Jahren, patriarchalisch im Aussehen und knapp in seiner Rede. Er war ohne jede Protektion nach London gekommen und war groß geworden, bevor London seiner Existenz noch gewahr wurde.

 

Dick Gordon sah den Spekulanten zum ersten Male, als er in dem marmorprunkenden Vestibül wartete. Ein Mann von mittlerer Größe, kräftig gebaut, mit einem Bart, der bis zur Brust reichte, und Augen, die fast unter den dichten weißen Brauen verborgen lagen. Mit schwerem Gang kam er langsam aus dem äußeren Büro, wo etwa zwanzig Beamte unter ihren grünen Lampenschirmen arbeiteten. Er sah weder nach rechts noch nach links, stieg in den Lift und verschwand.

 

»Das ist der Alte, haben Sie ihn schon jemals früher gesehen?« fragte Ray Bennett, der vor einem Augenblick herausgekommen war, um den Besucher zu begrüßen. »Er ist ein verehrungswürdiger alter Bursche, aber so dicht wie eine schallsichere Tür. Sie können aus ihm kein Geld herausziehen, und wenn Sie Dynamit verwendeten. Philo zahlt er ein Gehalt, das man einem durchschnittlichen Sekretär nicht einmal anzubieten wagen würde, aber Philo ist eine viel zu gutmütige Seele.«

 

Dick Gordon fühlte sich recht unbehaglich. Seine Gegenwart in Maitlands Haus war verwunderlich, seine Entschuldigung für diesen Besuch so schwach wie nur irgend möglich. Hätte er dem geschmeichelten jungen Mann, den er in den Geschäftsstunden aufstörte, die Wahrheit offenbart, so würde sie gelautet haben: »Ich habe mich närrisch in Ihre Schwester verliebt. Ich bin an Ihnen selbst nicht besonders interessiert, aber ich betrachte Sie als Bindeglied, das mir zu einer neuerlichen Begegnung verhelfen kann. Deshalb benütze ich meine Anwesenheit in der Nachbarschaft als Ausrede für diesen Besuch, und ich bin sogar bereit, Ihren Philo kennenzulernen, der mich sicher von Herzen langweilen wird!«

 

Statt all dem aber sagte er nur: »Warum nennen Sie ihn so?«

 

»Weil er ein alter Philosoph ist. Sein richtiger Name ist Philipp. Jeder Mann ist Philos Freund. Er gehört zu der Art von Menschen, mit denen man leicht gut Freund wird.«

 

Die Tür des Aufzuges öffnete sich in diesem Moment, und Dick Gordon wußte intuitiv, daß der kahlköpfige, in mittleren Jahren stehende Mann mit dem gutmütigen Gesicht, der nun heraustrat, soeben Gegenstand ihrer Diskussion gewesen war. Sein rundes fettes Antlitz wurde von einem gutmütigen Lächeln überstrahlt, als er Ray erkannte, und nachdem er ein Bündel von Dokumenten einem der Angestellten übergeben hatte, kam er zu ihnen herüber. »Das ist Gordon«, stellte Ray vor, »und das ist mein Freund Johnson.«

 

Philo ergriff warm die ausgestreckte Hand. Warm war ein Wort, das wie kein anderes Herrn Johnsons Wesen kennzeichnete. Sogar Dick Gordon, der nicht allzu schnell bereit war, sich fremden Einflüssen hinzugeben, unterlag dem unmittelbaren Eindruck seiner Freundlichkeit.

 

»Sie sind Herr Gordon von der Staatsanwaltschaft, Ray hat es mir erzählt«, sagte er. »Ich würde mich freuen, wenn Sie eines Tages herkämen, um den alten Maitland einzustecken. Er ist von allen Männern, denen ich je begegnet bin, sicherlich derjenige, den Sie am ehesten verfolgen sollten. – Ich muß jetzt gehen, er ist heute morgen in einer schrecklichen Laune. Man könnte glauben, die Frösche hüpften hinter ihm her.«

 

Mit fröhlichem Nicken eilte er in den Lift zurück. »Jetzt muß ich aber auch wieder hineingehen«, sagte Ray, und ein fast ängstlicher Blick aus seinen Augen traf Gordon. »Ich danke Ihnen, daß Sie Ihr Versprechen wahrgemacht und mich besucht haben. Ja – ich möchte gern einmal mit Ihnen zum Lunch gehen. Meine Schwester wird sicherlieh ebensogern mit dabeisein. Sie ist oft in der Stadt.«

 

Sein Abschied war hastig und ein wenig zerstreut, und Dick trat mit einem Gefühl der Beschämung auf die Straße.

 

Als er in sein Amt zurückkehrte, fand er einen verstört aussehenden Polizeichef vor, der auf ihn wartete und bei dessen Anblick Dick blinzelnd die Augen zusammenkniff. »Nun?« fragte er. »Was ist mit diesem Genter?«

 

Der Polizeichef machte eine Grimasse wie ein Kranker, der eine unangenehme Arznei herunterschlucken muß. »Sie sind mir entwischt«, sagte er. »Der Frosch kam im Auto an, und weg waren sie, bevor ich mir überhaupt klar wurde, was geschehen war. Ich bin nicht besorgt um ihn, denn Genter hat einen Revolver, und er ist ein zäher Bursche in schweren Unternehmungen, aber …«

 

Gordon blickte nach dem Mann und durch ihn hindurch. »Ich glaube, Sie hätten auf das Auto vorbereitet sein müssen«, sagte er. »Wenn Sie Genters Botschaft für wohlbegründet hielten und er den Fröschen auf der Spur war, wie Sie sagten, so hätten Sie das Auto erwarten müssen. Nehmen Sie Platz, Wellingdale.«

 

Der grauhaarige Mann gehorchte. »Ich versuche nicht, mich zu entschuldigen«, sagte er. »Die Frösche haben mich überrumpelt. Früher habe ich sie als einen Spaß betrachtet.«

 

»Es mag sein, daß wir klüger wären, wenn wir sie auch jetzt noch als einen Spaß betrachteten«, meinte Dick und, biß das Ende seiner Zigarre ab. »Sie mögen nichts sein als ein verrückter geheimer Verein. Schließlich dürfen sogar Stromer ihre Vereinslokale haben, ihre Losungsworte, Griffe und Zeichen.«

 

Wellingdale schüttelte den Kopf. »Sie kommen über das Fazit der letzten sieben Jahre nicht hinweg«, sagte er. »Es ist nicht nur die Tatsache, daß jeder zweite Straßenräuber, den wir einfingen, den Frosch auf das Handgelenk tätowiert hatte, das mag bloße Nachahmung sein, und auf jeden Fall haben alle Gauner von niedriger Mentalität Tätowierungszeichen. Aber in diesen sieben Jahren hatten wir eine Serie der unangenehmsten Verbrechen. Zuerst den Angriff auf den Chargé d’affaires von der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten, den sie im Hyde-Park niederschlugen. Dann den Fall des Präsidenten der Northern Trading Co., der mit einer Keule getötet wurde, als er aus seinem Auto in Park-Lane ausstieg. Dann das große Feuer, das Rohgummi im Werte von vier Millionen Pfund in Rauch aufgehen ließ. Es war sicherlich das Werk von etwa einem Dutzend Bomben, denn die Lagerhäuser bestanden aus sechs großen Wagenschuppen, und jeder einzelne wurde gleichzeitig an beiden Enden angezündet. Wir fingen zwei Leute aus der Gummiaffäre. Beide waren Frösche, beide trugen das Totem ihres Stammes. Sie waren Ex-Sträflinge, und einer von ihnen gab zu, daß er Instruktionen gehabt hätte, um diese Arbeit auszuführen, aber er nahm seine Worte am nächsten Tag sogleich wieder zurück. Ich habe nie einen geängstigteren Mann gesehen als ihn. Ich könnte Ihnen noch Dutzende von Fällen anführen. Sie wissen, daß Genter jetzt seit zwei Jahren auf ihrer Spur ist. Aber was er in diesen zwei Jahren hat erdulden müssen, das wissen auch Sie nicht. Er hat im Lande herumvagabundiert, hat hinter Hekken geschlafen, hat sich mit jeder Art von Landstreichern befreundet und hat mit ihnen gestohlen und geraubt. Als er mir schrieb, daß er mit der Organisation in Verbindung getreten sei und eingeweiht zu werden hoffe, dachte ich, er wäre jetzt nahe daran, sie zu haben. Aber der heutige Morgen hat mich ganz krank gemacht.«

 

Dick Gordon öffnete eine Schublade seines Pultes, entnahm ihr eine Ledermappe und wendete die Blätter um, die sie enthielt. Er studierte sie sorgfältig, als sähe er sie zum ersten Male. In Wahrheit hatte er diese Gefangenenprotokolle durch Jahre hindurch fast Tag um Tag geprüft. Es waren Handgelenksfotografien vieler Männer. Er schloß nachdenklich die Ledermappe und legte sie in die Schublade zurück. Ein paar Minuten lang saß er still und trommelte mit den Fingern auf den Rand seines Schreibtisches. Ein Schatten zog über seine Stirn. »Der Frosch ist immer auf das linke Handgelenk tätowiert, immer ein wenig schief, und immer ist ein kleiner Punkt darunter gesetzt«, sagte er. »Scheint Ihnen das irgendwie bemerkenswert?« Aber der Polizeichef fand keineswegs etwas Merkwürdiges daran.

 

Kapitel 11

 

11

 

Dick Gordon und sein Assistent erreichten Wandsworth zehn Minuten, nachdem ihnen die Neuigkeit zugekommen war, und fanden das Wrack eines Polizeiautos von einer großen Menschenmenge umgeben, die von Polizei in Schach gehalten wurde.

 

Litnows Leichnam war nach dem Gefangenenhaus überführt worden, wohin man auch einen seiner Angreifer gebracht hatte, einen Mann, der von einer Abteilung von Gefängniswärtern festgenommen worden war, als sie gerade von ihrer Mittagspause zurückkehrte. Eine kurze Untersuchung des Toten sagte Dick nicht mehr, als er ohnehin wußte. Das Herz war durchschossen, und der Tod mußte sofort eingetreten sein.

 

Der neue Gefangene, der gebracht wurde, war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren und gebildeter als der Durchschnitt der Frösche. Es wurden keine Waffen bei ihm gefunden, und er beteuerte, an dem Komplott in keiner Weise beteiligt gewesen zu sein. Er behauptete, er sei ein arbeitsloser Beamter, der gerade über die Wiese schlenderte, als das Scharmützel begann. Er sei unschuldig arretiert worden, während er den Mörder verfolgte.

 

»Frosch, du bist ein toter Mann!« sagte Elk mit seiner tiefsten Grabesstimme und sah ihn über den Stahlrand seiner Brille hinweg an. »Wo hast du gewohnt, als du noch am Leben warst?« Der Gefangene gestand, daß er im Norden Londons zu Hause sei. »Nord-Londoner kommen nicht nach Wandsworth, um auf der Gemeindewiese spazierenzugehen«, sagte Elk.

 

Er hatte eine kurze Unterredung mit dem Obergefangenenaufseher und führte den Arrestanten in den Hofraum hinunter.

 

Elk blickte um sich. Der Hof war ein kleines, steingepflastertes Viereck, von hohen verblaßten Mauern umgeben. In einer Ecke stand ein kleiner Schuppen mit grauen Schiebetüren.

 

»Komm hier herein!« sagte Elk. Er nahm den Schlüssel, den der Oberaufseher ihm gegeben hatte, schloß die Türen auf und schob sie auseinander. Man sah in ein reines kahles Gelaß mit weißgestrichenen Wänden. Quer über die Decke liefen zwei starke Balken, und zwischen denselben drei stählerne Stangen hin. Der Gefangene runzelte die Stirn, als Elk zu einem langen Stahlhebel trat.

 

»Gib acht, Frosch!« sagte er und zog an dem Hebel. Die Mitte des Bodens öffnete sich mit einem Krach, und man sah in eine tiefe, mit Ziegeln ausgelegte Grube hinab.

 

»Sieh dir die Falltür an. Siehst du das T, das mit Kreide gezeichnet ist? Dort muß der Mann seine Füße hinstellen, wenn der Henker ihm die Beine zusammenbindet. Das Seil hängt von dem Balken dort herunter.«

 

Des Mannes Gesicht wurde fahl, und er schreckte zurück. »Sie können mich nicht hängen«, keuchte er. »Ich habe nichts getan!«

 

»Sie haben einen Menschen getötet«, sagte Elk, trat hinaus und versperrte die Tür hinter ihnen. »Sie sind der einzige, den wir gefangen haben, und Sie werden für die übrige Bande büßen müssen.«

 

Der Gefangene hob seine zitternde Hand zu den Lippen. »Ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß«, sagte er heiser.

 

Eine Stunde später fuhr Dick mit beträchtlichen Informationen bereichert in die Polizeidirektion zurück. Seine erste Tat war, nach Joshua Broad zu schicken, und der Vagabund kam fröhlich und zum Reden aufgelegt herauf.

 

»Nun, Herr Broad, lassen Sie uns Ihre Geschichte hören«, sagte Dick und hieß den andern Platz nehmen.

 

»Viel ist ja nicht zu vermelden«, meinte Broad. »Seit einer Woche bin ich mit den Fröschen näher bekannt. Ich hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß sie sich untereinander nicht kennen sollen und blieb gleich an dem ersten hängen, den ich fand. Ich traf ihn in einem Logierhaus in Deptford. Ich hörte heute, daß ein höchst eiliger Aufruf für ein großes Unternehmen ergangen sei, und schloß mich an. Auf dem Weg nach Scotland Yard hat man mir erzählt, daß eine Gruppe beordert worden sei, Litnow, der nach Wandsworth fuhr, abzupassen.«

 

»Haben Sie einen von den Großen gesehen?« Broad schüttelte den Kopf.

 

»Sie haben alle gleich ausgesehen. Aber es waren unzweifelhaft zwei oder drei von den Hauptanführern mit im Dienst. Ich habe nie daran geglaubt, daß man Litnow retten würde. Die Frösche wußten, daß er alles gestanden hatte, und er mußte büßen. Das heißt – sie haben ihn ja wohl umgebracht?«

 

»Ja«, nickte Dick. »Aber sagen Sie mir – warum nehmen Sie selber solch ein Interesse an den Fröschen?«

 

»Bloß aus reiner Abenteuerlust«, antwortete Broad. »Ich bin ein reicher Mann, habe nichts zu tun und interessiere mich unendlich für Kriminalfälle. Vor ein paar Jahren hörte ich zum ersten Male von den Fröschen, sie reizten meine Phantasie, und damals nahm ich mir vor, ihnen auf die Spur zu kommen.«

 

»Ich möchte nur noch wissen, wieso es geschah, daß Sie ein reicher Mann wurden?« fragte Dick. »Im vorletzten Kriegsjahr sind Sie mit einem Viehtransport nach England gekommen und hatten ungefähr zwanzig Dollar in der Tasche. Sie selbst haben es Elk erzählt, daß Sie auf diese Weise ankamen, und haben damit die Wahrheit gesprochen. Ich interessiere mich fast ebenso für Sie, wie Sie sich für die Frösche interessieren. Und ich habe einige Erkundigungen eingezogen. Sie kamen 1917 nach England und verließen Ihr Schiff. Im Mai 1917 verhandelten Sie wegen des Kaufes einer alten baufälligen Bude in‘ der Nähe von Hampshire. Dort wohnten Sie, indem Sie die elende Hütte zusammenflickten, und lebten, soviel ich erforschen konnte, von den paar Dollars, die Sie mitgebracht hatten. Plötzlich waren Sie verschwunden und sind erst in Paris am Weihnachtsabend desselben Jahres wieder aufgetaucht. Sie waren es anscheinend, der eine Familie gerettet hat, die anläßlich eines Luftangriffes in ihrem Haus verschüttet wurde, und Ihr Name wurde von der Polizei notiert, damit Ihnen eine Belohnung ausgezahlt werden konnte. Der französische Polizeibericht besagt, daß Sie ziemlich ärmlich gekleidet waren. Man hielt Sie für einen Deserteur der amerikanischen Armee. Aber im Februar wohnten Sie in Monte Carlo, eine Menge Geld in der Tasche und mit exquisiter Garderobe wohl versorgt.«

 

Joshua Broad blieb während dieses Vortrages unbeweglich. Nur der Schein eines Lächelns zeigte sich in seinen unrasierten Mundwinkeln.

 

»Aber, Herr Hauptmann, in Monte Carlo muß man Geld besitzen!«

 

»Wenn man es hingebracht hat«, sagte Dick und fuhr fort: »Ich meine ja nicht, daß Sie das Geld anders als ehrlich erworben hätten. Ich stelle bloß fest, daß Ihr persönlicher Aufstieg von Armut zum Reichtum, gelinde gesagt, sehr merkwürdig war.«

 

»Das war er auch«, pflichtete der Amerikaner bei. »Und dem Anschein nach ist meine Veränderung vom Reichtum zur Armut ebenso plötzlich wie merkwürdig.«

 

»Sie meinen, daß, wenn es für Sie möglich ist, sich jetzt zu maskieren, es auch damals für Sie möglich war und Sie im Jahre 1917, obgleich anscheinend mittellos, ebensowohl ein reicher Mann gewesen sein können?«

 

»Das stimmt«, sagte Joshua Broad.

 

»Ich würde vorziehen, daß Sie das respektablere Selbst blieben. Ich liebe es nicht, einem Amerikaner sagen zu müssen, daß ich ihn des Landes verweise, denn das klingt, als ob es eine Strafe wäre, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren.«

 

Joshua Broad erhob sich. »Das, Herr Hauptmann Gordon, ist ein Wink mit einem zu dicken Zaunpfahl und eine zu liebenswürdige Drohung. Von nun an wird Joshua Broad wieder ein ehrbares Mitglied der Gesellschaft werden. Das einzige, worum ich Sie bitte, ist, daß Sie die Polizei nicht anweisen, meine Erlaubnisscheine zurückzuziehen.«

 

»Erlaubnisscheine?« fragte Dick.

 

»Ja, ich führe zwei Revolver mit mir, und die Zeit ist nahe, wo auch diese beiden nicht genügen werden«, sagte Joshua Broad.

 

Kapitel 12

 

12

 

Es fand ein Konzert in Queens Hall statt, und die Verlockung, den großen Violinspieler zu hören, war so stark, daß selbst in diesen Sommertagen der riesige Zuschauerraum überfüllt war.

 

Es fiel Dick Gordon mitten in seiner dringenden Abendarbeit ein, daß auch er längst eine Karte bestellt hatte. Er fühlte sich übermüdet, von den rätselhaften Ereignissen genarrt und fast hoffnungslos, sie zu lösen. Ein Brief von Lord Farmley, der heute angekommen war, forderte schleunige Anstalten, um den verlorenen Handelsvertrag wiederzuerlangen. Es war ein Brief, wie ihn ein schwer überarbeiteter Mann schreiben mochte, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, daß er damit seine eigene Panik auf den Empfänger übertrug, den er doch keinesfalls zu überstürzten Maßnahmen verleiten durfte. Dick entschloß sich, alle Sorgen zur Seite zu werfen und das Konzert zu besuchen. Er rief seine Garage an, ließ aber statt seines eigenen einen geschlossenen Mietwagen vorfahren und war nach zehn Minuten einer von den zweitausend Bezauberten, die dem Spiel des Meisters lauschten. In der Pause schlenderte er ins Foyer, und die erste Person, die er traf, war ein Zentralpolizeibeamter, der seinen Blick vermied. Ein zweiter Geheimdetektiv stand auf der Treppe, die zur Bar führte. Ein dritter rauchte seine Zigarette auf den Stufen vor der Halle. Das Glockenzeichen ertönte, und Dick wollte eben die halbgerauchte Zigarette fortwerfen, als eine prachtvolle Limousine vorfuhr und ein diskret livrierter Lakai absprang, um die Tür zu öffnen. Ein einzelner Herr stieg aus, und Dick erkannte ihn sogleich. Es war Ezra Maitland.

 

»Heiliger Moses!« murmelte jemand hinter ihm, und als Dick den Kopf wendete, sah er Elk in dem einzigen alten Frack, den dieser je im Leben besessen hatte, hinter sich stehen. Sie waren beide von fassungslosem Erstaunen gelähmt. Denn nicht nur, daß Herr Maitland gleich einem regierenden Monarchen vorfuhr, mit silbernen Beschlägen, mit lackiertem Kupee und livrierter Dienerschaft, der alte Mann trug auch einen vorbildlichen Frack, gebaut nach den Gesetzen der allerletzten Mode. Sein Bart war um ein paar Zoll gekürzt, und über seine fleckenlose weiße Weste spannte sich eine schwere goldene Kette. Im Revers seines Abendmantels steckte eine Kamelie, und es war der glänzendste aller Zylinder der Welt, den er trug, der eleganteste Stock aus Ebenholz und Elfenbein, auf den er sich beim Gehen stützte.

 

Die Vision des Glanzes zog an ihnen vorbei durch die Halle.

 

»Er ist verrückt geworden!« flüsterte Elk hohl. Von seinem Platz aus konnte Dick den Millionär beobachten. Er saß während des zweiten Teiles des Programms mit geschlossenen Augen da. Nach jedem Stück applaudierte er mit seinen riesigen, weißbehandschuhten Händen. Dick war dessen sicher, daß er schlief und erst das Klatschen ihn erweckte. Einmal entdeckte er, wie der alte Mann ein Gähnen unterdrückte. Es war im zweiten Satz von Elgars Violinkonzert, das durch seine wundervolle Wiedergabe alle Zuhörer im Bann hielt.

 

»Das ist der reiche Maitland!« hörte Dick einen Herrn sagen.

 

»Er hat jetzt das Haus des Prinzen von Caux in Berkeley Square gekauft.«

 

Elk kam mit noch andern Neuigkeiten zurück.

 

»Was halten Sie vom Musikverständnis des alten Maitland, Hauptmann Gordon? Nun, er hat im voraus Plätze für jedes große Konzert der nächsten Saison bestellt. Sein Sekretär kam heute nachmittag mit diesem Auftrag her. Der war auch nicht wenig verdutzt darüber, und er sollte einen Tisch für heute abend im Herons-Klub bestellen.«

 

Elks Gesicht war während seines ganzen Berichtes todernst geblieben. Er winkte einen seiner Begleiter heran.

 

»Wie viele Leute brauchen Sie, um den Herons-Klub zu besetzen?«

 

»Sechs«, war die prompte Antwort. »Zehn, um ihn auszuheben und zwanzig, wenn es schlimm zugeht.«

 

»Nehmen Sie dreißig«, sagte Elk.

 

Der Klub sah von außen völlig unscheinbar aus, aber befand man sich einmal hinter seinen geschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen, so vergaß man das ärmliche und düstere Aussehen. Ein luxuriöser Gang, mit dicken Teppichen bedeckt und mild erleuchtet, führte nach dem Tanzsaal und Restaurant. Dick wartete auf die Ankunft des Direktors und bewunderte, in der Tür stehend, den Reichtum des Saales. Die Tische standen in einem länglichen Viereck auf dem polierten Parkett, von einer Galerie kamen die Klänge eines Negerorchesters, und innerhalb des ausgesparten Raumes tanzte ein Dutzend Paare und bewegte sich nach dem schnellen, aufpeitschenden Rhythmus der Stakkatomelodie.

 

»Vergoldetes Laster!« brummte Elk verächtlich. »Ich möchte wissen, was man hier die Frechheit hat für ein Essen zu verlangen. Da ist ja unser Methusalem.«

 

Methusalem saß am besten Tisch des Saales. Sein kahler Schädel leuchtete im Licht des Kristallüsters, und in seinem Schatten verschmolz sein Patriarchenbart mit der schneeigen Hemdbrust, so daß Dick ihn einen Moment lang nicht erkannte. Vor ihm stand ein großes, mit Bier gefülltes Glas.

 

»Er trinkt! Er ist immerhin menschlich«, sagt Elk.

 

Hagn kam heran, freundlich lächelnd, in dem Bestreben, ihnen gefällig zu sein. »Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Herr Hauptmann«, sagte er. »Sie wünschen, daß ich Sie hereinlasse? Aber, meine Herren, das ist doch gar nicht nötig. Jeder Polizeioffizier von Rang ist Ehrenmitglied meines Klubs.«

 

Er ging geschäftig voran, führte sie zwischen den Tischen durch und fand eine leere Loge. Es gab Zecher, deren Mienen sich bei der Ankunft der neuen Gäste umwölkten. Einer zumindest stahl sich hinaus und ward nicht wieder gesehen.

 

»Wir haben heute abend sehr feine Gäste«, sagte Hagn und rieb sich die Hände. »Hier ist Lord und Lady Belfin, dieser Herr mit dem Bart ist der reiche Maitland, und sein Sekretär ist ebenfalls hier.«

 

»Johnson?« fragte Dick überrascht. »Wo sitzt er?«

 

Da bemerkte er auch schon den rundlichen Philosophen. Er saß in einer entfernten Ecke und sah in seinem altmodischen Frack entsetzlich ungeschickt und unglücklich aus. Wie er so auf der Kante seines Sessels saß, machte er ein feierliches und erschrockenes Gesicht und hielt die Hände auf dem Tisch gefaltet.

 

»Gehen Sie hinüber und holen Sie ihn her«, flüsterte Dick Elk zu. Elk marschierte durch das Wirbeln der Tänzerpaare und erreichte Herrn Johnson, der ihn erlöst ansah und ihm so kräftig die Hand schüttelte, als hätte Elk ihn von einer verlassenen Insel errettet.

 

»Es war lieb von Ihnen, mich herüberzuholen«, sagte Johnson, als er Dick begrüßte. »Ich fühle mich hier so gar nicht am Platze. Es ist mein erster und mein letzter Besuch.« Und er blickte nach einer kleinen Gesellschaft in der gegenüberliegenden Loge. Gordon war ihrer schon beim Eintritt gewahr geworden. Da waren Ray, in seiner üppigsten Laune, Lola Bassano, herrlich und exzentrisch gekleidet, und der massive Expreisboxer Lew Brady. Johnson wies mit den Blicken nach dem alten Maitland.

 

»Ist das nicht ein Wunder?« fragte er mit Flüsterstimme. »In einem einzigen Tag hat er seine Lebensweise geändert. Kauft ein Haus in Berkeley Square, beruft eine Armee von Schneidern, schickt mich aus, um Theaterplätze zu bestellen, kauft Juwelen! Ich verstehe nicht«, gestand er kopfschüttelnd. »Besonders, weil er im Büro ganz unverändert ist. Dort ist er noch immer derselbe alte Geizhals. Er wollte, daß ich auch seine Privatunternehmungen führen sollte, aber ich schlug es aus. Was mich ängstigt, ist nur, daß er mich auch an die Luft setzen kann, wenn ich nicht einwillige. Er ist in dieser Woche recht unverdaulich gewesen. – Ob Ray ihn wohl gesehen hat?«

 

Ray hatte seinen früheren Chef noch nicht bemerkt. Er war zu sehr von der Freude erfüllt, in solch eleganter Umgebung mit Lola zusammenzusein, um ein Interesse an irgend etwas außer sich selbst und dem unmittelbaren Objekt seiner Zärtlichkeit zu nehmen.

 

»Du machst dich lächerlich, Ray, halb Scotland Yard ist hier und beobachtet dich«, warnte Lola.

 

Er blickte um sich und schien zum ersten Male zu bemerken, daß sie nicht allein waren. Ihm gegenüber saß Dick, der ihn ernsthaft betrachtete, und dieser Anblick und das Bewußtsein des Beobachtetwerdens machten ihn irrsinnig vor Zorn.

 

Er sprang auf, lief über das Parkett hin, stieß mit den tanzenden Paaren zusammen und stolperte mehrmals, bis er vor Dick stand.

 

»Suchen Sie mich?« fragte er laut. »Brauchen Sie mich vielleicht?«

 

Dick schüttelte den Kopf.

 

»Sie verfluchter Polizeispitzel, hetzen Sie Ihre Bluthunde auf mich?« tobte der Jüngling blaß vor Wut. »Johnson, was machen denn Sie bei der Bande? Sind Sie vielleicht auch Polizeispion geworden?«

 

»Aber lieber Ray«, murmelte Johnson.

 

»Lieber Ray!« spottete der andere. »Sie sind ja eifersüchtig, Sie armer Hund! Eifersüchtig, weil ich aus den Klauen Ihres Blutsaugers entkommen bin! Aber Sie . . .!« Er fuchtelte mit geballter Faust vor Dicks Gesicht umher. »Sie werden mich in Ruhe lassen, Sie! Suchen Sie sich eine andere Beschäftigung, als meiner Schwester Geschichten über mich zu erzählen!«

 

»Ich glaube, Sie sollten lieber zu Ihren Freunden zurückkehren«, sagte Dick, »oder besser noch, Sie gehen nach Hause.«

 

All dies hatte sich während einer Tanzpause abgespielt, jetzt fiel das Orchester von neuem ein. Aber die Anteilnahme des überfüllten Klubsaales verringerte sich keineswegs, obwohl Rays hohe Stimme die Trommeln nicht zu übertönen vermochte.

 

Dick war dessen sicher, daß der Direktor oder einer der Diener des Klubs sogleich intervenieren würde. Der Oberkellner kam auch sofort herbei, um Ray zurückzudrängen. An allen Tischen war man aufgestanden und sah mit langgestreckten Hälsen nach dem zornigen jungen Mann, der sich wütend gegen die beschwichtigenden Kellner wehrte.

 

So sah niemand den Fremden, der eine ganze Weile die Vorgänge beobachtet hatte, bevor er, die Zuschauer beiseite schiebend, in die Mitte des Saales kam. Der grauhaarige Mann stach in seinem abgetragenen Tweedanzug auffallend von der elegant gekleideten Menge ab. Er stand, die Hände auf dem Rücken, mit leichenblassem, ernstem Gesicht da und betrachtete Ray, der im Augenblick fast nüchtern wurde, als er seinen Vater erkannte.

 

»Ich muß dich sprechen, Ray«, sagte John Bennett einfach. Sie standen allein inmitten eines großen Zuschauerkreises, der vor ihnen zurückgewichen war. Die Musik wurde abgebrochen, als habe der Dirigent ein Zeichen empfangen.

 

»Komm mit mir nach Horsham, Junge.«

 

»Ich geh‘ nicht!« sagte Ray störrisch.

 

»Gehen Sie mit Ihrem Vater, Ray.« Johnson legte die Hand eine Sekunde lang auf des jungen Mannes Schulter. Ray schüttelte ihn ab.

 

»Ich bleibe hier!« sagte er, und seine Stimme klang laut und trotzig. »Du hast kein Recht, hierherzukommen, Vater, und mich lächerlich zu machen.« Er blitzte seinen Vater zornig an. »Du hast mich in all diesen Jahren niedergehalten und mir das Geld verweigert, um das ich dich bat. Und jetzt erlaubst du dir, darüber entsetzt zu sein, daß ich mich in einem anständigen Klub befinde und anständig gekleidet bin. Mit mir ist alles in Ordnung. Kannst du das auch von dir sagen? Und selbst wenn nicht alles bei mir in Ordnung wäre, könntest du mich dann tadeln?«

 

»Komm fort von hier.« John Bennetts Stimme klang heiser.

 

»Ich bleibe!« sagte Ray heftig. »Und.in Zukunft wirst du mich in Frieden lassen. Der Bruch hat einmal kommen müssen, und es ist gut, daß er gekommen ist.«

 

Vater und Sohn standen einander gegenüber, und in John Bennetts müden Augen lag ein Blick grenzenloser Trauer.

 

»Komm mit mir«, sagte er bittend.

 

Da sah Ray Lolas Gesicht, sah das unterdrückte Lächeln um ihre Lippen, und seine verletzte Eitelkeit machte ihn rasend.

 

Mit einem Wutschrei brach er los. Der Schlag, der den alten Bennett traf, ließ ihn wanken, aber er fiel nicht. Er sah seinen Sohn lange an, dann senkte er den Kopf und ließ sich wortlos von Dick hinwegführen.

 

Ray Bennett stand vor Schrecken gelähmt da, sprachlos.

 

Die Musik begann schmetternd, dudelnd, quietschend von neuem, und Lew Brady holte Ray an den Tisch zurück, wo er reglos, den Kopf in die Hand gestützt und vor sich hinstarrend, sitzen blieb.

 

Lola bestellte Champagner.

 

Kapitel 13

 

13

 

Während der ganzen Szene hatte Ezra Maitland vollkommen ruhig dagesessen, und es hatte den Anschein, als bringe er den Geschehnissen nicht das geringste Interesse entgegen, ja, als kämen sie seinem zerstreuten Geist gar nicht zum Bewußtsein. Endlich stand der alte Mann schwerfällig auf und verließ den Saal.

 

»Jetzt geht er und hat nicht einmal bezahlt«, flüsterte Elk.

 

Trotz dieses Versäumnisses begleitete der Oberkellner den bejahrten Millionär zur Tür. Überrock, Zylinder und Stock wurden ihm gebracht, und er war den Blicken entschwunden, bevor die sich verbeugenden Diener sich wieder aufgerichtet hatten. Es schien, als hätte das Publikum nach der viel diskutierten Störung seine gute Laune wiedergewonnen. Es wurde allgemein getanzt, und die Heiterkeit erstieg ihren Höhepunkt. Dick sah auf die Uhr und gab Elk ein unmerkliches Zeichen. Sie erhoben sich und schlenderten ohne Hast zur Tür. Ein Kellner kam ihnen eilends nach. »Die Herren wünschen zu zahlen?«

 

»Später, in drei Minuten«, sagte Dick.

 

In dem Moment zeigten die Zeiger der Uhr auf eins. Genau drei Minuten später war der Klub in den Händen der Polizei. Um ein Uhr fünfzehn war er bis auf die diensthabenden Detektive und das Personal geleert.

 

»Wo ist Hagn?« verhörte Dick den Oberkellner.

 

»Er ist nach Hause gegangen«, sagte der Mann mürrisch. »Er geht immer zeitig nach Hause.«

 

»Das ist eine Erfindung, mein Sohn«, sagte Elk. »Führen Sie mich in sein Zimmer.«

 

Sie kamen in ein großes, fensterloses, gemütlich eingerichtetes Gemach, das im Erdgeschoß lag, in einem Teil der alten Missionshalle, den man unberührt gelassen hatte. Während die Unterbeamten die Bücher Blatt für Blatt untersuchten, durchforschte Elk das Zimmer. In einer Ecke stand ein kleiner Safe, auf den er das Polizeisiegel klebte. Auf einem Sofa lag in ziemlicher Unordnung ein Anzug, der anscheinend in aller Eile abgestreift worden war. Elk trug ihn unter das Lampenlicht und betrachtete ihn genau. Es war der Frack, den Hagn getragen hatte, als er sie zu ihren Plätzen geleitete.

 

»Führen Sie den Oberkellner her.«

 

Der Oberkellner Wollte oder konnte keine Auskunft geben.

 

»Herr Hagn wechselt immer die Kleider, bevor er nach Hause geht«, sagte er.

 

»Warum ist er fortgegangen, bevor der Klub geschlossen wurde?«

 

Der Mann zuckte die Achseln. »Ich kenne seine Privatangelegenheiten nicht«, sagte er, und Elk entließ ihn.

 

An der Wand standen ein Toilettentisch und ein Spiegel. Zu beiden Seiten des Spiegels waren kleine Lampen angebracht, die keinen Lampenschirm hatten. Elk drehte auf, und in dem grellen Licht prüfte er den Tisch. Sofort fand er zwei Haarbüschel und hielt sie an den Ärmel seines schwarzen Rockes. In der Schublade fand er eine kleine Flasche mit flüssigem Gummi und prüfte dann die Bürste sorgfältig.

 

Endlich hob er den Papierkorb auf und schüttete, dessen Inhalt auf den Tisch. Er fand ein paar zerrissene Rechnungen, Geschäftsbriefe, die Ankündigung eines Geschäftmannes, drei zerbröselte Zigarettenstummel und verschiedene Papierschnitzel. Einer davon war mit Gummi bedeckt und klebte zusammen.

 

»Ich möchte wetten, daß er damit seine Bürste abgewischt hat«, sagte Elk.

 

Mit einiger Schwierigkeit zog er den Zettel auseinander. Er war mit der Maschine geschrieben und bestand aus drei Zeilen:

 

»Dringend. Besucht Sieben in E. S. 2.

 

Kein Überfall. Versichert euch M.s Aussage.

 

Dringend! F. 1.«

 

Dick nahm das Papier aus Elks Hand und las es.

 

»Darin, daß es keinen Überfall geben wird, irrt er sich«, sagte er. »E. S. bedeutet Eldorstraße. Und 2 ist entweder die Nummer zwei oder zwei Uhr.«

 

»Aber wer ist M.?« fragte Elk stirnrunzelnd.

 

»Anscheinend Mills, der Mann, den wir in Wandsworth gefangen haben. Er hat seine Aussage schriftlich niedergelegt, nicht?«

 

»Er hat sie zumindest unterzeichnet«, sagte Elk nachdenklich.

 

Er wendete die Papiere um, und nach einer Weile fand er, wonach er gesucht hatte. Einen kleinen Briefumschlag, der in Maschinenschrift an »G. V. Hagn« adressiert war und auf der Rückseite den Stempel des Bezirks-Botendienstes trug.

 

Elk schickte nach dem Portier. »Um welche Zeit wurde dies hier abgegeben?« fragte er.

 

Der Mann war ein ausgedienter Soldat, der einzige der Verhafteten, der seine Lage zu empfinden schien.

 

»Der Brief kam ungefähr gegen neun Uhr, Herr Inspektor«, sagte er bereitwillig und brachte zur Bestätigung sein Postbuch. »Er wurde von einem Botenjungen gebracht.«

 

»Bekommt Herr Hagn viele solche Nachrichten?«

 

»Sehr wenige, Herr Inspektor«, sagte der Portier und fügte eine ängstliche Frage bei, was man mit ihm vorhabe.

 

»Sie können nach Hause gehen, aber unter Bewachung. Sie dürfen hier mit niemandem sprechen und niemandem sagen, daß ich mich nach diesem Brief erkundigt habe. Haben Sie verstanden?«

 

»Jawohl, Herr Inspektor.«

 

Elk rief die Telefonzentrale an und ließ für eine Stunde alle telefonischen Verbindungen unterbrechen. Es war jetzt drei Viertel zwei Uhr.

 

Er hieß achtzehn Detektive zurückbleiben, um den Klub zu beaufsichtigen und fuhr, von Dick und der übrigen Polizeimannschaft begleitet, mit der größtmöglichen Geschwindigkeit nach Tottenham. Etwa hundert Meter, ehe sie die Eldorstraße erreichten, hielt das Auto an und alle stiegen aus. Dick ließ seine Leute die Nebenstraßen nehmen und ging allein mit Elk weiter. An der Ecke der Eldorstraße sah Elk, daß die Vorsicht seines Chefs wohlbegründet gewesen war. Ein Mann lehnte an einem Laternenpfahl, und Elk verwickelte Dick sofort in ein lebhaftes Gespräch über einen harmlosen Gegenstand.

 

Der Mann unter dem Kandelaber zögerte einen kleinen Augenblick zu lange. Als sie neben ihm waren, wendete sich Elk an ihn.

 

»Haben Sie vielleicht Feuer?« fragte er.

 

»Nein«, brummte der andere.

 

Im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden. Elk kniete auf seiner Brust und hielt mit seinen langen, knochigen Fingern seine Kehle umklammert.

 

»Wenn du schreist, Frosch, erdroßle ich dich«, zischte der Detektiv. Der Mann war in den Händen der herbeieilenden Detektive, er war geknebelt, gefesselt und auf dem Weg zum Polizeiauto, ehe er begriff, was für ein Tornado ihn niedergeworfen hatte. »Alles hängt jetzt davon ab, ob derjenige Gentleman, der in der Passage zwischen den Gärten patrouillieren dürfte, diese unziemliche Balgerei mit angesehen hat«, sagte Elk und staubte sich ab. »Hat er es gesehen, dann werden sich nette Dinge ereignen.« Aber anscheinend war die Wache in dem kleinen Gang selbst gewesen. Elk stand am Eingang still, lauschte und hörte sogleich gedämpfte Schritte. Er schlüpfte in den Gang und trat selbst nicht allzu leise auf.

 

»Wer ist da?« fragte der Wächter.

 

»Ich!« flüsterte Elk. »Mach nicht soviel Lärm.«

 

»Was hast du hier zu suchen?« fragte der andere in gebieterischem Ton. »Ich habe dir gesagt, daß du bei der Laterne stehenbleiben sollst.«

 

Elks Augen hatten sich bereits an das Dunkel gewöhnt, und er schätzte die Distanz ab.

 

»Es kommen zwei komische Leute die Straße herauf. Ich wollte nur, daß du sie siehst«, flüsterte er.

 

In seiner Jugend hatte Elk Fußball gespielt, und nun stieß er zu. Der Mann stürzte mit einem Anprall zu Boden, daß es ihm den Atem verschlug und er nur das unwillkürliche Keuchen ausstieß, das einem Knockout folgt. Der Niedergeschlagene war unfähig zu schreien und noch immer atemlos, als ihn schon bereitwillige Hände in den Patrouillenwagen warfen.

 

»Wir müssen durch die Hintertür, Jungens«, sagte Elk.

 

Diesmal stand das Gartentor offen. Elk zog seine Stiefel aus, und in Strümpfen schlüpfte er den finsteren Gang entlang und klinkte leise die Tür zu Maitlands Zimmer auf. Es war dunkel und leer. Elk kam in den Abstellraum zurück.

 

»Zu ebener Erde ist nichts«, sagte er. »Wir müssen oben nachschauen.«

 

Er hatte fast die Treppe erstiegen, als er Licht durch den Türspalt jenes Raumes schimmern sah, den Maitlands Wirtschafterin bewohnt hatte. Er nahm die Stufen in drei Sprüngen, flog den Treppenabsatz entlang und warf sich gegen die Tür. Sie brach erst beim dritten Anprall ein. Das Zimmer lag völlig finster.

 

»Hände hoch, jeder Mann!« schrie er ins plötzliche Dunkel.

 

Vollkommene Stille herrschte. Er duckte sich und ließ den Schimmer seiner elektrischen Lampe in dem Raum spielen. Er war leer. Seine Beamten kamen nachgestürmt, die Lampe auf dem Tisch wurde angezündet, der Glaszylinder war noch heiß. Das Zimmer wurde durchsucht, es war aber zu klein, als daß es hätte viele Menschen verbergen können. Ein Blick aus dem Fenster zeigte Elk, daß es für die Insassen unmöglich gewesen wäre, auf diese Weise zu entkommen.

 

Am anderen Ende des Zimmers stand ein Garderobenschrank, mit vielen alten Kleidungsstücken angefüllt, die an Haken hingen.

 

»Werfen Sie die Sachen hinaus!« befahl Elk. »Es muß da eine Tür ins nächste Haus führen.«

 

Die Kleider wurden auf den Boden gehäuft, und die Polizeimannschaft hieb die hölzerne Rückenwand des Schrankes ein. Dick durchsuchte hastig die Papiere, die den Tisch bedeckten.

 

»Mills‘ Geständnis«, sagte er höchst erstaunt. »Und es sind doch nur zwei Abschriften gemacht worden, von denen ich eine habe und die andere in Ihrem Büro liegt, Elk.«

 

In diesem Augenblick wurde die Rückenwand des Kleiderschrankes eingeschlagen, und die Detektive strömten durch sie hindurch in das nächste Haus.

 

Es ergab sich die höchst interessante Tatsache, daß ein Verbindungsgang durch einen Block von etwa zehn Häusern lief, und es wurde bald klar, daß in allen Häusern bis zum Ende der Straße Frösche wohnten. Da jeder von ihnen Nr. 7 sein konnte, wurden sie insgesamt arretiert. Außer jener Tür in Maitlands Haus war bei keiner der Versuch gemacht worden, die Verbindungstür zu maskieren. In den anderen Häusern gab es bloß rohe, in die Ziegelwände hineingebrochene Öffnungen.

 

»Ich zweifle daran, daß wir ihn haben«, sagte Elk, der atemlos zu Dick zurückkehrte. »Ich habe keinen einzigen gesehen, der nach ein bißchen Hirn ausschauen würde.«

 

»Ist niemand aus dem Häuserblock entkommen?«

 

Elk schüttelte den Kopf. »Meine Leute sind in der Passage und auf der Straße. Es ist auch eine Menge uniformierter Polizei hier. Haben Sie nicht die Pfeifen gehört?«

 

Elks Assistent kam, um Rapport zu erstatten. »Ein Mann ist in einem der Hinterhöfe gefunden worden. Ich habe mir erlaubt, ihn dem Schutzmann abzunehmen und ihn hierherzubringen. Wollen Sie ihn sehen?« berichtete er.

 

»Bringen Sie ihn nur herauf«, sagte Elk.

 

Wenige Minuten später wurde ein gefesselter Mann in das Zimmer gestoßen. Er war über Mittelgröße und sein Haar lang und blond. Den blonden Bart trug er spitz. Einen Moment lang sah ihn Dick an, dann rief er aus: »Das ist ja Carlo!«

 

»Ich bin sogar sicher, daß es Hagn ist!« sagte Elk. »Nimm einmal den Bart ab, du Frosch, du! Wir werden uns einmal über Zahlen unterhalten, von sieben angefangen.«

 

Selbst Dick vermochte seinen Augen kaum zu trauen. Die Perücke war so täuschend, der Bart so geschickt befestigt, daß er kaum zu glauben vermochte, daß dies wahrhaftig der Direktor vom Herons-Klub sein sollte. Aber als er die Stimme hörte, wußte er, daß Elk recht hatte. »Nummer Sieben?« näselte Hagn. »Ich glaube eher, daß Nummer Sieben durch Ihren Kordon gelangen wird, ohne im mindesten belästigt zu werden. Er steht sehr gut mit der Polizei. Wozu brauchen Sie mich, Herr Elk?«

 

»Ich brauche Sie der Rolle wegen, die Sie in der Nacht des vierzehnten Mai bei der Ermordung des Hauptinspektors Genter gespielt haben.« Hagn schürzte die Lippen.

 

»Warum fragen Sie nicht lieber Broad? Der war auch dabei. Vielleicht wird er als Zeuge für mich aussagen. Schauen Sie einmal aus dem Fenster, da unten steht er.«

 

Dick schob das Fenster hinauf und lehnte sich hinaus. Eine Menge Menschen in Tüchern und Überröcken stand unten und sah dem Abtransport der Inhaftierten zu.

 

Der Reflex eines Zylinders zog Dicks Blicke auf sich, und eine unverkennbare Stimme rief ihn an: »Guten Morgen, Hauptmann Gordon. Die Froschaktien sind wohl sehr gefallen? Apropos, haben Sie das Baby gesehen?«