Kapitel 27

 

27

 

Dick Gordon beendete seine Unterredung mit Ezra Maitland und kehrte in die Polizeidirektion zurück, um Elk zu sprechen.

 

»Im großen ganzen halte ich Pentonville für das sicherste Gefängnis und habe Balder dorthin bringen lassen. Ich verlangte sogar vom Polizeichef, daß man ihn in die Zelle der Verurteilten stecken soll, aber das scheint bei ihnen nicht gute Sitte. Immerhin ist Pentonville der sicherste Fleck, den ich kenne, und wenn die Frösche nicht Steine zu fressen vermögen, so wird er doch wohl drinbleiben müssen. Also, was hatte Maitland Ihnen zu sagen, Herr Hauptmann?«

 

»Maitlands Geschichte ist, soweit man von ihm etwas herausbekommen kann, die, daß er Balder auf dessen Aufforderung besucht hat. ›Was könn Sie machn, wenn die Polizei nach einem schickt?‹ fragte er mich, und das ist nicht leicht zu beantworten.«

 

»Darüber herrscht doch wohl kein Zweifel«, sagte Elk, »daß er Balder nicht in dessen Eigenschaft als Polizeimann in Slough besucht hat. Noch viel weniger Zweifel besteht darüber, daß der Mann mit dem Frosch im Bündnis ist.«

 

»Maitland ist ein so energischer und trotzdem so ängstlicher alter Herr. Ich glaube, daß er direkt in die Erde sinken wollte, als ich Balders Arretierung erwähnte. Er fiel fast in Ohnmacht.«

 

»Dieser Spur müßte man folgen«, sagte Elk gedankenvoll. »Ich habe nach Johnson geschickt. Er müßte eigentlich schon hier sein. Er ist ein sehr wichtiger Zeuge, und man sollte die beiden nach Möglichkeit gleich konfrontieren.«

 

Der Philosoph kam nach einer halben Stunde an.

 

»Herr Elk wird Ihnen etwas sagen, was in ein paar Tagen allgemein bekannt sein dürfte«, sagte Dick. »Elks eigener Beamter ist als Frosch verhaftet worden.«

 

Johnson ließ sich erklären, wer Balder war, und Dick berichtete ihm von des alten Maitlands Besuch in Slough. Johnson schüttelte den Kopf.

 

»Ich habe nie davon gehört, daß Maitland einen Freund dieses Namens hat«, sagte er. »Balder? Nein, habe ich nie gehört!«

 

»Er nannte sich auch Collet-Banson«, sagte Dick.

 

»Ja, den kenne ich sehr gut! Der pflegte Maitland oft im Büro zu besuchen und gewöhnlich sehr spät des Abends. Maitland arbeitet dreimal in der Woche im Büro die Nacht durch, wenn alle Beamten gegangen sind, wie ich leider an meinem eigenen Leib erfahren habe«, sagte Johnson. »Ja, ja, es war ein großer hübscher Mensch, von so ungefähr vierzig Jahren.«

 

»Stimmt«, sagte Dick. »Er hat ein Haus in der Nähe von Windsor.«

 

»Ja, obwohl ich selbst nie dort war, weiß ich das, weil ich Briefe an ihn aufgegeben habe.«

 

»Was für Geschäfte hatte Collet-Banson mit Maitland?«

 

»Das konnte ich nie herausbekommen. Ich hielt ihn immer für einen Agenten, der Grundbesitz zum Verkauf anbot, denn das waren die einzigen Leute, die zu Maitland zugelassen wurden. Ich erinnere mich auch, daß das Kind eine Woche lang bei ihm war.«

 

»Mhm, das Kind aus Maitlands Haus?« fragte Elk.

 

Herr Johnson nickte zustimmend.

 

»Sie wissen nicht, was für eine Beziehung zwischen dem Kind und den beiden Männern besteht?«

 

»Nein, ausgenommen, daß ich ganz sicher bin, daß der kleine Junge wirklich bei Herrn Collet-Banson war, weil ich auf Maitlands Anordnung Spielzeug hinüberschicken mußte. Es war an dem Tag, an dem Herr Maitland sein Testament machte, ungefähr vor anderthalb Jahren. Ich erinnere mich aus einem besonderen Grund so genau an diesen Tag. Ich hatte nämlich erwartet, daß Herr Maitland mich auffordern würde, das Testament mit zu unterzeichnen, und fühlte mich als alter, treuer Angestellter recht gekränkt, als er zwei Beamte aus dem Büro zur Unterzeichnung herbeiholen ließ. Solche kleinen Kränkungen haben auf mich den stärksten Eindruck ausgeübt«, fügte er hinzu.

 

»War das Testament zugunsten des Kindes verfaßt worden?«

 

Johnson schüttelte den Kopf. Immer zu Elk gewendet, denn Dick schwieg während dieser Unterredung, sagte er: »Er hat die Sache nie mit mir besprochen. Er wollte nicht einmal einen Advokaten zu Rate ziehen. Er sagte mir, daß er die äußere Form des Testaments einem Buch entnommen habe.«

 

Dick erhob sich. »Ich danke Ihnen recht herzlich für Ihre interessanten Aufschlüsse, Herr Johnson«, sagte er, den Philosophen zur Tür begleitend.

 

Am nächsten Morgen hatte Dick eine Unterredung mit dem Gefangenen von Pentonville und fand ihn in recht widerspenstiger Stimmung.

 

»Ich weiß nichts von Babies und von Spielzeug, und wenn Johnson sagt, daß er es geschickt hat, dann lügt er in seinen Hals«, sagte Balder trotzig. »Ich verweigere jede Aussage über Maitland und meine Verbindung mit ihm. Ich bin das Opfer einer polizeilichen Verfolgung geworden und wünsche meine Freilassung. Ich fordere Sie auf, einen Beweis zu erbringen, daß ich auch nur eine einzige strafbare Handlung in meinem Leben begangen habe, ausgenommen, daß es vielleicht in Ihren Augen ein Verbrechen ist, ein Leben wie ein Gentleman zu führen.«

 

»Haben Sie aber nicht doch vielleicht eine Nachricht für Ihre liebe Frau und Ihre sieben Kinder zu bestellen?« fragte Dick sarkastisch.

 

Die drohenden Züge des Gefangenen glätteten sich für einen Augenblick.

 

»Nein, für die wird Elk schon sorgen«, sagte er.

 

Eine Stunde vor der Zeit, zu der der Gerichtshof sonst zusammenzutreten pflegte, wurde in Bowstreet die Anklage gegen Balder erhoben. Der Arrestbefehl wurde erteilt und Balder im Auto unter Bewachung nach Pentonville weiterbefördert.

 

In der dritten Nacht nach Balders Einlieferung in das Gefängnis von Pentonville kam Romantik in das Leben des zweiten Hauptaufsehers. Er war verhältnismäßig jung, alleinstehend, von recht angenehmem Äußeren und wohnte bei seiner verwitweten Mutter in Shepherd’s Bush. Es war seine Gewohnheit, nach seiner Arbeit einen Autobus zu benützen, um sein Heim zu erreichen, und er war gerade im Begriff bei seiner Straße auszusteigen, als eine Dame vor ihm ausstieg, strauchelte und zu Boden fiel. Er war sofort bei ihr, um sie aufzuheben. Sie war jung, elegant und erstaunlich hübsch. Er führte sie behutsam auf den Gehsteig.

 

»Es ist nichts geschehen«, sagte sie lächelnd, aber mit schmerzlich verzogenem Gesicht. »Es war sehr dumm von mir, mit dem Bus zu fahren! Ich habe mein altes Dienstmädchen besucht, das erkrankt ist. Wollen Sie mir bitte ein Auto rufen?«

 

Ein vorbeifahrendes Auto wurde herangewinkt, und das blasse Fräulein sah sich hilflos um.

 

»Wenn ich nur jemandem begegne, den ich kenne. Ich fahre so ungern allein nach Hause! Ich habe Angst davor, ohnmächtig zu werden.«

 

»Wenn Sie gegen meine Begleitung nichts einzuwenden haben«, sagte der Hauptaufseher mit all dem warmfühlenden Ernst, den der Anblick einer hilflosen Frau in der Brust des empfindsamen Mannes weckt, »will ich Sie gern nach Hause begleiten.« Ein langer Blick voller Rührung und Dankbarkeit traf ihn aus ihren Augen. Sie nahm seine Begleitung an und murmelte nur ihr Bedauern über die ihm verursachte Mühe.

 

Sie bewohnte eine wundervolle Wohnung. Der Hauptaufseher dachte, er hätte nie vorher eine so anmutige und schöne Dame in so passender Umgebung kennengelernt, und damit hatte er auch recht. Er hätte gern nach der Verletzung an ihrem Knöchel gesehen, aber sie fühlte sich viel, viel wohler, und gerade kam auch ihre Zofe herein.

 

Und ob er nicht ein bißchen Whisky mit Soda haben wollte? Und ob er nicht, bitte, rauchen möchte? Sie wies ihm den Platz, wo er Zigaretten finden konnte, und dann sprach der Hauptaufseher eine Stunde lang von sich selbst und hatte so einen äußerst unterhaltsamen Abend.

 

»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Herr Bron«, sagte sie beim Abschied, »weil Sie so viel Zeit an mich vergeudet haben.«

 

»Wenn das die Zeit vergeuden heißt, so hat es keinen Sinn für mich, mit ihr zu sparen.«

 

»Das ist ein schönes Kompliment!« sagte sie lächelnd. »Also, dann will ich Ihnen auch erlauben, morgen zu mir zu kommen, um sich nach meinem armen Fuß zu erkundigen.«

 

Er notierte sich sorgfältig die Adresse des alleinstehenden Häuschens in Bloomsbury Square, und als er am nächsten Abend klingelte, war er nicht mehr in Uniform.

 

Um zehn Uhr ging er in Ekstase fort, ein Mann, der den Kopf hochhielt, mit sich selber sprach und goldene Träume träumt. Denn »der Duft ihrer Reize«, wie er ihr schrieb, »hatte sein Innerstes durchdrungen.«

 

Zehn Minuten, nachdem er gegangen war, kam die Dame heraus, schloß das Haustor sorgfältig hinter sich ab und trat auf die Straße.

 

Der Müßiggänger, der auf dem gegenüberliegenden Gehsteig auf und ab schlenderte, warf seine Zigarre weg.

 

»Guten Abend, Fräulein Bassano«, grüßte er.

 

Sie nahm eine abweisende Haltung an. »Ich fürchte, daß Sie sich irren«, sagte sie steif.

 

»Nicht im geringsten! Sie sind Fräulein Bassano, und meine einzige Entschuldigung dafür, daß ich mir erlaube, Sie anzusprechen, ist, daß ich Ihr Nachbar bin.«

 

Nun erst sah sie ihn näher an. »Ach, Herr Broad!« sagte sie etwas freundlicher. »Ich habe eben eine Freundin besucht, die schwer erkrankt ist.«

 

»Ja, das hat man mir berichtet. Ihre Freundin hat eine recht hübsche Wohnung«, sagte er und begann neben ihr herzugehen. »Ich selbst wollte sie vor ein paar Tagen mieten. Die möblierten Wohnungen sind recht schwer zu finden. Stimmt, vor einer Woche war ich hier. An dem Tag, an dem Sie Ihren beklagenswerten Unfall in Shepherd’s Bush hatten.«

 

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Lola.

 

»Die Wahrheit ist«, sagte Herr Broad im Ton der Entschuldigung, »daß auch ich versucht habe, mit Herrn Bron bekannt zu werden. Während der letzten zwei Monate habe ich mich mit dem sorgfältigen Studium des Gefängnispersonals in Pentonville beschäftigt und besitze eine Liste der leicht zugänglichen Jungen, die zusammenzustellen mich einen Haufen Geld gekostet hat, ich vermute, daß Sie noch nicht das Stadium erreicht haben, wo Sie ihn hätten überreden können, über seine interessanten Gefangenen zu sprechen. Dazu spricht Herr Bron allzugern von seinen seelischen Vorgängen. Ich habe es letzthin mit ihm versucht«, fuhr Broad fort, »er besucht einen Tanzklub in Hammersmith, und ich wurde mit ihm durch ein Mädchen, das er hofiert, bekannt. Sie sind, nebenbei bemerkt, nicht die einzige Liebe seines jungen Lebens.«

 

Lola lachte leise. »Was für ein kluger Mann Sie sind, Herr Broad«, sagte sie. »Nein, ich interessiere mich gar nicht so sehr wie Sie für Gefangene. Übrigens, wem gilt denn Ihr besonderes Interesse?«

 

»Aber, aber! Nummer Sieben, der im Gefängnis von Pentonville sitzt«, sagte Broad lächelnd. »Ich habe so eine Ahnung, daß er auch Ihr Freund ist.«

 

»Nummer Sieben?« Lolas Erstaunen würde einen weniger abgehärteten Mann als Joshua Broad überzeugt haben müssen. »Ich glaube, das hat etwas mit den Fröschen zu tun?« sagte sie.

 

»Das stimmt!« antwortete Broad. »Fräulein Bassano, ich möchte Ihnen ein Anerbieten machen!«

 

»Machen Sie mir das Anerbieten, ein Auto holen zu wollen, ich bin sehr müde«, sagte sie.

 

Und als sie beide im Wagen saßen, fragte Lola: »Also, was ist es mit dem Anerbieten?«

 

»Ich biete Ihnen so viel an, wie Sie brauchen, um England zu verlassen und ein paar Jahre außer Landes zu leben, bis der alte Frosch verspielt hat. Und er wird verspielen. Ich habe Sie seit längerer Zeit beobachtet und bitte Sie, es nicht als Frechheit aufzufassen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie gern habe. Es ist etwas äußerst Anziehendes an Ihnen, nein, lassen Sie mich ausreden, ich bin nicht im Begriff, Ihnen den Hof zu machen. Ich habe Sie in irgendeiner Art von Mitleid lieb. Sie brauchen darüber nicht beleidigt zu sein, aber ich möchte nicht, daß Sie zu Schaden kommen.«

 

Er war sehr ernst. Sie erkannte seine Aufrichtigkeit, und die sarkastische Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, blieb unausgesprochen.

 

»Sind Sie wirklich so gänzlich desinteressiert?« fragte sie.

 

»Soweit es Sie selbst betrifft, völlig!« antwortete er. »Aber Lola, ich warne Sie. Es wird ein furchtbares Erdbeben stattfinden, und höchstwahrscheinlich werden Sie von den herumfliegenden Stücken getroffen werden.«

 

Sie antwortete nicht sofort, denn was er gesagt hatte, verstärkte bloß ihre eigene Unruhe.

 

»Vermutlich wissen Sie, daß ich verheiratet bin?«

 

»Ich ahnte es«, sagte er. »Nehmen Sie Ihren Mann mit. Und was wollen Sie mit dem kleinen Jungen machen?«

 

Es war merkwürdig, daß sie nicht einmal den Versuch machte, die Rolle, die sie spielte, zu verleugnen. Sie wunderte sich später selbst darüber. Aber Joshua Broad hatte so eine zwingende Überlegenheit, daß es ihr gar nicht einfiel, ihn täuschen zu wollen.

 

»Sie meinen Ray? Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich wünschte, daß er nicht dabei wäre. Ich habe ihn auf dem Gewissen. Lachen Sie?«

 

»Darüber, daß Sie ein Gewissen haben, nein. Ich dachte nur daran, was er wohl für Sie gefühlt haben mag? Und was bedeutet der Bart, den er sich wachsen ließ?«

 

»Darüber weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß wir – aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Wer sind Sie, Herr Broad?«

 

Er kicherte. »Eines Tages werden Sie es erfahren. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie ein wenig mit sich reden lassen, so werden Sie es als erste erfahren. Behandeln Sie den Jungen gut, Lola.«

 

Sie verwehrte ihm nicht, daß er ihren Taufnamen gebrauchte, es nahm sie eher für den geheimnisvollen Mann ein.

 

»Und schreiben Sie an Herrn Bron, den Vizehauptaufseher im Gefängnis von Pentonville, und teilen Sie ihm mit, daß Sie aus der Stadt abberufen wurden und ihn in den nächsten zehn Jahren nicht sehen können.«

 

Sie gab keine Antwort. Er verließ sie an der Tür ihrer Wohnung und nahm ihre schmale Hand in die seine.

 

»Falls Sie Geld brauchen, um zu verreisen, werde ich Ihnen einen Blankoscheck schicken. Glauben Sie mir, es gibt keinen anderen Menschen auf der ganzen Erde, dem ich einen Blankoscheck geben würde.«

 

Lola nickte und hatte ungewohnte Tränen in ihren Augen.

 

Sie war nahe daran, unter ihrer Last zusammenzubrechen, und das wußte niemand besser als der Mann mit dem Raubvogelgesicht, der ihr nachsah, wie sie in ihre Wohnung eintrat.

 

Kapitel 28

 

28

 

Das Haus des Prinzen von Caux, das in Ezra Maitlands Besitz übergegangen war, war mit einem Aufwand erbaut, bei dem die Kosten keine Rolle gespielt hatten. Obwohl er als einer der schönsten Paläste Londons bekannt war, hatten doch nur wenige Fremde Gelegenheit gefunden, seine inneren Räume zu besichtigen.

 

In dem fürstlichen Salon mit seinen Säulen aus Lapislazuli, seinem aus Onyx und Silber geformten Kamin und den mit niederländischen Gobelins tapezierten Wänden, saß Ezra Maitland, in seinem großen Louis-XV.-Sessel zusammengesunken, ein Glas Bier vor sich, eine schwärzliche Tonpfeife zwischen den Zähnen. Auf dem kostbaren Perserteppich waren die Spuren seiner kotigen Stiefel zu sehen, und sein Hut verdeckte halb eine goldene Venus von Marrionet, die auf einem Sockel neben ihm stand.

 

Die Hände über seinem Bauch gefaltet, saß er wie eine Statue da und starrte unter seinen buschigen, weißen Augenbrauen auf den Fußboden hin. Die Vorhänge waren zugezogen, um das Tageslicht nicht einzulassen, und eine Stehlampe erleuchtete das Düster des Saales.

 

Herr Maitland zog mit Anstrengung das Glas Bier heran, das schon abgestanden war, und leerte dessen Inhalt. Nachdem er es wieder hingestellt hatte, sank er in seine frühere, starre Stellung zurück.

 

Es klopfte leise an die Tür, und ein Lakai in Puderperücke kam herein. »Drei Herren wünschen Sie zu sprechen, Herr Maitland. Hauptmann Gordon, Herr Elk und Herr Johnson!«

 

Der alte Mann fuhr auf. »Johnson?« fragte er. »Was will der?«

 

»Sie warten im kleinen Salon.«

 

»Lassen Sie sie rein««, brummte der Alte.

 

Die Gegenwart der beiden Polizeibeamten schien ihm gleichgültig. Es war Johnson, an den er das Wort richtete.

 

»Was wollen Sie da?« fragte er heftig. »Was soll das heißn, daß Sie bis daher kommen?«

 

»Die Anregung zu diesem Besuch kam von mir«, sagte Dick.

 

»So? Von Sie, so, so«, sagte der Alte, und seine Haltung war, mit der Niedergeschlagenheit von vorhin verglichen, merkwürdig kühn. Elks Augen fielen auf den leeren Bierkrug, und er hätte gern gewußt, wie oft dieser gefüllt worden war, seit Maitland nach Hause gekommen war. Denn im Ton des alten Mannes lag so viel Brutalität, seine Augen blitzten so trotzig, daß man auf mehr als bloße Aufregung schließen konnte.

 

»Ich werd auf keine Fragn nich antworten«, sagte er laut. »Ich werd nich die Wahrheit sagn un nich eine Lüge.«

 

»Herr Maitland«, sagte Johnson zögernd, »diese Herren möchten gern etwas über das Kind erfahren.«

 

Der alte Mann schloß die Augen.

 

»Ich werd nich die Wahrheit sagn und ich werd keine Lügen sagn«, wiederholte er monoton.

 

»Herr Maitland«, bat der gutmütige Elk, »ändern Sie Ihren Entschluß und sagen Sie uns, warum Sie in jenem elenden Quartier in der Eldorstraße gewohnt haben?«

 

»Keine Wahrheit nich und keine Lügen nich«, murmelte der Alte. »Einsperren könnt ihr mich, aber erzähln werd ich euch schon gar nichts. Sperrt mich ein, ich bin Ezra Maitland, ich bin‘ Millionär. Ich könnt euch aufkaufn. Ich könnt alle anderen auch aufkaufn, der alte Ezra Maitland bin ich. Im Strafhaus bin ich gewesn und im Loch bin ich gewesn, jaha!«

 

Dick und sein Gefährte tauschten einen Blick, und Elk schüttelte unmerklich den Kopf, um die Nutzlosigkeit einer weiteren Fragestellung anzudeuten. Nichtsdestoweniger machte Dick noch einen Versuch: »Warum sind Sie neulich des nachts nach Horsham gefahren?« fragte er. Er hätte sich aber gern im gleichen Augenblick die Zunge abgebissen, da er seinen Fehler merkte. Denn nun war der Alte ganz wach.

 

»Ich bin nicht in Horsham gewesn!« brüllte er. »Ich weiß nich, wovon man da quasselt! Ich werd euch nichts sagen! Überhaupt nichts! Schmeißn Sie die raus, Johnson!«

 

Als sie wieder auf der Straße standen, sagte Johnson: »Ich habe nie gewußt, daß er trinkt. Er war abstinent, solange ich ihn gekannt habe.«

 

Der Philosoph ging sehr niedergedrückt noch ein Stückchen Wegs mit ihnen. Wie er Elk mitteilte, mußte er morgen aus seiner Wohnung in Fitzroy Square ausziehen, um im Süden Londons zwei billige Zimmer zu bewohnen.

 

Gordon machte Elk ein Zeichen, Johnson zu verabschieden, und als dieser sie verließ, sagte er: »Wir müssen heute noch zwei von unseren Leuten in Maitlands Haus bringen. Aber was für Entschuldigungen können wir um Gottes willen erfinden, wenn wir sie hinkommandieren?«

 

»Ich weiß nicht«, gestand Elk und kratzte verzweifelt sein Kinn. »Bevor wir ihn verhaften, müssen wir ja erst eine Vollmacht haben. Wir können leicht eine Hausdurchsuchung durchsetzen, aber darüber hinaus können wir kaum gehen, falls er nicht selber um Schutz bittet.«

 

»Dann müssen Sie ihn verhaften!« antwortete Dick heftig.

 

»Ja, aber unter welcher Anklage?«

 

»Beschuldigen Sie ihn, mit Balder in Verbindung zu stehen. Bringen Sie ihn, wenn nötig, auf das Polizeikommissariat, aber es muß sofort geschehen.«

 

Elk geriet außer sich. »Es ist keine Kleinigkeit, einen ›Millionär‹ zu arretieren, müssen Sie wissen. In Amerika ist das vermutlich sehr einfach. Wie man mir gesagt hat, kann man dort den Präsidenten selbst festnehmen, wenn man ihn mit einem Fläschchen in der Tasche überrascht. Aber bei uns sieht es doch ein bißchen anders aus.«

 

Dick mußte feststellen, daß Elk im Recht gewesen war, als er versuchte, die nötigen Vollmachten zu erhalten.

 

Erst nachmittags um vier wurden ihm diese durch einen Beamten des widerstrebenden Gerichts ausgefolgt, und von Polizeibeamten begleitet, kehrten sie in Maitlands Palais zurück.

 

Der Lakai, der sie einließ, sagte ihnen, daß Herr Maitland sich zur Ruhe begeben habe und daß er es nicht wagen würde, ihn zu stören.

 

»Wo liegt sein Zimmer?« fragte Dick. »Ich bin Hilfsdirektor der Staatsanwaltschaft und muß ihn sprechen!«

 

»Im zweiten Stock.« Der Diener wies sie an den Lift, der sie ins zweite Stockwerk beförderte. Gegenüber dem Liftgitter, das Dick öffnete, lag eine große Doppeltür, die schwer poliert und kunstvoll vergoldet war.

 

»Sieht wie der Eingang in ein Theater aus!« murmelte Elk.

 

Dick klopfte. Keine Antwort.

 

Aber dann warf sich der junge Mann zu Elks Überraschung mit seiner ganzen Kraft gegen die Tür. Man hörte das Holz splittern und die Tür brach ein.

 

Dick blieb wie angewurzelt am Eingang stehen. Ezra Maitland lag auf seinem Bett, seine Beine fielen schlaff zur Seite herab. Ihm zu Füßen kauerte die niedergesunkene Gestalt der alten Frau, die er Mathilda genannt hatte.

 

Sie waren beide tot, und scharf riechender Qualm hing noch in blauer Wolke unter der Decke.

 

Kapitel 29

 

29

 

Dick stürzte an das Bett, und ein Blick auf die stillen Gestalten sagte ihm alles.

 

»Erschossen!« murmelte er und sah zu der Rauchwolke an der Decke auf. »Es kann auch schon vor einer Viertelstunde geschehen sein. Dieses Zeug hängt oft stundenlang in der Luft.«

 

»Halten Sie jeden Bediensteten im Hause fest!« befahl Elk halblaut seinen Leuten.

 

Sie traten durch einen Gang in ein kleines Schlafzimmer, das augenscheinlich von Maitlands Schwester bewohnt worden war.

 

»Der Schuß wurde hier vom Eingang aus abgefeuert«, sagte Dick. »Vermutlich hat man mit einem Schalldämpfer gearbeitet.« Er suchte auf dem Boden nach und fand zwei ausgeworfene Hülsen einer schwerkalibrigen, automatischen Pistole. »Das habe ich befürchtet. Wenn ich nur unsere Leute im Haus gehabt hätte!«

 

»Ja, haben Sie denn erwartet, daß man ihn umbringen wird?« fragte Elk erstaunt.

 

Dick nickte. Er untersuchte das Fenster im Zimmer der Frau. Es war offen, und unter ihm lief eine schwindelnd schmale Brüstung hin. Von ihr aus konnte man in ein anderes Zimmer desselben Stockwerks gelangen, und der Mörder hatte auch gar keinen Versuch gemacht, die Tatsache zu verbergen, daß er sich dieses Weges bedient hatte.

 

Es waren auf dem Fußboden feuchte Spuren zu sehen, und sie führten in das Gastzimmer, dessen Tür sich auf den Treppenflur öffnete, einer Anzahl von schmalen Stufen gegenüber, die zu den Dienerzimmern im Oberstock führten.

 

Elk kniete nieder und prüfte sorgfältig die Spuren auf dem Boden. Der dritte Stock bestand ausschließlich aus Dienerzimmern, und sie konnten die Spuren geradeaus bis zu Nummer Eins verfolgen. Elk drückte die Klinke nieder, aber die Tür war verschlossen.

 

Dick trat einen Schritt zurück, hob den Fuß und trat sie ein. Das Zimmer war leer. Ein Bodenfenster öffnete sich auf das geneigte Dach, und ohne einen Augenblick zu zögern, schwangen Elk und Dick sich hinaus, um dem schmalen Gang zu folgen.

 

Als sie eine Strecke auf allen vieren gekrochen waren, wurde der Weg durch ein eisernes Geländer geschützt, und sie vermochten sich aufzurichten. Augenscheinlich war dies einer der Fluchtwege des Palais bei Feuergefahr.

 

Sie liefen atemlos über die Dächer hin, bis sie zu einer kurzen eisernen Treppe kamen, die auf das flache Dach eines vierten Hauses und zu einem Feuerausgang führte. Jetzt stand die eiserne Tür offen, und sie rannten die Treppe hinunter, bis sie in einen Hof gelangten, der an drei Seiten von hohen Feuermauern und an der vierten von der Hinterseite eines Hauses umgeben war.

 

Das Haus schien nicht bewohnt, denn an allen Fenstern waren die Jalousien herabgelassen. In der dritten Mauer stand ein Tor weit offen. Und als die beiden Verfolger es durchlaufen hatten, befanden sie sich in einem Stallgebäude.

 

Ein Mann war gerade damit beschäftigt, ein Auto zu waschen. Und sie eilten auf ihn zu.

 

»Ja, Herr!« sagte«der Mann und wischte sich mit dem Handrücken die schweißtriefende Stirn, »ich habe vor fünf Minuten einen Mann herauskommen sehen, der es sehr eilig gehabt hat. Einen Diener oder einen Lakaien, ich habe ihn aber nicht erkannt.«

 

»Hat er einen Hut getragen?«

 

Der Mann dachte nach. »Ich glaube ja, Herr«, sagte er. »Er ist dort hinausgelaufen.«

 

Er wies ihnen die Richtung, und Gordon und Elk eilten weiter und bogen in die Berkeley Straße ab.

 

Als sie verschwunden waren, wendete sich der Wagenwäscher nach der versperrten Tür seiner Garage und pfiff leise.

 

Langsam öffnete sich die Tür, und Joshua Broad kam hervor.

 

»Danke Ihnen schön!« sagte er, und eine neue knisternde Banknote glitt in die Hand des Mannes.

 

Broad war längst verschwunden, als Gordon und Elk von ihrer vergeblichen Suche zurückgekehrt waren.

 

Nach Dicks Meinung konnte kein Zweifel herrschen, wer der Mörder gewesen war, denn es fehlte einer der Lakaien. Sechs Diener waren brave Leute von untadeligem Charakter. Der siebente aber war zur selben Zeit wie Herr Maitland ins Haus gekommen, und obgleich er die Livree des Lakaien trug, so schien es doch, als habe er vorher nicht die geringste Erfahrung in den zu verrichtenden Pflichten gesammelt. Er war ein unbeliebter Mann, der sich abseits der anderen Dienerschaft hielt und keine Sekunde länger im Dienerzimmer blieb, als es nötig war.

 

»Offenbar ein Frosch!« sagte Elk und war außer sich vor Freude, zu hören, daß eine Fotografie des Mannes existierte, die ihren Ursprung in einem weitschweifigen und harmlosen Witz, dessen Objekt die Köchin war, hatte. Der Spaß hatte darin bestanden, daß man im Arbeitskorb der Köchin eine Fotografie des häßlichen Mannes auffinden sollte, zu welchem Zwecke der jüngste Lakai eine Momentaufnahme gemacht hatte.

 

»Kennen Sie ihn?« fragte Dick, indem er das Bild betrachtete. Elk nickte. »Er ist schon durch meine Hände gegangen, und ich glaube nicht, daß es mir schwerfallen wird, mich seiner zu erinnern, obgleich mir für den Moment sein Name entfallen ist.«

 

Die Nachforschungen im Statistikbüro offenbarten bald die Identität des Flüchtlings, und es erschien eine Vergrößerung des Bildes, der Name des Dieners, die Namen, die er früher getragen hatte, und die allgemeinen Charakteristika in allen Abendblättern.

 

Einer der Diener gab an, den Schuß gehört zu haben. Aber er war der Meinung gewesen, es sei nur eine Tür zugeschlagen worden, ein verzeihlicher Irrtum, denn Herr Maitland besaß die Gewohnheit, alle Türen schmetternd zuzuschlagen.

 

»Maitland war ein ganz richtiggehender Frosch«, berichtete Elk, nachdem er den Leichnam in die Totenhalle hatte überführen lassen. »Auf dem linken Handgelenk ist er wunderschön dekoriert; der Frosch sitzt ordnungsgemäß ein bißchen schief. Nebenbei gesagt, ist das einer der Punkte, den Sie mir nie geklärt haben, Hauptmann Gordon. Warum es schick ist, auf dem linken Handgelenk tätowiert zu sein, das kann ich noch verstehen, aber warum der Frosch nicht gerade tätowiert wird, das wird mir nie klarwerden.«

 

Der vermißte Lakai hatte am Nachmittag ein Telegramm erhalten. Man entsann sich dessen erst, nachdem Elk in die Polizeidirektion zurückgekehrt war.

 

Ein Telefonanruf beim Bezirkspostamt brachte eine Kopie der Drahtnachricht. Sie lautete sehr einfach: »Schlußmachen und verschwinden!« Das waren die drei Worte ihres Inhalts.

 

Die Botschaft trug keine Unterschrift. Sie war um zwei Uhr beim Hauptpostamt aufgegeben worden, und der Mörder hatte keine Zeit verloren, seine Instruktionen auszuführen.

 

Maitlands Büro war in Händen der Polizei, und eine systematische Untersuchung der Dokumente und Bücher war im Gange. Um sieben Uhr abends begab sich Elk nach Fitzroy Square, und Johnson öffnete ihm mit erstaunter Miene die Tür. Elk sah den Gang mit Möbeln und Packkisten angefüllt und erinnerte sich, daß Johnson ihn am frühen Morgen von seinem bevorstehenden Umzug unterrichtet hatte.

 

»Sie haben schon gepackt?«

 

Johnson nickte. »Ich gehe sehr ungern von hier fort«, sagte er. »Aber es ist hier leider viel zu teuer für mich. Es scheint, als ob ich nie eine andere Stellung bekommen soll, und ich möchte dieser Möglichkeit vernünftig ins Gesicht sehen. Wenn ich in Balham wohne, kann ich recht bequem leben, und ich habe nicht viel kostspielige Liebhabereien.«

 

»Und wenn Sie sie haben, so können Sie ihnen jetzt nach Belieben frönen«, sagte Elk. »Wir haben das Testament des Alten gefunden. Er hat ihnen alles vermacht.«

 

Johnson riß Mund und Augen auf. »Machen Sie einen Witz?« fragte er.

 

»Ich war noch nie in meinem Leben so ernst. Der Alte hat Ihnen alles, bis auf den letzten Penny, vermacht. Hier ist eine Testamentsabschrift. Ich dachte mir, daß Sie sie gern sehen würden.« Er öffnete seine Brieftasche, zog ein Papier heraus, und Johnson las:

 

»Ich, Ezra Maitland, wohnhaft in Eldorstraße Nummer 193, Grafschaft Middlesex, erkläre dies als meinen Letzten Willen und verfüge formell, daß alle anderen Testamente und Kodizille zugunsten dieses hier für ungültig erklärt werden. Ich vermache meinen ganzen beweglichen und unbeweglichen Besitz, alle Ländereien, Häuser, Urkunden, Anteile an Aktiengesellschaften jeglicher Art, alle Anwartschaften, allen Schmuck, Autos, Wagen, also meine ganze gesamte Habe ausschließlich Philipp Johnson, Fitzroy Square Nummer 431, Beamter in London. Ich erkläre, daß er der einzige ehrliche Mensch ist, den ich je in meinem langen, kummervollen Leben angetroffen habe, und ich weise ihn an, sich mit der unermüdlichen Sorgfalt der Vernichtung der Organisation zu widmen, die als jene der Frösche bekannt ist und die vierundzwanzig Jahre lang große Summen von mir erpreßt hat.«

 

Es war in einer Johnson vertrauten Handschrift unterzeichnet und von zwei Zeugen gegengezeichnet, deren Namen er kannte. Johnson setzte sich nieder und schwieg eine lange Zeit hindurch. »Ich habe in den Abendblättern von seiner Ermordung gelesen«, sagte er nach einer Weile. »Ich bin auch zum Haus hingegangen, aber die Polizisten haben mich an Sie gewiesen, und ich wußte, daß Sie viel zu sehr beschäftigt waren, als daß ich Sie hätte stören dürfen. Wie ist er getötet worden?«

 

»Erschossen!« sagte Elk.

 

»Haben Sie den Mann gefangen?«

 

»Wir werden ihn wohl morgen früh haben«, sagte Elk mit Überzeugung. »Jetzt, da Balder sitzt, gibt es ja niemanden, der die Frösche warnt, wenn wir ihnen nachstellen.«

 

»Es ist wirklich schrecklich«, sagte Johnson nach einer Pause. »Aber das hier«, und er sah das Papier an, »hat mir den Rest gegeben. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hätte er es doch nicht getan«, seufzte Johnson mit Ausdruck. »Ich hasse so große Verantwortung. Mein Temperament ist nicht danach angetan, daß ich so große Geschäfte zu führen vermöchte. Nein, ich wollte wirklich, er hätte es nicht getan.«

 

»Nun, wie hat er es aufgenommen?« fragte Dick, als Elk zurückkehrte.

 

»Er ist absolut kopfscheu geworden«, sagte Elk. »Armer Teufel! Er hat mir geradezu leid getan, und ich hätte in meinem Leben nicht geglaubt, daß mir einer leid tun könnte, der zu so einem Haufen Geld gekommen ist. Er war gerade im Begriff, in die billigere Wohnung umzuziehen, als ich ankam. Er wird wohl nicht in das Palais des Prinzen von Caux übersiedeln. Aber die Veränderung in Johnsons Lebensführung mag wohl auch eine solche für Ray Bennett zur Folge haben, haben Sie das bedacht, Herr Hauptmann?«

 

»Ja, ich habe an diese Möglichkeit schon gedacht«, sagte Dick kurz.

 

Am Nachmittag hatte Dick eine Unterredung mit dem Chef der Staatsanwaltschaft, die auf Balder Bezug hatte. Der Chef stimmte seinen eigenen Befürchtungen bei.

 

»Ich sehe keine Möglichkeit, wie wir ein auf Mord lautendes Urteil erzielen sollen«, sagte er. »Obgleich es so klar war, wie das Tageslicht ist, daß er Mills vergiftet hat und für das Bombenattentat verantwortlich ist. Aber man kann jemanden nicht auf bloßen Verdacht hin hängen. Sogar dann nicht, wenn der Verdacht nicht den geringsten Zweifel übrig läßt. Wie meinen Sie wohl, hat er Mills umgebracht?«

 

»Mills war erkältet«, sagte Dick. »Er hat schon den ganzen Weg im Auto gehustet und Balder gebeten, das Fenster zu schließen. Balder hat das Fenster geschlossen und dem Mann eine Blausäuretablette zugesteckt, indem er vorgab, daß es ein Mittel gegen Erkältung wäre. Es war durchaus natürlich für Mills, die Pastille zu nehmen. Ich bin ganz sicher, daß es sich so abgespielt hat. Wir haben Balders Haus in Slough durchsucht und ein Duplikat des Schlüsselbundes gefunden, darunter auch einen Schlüssel zu Elks Safe. Balder kam zeitig am Morgen her und legte die Bombe, da er wohl wußte, daß Elk die Taschen nochmals öffnen würde.«

 

»Und dann hat er Hagn zur Flucht verholfen«, meinte der Staatsanwalt.

 

»Und das war noch viel einfacher«, erklärte Dick. »Ich vermute, daß der Inspektor, den man um halb drei Uhr hinausgehen gesehen hat, Hagn war. Als Balder in die Zelle eingelassen wurde, hatte er unter seinen Kleidern die Inspektoruniform getragen und hatte die nötigen Handschellen und Nachschlüssel mit. Er ist ja nicht untersucht worden. Und dafür bin ich ebenso verantwortlich wie Elk. Die Hauptgefahr, in der wir schweben, bestand in Balders Intimität mit uns und der Möglichkeit, dem Frosch sofort jede Bewegung, die wir machten, mitzuteilen.

 

Sein Name ist Kramer. Er ist gebürtiger Litauer. Er wurde aus Deutschland im Alter von achtzehn Jahren revolutionärer Umtriebe wegen ausgewiesen, zwei Jahre später kam er nach England, wo er eine Stellung bei der Polizei zu erhalten wußte. Wann er mit den Fröschen in Kontakt kam, weiß ich nicht. Aber es ist durch Beweise erhärtet worden, daß der Mann in verschiedene ungesetzliche Operationen verwickelt war. Ich fürchte, daß es ungeheuer schwer halten wird, ihn des Mordes zu überführen, bevor wir nicht den Frosch selbst gefangen haben.«

 

»Und wagen Sie wirklich zu hoffen, daß Sie den Frosch fangen werden, Hauptmann Gordon?«

 

Dick Gordon verbeugte sich und lächelte.

 

Über den Mord an Maitland und seiner Schwester liefen keine neuen Nachrichten ein, und Dick benützte die kurze Ruhepause mit Enthusiasmus.

 

Ella Bennett war gerade im Gemüsegarten mit der prosaischen Aufgabe des Kartoffelausgrabens beschäftigt, als Dicks Auto vor dem Gartentor hielt. Ella streifte ihre ledernen Handschuhe ab, während sie ihm entgegenlief.

 

»Das ist ja eine herrliche Überraschung!« sagte sie und wurde rot als ihr ihre eigene Freude bewußt wurde. »Es muß jetzt eine schreckliche Zeit für Sie sein. Ich habe heute morgen die Zeitungen gelesen. Ist es nicht entsetzlich? Der arme Herr Maitland! Er ist zweimal hier gewesen und war jedesmal völlig verzweifelt.«

 

»Wissen Sie, daß er Herrn Johnson sein ganzes Vermögen vermacht hat?«

 

»Aber das ist doch herrlich!« jubelte Ella.

 

»Mögen Sie Herrn Johnson so gut leiden?« sagte er.

 

»Ja, er ist ein netter Mensch«, nickte sie.. »Ich kenne ihn ja nicht allzu gut, aber er war immer sehr lieb zu Ray und hat ihm viel Unannehmlichkeiten erspart. Ob er wohl jetzt, da ihm das Bankhaus gehört, Ray bewegen wird, zu den Vereinigten Maitlands zurückzukehren?«

 

»Ich möchte wissen, ob er Sie dazu bewegen wird . . .« Er stockte.

 

»Wozu?« fragte sie erstaunt.

 

»Johnson hat Sie sehr gern. Er hat diese Tatsache nie verheimlicht. Und jetzt ist er ein sehr reicher Mann. Nicht, daß ich glaube, daß es für Sie einen Unterschied ausmachen würde!« fügte er hastig hinzu. Und dann sagte er leise: »Ich bin nicht reich, aber. . .«

 

Die zarten Finger, die er mit seiner Hand umschloß, preßten die seinen in kurzem Druck, dann aber ließen sie plötzlich los.

 

»Ich weiß nicht«, sagte sie und wendete sich ab, »Vater hat gesagt. ..« Sie zögerte. »Ich weiß nicht, ob Vater damit einverstanden wäre. Er glaubt, daß in unserer gesellschaftlichen Stellung ein so riesiger Unterschied liegt.«

 

»Unsinn!« sagte Dick ungezogen.

 

»Und dann ist da noch etwas.« Es kostete sie Anstrengung zu sagen, was es war. »Ich weiß nicht, was Vater für einen Beruf hat, aber es muß eine Arbeit sein, über die er nie sprechen will. Etwas, das er selbst als entehrend ansieht.«

 

Die letzten Worte sprach sie so leise, daß er sie kaum hörte.

 

»Nun, und vorausgesetzt, daß ich das Schlimmste über Ihren Vater wissen würde?«

 

Sie trat zurück und sah ihn mit gerunzelten Brauen an.

 

»O Gott, was ist es, Dick?«

 

Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht weiß ich gar nichts, es ist nur eine wilde Vermutung. Aber Sie dürfen nichts darüber sagen, daß ich etwas weiß oder in irgendeiner Weise Verdacht geschöpft habe. Wollen Sie mir, bitte, diesen Gefallen tun?«

 

»Und wenn Sie alles wüßten, würde sich dann irgend etwas verändern?« fragte sie mit schwacher Stimme.

 

»Nicht das geringste.«

 

Er schlang seinen Arm um ihre zuckenden Schultern und legte seine Hand unter ihr Kinn.

 

»Mein Liebling«, murmelte er, und der jugendliche Staatsanwalt vergaß, daß es den Mord auf der Welt gab.

 

John Bennett freute sich, Dick zu sehen, weil er ihm gern eine Neuigkeit mitteilen wollte, die für ihn einen Triumph bedeutete. Er zeigte Dick Zeitungsausschnitte, die den Titel »Wundervolle Naturstudien«, »Bemerkenswerte Filmaufnahmen eines Amateurs!« trugen. Auch hatte er einen Scheck erhalten, dessen Höhe ihm den Atem verschlug.

 

»Sie wissen gar nicht, was das für mich bedeutet, Gordon«, sagte er. »Pardon, Hauptmann Gordon. Ich vergesse immer, daß Sie einen militärischen Titel haben. Wenn mein Junge nur seine Besinnung erlangt und nach Hause zurückkehrt, so soll es ihm ganz so gut gehen, wie er es sich immer gewünscht hat. Er ist in einem Alter, in dem die meisten Jungen Narren sind.«

 

Es erleichterte Dick, den alten Mann so sprechen zu hören.

 

»Wenn es so fortgeht, werde ich heute in einem Jahr ein Künstler sein, der nur dem eigenen Vergnügen lebt«, sagte John Bennett, den die Freude um zehn Jahre verjüngt hatte.

 

Er hatte einen Besuch in Dorking zu machen. Anscheinend wurden die Briefe, die sich auf seine mysteriösen Ausflüge bezogen, für ihn nach jener Stadt adressiert. Dick bot ihm an, ihn im Auto hinüberzufahren, aber Bennett wollte davon nichts wissen. Dick verließ Horsham mit viel leichterem Herzen, als er in die kleine Stadt gekommen war.

 

Kapitel 30

 

30

 

Lew Brady saß trostlos in Lolas Salon, und es war unmöglich, sich eine weniger passende Figur in diesen zarten Rahmen zu denken. Achttägiger Bartwuchs hatte ihn in einen unappetitlich aussehenden Raufbold verwandelt, und die beschmutzten Kleider, die er trug, die zerrissenen Stiefel, die ihre Farbe verloren hatten, das schmierige Hemd, machten ihn im Verein mit seinem unreinlichen Äußeren zu einer abstoßenden Figur.

 

Das dachte auch Lola, die ihn bedrückt ansah.

 

»Ich mache Schluß mit den Fröschen!« brummte Lew, »er zahlt, ja natürlich zahlt er, aber wie lange wird das noch so weitergehen, Lola? Du bist es, die mich in die Patsche gebracht hat!« Er blickte sie finster an.

 

»Ich habe dich in die Patsche gebracht, als du hineingebracht zu werden wünschtest«, sagte sie ruhig. »Du kannst nicht dein ganzes Leben lang von meinen Ersparnissen zehren, und es war höchste Zeit, daß du etwas auf die Seite zu legen anfingst.«

 

Er spielte mit einem silbernen Petschaft, das er zwischen den Fingern hin- und herrollte und hielt die Augen düster gesenkt, von Ahnungen gepeinigt.

 

»Balder ist eingesteckt und der Alte tot«, sagte er. »Und das waren die Großen. Was für Chancen bleiben mir?«

 

»Wie lauten deine Instruktionen?« fragte sie zum zwanzigsten Male an jenem Tag. Er schüttelte den Kopf.

 

»Ich setze mich keiner Gefahr aus, Lola. Ich vertraue keinem, nicht einmal dir.« Er nahm ein Fläschchen aus seiner Tasche und hielt es prüfend gegen das Licht.

 

»Was ist das?« fragte sie neugierig.

 

»Irgendeine Art von Schlafmittel.«

 

»Gehört das auch zu deinen Instruktionen?« Er nickte.

 

»Wirst du deinen eigenen Namen tragen?«

 

»Nein, das nicht«, sagte er kurz. »Frag mich nicht mehr. Du siehst, daß ich dir nichts verraten will. Der Ausflug soll vierzehn Tage dauern, aber wenn es vorbei ist, dann ist es auch vorbei mit den Fröschen.«

 

»Und der Junge? Geht der mit dir?«

 

»Wie soll ich das wissen? Ich soll irgendwen irgendwo treffen, das ist das Ganze. Das letztemal für die nächsten Tage, daß ich in einem anständigen Salon sitze.« Er nickte ihr kurz zu und ging zur Tür. Es gab eine Dienertreppe, einen Ausgang, den man von der Küche her erreichte, und er ging ihn unbeobachtet hinab und in die Nacht hinaus.

 

Es war von neuem Nacht, als er Barnet erreichte. Die Füße schmerzten ihn, ihm war heiß; und er fühlte sich sehr elend. Er hatte die Schmach erduldet, vom Bürgersteig durch einen Polizisten verjagt zu werden, den er mit einer Hand hätte niederschlagen können. Er verfluchte den Frosch bei jedem Schritt, den er tat. Als er Barnet verließ, lag noch ein langer Weg vor ihm, und die Dorfuhr schlug bereits elf, als er auf eine Gestalt stieß, die am Straßenrand saß. Sie war im blassen Mondlicht gerade noch sichtbar, aber er erkannte sie erst, als der Wartende zu sprechen begann.

 

»Sind Sie das?« fragte eine Stimme.

 

»Ja, ich bin es. Und du bist Carter, nicht wahr?«

 

»Ach, Gott im Himmel«, staunte Ray, als er die Stimme erkannte. »Lew Brady?«

 

»Nichts davon!« knurrte der andere. »Ich heiße Phenan und du bist Carter. Setz dich ein bißchen nieder, ich bin todmüde.«

 

»Was soll jetzt geschehen?« fragte Ray, als sie nebeneinander saßen.

 

»Zum Teufel, woher soll ich das wissen?« fragte der andere wild und zog vorsichtig seine Stiefel aus, um die wunden Füße zu reiben.

 

»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie es sind!« sagte Ray.

 

»Ich habe es ganz gut gewußt«, sagte der andere.

 

»Aber wozu man die Aufforderung an uns hat ergehen lassen, einen Ausflug in diese schöne Gegend zu machen, das weiß Gott.«

 

Nach einer Weile war Lew genügend ausgeruht, um den Weg fortzusetzen.

 

»Es gibt da irgendwo eine Scheune, die dem Kaufmann im nächsten Dorf gehört. Er wird uns für ein paar Pence dort schlafen lassen.«

 

»Warum versuchen wir nicht, ein Zimmer zu bekommen?«

 

»Sei kein Idiot!« fiel ihm Lew ins Wort. »Wer wird ein paar Landstreicher aufnehmen? Wir wissen, daß wir sauber sind, aber die nicht. Nein, wir müssen schon den Weg gehen, den Landstreicher nehmen.«

 

»Wohin? Nach Nottingham?«

 

»Ich weiß nicht. Wenn man dir geschrieben hat, daß wir nach Nottingham gehen sollen, so sage ich dir, daß es der letzte Platz auf der ganzen Welt ist, wohin wir gehen sollen. Ich habe ein versiegeltes Kuvert in der Tasche. Wenn wir Baldock erreichen, soll ich es aufmachen.«

 

So verbrachten sie die Nacht in der Scheune, einem zugigen Schuppen, der, wie es schien, von Hühnern und Ratten bevölkert war. Ray hatte eine schlaflose Nacht und dachte sehnsüchtig an sein liebes Bett in Maytree Haus. Merkwürdig genug, sehnte er sich keinen Augenblick nach seiner fürstlichen Wohnung in Knightsbridge zurück. Am nächsten Tag regnete es, und sie erreichten Baldock erst spät am Nachmittag. Unter dem Schutz einer Hecke öffnete Brady den Brief und las ihn, während sein Gefährte ihn erwartungsvoll beobachtete:

 

›Du wirst von Baidock abzweigen und den nächsten Zug nach Bath nehmen. Dann gehst Du auf der Landstraße nach Gloucester. Im Dorfe Laverstock wirst Du Carter mitteilen, daß Du mit Lola Bassano verheiratet bist. Du wirst ihn in den »Roten Löwen« führen und es ihm dort so herausfordernd wie möglich mitteilen, um einen Streit vom Zaun zu brechen. Aber unter keinen Umständen darfst Du ihm erlauben, sich von Dir zu trennen. Ihr geht weiter nach Jbbley Copse. Dort wirst Du einen Landstrich finden, wo drei abgestorbene Bäume stehen. Dort machst Du halt, nimmst das Geständnis, daß Du mit Lola verheiratet bist, zurück und entschuldigst Dich. Du trägst eine Whiskyflasche bei Dir und mußt zu dieser Zeit das Schlafmittel schon mit dem Whisky vermengt haben. Nachdem er eingeschlafen ist, gehst Du weiter nach Gloucester, Hendrystraße Nummer 289, wo Du eine vollkommene Neuausrüstung finden wirst. Hier rasierst Du Dich und kehrst mit dem 2.19-Uhr-Zug in die Stadt zurück.‹

 

Lew las jedes Wort, jede Silbe wieder und wieder, bis er sich den Inhalt eingeprägt hatte. Dann entzündete er ein Streichholz, hielt das Papier daran und sah zu, wie es verbrannte. Den Befehl hatte er fast auswendig gelernt.

 

»Was hast du für Instruktionen?« fragte Ray.

 

»Dieselben wie du, vermute ich. Was hast du damit gemacht?«

 

»Auch verbrannt«, sagte Ray. »Weißt du, wohin wir gehen?«

 

»Wir schlagen die Straße nach Gloucester ein. Das heißt, daß wir über Land gehen müssen, bis wir die Straße nach Bath erreichen. Dort können wir den Zug nach Bath nehmen.«

 

»Gott sei Dank!« sagte Ray inbrünstig. »Ich glaube nicht, daß ich noch einen Schritt machen kann.«

 

Um sieben Uhr abends stiegen zwei Vagabunden auf dem Bahnhof von Bath aus einem Wagen dritter Klasse. Einer, der jüngere, hinkte leicht und setzte sich auf eine Bahnhofsbank.

 

»Komm weiter, hier können wir nicht bleiben«, sagte der andere mürrisch. »Wir müssen in der Stadt ein Bett kriegen. Es gibt hier irgendwo eine Heilsarmeeunterkunft.«

 

»Warte noch«, sagte der Jüngere. »Ich habe vom Sitzen in dem verfluchten Wagen den Krampf bekommen. Ich kann mich kaum rühren.«

 

Der Zug, mit dem sie angekommen waren, fuhr zur selben Zeit wie der Londoner in der Halle ein, und die Passagiere hasteten die Stufen zum unteren Durchgang hinab, während Ray ihnen neidisch nachblickte. Die hatten eine Heimat, wohin sie gehen konnten, reine, bequeme Betten, um darin zu schlafen. Der Gedanke daran verursachte ihm Pein.

 

Plötzlich blieb sein Auge an einer Gestalt in der Menge haften, einem großen, vierschrötigen Mann, und Ray fuhr zurück.

 

Es war sein Vater.

 

John Bennett ging die Stufen hinab, und sein zufälliger Blick erfaßte im Vorüberstreifen die zwei schmutzigen Stromer auf der Bank. Er ließ sich nicht träumen, daß der eine von ihnen sein Sohn war, für dessen Zukunft er gerade Pläne geschmiedet hatte. Er ging in die Stadt, holte seine Kamera in einer Schenke ab, wo er sie zurückgelassen hatte, hob den schweren Kasten auf den Rücken und machte sich mit seiner Reisetasche auf den Weg.

 

Ein Polizeimann sah ihm mißbilligend nach und schien unschlüssig, ob er ihn nicht zurückhalten solle.

 

Die Stärke und Ausdauer des grauhaarigen Mannes waren bemerkenswert.

 

Er erstieg einen Hügel, ohne seinen Schritt zu verlangsamen, erreichte den Gipfel und schritt auf der weißen Straße weiter. Unter ihm erstreckte sich das Wiesengelände von Somerset, weite Felder von Viehherden gesprenkelt und glitzernd im Licht, wo der Fluß sich durch sie hinwand. Der Himmel über ihm war leuchtend blau, hier und da mit weißen Wolken besät. Wie er so dahinging, ward sein Herz leicht. Alles, was schön und glücklich in seinem Leben gewesen war, fiel ihm ein. Er dachte an Ella und an all das, was sie ihm bedeutete, und an Dick Gordon – aber das war ein Gedanke, der ihn schmerzte. Und er flüchtete zu den Zeitungskritiken zurück.

 

Er schritt stetig aus. Man hatte ihm gesagt, daß man in dieser Gegend Dachse zu sehen bekäme. Ein Mann, den er im Zuge gesprochen hatte, hatte ihm ein wahres Paradies für Naturliebhaber genau bezeichnet, und es war dieser schöne Flecken, zu dem Bennett nun mit Hilfe einer Landkarte, die er des Nachts bei einem Papierhändler gekauft hatte, den Weg nahm. Nach einer weiteren Stunde kam er in einen waldbewachsenen Hohlweg, und als er seine Karte befragte, fand er, daß er sein Ziel erreicht hatte.

 

Alles, was sein zufälliger Freund aus dem Zug berichtet hatte, bestätigte sich. Er sah ein Hermelin, das einem erschrockenen Kaninchen nachraste, einen Habicht, der unaufhörlich mit ausgebreiteten Fittichen über ihm kreiste, und plötzlich fand er, wonach er auf der Suche war: den kunstvoll versteckten Eingang zu einem Dachsbau.

 

In den Jahren, in denen er seinem Steckenpferd nachging, hatte Bennett so manche Schwierigkeit besiegt und dabei viel gelernt. Und heute wollte er beweisen, daß früheres Mißgeschick ihn die Kunst gelehrt habe, sich zu verbergen. Er brauchte lange Zeit dazu, um seinen Apparat in einem wilden Lorbeerbusch aufzustellen, und war trotzdem darauf gefaßt, daß es nötig sein würde, eine lange Aufnahme zu machen, denn er kannte den Dachs als das scheueste Tier seiner Art. Es waren junge Dachse im Bau. Bennett sah ihre Spuren, und er wußte, daß ein Dachs, der Junge hat, doppelt scheu ist. Bennett hatte den pneumatischen Auslöser durch eine elektrische Erfindung ersetzt, die ihm mit größerer Sicherheit zu arbeiten erlaubte. Er rollte den Draht seiner ganzen Länge nach ab und nahm selbst auf dem Abhang des Hügels, etwa fünfzig Meter entfernt, seinen Posten ein. Dort machte er es sich bequem. Er legte seinen Rock ab, der ihm als Kissen dienen sollte, und nahm seinen Feldstecher zur Hand.

 

Er hatte eine halbe Stunde gewartet, als er eine Bewegung an der Mündung des Baues zu sehen glaubte und langsam sein Glas danach richtete. Er sah eine schwarze Nasenspitze und ergriff den Auslöser. Minuten folgten auf Minuten, fünf – zehn – fünfzehn, aber es kam keine weitere Bewegung in das Dickicht, und fast war John Bennett froh darüber, denn die Wärme des Tages ließ ihn zusammen mit seiner Müdigkeit, wie er so auf dem Gras lag, ein Gefühl körperlicher Erschlaffung verspüren. Tiefer und tiefer wurde dieses wohlige Gefühl der Ermattung, das wie ein Nebel alles Sichtbare und Hörbare verdunkelte.

 

John Bennett schlief ein, und wie er schlief, träumte er von Erfolg und Frieden und Freiheit, von alledem, was sein Herz zerbrochen hatte. Er hörte Stimmen im Traum und einen scharfen Ton, wie einen Schuß. Aber er wußte, daß es kein Schuß war und schauderte. Er kannte diesen Ton und ballte im Schlaf krampfhaft die Hände. Der Auslöser war noch in seiner Hand.

 

An jenem Morgen kamen um neun Uhr zwei hinkende Vagabunden nach Leverstock. Der größere von ihnen blieb an der Tür des ›Roten Löwen‹ stehen, und ein mißtrauischer Wirt beobachtete die neuen Gäste hinter dem Vorhang hervor, der den Stammgästen der Schenke eine halbe Abgeschlossenheit gab.

 

»Komm herein!« brummte Lew Brady.

 

Ray war froh, folgen zu können. Die Gestalt des Wirtes blockierte den Eingang.

 

»Was wollt ihr?« fragte er.

 

»Wir möchten etwas trinken.«

 

»Hier gibt es keine Gratisgetränke«, sagte der Wirt und sah die zweideutigen Kunden von Kopf bis Fuß an.

 

»Was plappern Sie da von gratis?« fauchte Lew. »Mein Geld ist grad so rund wie das von jedem andern.«

 

»Wenn’s ehrlich erworben ist, schon«, sagte der Wirt. »Laß einmal sehen.«

 

Lew zog eine Handvoll Silber heraus, und der Wirt vom ›Roten Löwen‹ trat zurück. »Na, kommt herein«, sagte er. »Aber glaubt nicht etwa, daß ihr da zu Hause seid. Ihr könnt etwas trinken, aber dann trollt euch!«

 

Lew bestellte brummend, der Wirt goß die beiden Gläser ein und brachte sie an den Tisch.

 

»Da ist deiner, Carter«, sagte Lew. Und Ray schluckte das feurige Getränk hinab, an dem er fast erstickte.

 

»Ich werd‘ auch sehr froh sein, wenn ich zurückgehen kann«, sagte Lew mit leiser Stimme. »Euch Junggesellen macht es ja nichts aus, aber uns Verheirateten fällt das Herumvagabundieren schwer. Auch wenn die Frauen grad nicht so sind, wie sie sein sollten.«

 

»Ich habe gar nicht gewußt, daß du verheiratet bist«, sagte Ray mit schwachem Interesse.

 

»Es gibt eine Menge, was du nicht gewußt hast!« höhnte der andere. »Natürlich bin ich verheiratet. Einmal hat man dir’s schon gesagt, aber du hast nicht genug Hirn gehabt, um es zu glauben!«

 

Ray blickte den Mann voll Verblüffung an. »Meinst du vielleicht das, was Gordon gesagt hat?« Lew nickte. »Du willst doch nicht etwas sagen, daß Lola deine Frau ist?«

 

»Ja, natürlich ist sie meine Frau«, sagte Lew kalt. »Ich weiß nicht, wie viele Männer sie schon gehabt hat, aber ich bin ihr gegenwärtiger.«

 

»Du lieber Gott!« flüsterte Ray.

 

»Nun, was ist denn mit dir los? Glotz nicht so dumm drein. Ich habe ja nichts dagegen, daß du in sie verknallt bist. Mich freut’s, wenn ich seh‘, wie man mein Weib bewundert. Sogar bei einem solchen Milchbart wie du.«

 

»Deine Frau?« sagte Ray wieder und konnte es nicht fassen. »Und sag, gehört sie auch zu den Fröschen?«

 

»Warum nicht«, antwortete Brady. »Und kannst du nicht ein bißchen leiser sprechen, was? Der alte Schuft da hinten am Schanktisch hört angestrengt zu. Natürlich ist sie eine Verbrecherin. Wir sind doch alle Verbrecher, du auch! Und so muß man Lola kommen, denn Verbrecher mag sie am liebsten. Vielleicht hast du bei ihr erst die richtigen Aussichten, wenn du ein oder zwei Arbeiten gedeichselt hast –«

 

»Du Bestie!« zischte Ray und schlug den Mann mitten ins Gesicht.

 

Noch bevor Lew Brady wieder auf den Füßen war, stand der Wirt zwischen ihnen: »Hinaus mit euch beiden!« brüllte er. Und zur Tür stürzend, rief er ein halbes Dutzend Männernamen. Er kam zur rechten Zeit zurück, um Brady wieder auf den Beinen zu sehen, der die Faust vor Rays Gesicht schüttelte.

 

»Das wirst du mir büßen, Carter!« sagte er laut. »Mit dir werde ich auch noch eines Tages abrechnen!«

 

»Und bei Gott, ich auch mit dir! Du Hund!« sagte Ray rasend.

 

Aber im gleichen Moment faßte ihn ein muskulöser Hausknecht: am Arm und warf ihn im Schwung auf die Straße hinaus. Er wartete auf Brady, der den gleichen Weg nahm.

 

»Mit dir bin ich fertig«, sagte er. Sein ganzes Gesicht war blaß, und seine Stimme zitterte. »Mit der ganzen verdammten Bande bin ich fertig! Ich fahre nach London zurück.«

 

»Das wirst du nicht tun«, sagte Lew. »Höre doch zu, Junge. Bist du denn ganz verrückt? Wir müssen nach Gloucester kommen und unsere Aufgabe erledigen. Und wenn du nicht mit mir gehen willst, kannst du ja ein bißchen vorausgehen.«

 

»Ich gehe allein!« sagte Ray.

 

»Sei kein Narr!« Lew Brady kam ihm nach und ergriff seine Hand. Eine Sekunde lang schien die Situation gefährlich, aber dann duldete Ray Bennett achselzuckend Bradys Arm um die Schultern.

 

»Höre«, sagte Brady, »ich bin gar nicht mit Lola verheiratet; ich habe vorhin gelogen.«

 

»Ich glaube dir nicht«, sagte Bennett, nachdem sie schon eine halbe Stunde vom ›Roten Löwen‹ entfernt waren. »Warum solltest du vorhin gelogen haben?«

 

»Mir ist deine gute Laune schon zu dumm geworden, das ist die ganze Wahrheit. Ich mußte dir was vorlügen, um dich ein bißchen verrückt zu machen. Sonst wäre ich selber verrückt geworden.«

 

»Aber ist das wahr, das mit Lola?«

 

»Aber natürlich nicht«, sagte Brady verächtlich. »Glaubst du, sie macht sich etwas aus so einem Kerl, wie ich es bin? Nicht das geringste! Lola ist ein braves Mädchen. Vergiß die Dummheiten, die ich gesagt habe, Ray.«

 

»Ich werde sie selber fragen, mich wird sie nicht belügen«, sagte Ray bestimmt.

 

»Natürlich. Dich gewiß nicht«, stimmte Lew bei.

 

Sie näherten sich jetzt dem vorbestimmten Ziel, einem baumbestandenen Einschnitt zwischen den Hügeln, und Bradys Augen suchten nach den drei Baumstümpfen, die der Blitz getroffen hatte. Plötzlich sah er sie.

 

»Komm dort hin, und ich werde dir alles erzählen«, sagte er. »Ich werde heute nicht mehr weitergehen. Meine Füße sind so wund, daß ich kaum einen Schritt mehr machen kann.« Er führte Ray zwischen den Bäumen über einen Teppich von Fichtennadeln hin. »Da setz dich her, Junge«, sagte er. »Jetzt werden wir trinken und rauchen.«

 

Ray setzte sich nieder und verbarg den Kopf in den Händen. Er sah so entsetzlich elend aus, daß jeder andere als Lew Brady Mitleid mit ihm gehabt haben würde.

 

»Die ganze Wahrheit ist«, begann Lew langsam, »daß Lola dich wirklich gern hat, Junge.«

 

»Warum hast du mir denn dann das alles gesagt? Horch!« Ray sah sich um.

 

»Was war das?« fragte Lew.

 

»Ich glaube, ich habe etwas sich bewegen gehört.«

 

»Es ist ein Zweig abgebrochen, es kann ein Kaninchen sein. Es gibt ja Tausende hier«, sagte Lew. »Nein, nein, Lola ist ein braves Mädel.«

 

Er fischte das Fläschchen aus seiner Tasche hervor, zog den Becher vom Boden ab, schraubte den Stöpsel auf und hielt die Flasche gegen das Licht. »Ein braves Mädel!« wiederholte er geistesabwesend.

 

»Und sie soll nie etwas anderes werden.« Er schenkte den Becher voll. »Ich werde auf ihre Gesundheit trinken. Nein, Ray, trink du zuerst!«

 

Ray schüttelte den Kopf. »Ich mag das Zeug nicht«, sagte er.

 

Der andere lachte. »Für einen Kerl, der Nacht für Nacht eingepökelt war, ist das eine lustige Ansicht! Wenn du nicht einmal einen Tropfen Whisky vertragen kannst, sobald wir auf Lolas Gesundheit trinken wollen, dann bist du ein recht armer. . .«

 

»Gib her!« Ray riß ihm den Becher fort, vergoß dabei ein wenig, trank aber den Rest in einem Zug hinunter und warf den Becher seinem Gefährten zu. »Uff! – der Whisky schmeckt mir aber gar nicht. Ich glaube, mir liegt überhaupt an Whisky nichts. Und es ist nichts schwerer, als vorzutäuschen, daß man gerne trinkt, wenn man es in Wirklichkeit so ungern tut wie ich.«

 

»Ich glaube, keiner mag ihn zuerst gern. Er schmeckt so wie Tomaten. Ein sehr feiner Geschmack.« Er beobachtete seinen Gefährten scharf von der Seite her.

 

»Und wohin gehen wir von Gloucester aus?«

 

»Von Gloucester nirgendwohin. Wir bleiben dort einen Tag, dann wechseln wir unsere Kleider und fahren nach Haus.«

 

»Ist das eine stupide Idee!« sagte Ray Bennett, riß die Augen auf und gähnte. Er legte sich ins Gras zurück, faltete die Hände unter dem Kopf und gähnte von neuem. »Du, Lew! Wer ist denn eigentlich dieser Frosch?«

 

Lew Brady leerte den restlichen Inhalt des Fläschchens auf das Gras, schraubte den Stöpsel wieder auf und schüttete jeden Tropfen aus dem Becher heraus, bevor er sich erhob, um zu dem schlafenden Jungen hinüberzugehen.

 

»He, du, steh auf!« sagte er.

 

Es kam keine Antwort. »Steh auf!«

 

Mit einem Stöhnen drehte sich Ray um, den Kopf auf dem Arm gebettet, und nun rührte er sich nicht mehr.

 

Ein plötzlicher Verdacht stieg in Lew auf. War er am Ende tot? Lew erbleichte bei diesem Gedanken. Dieser so geschickt eingefädelte Streit würde genügen, ihn zu überführen. Er riß das Fläschchen aus seiner Tasche und ließ es in die Brusttasche des Schläfers gleiten. Da hörte er ein Geräusch. Als er sich umwendete, sah er, daß ein Mann ihn beobachtete. Lew starrte ihn an und öffnete die Lippen, um zu reden, aber da kam es:

 

»Plop!«

 

Er sah den Blitz der Flamme, bevor die Kugel ihn traf. Er versuchte neuerlich die Lippen zu öffnen, um zu reden, und wieder kam es:

 

»Plop!«

 

Lew Brady war tot.

 

Der Mann zog den Schalldämpfer von der Pistole, ging ohne jede Hast zu dem schlafenden Ray hinüber und steckte diesem die Pistole in die schlaffe Hand. Dann kam er zurück, kehrte den Körper des Toten um und sah ihm ins Gesicht. Er entnahm drei Zigarren seiner Westentasche, zündete eine von ihnen an und steckte das Zündhölzchen sorgfältig in die Schachtel zurück. Er hatte eine Vorliebe für gute Zigarren, besonders für die anderer Leute. Dann ging er, immer noch ohne Hast, den Weg zurück, den er gekommen war, stieg zur Hauptstraße empor, nachdem er sich sorgfältig umgesehen hatte, und erreichte das Auto, das auf ihn wartete.

 

Im Auto saß, hinter den mit Vorhängen versehenen Scheiben verborgen, ein junger Mensch, der mit herabhängendem Mund und gläsernen Augen vor sich hinstierte. Er trug einen schlecht passenden Anzug, und ein Kragenende hing unordentlich herab.

 

»Du kennst diesen Ort, Bill?«

 

»Ja, Herr.« Die Stimme klang guttural und heiser. »Jbbley Copse.«

 

»Du hast soeben einen Mann umgebracht. Du hast ihn erschossen, so wie du es in deinem Geständnis ausgesagt hast.«

 

Der halbidiotische Junge nickte.

 

»Ich habe ihn umgebracht, weil ich ihn gehaßt habe«, sagte er gehorsam.

 

Der Frosch nickte und nahm auf dem Führersitz Platz.

 

John Bennett erwachte mit einem Ruck. Er sah mit reuevollem Lächeln auf den Auslöser in seiner Hand herab und begann den Draht aufzuwinden. Dann ging er zu dem Gebüsch, wo er seine Kamera versteckt hatte, und fand zu seiner Enttäuschung, daß der Zähler ihm den Verlust von ungefähr dreihundert Metern anzeigte. Er sah grollend auf das Dachsloch, und wie zum Spott kam dort wieder die Spitze einer schwarzen Nase hervor.

 

Er schüttelte die Faust gegen sie und begann den Abstieg. Unweit vom Pfad sah er zwei Männer im Gras liegen, beide schlafend und beide Landstreicher, wie es schien. Er trug den Kurbelkasten dorthin zurück, wo er seinen Rock gelassen hatte, zog diesen an, hob den Kasten auf den Rücken und machte sich auf den Weg nach dem Dorf Laverstock, von wo er, wenn seine Uhr richtig ging, den Lokalzug erreichen konnte, der ihn bis Bath bringen würde, um dann den Londoner Schnellzug zu benützen. Und während er mit dem schweren Kasten dahinkeuchte, berechnete er seinen Verlust.

 

Kapitel 23

 

23

 

Herons-Klub, der auf Befehl der Polizei zeitweilig geschlossen gewesen war, durfte nun wieder seine Pforten öffnen.

 

Ray nahm seinen Lunch fast immer bei Heron ein, wenn er die Mahlzeit nicht mit Lola teilte, die eine glänzendere Atmosphäre vorzog, als der Klub sie zu Mittag bot. Als er ankam, waren nur einige Tische besetzt. Die Erinnerung an die Polizeiuntersuchung war noch immer wach in den Gemütern, und die vorsichtigeren Kunden hatten noch nicht gewagt, zurückzukehren.

 

Es war allgemein bekannt geworden, daß Hagn, der Direktor, seit der Nacht der Aushebung nicht wieder gesehen worden war. Unbestätigte Gerüchte über seine Verhaftung liefen um.

 

Ray war nicht gewohnt, seine Post nach Herons-Klub adressiert zu erhalten, und war daher überrascht, als der Kellner, der seine Bestellung übernahm, ihm zwei Briefe, einen vielfach versiegelten und sehr schweren, und einen anderen, kleineren übergab. Ray öffnete den großen Umschlag zuerst und wollte den Inhalt herausziehen, als er gewahr wurde, daß das Kuvert nichts anderes als Geld enthielt. Er wollte die Noten selbst vor einem spärlichen Publikum nicht aus dem Umschlag nehmen und stellte nur zu seiner Freude die hohe Anzahl und den Wert der Scheine fest. Es lag keine schriftliche Mitteilung dabei.

 

Aber da war ja noch der andere Brief.

 

Ray riß ihn auf. Das Schreiben trug weder Anrede noch Datum, und der Inhalt in Maschinenschrift lautete wie folgt:

 

»Am Freitagvormittag werden Sie die Kleidung anziehen, die man Ihnen zustellen wird, und sich zu Fuß auf die Landstraße nach Nottingham begeben. Sie werden den Namen ›Jim Carter‹ annehmen, Legitimationspapiere, auf diesen Namen lautend, werden in den Taschen des Rockes zu finden sein, der Ihnen morgen durch einen besonderen Boten überbracht wird. Von nun an dürfen Sie sich nicht mehr rasieren. Sie dürfen nicht in der Öffentlichkeit erscheinen, Besuche machen oder solche empfangen. Ihr Geschäft in Nottingham wird Ihnen mitgeteilt werden. Vergessen Sie nicht, daß Sie zu Fuß reisen müssen und in Unterkunftshäusern – gelegentlich auch in Schlafstellen der Heilsarmee – nächtigen werden, wie sie Vagabunden mit Vorliebe suchen. In Barnett, auf der großen Nordstraße, in der Nähe des neunten Meilensteines, werden Sie jemanden treffen, den Sie kennen und der auf der übrigen Reise Ihr Begleiter sein wird. In Nottingham werden Sie weitere Befehle erhalten. Man wird wahrscheinlich Ihrer gar nicht bedürfen, und die Arbeit, die Sie zu leisten haben, wird Sie in keiner Weise bloßstellen. Vergessen. Sie nicht, daß Ihr Name ›Carter‹ ist. Vergessen Sie nicht, daß Sie sich nicht rasieren dürfen. Vergessen Sie nicht den neunten Meilenstein und Freitag morgen. Wenn sich diese Einzelheiten Ihrem Gedächtnis eingeprägt haben, so nehmen Sie diesen Brief und den Umschlag, der das Geld enthielt, und verbrennen Sie alles im Kamin des Klubs. Ich werde Sie dabei beobachten.«

 

So war die Stunde gekommen, da die Frösche seiner bedurften. Er hatte sich vor diesem Tag gefürchtet und ihn dennoch erwartet. Er führte die Instruktionen getreulich aus, und vor den vielen neugierigen Augen der Gäste ging er mit Brief und Kuvert an den leeren Ziegelkamin, entzündete ein Zündhölzchen, verbrannte die Papiere und zertrat die Asche mit dem Fuß.

 

Sein Puls schlug schneller, als er sich an seinen Platz zurückbegab. Und ihm wurde bewußt, daß er diese Handlung in Anwesenheit des Frosches vollführt hatte. Ray sah scheu von einem zum andern der wenigen Gäste hinüber und begegnete den scharfen Blicken eines Fremden, die unablässig auf ihm geruht hatten. Das Gesicht schien ihm bekannt und doch wieder fremd.

 

Er winkte den Kellner herbei.

 

»Sehen Sie nicht sofort hin«, sagte er leise. »Aber sagen Sie mir, wer jener Herr in der zweiten Loge ist.«

 

Der Kellner wendete sich nachlässig um.

 

»Das ist Herr Joshua Broad«, sagte er.

 

Fast im Augenblick, da der Kellner diesen Namen aussprach, erhob sich Joshua Broad von seinem Sitz und kam auf Ray zu.

 

»Guten Morgen, Herr Bennett. Ich glaube nicht, daß wir uns schon früher gesprochen haben, obwohl wir beide Mitglieder des Klubs sind, und ich Sie hier schon oftmals gesehen habe. Mein Name ist Broad.«

 

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Es fiel Ray ein wenig schwer, seine Stimme zu meistern. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Herr Broad. Wollen Sie vielleicht mit mir speisen?« »Nein«, antwortete der Amerikaner, »ich habe schon gegessen. Aber wenn es Sie nicht stört, werde ich meine Zigarette weiterrauchen. Ich bin der Nachbar Ihrer Freundin. Fräulein Bassano hat die Wohnung inne, die der meinen vis-à-vis liegt.«

 

Ray entsann sich nun auch des sonderbaren Amerikaners, über dessen Verhältnisse Lola und Lew Brady sich schon oftmals den Kopf zerbrochen hatten.

 

»Kennen Sie Brady schon lange?« fragte Broad.

 

»Lew? Ich könnte es nicht genau sagen. Er ist ein sehr netter Kerl«, urteilte Ray ohne Begeisterung. »Und er ist befreundet mit einer mir bekannten Dame.«

 

»Eben mit Fräulein Bassano«, sagte Broad. »Sagen Sie, sind Sie nicht einmal bei Maitlands gewesen?«

 

»Ja, vor Zeiten«, sagte Ray gleichmütig. Aus seinem Ton hätte man entnehmen können, daß er bloß als interessierter Zuschauer den Bankpalast aufgesucht hatte.

 

»Er ist ein sonderbarer Bursche, der alte Maitland, was?«

 

»Ich weiß nicht viel über ihn«, sagte Ray. »Aber er hat einen sehr netten Sekretär.«

 

»Sie meinen Johnson? Den kenne ich gut.«

 

»Der arme, alte Philo, er hat seine Stellung verloren.«

 

Broads Gesicht veränderte sich. –

 

»Johnson? Wann ist denn das geschehen?«

 

»Heute morgen traf ich ihn, und er teilte es mir mit.«

 

»Ich wundere mich, daß Maitland den Mut gehabt hat.«

 

»Den Mut?« fragte Ray verdutzt. »Da gehört doch nicht viel Mut dazu, seinen Sekretär zu entlassen.«

 

Ein flüchtiges Zucken ging über das Gesicht des Amerikaners.

 

»Ich meine damit, daß für einen Mann von Maitlands Charakter viel Mut dazu gehört, einen Menschen zu entlassen, der so viele Geheimnisse weiß. Doch was gedenkt Johnson jetzt anzufangen?«

 

»Er sieht sich nach einer Stellung um«, sagte Ray kurz.

 

Die hartnäckigen Fragen des Fremden begannen ihn zu irritieren. Broad schien dies sogleich zu merken, er ließ das Gesprächsthema fallen und plauderte noch eine Weile über alltägliche Dinge, ehe er sich empfahl.

 

Ray blieb allein zurück, und der Gedanke an den erhaltenen Auftrag nahm ihn gänzlich gefangen. Das Abenteuer, die Verkleidung waren für einen romantischen jungen Mann äußerst verführerisch, und Raymond Bennett fehlte es nicht an Romantik. In seinen Instruktionen lag eine hinreißende Ahnung von Gefahr verborgen.

 

Und es war von Vorteil für seine Gemütsruhe, daß er nicht in die Zukunft zu sehen vermochte. Denn hätte er diese Gabe besessen, so wäre er in diesem Augenblick gepeitscht von Entsetzen entflohen, um einen einsamen Ort zu suchen, ein Versteck, eine Höhle, sich darin zu verkriechen, zu schaudern und zu beten.

 

Kapitel 24

 

24

 

Dick Gordon kam in die Polizeidirektion, und Elk beeilte sich, ihm Bericht zu erstatten.

 

»Wir haben neun gleiche Reisehandtaschen gefunden, jede von der gleichen Ausstattung wie die vom Kings-Cross-Bahnhof.«

 

»Führt keine Spur zu dem Mann, der sie hinterlegt hat?«

 

»Nein, nicht die geringste. Wir haben sie auf Fingerabdrucke hin geprüft und einige Resultate erzielt, aber da sie von vielleicht einem halben Dutzend Bahnhofsbediensteten berührt worden sind, kann ich nicht annehmen, daß wir dadurch etwas erfahren. Nur in Paddington haben wir eine Tasche entdeckt, die größer ist als die anderen. Sie enthielt dieselbe Ausstattung, aber wir haben darin noch ein dickes Paket von Scheckformularen vorgefunden, von denen jedes auf verschiedene Filialen verschiedener Banken lautete. Es sind Schecks auf den Credit Lyonnais, auf die Neunte Nationalbank in New York, auf den Burrowstown Trust, auf Banken von Spanien, Italien und Rumänien und auf ungefähr fünfzig Filialen der fünf englischen Hauptbanken lautend.«

 

Dick hörte niedergeschlagen zu.

 

»Elk, ich möchte ein paar Jahre meines Lebens dafür geben, wenn ich in das Mysterium der Frösche eindringen könnte. Ich lasse Lola jetzt bewachen. Lew ist verschwunden, und als ich heute morgen einen Mann zu dem jungen Dandy Ray Bennett schickte, um zu erfahren, was ihm geschehen sei, da gab er vor, krank zu sein, und weigerte sich, den Besucher zu empfangen. Aber ich vermag Ihnen eine interessante Neuigkeit mitzuteilen.«

 

Dick Gordon entnahm seiner Brieftasche einen Umschlag und warf ihn auf den Tisch. »Ich habe mich in New York nach Saul Morris erkundigt. Hier ist die New Yorker Kabeldepesche:

 

›Beantwortung Ihrer Anfrage: Saul Morris lebt. Soll zur Zeit in England sein. Hier laufen keine Anklagen, aber es wird angenommen, daß er es war, der am 17. Februar 1918 den Saferaum des Schiffes Mantania in Southampton in England erbrochen hat und mit fünfundzwanzig Millionen Francs entfloh. Bestätigt.‹«

 

Elk las die Depesche immer wieder. Dann faltete er sie sorgfältig zusammen, steckte sie in das Kuvert und reichte sie Dick über den Tisch zurück.

 

»Saul Morris ist also in England«, sagte er mechanisch. »Das scheint mir so manches zu erklären.«

 

Als Dick ihn verlassen hatte, ging Elk daran, die Taschen nochmals einer Untersuchung zu unterziehen, da ihm in der Nacht der Gedanke an die Möglichkeit von Doppelböden gekommen war. Er berief Balder und den Kriminalsergeanten namens Fayre, einen vielversprechenden jungen Mann, in den Elk großes Vertrauen setzte, und begann seine Schlüssel hervorzusuchen.

 

Das Hervorziehen des Schlüsselbundes hatte sein festgesetztes Ritual Man vermochte den Eindruck zu gewinnen, daß Elk eine Entkleidungsszene vornehmen wollte, denn die Schlüssel ruhten in geheimnisvollen Regionen, in die man erst nach dem Lockern von Rock und Weste gelangte, indem man dort nach einer Tasche suchte, wo man sonst keine zu vermuten pflegte. Nachdem die Zeremonie erfüllt war, steckte Elk den Schlüssel feierlich ins Schloß und zog die Tür auf.

 

Der Safe war so mit Taschen vollgepackt, daß sie Elk entgegenzurutschen begannen, sowie der Halt, den die Tür geboten hatte, weg war. Elk händigte sie, eine nach der andern, Fayre aus, der sie auf den Tisch stellte.

 

»Wir werden die von Paddington zuerst aufschneiden«, sagte Elk und wies auf die größte der Taschen.

 

»Ich muß erst das andere Messer holen«, sagte Balder. »Das hier ist ganz stumpf.«

 

»Beeilen Sie sich!« antwortete Elk, und Balder lief aus dem Zimmer.

 

Im nächsten Augenblick wurde Fayre mit ungeheurer Wucht gegen die Tür geworfen, und Elk kam über ihn zu liegen. Ein schrilles Klirren von zerbrochenen Scheiben erklang, das Sausen eindringender Luft und der betäubende Donner einer Explosion. Elk war der erste auf den Beinen. Das Zimmer war voll schwarzen Rauches, so daß er nicht die Hand vor den Augen sah, und bei seinem ersten Schritt trat er bereits auf den leblosen Körper des Sergeanten. Elk hob und zog ihn auf den Korridor hinaus. Es schien ihm auf den ersten Blick, daß wenig Hoffnung auf seine Wiederherstellung wäre. Die Feueralarmglocken gellten durch das Haus, von allen Seiten stürmten bestürzte Polizisten herbei, die Löschmannschaft kam den Korridor heruntergerannt, den Schlauch hinter sich herschleppend.

 

Das glimmende Feuer war bald gelöscht, aber Elks Büro hatte sich in einen Trümmerhaufen verwandelt. Sogar die Tür des Safes war aus den Angeln gesprengt worden. Nicht eine Fensterscheibe, nicht ein Stück der Einrichtung war ganz, und ein riesiges Loch klaffte mitten im Fußboden.

 

»Balder, retten Sie die Taschen«, rief Elk, der mit Wiederbelebungsversuchen, die an dem unglücklichen Fayre vorgenommen wurden, beschäftigt war. Als man den Assistenten in die Ambulanz geschafft hatte, kehrte Elk zurück, um die Ruinen zu betrachten, die die Explosion hinterlassen hatte.

 

»Ja, es war eine Bombe«, sagte Elk.

 

Eine Gruppe älterer Beamter stand im Korridor, und sie sahen sich die Verwüstung an.

 

»Es ist wirklich ein Wunder, daß ich noch am Leben bin, und ich habe Balder das Leben gerettet, als ich ihn nach dem Messer schickte, um die Taschen aufschneiden zu können.«

 

»Aber wurden denn die Taschen nicht vorher untersucht?« fragte der Polizeipräsident zornig.

 

Elk nickte. »Gestern ist jede einzeln von mir untersucht worden, die von Paddington wurde um und um gedreht. Jeder Gegenstand, der sich darin befand, ist hier auf meinen Tisch gelegt und eingetragen worden. Ich selber habe sie in den Safe gesperrt. Es war keine Bombe dabei.«

 

»Aber wie konnte sie dann hineingelangen?« fragte der Präsident.

 

Elk schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Der einzige Mensch, der außer mir einen Schlüssel zu diesem Safe hat, ist der Vizepolizeirat meines Departements, Oberst McClintock, der gerade auf Ferien ist. Es ist nur ein Glück, daß ich Balder gerade fortgeschickt hatte. Er ist Vater von sieben Kindern.«

 

»Was war es für ein Explosivstoff?«

 

»Dynamit«, antwortete Elk sofort. »Es hat nach unten gesprengt.« Er zeigte auf das Loch im Boden. »Nitroglyzerin sprengt nach oben und seitwärts. Nein, kein Zweifel, es war Dynamit.«

 

Bei der Durchsuchung des Büros fand er eine zusammengedrückte Rolle von dünnem Stahl und später das geschwärzte, verbeulte Zifferblatt einer billigen Weckuhr.

 

»Sowohl Zeit als auch Kontakt!« murmelte er.

 

Von seinen Sachen suchte er, soviel er davon aufzufinden vermochte, in Balders Büro hinüberzubringen.

 

Es war wenig Hoffnung, daß dieser Überfall von den Blättern verschwiegen werden konnte. Die Explosion hatte das Fenster und einen Teil des Mauerwerks herausgesprengt und viele Schaulustige auf dem Embankment versammelt. Als Elk die Polizeidirektion verließ, rief man schon die Extraausgaben aus, die das Ereignis brachten.

 

Sein erster Besuch galt dem nahegelegenen Spital, wohin man den unglücklichen Fayre gebracht hatte. Die Nachrichten über ihn klangen ermutigend.

 

»Er wird vielleicht ein oder zwei Finger verlieren, aber er ist wirklich mit einem blauen Auge davongekommen«, meinte der Oberchirurg. »Ich kann es nicht verstehen, daß er nicht in Stücke gerissen wurde.«

 

»Und was ich nicht verstehen kann«, sagte Elk mit Nachdruck, »ist, wieso ich nicht in Stücke gerissen wurde.«

 

»Diese Hochexplosivstoffe spielen merkwürdige Streiche. Ich kann begreifen, daß die Kraft der Explosion die Tür des Safes weggesprengt hat, und doch ist dieses Papier, das ebenfalls im Bereich der Bombe war, kaum versengt.« Er zog ein Stückchen Papier aus der Tasche, dessen Ecken geschwärzt und abgebrannt waren. »Sehen Sie, ich habe es in seinen Kleidern gefunden«, sagte der Arzt.

 

Elk glättete das Papier und las:

 

»Mit vielen Grüßen von Nummer Sieben!«

 

Sorgfältig faltete er das Papier zusammen. »Das möchte ich gern behalten«, sagte er und steckte es zärtlich lächelnd in das Innere seines Brillenetuis, »Glauben Sie an Vorahnungen?«

 

»Bis zu einer gewissen Grenze«, lächelte der Arzt.

 

Kapitel 25

 

25

 

Eine Woche verging, und die Explosion im Polizeibüro war schon zur Legende geworden. Der verletzte Detektivsergeant befand sich auf dem Weg der Besserung, und in bezug auf die Frösche gab es keine Neuigkeiten.

 

Elks Fatalismus enttäuschte seine Kollegen ein wenig. Am sechsten Tag nach der Explosion hatte die Direktion die Gepäckaufbewahrungen aufs neue untersuchen lassen, und so wie es Elk erwartet hatte, war bei jeder einzelnen Endstation eine funkelnagelneue Handtasche mit genau dem gleichen Inhalt wie vorher beschlagnahmt worden. Die Taschen wurden von dem Feuerwerker nach langwierigen, sorgfältigen Schutzmaßnahmen geöffnet.

 

Aber sie enthielten außer den belgischen Pistolen nichts Bedrohliches, und der Paß lautete diesmal auf den Namen »Clarence Fielding«.

 

»Diese Burschen sind Meister in ihrem Handwerk«, sagte Elk mit widerstrebender Bewunderung, als er seine Beute besichtigte.

 

»Wollen Sie die Taschen wieder in Ihrem Büro behalten?« fragte Dick. Aber Elk schüttelte melancholisch das Haupt.

 

»Ich denke nicht«, sagte er.

 

Er ließ die Taschen sofort ausleeren und ihren Inhalt an das Untersuchungsdepartement schicken.

 

»Nach meiner Meinung«, orakelte Balder, »muß jemand in der Polizeidirektion sein, der gegen uns arbeitet. Ich habe mir die Sache schon längst überlegt, und wie ich sie mit meiner lieben Frau besprochen habe …«

 

»Haben Sie vielleicht auch die Kinder zu Rate gezogen?

 

Mhm?« fragte Elk unfreundlich. »Je weniger Sie über die Direktionsangelegenheiten in Ihrem häuslichen Kreis reden, desto besser wird das für Ihre Beförderungschancen sein.«

 

Herr Balder machte ein saures Gesicht.

 

»Da ist nichts zu fürchten und nichts zu hoffen. Ich bin schon auf die schwarze Liste gesetzt. Alles kommt davon, weil Sie mich mit Ihrem Hagn zusammengesperrt haben.«

 

»Sie sind ein undankbarer Schuft«, sagte Elk.

 

»Wer ist denn eigentlich diese Nummer Sieben?« fragte Balder. »Wie ich mir gestern die Sache überdacht und sie mit meiner lieben Frau besprochen habe, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß er einer von den wichtigsten Fröschen sein muß. Und wenn wir den nur erwischen könnten, so würde nicht mehr viel fehlen, um den großen Burschen dranzukriegen.«

 

Elk legte seine Feder nieder. Er war gerade dabei gewesen, einen Bericht zu verfassen.

 

»Sie hätten sich der Politik widmen sollen«, sagte er und wies seinen Assistenten mit dem Ende des Federhalters aus dem Zimmer.

 

Er hatte seinen Bericht beendet und überlas ihn gerade mit kritischen Augen, als das Diensttelefon einen Besucher ankündigte.

 

»Schicken Sie ihn mir herauf!« sagte Elk, als er den Namen hörte.

 

Er läutete nach Balder. »Dieser Bericht geht zu Hauptmann Gordon zur Unterschrift«, sagte er. Und im Augenblick, da er den Brief übergab, öffnete Joshua Broad die Tür.

 

»Guten Morgen, Herr Inspektor«, grüßte er und nickte Balder freundschaftlich zu, obgleich er ihm niemals früher begegnet war.

 

»Kommen Sie nur herein und setzen Sie sich, Herr Broad. Was verschafft mir das besondere Vergnügen Ihres Besuches? – Entschuldigen Sie meine extreme Höflichkeit, aber am frühen Morgen pflege ich immer so höflich zu sein. Schon recht, Balder, Sie können gehen!«

 

Broad reichte dem Detektiv sein Zigarrenetui.

 

»Ich komme einer merkwürdigen Sache wegen«, sagte er.

 

»Niemand kommt gewöhnlicher Sachen wegen in die Polizeidirektion«, antwortete Elk.

 

»Es betrifft meine Nachbarin.« – »Lola Bassano?«

 

»Ihren Gatten.«

 

»Lew Brady?« Elk schob die Brille hinauf. »Sie werden mir doch nicht einreden wollen, daß die beiden ganz anständig verheiratet sind?«

 

»Ich glaube nicht, daß daran ein Zweifel bestehen kann«, sagte Broad. »Obwohl ich natürlich sicher bin, daß ihr junger Freund Bennett keinen Dunst von der Sache hat. Brady ist seit einer Woche in Caverley Haus, und seit dieser Zeit ist er noch nicht aus der Tür gegangen. Was aber noch sonderbarer ist, auch der junge Bennett hat während dieser Zeit seine Wohnung nicht verlassen. Ich glaube nicht, daß es einen Streit gegeben hat, ich ahnte eher, daß es etwas Tieferes sein muß. Ich habe Brady zufällig gesehen, als ich aus meiner Tür trat. Die Tür bei der Bassano stand gerade offen. Das Mädchen holte die Milch herein, und da bekam ich einen Schimmer von ihm zu sehen. Er hatte den schönsten neuen Bart, den ich an einem zurückgezogenen lebenden Boxer jemals bewundern durfte. Und Faustkämpfer haben für gewöhnlich nicht den Ehrgeiz, einen Bart zu tragen. Das machte mich also neugierig. Ich stattete Ray Bennett einen Besuch ab, ich hatte ihn neulich im Herons-Klub getroffen, und die Tatsache konnte als Entschuldigung für mich gelten, daß es mir auch gelungen war, Fräulein Bennett zu sprechen. Sein Diener, denn er hat einen Mann, der bei Tag kommt, um seine Kleider zu bürsten und die Wohnung aufzuräumen, sagte mir, daß er sich nicht wohl fühle und nicht zu sprechen sei.« Broad blies einen Rauchring in die Luft und betrachtete ihn nachdenklich. »Wenn ein Diener ergeben sein soll, so muß er auch bei seinem Herrn wohnen«, sagte er. »Es kostete mich nach dem heutigen Kurs zwei Dollar und fünfunddreißig Cent, um zu entdecken, daß auch Ray Bennett sich nachdrücklichst mit der Pflege seines Bartes beschäftigt. Wie die Sache steht, gefällt sie mir nicht.«

 

Elk rollte seine Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen. »Ich bin im Gesetzbuch nicht sehr gut bewandert«, sagte er. »Aber ich stehe unter dem Eindruck, daß es kein Gesetz gibt, demzufolge man Leute abhalten könnte, sich den Bart wachsen zu lassen. – Herr Broad, Sie sind Amerikaner, nicht wahr?«

 

»Ich genieße diesen Vorzug«, sagte der andere mit jenem halben Lächeln, das so oft in seinen Augen lag.

 

»Haben Sie je von einem Mann mit Namen Saul Morris gehört?« fragte Elk gleichgültig und starrte nach dem Fenster. Joshua Broad runzelte in der Anstrengung des Erinnerns die Stirn.

 

»Ich glaube schon«, sagte er, »er war ein ganz großer Verbrecher. Ein Amerikaner, wenn ich mich recht erinnere. Aber er ist doch längst tot, nicht wahr?«

 

Elk kratzte sich nervös das Kinn. »Ich würde für mein Leben, gern jemanden treffen, der seinem Begräbnis beigewohnt hat. Jemanden, dem ich auf den Eid glauben könnte!«

 

»Sie glauben doch nicht, daß Lew Brady …?«

 

»Nein!« sagte Elk. »Ich glaube gar nichts über Lew, außer, daß er ein überwundener Boxer ist. Und ich werde mir diesen Wettbewerb der Barte näher besehen, Herr Broad. Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung.«

 

Um fünf Uhr kam Balder zu Elk und fragte, ob er nach Hause gehen könne. »Ich habe meiner lieben Frau versprochen …«, begann er.

 

»Halten Sie …«, sagte Elk, »und sehen Sie zu, daß Sie weiterkommen.«

 

Kaum eine halbe Stunde, nachdem sein Untergebener gegangen war, kam ein amtlicher Brief für Inspektor Elk, und als er dessen Inhalt gelesen hatte, begann sein Antlitz zu leuchten und zu strahlen. Es war ein Brief des Oberintendanten der Polizei und lautete: »Das Polizeipräsidium beauftragt mich, Ihnen mitzuteilen, daß die Beförderung des Polizeischutzmannes J. J. Balder zum Rang eines wirklichen Sergeanten genehmigt wurde. Die Beförderung wird vom 1. Mai v. J. zurückdatiert.«

 

Elk faltete das Papier zusammen und empfand eine ehrliche Freude. Er läutete Sturm, um Balder hereinzurufen, da entsann er sich, daß er ihn schon nach Hause geschickt hatte. Elk war für diesen Abend frei, und in der Mitfreude seines Herzens beschloß er, ihm die Neuigkeit persönlich zu überbringen.

 

»Ich möchte gern seine ›liebe Frau‹ kennenlernen«, sagte Elk zu sich selber, »und auch seine sieben Kinder.«

 

Er schlug im amtlichen Register nach und fand, daß Balder 93, Leaford Road, Oxbridge wohnte. Das Polizeiauto fuhr Elk nach der Leafordstraße Nummer 93.

 

Es war ein nettes, kleines Haus, genauso, wie Elk sich das Haus vorgestellt hatte, in dem sein Assistent wohnen würde.

 

Auf sein Klopfen kam eine ältliche, zum Ausgehen gekleidete Frau heraus, und Elk war überrascht, zu sehen, daß sie Pflegerinnentracht trug.

 

»Ja, Herr Balder wohnt hier«, sagte sie, anscheinend verwirrt, einen Besucher zu sehen. »Das heißt: er hat zwei Zimmer hier, aber er bleibt sehr selten über Nacht hier. Er kommt gewöhnlich, um sich umzukleiden, und dann geht er meistens gleich wieder fort. Zu seinen Freunden, glaube ich.«

 

»Wohnt seine Frau hier?«

 

»Seine Frau?« fragte sie überrascht. »Ich habe gar nicht gewußt, daß er verheiratet ist.«

 

Elk hatte Balders Papiere mitgebracht, um einige Daten nachzutragen, die für seine spätere Pensionierung wichtig waren. Nun erst bemerkte er, daß unter der angegebenen auch eine zweite Adresse eingetragen stand. Doch war die Tinte so verwischt, daß er die Anschrift nun erst bemerkte.

 

»Ich scheine mich geirrt zu haben«, sagte Elk. »Da steht die Orchardstraße in Stepney als neue Adresse angegeben.« Aber die Pflegerin lächelte.

 

»O nein, er hat viele Jahre bei mir gewohnt«, sagte sie. »Er ist dann nach der Orchardstraße gezogen. Aber während des Krieges kam er wieder zu mir, weil die Luftangriffe dort im Osten von London ziemlich gefährlich waren. Trotzdem glaube ich, daß er noch immer ein Zimmer in Stepney hat.«

 

»Mhm«, sagte Elk nachdenklich. Er stand schon an der Tür, als ihn die Pflegerin nochmals zurückrief.

 

»Ich weiß nicht, ob ich mit Fremden über seine Geschäfte reden darf, aber wenn Sie dringend mit ihm zu sprechen haben, so glaube ich, daß Sie ihn in Slough finden werden. Ich bin Monatspflegerin«, sagte sie, »und habe sein Auto zweimal in die ›Sieben Giebel‹ in der Sloughstraße fahren sehen. Ich denke, er nuß dort einen Freund wohnen haben.«

 

»Wessen Auto?« fragte der immer mehr verdutzte Elk.

 

»Seins oder eins seiner Freunde«, sagte die Pflegerin. »Sagen Sie, sind Sie mit ihm gut befreundet?«

 

»O ja, sehr intim!« sagte Elk vorsichtig.

 

»Wollen Sie bitte hereinkommen?«

 

Er folgte ihr in das kleine, saubere, nette Wohnzimmer.

 

»Um ihnen die Wahrheit zu sagen, ich habe nämlich Herrn Balder gekündigt. Er hat immer so viele Beschwerden gehabt und ist so schwer zufriedenzustellen. Ich bin nicht mehr imstande, es zu leisten. Und er hat mir dabei nicht einmal viel gezahlt. Ich habe sehr wenig für die zwei Zimmer bekommen, und jetzt habe ich Aussicht, sie viel besser zu vermieten. Und dann ist er immer so merkwürdig mit seinen Briefen gewesen. Ich habe seinetwegen diesen Riesenbriefkasten draußen an der Tür befestigen lassen. Aber selbst der ist manchmal nicht groß genug, um sie alle zu fassen. Nein, was seine sonstige Beschäftigung ist, weiß ich nicht. Die Briefe, die hierherkommen, sind für die Chemischen Werke in Didcot bestimmt. Nein, Sie werden vielleicht glauben, daß ich eine sehr schwierige Person bin, weil er ja schließlich doch den ganzen Tag wegbleibt und sehr selten eine Nacht hier schläft.«

 

»O nein«, sagte er. »Sie sind, glaube ich, die allernetteste Person, die ich je getroffen habe! Und jetzt gehen Sie aus?«

 

Sie nickte. »Ich habe eine Nachtpflege und werde erst gegen elf Uhr vormittags zurückkommen. Sie haben es gut getroffen, daß ich noch zu Hause war.«

 

»Sagten Sie nicht: sein Auto? Was für ein Auto ist denn das?« fragte Elk.

 

»Es ist so ein großer schwarzer Wagen, aber die Marke kenne ich nicht. Ich glaube, es ist ein amerikanisches Fabrikat. Und er muß irgend etwas damit zu tun haben, denn ich habe einmal viele Kataloge von Autoreifen in seinem Schlafzimmer gefunden, und einige von den Reifen hatte er mit dem Bleistift angezeichnet, und so vermute ich, daß er auf irgendeine Weise daran interessiert ist.«

 

Elk stellte eine letzte Frage: »Und kommt er, wenn Sie fort sind, nachts nach Hause?«

 

»Ich glaube sehr selten«, antwortete die Frau. »Er hat seinen eigenen Schlüssel, und weil ich in der Nacht oft weg bin, weiß ich nie, wann er heimkommt.«

 

Elk stand schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett seines Autos.

 

»Vielleicht kann ich Sie irgendwo absetzen, meine liebe Dame?« sagte er, und die ältliche Frau nahm dankbar an.

 

Elk fuhr in die Direktion zurück, öffnete die Schublade seines Pultes und nahm ein paar Berufswerkzeuge heraus. Nachdem er eine Anzahl dringender Befehle gegeben hatte, sprang er ins Auto und raste nach Harley Terrace.

 

Dick war von den Mitgliedern der Amerikanischen Gesandtschaft eingeladen worden und saß mit ihnen in einer Loge des Hilarity Theaters, als Elk leise hinter ihm die Tür öffnete, ihm auf die Schulter klopfte und ihm ein Zeichen gab, auf den Gang hinauszukommen, alles, ohne daß die übrige Gesellschaft etwas bemerkte.

 

»Ist irgend etwas los?« fragte Gordon.

 

»Ja, denken Sie nur, Balder hat seine Beförderung bekommen!« sagte Elk feierlich, und Dick starrte ihn fassungslos an. »Er ist jetzt wirklicher Sergeant«, fuhr Elk fort. »Und ich wüßte keinen besser passenden Rang für Balder. Wenn die Nachricht ihn und seine liebe Frau und seine sieben lieben Kinderchen erreichen wird, wird es neun glückliche Menschen mehr geben, glaube ich.«

 

Er pflegte niemals geistige Getränke zu sich zu nehmen, aber der ketzerische Gedanke daran war der erste, der Gordon durch den Kopf schoß. Und der zweite war die Erwägung, daß die Anstrengungen und Unannehmlichkeiten der letzten Wochen dem Armen den Sinn verwirrt hätten.

 

»Das freut mich für Balder«, sagte er behutsam, »und es freut mich auch um Ihretwillen, Elk. Denn ich weiß, Sie haben sich sehr bemüht, diesen armen Teufel in das richtige Licht zu setzen.«

 

Elk sah ihn über seine Brillengläser hinweg an.

 

»Jetzt denken Sie, daß ich einen Sonnenstich habe, da ich Sie sonst doch nicht aus Ihrem bequemen Theater herausrufen würde, um Ihnen Balders Beförderung zu verkünden. Aber versuchen Sie doch, Ihren Überrock zu holen und mit mir zu kommen. Ich möchte nämlich Balder die Nachricht überbringen.«

 

Neugierig ging Gordon in die Garderobe, holte seinen Mantel und traf den Detektiv im Vestibül.

 

»Wir gehen nach den ›Sieben Giebeln‹«, verfügte Elk. »Ein schönes Haus, ich habe es zwar noch nicht selbst gesehen, aber ich habe davon gehört. Es hat eine Garage und großartige Einrichtungen, Zentralheizung, Telefon und ein hochmodernes Badezimmer. Das alles ist nur eine logische Folgerung. Und jetzt werde ich Ihnen dazu noch etwas sagen: auch eine logische Folgerung! Es gibt Alarmdrähte auf dem Rasen, Alarmglocken an Türen und Fenstern, Fußfallen und Selbstschüsse.«

 

»Ja, von was, zum Teufel, sprechen Sie denn?« fragte Dick hilflos. Und Elk kicherte wie eine hysterische Jungfrau. Sie fuhren durch Oxbridge, als ein langes Auto in vollster Eile an ihnen vorbeischoß. Es war so mit lachenden Männern angefüllt, daß sie einander beinahe auf den Knien saßen.

 

»Das ist eine lustige Gesellschaft!« sagte Dick.

 

»Sehr!« antwortete Elk lakonisch.

 

Ein paar Sekunden später sauste ein zweites Auto vorbei, das ebenfalls mit viel größerer Geschwindigkeit fuhr als sie selber.

 

»Das sieht aber doch nach einem unserer Polizeiautos aus!« sagte Dick. Auch dieses war überfüllt.

 

»Ja, es sieht wirklich fast so aus!« stimmte Elk bei.

 

Als ihr Wagen in der enggekrümmten Straße von Collebrock langsamer fuhr, raste noch ein dritter Wagen an ihnen vorüber, und diesmal blieb kein Zweifel mehr. Den Mann, der neben dem Chauffeur saß, den kannte Dick. Es war der Detektivinspektor der Polizeidirektion.

 

»Was soll denn das nur heißen?« fragte Dick, und seine Neugier wuchs ins Unermeßliche.

 

»Wir alle fahren zu Balders Beförderung, um ein kleines Fest zu feiern«, sagte Elk.

 

In Langley wendete sich die Windsorstraße nach links, und Elk gab, sich hinauslehnend, dem Chauffeur eine neue Richtung an. Von den Polizeiautos war keine Spur mehr zu sehen. Anscheinend waren sie auf dem Weg nach Slough. Ein einzelner Landschutzmann stand am Kreuzweg und beobachtete sie, vom eintönigen Dienst ermüdet, mit ziemlich mattem Interesse.

 

»Wir bleiben hier stehen«, sagte Elk, und das Auto bog von der Straße ab in eine grüne Seitenallee ein. Elk stieg aus.

 

»Gehen Sie ein bißchen die Straße hinauf, ich habe mit Herrn Gordon zu sprechen«, sagte er zum Chauffeur. Und dann erzählte er, und Dick Gordon lauschte in Verwunderung und Unglauben.

 

»Nun«, sagte Elk, »brauchen wir nur noch fünf Minuten zu gehen, soweit ich mich erinnern kann. Es ist ziemlich lange her, daß ich bei den Windsorrennen war.«

 

Sie fanden den Eingang zu den »Sieben Giebeln« zwischen zwei hohen Buschhecken. Ein breiter, mit Kies bestreuter Pfad lief zwischen dem dicken Gürtel von Tannen hin, hinter dem das Haus versteckt lag. Es war ein großes Gebäude, mit Holzverschalungen an den Wänden und hohen, ineinander verschlungenen Kaminen.

 

»Na, ist das ein Haus?« murmelte Elk bewundernd.

 

Aus den breiten Fenstern drang Licht, aber die cremefarbenen Vorhänge waren herabgelassen. Elk hatte ein paar dicke Galoschen über seine Schuhe gezogen und reichte Dick ein zweites Paar. Dann begann er, mit einer elektrischen Taschenlampe in der Hand, den Gartenweg entlangzugehen, der parallel mit dem Gelände lief. Plötzlich blieb er stehen.

 

»Steigen Sie darüber!« flüsterte er.

 

Und Dick bemerkte den schwarzen Draht, der über den Weg hinlief, und nahm vorsichtig das Hindernis. Nach ein paar weiteren Schritten blieb Elk wieder stehen und ließ sein Licht auf einen zweiten Draht fallen, der selbst in dem starken Licht der Taschenlampe kaum zu sehen war. Elk tat keinen Tritt, ehe er nicht den Weg auf das genaueste untersucht hatte. Es bedurfte einer halben Stunde, ehe sie die wenigen Meter, die sie vom Fenster trennten, zurückgelegt hatten.

 

Die Nacht war lau, und einer der Fensterflügel stand offen.

 

Elk kroch heran und untersuchte mit seinen feinfühligen Fingerspitzen den Sims nach einer Alarmglocke. Er entdeckte sie, durchschnitt die Fäden und zog sachte den Vorhang ein wenig zur Seite.

 

Er blickte in ein großes, getäfeltes, luxuriös eingerichtetes Zimmer. Der offene, große Seitenkamin war von Blumen umgeben, und an dem kleinen Tischchen davor saßen zwei Männer. Der erste war Balder.

 

Unverkennbar war es Balder, und er sah merkwürdig gut aus. Seine rote Nase war nicht mehr rot. Seine unrasierten Wangen waren nicht mehr stachelig. Er trug einen Frack, und zwischen den Zähnen hielt dieser Balder, dem Elk manche Sonntagszigarette geschenkt hatte, eine lange, kostbare Zigarettenspitze. Dick sah dies alles über Elks Schulter hinweg mit an und hörte des Detektivs raschen, zornigen Atem gehen. Dann erst bemerkte Dick den zweiten Anwesenden. Es war Herr Maitland. Maitland saß, das Gesicht in den Händen, da, und Balder blickte ihn mit einem unheimlich zynischen Lächeln an. Es war unmöglich zu vernehmen, was sie sprachen, aber anscheinend wurden Maitland Vorwürfe gemacht.

 

Nach einer Weile richtete sich der alte Mann auf und begann zu reden. Sie hörten das Gemurmel seiner aufgeregten rauhen Stimme, aber wiederum war kein Wort zu verstehen. Dann sahen sie, wie Maitland die Faust ballte und sie drohend gegen den lächelnden Mann erhob, der ihn mit vollkommener Seelenruhe und kühlstem Interesse betrachtete. Nach dieser drohenden Gebärde sprang der alte Mann auf und stürzte aus dem Zimmer.

 

Eine Minute später kam er aus dem Haus. Aber nicht durch den Haupteingang, wie die beiden erwartet hatten, sondern über einen kleinen Gartenweg auf der anderen Seite der Hecke, denn sie sahen den Schimmer seiner Scheinwerfer, als das Auto vorbeifuhr.

 

Nun allein im Zimmer, läutete Balder.

 

Der Eintretende fesselte sofort Dicks Aufmerksamkeit im höchsten Grade. Er trug die übliche Livree der Lakaien, dunkle Hose und gestreifte Weste. Aber es war aus der Art, mit der er sich bewegte, leicht zu entnehmen, daß er durchaus kein gewöhnlicher Lakai war. Ein großer, schwerfällig gebauter Mann, dessen Bewegungen langsam und merkwürdig nachdenklich wirkten. Balder gab einen Befehl, und der Lakai nickte, nahm die Tasse auf und ging mit denselben langsamen feierlichen Schritten hinaus, mit denen er eingetreten war.

 

Es durchzuckte Dick, und er flüsterte ein einziges Wort in das Ohr des Detektivs: »Blind!«

 

Elk nickte.

 

Die Tür öffnete sich nochmals, und diesmal kamen drei Lakaien herein, die einen schwer wirkenden, mit einem weißen Tuch bedeckten Tisch hereintrugen.

 

Gordon dachte zuerst, daß Balders Mahlzeit serviert werden sollte. Aber bald begriff er die Wahrheit. Oberhalb des Kamins hing an einem einzigen Draht eine große elektrische Lampe. Einer der Lakaien stieg auf einen Stuhl, schraubte die Lampe aus und steckte einen Kontakt an, der mit dem Tisch durch einen Draht verbunden war.

 

»Lauter Blinde!« sagte Elk flüsternd.

 

Die Diener gingen hinaus, und Balder verschloß hinter ihnen die Tür. Er wendete ihnen noch den Rücken zu, als Elk seinen Fuß auf den Ziegelvorsprung stellte und, die Vorhänge zur Seite reißend, ins Zimmer sprang. Bei diesem Geräusch fuhr Balder herum.

 

»Schönen guten Abend, Balder!« sagte Elk süß. »Ich bin zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Sie endlich in Anerkennung Ihrer großen Verdienste zum Sergeanten befördert worden sind. Es ist der Dank für die Dienste, die Sie dem Staat durch Vergiftung des Frosches Mills, Befreiung des Frosches Hagn und In-die-Luft-Sprengung meines Büros geleistet haben.«

 

Immer noch sprach der Mann kein Wort und stand da, ohne sich zu regen; denn der langläufige Browning in Elks Hand zielte unentwegt auf den untersten Knopf seiner eleganten, weißen Pikeeweste.

 

»Und nun«, sagte Elk, und es klang wie Jubel und Triumphgesang, »werden Sie einen ganz kleinen, hübschen Spaziergang mit mir machen. Denn ich bedarf Ihrer, Nummer Sieben.«

 

»Glauben Sie nicht, sich geirrt zu haben?« näselte Balder, so ganz unähnlich seiner gewohnten Stimme, daß selbst Elk einen Moment lang zögerte. .

 

»Nein, ich habe mich nicht geirrt. Außer, wenn mich einer gefragt hat, wieviel Frauen Heinrich VIII. gehabt und wann er sie geheiratet hat.«

 

Elk sprang auf ihn zu und hielt die Mündung seiner Pistole auf das Zwerchfell seines Gefangenen gepreßt. »So, jetzt wollen Sie die Güte haben, Ihre Hände auszustrecken, und belieben sich umzudrehen«, sagte er.

 

Balder gehorchte. Elk zog Handschellen aus der Tasche und ließ sie über Balders Gelenken einschnappen. Er schnallte ihm auch die Arme fest zusammen.

 

»Das ist sehr unbequem«, sagte Balder. »Pflegen Sie immer solche Irrtümer zu begehen, Herr Inspektor? – Mein Name ist Collet-Banson.«

 

»Ihr Name ist Hans Dreck!« sagte Elk. »Aber ich will gern anhören, was Sie mir sonst etwa zu sagen haben. Sie können sich niedersetzen.«

 

Dick sah, wie es in den Augen des Mannes aufblitzte. Und auch Elk bemerkte es.

 

»Ich möchte Ihnen raten, Balder, jetzt nicht etwa Ihre Hoffnung auf irgendeinen Affenstreich zu setzen, der mir von Ihren Dienern gespielt werden könnte. Fünfzig Polizeibeamte, von denen Sie die meisten persönlich kennen, umstellen nämlich das Haus.«

 

»Ich sage Ihnen, daß Sie einen Irrtum begangen haben, Herr . Inspektor, der Sie teuer zu stehen kommen wird«, sagte der Gefangene zornig. »Wenn ein Engländer nicht einmal in seinem eigenen Salon sitzen darf, um« – er blickte nach dem Tisch – »ein Radiokonzert aus Den Haag anzuhören, ohne daß die Polizei einschreitet, so ist es höchste Zeit, daß diese Tyrannei ihr Ende findet.«

 

Er ging zornig hin und her und stieß dabei den einen der stählernen Feuerböcke um, die zu beiden Seiten des offenen Kamins standen. Und der Feuerbock fiel um. Es schien dies nichts anderes als die nervöse Handlung eines Mannes, der nicht mehr wußte, was er in seinem Zorn tat. Sogar Elk sah darin nichts, was seine Befürchtung hätte erregen können.

 

»Ich weiß nicht, für wen Sie mich halten!« fuhr er fort. »Nun, alles was ich sagen kann, ist …« Und plötzlich schwang sich der Gefesselte seitwärts auf die Kaminplatte.

 

Aber Elk war schneller. Er faßte ihn beim Kragen, riß ihn von der Falltür zurück und schleuderte ihn ins Zimmer hinein.

 

Elk warf sich über ihn, aber in seiner Verzweiflung wurde Balders Kraft übermenschlich gesteigert.

 

Sein Schrei nach Hilfe wurde gehört. Es wurde an der Tür gerüttelt, und ein zorniges Stimmengewirr erhob sich draußen. Dann vernahm man die rasche Aufeinanderfolge vieler scharfer Explosionen, denn die Armee von Detektiven rannte draußen über den Rasen, ohne der Alarmschüsse zu achten.

 

Es gab nur einen kurzen Kampf.

 

Sechs blinde Diener wurden im Polizeiwagen weggebracht, und im letzten Auto thronten Dick und Elk und zwischen ihnen der aktive Polizeisergeant Balder – der Nummer Sieben, die rechte Hand des furchtbaren Frosches, gewesen war.

 

Kapitel 14

 

14

 

Elk ging auf die Straße hinunter, um den Amerikaner zu begrüßen. Herr Broad war im Frack, und die Scheinwerfer seines Autos erhellten die schmutzige Straße.

 

»Sie haben wirklich eine gute Spürnase«, meinte Elk respektvoll.

 

»Als ich zwanzig Schutzleute aus dem Herons-Klub stürzen und in rasendem Tempo fortfahren sah, durfte ich wohl vermuten, daß ihre Eile nicht dem Bestreben galt, noch vor zwei Uhr ins Bettchen zu kommen«, sagte Broad. »Ich besuche den Klub gewöhnlich in den Morgenstunden. Seine Mitglieder sind ja vielleicht eine noch minder wünschenswerte Bekanntschaft als die übrige Rasse der Frösche. Aber sie amüsieren mich. – Ich wiederhole meine Frage: Haben Sie das liebe kleine Kindchen schon gesehen, das das Wort M-A-U-S buchstabieren lernt?«

 

Elk hatte das Gefühl, daß der liebenswürdige Amerikaner ihn verspottete. »Kommen Sie lieber herein und sprechen Sie mit dem Chef.«

 

Broad folgte dem Inspektor in das Schlafzimmer von Maitlands Wirtschafterin, wo Dick die bei dem eiligen Aufbruch von Nummer Sieben zurückgelassenen Papiere prüfte.

 

Außer der Kopie des Geheimberichtes über Mills hatte er ein Bündel von Zetteln gefunden, von denen viele unleserlich und unverständlich schienen. Sie waren maschinengeschrieben und glichen auffällig Armeebefehlen. Es waren tatsächlich des Frosches Befehle, vom Oberhaupt seines Stabes herausgegeben und trugen die Unterschrift: Nummer Sieben.

 

Auf einem Zettel stand: »Es muß rascher gehen mit Raymond Bennett! L. muß ihm sagen, daß er ein Frosch ist. Was immer mit ihm auch geschehen wird, es muß von einem ausgeführt werden, der als Frosch unbekannt ist.«

 

Auf einem anderen Zettel: »Gordon hat eine Einladung für Donnerstag zum Dinner der Amerikanischen Gesandtschaft. Ein Ende machen. Elk hat eine neue Alarmglocke unter der vierten Treppe anbringen lassen. Er geht morgen um 4.14 nach W., um M. zu verhören.«

 

Es gab da noch andere Zettel, die von Leuten handelten, von denen Dick nie gehört hatte. Er lächelte eben über die lakonische Instruktion, ein Ende mit ihm zu machen, als der Amerikaner eintrat.

 

»Setzen Sie sich, Herr Broad. Elks trauriger Blick sagt mir, daß Sie Ihre Anwesenheit hier hinreichend erklären konnten.«

 

Broad nickte lächelnd. »Und Herr Elk gibt sich solch riesige Mühe«, sagte er. Seine Blicke fielen auf die Papiere. »Wäre es indiskret, zu fragen, ob dies hier Froschakten sind?« fragte er.

 

»Sehr«, sagte Dick. »Jede Ihrer Bemerkungen über die Frösche bedeutet den Höhepunkt der Indiskretion, sofern Sie nicht gewillt sind, etwas zu unserer Aufklärung beizutragen.«

 

»Ich kann Ihnen, ohne mich ganz zu eröffnen, mitteilen, daß Ihr Frosch Nummer Sieben durchgebrannt ist«, sagte der Amerikaner kühl. »Ich hörte die Frösche jubeln, als sie unter Bewachung die Straße hinuntergeführt wurden. Die Verkleidung von Nummer Sieben war vollendet. Er trug die Uniform eines Polizisten.«

 

Elk fluchte leise, aber gründlich. »Also das war er«, sagte er. »Er war der Polizist, der Hagn unter dem Vorwand zu arretieren, abführte. Und wenn nicht einer meiner Leute zufällig ihm den Gefangenen weggenommen hätte, so wären sie beide entwischt. Bitte, warten Sie.«

 

Elk suchte den Detektiv auf, der Hagn hereingeführt hatte.

 

»Ich kenne den Schutzmann nicht«, sagte der Beamte. »Er war von einer mir fremden Abteilung. Ein größerer Mann mit einem dicken, schwarzen Schnurrbart. Wenn es eine Verkleidung war, dann war sie ausgezeichnet.«

 

Elk kehrte geknickt zurück.

 

»Ich möchte das eine nur gerne wissen, was für ein Spiel der Frosch mit Ray Bennett treibt?« sagte Joshua Broad. »Denn das ist jedenfalls die interessanteste Intrige der Froschstrategie.« Er erhob sich und nahm seinen Hut. »Gute Nacht! Vergessen Sie nicht, nach dem Kindergarten zu suchen, Inspektor.« Er lächelte beim Abschied, und Elk durchstöberte das Haus vom Boden bis zum Keller ohne das leiseste Resultat.

 

»Ich glaube, daß sich hier eine sehr wertvolle Spur verrät«, sagte Dick, indem er Elk ein Papier reichte. Dieser las: »Alle Ochsen müssen Mittwoch 3. 1. A. hören! L. V. M. B. Wichtig!«

 

»Es sind fünfundzwanzig Abschriften von dieser einfachen aber aufregenden Botschaft vorhanden«, sagte Dick. »Und da ich keine Briefumschläge für die Instruktionen finde, so kann ich nur vermuten, daß Hagn sie entweder vom Klub oder von seiner Wohnung aus expediert hatte. Soweit habe ich die Ziffern in der Organisation der Frösche festgestellt. Frosch Nummer Eins arbeitet durch ›Sieben‹ , der vielleicht – oder vielleicht auch nicht – den Chef kennt. Hagn, dessen Nummer, nebenbei erwähnt, dreizehn ist, die ihm auch noch viel Unglück bringen wird, ist der ausübende Chef vom Büro Sieben und verkehrt nur mit den Leitern der einzelnen Sektionen. Sieben bekommt seine Orders vom Frosch selbst, aber er darf auch ohne Anfrage arbeiten, wenn sich Notfälle ergeben. Hier zum Beispiel«, er klopfte mit dem Zeigefinger auf das Papier, »ist eine Entschuldigung für die Verwendung von Mills, was meine Annahme bestätigt.«

 

»Keine Handschrift?« – »Nein, auch keine Fingerabdrücke.«

 

Elk nahm einen der Zettel, auf denen die Nachrichten geschrieben waren, und hielt ihn gegen das Licht.

 

»Drei Löwen als Wasserzeichen«, sagte er. »Eine neue Schreibmaschine von jemand Geschultem geschrieben, dessen kleiner Finger der linken Hand schwach ist, denn das Q und A sind durchlaufend schwach. Das zeigt, daß er nach dem Fingersatz schreibt. Maschinenschreib-Amateure gebrauchen selten ihre kleinen Finger, besonders an der linken Hand. Ich erwischte einmal einen Bankdieb, nur weil ich das wußte.« Er las nochmals die Nachricht. »Alle Ochsen müssen am Mittwoch hören. – ›Ochsen‹ bedeutet hier die Anführer, die Ochsenfrösche. Hm, wo hören Sie zu? ›3. 1. A.‹, das gibt mir zu denken, Herr Hauptmann.« Dick sah ihn merkwürdig an.

 

»Am 3. 1. Mittwoch nachts werden wir das Codesignal L. V. M. B. abhören. Wir werden den großen Frosch sprechen hören, mein lieber Elk!«

 

Kapitel 15

 

15

 

Ray Bennett erwachte. Seine Schläfen hämmerten, seine Zunge lag trocken im Mund. Als er den schmerzenden Kopf vom Kissen zu heben versuchte, stöhnte er, aber es gelang ihm mit Willensanstrengung, aus dem Bett zu steigen und sich bis ans Fenster zu schleppen. Er stieß die bleigefaßten Fensterflügel auf und sah auf den grünen Hyde-Park hinaus.

 

Dann goß er ein Glas mit Wasser voll und trank es gierig, setzte sich auf den Rand des Bettes, den Kopf in den Händen, und versuchte die Ereignisse der vergangenen Nacht zu überdenken. Er konnte sich ihrer nur trübe entsinnen, aber er war sich dessen bewußt, daß etwas Schreckliches geschehen war. Langsam erhellte sich die Erinnerung mehr und mehr, und mit schwerem Herzen wurde er sich des furchtbaren Vorganges bewußt.

 

Er sprang auf und begann hin und her zu gehen, bemüht, Rechtfertigung vor sich selber zu ersinnen. Die Eitelkeit der Jugend weist Entschuldigungen für eigene Fehltritte nicht zurück, und Ray stellte keine Ausnahme unter der Jugend dar.

 

Nachdem er ein Bad genommen und sich angekleidet hatte, war er bereits zu der Ansicht gekommen, daß viel, viel Unrecht an ihm geschehen sei. Es war unverzeihlich von ihm gewesen, seinen Vater zu schlagen, und er wollte ihm sicherlich sogleich schreiben, um seinen Schmerz hierüber zu betonen. Aber es sollte kein kriecherischer Brief sein, gelobte er sich, sondern ein würdiger und distanzierender. Schließlich kamen doch in allen Familien derlei Streitigkeiten vor. Und eines Tages würde er als reicher Mann zu seinem Vater zurückkehren und . . .

 

Ray verzog unangenehm berührt die roten Lippen. Es ging ihm ja jetzt recht gut, er hatte eine teure Wohnung, jede Woche wurden neue knisternde Banknoten durch die Post an seine Adresse gesandt. Er hatte auch ein Auto . . . aber wie lange würde es wohl so bleiben? Ray war kein Narr, nicht ganz so klug vielleicht wie er sich dünkte, aber auch nicht dumm. Warum sollte die japanische – oder irgendeine andere Regierung – ihn für Informationen bezahlen, die sich doch aus jedem erreichbaren Handbuch schöpfen ließen, die für ein paar Schillinge bei jedem Buchhändler zu kaufen waren. Er ließ den Gedanken fallen. Er besaß die Gabe, alles von sich zu schieben, was ihn störte. Er öffnete die Tür, die in sein Speisezimmer führte und erstarrte.

 

Ella saß an dem offenen Fenster, den Ellbogen auf dem Sims und das Kinn in der Hand. Sie war blaß, und tiefe Schatten lagen unter ihren Augen.

 

»Ella, was, um Gottes willen, machst du hier?« fragte er. »Wie bist du hereingekommen?«

 

»Der Portier hat mir mit seinem Schlüssel geöffnet, als ich ihm sagte, daß ich deine Schwester bin«, sagte sie apathisch. »Ich kam sehr zeitig heute morgen, und ich will dich fragen, ob du nicht nach Horsham kommen und mit Vater sprechen möchtest?«

 

»Nicht jetzt, nein – in ein paar Tagen«, sagte er hastig. Tatsächlich fürchtete er sich nicht davor, seinem Vater zu begegnen.

 

»Wäre es denn ein solch schreckliches Opfer, Ray, das alles aufzugeben?«

 

Er machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das alles nicht, wenn du damit die Wohnung meinst. Aber du und Vater, ihr wollt doch, daß ich meine Arbeit aufgebe.«

 

»Ich glaube nicht, daß das dein Schaden wäre.« Das war ein neuer Ton, und Ray starrte sie an. Ella war ihm immer eine nachsichtige, billigende, entschuldigende Schwester gewesen. Ein Puffer zwischen ihm und den Ermahnungen seines Vaters.

 

»Komm zu Papa zurück, Ray, komm sofort!«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Nein, ich kann nicht. Ich werde ihm schreiben. Ich gebe zu, daß ich unrecht an ihm gehandelt habe und werde ihm das auch in meinem Brief schreiben; aber mehr kann ich nicht tun.« Es klopfte an die Tür.

 

»Herein!« rief Ray.

 

»Wollen Sie Fräulein Bassano und Herrn Brady empfangen?« fragte der Diener im Flüsterton und sah bedeutsam nach Ella hin.

 

»Natürlich will er mich empfangen!« rief eine Stimme draußen.

 

»Wozu denn diese Formalitäten? Ach, ich verstehe . . .« Lola Bassano maß Ella aus halbgeschlossenen Lidern.

 

»Das ist meine Schwester Ella«, stellte Ray vor, »und dies sind Fräulein Bassano und Herr Brady.«

 

Ella blickte nach der zarten Gestalt in der Tür und vermochte nur zu bewundern, was sie erblickte. Lolas schönes Gesicht, ihre Haltung, ihre wundervolle Hand, ihre Art sich zu kleiden, entzückten sie.

 

»Gefällt Ihnen die Wohnung Ihres Bruders?« fragte Lola, die gegenüber Platz nahm und ihre Beine übereinanderschlug.

 

»Es ist sehr schön hier, und Horsham wird ihm ziemlich öde vorkommen, wenn er zu uns zurückkehrt«, sagte Ella.

 

»Ja, gehen Sie denn nach Horsham zurück?« Lola warf den Kopf in den Nacken und sah Ray voll in die Augen, während sie diese Frage stellte.

 

»Ich denke nicht daran!« sagte Ray energisch. »Ich habe Ella schon vorhin gesagt, daß meine Arbeit hier mir viel zu wichtig ist, um sie aufzugeben.«

 

Lola nickte zufrieden, und eine seltsame Kälte überkam Ella plötzlich. Eine Sekunde vorher war sie noch von Lolas Schönheit gefangengenommen gewesen. Nun aber schien ihr, als berge sich viel Grausamkeit in den Linien ihres schönen Mundes. »Sie müssen wissen, Fräulein Bassano, daß Gordon meiner Schwester die reinsten Spukgeschichten über uns erzählt hat.«

 

»Gordon ist Monomane«, sagte Lew Brady. »Er hat ja sogar Elk zu Ihrem Herrn Vater geschickt, um ihn verhören zu lassen. Er meint, daß es in der ganzen Welt lauter Verbrecher gibt und einen einzigen Mann, der sie zu fangen vermag, und das ist er selber . . .«

 

»Tapp, tapp, tapptapptappp, tapp.« Es klopfte an die Tür. Langsam, überlegt, unverkennbar. Die Wirkung auf Lew Brady war eine höchst merkwürdige. Sein mächtiger Körper schien zusammenzusinken, und sein braunes Gesicht wurde plötzlich ganz hohl.

 

»Tapp, tapp ,tapptapptapp, tapp.«

 

Die Hand, die Brady zum Mund führte, zitterte. Ella blickte von ihm zu Lola und sah zu ihrem Erstaunen, daß sie unter ihrem Rouge blaß geworden war. Brady stolperte zur Tür, und sein Atem ging schwer und laut in der Stille.

 

»Herein!« brachte er hervor. Aber er vermochte das Eintreten nicht abzuwarten, er riß selbst die Tür auf.

 

Es war Dick Gordon, der eintrat.

 

Er sah einen nach dem andern mit lachenden Augen an. »Das Froschzeichen scheint manchen von euch zu erschrecken?« sagte er vergnügt.

 

Kapitel 16

 

16

 

Lola gewann als erste ihre Fassung wieder. »Es war nicht nett von Ihnen, uns so zu erschrecken, ich fürchte mich sehr vor den Fröschen, seit man so viel über sie in den Zeitungen liest.«

 

»Das Zeichen ist meine neueste Errungenschaft«, sagte Dick mit spöttischem Ernst. »Ein Frosch des dreißigsten Grades hat es mich gelehrt. Und er sagte mir, es ist dies das Signal, das der Meister, der große, alte Ochsenfrosch gibt, wenn er seine Untergebenen aufzusuchen beliebt.«

 

»Ihr dreiunddreißigjähriger Frosch lügt wahrscheinlich«, sagte Lola, in deren Wangen der Zorn neue Farbe jagte. »Überhaupt hat Mills . . .«

 

»Ich habe Mills gar nicht erwähnt«, sagte Dick.

 

»Aber seine Verhaftung stand doch in allen Blättern.«

 

»Sie erschien in keinem einzigen Blatt!« sagte Dick. »Falls sie nicht in ›Die Neue Froschzeitung‹ eingeschaltet wurde. Vermutlich unter Personalnachrichten.«

 

Ray trat einen Schritt vor. »Was führt Sie her, Gordon?«

 

»Ich möchte privat mit Ihnen sprechen«, sagte Dick.

 

»Es gibt nichts, was Sie mir nicht vor meinen Freunden sagen könnten«, antwortete Ray, der unmutig zu werden begann.

 

»Die einzige, für die dieser Titel Geltung hat, ist Ihre Schwester«, antwortete Gordon.

 

»Gehen wir, Lew«,, sagte Lola achselzuckend. Aber Ray hielt sie zurück.

 

»Einen Augenblick! Ist das meine Wohnung oder nicht?« fragte er wütend. »Sie kommen ganz einfach her, beleidigen meine Freunde und werfen sie faktisch zur Tür hinaus. Ich bewundere Ihre Kühnheit. Dort ist die Tür!«

 

»Wenn Sie es so aufnehmen, so muß ich gehen!« sagte Dick. »Aber, ich kam hierher, um Sie zu warnen.«

 

»Pah, ich pfeife auf Ihre Warnungen!«

 

»Ich kam, um Ihnen zu sagen, daß der Frosch beschlossen hat, Sie Ihr Geld in Zukunft auch verdienen zu lassen. Das ist alles.«

 

Totenstille folgte, die endlich Ellas schwankende Stimme unterbrach.

 

»Der Frosch?« wiederholte sie mit aufgerissenen Augen. »Aber, Herr Gordon, Ray gehört doch nicht zu den Fröschen?«

 

»Es wird ihm vielleicht noch neu sein, aber es ist trotzdem wahr. Ihre beiden Gäste, Ray, sind treue Diener des Reptils, Lola wird von ihm ausgehalten, genauso wie ihr Gatte . . .«

 

»Lügner!« schrie Ray. »Lola ist nicht verheiratet. Sie sind ein elender Lügner. Hinaus, bevor ich Sie selbst hinauswerfe!«

 

Ellas stummes Flehen bewog Dick, wortlos zur Tür zu gehen. An der Schwelle wendete er sich um, und sein kalter Blick heftete sich auf Lew Brady.

 

»Im Froschbuch steht ein großes Fragezeichen bei Ihrem Namen, Brady! Seien Sie auf der Hut!«

 

Brady fuhr unter dem Schlag zusammen; denn es war ein Schlag. Hätte er es gewagt, so wäre er Gordon auf den Korridor nachgefolgt, um weitere Informationen zu erbetteln. Aber dazu fehlte ihm der Mut, und er stand in seiner ganzen Riesengröße da und sah hilflos und traurig auf die Tür, die der Besucher hinter sich geschlossen hatte.

 

»Um Gottes willen, lassen wir frische Luft herein!« rief Ray und riß das Fenster auf. »Dieser Kerl ist ja die reine Pest! Verheiratet! Und das will er mich glauben machen? . . . Du gehst schon, Ella?«

 

Seine Schwester nickte.

 

»Sage dem Vater, ich würde ihm schreiben. Sprich für mich und beweise ihm, daß auch er oft Unrecht an mir begangen hat!«

 

Sie hielt ihm die Hand entgegen. »Lebe wohl, Ray«, sagte sie. »Vielleicht wirst du eines Tages zu uns zurückkehren.« Die Bewegung überwältigte sie, und Tränen liefen über ihre Wangen. Sie drängte sich an ihn und flüsterte: »O, Ray, Ray, ist das denn wahr? Gehörst du zu den Fröschen?«

 

»Aber Ella, es ist ungefähr so viel Wahres daran, wie an der Geschichte von Fräulein Bassanos Verheiratung. – Sensationen! Gordon will immer nur Sensationen hervorrufen!«

 

Ella nickte Lola zum Abschied zu, ohne ihr die Hand zu reichen.

 

Lew Brady sah ihr mit hungrigen Augen nach, als Ray sie zum Lift begleitete.

 

»Was hat er gemeint, Lola?« fragte Brady, als die beiden zurückblieben. »Gordon weiß etwas! Hast du gehört? Es steht ein Fragezeichen bei meinem Namen! Das ist böse. Lola, ich habe genug von diesen Fröschen. Sie gehen mir auf die Nerven!«

 

»Du bist ein Narr«, sagte sie ruhig. »Gordon hat genau das erreicht, was er wollte, er hat dir Angst gemacht.«

 

»Angst?« antwortete Lew. »Du hast keine Angst, weil du keine Phantasie hast. Ich bin in Unruhe, weil ich einzusehen beginne, daß die Frösche zehnmal größer sind, als mir je geträumt hat! Sie haben neulich erst den Schotten Maclean getötet, sie werden sich’s nicht zweimal überlegen, bevor sie mir den Garaus machen. Ich kenne die Frösche, Lola. Sie sind imstande, jedes Verbrechen zu begehen, vom Mord angefangen! Der Frosch ist ihr Gott, ihr Idol. – Ein Fragezeichen bei meinem Namen? Ich könnte es beinahe glauben! Ich habe etwas über sie ausgeplaudert, und das werden sie mir nicht verzeihen.«

 

»Pst!« warnte sie. Schritte wurden hörbar, und Ray kam zurück.

 

»Gott sei Dank, sie ist fort! Ach, was ist das heute für ein Morgen. Ich sehe schon überall grüne Frösche, wie ein Säufer im Delirium tremens weiße Mäuse sieht.«

 

Lola öffnete ihr goldenes Zigarettenetui, entzündete eine Zigarette und löschte das Zündhölzchen mit einem Knipsen des Fingers aus. Dann wendete sie über die Schulter hin ihr schönes, weißes Gesicht Ray zu. »Was hast du gegen die Frösche?« fragte sie kühl. »Sie zahlen gut und verlangen wenig.«

 

Ray starrte sie an.

 

»Wie meinst du das?« fragte er verblüfft. »Es sind doch niedrige Vagabunden, die die Leute umbringen?«

 

Sie schüttelte den Kopf.

 

»Nicht alle«, verbesserte sie. »Das ist nur die Masse. Die großen Frösche sind schon anderer Art. Ich bin einer und Lew ist einer.«

 

»Was, zum Teufel, plapperst du da?« fragte Lew halb in Angst und halb in Zorn.

 

»Er soll es nur wissen. Früher oder später muß er es wissen«, sagte Lola unbewegt. »Er ist ein viel zu gescheiter Junge, um für ewige Zeiten an die japanische Gesandtschaft zu glauben. Warum soll er nicht wissen, daß er ein Frosch ist?«

 

Ray taumelte zurück. »Ein Frosch?« wiederholte er mechanisch.

 

Lola trat hinter seinen Stuhl.

 

»Ich kann nicht begreifen, warum es schlimmer sein soll, ein Frosch zu sein, als der Agent einer fremden Regierung, der du die Geheimnisse deines Vaterlandes verkaufst«, sagte sie. »Man hat dich aus Tausenden auserwählt, weil man die richtige Intelligenz bei dir gefunden hat. Du solltest darüber geschmeichelt und nicht entrüstet sein.« Sie streckte ihm ihre schmalen Hände entgegen, die seine Seele wie Wachs zu formen wußten, und er küßte sie.

 

»Etwas wirklich Schlechtes wird man doch von mir nicht verlangen?« fragte er zögernd. »Ich bin auch absolut nicht dazu angetan, Leute mit dem Knüppel zu erschlagen, aber du hast vielleicht recht – man kann den Frosch nicht für alles verantwortlich machen, was seine Leute anstellen. Nur in einer Sache bleibe ich fest, Lola. Ich lasse mich unter keinen Umständen tätowieren!«

 

»Du dummer Junge!« sagte sie und streckte ihren weißen Arm aus. »Bin ich denn tätowiert?« fragte sie. »Oder Lew? Die Großen werden nicht gezeichnet! Du weißt nicht, was für eine große Zukunft du hast, Lieber.«

 

Ray nahm ihre Hand und streichelte sie. »Lola – und diese Geschichte, die Gordon erzählt hat – daß du verheiratet bist, ist das wahr?«

 

Sie strich über sein Haar.

 

»Gordon ist eifersüchtig«, sagte sie. »Nein, frage nicht, ich kann dir jetzt nicht alles erzählen. Aber hat er nicht seine guten Gründe?«

 

Ihre Augen strahlten ihn an, aber als er die Arme nach ihr ausstreckte, entwand sie sich ihm.

 

»Hör zu. Ich werde jetzt um einen Tisch telefonieren, und du kommst mit uns zum Lunch. Und wir werden auf das Wohl des großen, kleinen Frosches trinken, der uns alle ernährt.«

 

Aber als Lola den Hörer abhob, sah sie ein kleines schwarzes Metallkästchen, das an der Basis des Telefons befestigt war.

 

»Ist das eine neue Erfindung?« fragte sie.

 

»Man hat es gestern angebracht«, erwiderte Ray. »Der Monteur erzählte mir, daß jemand, der während eines Gewitters telefonierte, einen schrecklichen Schlag bekommen hat, und so machen sie jetzt das Experiment mit diesen Apparaten, die sie überall anbringen. Es macht das Telefon schwerer und ist auch häßlich, aber …«

 

Lola legte den Hörer nieder und beugte sich über den Apparat.

 

»Es ist ein Diktaphon«, sagte sie. »Und die ganze Zeit, während wir gesprochen haben, hat man unser Gespräch belauschen können.«

 

Sie ging zum Kamin, holte den Schürhaken und ließ ihn mit einem Krach auf den kleinen Kasten fallen.

 

Inspektor Elk, der, die Hörer auf dem Kopf, in seinem kleinen Büro auf dem Themse-Embankment saß, legte den Bleistift mit einem Seufzer nieder. Dann nahm er seinen Hörer von der Gabel auf und rief die Polizeizentrale an.

 

»Sie können das Diktaphon bei Nummer 93718 abschrauben«, sagte er.

 

Er sammelte seine Stenogrammnotizen, ging an sein Pult und legte sie gleich neben seinem Ablöscher zurecht. Zum Fenster schlendernd, blickte er auf den sonneblitzenden Fluß hinab, und Friede und Freude wohnten in seinem Herzen.

 

In derselben Nacht hatte sich der Gefangene Mills, nachdem ihm Straflosigkeit und freie Fahrt nach Kanada zugesichert worden waren, entschlossen, ein volles Geständnis in Aussicht zu stellen. Und Mills wußte viel, weit mehr, als er bis jetzt gestanden hatte.

 

»Ich kann Ihnen eine Spur angeben, die Ihnen Nummer Sieben in die Hände liefern wird«, hatte auf einem Zettel gestanden. »Nummer Sieben!« Elk holte tief Atem. Nummer Sieben war der Angelpunkt, um den sich das Rad drehte. Elk rieb sich die Hände, denn nun schien es, daß das Geheimnis des Frosches doch gelöst werden sollte. Vielleicht würde die Spur, auch zu dem fehlenden Vertrag hinführen.

 

Bei dem Gedanken an das fehlende Dokument seufzte Elk. Zwei Minister, ein großes Staatsdepartement und unzählige Untersekretäre füllten ihre Bürozeit mit wilden Erkundigungsschreiben an die Polizeidirektion aus, die alle Lord Farmleys Verlust zum Inhalt hatten.

 

»Sie fordern Wunder!« sagte Elk. »Und ich glaube nicht, daß heutzutage noch Wunder geschehen.«

 

Er ging zum Kleiderständer, um sich zum Trost die Zigarrentasche aus seinem Rock zu holen, und seine Hand berührte dabei eine dicke Papierrolle. Er zog sie heraus und warf sie auf sein Pult. Sie entfaltete sich, und sein Blick fiel auf die ersten Worte des ersten Blattes: »Im Namen von des Königs allerhöchster Majestät …«

 

Elk wollte aufschreien, aber die Stimme versagte ihm. Er riß die Papiere vom Pult und wendete mit zitternden Händen die Blätter um. Es war der verlorene Vertrag.

 

Elk hielt das kostbare Dokument in Händen und ließ die Ereignisse der heutigen Nacht an sich vorüberziehen. Wann hatte er nur den Überrock abgelegt? Wann hatte er nur zuletzt die Hand in die Tasche gesteckt? Er hatte den Rock in die Garderobe des Herons-Klubs gegeben und konnte sich nicht entsinnen, seither in die Tasche gegriffen zu haben. Also war es doch wohl im Klub geschehen! Vielleicht war einer der Kellner der Frosch gewesen.

 

Elk setzte sich nieder, um nachzudenken. »Du lieber Gott!« sagte er.

 

Er läutete, und Balder kam herein.

 

»Balder, Sie können sich erinnern, daß ich durch Ihr Zimmer gegangen bin. Trug ich da den Rock über dem Arm?«

 

»Ich habe gar nicht darauf geachtet«, sagte Balder mit Befriedigung.

 

Balder machte stets auf Elk den Eindruck, als ob es ihm herzliche Zufriedenheit bereite, wenn er nichts gesehen hatte, wenn er nichts wußte, wenn er nicht fähig war, zu helfen.

 

»Sehr merkwürdig«, sagte Elk.

 

»Etwas nicht in Ordnung, Herr Inspektor?«

 

»Nein, nein. – Haben Sie sich gemerkt, was mit Mills zu geschehen hat? Er darf mit niemandem sprechen. Im Augenblick seiner Ankunft soll er in das Wartezimmer geführt werden und ganz allein bleiben. Es ist nicht erlaubt, mit ihm zu reden, oder, falls er selbst sprechen sollte, zu antworten.«

 

Elk prüfte seinen Fund nochmals. Es fehlte nichts, auch die Anmerkungen des Ministers waren vorhanden. Elk rief Seine Lordschaft an und erstattete seinen erfreulichen Bericht. Zehn Minuten später kam eine kleine Abteilung vom Auswärtigen Amt, um das kostbare Dokument abzuholen und Elk im Namen des Ministeriums den Dank für seine wertvollen Dienste auszudrücken.

 

Hätte Elk die Papiere nicht wieder zu finden gewußt, so hätte man ihn von ganzem Herzen verflucht, und er wäre ebenso unschuldig daran gewesen. Es blieb noch eine Stunde bis zur Ankunft Mills‘, und Elk verbrachte diese mit Hagn, der nun eine besondere Zelle, entfernt von den gewöhnlichen Haftplätzen, in der Cannon-Row-Station einnahm.

 

Hagn weigerte sich, irgendwelche Geständnisse zu machen.

 

»Sie haben keine Beweise, Elk«, sagte er. »Und Sie wissen, daß ich unschuldig bin.«

 

»Sie waren der letzte, den man in Genters Gesellschaft gesehen hat«, sagte Elk fest. »Im übrigen hat auch Mills alles verraten.

 

Ich will es Ihnen gestehen, wir haben seit heute morgen Nummer Sieben unter Schloß und Riegel.«

 

Zu seinem Erstaunen brach Hagn in helles Gelächter aus.

 

»Bluff!« sagte er. »Und ein billiger Bluff. Damit können Sie kleine Diebe täuschen, aber mir machen Sie nichts weis. Wenn Sie ›Sieben‹ gefangen hätten, würden Sie nicht so fröhlich zu mir sprechen. Gehen Sie doch und finden Sie ihn, Elk. Und wenn Sie ihn gefunden haben, dann halten Sie ihn nur ja fest. Lassen Sie ihn nicht entkommen, so wie Mills Ihnen entkommen wird.«

 

Elk kehrte von dieser Unterredung mit dem Gefühl zurück, daß vielleicht doch nicht alles ganz nach seinem Wunsch gegangen war.

 

Aber als er das Gebäude verließ, winkte er dem Oberinspektor.

 

»Ich werde Hagn heute nachmittag einen Lockvogel schicken. Stecken Sie die beiden zusammen und lassen Sie sie allein.«

 

Der Oberinspektor nickte verständnisinnig.