Die Marderfalle – Bengele wird Hofhund

Einundzwanzigstes Stück.

Die Marderfalle – Bengele wird Hofhund

Der Hampelmann wollte noch vor Nacht zu Hause sein. Er sprang über die tote Riesenschlange weg und ging seines Weges weiter.

Nach einiger Zeit befiel ihn der Hunger so entsetzlich, daß er zu sterben glaubte. Mühsam schleppte er sich noch in einen Weinberg neben der Straße, um ein paar Traubenbeerchen zu pflücken.

Hätte er es doch nicht getan!

Das unglückliche Hampelchen war noch keine fünf Schritte von der Straße weg, da machte es: krack! – und seine Füße waren zwischen zwei Eisen eingeklemmt. Diese schlugen so fest zusammen, daß der Arme ohnmächtig niedersank.

Seit einiger Zeit trieben in dieser Gegend ein paar freche Marder ihr Unwesen. Sie drangen in die Hühnerställe ein, stahlen die Eier und mordeten das Federvieh. Darum legten die Bauern allenthalben Marderfallen. Unser Unglücksbengele war just in eine solche hineingetreten und konnte sich nicht mehr von der Stelle rühren.

Als er wieder zu sich kam, weinte er laut und rief um Hilfe.

Es war alles vergeblich; in der Nähe wohnte niemand und kein Mensch ging den einsamen Feldweg.

Unterdessen wurde es Nacht.

Die Eisen preßten Bengele die Beine zusammen, und er litt große Schmerzen. Überdies bekam er Angst, als er so ganz allein in der Nacht auf dem Felde war. – Da flog ein Leuchtkäferchen über seinen Kopf; er rief ihm und sagte:

»Leuchtkäferchen, tu mir doch den Gefallen und befreie mich aus dieser Qual!«

»Armes Kerlchen!« sagte dieses und schaute sich den Hampelmann mitleidig an; »wie bist du nur mit den Beinen zwischen diese beiden Eisen geraten?«

»Ich bin von der Straße gegangen, weil ich mir zwei Traubenbeerchen abzupfen wollte und …«

»Ist das dein Weinberg?«

»Nein!«

»Wer hat dir denn gesagt, daß man den andern ihre Sachen nehmen darf?«

»Ich hatte doch so sehr Hunger!«

»Die bösen Kinder finden immer einen Grund, den andern Leuten ihre Sachen wegzunehmen!«

»Du hast recht«, seufzte Bengele; »aber ich werde es auch nie mehr tun.«

Das Zwiegespräch ward jäh abgebrochen; denn von der Straße hörte man Schritte, und das Leuchtkäferchen flog davon. – Auf den Zehenspitzen kam der Bauer angeschlichen, um nachzusehen, ob ein Marder in die Falle gegangen sei.

Sein Erstaunen war unbeschreiblich, als er die Laterne unter seinem Mantel hervorzog und statt eines Marders einen Hampelmann in der Falle fand.

»So, du Tropf«, sagte der Bauer wütend, »du stiehlst mir meine Hühner!?«

»Aber nein, ich nicht!« schluchzte Bengele, »ich bin hierher gekommen, weil ich mir ein paar Traubenbeerchen abzupfen wollte.«

»Wer Trauben stiehlt, kann auch Hühner stehlen. Du wirst schon sehen, was ich jetzt mit dir anfange! – Den Denkzettel vergissest du so schnell nicht wieder!«

Der Bauer machte die Falle auf, faßte den Hampelmann am Genick, wie man eine Katze packt, und trug ihn nach Hause.

Vor dem Hoftore warf er den Gefangenen auf den Boden, stand mit einem Fuße auf seinen Hals und sagte:

»Heute ist es mir zu spät; ich will jetzt zu Bett gehen. – Morgen werden wir abrechnen. Einstweilen machst du mir den Hofhund! Ich habe heute früh meinen treuen Phylax tot in seiner Hütte gefunden. Von jetzt an übernimmst du sein Wächteramt.«

Der Bauer hob das Hundeband auf und legte es Bengele so eng um den Hals, daß er es nicht über den Kopf streifen konnte. Der Lederriemen hing an einer langen Kette, und diese war mit dem andern Ende in die Mauer geschmiedet.

»Wenn es regnet, kannst du in die Hundehütte kriechen. Phylax hat das auch so gemacht. Stroh liegt genug drinnen. Wenn Diebe kommen, so mußt du die Ohren spitzen und laut bellen! – Verstanden?«

Mit diesen Worten ging der Bauer in sein Haus.

Bengele verging fast vor Kälte; es quälten ihn Hunger und Angst. Er wollte das Halsband abstreifen; aber es saß fest und schnürte ihm die Kehle zusammen.

Der Hampelmann ergab sich in sein Schicksal. Er setzte sich auf einen Stein vor der Hundehütte und schaute in die stille Nacht hinein. Hell glänzte der Mond, freundlich blinkten die Sternlein vom Himmel hernieder. Bengele wurde traurig. Er dachte wieder über sein Leben nach und sagte:

»Es geschieht mir recht, ganz recht! Ich war eigensinnig und bin von zu Hause weggelaufen. Ich habe auf schlechte Kameraden gehört, und darum kommt all das Unglück über mich. Wäre ich ein ordentlicher Knabe gewesen, hätte ich gelernt und gearbeitet, wäre ich beim Vater daheim geblieben, dann müßte ich jetzt nicht einem Bauern den Hofhund machen. Wenn ich nur noch einmal auf die Welt kommen könnte! – Aber jetzt ist mit dem besten Willen nichts mehr zu ändern!«

Weinend stillte Bengele seinen quälenden Hunger mit der kalten Hundesuppe, die Phylax übriggelassen hatte. Dann kroch er müde in die Hütte und schlief ein.

Belohnte Treue

Zweiundzwanzigstes Stück.

Belohnte Treue

Gegen Mitternacht wurde Bengele aus dem Schlafe geweckt. Er hörte ein Gezischel in der Nähe seiner Hundehütte und streckte vorsichtig die Nase hinaus. Da standen vier Tiere beisammen und schwatzten miteinander. Sie sahen aus wie schwarze Katzen; aber es waren die Marder. – Die blutgierigen Räuber hatten es wieder auf frische Eier und junge Hühner abgesehen und besprachen eben ihren Kriegsplan.

Da kam einer von ihnen zur Hundehütte geschlichen und lispelte:

»Phylax! – Phylax, guten Abend!«

»Ich heiße nicht Phylax«, sagte Bengele.

»Ja, wer bist du denn?«

»Ich bin Bengele!«

»Was machst du da?«

»Den Hofhund!«

»Und Phylax? Wo ist der gute Alte hingekommen?«

»Er ist heute früh gestorben!«

»Gestorben! – Armer Kerl. Er war so treu und gut! – Doch dir seh‘ ich es schon am Gesicht an; auch du bist ein anständiger Hund!«

»Bedaure sehr, ich bin kein Hund.«

»Was dann?«

»Ein Hampelmann.«

»Und machst den Hofhund?«

»Allerdings, zur Strafe!«

»Gut! – Ich mache dir das gleiche Anerbieten wie dem verstorbenen Phylax und denke, daß du einverstanden bist!« –

»Das wäre?«

»Wir kommen jede Woche einmal wie bisher und untersuchen diesen Hühnerstall. Acht Hühner nehmen wir jeweils mit. Sieben davon gehören uns, eines schenken wir dir unter der Bedingung, daß du dir nie einfallen läßt zu bellen und den Bauern zu wecken.«

»Das hat Phylax wirklich so gemacht?«

»Jawohl, und wir sind dabei stets gut miteinander ausgekommen. – Schlafe also ruhig. Bevor wir gehen, lassen wir dir vor der Hütte ein Huhn liegen, fein gerupft zum Frühstück für morgen. – Einverstanden, nicht wahr!« –

»Und wie!«… sagte Bengele. Aber er wackelte mit dem Kopfe in drohender Art und sagte für sich selbst: »Wir werden gleich deutlicher miteinander reden.«

Die vier Marder waren ihrer Sache sicher und gingen sofort zum Hühnerstall. Dieser lag ganz nahe bei der Hundehütte. Die Diebe öffneten die Türe mit ihren scharfen Zähnen und huschten einer nach dem andern hinein. – Kaum waren sie drinnen, so ward die Türe mit Wucht zugeschlagen.

Bengele hatte die Marder in den Hühnerstall gesperrt, und damit sie ja nicht auskamen, wälzte er vor das Holztürchen einen großen Stein.

Jetzt ging’s ans Bellen; er konnte es wahrhaftig wie ein Hofhund; laut dröhnte sein zorniges: bu, bu, bu – wau, wau, wau!

Gleich sprang der Bauer aus dem Bette, nahm sein Gewehr und guckte zum Fenster hinaus:

»Was ist los?«

»Diebe, Diebe!«

»Wo?«

»Im Hühnerstall.«

»Ich komme gleich hinunter.«

Schon war der Bauer da, ging in den Hühnerstall, packte alle vier Marder und steckte sie in einen Sack. Dann hielt er ihnen folgende Rede:

»So, hab‘ ich euch endlich erwischt! – Ich könnte nun kurzen Prozeß machen; aber ich will euch nicht gar zu grob behandeln. Morgen früh trage ich euch hinüber ins Wirtshaus. Der Wirt zieht euch dann das Fell ab und kocht euch, als Hasenpfeffer. Diese Ehre ist schier zu groß für Hühnerdiebe; aber seine Leute wie ich gönnen auch den Strolchen noch ein bißchen gute Behandlung.«

Darauf ging der Bauer hin zu Bengele, lobte ihn über alle Maßen, streichelte ihn und sprach:

»Aber sage mir nur, wie bist du der Diebesbande auf die Spur gekommen? – Mein armer Phylax hat sie nie erwischt und nie etwas gemerkt.«

Bengele hätte alles erzählen können; er hätte dem Bauern sagen können, wie niederträchtig Phylax unter einer Decke mit den Mardern steckte. Aber er dachte: Der Hund ist tot, und den Toten soll man nie Übles nachreden; es ist am besten, man läßt sie im Frieden ruhen. – Der Bauer drang weiter in Bengele ein: »Hast du gewacht oder geschlafen, als die Marder kamen?« »Geschlafen«, erwiderte Bengele; »aber die Marder haben mich mit ihrem Geschwätze geweckt. Einer kam auch zu mir an die Hütte und sagte: ›Wenn du nicht bellst und den Hausherrn nicht weckst, schenken wir dir ein feingerupftes Huhn‹ – So eine Frechheit! Mir ein solches Anerbieten machen! – Ich bin freilich ein Hampelmann und habe alle möglichen Untugenden; aber das tue ich nie, daß ich den Lumpen den Helfershelfer und dem Stehler den Hehler mache.«

»So ist’s recht!« sagte der Bauer und klopfte ihm auf die Schultern, »alle Achtung vor dir! Weil du ein so guter Hampelmann bist, so laß ich dich jetzt laufen, daß du nach Hause kannst.«

Er nahm ihm das Halsband ab. – Bengele war wieder frei.

Vorwort

Vorwort.

Nenne einem italienischen Kinde Pinocchio,1 und seine dunklen Augen schauen zu dir empor im leuchtenden Glanz der Freude; hast du ihm doch den Namen eines Freundes ausgesprochen. Alle kennen ihn, den allzeit lustigen hölzernen Kleinen. Sie freuen sich immer wieder an seinen lustigen Streichen, trauern mit ihm, wenn es ihm schlecht ergeht, und lernen aus seinen Strafen das Böse meiden im eigenen Leben. »Denke an Pinocchio und seine lange Nase!« mahnst du einen kleinen Lügner; er greift rasch an seine eigene Nase und wird nachdenklich. »Erinnerst du dich des Eselsfiebers, das Pinocchio so große Sorgen machte?« fragst du ein Faulenzerchen, und du hast ihm die beste Strafpredigt gehalten. – Herzensfreude und erzieherischen Nutzen hat das Büchlein allüberall verbreitet, wo es Eingang gefunden. In mehr denn einer halben Million Exemplaren hat es seinen Siegeszug gehalten unter der italienischen Jugend. In Deutschland ist das Schriftchen kaum bekannt geworden. Zwei Bearbeitungen sind vorhanden, haben aber keine nennenswerte Verbreitung gefunden. Der Grund mag darin liegen, daß sie, den tiefen sittlichen Inhalt des Büchleins verkennend, eine leichte Kasperlesgeschichte daraus gemacht oder daß sie in der Übertragung zu eng an das Original sich angeschlossen und dem deutschen Kinde unverständliche Situationen geschaffen haben.

Seit Jahren im engsten Verkehr mit der italienischen und deutschen Jugend, glaubte ich den Versuch wagen zu dürfen, eine neue Bearbeitung herauszugeben, die ohne wesentliche Abweichungen vom italienischen Original deutsch zur deutschen Jugend spricht.

Beim Erscheinen des Büchleins denke ich dankbar zurück an einen großen Freund der Jugend, Herrn Dr. Ernst Geradaus, der einst an linden Frühlingstagen, da uns milde Zephirwinde von den Blütenhügeln der Arnostadt flutende Wellen von Düften entgegentrugen, zuerst den deutschen Bengele gehört und sich der Ausgabe mit großer Liebe angenommen hat.

Florenz, Juli 1913.
Anton Grumann, Rektor.

  1. Name des Helden der italienischen Originalausgabe dieses Buches. (C. Collodi, Le Avventure di Pinocchio, Firenze, R. Bemporad & Figlio.)

Bengele verkauft das ABC-Buch und geht ins Kasperletheater.

Neuntes Stück.

Bengele verkauft das ABC-Buch und geht ins Kasperletheater.

Am andern Morgen nahm Bengele das ABC-Buch unter den Arm und machte sich auf den Weg zur Schule. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, er baute prächtige Luftschlösser und redete vor sich hin:

»Jetzt gehe ich in die Schule und bis heute abend kann ich schon lesen; morgen lerne ich schreiben, übermorgen rechnen! Geschickt wie ich bin, verdiene ich bald viel Geld, und zu allererst kaufe ich meinem Vater einen schönen Kittel. – Von feinem Tuch muß er sein! – Was, Tuch? – Nein, von Gold und Silber und die Knöpfe Edelsteine! Der arme Mann verdient’s! Hemdärmelig muß er einhergehen, damit ich mit meinem Buch zur Schule gehen kann. – Und diese Kälte! Wie gut ist mein Vater, wie sehr liebt er mich! Nie will ich es vergessen und fleißig lernen.«

Das Hampelchen war so in seinen guten Gedanken versunken, daß es eine Weile stehen blieb.

Da klingt aus der Ferne fröhliche Musik an sein Ohr. Deutlich waren die hellen Flöten zu unterscheiden: di-dideldi, di-dideldi – und der große Brummbaß: bum-bumbum, bum-bumbum.

Die Töne kamen vom andern Ende einer langen Straße, die hinaus ans Meer führte. Dort lag vor der Stadt ein großer, freier Platz.

»Was für Musik das ist? – Schade, daß ich heute zur Schule muß, sonst …«

Schon schwankten die guten Vorsätze. – Bengele stand am Scheidewege: zur Schule oder zur Musik.

»Heute höre ich die Musik an – morgen gehe ich zur Schule. Für die Schule ist immer noch Zeit, sie läuft nicht davon.«

So entschied sich der Schlingel. – Alle guten Vorsätze waren vergessen; er schlug die Seitenstraße ein und lief zur Stadt hinaus. Immer deutlicher ward die Musik, immer mehr Menschen gingen denselben Weg. – Bengele kam auf den großen Platz und sah die Musikanten am Eingang einer buntbemalten Meßbude. Eine Menge Leute stand davor, und Bengele fragte einen Knaben:

»Was kann man hier sehen?«

»Lies den Zettel dort, so weißt du es.«

»Ich tät‘ es gern, aber leider kann ich gerade heute noch nicht lesen.«

»Du bist ein netter Esel! – Ich will es dir lesen. Höre:

›Gros-ses Kas-per-le-the-a-ter!‹ So steht dort mit feuerroten Buchstaben.«

»Hat das Stück schon lange angefangen?«

»Eben geht es an.«

»Was kostet’s Eintritt?«

»Zwanzig Pfennig.«

Bengele brannte vor Neugier und schämte sich nicht, den Buben zu fragen:

»Willst du mir nicht bis morgen zwanzig Pfennig leihen?«

»Ich täte es gern«, spottete ihn dieser aus, »aber heute kann ich es gerade nicht.«

»Für zwanzig Pfennig gebe ich dir meinen Kittel«, sagte der Hampelmann.

»Was tue ich mit einem beblümten Papierkittel? Wenn es regnet, pappt er mir auf den Rücken!«

»Kauf mir meine Schuhe ab!«

»Mit denen könnte man allenfalls Feuer anmachen!«

»Was gibst du mir für meine Kappe?«

»Eine Kappe von weichem Brot! – Die Mäuse kommen und fressen sie mir vom Kopfe weg.«

Bengele trippelte von einem Fuß auf den andern. Der Mut ging ihm aus; er zögerte, er kämpfte mit sich selber, endlich sagte er:

»Gib mir zwanzig Pfennig für dies ABC-Buch!«

»Ich kaufe nichts von andern Kindern«, sagte der kluge Knabe.

»Komm her! – Für zwanzig Pfennig nehme ich das ABC-Buch«, rief ein Lumpenmann, der eben mit seinem Karren dazukam.

Sofort wurde der Handel abgeschlossen. –

Bengele, Bengele, hast du alles vergessen? Der arme Vater Seppel hat dir gestern das ABC-Buch gekauft, er hat dafür seinen einzigen Kittel drangegeben und geht jetzt hemdärmelig bei dem Schnee und der harten Kälte!

Bengele und seine hölzernen Brüder.

Zehntes Stück.

Bengele und seine hölzernen Brüder.

Als der Hampelmann ins Theater eintrat, gab es eine halbe Revolution.

Der Vorhang war schon aufgezogen und das Spiel fing eben an. Auf der Bühne standen Kasperle und Hansele. Sie schimpften einander aus, und der eine drohte dem andern nach jedem zweiten Wort mit Ohrfeigen und Stockschlägen.

Die Zuhörer lachten laut über die Holzmännlein; denn sie händelten, fuchtelten und sagten einander so derb die Wahrheit wie richtig zornige Menschen.

Plötzlich hält der Kasperle inne. Er bleibt gegen die Zuschauer gewendet stehen, macht ein erstauntes Gesicht und deutet mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf die hintersten Sitze. Dann kommt die Begeisterung des Schauspielers über ihn, und er spricht:

»Ihr leuchtenden Sterne des Himmels! – Wach ich, oder ist’s ein Traum? – Mein helles Auge sieht die Wirklichkeit; hier trügt kein Schein. In der Zuschauer letzten Reihe sitzt unser Bengele.«

»Der Bengele! – Er ist’s! – Der Bengele!« ruft Hänsele jetzt ebenso freudig entzückt.

»Der Bengele! – leibhaftig der Bengele«, schreit auch Rosalinde und streckt die Nase zwischen den Kulissen heraus.

»Bengele! Bengele!« ertönt’s darauf in den verschiedensten Stimmen, und die Holzfigürchen hüpfen auf die Bühne hinaus.

Kasperle übertönt alle mit seinem Rufe:

»Komm her zu mir! – Komm herauf! – Komm an mein Herz! – Komm, Bengele! – Komm zu deinen hölzernen Brüdern!«

Die Einladung war zu lieb. – Der Hampelmann konnte nicht widerstehen. Er tat einen Sprung von seinem letzten Platze auf die ersten Sitze, einen zweiten auf den Kopf des Dirigenten, mit dem dritten war er auf der Bühne.

Was gab es da ein Wiedersehen! – Wieviel Küsse! Hier sah man die echte Geschwisterliebe. – Bengele fühlte sich selig in diesem tollen Durcheinander.

Der Anblick war rührend, ohne Zweifel; aber die Leute im Zuschauerraume wurden ungeduldig und riefen:

»Weiter machen! – Vorwärts! – Wir wollen das angefangene Stück.«

Was kümmerten sich die hölzernen Spieler darum! Der Lärm ward immer ärger. Sie hatten eben Bengele auf die Schultern gehoben und betrachteten ihn unter den Lichtern der Bühne.

Da trat Feuerschlund heraus, der Theaterdirektor. Er war ein schauerlicher Mann. Wer ihn ansah, bekam Angst. Er trug einen Bart, der so schwarz war wie ein Tintenklecks und so lang, daß er bis auf den Boden reichte. Sein Mund glich einem Backofen und Augen hatte er wie Straßenlaternen mit roten Scheiben. In seiner Hand wirbelte eine Hundepeitsche; aber die Riemen bestanden aus Schlangen und Wolfsschwänzen.

Bei seinem plötzlichen Auftreten ward es mäuschenstill. Alle hielten den Atem an. Man hätte eine Fliege hören können. Die armen Holzfigürchen, Männlein und Weiblein, zitterten wie Pappelblätter.

»Warum störst du mein Theater?« brüllte der Direktor den Bengele an, und seine Stimme war so rauh und gruselig wie die eines Menschenfressers, wenn er den Schnupfen hat.

»Verzeihung, geehrter Herr«, winselte Bengele, »es war nicht meine Schuld.«

»Schon gut, das wollen wir nachher untersuchen!«

Als das Stück zu Ende war, ging der Direktor in seine Küche, wo ein ganzer Hammel für sein Nachtessen gerichtet war. Er hing an einem Spieß und wurde langsam über dem Feuer gedreht. Eben fehlte noch ein wenig Holz, um ihn fertig zu braten. Darum rief der Direktor den Kasperle und den Hansele und befahl:

»Holt mir den fremden Hampel her, den ich drinnen an den Nagel gehängt habe. Er hat sehr dürres Holz; damit kann ich den Hammel fertig braten.«

Kasperle und Hansele wollten nicht gleich gehorchen; aber ein wilder Blick des Direktors genügte, daß sie gingen.

Sie brachten den armen Bengele zur Küche. Umsonst drehte und wand er sich wie ein gefangener Fisch, umsonst war sein Jammern: »Vater, Vater, hilf, ich will nicht sterben, ich will nicht verbrennen.«

Feuerschlund muß niesen.

Elftes Stück.

Feuerschlund muß niesen.

Der Direktor Feuerschlund sah aus wie ein Wüterich. – Denkt nur an seinen schwarzen Bart, der wie ein Schurz Brust und Beine bedeckte! – Aber im Grund war der schreckliche Mann doch nicht sehr böse. Als er den armen Bengele sah und ihn jammern hörte: »Ich will nicht sterben, ich will nicht verbrennen«, wurde er weich und gerührt. Er wehrte sich eine Zeitlang gegen dieses Gefühl, schließlich aber konnte er sich nicht mehr halten und mußte laut niesen.

Kasperle stand bisher gebückt und kummervoll wie eine Trauerweide. Bei dem Niesen wurde er plötzlich heiter und sagte dem Bengele verstohlen und ganz leise:

»Ein gutes Zeichen, Brüderlein! Der Direktor hat niesen müssen. Er hat Mitleid mit dir; jetzt bist du gerettet!«

Wenn sonst die Menschen gerührt sind, weinen sie oder tun, als ob sie’s in den Augen bisse. Feuerschlund mußte in solchen Fällen immer niesen. Wer es wußte, merkte ihm gleich die innere Rührung an.

Nach dem Niesen setzte der Direktor wieder sein wildes Gesicht auf und fuhr den Bengele an:

»Laß das Heulen! Ich bekomme Magenweh von deinem Jammern; schon drückt mich’s wieder …« – Hatzi, hatzi! mußte er noch zweimal niesen.

»Gesundheit!« sagte Bengele.

»Dankschön! – Leben deine Eltern noch?« fragte Feuerschlund.

»Der Vater, ja! Die Mutter habe ich nie gekannt.«

»Was für ein Elend wäre es für deinen Vater, wenn ich dich jetzt ins Feuer geworfen hätte. Armer Vater, du tust mir leid …« hatzi, hatzi, hatzi, dreimal mußte er niesen.

»Gesundheit!« sagte Bengele.

»Dankschön! – Eigentlich muß ich dir aber auch leid tun. Schau da, ich habe kein Holz mehr, um den Hammel fertig zu braten, und du hättest gerade guten Dienst getan. Aber jetzt habe ich Mitleid mit dir und es ist nichts mehr zu machen. Ich will dafür einen von meinen Schauspielern aufs Feuer legen. – Heda! Gendarmen!«

Gleich erschienen zwei lange Holzgendarmen; sie trugen einen altmodischen Helm auf dem Kopf und schwangen ihre Säbel.

Mit rauher Stimme sagte der Direktor:

»Faßt den Kasperle, bindet ihn und legt ihn hier auf das Feuer. Mein Hammel muß gar werden!«

Denkt euch den Schrecken des unschuldigen Kasperle! Seine Beine knacksten zusammen, und er fiel stracks auf die Nase.

In diesem fürchterlichen Augenblick warf sich Bengele dem Direktor zu Füßen, weinte und flehte:

»Erbarmen, Herr Feuerschlund!«

»Herr Feuerschlund?« gab dieser barsch zurück.

»Erbarmen, Herr Direktor!«

»Direktor?«

»Erbarmen, Herr Hofrat!«

»Hofrat?«

»Erbarmen, Herr Geheimerat!«

»Geheimerat?«

»Erbarmen, Exzellenz!«

Beim Titel Exzellenz verzog der Direktor sofort den Mund zu einem feinen Lächeln; er wurde plötzlich artig und zugänglich und sagte zu Bengele:

»Nun, mein Lieber, was ist dein Begehr?«

»Ich bitte um Gnade fürs Kasperle.«

»Hier gilt keine Gnade mehr. Dich habe ich geschont, also muß ich einen andern aufs Feuer legen. Mein Hammel muß gar werden.«

»Dann« – stolz richtete sich Bengele auf und warf seine Mütze weit von sich wie ein Held – »dann kenne ich meine Pflicht. Vorwärts, Gendarmen, bindet mich und legt mich auf die Glut! Kasperle, mein aufrichtigster Freund, soll nicht meinetwegen sterben!«

All die hölzernen Leutchen jammerten laut; die beiden Gendarmen weinten wie kleine Kinder.

Feuerschlund blieb anfangs hart und unerbittlich; er schien so gefühllos und kalt wie ein Eisklotz. Aber dann faßte ihn langsam die Rührung, er mußte vier-, fünfmal niesen, nahm den Bengele zärtlich in seine Arme und sprach:

»Du bist ein braver Hampelmann! Komm her und gib mir einen Kuß!«

Bengele kletterte wie ein Eichhörnchen an dem Bart des Direktors hinauf und drückte ihm einen festen Kuß auf die Nasenspitze.

»Also bin ich begnadigt?« fragte Kasperle mit kaum hörbarem, dünnem Stimmchen.

»Begnadigt!« sagte Feuerschlund, seufzte und schüttelte den Kopf:

»Es geht nicht anders! Heute abend muß ich meinen Hammel halb roh essen. Aber einandermal! Es soll mir keiner so wieder kommen!«

Die Kunde von der Begnadigung trieb die hölzernen Schauspieler alle auf die Bühne. Sie zündeten sämtliche Lichter an wie bei einer Festvorstellung, hüpften und tanzten und waren lustig bis tief in die Nacht hinein.

Bengele erhält fünf Goldstücke. – Seine Freundschaft mit dem Fuchs und der Katze.

Zwölftes Stück.

Bengele erhält fünf Goldstücke. – Seine Freundschaft mit dem Fuchs und der Katze.

Am andern Morgen rief Feuerschlund den Bengele zu sich und fragte ihn:

»Wie heißt dein Vater?«

»Seppel!«

»Was treibt er für ein Handwerk?«

»Er ist arm.«

»Wieviel verdient er?«

»So viel, daß er nie einen Pfennig Geld in der Tasche hat! – Seinen einzigen Kittel hat er weggeben müssen, um mir ein ABC-Buch zu kaufen.«

»Der arme Mann tut mir leid! – Nimm hier diese fünf Goldstücke und bringe sie ihm mit einem Gruß von mir!«

Bengele dankte dem Direktor tausendmal; dann nahm er der Reihe nach Abschied von allen Geschwistern, auch von den Gendarmen, und machte sich auf den Weg nach Hause.

Er war noch keine fünf Minuten gegangen, da traf er auf der Straße einen hinkenden Fuchs und eine blinde Katze. Die beiden halfen einander durchs Leben. Der kranke Fuchs stützte sich beim Gehen auf die Katze und die blinde Katze hatte am Fuchse einen Führer.

»Guten Tag, Bengele!« grüßte der Fuchs mit feinem Anstand.

»Woher weißt du meinen Namen?«

»Ich kenne deinen Vater schon lange!«

»Wo hast du ihn gesehen?«

»Gestern unter der Haustüre.«

»Was machte er?«

»Er war hemdärmelig und zitterte vor Kälte.«

»Armer Vater! – Aber, so Gott will, sollst du von heute ab nicht mehr frieren!«

»Wieso?«

»Weil ich jetzt ein großer Herr geworden bin!«

»Du ein großer Herr!« sagte der Fuchs und verzog spöttisch das Gesicht. Die Katze lachte; aber weil sie es nicht merken lassen wollte, strich sie sich mit den Pfoten den Schnurrbart zurecht.

»Da ist gar nichts zu lachen«, brauste Bengele auf. »Ich mache euch nicht gern den Mund wässerig; aber da schaut her: sind das nicht fünf Goldstücke?«

Sprach’s und schüttelte stolz sein Geld in der hohlen Hand.

Unwillkürlich stellte der Fuchs sein lahmes Bein fest auf den Boden und stand eine Weile darauf; die Katze riß ihre blinden Augen auf, daß sie funkelten wie zwei grüne Lichter. Aber gleich besann sie sich, machte die Augendeckel wieder zu und – der dumme Bengele merkte nichts.

»Und nun«, fragte der Fuchs, »was willst du mit dem Geld da anfangen?«

»Zu allererst«, versetzte unser Hampelchen, »lasse ich meinem guten Vater einen schönen neuen Kittel machen, ganz von Gold und Silber und mit Knöpfen von Edelsteinen, dann kaufe ich ein neues ABC-Buch für mich.«

»Für dich?!«

»Jawohl! Jetzt will ich in die Schule gehen und mich mit allem Eifer hinter die Bücher setzen.«

»Schau mich mal an«, sagte der Fuchs, »mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich ein Bein verloren.«

»Und ich erst!« bestätigte die Katze, »mit meinem einfältigen Eifer im Lernen habe ich das Augenlicht vollständig eingebüßt.«

Bei diesen Worten flog eine Amsel auf die Hecke neben der Straße, pfiff ihr Liedchen und sang:

»Traue nicht, lieb‘ Bengelein,
Diesen Kameraden!
Lahmer Fuchs und blinde Katz‘
Wollen dir nur schaden.«

Das ehrliche Vögelein hätte besser getan zu schweigen. – Gleich tat die Katze einen hohen Sprung und faßte die Sängerin mit ihren scharfen Krallen. Die Unglückliche rief noch sterbend: »’s ist wahr!« Dann aber biß ihr die Katze die Kehle ab und fraß sie auf. – Ein Häufchen Federn war alles, was von der aufrichtigen Amsel übrig blieb. – Die hinterlistige Katze schloß die Augen wieder und spielte nach wie vor die Blinde.

»Die gute Amsel!« sagte Bengele; »so grausam hättest du doch nicht mit ihr verfahren sollen!«

»Ich mußte ihr eine Lehre geben«, meinte die gefühllose Mörderin; »die wird ein zweites Mal nicht mehr fremden Leuten in ihre Sachen hineinreden.«

Die drei waren indes schon ein gutes Stück weiter gegangen und nahe bei Bengeles Heimat angelangt. Da blieb der Fuchs plötzlich stehen und, als wäre ihm eben ein besonderer Gedanke gekommen, sagte er:

»Bengele, willst du nicht dein Geld vervielfältigen?«

»Was meinst du damit?«

»Willst du nicht aus deinen lumpigen fünf Goldstücken hundert, oder tausend, oder zweitausend machen?«

»Freilich! Aber wie?«

»Ganz einfach! Du gehst nicht nach Hause, sondern mit uns!«

»Wohin?«

»Aufs Wunderfeld!«

»Nein, nein! Das tue ich nicht! Ich gehe heim! Mein Vater wartet schon lange auf mich. Wie wird er gestern abend Angst gehabt haben, weil ich nicht zurückgekommen bin! – Ich war jetzt unartig genug. Lispel-Heimchen hatte recht. Den bösen Kindern geht es nicht gut auf der Welt. Ich habe es am eigenen Leib gespürt. Wie viel Unglück ist über mich gekommen! Nie vergesse ich den Schrecken bei dem Todesurteil des Direktors Feuerschlund! Brrrrrr! mir gruselt noch, wenn ich nur daran denke.«

»Also denn«, sagte der Fuchs, »geh nach Hause! Aber dein Glück hast du verscherzt!«

»Hast du verscherzt«, bekräftigte die Katze.

»Bedenke es wohl, Bengele, daß du das Glück geradezu fortjagst!«

»Fortjagst!« echote wieder die Katze.

»Deine fünf Goldstücke wären morgen ihrer zweitausend.«

»Zweitausend«, hinkte wieder die Katze nach.

»Wie ist das möglich?« fragte Bengele und stand da mit weit geöffnetem Munde.

»Gleich will ich es dir erklären«, versetzte der Fuchs. »Du gehst mit uns aufs Wunderfeld. Dort gräbst du ein kleines Loch in den Boden und legst – sagen wir einmal – ein Goldstück hinein. Dann schüttest du das Loch wieder zu, gießest einige Kannen Wasser drüber, streust Salz darauf und gehst ruhig zu Bett. Über Nacht treibt das Goldstück wie ein Samenkorn eine Pflanze; diese blüht und bringt Früchte. Am andern Morgen stehst du auf, gehst aufs Wunderfeld und – du traust deinen Augen nicht – da steht ein Bäumchen mit Goldstücken so reich beladen wie ein vollhängender Pflaumenbaum.«

»Wenn ich also auf dem Wunderfelde – Bengele war schon ganz von Sinnen – meine fünf Goldstücke einlege, wieviel habe ich dann am andern Morgen?«

»Keine leichtere Rechnung wie diese«, meinte der Fuchs. »Du kannst sie ohne Rechenmaschine an den Fingern lösen. Also! Du setzest fünf Goldstücke, sie geben fünf Bäumchen, jedes trägt zum wenigsten fünfhundert Goldpflaumen. – Fünfmal fünfhundert sind – zweitausend fünfhundert! – Am andern Morgen steckst du zweitausendfünfhundert Goldstücke in die Tasche.«

»Nein! Wie schön, wie schön!« rief Bengele aus und fing vor Freude an zu tanzen. – »Wenn ich die 2500 Goldstücke habe, behalte ich für mich nur 2000, die andern 500 will ich euch zweien schenken.«

»Uns brauchst du nichts zu schenken«, tat der Fuchs schier beleidigt, »Gott behüt‘ uns davor!«

»… Behüt‘ uns davor«, echote kopfschüttelnd die Katze.

»Wir arbeiten«, fuhr der Fuchs fort, »einzig für das allgemeine Wohl, wir wollen nur andere reich und glücklich machen.«

»… Glücklich machen«, ergänzte die Katze und nickte mit dem Kopfe.

»Sind das brave Leute!« dachte Bengele. – Er vergaß sofort seinen Vater, den neuen Kittel, das ABC-Buch und alle guten Vorsätze.

»Kommt!« sagte er zu seinen zwei neuen Freunden, »wir kehren sofort um und gehen aufs Wunderfeld!«

Im Gasthaus »Zum geleimten Vogel«.

Dreizehntes Stück.

Im Gasthaus »Zum geleimten Vogel«.

Den ganzen Tag waren die drei Goldbaumzüchter schon gegangen, als sie spät abends und todmüde ans Gasthaus »Zum geleimten Vogel« kamen.

»Hier wollen wir ein bißchen Rast machen«, sagte der Fuchs, »wir essen eine Kleinigkeit und ruhen ein Paar Stunden aus. Um Mitternacht brechen wir wieder auf und sind dann morgen bei Tagesgrauen auf dem Wunderfeld.«

Sie traten in das Wirtshaus und setzten sich zusammen an einen Tisch. – Keiner hatte Appetit.

Die arme Katze litt an gräßlichen Magenschmerzen und konnte nicht mehr ertragen als dreißig kleine Bachforellen, blaugekocht mit Kartöffelchen und zerlassener Butter, dann noch vier Portionen Leberwurst. An jeder Portion schnupperte sie erst, und wenn sie ein bißchen dünn geschnitten war, so sagte die Feinschmeckerin: »Sie riecht«, und verlangte eine andere.

Der Fuchs hätte gern etwas Kräftiges genossen nach dem langen Marsche; aber der Arzt hatte ihm leichte Kost verordnet. Darum begnügte er sich mit einem gewöhnlichen Hasenpfeffer. Als Gemüse nahm er dazu eine Platte gebackener Hähnchen. Nach diesem ersten Gange ließ er sich ein leichtes Ragout von Rebhühnern, Wachteln und Froschschenkeln bereiten; aß zum Schluß ein paar süße Trauben und dann meinte er:

»Ich höre gern auf; es ist die reinste Marter, wenn man sich ohne Appetit zum Essen zwingen muß. Nun bin ich froh, daß diese Qual vorüber ist.«

Am wenigsten aß Bengele. Er nahm ein paar Nußkerne und ein bißchen Brot; alles andere ließ er stehen. Das arme Hampelchen war mit seinen Gedanken immer beim Wunderfeld und hatte nur noch Hunger nach Gold.

Nach dem Essen sagte der Fuchs zum Wirte: »Bitte, zwei Zimmer! eins für Herrn Bengele und für uns beide das andere. Wir wollen uns eine kurze Ruhe gönnen bis Mitternacht; dann müssen wir weiter. Kurz vor zwölf Uhr soll man uns wecken; nicht vergessen!«

»Gewiß, meine Herrschaften, es wird alles gewissenhaft besorgt«, sagte der Wirt. Dabei sah er den Fuchs und die Katze mit verständnisvollem Blicke an, als wollte er sagen: »Wir sind alte Bekannte.«

Bengele legte sich zu Bett, schlief gleich ein und träumte. Es war ihm, als stände er mitten auf dem Wunderfelde. Das stand ganz voll von Pflaumenbäumchen, an ihnen hingen wie Pflaumen die Goldstücke. Der Wind ging leise durch die Blätter, die Goldstücke schlugen aneinander wie kleine Glöcklein und klangen:

Komm, Bengele, bimm, bimm!
Komm, Bengele, nimm, nimm!

Schon streckte er im Traume die Hände aus, um nach den Goldglöckchen zu greifen, da klopfte es dreimal fest an die Türe, und er wachte auf.

Der Wirt kam herein und sagte ihm, es schlage jetzt eben zwölf Uhr.

»Sind meine Begleiter schon gerichtet?« fragte Bengele.

»Mehr als gerichtet! Vor zwei Stunden sind sie aufgebrochen.«

»Warum hatten sie solche Eile?«

»Frau Katze bekam Nachricht, daß ihr ältester Sohn an Kopfweh erkrankt und plötzlich in Lebensgefahr sei.«

»Haben sie das Essen bezahlt?«

»Was denken Sie, Herr Bengele? Sie verkennen solche feingebildeten Personen. Da sie heute von Ihnen zu Tisch gebeten wurden, durften sie die freundliche Einladung doch nicht bezahlen; das hieße taktlos gehandelt.«

»Schade! Diese Taktlosigkeit hätte ich ihnen gar nicht übel genommen«, sagte Bengele und kratzte sich hinter den Ohren.

»Haben sie nicht hinterlassen, wo sie mich erwarten?«

»Am Wunderfeld, morgen früh bei Tagesgrauen.«

Bengele zahlte mit einem Zwanzigmarkstück die gesamte Rechnung und verließ das Wirtshaus. Er konnte nur langsam vorwärts kommen, denn es war so stockdunkel, daß man die eigene Hand nicht vor dem Auge sah. Alles war totenstill. Kein Blatt an den Bäumen rauschte. Nur eine Nachteule flog über die Straße dem Bengele an der Nase vorbei. Erschrocken sprang er einen Schritt zurück und rief: »Wer ist da?« – Das Echo tönte aus der Umgebung zurück: »ist da?« – »da?«

Während er tastend weiterschritt, zeigte sich plötzlich ein matter Schein. Bengele trat näher und erkannte eine leuchtende Grille, die auf einem Straßensteine saß. Wie das Nachtlicht im gefärbten Glase, erhellte das Tierchen um sich herum kümmerlich die dichte Dunkelheit.

»Wer bist du?« fragte Bengele.

»Ich bin der Geist des Lispel-Heimchens«, erhielt er zur Antwort. So leise und hohl klang die Stimme, wie nur die Geister reden.

»Was willst du von mir?« fragte der Hampelmann.

»Einen guten Rat will ich dir geben: Kehre um, nimm die vier Goldstücke, die du noch hast, und bringe sie deinem armen Vater. Er sitzt daheim und jammert, weil er dich so lange nicht mehr gesehen hat.«

»Morgen ist mein Vater ein großer Herr, wenn ich ihm zweitausend Goldstücke bringe.«

»Traue denen nicht, mein Kind, die dich von heute auf morgen reich machen wollen. Es sind Dummköpfe oder Betrüger. Hör auf mich und kehre um!«

»Umkehren!? Weiter gehen will ich, und ich gehe weiter.«

»Es ist spät in der Nacht.«

»Ich gehe weiter.«

»Es ist so dunkel.«

»Ich gehe weiter.«

»Ein gefährlicher Weg.«

»Ich gehe weiter.«

»Denke doch daran, daß man den Eigensinn bereuen muß!«

»Immer die gleichen Sprüchlein! Gute Nacht, du alte Grille!«

»Gute Nacht, Bengele, der Himmel schütze dich vor den Räubern!«

Der Geist des Lispel-Heimchens verschwand, der matte Lichtschein erlosch, und die Straße erschien dunkler wie zuvor.

Bengele fällt unter die Räuber.

Vierzehntes Stück.

Bengele fällt unter die Räuber.

»Wahrhaftig …« bruddelte unser Hampelmann vor sich hin und ging weiter –, »wahrhaftig, wir arme Kinder ziehen immer den kürzeren. Jeder kann uns ausschelten; die ganze Welt will uns Ermahnungen geben. Bald meinten alle, daß sie unser Vater und unsere Lehrer seien. Alle zusammen sind sich darin gleich, auch das Lispel-Heimchen. Zum Beispiel: Ich habe jetzt nicht auf sein Jammergeheul gehört, und gleich sagt es mir ein Unglück voraus. – Räuber sollen kommen!? – Auch das noch! Ich glaube nicht an Räuber und habe nie im Leben daran geglaubt. Die guten Väter erfinden die Räuber, weil sie den Kindern Angst machen wollen, damit sie nachts nicht vor das Haus gehen. – Schließlich, wenn ich jetzt wirklich Räubern auf der Straße begegnete, so wollte ich erst recht keine Angst kriegen! – Nicht daran zu denken! Auf sie los würde ich gehen und sie anbrüllen: ›Meine Herren Räuber, was wollt ihr von mir? Mit mir wird nicht gespaßt! Verstanden! Marsch, weiter! und verzieht euch geräuschlos!‹ – Die wollte ich laufen sehen! – Aber, gesetzt der Fall, daß sie unhöflich genug wären, um stehen zu bleiben, dann – machte ich mich auf die Beine und …«

Bengele konnte den Satz nicht vollenden. Hinter ihm raschelte es in den Büschen; er drehte sich um und erblickte zwei Gestalten, die noch dunkler waren als die stockfinstere Nacht. – Sie glichen wandelnden Vogelscheuchen und standen schon vor dem Hampelmann.

»Die Räuber! Wahrhaftig!« dachte Bengele. Schnell steckte er die vier Goldstücke in den Mund und nahm sie unter die Zunge. Sonst wußte er sie nirgends zu verstecken.

Dann lief er davon. Aber er hatte keine drei Sprünge gemacht, so fühlte er schon seinen Arm festgehalten und hörte zwei hohle Stimmen grausig brummen.

»Das Geld heraus! – Sonst bist du verloren!«

Mit den Goldstücken im Munde konnte Bengele nicht reden. Er stellte sich darum dumm und gab den Räubern mit allerlei Zeichen zu verstehen, daß er ein armes Hampelmännchen sei und keinen roten Heller in der Tasche habe.

Aus den Kutten der Räuber sprühten die Augen wie die hellen Lichter einer Eisenbahnlokomotive. Die geriebenen Burschen kümmerten sich um Bengeles Geflunker nicht und sagten:

»Mach vorwärts! Keine langen Geschichten!«

Der Hampelmann drehte den Kopf hin und her und fuchtelte mit den Händen ärger wie bisher.

»Heraus das Geld, oder du mußt sterben!« drohte nun der größere von den zwei Räubern.

»Sterben!« wiederholte der andere.

»Nachher geht es an deinen Vater!«

»An deinen Vater.«

»Nein, nein! Tut meinem armen Vater nichts!« rief Bengele verzweiflungsvoll; dabei klirrten die Goldstücke im Munde.

»Schlechter Lump! Unter der Zunge hast du die Goldstücke versteckt! – Gleich spuckst du sie aus!«

Bengele blieb fest.

»So, du willst nicht! – Paß auf, du wirst gleich spucken.«

Die Räuber gingen daran, dem Hampelmann den Mund aufzupressen. Sie legten ihn auf den Boden; der kleinere stellte sich über Bengeles Kopf und hielt ihn mit beiden Händen an der langen Nase, indes der größere mit aller Gewalt den hölzernen Unterkiefer abwärts zu drücken suchte. Aber des Hampelmanns Mund war von gutem Holze und schloß so dicht wie eine scharfe Beißzange. – Auf diese Weise war es unmöglich, ihn zu öffnen; er schien verschraubt und vernietet.

Da nahm der kleinere Räuber ein Messer heraus und wollte es dem Hampelmann wie ein Stemmeisen zwischen die Holzlippen treiben. Ungeschickt faßte er das Messer mit der einen Hand ziemlich vorn an der Klinge. Bengele erkannte seinen Vorteil: blitzschnell schnappte er nach des Räubers Hand und biß sie glatt durch. Er spuckte aus und wunderte sich sehr, daß er keine Menschenhand, sondern etwas Haariges wie eine Pfote abgebissen hatte.

Die Räuber waren verblüfft; Bengele aber bekam durch seinen Erfolg neuen Mut. Mit einem Sprunge setzte er über den Straßenzaun, und nun ging’s im vollen Laufe fort über die Felder. Die Räuber rannten hinter ihm drein wie rasende Hunde hinter einem armen Häslein.

Drei Stunden dauerte schon das wilde Jagen. Dem Bengele ging allmählich der Atem aus. Schon schien ihm alles verloren, als er im letzten Augenblick einen einzelstehenden hohen Tannenbaum gewahrte. Rasch kletterte er am glatten Stamm empor bis an die ersten Äste und stieg dann durchs Gezweige bis zum höchsten Gipfel. – Auch die Räuber wollten hinaufklettern; aber kaum waren sie zur Hälfte am Stamm emporgeklommen, so rutschten sie zurück, fielen auf den Boden und hatten sich Arme und Beine wundgeschürft.

Deshalb gaben die Verwegenen aber ihre Arbeit nicht auf. Rasch sammelten sie in den Hecken ein Büschel dürres Reisig und zündeten es an der Wurzel des Baumes an.

Die Flammen leckten schon am Stamme empor und ergriffen die untersten Äste. – Die Räuber stellten sich zwanzig Schritte vom Baum zurück und warteten auf den Erfolg ihres Werkes. – Bald mußte der Hampelmann im dicken Rauche ersticken und tot zur Erde fallen.

Bengele sah sein Schicksal voraus. Die Todesangst trieb ihn zum Äußersten. Er sprang auf der den Räubern entgegengesetzten Seite von der schwindelnden Höhe herab, und der Todessprung gelang. Ohne Schaden kam er auf den Boden in weitem Abstand von seinen zwei Feinden.

Diesen Vorteil nützte der wackere Hampelmann aus und rannte sofort weiter in die Felder hinein. Die Räuber setzten ihm unverzüglich nach und wurden gar nicht müde.

Lichterloh brannte indes die Tanne in die Nacht hinein und erhellte wie eine Riesenkerze auf eine weite Strecke das Land.

Allmählich dämmerte der Morgen, und Bengele gelangte unversehens an einen breiten, tiefen Graben. Er war bis oben voll schmutziggelben Wassers. – Was anfangen? – »Eins, zwei, drei!« zählt unser Hampelchen, nimmt einen Anlauf und springt hinüber. Die Räuber wollten es ihm nachtun, aber sie hatten sich verrechnet. Plumps! fielen sie mitten ins Wasser. Bengele hörte das Aufschlagen und schrie ihnen höhnisch zu:

»Glück auf zum Bade, ihr Herren Räuber!« Dann rannte er gleich wieder weiter. Er hoffte, die Räuber seien ertrunken; aber als er sich umdrehte, sah er, wie sie ihm schon wieder nachsetzten. Sie steckten immer noch in ihren Säcken und das Wasser tropfte daraus in Strömen auf den Boden.

Die »Große Eiche«.

Fünfzehntes Stück.

Die »Große Eiche«.

Bengele verlor den Mut. Er wollte sich auf den Boden legen und alle Hoffnung aufgeben. – Da schaute er sich noch einmal um und erblickte in weiter Ferne ein kleines, weißes Haus. Es lag in einem grünen Wiesengrunde am dunkeln Waldessaume. Hell glänzten die Fenster im Lichte der aufgehenden Sonne.

»Hätte ich doch nur noch genug Atem!« dachte Bengele. »An jenem Häuschen dort wäre ich gerettet.«

Mutig versuchte der verfolgte Hampelmann noch einmal zu laufen. Er spannte seine letzten Kräfte an und kam nach einer halben Stunde keuchend vor dem Häuschen an. – Zum Tode erschöpft pochte er an die Türe.

Niemand gab Antwort.

Er klopfte stärker; denn schon hörte er die Schritte und den schweren Atem der Verfolger.

Wieder blieb alles still. Voller Verzweiflung schlug der hölzerne Hampelmann mit dem Kopfe und mit den Füßen an die Türe. – Da zeigte sich am Fenster ein schönes Mägdelein; es hatte goldenes Haar und ein Gesicht so zart und weiß wie eine Wachsfigur; seine Augen waren geschlossen, die Hände über der Brust gekreuzt, und ohne die Lippen zu bewegen, mit einer Stimme aus der andern Welt sagte das holde Kind:

»Es wohnt niemand in diesem Hause. Hier sind alle tot.«

»Dann mache doch du mir auf!« rief Bengele und weinte zum Erbarmen.

»Ich bin auch tot.«

»Auch tot! Wie kommst du dann ans Fenster?«

»Ich warte auf den Sarg, in dem man mich fortträgt.«

Damit verschwand das Mägdelein und das Fenster ging zu ohne jeden Laut.

»O schönes Kind im goldenen Haar«, rief Bengele, »um des Himmels willen mach mir auf. Erbarme dich des armen Knaben, dem die Räuber nach …«

»… setzen«, wollte er sagen; da hatten sie ihn schon, und die zwei wilden Stimmen knurrten:

»Jetzt kommst du nicht mehr davon!«

Der Hampelmann sah den Tod vor sich und zitterte so entsetzlich, daß seine Holzgelenke an den Beinen krachten und die Goldstücke im Munde klimperten.

»Nun«, sagten die Räuber, »machst du jetzt den Mund auf oder nicht? – So, du gibst keine Antwort! Auch gut! Diesmal werden wir schon mit dir fertig!«

Sie zogen zwei schrecklich lange, scharfe Messer heraus und wollten sie Bengele in die Seiten stoßen.

Aber der Hampelmann war aus so hartem Holze geschnitzt, daß die Stahlklingen in Stücke brachen und die Räuber mit dem bloßen Messergriff in der Hand sich sprachlos anstarrten.

»Ich hab’s«, meinte schließlich einer von ihnen, »wir müssen ihn aufhängen.«

»Aufhängen«, kam der andere nach.

Sie banden ihm die Hände auf den Rücken und schleppten ihn fort in den Wald. Dort war ein Baum, der über alle emporragte und den man nur die »Große Eiche« hieß. Die beiden Unholde legten Bengele einen langen Strick um den Hals, warfen das freie Ende über den untersten Ast des Baumes und zogen den Hampelmann in die Höhe. Dann setzten sie sich ins Gras nieder, um zu warten, bis der Hampelmann ausgehampelt hatte.

Aber nach drei Stunden hielt Bengele immer noch die Augen offen und den Mund geschlossen, ja er strampelte und hampelte ärger denn je.

Die Räuber wurden des Wartens müde, standen auf und riefen dem armen Kleinen zu:

»Adieu, unsterblicher Zappler! – Morgen früh kommen wir wieder. Bis dahin wirst du das Maul schon aufsperren.«

Weg waren sie.

Jetzt erhob sich ein brausender Nordwind; der pfiff und heulte durch die Äste und Blätter und schlug den armen aufgehängten Bengele nach allen Seiten um den Baum herum. Er bammelte wie der Klöppel einer Kirchenglocke am Sonntage. – Das Pendeln machte ihm große Schmerzen, die Schlinge um den Hals ward immer fester, sie schnürte ihm die Kehle zu und nahm ihm den Atem.

Die Augen wurden ihm trübe, er fühlte den Tod nahen; aber immer noch hatte er Hoffnung, daß jemand komme und ihn befreie.

Er hoffte und hoffte; aber es kam niemand. Da fiel ihm sein lieber Vater ein und fast sterbend hauchte er noch:

»Vater, lieber Vater, wenn nur du hier wärest!« Mehr konnte er nicht mehr sprechen; er schloß die Augen, öffnete den Mund; die Beine hingen ihm unbeweglich zu Boden, er schüttelte sich noch einmal und dann …