Die tönerne Brücke.
In der südwestlichen Ecke von Smaaland liegt eine Harde, die Sunnerbo heißt. Es ist ein ganz flaches und ebenes Land, und wer es im Winter sieht, wenn es mit Schnee bedeckt ist, kann nicht anders denken, als daß unter dem Schnee gepflügte Brachäcker, grüne Roggenfelder und gemähte Kleewiesen liegen, so wie sonst in einer Ebene. Wenn aber allmählich der Schnee in Sunnerbo zu Anfang April wegtaut, zeigt es sich, daß das, was darunter verborgen liegt, nichts ist als unfruchtbare Sandheiden, kahle Felsen und große, flache Moore. Äcker gibt es wohl hier und da, aber sie sind so klein, daß man sie kaum bemerkt, und kleine graue oder rote Bauerhäuser sind da auch, aber sie liegen in der Regel in einem Birkenhain verborgen, fast als seien sie bange, sich zu zeigen.
Wo die Sunnerboer Harde an die Grenze von Halland stößt, liegt eine so ausgedehnte Sandheide, daß wer an dem einen Ende steht, nicht nach der gegenüberliegenden Seite hinübersehen kann. Auf der ganzen Heide wächst nichts weiter als Heidekraut, und es würde auch nicht leicht sein, andere Pflanzen dort zum Wachstum zu bringen. Zu allererst müßte man dann wenigstens das Heidekraut ausroden, denn mit dem ist es so bestellt, daß es, obwohl es nur einen kleinen, verkrüppelten Stamm, kleine, verkrüppelte Zweige und trockene, verkrüppelte Blätter hat, sich dennoch einbildet, ein Baum zu sein. Deswegen benimmt es sich so wie die richtigen Bäume, breitet sich wie Wälder über große Strecken aus, hält getreulich zusammen und bringt alle fremden Pflanzen, die auf seinem Gebiet eindringen wollen, zum Aussterben.
Die einzige Stelle auf der Heide, wo das Heidekraut nicht Alleinherrscher ist, bildet ein niedriger, steiniger Bergrücken, der mitten darüber hingeht. Dort wachsen Wacholderbüsche, Ebereschen und einige große, schöne Birken. Zu der Zeit, als Niels Holgersen mit den wilden Gänsen umherreiste, lag dort auch ein Haus mit einem kleinen, urbar gemachten Fleckchen Erde rings herum, aber die Leute, die einstmals dort gewohnt hatten, waren aus irgendeinem Grunde weggezogen. Das kleine Haus stand leer, und der Acker lag unbestellt da.
Als die Leute das Haus verließen, hatten sie die Ofenklappe zugemacht, die Fensterhaken befestigt und die Tür verschlossen. Aber sie hatten nicht daran gedacht, daß eine Fensterscheibe zerschlagen und ein alter Lappen in die Öffnung gestopft war. Der Regen von ein paar Sommern hatte den alten Lappen mürbe gemacht, bis er auseinander fiel, und schließlich war es einer Krähe gelungen, ihn herauszuzupfen.
Der Bergrücken auf der Heide war nämlich nicht so verlassen, wie man glauben sollte; er war von einem großen Krähenvolk bewohnt. Die Krähen wohnten natürlich nicht das ganze Jahr hindurch dort. Sie reisten im Winter ins Ausland, im Herbst flogen sie in ganz Götaland von einem Acker zum andern, und pickten Körner auf, im Sommer zerstreuten sie sich über die Gehöfte in der Sunnerboer Harde und lebten von Eiern, Beeren und jungen Vögeln, in jedem Frühling aber, wenn sie Nester bauen und Eier legen wollten, kehrten sie nach der Heide zurück.
Die Krähe, die den alten Lappen aus dem Fenster zupfte, hieß Garm Weißfeder, wurde aber in der Familie nie anders genannt als Drumle oder gar Fumle-Drumle, weil sie zu nichts weiter taugte, als daß man sich lustig über sie machte. Fumle-Drumle war größer und stärker als irgendeine von den andern Krähen, aber das half ihr nicht im geringsten; sie war und blieb nur zum Gespött für die andern. Es nützte ihr auch nicht, daß sie aus ausgezeichneter Familie war. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, so hätte sie eigentlich der Anführer der ganzen Schar sein müssen, denn diese Würde war von alters her der Ältesten aus dem Geschlecht der Weißfeders zuerteilt gewesen. Lange jedoch ehe Fumle-Drumle geboren, war die Macht ihrer Familie entrissen und in die Hände einer wilden und grausamen Krähe namens Wind-Eile übergegangen.
Dieser Herrscherwechsel kam daher, daß die Krähen auf dem Krähenbergrücken Lust bekommen hatten, ihre Lebensweise zu verändern. Es gibt sicher Leute, die glauben, daß alles, was Krähe heißt, auf gleiche Weise lebt, aber das ist ganz verkehrt. Es gibt ganze Krähenvölker, die ein rechtschaffenes Leben führen, das heißt, sie essen nur Frösche, Würmer und Larven und tote Tiere, aber dann gibt es auch andere, die ein vollständiges Räuberleben führen, junge Hasen und kleine Vögel überfallen und jedes Nest ausrauben, das sie nur erblicken.
Die alten Weißfeders waren strenge und einfach gewesen, und solange sie die Schar anführten, hatten sie die Krähen gezwungen, sich so zu benehmen, daß andere Vögel ihnen nichts nachsagen konnten. Aber der Krähen waren viele, und die Armut unter ihnen war groß. Auf die Dauer konnten sie eine so strenge Lebensweise nicht ertragen, sondern empörten sich gegen die Weißfeders und ließen Wind-Eile zur Macht gelangen. Er war der schlimmste Nestplünderer und Räuber, den man sich nur denken konnte, es sei denn, daß seine Frau, Wind-Kaara, noch ärger war. Unter ihrem Regiment hatten die Krähen begonnen, ein solches Leben zu führen, daß sie jetzt gefürchteter waren als Habichte und Bergeulen.
Fumle-Drumle hatte natürlich nichts in der Schar zu sagen. Alle waren sich darin einig, daß er nicht im geringsten nach seinen Vorfahren geartet sei und nicht als Anführer tauge. Niemand würde ihn beachtet haben, falls er nicht beständig neue Dummheiten gemacht hätte. Einige, die sehr klug waren, sagten zuweilen, es sei gewiß ein Glück für Fumle-Drumle, daß er so ein armer Narr war, denn sonst würden Wind-Eile und Wind-Kaara ihn, der dem alten Häuptlingsgeschlecht entstammte, wohl nicht bei der Schar geduldet haben.
Jetzt waren sie dahingegen sehr freundlich gegen ihn und nahmen ihn gern mit auf ihre Jagden. Denn dann konnten alle sehen, wie viel tüchtiger und mutiger sie waren als er.
Keine von den Krähen wußte, daß Fumle-Drumle den alten Lappen aus dem Fenster gezupft hatte, und hätten sie es gewußt, so würden sie grenzenlos erstaunt gewesen sein. Sie hätten ihm einen so großen Mut, sich einer Menschenwohnung zu nähern, nicht zugetraut. Er selbst würde sich schon hüten, die Sache zu verraten; dazu hatte er seine guten Gründe. Eile und Kaara behandelten ihn stets gut am Tage und wenn die andern zugegen waren, aber in einer sehr dunklen Nacht, als ihre Kameraden schon auf der Schlafstange saßen, wurde er von ein paar Krähen überfallen und fast zu Tode gehackt. Seit jener Zeit entfernte er sich jeden Abend, wenn es dunkel geworden war, von seinem gewöhnlichen Schlafplatz und nahm Zuflucht in dem leeren Hause.
Nun geschah es eines Nachmittags, als die Krähen schon ihre Nester auf dem Krähenberge instand gesetzt hatten, daß sie einen merkwürdigen Fund machten. Wind-Eile, Fumle-Drumle und ein paar andere waren in eine große Vertiefung hinabgeflogen, die sich in einer Ecke der Heide befand. Die Vertiefung war nichts weiter als eine Kiesgrube, aber die Krähen konnten sich nicht bei einer so einfachen Erklärung beruhigen. Sie flogen wieder und wieder da hinunter und drehten und wendeten jedes Sandkörnchen um, denn sie wollten erforschen, warum die Menschen diese Vertiefung gegraben hatten. Während nun die Krähen hiermit beschäftigt waren, stürzte eine ganze Menge Kies von der einen Seite herab. Sie eilten dorthin und hatten das Glück, zwischen herabgestürzten Steinen und Erdhügeln eine ziemlich große Tonkruke zu finden, die mit einem hölzernen Deckel verschlossen war. Sie waren natürlich begierig zu sehen, ob etwas darin sei, und sie versuchten, sowohl ein Loch in die Kruke zu hacken, wie auch den Deckel aufzubrechen. Aber keins von beiden wollte ihnen gelingen.
Ganz ratlos standen sie da und betrachteten die Brücke, als sie jemand sagen hörten: »Soll ich herunterkommen und euch helfen, ihr Krähen?« Sie sahen auf. Am Rande der Kiesgrube saß ein Fuchs und guckte zu ihnen hinab. Er war der schönste Fuchs, den sie jemals gesehen hatten, sowohl was die Farbe als auch den Bau betraf. Der einzige Fehler an ihm daß er nur ein Ohr hatte.
»Hast du Lust, uns einen Dienst zu leisten,« sagte Wind-Eile, »so sagen wir nicht nein.« Und im selben Augenblick flogen er und die anderen aus der Grube heraus. Statt dessen sprang der Fuchs hinein, biß in die Kruke und zerrte an dem Deckel, aber auch er konnte sie nicht aufbekommen.
»Kannst du begreifen, was da drin ist?« sagte Wind-Eile. Der Fuchs rollte die Kruke hin und her und horchte. »Es kann nichts anderes sein als Silbergeld,« sagte er.
Das war mehr, als die Krähen sich hatten träumen lassen. »Glaubst du, daß es Silber sein kann?« fragten sie, und ihre Augen waren nahe daran, ihnen aus dem Kopf zu springen vor lauter Gier, denn so sonderbar es klingen mag, es gibt nichts auf der Welt, was die Krähen so lieben wie Silbergeld.
»Hört doch, wie es rasselt!« sagte der Fuchs und rollte die Kruke noch einmal hin und her. »Ich weiß nur nicht, wie wir dazu gelangen sollen.« – »Nein, das ist wohl unmöglich,« meinten die Krähen. Der Fuchs stand da und kraute sich mit dem linken Bein hinters Ohr und überlegte. Vielleicht konnte er jetzt mit Hilfe der Krähen des Jungen habhaft werden, der ihm immer entkam. »Ich wüßte wohl jemand, der euch die Kruke aufmachen könnte,« sagte der Fuchs. – »Ach sag uns, wer es ist, sag uns, wer es ist!« riefen die Krähen und waren so eifrig, daß sie in den Graben hinabflatterten. – »Ja, das will ich tun, vorher müßt ihr mir aber versprechen, daß ihr auf meine Bedingungen eingehen wollt,« sagte er.
Der Fuchs erzählte den Krähen nun von Däumling und sagte ihnen, wenn sie es fertig brächten, ihn auf die Heide hinauszulocken, würde er ihnen sicher die Kruke aufmachen können. Als Belohnung für diesen Rat verlangte er aber, daß sie ihm Däumling ausliefern sollten, sobald er ihnen das Silbergeld verschafft hatte. Die Krähen hatten keinen Grund, Däumling zu schonen, und so schlugen sie denn sofort ein.
Über dies alles wurde man schnell einig, schwerer aber war es, zu ergründen, wo sich Däumling und die wilden Gänse aufhielten.
Wind-Eile flog mit fünfzig Krähen davon und sagte, er würde bald wieder zurück sein. Aber ein Tag nach dem andern verging, ohne daß die Krähen auf dem Krähenberg auch nur eine Feder von ihm gesehen hätten.
Der Krähenraub.
Mittwoch, den 13. April.
Die wilden Gänse waren bei Tagesgrauen auf, um Zeit zum Einsammeln von etwas Nahrung zu haben, ehe sie die Reise durch Ostgotland antraten. Der Werder im Gänsefjord, wo sie geschlafen hatten, war klein und kahl, aber im Wasser rings umher wuchsen Pflanzen, an denen sie sich satt essen konnten. Schlimmer war es für den Jungen. Er konnte gar nichts Eßbares finden.
Wie er dort bei Tagesanbruch hungrig und verfroren stand und sich nach allen Seiten umsah, fiel sein Blick auf einige Eichhörnchen, die auf einer waldbewachsenen Landzunge, dem Felsenwerder gerade gegenüber, spielten. Da dachte er, daß diese Eichhörnchen vielleicht noch etwas von ihren Wintervorräten übrig haben möchten, und er bat den weißen Gänserich, ihn zu der Landzunge hinüberzutragen, damit er ein paar Nüsse von ihnen erbetteln könne.
Der große Weiße schwamm sofort mit ihm über den Fjord, aber das Unglück wollte, daß die beiden Eichhörnchen ein so lustiges Spiel miteinander spielten, indem sie sich von Baum zu Baum jagten, daß sie keinen Gedanken für den Jungen hatten. Er lief hinter ihnen drein, und der Gänserich, der am Strande liegen blieb, verlor ihn bald aus den Augen.
Der Junge watete zwischen weißen Anemonen, die so hoch waren, daß sie ihm ganz bis an das Kinn reichten, als er gewahrte, daß jemand ihn von hinten packte und versuchte, ihn in die Höhe zu heben. Er wandte sich um und sah, daß eine Krähe ihre Krallen in seinen Hemdbund geschlagen hatte. Er suchte sich loszureißen, ehe ihm das aber gelungen war, kam noch eine Krähe hinzu, biß sich in einen seiner Strümpfe fest und riß ihn um.
Hätte Niels Holgersen nun gleich um Hilfe gerufen, so würde der weiße Gänserich ihn sicher haben retten können, aber der Junge meinte wohl, daß er mit ein paar Krähen auf eigene Faust fertig werden könne. Er stieß mit den Füßen und schlug, aber die Krähen ließen ihn nicht los, und es gelang ihnen, sich mit ihm in die Luft emporzuschwingen. Sie waren aber so unvorsichtig dabei, daß sein Kopf gegen einen Zweig stieß. Er bekam einen harten Schlag gerade über den Schädel, es wurde ihm schwarz vor Augen, und er verlor das Bewußtsein.
Als er die Augen wieder aufschlug, war er hoch oben über der Erde. Sein Bewußtsein kehrte langsam zurück, und anfangs wußte er weder, wo er war, noch was er sah. Wenn er den Blick hinabwandte, sah es so aus, als breite sich da tief unter ihm ein ungeheurer, wollener Teppich aus, der aus Grün und Braun in großen, unregelmäßigen Mustern gewebt war. Der Teppich war dick und schön, aber er fand, es war ein Jammer, daß man damit so schlecht hausgehalten hatte. Er war geradezu zerfetzt, lange Risse liefen quer darüber hin, und an einigen Stellen waren große Stücke davon abgerissen. Das Merkwürdigste aber war, daß es so aussah, als sei er über einen Spiegelfußboden gebreitet, denn durch die Löcher und die Risse im Teppich schimmerte blankes, glitzerndes Glas.
Das Nächste, was dem Jungen auffiel, war, daß die Sonne nach dem Himmel hinaufgerollt kam. Sofort begann das Spiegelglas unter den Löchern und Rissen im Teppich in Rot und Gold zu schimmern. Es sah wunderschön aus, und der Junge freute sich über die schönen Farbentöne, obwohl er nicht recht verstehen konnte, was er eigentlich sah. Aber jetzt schwebten die Krähen hinab, und plötzlich wurde es ihm klar, daß der große Teppich unter ihm die Erde war, die mit grünem Nadelwald und braunem, kahlem Laubwald bedeckt war, und daß die Löcher und Risse blitzende Fjorde und kleine Seen waren.
Er mußte daran denken, daß er das erstemal, als er durch die Luft flog, gefunden hatte, das schonensche Land sähe aus wie ein gewürfeltes Tuch. Aber dies, das einem zerlumpten Teppich glich, was für ein Land konnte dies nur sein?
Er fragte sich selbst nach einer Menge von Dingen. Warum saß er nicht auf dem Rücken des weißen Gänserichs? Warum umflatterte ihn ein großer Krähenschwarm? Und warum wurde an ihm gezerrt und gerissen, so daß seine Glieder fast aus den Gelenken gerieten?
Plötzlich wurde ihm alles klar. Er war von ein paar Krähen entführt worden. Der weiße Gänserich lag noch am Strande und wartete, und die wilden Gänse wollten heute durch Ostgotland gen Norden ziehen. Er selbst wurde nach Südwesten getragen, das konnte er daran erkennen, daß er die Sonnenscheibe hinter sich hatte. Und der große Waldteppich, der unter ihm lag, das war sicher Smaaland.
»Wie wird es nun dem weißen Gänserich ergehen, wenn ich nicht für ihn sorgen kann?« dachte der Junge und rief im selben Augenblick den Krähen zu, sie sollten ihn sofort zu den wilden Gänsen zurückbringen. Für seine eigene Person war er gar nicht bange. Er glaubte, sie hätten ihn aus reinem Übermut entführt.
Die Krähen kehrten sich nicht im geringsten an sein Verlangen, sondern flogen weiter, so schnell sie nur konnten. Als sie eine Weile geflogen waren, klatschte eine von ihnen mit den Flügeln auf eine Weise, die bedeutete: »Gebt acht! Gefahr!« Gleich darauf tauchten sie in einen Tannenwald unter, drangen durch die dichten Zweige bis auf den Waldboden hinab und setzten den Jungen unter eine große Tanne, wo er so gut verborgen war, daß nicht einmal ein Falk ihn hätte erspähen können.
Fünfzig Krähen bildeten einen Kreis um den Jungen, die Schnäbel auf ihn gerichtet, um ihn zu bewachen. »Nun, ihr Krähen, jetzt kann ich am Ende erfahren, was ihr mit meiner Entführung beabsichtigt?« sagte er. Aber kaum hatte er ausgeredet, als eine Krähe ihn anfauchte: »Schweig still, sage ich dir! Sonst hacke ich dir die Augen aus!«
Die Krähe meinte offenbar, was sie sagte, und es blieb dem Jungen nichts anderes übrig, als zu gehorchen. So saß er denn da und starrte die Krähen an, und die Krähen starrten ihn an.
Je länger er sie ansah, je weniger gefielen sie ihm. Es war schrecklich, wie staubig und übel zugerichtet ihre Federkleider waren, ganz als kennten sie weder Bäder noch Einreibungen. Die Zehen und Krallen waren schmutzig von steifgetrocknetem Ton und ihre Mundwinkel saßen voll von Speiseresten. Das ist wirklich eine andere Art von Vögeln als die wilden Gänse, dachte er. Er fand, daß sie einen grausamen, gierigen, spähenden und frechen Ausdruck hatten, ganz wie Schurken und Landstreicher.
»Es ist scheinbar ein richtiges Räubergesindel, in das ich hineingeraten bin,« dachte er. Im selben Augenblick hörte er den Lockruf der wilden Gänse über sich: »Wo bist du? Hier bin ich. Wo bist du? Hier bin ich.«
Er begriff, daß Akka und die anderen ausgeflogen waren, um nach ihm zu suchen, aber ehe er noch antworten konnte, fauchte die große Krähe, die so aussah, als sei sie der Anführer der Bande: »Denk an deine Augen!« Und es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu schweigen.
Die wilden Gänse wußten offenbar nicht, daß er ihnen so nahe war, sie waren wohl nur durch einen Zufall über den Wald hin geflogen. Er hörte ihren Ruf noch ein paarmal, dann erstarb er. »Ja, nun mußt du sehen, wie du auf eigene Hand fertig wirst, Niels Holgersen,« sagte er zu sich selbst. »Jetzt wird es sich zeigen, ob du in diesen Wochen in der Wildnis etwas gelernt hast.«
Nach einer Weile machten die Krähen Miene aufzubrechen, und da sie scheinbar die Absicht hatten, ihn auch jetzt auf die Weise mit sich fortzuführen, daß ihn eine am Hemdbund, eine andere aber am Strumpf hielt, sagte der Junge: »Ist denn keine von euch Krähen so stark, daß sie mich auf ihrem Rücken tragen kann? Ihr habt mich schon so übel zugerichtet, daß mir zumute ist, als sei ich inwendig zerbrochen. Laßt mich doch reiten! Ich werde nicht von eurem Krähenrücken herunterstürzen, das will ich euch wohl versprechen!«
»Du glaubst doch nicht etwa, daß wir uns daran kehren, wie du dich befindest?« sagte der Anführer, aber nun trat die größte der Krähen, eine zerzauste, schwerfällige, mit einer weißen Feder im Flügel, vor und sagte: »Uns allen ist doch am besten damit gedient, wenn wir einen ganzen Däumling mit nach Hause bringen statt eines halben; ich will gern versuchen, ihn auf dem Rücken zu tragen.« – »Ja, wenn du das kannst, Fumle-Drumle, so habe ich nichts dagegen,« sagte Wind-Eile. »Laß ihn aber nicht fallen.«
Hiermit war schon viel gewonnen, und dem Jungen war wieder wohl zumute. »Es kann nicht nützen, daß ich mir die Laune verderben lasse, weil mich die Krähen gestohlen haben,« dachte er. »Mit den Tröpfen kann ich doch wohl fertig werden!«
Die Krähen flogen über Smaaland dahin, in südwestlicher Richtung. Es war ein schöner Morgen, sonnenwarm und still, und die Vögel unten auf der Erde waren eifrig damit beschäftigt, ihre Freiermelodien zu singen. In einem dunklen, hochstämmigen Walde saß ein Drosselmännchen mit hängenden Flügeln und schwellender Kehle oben in einem Tannenwipfel und schlug einen hellen Triller: »Wie bist du schön! Wie bist du schön! Wie bist du schön!« sang es. »Keine ist so schön! Keine ist so schön! Keine ist so schön!« Und sobald der Vogel das Lied zu Ende gesungen hatte, begann er wieder von vorne.
Der Junge aber flog gerade über den Wald hin, und als er die Melodie ein paarmal gehört hatte und merkte, daß die Drossel keine andere singen konnte, hielt er die Hände wie ein Horn vor den Mund und rief hinab: »Das haben wir schon oft gehört! Das haben wir schon oft gehört!« – »Wer ist das? Wer ist das? Wer ist das? Wer macht sich lustig über mich?« fragte die Drossel und versuchte den zu entdecken, der da rief. – »Das ist der Krähenraub, der sich lustig über dein Lied macht,« erwiderte der Junge. Im selben Augenblick wandte der Krähenhäuptling den Kopf herum und sagte: »Gib acht auf deine Augen, Däumling!« Der Junge aber dachte: »Ach, daraus mache ich mir nichts. Ich will dir wohl zeigen, daß ich nicht bange vor dir bin!«
Sie flogen tiefer und tiefer ins Land hinein, und überall waren da Wälder und Seen. In einem Birkenwäldchen saß die Waldtaube auf einem kahlen Zweig und vor ihr stand der Täuberich. Er plusterte seine Federn auf, krümmte den Nacken, hob und senkte den Körper, so daß die Brustfedern gegen den Zweig brausten. Und fortwährend gurrte er: »Du, du, du bist die Schönste im Walde. Keine im Walde ist so schön wie du, du, du!«
Aber oben in der Luft flog der Junge vorüber, und als er den Täuberich hörte, konnte er nicht an sich halten: »Glaub‘ ihm nicht! Glaub‘ ihm nicht!« rief er.
»Wer, wer, wer ist das, der mich verleumdet?« gurrte der Täuberich und strengte sich an, um den zu entdecken, der ihm etwas zurief. – »Das ist der Krähenraub, der dich belügt,« antwortete der Junge. Wieder wandte Wind-Eile den Kopf nach dem Jungen um und befahl ihm zu schweigen, Fumle-Drumle aber, der ihn trug, sagte: »Laß ihn nur reden, dann glauben die kleinen Vögel, daß wir kluge und witzige Vögel geworden sind!« – »So dumm werden sie wohl nicht sein,« sagte Wind-Eile, aber es war zu merken, daß ihm der Gedanke wohl gefiel, denn von nun an ließ er den Jungen reden, soviel er wollte.
Es war fast alles Wald oder Gesträuch, über das sie hinflogen, aber da waren natürlich auch Kirchen und Dörfer und kleine Hütten am Waldesrand. An einer Stelle sahen sie einen traulichen alten Herrenhof. Der lag da mit einem Wald hinter sich und einem See vor sich, hatte rote Mauern und zackige Giebel, mächtige Ahornbäume umstanden den Hofplatz, und große, dichte Stachelbeerbüsche wuchsen im Garten. Ganz oben auf der Wetterfahne saß der Star und sang, so daß jeder einzelne Ton zu dem Weibchen hinunterschallte, das im Starenkasten im Birnbaum auf den Eiern saß. »Wir haben vier kleine, schöne Eier,« sang der Star. »Wir haben vier kleine, schöne, runde Eier! Wir haben das ganze Nest voll schöner Eier!«
Als der Star dies Lied zum tausendstenmal sang, flog der Junge über den Hof hin. Er hielt die Hände wie ein Rohr vor den Mund und rief: »Die Elstern holen sie! Die Elstern holen sie!«
»Wer will mich da bange machen?« fragte der Star und flatterte unruhig mit den Flügeln. – »Der Krähengefangene macht dich bange!« sagte der Junge. Diesmal hieß der Krähenhäuptling den Jungen nicht schweigen. Im Gegenteil, er wie die ganze Schar fanden es so belustigend, daß sie vor Vergnügen laut krächzten.
Je weiter sie ins Land hineinkamen, um so größer wurden die Seen und um so reicher wurden sie an Inseln und Werdern. Und am Ufer eines Sees stand der Wildenterich und machte der Wildente Komplimente: »Ich will dir mein ganzes Leben treu sein! Ich will dir mein ganzes Leben treu sein!« sagte der Enterich. »Währt nicht, bis der Sommer zu Ende ist!« rief der Junge, der vorüberflog. – »Was für einer bist denn du?« rief der Enterich. – »Ich heiße Krähengestohlen,« schrie der Junge.
Zur Mittagszeit ließen sich die Krähen auf einer Wiese nieder. Sie flogen umher und suchten sich Futter, keine von ihnen dachte aber daran, dem Jungen etwas zu geben. Da kam Fumle-Drumle mit einem wilden Rosenzweig, an dem einige Hagebutten saßen, zum Häuptling geflogen. »Hier ist etwas für dich, Wind-Eile,« sagte er. »Das ist ein köstliches Essen, das dir gut tun wird.« Wind-Eile schnob verächtlich. »Glaubst du, daß ich alte, trockene Hagebutten esse?« sagte er. – »Und ich hatte geglaubt, du würdest dich so darüber freuen!« sagte Fumle-Drumle und warf den Hagebuttenzweig weg wie im Ärger. Aber er fiel gerade vor die Füße des Jungen, und der war nicht faul, er fing ihn auf und aß sich satt daran.
Als die Krähen gegessen hatten, begannen sie miteinander zu plaudern. »Woran denkst du, Wind-Eile? Du bist heute so still,« sagte eine von ihnen zum Anführer. – »Ach, ich denke daran, daß hier in der Gegend einstmals ein Huhn war, das seine Herrin so sehr liebte, und um ihr ein rechtes Vergnügen zu machen, ging es hin und legte ein Nest voll Eier und versteckte sie unter dem Fußboden des Stalles. Während der ganzen Zeit, daß die Glucke brütete, lag sie da und freute sich bei dem Gedanken, wie froh ihre Herrin über alle die Küchlein sein würde. Die Frau konnte gar nicht begreifen, wo das Huhn die ganze Zeit nur sein mochte. Sie suchte nach ihm, konnte es aber nicht finden. Kannst du raten, Langschnabel, wer das Huhn und die Eier fand?«
»Es ist nicht unmöglich, daß ich es erraten kann, Wind-Eile, aber wenn du es erzählst, will ich auch etwas erzählen. Erinnert ihr euch noch der großen, schwarzen Katze im Hinneryder Pfarrhaus? Sie war böse auf die Familie, weil sie ihr immer die neugeborenen Kätzchen wegnahmen und sie ertränkten. Nur ein einziges Mal gelang es ihr, sie zu verstecken, nämlich als sie sie in eine Strohmiete draußen auf dem Felde gelegt hatte. Sie war so glücklich über ihre Kätzchen, aber ich glaube, ich bekam mehr Freude von ihnen als sie.«
Nun wurden sie alle so eifrig, daß sie bunt durcheinander schwatzten. »Soll das eine Kunst sein, Eier und junge Kätzchen zu stehlen?« sagte eine von ihnen. »Ich habe einmal einen jungen Hasen gejagt, der beinahe ausgewachsen war. Ich mußte von einem Busch zum andern hinter ihm drein fliegen.« Weiter kam sie nicht, denn eine andere fiel ihr in die Rede: »Das mag ja ganz gut sein, Hühner und Katzen zu foppen, aber ich finde es doch noch merkwürdiger, daß eine Krähe einem Menschen Schaden zufügen kann. Ich habe einmal einen silbernen Löffel gestohlen.«
Der Junge fand aber nachgerade, daß er doch zu gut sei, um solch ein Gewäsch mit anzuhören. »Nein, hört einmal, ihr Krähen,« sagte er, »schämen solltet ihr euch, statt alle eure dummen Streiche zu erzählen. Ich habe nun drei Wochen unter den wilden Gänsen gelebt, und von denen habe ich nichts als Gutes gehört und gesehen. Ihr müßt einen schlechten Häuptling haben, daß er euch erlaubt, so zu rauben und zu morden. Ihr solltet euch vornehmen, auf andere Weise zu leben, denn ich kann euch erzählen, die Menschen haben eure Bosheit so satt, daß sie sich mit allen Kräften bemühen, euch auszurotten. Und es wird noch ein Ende mit Schrecken nehmen.«
Als Wind-Eile und die anderen Krähen das hörten, wurden sie so erzürnt, daß sie sich über den Jungen stürzen und ihn zerreißen wollten. Fumle-Drumle aber lachte und krächzte und stellte sich vor ihn hin. »Nein, nein, nein!« sagte er und tat so, als erschrecke er sehr. »Was meint ihr, wird Wind-Kaara sagen, wenn wir Däumling zerreißen, ehe er uns das Silbergeld geschafft hat?« – »Also du bist bange vor Weibsleuten, Fumle-Drumle?« sagte Eile, aber er und die andern lachten und ließen Däumling in Ruhe.
Bald darauf zogen die Krähen weiter. Bisher hatte der Junge im stillen gedacht, Smaaland sei doch kein so armseliges Land, wie er immer gehört hatte. Es war freilich sehr bewaldet und voll von Bergabhängen, aber an den Flüssen und Seen entlang lagen bestellte Felder und wirkliche Einöden hatte er noch nicht angetroffen. Aber je tiefer sie ins Land hineinkamen, um so spärlicher wurden die Dörfer und Häuser. Schließlich erschien es ihm wie ein ganzes Wüstenland, über das er hinflog, wo er nichts weiter sah als Moore und Heiden und Wacholderhügel.
Die Sonne war untergegangen, aber es war noch heller Tag, als die Krähen die große Heide erreichten. Wind-Eile sandte eine Krähe voraus, um zu melden, daß er siegreich heimkehre, und als dies verlautete, zog Wind-Kaara mit vielen Hunderten von Krähen vom Krähenhügel den Heimkehrenden entgegen. Mitten unter dem ohrenbetäubenden Krächzen, das die Krähen anstimmten, als sie sich wiedersahen, sagte Fumle-Drumle zu dem Jungen: »Du bist während der ganzen Reise so munter und fröhlich gewesen, daß ich dich gern leiden mag. Sobald wir uns niederlassen, werden sie dich bitten, eine Arbeit zu verrichten, die dir vielleicht sehr leicht erscheinen wird. Hüte dich aber, sie auszuführen!«
Gleich darauf setzte Fumle-Drumle Niels Holgersen auf den Boden einer Sandgrube nieder. Der Junge warf sich hin und blieb liegen, als käme er um vor Müdigkeit. Es flatterten so viele Krähen um ihn herum, daß es in der Luft brauste wie ein Sturm, aber er sah nicht in die Höhe.
»Däumling,« sagte Wind-Eile, »steh jetzt auf! Du sollst uns bei etwas behilflich sein, was sehr leicht für dich ist.«
Aber der Junge rührte sich nicht, er tat so, als schliefe er. Da packte Wind-Eile ihn beim Arm und schleppte ihn durch den Sand zu einer Tonkruke von altmodischer Form, die mitten in der Grube stand. »Steh auf, Däumling!« sagte er, »und mach‘ uns diese Kruke auf!« – »Warum wollt ihr mich nicht schlafen lassen?« sagte der Junge. »Ich bin zu müde, um es heute abend noch zu tun. Wartet doch bis morgen!«
»Du machst sofort die Kruke auf!« befahl Wind-Eile und rüttelte ihn. Da erhob sich der Junge und musterte die Kruke. »Wie glaubt ihr nur, daß ich armes Kind eine solche Kruke öffnen kann? Die ist ja ebenso groß wie ich.« – »Mach‘ sie auf!« kommandierte Wind-Eile noch einmal. »Sonst ergeht es dir schlecht.« Der Junge erhob sich, schwankte nach der Kruke, befühlte den Deckel und ließ die Arme sinken. »Ich habe sonst keine schwachen Kräfte,« sagte er. »Wenn ihr mich nur bis morgen schlafen lassen wollt, glaube ich wohl, daß ich mit dem Deckel fertig werden kann.«
Aber Wind-Eile war ungeduldig und flog hin und zwickte den Jungen ins Bein. Das wollte sich der Junge jedoch nicht von einer Krähe gefallen lassen. Er riß sich schnell los, trat ein paar Schritte zurück, zog sein Messer aus der Scheide und hielt es ausgestreckt vor sich hin. »Nimm dich in acht!« rief er Wind-Eile zu.
Der aber war so empört, daß er sich nicht von der Gefahr zurückschrecken ließ. Blind vor Wut stürzte er auf den Jungen los und fuhr gerade gegen das Messer, so daß es ihm durch das Auge ins Gehirn eindrang. Der Junge zog schnell das Messer zurück, Wind-Eile schlug aber nur noch mit den Flügeln, dann sank er um und war tot.
»Wind-Eile ist tot! Der Fremde hat unsern Häuptling, Wind-Eile, getötet!« riefen die Krähen, die zunächst standen, und dann entstand ein entsetzlicher Spektakel. Einige jammerten, andere riefen nach Rache. Alle liefen oder flatterten sie auf den Jungen zu, mit Fumle-Drumle an der Spitze. Aber der tat wieder, als sei er ganz töricht. Er flatterte nur mit ausgebreiteten Flügeln über dem Jungen und hinderte die anderen, ihre Schnäbel in ihn zu bohren.
Der Knabe hatte ein Gefühl, als befinde er sich in einer schlimmen Lage. Er konnte den Krähen nicht entkommen, und da war kein Ort, wo er sich hatte verbergen können. Aber dann fiel ihm die tönerne Kruke ein. Er zog kräftig an dem Deckel und riß ihn herunter. Dann sprang er in die Kruke hinein, um sich darin zu verstecken. Aber es war ein schlechtes Versteck, denn die Kruke war fast bis an den Rand mit dünnen Silbermünzen angefüllt. Der Junge konnte nicht tief genug hineinkommen. Da bückte er sich herab und fing an, die Silbermünzen herauszuwerfen.
Während der ganzen Zeit hatten die Krähen ihn in einem dichten Schwarm umflattert und nach ihm gehackt, sobald er aber anfing, das Silbergeld herauszuwerfen, vergaßen sie augenblicklich ihre Rachsucht und beeilten sich, es aufzufangen. Der Junge schleuderte das Geld mit vollen Händen heraus, und alle Krähen, ja, selbst Wind-Kaara, liefen danach. Und sobald eine so glücklich war, eine Münze zu ergattern, flog sie so schnell wie möglich nach ihrem Nest, um sie dort zu verstecken.
Als der Junge alles Silbergeld aus der Kruke herausgeworfen hatte, sah er auf. Da war nur noch eine einzige Krähe im Sandgraben zurückgeblieben, nämlich sein Freund Fumle-Drumle mit der weißen Feder im Flügel, die ihn getragen hatte. »Du hast mir einen größeren Dienst erwiesen, als du selber ahnst, Däumling,« sagte die Krähe mit einer ganz anderen Stimme und einem ganz andern Tonfall als bisher. »Ich will dir das Leben retten. Setze dich auf meinen Rücken, dann will ich dich nach einem Versteck bringen, wo du die Nacht in Sicherheit zubringen kannst. Morgen werde ich schon dafür sorgen, daß du zu den wilden Gänsen zurückkommst.«
Die Hütte.
Donnerstag, den 14. April.
Als der Junge am nächsten Morgen erwachte, lag er auf einem Bett. Sobald er sah, daß er sich zwischen Türen, mit vier Wänden um sich her und mit einem Dach über dem Kopf befand, glaubte er, daß er zu Hause sei. »Nun kommt Mutter wohl bald mit Kaffee,« murmelte er noch halb im Schlaf. Aber dann entsann er sich, daß er in einer leeren Hütte auf dem Krähenhügel war, und daß Fumle-Drumle mit der weißen Feder ihn am vorhergehenden Abend dahin gebracht hatte.
Der ganze Körper schmerzte dem Jungen nach der gestern zurückgelegten Reise, und er fand, es war angenehm, so still da zu liegen, während er auf Fumle-Drumle wartete, der versprochen hatte, zu kommen und ihn zu holen.
Vor dem Bett waren Gardinen von gewürfeltem Baumwollstoff, und er schob sie zur Seite, um sich in der Stube umzusehen. Er war sich gleich klar darüber, daß er ein Haus wie dieses noch nie im Leben gesehen hatte. Die Wände bestanden nur aus ein paar Reihen Balken, dann begann schon das Dach. Da war keine Decke, und er konnte ganz bis zum Dachrücken hinaufsehen. Das ganze Haus war so klein, daß es eigentlich aussah, als wenn es eher für Wesen seiner Art gebaut sei, als für richtige Menschen, und doch waren der Feuerherd und die Mauer da herum so groß gemacht, daß er fand, er habe sie nie größer gesehen. Die Eingangstür lag an der einen Giebelwand neben dem Feuerherd und war so schmal, daß sie fast einer Luke ähnelte. An der andern Giebelwand sah er ein niedriges, breites Fenster mit vielen kleinen Fensterscheiben. Da waren fast keine beweglichen Möbel in der Stube. Die Bank an der einen Längsseite und der Tisch unter dem Fenster waren an den Wänden befestigt, ebenso das große Bett, in dem er lag, und der Wandschrank mit den bunten Blumen.
Der Knabe konnte es nicht lassen, darüber nachzusinnen, wem wohl dies Haus gehörte, und warum es leer stand. Es sah eigentlich so aus, als wenn die Leute, die da gewohnt hatten, beabsichtigt hätten, zurückzukehren. Der Kaffeekessel und der Grütztopf standen noch auf dem Herd, und im Ofenwinkel lag ein wenig Brennholz. Der Feuerhaken und die Backschaufel standen in einer Ecke, der Spinnrocken war auf eine Bank gestellt, auf dem Wandbrett über dem Fenster lagen Hede und Flachs, ein paar Fitzen Garn, ein Talglicht und ein Bund Streichhölzer.
Ja, es sah wirklich so aus, als wenn die, denen das Haus gehörte, die Absicht gehabt hätten, wieder zurückzukehren. In der Bettstelle lagen Betten, und an der Wand saßen noch lange Zeugstreifen, auf die drei Männer zu Pferd gemalt waren, die Kaspar, Melchior und Balthasar hießen. Dieselben Pferde und dieselben Reiter waren viele Male abgebildet. Sie ritten die ganze Stube herum und setzten ihren Ritt ganz bis zu den Dachbalken fort.
Plötzlich aber erblickte der Junge etwas oben an der Decke, das ihn mit einem Satz auf die Beine brachte. Es waren zwei trockene Flachbrote, die an einer Stange hingen. Sie sahen ja freilich ein wenig alt und schimmelig aus, aber Brot war es doch. Er schlug mit der Backschaufel danach, so daß ein Stück herabfiel. Er aß und stopfte seinen Sack voll. Es war doch erstaunlich, wie gut Brot schmeckte!
Er sah sich noch einmal in der Hütte um, denn er wollte sehen, ob da nicht noch etwas anderes war, was sich des Mitnehmens verlohnte. »Ich darf doch nehmen, was ich nötig habe, wenn sonst niemand sich etwas daraus macht,« dachte er. Aber das meiste war zu schwer und zu groß. Das einzige, was er mitnehmen konnte, waren vielleicht ein paar Streichhölzer.
Er kletterte auf den Tisch hinauf und schwang sich mit Hilfe der Gardinen auf das Brett über dem Fenster hinauf. Während er da stand und die Streichhölzer in seinen Sack stopfte, kam die Krähe mit der weißen Feder zum Fenster herein.
»Ja, hier bin ich,« sagte Fumle-Drumle und ließ sich auf dem Tisch nieder. »Ich konnte nicht früher kommen, weil die Krähen heute einen neuen Häuptling an Wind-Eiles Stelle gewählt haben.« – »Wen habt ihr denn gewählt?« fragte der Junge. – »Ach, wir haben einen gewählt, der keine Räuberei und Ungerechtigkeit dulden will. Wir haben Garm Weißfeder gewählt, der ehemals Fumle-Drumle genannt wurde,« erwiderte er und richtete sich stolz auf, so daß er ganz majestätisch aussah. – »Das war eine gute Wahl!« sagte der Junge und beglückwünschte ihn. – »Ja, du kannst mir wohl Glück wünschen,« sagte Garm und erzählte dem Jungen von allem, was er von Wind-Eile und Kaara hatte erdulden müssen.
Mitten während dieser Unterhaltung hörte der Junge draußen vor dem Fenster eine Stimme, die ihm bekannt vorkam. »Ist er hier?« fragte Reineke Fuchs. – »Ja, hier ist er versteckt,« antwortete eine Krähenstimme. – »Nimm dich in acht, Däumling!« rief Garm. »Wind-Kaara steht draußen mit dem Fuchs, der dich fressen will.« Weiter kam er nicht, als Reineke schon gegen das Fenster sprang. Die alten, morschen Fenstersprossen gaben nach, und im nächsten Augenblick stand Reineke auf dem Tisch unter dem Fenster. Garm Weißfeder, der keine Zeit hatte zu entfliehen, wurde auf der Stelle totgebissen. Dann sprang Reineke auf den Fußboden und sah sich nach dem Jungen um.
Der versuchte, sich hinter einem großen Büschel Hede zu verstecken, Reineke hatte ihn aber schon gesehen und krümmte sich bereits zum Sprung. Und die Stube war so klein und so niedrig, daß sich der Junge klar darüber war, der Fuchs könne seiner ohne jegliche Schwierigkeit habhaft werden. Aber in diesem Augenblick war der Junge nicht ohne Verteidigungswaffe. Schnell strich er ein Streichholz an, hielt es an die Hede und warf die auf Reineke herab. Als der Fuchs das Feuer über sich bekam, ergriff ihn eine wahnsinnige Angst. Er vergaß den Jungen und stürzte ganz von Sinnen aus der Hütte heraus.
Aber es sah fast so aus, als sei der Junge nur einer Gefahr entronnen, um sich in eine noch größere zu stürzen. Von dem Büschel Hede, das er Reineke auf den Kopf geworfen hatte, griff das Feuer nach dem Bettvorhang hinüber. Er sprang hinunter und versuchte, es zu ersticken, aber es hatte schon zu weit um sich gegriffen. Die Stube füllte sich schnell mit Rauch, und Reineke Fuchs, der draußen vor dem Fenster stand, merkte bald, wie es da drinnen aussah. »Nun Däumling,« rief er, »was ziehst du jetzt vor, – dich braten zu lassen oder zu mir herauszukommen? Ich hätte ja am meisten Lust, dich zu fressen, aber ich will mich freuen, auf welche Weise auch der Tod deiner habhaft werden mag.«
Der Junge konnte nicht anders glauben, als daß der Fuchs Recht bekommen würde, denn das Feuer griff mit schrecklicher Geschwindigkeit um sich. Das ganze Bett stand schon in Flammen, der Rauch stieg aus dem Fußboden auf, und an den bemalten Zeugstreifen kroch das Feuer von einem Reiter zum andern. Der Junge war auf den Herd herausgekrochen und bemühte sich, die Tür zum Backofen zu öffnen, als er hörte, wie ein Schlüssel in das Schloß gesteckt und langsam herumgedreht wurde. Das mußten Menschen sein, die kamen, und in seiner großen Not wurde er nicht bange, sondern freute sich nur. Er stand schon auf der Türschwelle, als die Tür sich schließlich auftat. Vor ihm standen ein paar Kinder, aber was für Gesichter sie machten, als sie die ganze Stube in hellen Flammen sahen, das zu beachten ließ er sich keine Zeit, sondern stürzte an ihnen vorüber, ins Freie hinaus.
Er wagte nicht weit zu laufen. Er war überzeugt, daß Reineke Fuchs auf der Lauer lag, und er sah ein, daß er sich in der Nähe der Kinder halten müsse. Er wandte sich um, denn er wollte sehen, was für Leute es waren, aber er hatte sie noch keine Sekunde angesehen, als er auf sie zustürzte und rief: »Ei, guten Tag, Gänsemädchen Aase! Guten Tag, kleiner Mads!«
Als der Junge die Kinder sah, vergaß er ganz, wo er war. Die Krähen und das brennende Haus und die Tiere, die sprechen konnten, schwanden aus seinem Bewußtsein. Er ging auf einem Stoppelfeld in West-Bemmenhög und hütete eine Schar Gänse, und auf dem danebenliegenden Felde gingen die beiden Kinder aus Smaaland mit ihren Gänsen. Und sobald er sie sah, sprang er auf die steinerne Umzäunung und rief: »Ei, guten Tag Gänsemädchen Aase, guten Tag, kleiner Mads!«
Aber als die beiden Kinder den kleinen Wicht mit ausgestreckter Hand auf sich zukommen sahen, faßten sie sich bei den Händen, gingen ein paar Schritt rückwärts und sahen so aus, als seien sie in Todesangst.
Der Junge sah ihren Schrecken, kam zu sich und entsann sich, wer er war. Und da meinte er, es sei das Ärgste, was ihm widerfahren könne, daß gerade diese Kinder sehen sollten, daß er verhext war. Er war ganz überwältigt vor Kummer und Schrecken, weil er kein Mensch mehr war. Er wandte sich ab und entfloh. Wohin, das wußte er selbst nicht.
Aber als der Junge auf die Heide hinauskam, hatte er eine glückliche Begegnung. Denn mitten im Heidekraut sah er etwas Weißes, und niemand anderes als der weiße Gänserich in Gesellschaft von Daunenfein kam auf ihn zu. Als der Weiße den Jungen in einer solchen Eile laufen sah, glaubte er, daß ihm Feinde auf den Fersen seien. Er warf ihn schnell auf seinen Rücken und flog mit ihm davon.