206. Dort tanzt Bornholm hin

206. Dort tanzt Bornholm hin

Dieses Sprüchwort wird in Holstein häufig vernommen. Einst gab ein Dänenkönig diese dänische Insel der Stadt Lübeck in Versatz, weil er ihr ein ziemliches Geld schuldete. Nach einiger Zeit aber beehrte der König die Stadt Lübeck mit seinem Besuche, da ward ihm zu Ehren ein großes Bankett veranstaltet und ihm ein Tanzfest gegeben, und die Frau des Bürgermeisters mußte dem Könige zur Rechten sitzen, und er sagte ihr viel Schönes und führte sie zum Tanze, den ersten Reigen mit ihr zu tanzen. Und wie nun dieses Paar sich gar schön mit Tanzen blicken ließ, da sagten die Lübecker: Dort tanzt Bornholm hin!, denn sie wußten wohl, daß der Bürgermeister die vom Könige seiner Frau angetane Ehre werde im Übermaße zu schätzen wissen, und sie irrten auch nicht, denn gar bald danach hatte der Dänenkönig sein Pfand wieder frei, ohne die schuldigen Gelder bezahlt zu haben. Seitdem hat sich das Sprüchwort erhalten.

Andere erzählen diese Sage anders. Der Bürgermeister habe, von Eitelkeit gebläht, die Ehre haben wollen, mit der Frau Königin zu tanzen, und der König habe das ihm in höchsten Gnaden und nur unter der kleinen Bedingung gewährt, daß ihm Bornholm wieder freigegeben werde, und so sei es hingetanzt worden.

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207. Die drei Meister

207. Die drei Meister

Zu Lübeck geschah es, daß bei einem großen Brande der Scharfrichter um das Leben kam, alsbald bewarben sich um dessen Stelle drei Meister, denn die Stelle war sehr einträglich, es gab manchmal an einem Tage dreißig bis vierzig arme Sünder durch das Schwert oder die scharfe Diele abzutun, dafür zahlte pro Mann löblicher Senat einen bis zwei rheinische Gulden. Nun wurde beschlossen, daß jeder der neuen Bewerber ein Probestück machen sollte, und der das beste tue, dem sollte die Stelle werden, das waren die Meister wohl zufrieden. An armen Sündern war kein Mangel, und die Probehinrichtung begann. Der erste Meister stellte den Verbrecher vor sich hin, führte einen Lufthieb, und man sah jetzt, daß jener ein rotes Schnürchen um den Hals hatte und närrisch mit den Augen zwinkerte. Der Meister sah das Volk an, wischte sein Schwert säuberlich und gab dem armen Sünder einen Tritt. Da fiel er um, und der Kopf fiel von ihm ab. Er hatte ihn unversehens so schnell und meisterlich geköpft, daß er’s gar nicht gemerkt hatte, und die Zuschauer hatten es auch nicht gemerkt. Lauter Beifall lohnte den großen Mann, der sein Handwerk zur Kunst erhob. Der zweite Meister erklärte, da er nun sein Probestück ablegen sollte, er müsse nun um zwei Schafottkandidaten bitten, und hat darauf zweien mit einem Streich die Köpfe abgeschlagen, ganz kunstgerecht und meisterhaft, und viel Lob und Beifall geerntet. Der dritte Meister erforderte wieder nur einen Delinquenten, legte diesem zwei eiserne Ringe um den Hals, und zwischen beide Ringe legte er im Nacken eine Erbse. Hierauf schwang er sein Schwert, und mit sicherer Hand hieb er genau die Erbse in zwei gleiche Hälften und zwischen den beiden Ringen hindurch den Kopf vom Rumpfe. Das ward für das allergrößeste Kunststück angesprochen, und dieser Meister erhielt die Bestallung, die andern beiden aber wurden mit stattlicher Verehrung entlassen.

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208. Rabundus Rose

208. Rabundus Rose

Im Chorgestühle des Domes zu Lübeck an der Nordseite wird noch des Domherrn Rabundus Sitz gezeigt. Lange ging die Sage, daß, wenn ein Domherr daselbst sterben sollte, so finde er auf seinem Stuhlkissen eine weiße Rose. Welcher Domherr diese Rose fand, der bestellte sein Haus und bereitete sich in frommer Stille zum seligen Heimgang vor. Nun war unter den Domherren einer des Namens Rabundus, der fand eines Morgens die Rose auf seinem Sitz; er hatte aber noch nicht Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein, hatte noch viele Geschäfte, nahm daher die Rose und warf sie schnell auf seines Nachbars Sitz, des Domherrn Konrad Barner von Moislinghe. Da dieser kam und die Rose fand, erschrak er aufs heftigste, und nach drei Tagen war er tot. Rabundus aber nahm sich seine böse Tat zu Herzen, und da er sein Ende nahe fühlte, bekannte er sie seinem Beichtiger und schwur, daß er künftig durch ein anderes Zeichen den nahen Tod eines Domherrn verkündigen wolle. Und also geschah es. Als Rabundus nicht lange nachher verstorben war und wiederum der Tod eines andern Domherrn bevorstand, tat es unter seinem Grabstein drei Klopfer, die klangen Donnerschlägen gleich. Darum ward auf Rabundi Grabstein auch eine Keule angebracht und die Inschrift:

Pulsibus in duris
do signum morituris.

Und dieses Klopfen ist hernachmals gehört worden, solange in Lübeck Domherren lebten. Die Schläge krachten wenig gelinder, als wenn das Wetter einschlug, oder wie Kartaunenschüsse, und beim dritten Schlag lief der Knall über dem Gewölbe der ganzen Kirche der Länge nach durch, daß man glauben mochte, es würde das ganze Gebäu zusammenkrachen und -prasseln. Einmal geschahe dergleichen sogar mitten unter der Hauptpredigt, daß die Menschen aus der Kirche eilen wollten, aber der Prediger blieb fest auf seiner Kanzel und ermahnte die Menge, sich von einem Teufelsgespenst nicht schrecken zu lassen.

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20. Das Paradies der Tiere

20. Das Paradies der Tiere

Hoch droben auf dem Matterberge ist eine Stelle, die aber keiner oder doch gar selten einer finden kann, die hat der laufende Jud nicht mit verwünschen können, weil sie von Gott gefeit ist vom Anbeginne: da ist kein Schnee und kein Eis, da ist Sonne und Freude, Wonne und Weide, da quillt erst eigentlich mit leisem Gewisper die Visper hervor, die später erst unter dem Alp-Gletscher zutage rinnt, dort ist das Paradies der Tiere. Da gibt es herrliche Steinböcke und Gemsen, Adler und Geier, Schneehühner und Birkhähne, auch Murmeltiere, und keines beleidigt das andere, alle leben da friedlich beisammen. Nur alle dreimal sieben Jahre darf und kann ein Menschenauge in dieses Bergparadies der Alpentierwelt blicken, wo es so wonnevoll und schön ist, alles voll Alpenrosen und Gentianen, und von zwanzig Gemsenjägern glückt das auch kaum einem einzigen. Da stehen uralte Pinienbäume und Ahorne, und die Pinien tragen Zapfen, deren Kern süß schmeckt, wie Mandeln, das sind die Zirbelnüsse. Wem es glückt, in das Paradies der Tiere zu treten, der darf wohl von den Zirbelnüssen nehmen und kosten, aber nimmermehr ein Tier fangen oder töten, sonst kostet’s ihm das Leben. Viele haben in die uralten heiligen Platanenstämme zum Zeichen ihres Alldagewesenseins ihre Namen geschnitten. Außerdem sieht man selten noch einen Steinbock und selten eine Pinie, und die stehen hoch und schwer erreichbar. Denn es geht die Sage, daß es zwar deren viele und überall gegeben habe, da habe aber die Dienerschaft immer gern die Nüsse genascht und darüber und mit Auskernen viel gute Zeit hingebracht und versäumt, da habe die Meisterschaft diese Bäume verwünscht, und nun seien sie unfruchtbar geworden oder unzugänglich.

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Erste Sage. Vom deutschen Rheinstrom

Erste Sage. Vom deutschen Rheinstrom

Heilige Wasser rinnen von Himmelsbergen – singt die Edda, das uralte Götterlied, so auch der Rhein, des deutschen Vaterlandes heiliger Strom, rinnt vom Gottesberge (St. Gotthard), aus Eispalästen, aus dem Schoße der Alpen nieder, als Strom des Segens. Schon die Alten sagten von ihm: Die Donau ist aller Wasser Frau, doch kannf wohl der Rhein mit Ehren ihr Mann sein – und die Urbewohner der Stromufer erachteten seine Flut für also wunderbar, daß sie neugeborene Kinder ihr zur Prüfung echter oder unechter Geburt übergaben. Rechtmäßige Abkömmlinge trug die Stromflut sanft zum Ufer, unrechtmäßige aber zog sie mit ungestümen Wellen und reißenden Wirbeln als ein zorniger Rächer und Richter der Uneinigkeit unter sich und ersäufte sie. Andere Anwohner brachten dem heiligen Strome ihr Liebstes, Pferde, zum Opfer dar. Durch Hohenrätiens Alpentalschluchten stürzt sich der Rhein mit jugendlichem Ungestüm, frei und ungebunden, umwohnt von einem freien Bergvolke, das in Vorzeittagen hartlastende, schwerdrückende Fesseln brach. Da zwang ein Kastellan auf der Bärenburg die Bauern, mit den Schweinen aus einem Trog zu essen, ein anderer zu Fardün trieb ihnen weidende Herden in die Saat, andere übten noch andere Frevel. Da traten Hohenrätiens Männer zusammen. Alte mit grauen Bärten, und hielten Rat im Nachtgraun unter den grauen Alpen. Auf einer felsenumwallten Wiese ohnfern Tovanosa will man noch Nägel in den Felsenritzen erblicken, an welche die Grauen, die Dorfältesten, ihre Brotsäcke hingen. Und dann tagten sie in Bruns vor der St. Annenkapelle unter dem freien Himmel, unter der großen Linde, nach der Väter Sitte, und beschwuren den Bund, der dem alten Lande den neuen Namen gab, den Namen Graubünden, und daß der Bund solle bestehen, solange Grund und Grat steht. Davon gehen im Bündnerlande noch alte Lieder. – Kaiser Maximilian nannte scherzweise den Rheinstrom die lange Pfaffengasse, wegen der zahlreichen und hochberühmten Bistümer und Hochstifte an seinen Ufern, und nannte Chur das oberste Stift, Konstanz das größte, Basel das lustigste, Straßburg das edelste, Speier das andächtigste, Worms das ärmste, Mainz das würdigste und Köln das reichste.

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19. Mutter Gottes am Felsen

19. Mutter Gottes am Felsen

Unterhalb Täsch, wo das Dorf St. Nicolaus das Nicolaital beschließt oder dem, der im Gebirg von unten heraufkommt, eröffnet, hebt sich hoch über St. Nicolaus der Räti mit einer schroffen Felswand gegen das Tal; an dieser Wand steht ein kleines Muttergottesbild von Stein. Früher stand es unten am Weg, da flehte einer zu ihm, blieb aber unerhört, da griff er, als er wiederkam, hin und warf das Bild mit Unrat, und da weinte das Bild. Dennoch warf er’s noch einmal, da hob sich das Bild hoch hinauf an die Felswand, dort stand’s nun, und niemand könnt‘ es erlangen. Den Talleuten jammerte das, sie hatten das Bildchen lieb gehabt und es sehr verehrt und mochten’s gar zu gern wieder herunter haben. Aber der Felsen an jener Wand war gar zu steil, keiner vermochte daran emporzuklimmen, und keine Leiter reichte zu solcher Höhe. Darauf wurden sie in St. Nicolaus Rates einig, sie wollten’s von oben versuchen, und eine Schar erkletterte den Rätigipfel, und sie hatten sich Merkzeichen gemacht, und gerade über dem Bilde wurde nun an starken Seilen ein Mann hinabgelassen, der sollte es heraufholen. Schon war der Mann fast am Bilde, er sah es schon stehen, da sah er, wie das Seil immer dünner wurde, wie ein Bindfaden, und dachte, daß es nicht halten werde und er jämmerlich in den tiefen Abgrund stürzen, und schrie: Zieht auf, zieht auf, der Strick wird dünne! – Sie ließen ihn aber noch immer weiter herab, jetzt war er am Bilde, jetzt hätt‘ er’s nehmen können, aber da war das Seil dünn geworden wie ein Haar, und er schrie nochmals: Um Gottes willen, zieht auf, sonst bin ich verloren! – Da zogen die Männer ihn hinauf, und je weiter er aufwärts kam, je dicker und stärker wurde wieder der Strick. Da nahmen die Leute von St. Nicolaus wahr, daß das Bild am Fels und nicht in einer Kapelle stehen wollte, wie jenes auf dem Milzeberg im Frankenlande auch nicht in einer Kapelle blieb, sondern auf seinem Felsblock am Wallfahrerweg seinen Stand behauptete.

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199. Die Krempner Glocke

199. Die Krempner Glocke

Wieviel die Hamburger des Goldes übrig und genug hatten, erhellt aus dieser Sage. Zu Krempen hing eine herrliche Glocke in dem Kirchturm. Es hatte sich bei ihrem Guß etwas Besonderes zugetragen; da nämlich die Speise schon flüssig und alles zum Gusse fertig war, hatte der Meister noch ein Geschäft und befahl dem Lehrjungen die Obhut des Gießofens. Da stand auf einer Kapelle ein Schmelztiegel, in welchem Silber floß, der Meister mochte das wohl zu einer Zier oder Inschrift benutzen wollen, der Junge aber meinte, das müsse noch zur ganzen Masse, um sie recht gut und wohlklingend zu machen, und schüttete den Tiegel voll Silbers hinein zur Glockenspeise. Der Meister kam gerade dazu, ergrimmte und schlug mit seinem Stock so hart auf den Jungen, daß dieser tot niederfiel. Der Glockenguß fand statt, und als nun die Glocke Maria getauft war, in ihrem Stuhle hing und geläutet wurde, da hatte sie von dem Silber gar einen hellen, reinen Klang, dergleichen noch niemand so schön gehört hatte, aber immer klangen und lauteten die Worte hindurch: Schad um den Jungen! Schad um den Jungen.

Da nun die Glocke so schön tönte, wurden die Hamburger neidisch auf die Krempner und machten sie ihnen feil. Sie boten und boten und boten zuletzt eine Kette von Gold, so groß, daß sie um ganz Krempen herumreichen sollte. Das waren endlich die zu Krempen zufrieden, die gute Maria ward auf einen Wagen gesetzt und fortgefahren. Aber auf einer nahen Anhöhe stand der Wagen und sank ein. Es wurde vorgespannt noch so viel, die Pferde vermochten nicht, ihn weiterzubringen. Da spannte man zwei Pferde am hintern Teile des Wagens an, und siehe, mit Leichtigkeit ließ er samt der Glocke sich ziehen, wieder hinab nach Krempen zu. Da hing die Maria bald wieder im Turm und ließ ihre wehmutvolle Klangstimme ertönen: Schad um den Jungen! Im Kriege der Russen gegen die Schweden, der auch über diese friedlichen Gefilde sich hinwälzte, haben die Schweden die schöne Kirche von Krempen in die Luft gesprengt, aber von der Glocke ist nichts entdeckt worden. Die Sage geht, sie sei in die Erde versunken und werde dereinst wohl wieder gefunden werden.

Die Sagen von versunkenen Glocken sind über ganz Deutschland zahllos verbreitet, die vom Glockenguß in Verbindung mit des Lehrlings Tod begegnet nicht minder an vielen Orten, z. B. in der Stadt Breslau; Glocken in Wassertiefen hört man läuten, sowohl aus Orten, die wegen ihrer Sünden versanken, als auch einzelne Glocken, welche räuberisch hinweggeführt wurden und dann sich selbst der Räuberhand entrückten, so eine von Haddeby, eine von Gramm in Nordschleswig, eine Kapellglocke aus Neukirchen, eine im Flemhuder See u. a.

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200. Enten zeigen den Mord an

200. Enten zeigen den Mord an

Nahe bei Glückstadt steht einsam eine große alte Eiche und weit und breit herum keine zweite. An dieser Eiche Stelle stand früher nur ein kleiner Busch, und an ihm saßen ein paar Männer und sahen, wie denselben Ruheplatz ein wandernder Handwerker wählte, der sie nicht sah und, sich allein glaubend, sein Geld zählte. Schnell reifte im Herzen der Männer der Entschluß zu einer Untat. Sie überfielen den Handwerker und ermordeten ihn. Da rauschte aus dem Wasser des nahen Teiches ein Flug wilde Enten auf, die flogen schreiend über den Busch, und der Unglückliche hob sterbend seine Hand und rief: Zeugt, ihr Vögel, zeugt von dieser ungetreuen Tat! Die Mörder verscharrten die Leiche unter dem Busch und entflohen. An jener Stelle wuchs ein blutrotes Kraut, und die Pferde, welche dorthin zur Weide getrieben wurden, scheuten und bäumten sich, wenn sie vorbei sollten, und wieherten und scharrten mit den Hufen. Dies tun sie immer da, wo Unschuldige getötet wurden. Lange Zeit ging vorüber; der eine jener beiden Mörder verheiratete sich in einem nahen Dorfe, der andere diente auf einem Hofe als Knecht, sie waren alt und grau, und ihr Lebenswandel war untadelig. Eines Abends ging der eine mit seiner Frau spazieren und kam von ohngefähr an den Busch und an den roten Fleck – so hieß die Stelle schon seit lange von dem roten Kraut, das dort wuchs und nirgends anders in der ganzen Umgegend. Und da kam zufällig auch der Knecht und wollte ein Pferd von der Weide holen, und da flog ein Flug Enten schreiend aus dem Weiher auf, und beide Männer riefen erschrocken aus einem Munde unwillkürlich: Ha die Enten, die Zeugen! – dann aber schwiegen sie und erbleichten, und die Frau sah beide forschend an, und die Enten kreischten wieder, und die Männer erzitterten. Und daheim wurde der verheiratete Mann wortkarg und still und ging wie schwermütig umher, und die Frau klagte ihr Leid und sein Leiden den Nachbarn, und so habe es angefangen, dort am roten Fleck, wo die Enten geschrieen und die Männer gerufen hätten: Ha die Enten, die Zeugen! – Das kam vor den Bauernvogt, und der ließ in aller Stille beim roten Fleck nachgraben, und da fand sich ein Gerippe, und die Männer wurden verhaftet und gestanden im ersten Verhör die vor vierzig Jahren begangene Tat. Reuig erlitten sie zu Glückstadt den Armensündertod, und zum Gedächtnis wurde jene Eiche gepflanzt, die noch heute steht. So zeigten hier Enten die Mordtat an, wie im altdeutschen Märchen das Rebhuhn und in der griechischen Sage die Kraniche des Ibykus.

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201. Die Schwesterntürme

201. Die Schwesterntürme

In Broacker ist die Kirche mit einem Doppelturm geziert, die Schiffer auf der See erblicken diesen Turm zehn Meilen weit und haben an ihm ein Merkzeichen. Auf dem Schlosse dortselbst haben zwei Fräulein gewohnt, die waren Zwillingsschwestern und durch Fügung Gottes im Mutterleibe zusammengewachsen, die haben diesen Turm erbauen lassen.

In Keitum klingt die Glocke, wenn sie geläutet wird, nie anders als: Ing und Dung! Ing und Dung! So hießen zwei Schwestern, die hatten nördlich von der Kirche ein Haus, darin sie klösterlich lebten, und sie waren es, die den Turm erbauen ließen. Zum Gedächtnis dieser Jungfrauen erhielt der Turm zwei Spitzen von Feldsteinen, welche sie selbst vorstellen sollen. Da man den hellen und herrlichen Ton der Keitumer Glocke bei klarem Wetter sogar auf dem festen Lande hören konnte, so gedachten die Bewohner des Fleckens Hoyer sie heimlich zu stehlen; als die Keitumer das merkten, banden sie eine Zeitlang ein Pferdehaar um den Klöpfel, da lautete es, als wenn die Glocke zersprungen wäre, und da ließen die Hoyeringer ab von ihrer List. Eine alte Sage ging, die Glocke werde einstens aus dem Turme herabstürzen und den schönsten Jüngling erschlagen, und nachher werde auch, wiewohl später, der Turm einfallen und die schönste Jungfrau unter seinen Trümmern begraben. Ersteres ist im Jahre 1739 in Erfüllung gegangen, letzteres aber noch nicht, daher kommen die Mädchen auf Sylt nicht gerne dem Kirchturme nah und gehen nicht gerne in die Kirche – geht die Sage.

Auch im Dorfe Altenbruch an der Elbemündung in die Nordsee lebten einst zwei betagte Zwillingsschwestern, freuten sich der Achtung aller Bewohner; die erbauten von ihrem Überfluß an irdischem Gut Turm und Kirche und brachten ihr Leben in einträchtiger Liebe miteinander hin; da wurde der Turm in zwei hohen schlanken Spitzen ausgebaut und jede derselben mit einer schönen Krone geziert, und es bringen diese Spitzen die Namen der frommen Jungfrauen auf die späte Nachwelt.

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202. Die Hand aus dem Grabe

202. Die Hand aus dem Grabe

Vor vielen hundert Jahren stand zu Marienstede im Lauenburger Lande in einer Kapelle ein Muttergottesbild mit dem Kinde, und dicht an der Kapelle hin floß ein Wasser. Welcher Kranke darin badete, der wurde gesund durch die Wunderkraft des Muttergottesbildes. Daher war viel Zustrom und Wallfahrens zu dem Mirakelbilde, und darüber hatte niemand mehr seinen Spott als ein benachbarter Edelmann; der hielt gerne die frommen Gläubigen für Narren und trieb Possen mit ihnen und spielte ihnen manchen Schabernack. So hatte dieser Edelmann einen Vogt, der war nur wenig oder gar nicht besser als sein Herr. Als einmal diesem Vogt sein Pferd krank wurde, daß ihm kein Viehdoktor helfen konnte, da dachte und sagte der Edelmann: Reite doch nach Marienstede und laß das Pferd aus der heiligen Pfütze saufen und schwemme es tüchtig darin herum, so wird es schon wieder genesen. Nun hatte der Vogt einen alten Vater, der ihn schon oft zum Guten vermahnt, aber der gottlose Sohn lachte den Alten stets aus, und wenn er ihm von Gott sprach, da sagte er: Ich bin so lange ohne den lieben Gott fertig geworden, daß ich vermeine, ich werde auch wohl noch länger ohne ihn fertig werden. Da nun der alte Vater hörte, daß sein Sohn wirklich das Pferd nach Marienstede reiten wollte, so warnte er ihn abermals und sprach: Solchen Frevel wird dir Gott nimmermehr hingehen lassen, versuche Gott nicht, er läßt sich nicht spotten! – Ei was! versetzte der Sohn, ist unser Pferd nicht auch deines lieben Gottes Geschöpf, und ist es nicht mehr wert als alle die alten Krüppel, die Tag um Tag nach Marienstede wallen? Der alte Mann aber, da er nun sah, daß mit guten Worten bei seinem verwahrlosten Sohn im Guten nichts auszurichten war, und ihn doch nicht der göttlichen Strafrute ausgesetzt sehen mochte, stellte sich vor das Pferd, da jener es wegreiten wollte, und faßte den Zaum und wollte ihn durchaus nicht weiterlassen. Da nahm der Vogt einen Riemen und schlug seinen alten Vater damit über den Kopf. Da hob der Alte seine Hand zur Höhe und rief: Daß dich Gott strafen möge, du Unmensch! Aber der gottlose Vogt lachte darüber und entritt und brachte sein Pferd nach Marienstede und tränkte es aus dem heilenden Wasser. Von diesem Tage an verlor das Wasser seine Heilkraft. Und mit dem Vogt nahm es ein böses Ende. Seit er die beiden Untaten getan, hatte er keinen vergnügten und gesunden Tag mehr, und bald darauf starb er. Als er begraben war und andern Morgens zeitig der Küster auf den Kirchhof kam, so sah er auf des Vogtes Grab etwas Weißes liegen, und als er näher darauf zuging, war es eine Menschenhand, und zwar dieselbe, mit welcher der Vogt seinen Vater geschlagen hatte. Nun gruben sie die Hand wieder unter, aber sie blieb nicht im Grabe, sie wuchs immer wieder heraus. Da brachten sie sie in die Kirche und legten sie in eine Blende der innern Kirchenmauer, und alle Jahre einmal erhebt der Prediger diese Hand und zeigt sie den Kindern und spricht: Diese Hand hat sich gegen den Vater aufgehoben, darum hat sie keine Ruhe bis auf den heutigen Tag.

Auch in Oldenburg wird eine solche Hand gezeigt, ebenso in Lübeck und im Flecken Heinrichs auf dem Thüringerwalde liegt auch eine in einem kunstvollen Sakramentschrein aufbewahrt. Zu Groß-Redensleben in der Altmark hängt eine solche Hand an eiserner Kette in der Kirche. Ja bis nach Polen hinein geht diese Sage.

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