219. Der Gast des Kornwucherers

219. Der Gast des Kornwucherers

Auf dem Hofe Großen-Metchling im Mecklenburger Lande saß ein alter geiziger Pachter, der häufte Ernten auf Ernten, und wenn das Korn nicht recht teuer wurde, so verkaufte er nicht, und wenn ihn auch die Leute fußfällig darum baten. Er hatte alle Kisten und Kasten voll Geld und Gut, aber tagtäglich suchte er mehr zusammenzuscharren, und durch unerhörten Kornwucher war er einzig und allein so reich geworden. In die Kirche ging er nicht; er sprach: Ich diene meinem Gott im Freien, dem Teufel aber diente er, dem Gott Mammon. Er übersah die Saatfelder und rechnete aus, wieviel sie tragen würden, und ärgerte sich, daß auf den Ackern seiner Nachbarn auch Getreide stand und diese auch ernten würden. So ging er ebenfalls an einem Pfingsttage draußen herum, sah, wie alles fröhlich wuchs und Gottes Segen wieder sichtbar nahe war, und wie es doch nun an ein Räumen der Kornspeicher gehen müsse, und war sehr unzufrieden und verwünschte und verfluchte die wohlfeile Zeit, wie alle nichtsnutzigen elenden Kornwucherer tun. Da kam ein Mann dahergefahren, der saß in einer schwarzen Kutsche, und ein schwarzer Kutscher lenkte schwarze Rosse; der Mann bot spöttisch gute Zeit und hielt an. Er stieg auch aus, und es hing ein langer Mantel über ihm, der seine Gestalt ganz einhüllte. Gute Aussicht auf gesegnete Ernte, nicht wahr? fragte der Fremde, und der Pachter murrte: So halb und halb; Pfingsten kann man den Erntemond noch nicht loben. Vorrat ist Herr! – Ihr habt wohl noch Vorrat? fragte der Fremde. – Etwas, nicht allzuviel, war die Antwort. Der Fremde fragte nach dem Preise, der Pachter forderte den höchsten Preis, der Fremde sagte: Topp, ich kaufe. – Dem Pachter lachte das Herz im Leibe, doch ärgerte er sich, daß er nicht noch mehr gefordert hatte, und lud den Fremdling ein, mit ihm zu frühstücken. Der Fremde ging mit dem Pachter. Wie beide den Hof betraten, schrien Hühner und Gänse und Enten wild durcheinander und flatterten auf und davon, und der Hofhund winselte, zog den Schwanz ein und kroch tief in seine Hütte. Die Frau des Pachters war in der Kirche, er ließ aber durch die Magd tüchtig aufschüsseln. Der Fremde neckte die Magd, dabei fiel unversehens sein Messer vom Tische, und wie die Dirne sich bückt, sieht sie des Fremden Füße, einen Geierfuß und einen Pferdefuß. Die Magd eilt zur Türe hinaus, stößt auf die Pachterin, die eben aus der Kirche kommt, teilt ihr mit, was sie gesehen, und die Frau sendet sie, eilend den Pastor, der gerade aus der Kirche komme, hereinzubitten. Dieser kommt im ganzen Summarium, wie man dortigen Landes sagt, im höchsten Ornat, die Bibel unterm Arme. Der Fremdling erschrickt, ruft aber dem Pastor frech entgegen: Guten Tag, Pfaffe! Hast du das Messer noch, das du als Bube mir, deinem Mitschüler, gestohlen? – Ganz verwirrt tritt der Geistliche zurück, und jener spricht: So sind sie! Andern wollen sie Buße predigen und sind doch selbst nicht rein. – Da fährt ein Geistlicher aus dem nahen Brudersdorf am Hause vorbei, die Frau ruft ihn herein, auch er tritt im ganzen Summarium, die Bibel unterm Arm, in die Stube. Da zittert und bebt der Fremde, diesem konnte er nichts vorwerfen, und jener bedräut ihn hart als den bösen Feind, den Unkrautsäemann, den brüllenden Löwen, und endlich öffnet er ein Fenster und ruft: Fahr aus, du unsauberer Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist! Rasch fuhr unter Donnergeprassel der Böse aus dem Fenster, und aus den Kornspeichern da zog es wie Dampf und Nebel, Wolke auf Wolke, daß die Leute vermeinten, es brenne droben, aber es war nur der Kornwurm, der ausflog in zahllosen Millionen, drei Ernten auf einmal, die des Kornwucherers Geiz der Armut vorenthalten. So groß ist Gottes Macht und strafende Gerechtigkeit, daß er ein kleines Käferchen zur Rute macht, die den schändlichen Kornwucherer auf das empfindlichste züchtigt. Der Pachter war bis in sein Innerstes erschüttert, er ging in sich und wurde ein frommer Mann, verkaufte den Überfluß seines Getreides um gerechten Preis und hielt nicht wucherisch damit zurück, er hatte Sorge, es möchte ihm noch einmal von bannen fliegen. Heutiges Tages wird in Büchern geschrieben, der Kornwucher sei eine Fabel, ein Wahnglaube. Es heiße nicht Wucher, sondern Handel. – Wer es glaubt!

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220. Der heilige Damm

220. Der heilige Damm

An der Ostsee in der Nähe von Dobberan war ein Ort in großer Bedrängnis von der Flut, und die Einwohner sahen ihr gewisses Verderben vor Augen. Mit jedem Tage entführte die Flut ein Stück vom Lande, schon drohte den nächst am Ufer gelegenen Häusern der Untergang. Da wurden im ganzen Mecklenburger Lande Betstunden angeordnet, und das Flehen und Schreien eines ganzen Landes fand Gnade vor dem Herrn. Zum letzten Male hatten sich mit Furcht und Zagen die Bewohner zum Schlummer niedergelegt, und viele fanden ihn nicht, denn die See rauschte gewaltig und ging hohl, und der Boden erzitterte, und es zuckten Blitze über die Meereswogen. Dann wurde es stiller, und der Mond trat hinter Wolken hervor, und da schauten manche vom Strande ängstlich hinaus, da lag etwas Großes, Dunkles im Wasser, und manche meinten, es sei der Kraken, der seinen inselgleichen Rücken aus der Flut hebe, und als der Tag kam, siehe, so verlief sich das Wasser mehr und mehr vom Strande, und vor den Blicken der erstaunten Bewohner lag eine hohe Düne wie ein Wall und fester Damm. Der war auf das Gebet des Landes in einer Nacht entstanden durch die göttliche Hülfe, und alles Volk lobte Gott, und sie nannten den Damm den heiligen Damm und konnten ihn nicht ohne Dank und Verehrung erblicken.

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221. Die Sieben in Rostock

221. Die Sieben in Rostock

Die von alten Zeiten her berühmte Universitäts- und Münzstadt Rostock ward als merkwürdig von den Alten bezeichnet wegen der Siebenzahl.

Die Stadt hatte sieben Tore, sieben Brücken, sieben sämtlich vom Markt ausgehende Hauptstraßen, sieben Türme und sieben Türen im Rathause, an der Marienkirche sieben Portale, an den Uhrwerken sieben Glocken und im Rosengarten, der aus alter Zeit berühmt ist, und dessen oben in der Sage von des Minnesängers Heinrich Frauenlobs Begängnis zu Mainz gedacht wurde, sieben uralte Linden. Man hat vor alters wohl manches Mal Rostock spottend nachgesagt, es habe zu diesen vielen Sieben auch nur sieben Studenten, und es ist sogar gedruckt worden, es lebe und sterbe mancher Rostocker, ohne nur einen Studenten gesehen zu haben.

Den alten Namen aber hat Rostock von einem Rosenstock, es ward urbs rosarum, die Rosenstadt, genannt, und das steht wieder mit dem erwähnten Rosengarten in Verbindung.

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222. Sankt Nikolaus in Greifswald

222. Sankt Nikolaus in Greifswald

Zu Greifswalde hat in einer der Kirchen daselbst ein hölzern Bildnis des heiligen Nikolaus gestanden. In diese Kirche brach nächtlicherweile ein Dieb ein, wollte den Gotteskasten erbrechen und das darin befindliche Geld enttragen. Da erhob St. Nikolaus Bild drohend den Arm gegen den Dieb. Der aber war unerschrocken und sprach: Lieber Herr Sankt Nikolaus, ist das Geld im Kasten dein oder ist es mein? Weißt du was? Wir wollen darum laufen, wer zuerst an den Kasten kommt, dem soll das Geld sein. Und lief also stracklich durch das lange Schiff der Kirche dem Chore zu, aber siehe da, das Bild lief auch und stand am Kasten, als der Dieb hinzukam. Ei, Sankt Nikolaus! rief der Dieb, du könntest fürwahr beim Herzog oder Markgrafen Laufer werden, du hast gewonnen, aber was in aller Welt nützt dir das Geld? Wäre ich, wie du, von Holz und hätte nimmer Durst noch Hunger, wollt ich keines Geldes begehren! Darum habe ein Einsehen und ein Nachsehen und gönne mir das Geldlein. – Damit brach er den Gotteskasten auf, nahm kecklich das Geld und trug es von dannen.

Aber bald darauf starb dieser Dieb und wurde ehrlich begraben, denn niemand wußte, daß er ein Kirchenräuber war. Da sind die Teufel aus der Hölle heraufgestiegen, haben seinen Leib aus dem Grabe geholt und ihn bei den beraubten Gotteskasten niedergeworfen, darauf aber ihn draußen vor der Stadt an die Flügel einer Windmühle gehenkt. Von diesem Augenblicke an drehten die Flügel dieser Windmühle sich links und liefen links herum, solange sie stand, zum Wahrzeichen des Unrechts und des Unrechten.

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223. Vineta

223. Vineta

Bei der Insel Usedom ist eine Stelle im Meere, eine halbe Meile von der Stadt gleichen Namens, da ist eine große, reiche und schöne Stadt versunken, die hieß Vineta. Sie war ihrer Zeit eine der größesten Städte Europas, der Mittelpunkt des Welthandels zwischen den germanischen Völkern des Südens und Westens und den slavischen Völkern des Ostens. Überaus großer Reichtum herrschte allda. Die Stadttore waren von Erz und reich an kunstvoller Bildnerei, alles gemeine Geschirr war von Silber, alles Tischgeräte von Gold. Endlich aber zerstörte bürgerliche Uneinigkeit und der Einwohner ungezügeltes Leben die Blüte der Stadt Vineta, welche an Pracht und Glanz und der Lage nach das Venedig des Norden war. Das Meer erhob sich, und die Stadt versank. Bei Meeresstille sehen die Schiffer tief unten im Grunde noch die Gassen, die Häuser eines Teiles der Stadt in schönster Ordnung, und der Rest Vinetas, der hier sich zeigt, ist immer noch so groß als die Stadt Lübeck. Die Sage geht, daß Vineta drei Monate, drei Wochen und drei Tage vor seinem Untergang gewafelt habe, da sei es als ein Luftgebilde erschienen mit allen Türmen und Palästen und Mauern, und kundige Alte haben die Einwohner gewarnt, die Stadt zu verlassen, denn wenn Städte, Schiffe oder Menschen wafeln und sich doppelt sehen lassen, so bedeute das vorspukend sichern Untergang oder das Ende voraus – jene Alten seien aber verlacht worden.

An Sonntagen bei recht stiller See hört man noch über Vineta die Glocken aus der Meerestiefe heraufklingen mit einem trauervoll summenden Ton.

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224. Weh über Pommerland!

224. Weh über Pommerland!

Es war im Jahre 1624, da ward in Lüften eine seltsame Stimme gehört, die rief: Weh! weh über Pommerland. Weissagende Vögel erschienen, schneeweiß von Farbe, nicht größer wie Schwalben, und wurden von mehreren Leuten gesehen und gehört. So vernahm eines Leinewebers Frau auf dem Wege von Kolbetz nach Selov eine warnende Vogelstimme. Und das Weh über Pommerland hat nicht auf sich warten lassen, der bereits damals entbrannte Dreißigjährige Krieg brachte des Wehs genug und mehr als zuviel. Mit hunderttausend Mann zog Wallenstein nach Stralsund und schwur, er wolle und müsse diese Stadt und Festung gewinnen, und wenn sie mit Ketten an den Himmel geschlossen wäre. Und obschon er sie damals nicht gewann, so ward doch das Land ringsumher verderbt in Grund und Boden, und späterhin, im Jahre 1678, wurde Stralsund in einem andern Kriege innerhalb achtzehn Stunden durch Bomben entzündet, eingeäschert und erobert.

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225. Julin

225. Julin

Da, wo heute Wollin, die Stadt am breiten Dievenowstrome, liegt, der das Große Haff mit der Ostsee verbindet, hat vorzeiten auch gar eine große, geld- und volkreiche Stadt gelegen, die hieß Julin. Sie hob sich absonderlich zur Blüte nach dem Untergange der Stadt Vineta, und aller Handel zog sich nach ihr. Julin führte Kriege auf eigne Hand mit dem Dänenkönige Suen Otto, der mächtig war, und dreimal machten die Krieger Julins diesen König zum Gefangenen. Das erstemal mußte er so viel Silber zu seiner Lösung geben, als er schwer war, das Geld gab die königliche Kammer her. Das zweitemal mußte der König so viel Silbers zur Lösung geben, als er in seiner schweren Rüstung wog. Da hatte die Kammer kein Geld mehr, und es mußten königliche Krongüter verkauft und verpfändet werden. Da sich aber der König Suen Otto zum drittenmal unterfing, gegen Julin zu streiten, und zum drittenmal Gefangener wurde, da verlangten die zu Julin eine schwerere Lösung, nämlich des Königs Schwere in Gold. Da war nun guter Rat teuer, denn die Kammer hatte kein Geld, und die Krongüter lagen in Pfandschaft. Da haben alle begüterten Frauen Dänemarks ihren reichen Goldschmuck zusammengetan, und er hat hingereicht, den König zu lösen, dafür zum Danke gab König Suen Otto ein Gesetz, daß jede Frau Erbrecht haben solle auf ein Dritteil des Nachlasses ihres Gatten ohne Gefährde, da früher ihnen nur gar ein geringer Teil vergönnt war.

Als die Stadt Julin vom heidnischen Glauben zum christlichen Glauben übertrat, meldeten sich bei dem Bischof Otto auf einmal zweiundzwanzigtausend Einwohner zur Taufe an. Hernachmals aber ist das Volk von Julin wieder gottlos geworden, hat Christum verleugnet und ist in die heidnischen Greuel zurückgefallen, hat einen alten Götzen wieder hervorgesucht und ihm Feste gefeiert. Da hat Gott der Herr sich erzürnt und Feuer niederregnen lassen, wie auf Sodom und Gomorrha, und Julin von Grund aus verbrannt und nicht gelitten, daß sich durch neuen Bau die Stadt wieder erhole und aufrichte. Endlich kam auch noch im Jahre 1170 der Dänenkönig Waldemar durch die Dievenow mit einer großen Flotte, plünderte den Rest der Stadt und verbrannte, was von ihr wieder neu gebaut war, abermals. Da ward Julin verlassen, und seine Stätte blieb auf immer öde, und die wenigen Flüchtigen, die dem Verderben entrannen, erbauten die Stadt Wollin in der Nähe des alten Julin, die es nie zu hohem Flor hat bringen können. – Noch eine blühende Stadt, welche Julins Schicksal ein Jahrhundert früher teilte, war Jomsburg. Es war rund um einen schönen Binnensee gebaut, ganz nahe dem Jaminschen See, jener ist jetzt ein Sumpf und heißt die Müsse.

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216. Der englische Schweiß

216. Der englische Schweiß

Im Jahre 1529 kam aus England eine gefahrliche Krankheit, die wurde die Schweißsucht oder der englische Schweiß genannt. In Hamburg gewann sie auf dem Festland den ersten Boden und raffte binnen zweiundzwanzig Tagen tausend Menschen dahin. Von da ging sie weiter nach Lübeck, Wismar, Rostock, Greifswalde, Stettin, Danzig und breitete sich weit umher im Lande aus. Sie flog gleichsam durch die Städte und Länder im Hui. Man schrieb ihre Ursache der eigentümlichen Witterung des Jahres zu: gelinder Winter, trockner Mai, naßkalter Sommer und darauf solche Hitze, daß es unmöglich war, nicht zu schwitzen, und wenn einer nackend gegangen wäre, und mit dieser lähmenden Hitze kam die Sucht.

Zu Lübeck war ein Doktor, der hieß Varus und hatte seines Glaubens halber aus England flüchten müssen, der heilte manchen von der schwitzenden Krankheit. Da Doktor Varus nun ein frommer und glaubenseifriger Mann war und wahrnahm, daß die Geistlichen und ihr Anhang das Evangelium nach der neuen Lehre nicht wollten gelten und sich ausbreiten lassen, so begab er sich zu einem hohen Ratsverwandten mit einem Buche in der Hand und fragte ihn, ob er nicht Gottes Lohn verdienen wolle und wolle helfen, daß eines frommen Mannes Testament möchte bestätigt werden und Rechtskraft erlangen. – Darauf sagte der Ratsherr: Wenn das Testament recht gemacht ist, so wird es ein ehrbarer Rat wohl konfirmieren. – Da hub der Doktor wieder an und sprach: Der es aufgerichtet hat, ist ein guter, frommer Mann und heißt Jesus Christus. Er hat sein Testament mit seinem Tode und seiner Auferstehung bestätigt, will nun ein ehrbarer Rat zu Lübeck dasselbige auch konfirmieren, so wird er Gott einen großen Dienst erweisen. – Der Ratsherr wendete sich um und ließ den Doktor stehen, aber am andern Tage wurde ihm die Stadt verboten.

Die Schweißsucht regierte so heftig, daß mehr als ein Haus ganz verlassen und verschlossen werden mußte. Auf der Universität Rostock wurde im Jahre 1529 kein einziger Student immatrikuliert. Binnen vierundzwanzig Stunden wendete sich die Krankheit zum Leben oder zum Tode. Die hülfreichen Mittel gegen diese Krankheit, welche weder Kinder noch Alte, sondern nur die Kräftigen und Kräftigsten ergriff, waren: nicht überwarmes Lager, aber Bewahrung vor jeder Zugluft, einfachste Kost, Leibesöffnung durch Rhabarbar, reine Luft, sorgsame Wartung; die Kranken sollten sich nicht durch Umwälzen erkühlen, keine Luft unter die Arme kommen lassen. Je stiller der Kranke lag, um so besser, und beim Umkehren, wenn es durchaus nötig, solle er vor aller Luft behütet werden. Auch solle man ihm guten Trost einreden, daß seine Schwitzqual nur eine kurze Zeit daure und er dann genese, solle ihn mit duftendem Rosenwasser bestreichen am Haupt, hinter den Ohren und über dem Nacken und an den Schläfen und ihn starken Weinessig durch die Nase einatmen lassen. Der Essig übertreffe, sagten die Schweißärzte, um vieles Kamphor und Opium. Zum Labetrunk keinen Malvasier, Würzwein, pommerschen Schlurf oder Ratzeburger Rommeldaus, das starke Bier, sondern dünnen Kovent, durch ein Röhrlein gesogen. Gut zum Tranke war auch Ochsenzungen- und Borretschwasser mit Kandiszucker, wenig auf einmal, kaum einen Löffel voll durch ein Rohr. In Anfang der Krankheit mußten die Kranken vor dem Schlafe bewahrt werden, denn Schlaf war der halbe Tod. Nasenbluten, das sich nicht selten einstellte, sollte man nicht zu stillen suchen. Nach dem Verlauf der vierundzwanzig oder achtundzwanzig Stunden vorsichtiger Wechsel der Wäsche, gewärmt, und später zum Getränk Einbeckisch und Güstrower Bier und zuletzt wieder, was jedem schmeckte und was er haben konnte.

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209. Der Wald kommt

209. Der Wald kommt

Vor alten Zeiten lag die Stadt Lübeck mit den Bewohnern der Insel Rügen im Krieg, die noch heidnisch waren und einen Tribut heischten für ihren Abgott. Sotanen Tribut haben aber die von Lübeck nicht zahlen wollen, und da sind ihnen die Rügier vor die Stadt gerückt und haben sie einzubekommen gesucht. Damit aber ihre Zahl nicht gleich erblickt werde, haben sie im Lauerholz Büsche und kleine Bäume gefällt, und diese haben die Kriegsleute vor sich her gehalten und sind so gegen die Stadt herangezogen, so daß die Turmwächter schrien: Der Wald kommt, der Wald kommt! Das Lauerholz rückt gegen die Stadt heran! Am Hochgericht machten die Rügier halt und warfen einen tiefen Graben auf und verschanzten sich und fügten den Bürgern viel Schlimmes zu. Darauf wurde ein starker Ausfall beschlossen, und es fand ein ernstes Schlagen statt, aber da die Nachricht in die Stadt kam, es stehe um die Bürger nicht zum besten und sie würden wohl zurückgedrängt werden, da erhoben sich die Frauen, bewaffneten sich mit dem, was sie fanden, drangen in die St. Jakobskirche, nahmen dort eine Fahne und stürmten zur Stadt hinaus, und als die Bürger dieses neue Heer anrücken sahen, wuchs ihnen der Mut, den Rügiern aber entfiel er, und sie wurden also geschlagen, daß sie das Feld räumten und das Lager, und daß unermeßliche Beute und selbst ihr Abgott in die Hände der Lübecker fiel. Darauf sind sie nimmer wiedergekommen. Die Sage vom kommenden Wald begegnet da und dort in stets verschiedener Färbung.

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210. Der Herthasee

210. Der Herthasee

Im Eiland Rügen war das Heiligtum der Mutter Erde, als Göttin gedacht von den alten Urvölkern des germanischen Norden und Hertha geheißen. Ein geheiligter Buchenwald, die Stubbenitz genannt, umgab einen tiefen See; im Walde stand der mit einem Gewand bedeckte Wagen der Göttin, darin sie alljährlich einmal das Land durchfuhr im Geleite eines einzigen Priesters, dem ihr Wille offenbart ward. Zwei heilige Kühe zogen den Wagen der Göttin, und wohin derselbe kam, da war Freude die Fülle und eitel Friedensfest; niemand durfte da streiten, keine Waffe durfte ergriffen werden. Das währte so lange, als die Göttin an einem Orte verweilte, und wenn sie nicht mehr weilen wollte, da führte der Priester sie zurück in ihr Heiligtum. Dann wurde in dem düstern See ihr Wagen, Gewande und ihr Bildnis gereinigt, und die Sklaven, welche dabei dienten, wurden in dem See geopfert, damit ihrer keiner je erzähle, was er geschaut. Die Sage geht, daß die Insel Rügen weder Wölfe noch Katzen dulde.

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