Hans Christian Andersen – Der Marionettenspieler

Hans Christian Andersen

Der Marionettenspieler

An Bord des Dampfschiffes befand sich ein ältlicher Mann mit einem so vergnügten Gesicht, daß, wenn es ihn nicht Lügen strafte, er der glücklichste Mensch von der Welt sein mußte. Das sei er auch, sagte er, und ich selber hörte es aus seinem eigenen Munde. Er war ein Däne, ein reisender Theaterdirektor. Er hatte das ganze Personal mit, es lag in einem großen Kasten; er war Marionettenspieler. Sein angeborener guter Humor, sagte er, sei von einem polytechnischen Kandidaten geläutert, und bei diesem Experimente sei er vollständig glücklich geworden. Ich begriff dies alles nicht sogleich, aber dann setzt er mir die ganze Geschichte klar auseinander, und hier ist sie:
»Es war im Städtchen Slagelse«, sagte er; »ich gab eine Vorstellung im Saale der Posthalterei, hatte brillantes Publikum, ganz und gar unkonfirmiertes, mit Ausnahme von einem Paare alter Matronen; auf einmal kommt so eine schwarz gekleidete Person vom Studentenschlage in den Saal, setzt sich, lacht laut an den passendsten Stellen, klatscht ganz und gar richtig: das war ein ungewöhnlicher Zuschauer! Ich mußte wissen, wer der sei, und ich erfuhr dann, es sei ein Kandidat des polytechnischen Institutes zu Kopenhagen, der ausgesandt sei, um die Leute in den Provinzen zu belehren. Punkt acht Uhr war meine Vorstellung aus, Kinder müssen ja früh zu Bette, und man muß an die Bequemlichkeit des Publikums denken. Um neun Uhr begann der Kandidat seine Vorlesungen und Experimente, und nun war ich sein Zuhörer. Das war merkwürdig zu hören und zu sehen. Das meiste ging mir über meinen Horizont, aber so viel dachte ich mir doch dabei, können wir Menschen so was ausfindig machen, so müssen wir auch länger aushalten können, als bis man uns in die Erde verscharrt. Es waren lauter kleine Mirakel, die er machte, und doch alles wie Wasser, ganz natürlich! Um die Zeit Moses und der Propheten wäre ein solcher polytechnischer Kandidat einer der Weisen des Landes geworden; im Mittelalter hätte man ihn auf den Scheiterhaufen gebracht. Ich schlief die ganze Nacht nicht; und als ich am anderen Abend Vorstellung gab und der Kandidat sich wiederum einfand, sprudelte mein Humor. Ich habe von einem Schauspieler gehört, daß er in Liebhaberrollen immer nur an eine einzige der Zusehauerinnen dachte; für sie spielte er und vergaß das ganze übrige Haus; der polytechnische Kandidat war meine – »sie«, mein einziger Zuschauer, für den ich allein spielte. Als die Vorstellung zu Ende war, wurden sämtliche Marionetten hervorgerufen und ich von dem polytechnischen Kandidaten auf sein Zimmer auf ein Glas Wein eingeladen; er sprach von meinen Komödien und ich von seiner Wissenschaft, und ich glaube, wir fanden gleich große Freude daran. Aber ich bereue das Wort, denn in seinem Kram war nun einmal vieles, worüber er nicht allemal Wort und Rede stehen konnte: z. B., das Ding, daß ein Stück Eisen, das durch eine Spirale fällt, magnetisch wird, ja! was ist das?! – Der Geist kommt über dasselbe, aber woher kommt er; es ist damit wie mit den Menschen dieser Welt, denke ich: Unser lieber Herrgott läßt sich durch die Spirale der Zeit purzeln, und der Geist kommt über sie, und so steht da ein Napoleon, ein Luther oder irgendeine ähnliche Person. »Die ganze Welt ist eine Reihe von Wunderwerken«, sagte der Kandidat, »aber wir sind so an dieselben gewöhnt, daß wir sie Alltagsgeschichten nennen« – Er sprach und erklärte: es war mir zuletzt, als hebe man mir den Hirnschädel in die Höhe, und ich gestand ehrlich, daß wenn ich nicht schon so ein alter Knabe wäre, so würde ich sofort die polytechnische Anstalt beziehen und lernen, die Welt so recht in den Nähten nachzusehen – ungeachtet ich einer der glücklichsten Menschen bin! »Einer der glücklichsten« – sagte er, und es war mir, als kostete er davon. »Sind Sie glücklich?« – »Ja!« sagte ich, »glücklich bin ich, und willkommen heißt man mich in allen Städten, wo ich mit meiner Gesellschaft eintreffe! Zwar – ich habe allerdings einen Wunsch, derselbe liegt nicht selten wie Blei, wie ein Alb, auf meinem guten Humor: ich möchte Theaterdirektor einer lebendigen Truppe, einer richtigen Menschengesellschaft sein.« »Sie wünschen ihren Marionetten Leben eingehaucht, daß sie wirkliche Schauspieler – und Sie selber Direktor würden!« sagte er. »Dann würden Sie vollkommen glücklich sein? Glauben?« -Er glaubte es nicht, und wir sprachen hin und her, in die Kreuz und Quer und blieben doch gleich weit auseinander; doch mit den Gläsern stießen wir an, und der Wein war exzellent, aber Zauberei war dabei, sonst würde ich bestimmt einen Rausch bekommen haben. Aber das war nicht der Fall, ich blieb klarsehend, in der Stube war Sonnenschein, und Sonnenschein strahlte aus den Augen des polytechnischen Kandidaten; ich mußte an die alten Götter in ihrer ewigen Jugend denken, als sie noch auf der Erde umherspazierten und uns Menschen Besuche machten; und das sagte ich ihm auch, dann lächelte er, und ich hätte darauf schwören dürfen, er sei ein verkappter Gott, oder doch wenigsten aus der Familie! – das war er auch: mein höchster Wunsch sollte in Erfüllung gehen, die Marionetten lebendig und ich Direktor einer Menschentruppe werden. Wir stießen darauf an und leerten die Gläser! Er packte alle meine Puppen in den Kasten, band sie auf meinen Rücken, und dann ließ er mich durch eine Spirale fallen: – ich höre noch, wie ich purzelte, ich lag auf dem Fußboden, das weiß ich gewiß, und die ganze Gesellschaft sprang aus dem Kasten heraus – der Geist war über uns alle insgesamt gekommen, alle Marionetten waren ausgezeichnete Künstler geworden, das sagten sie selber, und ich war Direktor! Alles war zur ersten Vorstellung bereit, die ganze Gesellschaft wollte mit mir reden, und das Publikum auch; die Tänzerin sagte, das Haus müsse fallen, wenn ich nicht auf einem Beine stände, sie sei die Meisterin des Ganzen und bäte sich aus, danach behandelt zu werden; diejenige, welche die Königin spielte, wollte auch außerhalb der Szene alsKönigin behandelt sein – sie käme sonst aus der Übung; der, welcher nur dazu gebraucht wurde, einen Brief abzugeben, machte sich ebenso wichtig wie der erste Liebhaber, denn die Kleinen seien wie die Großen, sie seien von gleicher Wichtigkeit in einem künstlerischen Ganzen, sagte er; der Held wollte nur Rollen aus lauter Abgangs-Repliken bestehend, denn dabei werde geklatscht: die Primadonna wollte nur in rotem Lichte spielen, denn das stünde ihr, blaues leide sie nicht: es war wie Fliegen in einer Flasche, und ich war mitten in der Flasche, ich war Direktor! Der Atem verließ mich, der Kopf verließ mich: ich war so elend, wie ein Mensch es werden kann; es war ein neues Menschengeschlecht, unter welches ich geraten, ich wünschte nur, ich hätte sie alle wieder in dem Kasten, daß ich niemals Direktor geworden; ich sagte ihnen rund heraus, sie seien doch im Grunde Marionetten; dann schlugen sie mich tot. Ich lag auf dem Bette in meinem Zimmer, wie ich dorthin und überhaupt vom polytechnischen Kandidaten weggekommen bin, das muß er wissen, ich weiß es nicht. Der Mond schien auf den Fußboden herein, wo der Puppenkasten umgeworfen und alle Puppen bunt durcheinander lagen groß und klein, die ganze Geschichte; aber ich war nicht faul: aus dem Bette fuhr ich heraus, in den Kasten kamen sie alle insgesamt, einige auf den Kopf, andere auf die Beine, ich warf den Deckel zu und setzte mich selber oben auf den Kasten. »Jetzt werdet ihr schon drinnen bleiben!« sagte ich, »und ich werde mich hüten, euch wieder Blut und Fleisch zu wünschen.« Mir war ganz leicht geworden, meinen Humor hatte ich wieder, ich war der glücklichste Mensch , der polytechnische Kandidat hatte mich förmlich geläutert. Ich saß in lauter Glückseligkeit und schlief auf dem Kasten ein. Am nächsten Morgen – eigentlich war es Mittag, aber ich schlief diesen Morgen wunderbar lange – saß ich noch immer da, glücklich und belehrt, daß mein früherer einziger Wunsch dumm gewesen. Ich fragte nach dem polytechnischen Kandidaten, aber er war fort, wie die griechischen und römischen Götter. Von der Zeit an bin ich der glücklichste Mensch gewesen. Ich bin ein glücklicher Direktor, mein Personal räsoniert nicht, mein Publikum auch nicht, es ist herzensvergnügt. Meine Stücke kann ich zusammenflicken, wie ich will; ich nehme aus allen Komödien das Beste heraus, das mir ansteht, und niemand ärgert sich darüber. Stücke, die
jetzt bei den großen Bühnen verachtet sind, nach welchen aber das Publikum vor dreißig Jahren wie besessen lief, und wobei es heulte, daß ihm die Tränen übers Gesicht rollten, deren nehme ich mich jetzt an; jetzt setze ich sie den Kleinen vor, und die Kleinen, die weinen wie Papa und Mama geweint haben; ich verkürze sie aber, denn die Kleinen lieben das lange Liebesgeschwätz nicht, sie wollen: »Unglücklich, aber rasch«.

Hans Christian Andersen – Der Mistkäfer

Hans Christian Andersen

Der Mistkäfer

Das Leibroß des Kaisers bekam goldene Hufbeschläge, ein goldenes Hufeisen an jedes Bein.
Aber weshalb das?
Es war ein wunderschönes Tier, hatte feine Beine, kluge und helle Augen und eine Mähne, die ihm wie ein Schleier über den Hals herabhing. Es hatte seinen Herrn durch Pulverdampf und Kugelregen getragen, hatte die Kugeln singen und pfeifen hören, hatte gebissen, ausgeschlagen und mitgekämpft, als die Feinde eindrangen, war mit seinem Kaiser in einem Sprung über das gestürzte Pferd des Feindes gesetzt, hatte die Krone aus roten Gold, das Leben seines Kaisers gerettet, und das war mehr wert als das rote Gold, deshalb bekam des Kaisers Roß goldene Hufeisen.
Und ein Mistkäfer kam hervorgekrochen. »Erst die Großen, dann die Kleinen«, sagte er, »aber die Größe allein macht es nicht.« Und dabei streckte er seine dünnen Beine aus.
»Was willst du denn?« fragte der Schmied.
»Goldene Beschläge, jawohl!« sagte der Mistkäfer. »Bin ich denn nicht ebenso gut wie das große Tier da, das gewartet und gebürstet wird und dem man Essen und Trinken vorsetzt! Gehöre ich nicht auch in den kaiserlichen Stall?«
»Weshalb aber bekommt das Roß goldene Beschläge?« sagte der Schmied, »begreifst du das nicht?«
»Begreifen? Ich begreife, daß es eine Geringschätzung meiner Person ist«, sagte der Mistkäfer, »es geschieht, um nicht zu kränken – und ich gehe deshalb auch in die weite Welt!«
»Nur zu!« sagte der Schmied.
»Grober Kerl, du!« sagte der Mistkäfer, und dann ging er aus dem Stall hinaus, flog eine kleine Strecke und befand sich bald darauf in einem schönen Blumengarten, wo es nach Rosen und Lavendel duftete.
»Ist es hier nicht wunderschön?« fragte einer der kleinen Marienkäfer, die mit ihren roten, schildstarken, mit schwarzen Pünktchen besäten Flügeln darin umherflogen. »Wie süß es hier ist, wie ist es hier schön!« »Ich bin es besser gewöhnt«, sagte der Mistkäfer, »ihr nennt das hier schön? Nicht einmal ein Misthaufen ist hier!«
Dann ging er weiter, unter den Schatten einer großen Levkoje; da kroch eine Kohlraupe umher. »Wie ist doch die Welt schön!« sprach die Kohlraupe, »die Sonne ist so warm, alles so vergnüglich! Und wenn ich einmal einschlafe und sterbe, wie sie es nennen, so erwache ich als ein Schmetterling.«
»Was du dir einbildest!« sagte der Mistkäfer, »als Schmetterling umherfliegen! Ich komme aus dem Stall des Kaisers, aber niemand dort, selbst nicht des Kaisers Leibroß, das doch meine abgelegten goldenen Schuhe trägt, bildet sich so etwas ein: Flügel kriegen! Fliegen! Ja, jetzt aber fliegen wir!« Und nun flog der Mistkäfer davon. »Ich will mich nicht ärgern, aber ich ärgere mich doch!« sprach er im Davonfliegen.
Bald darauf aber fiel er auf einem großen Rasenplatz nieder; hier lag er eine Weile und simulierte; endlich schlief er ein.
Ein Platzregen stürzte plötzlich aus den Wolken! Der Mistkäfer erwachte bei dem Lärm und wollte sich in die Erde verkriechen, aber es gelang ihm nicht, er wurde um und um gewälzt; bald schwamm er auf dem Bauch, bald auf dem Rücken, an Fliegen war nicht zu denken; er zweifelte daran, lebendig von diesem Ort fortzukommen. Er lag, wo er lag, und blieb auch liegen.
Als das Unwetter ein wenig nachgelassen hatte und der Mistkäfer das Wasser aus seinen Augen weggeblinzelt hatte, sah er etwas Weißes schimmern, es war Leinen, das auf der Bleiche lag; er gelangte zu ihm hin und kroch zwischen eine Falte des nassen Leinens. Da lag es sich freilich anders als in dem waren Haufen im Stall, aber etwas Besseres war hier nun einmal nicht vorhanden, und deshalb blieb er wo er war, blieb einen ganzen Tag, eine ganze Nacht, und auch der Regen blieb. Gegen Morgen kroch er hervor; er ärgerte sich sehr über das Klima.
Auf dem Leinen saßen zwei Frösche; ihre hellen Augen strahlten vor lauter Vergnügen. »Das ist ein herrliches Wetter!« sagte der eine, »wie erfrischend! Und die Leinwand hält das Wasser so schön beisammen; es krabbelt mich in den Hinterfüßen, als wenn ich schwimmen sollte.«
»Ich möchte wissen«, sagte der andere, »ob die Schwalbe, die so weit umherfliegt, auf ihren vielen Reisen im Ausland ein besseres Klima als das unsrige gefunden hat: eine solche Nässe! Es ist wahrhaftig, als läge man in einem nassen Graben! Wer sich dessen nicht freut, liebt in der Tat sein Vaterland nicht!« »Seid ihr denn nicht im Stall des Kaisers gewesen?« fragte der Mistkäfer. »Dort ist das Nasse warm und würzig, das ist mein Klima, aber das kann man nicht mit auf Reisen nehmen. Gibt’s hier im Garten kein Mistbeet, wo Standespersonen wie ich sich heimisch fühlen und logieren können?«
Die Frösche aber verstanden ihn nicht, oder wollten ihn nicht verstehen.
»Ich frage nie zweimal!« sagte der Mistkäfer, nachdem er bereits dreimal gefragt und keine Antwort erhalten hatte.
Darauf ging er eine Strecke weiter und stieß hier auf einen Tonscherben, der freilich nicht da hätte liegen sollen, aber so wie er lag, gewährte er Schutz gegen Wind und Wetter. Hier wohnten mehrere Ohrwurmfamilien; diese beanspruchen nicht viel – bloß Geselligkeit. Die weiblichen Individuen sind voll der zärtlichsten Mutterliebe, und deshalb hielt auch jede Mutter ihr Kind für das schönste und klügste.
»Unser Söhnchen hat sich verlobt!« sagte eine Mutter, »die süße Unschuld! Sein ganzes Streben geht dahin, dermaleinst in das Ohr eines Geistlichen zu kommen. Er ist recht kindlich liebenswürdig; die Verlobung bewahrt ihn vor Ausschweifungen! Welche Freude für eine Mutter!«
»Unser Sohn«, sprach eine andere Mutter, »kaum aus dem Ei gekrochen, war auch gleich auf der Fahrt; er ist ganz Leben und Feuer! Er läuft sich die Hörner ab! Welch eine Freude für eine Mutter! Nicht war, Herr Mistkäfer?« -Sie erkannten den Fremden an seiner Form.
» Sie haben beide recht!« sagte der Mistkäfer, und nun bat man ihn, in das Zimmer einzutreten, soweit er nämlich unter den Tonscherben kommen konnte.
»Jetzt sehen Sie auch mein kleines Ohrwürmchen«, rief eine dritte und vierte Mutter. »Es sind gar liebliche Kinder, und sie machen sehr viel Spaß. Sie sind nie unartig, außer sie haben Bauchgrimmen; leider kriegt man das aber gar zu leicht in ihrem Alter.«
Und in der Weise sprach jede Mutter von ihrem Püppchen, und die Püppchen sprachen mit und gebrauchten ihre kleinen Scheren, die sie am Schwanze hatten, um den Mistkäfer an seinem Bart zu zupfen.
»Ja, die machen sich immer was zu schaffen, die kleinen Schelme!« sagten die Mütter und dampften ordentlich vor Mutterliebe; allein das langweilte den Mistkäfer, und er fragte deshalb, ob es noch weit bis zu dem Mistbeet sei.
»Das ist ja draußen in der weiten Welt, jenseits des Grabens!« antwortete ein Ohrwurm, »So weit wird hoffentlich keines meiner Kinder gehen, das wäre mein Tod!« »So weit will ich doch zu kommen versuchen«, sagte der Mistkäfer und entfernte sich, ohne Abschied zu nehmen; denn so ist es ja am feinsten. Am Graben traf er noch mehr von seinesgleichen, alles Mistkäfer.
»Hier wohnen wir!« sagten sie. »Wir haben es ganz gemütlich! Dürfen wir Sie wohl bitten, in den fetten Schlamm hinabzusteigen? Die Reise ist für Sie gewiß ermüdend gewesen!«
»Allerdings!« sprach der Mistkäfer. »Ich war dem Regen ausgesetzt und habe auf Leinen liegen müssen, und Reinlichkeit nimmt mich vor allem mit. Auch habe ich Reißen in dem einen Flügel, weil ich unter einem Tonscherben im Zug gestanden habe. Es ist in der Tat ein wahres Labsal, wieder einmal unter seinesgleichen zu sein.«
»Kommen Sie vielleicht aus dem Mistbeet?« fragte der älteste.
»Oho! Von höheren Orten!« rief der Mistkäfer. »Ich komme aus dem Stall des Kaisers, wo ich mit goldenen Schuhen an den Füßen geboren wurde; ich reise in einem geheimen Auftrag. Sie dürfen mich darüber aber nicht ausfragen, denn ich verrate es nicht.«
Darauf stieg der Mistkäfer in den fetten Schlamm hinab. Dort saßen drei junge Mistkäferfräuleins; sie kicherten weil sie nicht wußten, was sie sagen sollten.
»Sie sind alle drei noch nicht verlobt«, sagte die Mutter; und die jungen Mistkäferfräuleins kicherten aufs neue, diesmal aus Verlegenheit.
»Ich habe in den kaiserlichen Ställen keine schöneren gesehen«, sagte der Mistkäfer, der sich ausruhte.
»Verderben Sie mir meine Mädchen nicht; sprechen Sie nicht mit Ihnen, es sei denn, Sie haben reelle Absichten! Doch die haben Sie sicher, und ich gebe meinen Segen dazu!«
»Hurra!« riefen all die andern Mistkäfer, und unser Mistkäfer war nun verlobt. Der Verlobung folgte sogleich die Hochzeit auf dem Fuße, denn es war kein Grund zum Aufschub vorhanden.
Der folgende Tag verging sehr angenehm, der nächstfolgende noch einigermaßen, aber am dritten Tag mußte man schon auf Nahrungssuche für die Frau gehen, vielleicht sogar an Kinder denken.
»Ich habe mich übertölpeln lassen!« dachte der Mistkäfer, »es bleibt mir daher nichts anderes übrig, als sie wieder zu übertölpeln!«
Gedacht, getan! Weg war er, den ganzen Tag blieb er aus, die ganze Nacht blieb er aus – und die Frau saß da als Witwe. »Oh«, sagten die andern Mistkäfer, »der, den wir in die Familie aufgenommen haben, ist nichts weiter als ein echter Landstreicher; er ist auf und davon gegangen und läßt die Frau uns nun zur Last fallen!«
»Ei, dann mag sie wieder als Jungfrau gelten«, sprach die Mutter, »und als mein Kind hierbleiben. Pfui über den Bösewicht, der sie verließ».
Der Mistkäfer war unterdes immer weiter gereist, auf einem Kohlblatt über den Wassergraben gesegelt. In der Morgenstunde kamen zwei Menschen an den Graben; als sie ihn erblickten, hoben sie ihn auf, drehten ihn um und um, taten beide sehr gelehrt, namentlich der eine von ihnen – ein Knabe. »Allah sieht den schwarzen Mistkäfer in dem schwarzen Gestein in dem schwarzen Felsen! Nicht wahr, so steht es im Koran geschrieben?« Dann übersetzte er den Namen des Mistkäfers ins Lateinische und verbreitete sich über dessen Geschlecht und Natur. Der zweite Mensch, ein älterer Gelehrter, stimmte dagegen, ihn mit nach Hause zu nehmen; sie hätten, sagte er, dort ebenso gute Exemplare, und das, so schien es unserem Mistkäfer, war nicht höflich gesprochen, deshalb flog er ihm auch plötzlich aus der Hand. Da er jetzt trockenen Flügel hatte, flog er eine ziemlich große Strecke und erreichte das Treibhaus, wo er mit aller Bequemlichkeit, da hier ein Fenster angelehnt war, hineinschlüpfte und sich in dem frischen Mist vergrub.
»Hier ist es wonnig!« sagte er.
Bald darauf schlief er ein, und es träumte ihm, daß des Kaisers Leibroß gestürzt sei und ihm seine goldenen Hufeisen gegeben habe und obendrein das Versprechen, ihn noch zwei anlegen zu lassen.
Das war sehr angenehm. Als der Mistkäfer erwachte, kroch er hervor und schaute sich um. Welche Pracht war in dem Treibhaus! Im Hintergrund große Palmen, hoch emporragend; die Sonne ließ sie transparent erscheinen, und unter ihnen, welche Fülle von Grün und strahlenden Blumen, rot wie Feuer, gelb wie Bernstein, weiß wie frischer Schnee!
»Das ist eine unvergleichliche Pflanzenpracht, die wird schmecken, wenn sie fault!« sagte der Mistkäfer. »Das ist eine gute Speisekammer! Hier wohnen gewiß Anverwandte; ich will doch nachspüren, ob ich jemanden finde, mit dem ich Umgang pflegen kann. Stolz bin ich, das ist mein Stolz!« Und nun lungerte er in dem Treibhaus herum und gedachte seines schönen Traumes von dem toten Pferd und den ererbten goldenen Hufeisen.
Da ergriff plötzlich eine Hand den Mistkäfer, drückte ihn und drehte ihn um und um.
Der kleine Sohn des Gärtners und ein Kamerad waren an das Mistbeet herangetreten, hatten den Mistkäfer gesehen und wollten nun ihren Spaß mit ihm treiben. Zuerst wurde er in ein Weinblatt gewickelt und alsdann in eine warme Hosentasche gesteckt; er kribbelte und krabbelte dort nach Kräften; dafür bekam er aber einen Druck von der Hand des Knaben und wurde so zur Ruhe gewiesen. Der Knabe ging darauf raschen Schrittes zu dem großen See hin, der am Ende des Gartens lag. Hier wurde der Mistkäfer in einen alten, halbzerbrochenen Holzschuh ausgesetzt, auf denselben ein Stäbchen als Mast gesteckt und an diesen der Mistkäfer mit einem wollenen Faden festgefunden. Jetzt war er Schiffer und mußte segeln.
Der See war sehr groß, dem Mistkäfer schien er wie ein Weltmeer, und er erstaunte dermaßen, daß er auf den Rücken fiel und mit den Füßen zappelte. Das Schifflein segelte, und die Strömung des Wassers ergriff es; fuhr es aber zu weit vom Land weg, krempelte sofort einer der Knaben seine Beinkleider auf, trat ins Wasser und holte es wieder ans Land zurück. Endlich aber, gerade als es wieder in bester Fahrt seeinwärts ging, wurden die Knaben gerufen, ganz ernstlich gerufen; sie beeilten sich zu kommen, liefen vom Wasser fort und ließen Schifflein Schifflein sein. Dieses trieb nun immer mehr und mehr vom Ufer ab, immer mehr in den offenen See hinaus; es war entsetzlich für den Mistkäfer, da er nicht fliegen konnte, weil er an den Mast gebunden war.
Da bekam er Besuch von einer Fliege. »Was für schönes Wetter!« sagte die Fliege. »Hier will ich ausruhen und mich sonnen; Sie haben es hübsch hier.«
»Sie reden, wie Sie’s verstehen! sehen Sie denn nicht, daß ich fest angebunden bin?«
»Ich bin nicht angebunden«, sagte die Fliege und flog davon.
»Na, jetzt kenne ich die Welt!« sprach der Mistkäfer. »Es ist eine niederträchtige Welt! Ich bin der einzig Honette auf der Welt! Erst verweigert man mir goldene Schuhe, dann muß ich auf nassem Leinen liegen, in Zugluft stehen, und zu guterletzt hängen sie mir noch eine Frau auf. Tue ich dann einen raschen Schritt in die Welt hinaus um zu erfahren, wie man es dort bekommen kann und wie ich es haben sollte, so kommt so ein Menschenjunge, bindet mich fest und überläßt mich den wilden Wogen, während das Leibpferd des Kaisers in goldenen Schuhen einherstolziert! Das ärgert mich am meisten. Aber auf Anteilnahme darf man in dieser Welt nicht rechnen! Mein Lebenslauf ist sehr interessant; doch was nützt es, wenn ihn niemand kennt! Die Welt verdient es gar nicht, ihn kennenzulernen, sie hätte mir sonst auch goldene Schuhe im Stall des Kaisers gegeben, damals, als das Leibroß des Kaisers beschlagen wurde und ich meine Beine deshalb ausstreckte. Hätte ich goldenen Schuhe bekommen, so wäre ich eine Zierde des Stalles geworden; jetzt hat mich der Stall verloren, die Welt verloren, alles ist aus!«
»Sieh, da segelt ein alter Holzschuh«, sagte eines der Mädchen.
»Ein kleines Tier ist darin angebunden!« rief ein anderes.
Das Boot kam ganz in die Nähe des Schiffleins mit unserem Mistkäfer; die jungen Mädchen fischten es aus dem Wasser; eine von ihnen zog eine kleine Schere aus ihrer Tasche, durchschnitt den wollenen Faden, ohne dem Mistkäfer ein Leid zuzufügen, und als sie an Land stieg, setzte sie ihn in das Gras. »Krieche, krieche, fliege, fliege wenn du kannst«, sprach sie, »Freiheit ist ein herrlich Ding.«
Und der Mistkäfer flog auf und gerade durch das offene Fenster eines großen Gebäudes; dort sank er matt und müde herab auf die feine, weiche, lange Mähne des kaiserlichen Leibrosses, das im Stall stand, in dem es und auch der Mistkäfer zu Hause waren. Der Mistkäfer klammerte sich in der Mähne fest, saß eine kurze Zeit ganz still und erholte sich.
»Hier sitze ich auf dem Leibroß des Kaisers, sitze als Kaiser auf ihm! Doch was wollte ich noch sagen? Ja, jetzt fällt mir’s wieder ein! Das ist ein guter Gedanke, und der hat seine Richtigkeit. Weshalb bekommt das Pferd die goldenen Hufbeschläge? so fragte mich doch der Schmied. Jetzt erst wird mir diese Frage klar. Meinetwegen bekam das Roß die goldenen Hufbeschläge!«
Und jetzt wurde der Mistkäfer guter Laune. »Man kriegt einen klaren Kopf auf Reisen!« sagte er.
Die Sonne warf ihre Strahlen in den Stall auf ihn herab und machte es dort hell und freundlich.
»Die Welt ist genau besehen doch nicht so arg«, sagte der Mistkäfer, »man muß sie nur zu nehmen wissen!«
Ja, die Welt war schön, weil des Kaisers Leibroß nur deshalb goldene Hufbeschläge bekommen hatte, damit der Mistkäfer sein Reiter sein konnte.
»Jetzt will ich zu den andern Käfern hinabsteigen und ihnen erzählen, wie viel man für mich getan hat, ich will ihnen die Unannehmlichkeiten erzählen, die ich auf meiner Reise im Ausland genossen habe, und ihnen sagen, daß ich jetzt so lange zu Hause bleiben werde, bis das Roß seine goldenen Hufbeschläge abgetreten hat.«

Hans Christian Andersen – Der Rosenelf

Hans Christian Andersen

Der Rosenelf

Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen; und in einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf. Der war so winzig klein, daß kein menschliches Auge ihn erblicken konnte. Hinter jedem Blatt in der Rose hatte er eine Schlafkammer. Er war so wohlgebildet und schön, wie nur ein Kind sein kann, und hatte Flügel von den Schultern hinunter bis zu den Füßen. Oh, welcher Duft war in seinen Zimmern und wie schön und klar waren die Wände; es waren ja die blaßroten Rosenblätter.
Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog von Blume zu Blume, tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings und maß, wie viele Schritte er zu gehen habe, um über alle Landstraßen und Stege zu gelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatt sind. Was wir die Adern im Blatt nennen, hielt er für Landstraßen und Stege. Ja, das waren meilenlange Wege für ihn! Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter. Er hatte auch so spät damit angefangen!
Es wurde sehr kalt, der Tau fiel, und der Wind wehte. Nun war es das beste, nach Hause zu kommen. Er tummelte sich, was er konnte, aber die Rose hatte sich geschlossen, er konnte nicht hineingelangen. Keine einzige Rose stand geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie des Nachts ausgeblieben, hatte immer so süß hinter den warmen Rosenblättern geschlummert. Oh, das wird sicher sein Tod sein!
Am andern Ende des Gartens, das wußte er, befand sich eine Laube mit schönem Jelängerjelieber. Die Blüten sahen wie große bemalte Hörner aus, in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen.
Er flog dahin. Still! Es waren zwei Menschen darin, ein junger hübscher Mann und ein schönes Mädchen. Sie saßen nebeneinander und wünschten, daß sie sich nie zu trennen brauchten. Sie waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter oder seinem Vater sein kann.
»Dennoch müssen wir uns trennen!« sagte der junge Mann. »Dein Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrag so weit fort über Berge und Seen! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das bist du doch!«
Und dann küßten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuß so fest und innig drauf, daß die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen, duftenden Wände. Hier konnte er gut hören, daß Lebewohl gesagt wurde. Lebe wohl! Und er fühlte, daß die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. Oh, wie schlug doch das Herz darin! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.
Aber nicht lange ruhte die Rose ungestört an der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und während er einsam durch den dunklen Wald ging, küßte er die Blume; oh, so oft und so heftig, daß der kleine Elf fast erdrückt wurde. Er konnte durch das Blatt fühlen, wie die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst hatte sich wie bei der stärksten Mittagssonne geöffnet.
Da kam ein anderer Mann, finster und böse; er war des hübschen Mädchens schlechter Bruder. Der zog ein scharfes Messer hervor, und während jener die Rose küßte, stach der schlechte Mann ihn tot, schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde unter dem Lindenbaum.
»Nun ist er vergessen und fort!« dachte der schlechte Bruder, »er kommt nie wieder zurück. Eine lange Reise sollte er machen, über Berge und Seen. Da kam man leicht das Leben verlieren, und das hat er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester nicht nach ihm fragen!«
Dann scharrte er mit dem Fuß verdorrte Blätter über die lockere Erde und ging wieder in der dunklen Nacht nach Hause. Aber er ging nicht allein, wie er glaubte, der kleine Elf begleitete ihn. Der saß in einem zusammengerollten Lindenblatt, welches dem bösen Mann, als er grub, in die Haare gefallen war. Der Hut war nun darauf gesetzt; es war so dunkel darin, und der Elf zitterte vor Schreck und Zorn über die schlechte Tat.
In der Morgenstunde kam der böse Mann nach Hause. Er nahm seinen Hut ab und ging in der Schwester Schlafkammer hinein. Da lag das schöne, blühende Mädchen und träumte von ihm, dem sie so gut war und von dem sie nun glaubte, daß er über Berge und durch Wälder ginge. Und der böse Bruder neigte sich über sie und lachte häßlich, wie nur der Teufel lachen kann. Da fiel das trockene Blatt aus seinem Haar auf die Bettdecke nieder, aber er bemerkte es nicht und ging hinaus, um in der Morgenstunde selbst ein wenig zu schlafen. Aber der Elf schlüpfte aus dem verwelkten Blatt, setzt sich in das Ohr des schlafenden Mädchens und erzählte ihr, wie in einem Traum, den schrecklichen Mord; beschieb ihr den Ort, wo der Bruder ihn erschlagen und seine Leiche verscharrt hatte, erzählte von dem blühenden Lindenbaum dicht dabei und sagte: »Damit du nicht glaubst, daß es nur ein Traum ist, was ich dir erzählt habe, wirst du auf deinem Bett ein welkes Blatt finden!«
Und das fand sie, als sie erwachte. Oh, welche bitteren Tränen weinte sie! Und niemandem durfte sie ihren Schmerz anvertrauen. Das Fenster stand den ganzen Tag offen. Der kleine Elf konnte leicht zu den Rosen und all den übrigen Blumen in den Garten hinausgelangen. Aber er mochte es nicht über sein Herz bringen die Betrübte zu verlassen. Im Fenster stand ein Strauch mit Monatsrosen. In eine der Blumen setzte er sich und betrachtete das arme Mädchen. Ihr Bruder kam oft in die Kammer hinein. Er war so heiter und doch so schlecht, sie aber durfte kein Wort über ihren Herzenskummer sagen.
Sobald es Nacht wurde, schlich sie sich aus dem Hause, ging im Walde zu der Stelle, wo der Lindenbaum stand, nahm die Blätter von der Erde, grub dieselbe auf und fand auch den, der erschlagen worden war. Oh, wie weinte sie und bat den lieben Gott, daß auch sie bald sterben möge!
Gerne hätte sie die Leiche mit sich nach Hause genommen, aber das konnte sie nicht. Da nahm sie das bleiche Haupt mit den geschlossenen Augen, küßte den kalten Mund und schüttelte die Erde aus seinem schönen Haar. »Das will ich behalten!« sagte sie. Und als sie die Erde und die toten Blätter auf den Körper gelegt hatte, nahm sie den Kopf und einen kleinen Zweig von dem Jasminstrauch, der im Walde blühte, wo er begraben war, mit sich nach Hause.
Sobald sie in ihre Stube kam, holte sie sich den größten Blumentopf, der zu finden war. In diesen legte sie des Toten Kopf, schüttete Erde darauf und pflanzte dann den Jasminzweig in den Topf.
»Lebe wohl! Lebe wohl!« flüsterte der kleine Elf. Er konnte es nicht länger ertragen, all diesen Schmerz zu sehen, und flog deshalb hinaus zu seiner Rose im Garten. Aber die war abgeblüht, es hingen nur einige bleiche Blätter an der grünen Hagebutte.
»Ach wie bald ist es doch mit all dem Schönen und Guten vorbei!« seufzte der Elf. Zuletzt fand er wieder eine Rose, die wurde zu seinem Haus; hinter ihren feinen und duftenden Blättern konnte er hausen und wohnen.
Jeden Morgen flog er zum Fenster des armen Mädchens, und da stand sie immer bei dem Blumentopf und weinte. Die bitteren Tränen fielen auf den Jasminzweig, und mit jedem Tag, an welchem sie bleicher wurde, stand der Zweig frischer und grüner da. Ein Schößling trieb nach dem anderen hervor, kleine weiße Knospen blühten auf, und die küßte sie. Aber der böse Bruder schalt sie und fragte, ob sie närrisch geworden sei? Er konnte es nicht leiden und nicht begreifen, daß sie immer über dem Blumentopf weinte. Er wußte ja nicht, welche Augen darin geschlossen und welche roten Lippen zu Ende geworden waren. Und sie lehnte ihr Haupt gegen den Blumentopf, und der kleine Elf von der Rose fand sie dort schlummernd. Da setzte er sich in ihr Ohr, erzählte von dem Abend in der Laube, vom Duft der Rose und der Elfen Liebe. Wie träumte sie so süß, und während sie träumte, entschwand das Leben. Sie war eines stillen Todes gestorben, sie war bei ihn, den sie liebte, im Himmel.
Und die Jasminblume öffnete ihre großen, weißen Glocken; sie dufteten so eigentümlich süß, anders konnten sie nicht über die Toten weinen.
Aber der böse Bruder betrachtete den schön blühenden Strauch, nahm ihn als ein Erbgut zu sich und setze ihn in seine Schlafstube dicht an sein Bett, denn er war herrlich anzuschauen, und der Duft war gar süß und lieblich. Der kleine Rosenelf folgte mit, flog von Blume zu Blume – in jeder wohnte ja eine kleine Seele – und erzählte von dem ermordeten jungen Mann, dessen Haupt nun Erde unter der Erde war, erzählte von dem bösen Bruder und der armen Schwester.
»Wir wissen es!« sagte eine jede Seele in den Blumen, »wir wissen es! Sind wir nicht aus des Erschlagenen Augen und Lippen entsprossen? Wir wissen es! Wir wissen es!« Und dann nickten sie so sonderbar mit dem Kopfe.
Der Rosenelf konnte es gar nicht begreifen, wie sie so ruhig sein könnten. Und er flog hinaus zu den Bienen, die Honig sammelten, und erzählte ihnen die Geschichte von dem bösen Bruder. Und die Bienen sagten es ihrer Königin und diese befahl, daß sie alle am nächsten Morgen den Mörder umbringen sollten.
Aber die Nacht vorher – es war die erste Nacht, welche auf den Tod der Schwester folgte –, als der Bruder in seinem Bette dicht neben dem duftenden Jasminstrauch schlief, öffnete sich jeder Blumenkelch, und unsichtbar, aber mit giftigen Spießen, stiegen die Blumenseelen heraus und setzten sich in sein Ohr und erzählten im böse Träume, flogen alsdann über seine Lippen und stachen seine Zunge mit giftigen Spießen. »Nun haben wir den Toten gerächt!« sagten sie und flogen in des Jasmins weiße Glocken zurück.
Als es Morgen war und das Fenster der Schlafkammer plötzlich aufgerissen wurde, fuhr der Rosenelf mit der Bienenkönigin und dem ganzen Bienenschwarm hinein, um ihn zu töten.
Aber er war schon tot. Es standen Leute rings um das Bett und sagten: »Der Jasminduft hat ihn getötet.« Da verstand der Rosenelf der Blumen Rache, und er erzählte es der Königin der Bienen, und sie summte mit ihrem ganzen Schwarm um den Blumentopf. Die Bienen waren nicht zu verjagen. Da nahm ein Mann den Blumentopf fort, und eine der Bienen stach seine Hand, so daß er den Topf fallen und zerbrechen ließ.
Da sahen sie den bleichen Totenschädel, und sie wußten, daß der Tote im Bett ein Mörder war.
Und die Bienenkönigin summte in der Luft und sang von der Rache der Blumen und von dem Rosenelf und daß hinter dem geringsten Blatte einer wohnt, der das Böse erzählen und rächen kann!

Hans Christian Andersen – Der Schmetterling

Hans Christian Andersen

Der Schmetterling

Der Schmetterling wollte eine Braut haben und sich unter den Blumen eine recht niedliche aussuchen. Zu dem Ende warf er einen musternden Blick über den ganzen Blumenflor und fand, daß jede Blume recht still und eher ehrsam auf ihrem Stengel saß, gerade wie es einer Jungfrau geziemt, wenn sie nicht verlobt ist; allein es waren gar viele da, und die Wahl drohte mühsam zu werden. Diese Mühe gefiel dem Schmetterling nicht, deshalb flog er auf Besuch zu dem Gänseblümchen. Dieses Blümlein nennen die Franzosen ‚Margarete‘; sie wissen auch, daß Margarete wahrsagen kann, und das tut sie, wenn die Liebesleute, wie es oft geschieht, ein Blättchen nach dem andern von ihr abpflücken, während sie an jedes eine Frage über den Geliebten stellen: ‚Von Herzen? -Mit Schmerzen? -Liebt mich sehr? -ein klein wenig? -Ganz und gar nicht?‘ und dergleichen mehr. Jeder fragt in seiner Sprache. Der Schmetterling kam auch zu Margarete um zu fragen; er zupfte ihr aber nicht die Blätter aus, sondern er drückte jedem Blatte einen Kuß auf, denn er meinte, man käme mit Güte besser fort.
»Beste Margarete Gänseblümlein!« sprach er zu ihr, »Sie sind die klügste Frau unter den Blumen, Sie können wahrsagen -bitte, bitte, mir zu sagen, bekomme ich die oder die? Welche wird meine Braut sein? -Wenn ich das weiß, werde ich geradeswegs zu ihr hinfliegen und um sie anhalten.«
Allein Margarete antwortete ihm nicht, sie ärgerte sich, daß er sie ‚Frau‘ genannt hatte, da sie doch noch eine Jungfrau sei -das ist ein Unterschied! Er fragte zum zweiten und zum dritten Male; als sie aber stumm blieb und ihm kein einziges Wort entgegnete, so mochte er zuletzt auch nicht länger fragen, sondern flog davon, und zwar unmittelbar auf die Brautwerbung.
Es war in den ersten Tagen des Frühlings, ringsum blühten Schneeglöckchen und Krokus. ‚Die sind sehr niedlich‘, dachte der Schmetterling, ‚allerliebste kleine Konfirmanden, aber ein wenig zu sehr Backfisch!‘ -Er, wie alle jungen Burschen, spähte nach älteren Mädchen aus.
Darauf flog er auf die Anemonen zu; diese waren ihm ein wenig zu bitter, die Veilchen ein wenig zu schwärmerisch, die Lindenblüten zu klein und hatten eine zu große Verwandtschaft; die Apfelblüten -ja, die sahen zwar aus wie Rosen, aber sie blühten heute, um morgen schon abzufallen, meinte er. Die Erbsenblüte gefiel ihm am besten, rot und weiß war sie, auch zart und fein, und gehörte zu den häuslichen Mädchen, die gut aussehen und doch für die Küche taugen; er stand eben im Begriffe, seinen Liebesantrag zu stellen -da erblickte er dicht neben ihr eine Schote, an deren Spitze eine welke Blüte hing. »Wer ist die da?« fragte er. »Es ist meine Schwester«, antwortete die Erbsenblüte.
»Ah, so! Sie werden später auch so aussehen?« fragte er und flog davon, denn er hatte sich darob entsetzt.
Das Geißblatt hing blühend über den Zaun hinaus, da war die Hülle und Fülle derartiger Fräulein, lange Gesichter, gelber Teint, nein, die Art gefiel ihm nicht. Aber welche liebte er denn?
Der Frühling verstrich, der Sommer ging zu Ende; es war Herbst; er aber war noch immer unschlüssig.
Die Blumen erschienen nun in den prachtvollsten Gewändern – doch vergeblich.
Es fehlte ihnen der frische, duftende Jugendsinn. Duft begehrt das Herz, wenn es selbst nicht mehr jung ist, und gerade hiervon ist bitter wenig bei den Georginen und Klatschrosen zu finden. So wandte sich denn der Schmetterling der Krauseminze zu ebener Erde zu.
Diese hat nun wenig Blüte, sie ist ganz und gar Blüte, duftet von unten bis oben, hat Blumenduft in jedem Blatte. »Die werde ich nehmen!« sagte der Schmetterling.
Und nun hielt er um sie an.
Aber die Krauseminze stand steif und still da und hörte ihn an; endlich sagte sie: »Freundschaft, ja! Aber weiter nichts! Ich bin alt, und Sie sind alt; wir können zwar sehr wohl füreinander leben, aber uns heiraten – nein! Machen wir uns nicht zum Narren in unserem Alter!«
So kam es denn, daß der Schmetterling keine Frau bekam. Er hatte zu lange gewählt, und das soll man nicht! Der Schmetterling blieb ein Hagestolz, wie man es nennt.
Es war im Spätherbste, Regen und trübes Wetter. Der Wind blies kalt über den Rücken der alten Weidenbäume dahin, so, daß es in ihnen knackte. Es war kein Wetter, um im Sommeranzuge herumzufliegen; aber der Schmetterling flog auch nicht draußen umher; er war zufälligerweise unter Dach und Fach geraten, wo Feuer im Ofen und es so recht sommerwarm war; er konnte schon leben; doch »Leben ist nicht genug!« sprach er. »Sonnenschein, Freiheit und ein kleines Blümchen muß man haben!« Und er flog gegen die Fensterscheibe, wurde gesehen, bewundert, auf eine Nadel gesteckt und in dem Raritätenkasten ausgestellt; mehr konnte man nicht für ihn tun.
»Jetzt setze ich mich selbst auf einen Stengel wie die Blumen!« sagte der Schmetterling, »so recht angenehm ist das freilich nicht! So ungefähr wird es wohl sein, wenn man verheiratet ist, man sitzt fest!« – Damit tröstete er sich dann einigermaßen.
»Das ist ein schlechter Trost!« sagten die Topfgewächse im Zimmer.
»Aber«, meinte der Schmetterling, »diesen Topfgewächsen ist nicht recht zu trauen, sie gehen zuviel mit Menschen um!«

Hans Christian Andersen – Der Schneemann

Hans Christian Andersen

Der Schneemann

„Eine so wunderbare Kälte ist es, daß mir der ganze Körper knackt!“ sagte der Schneemann. „Der Wind kann einem wirklich Leben einbeißen. Und wie die Glühende dort glotzt!“ Er meinte die Sonne, die gerade im Untergehen begriffen war. „Mich soll sie nicht zum Blinzeln bringen, ich werden schon die Stückchen festhalten.“
Er hatte nämlich statt der Augen zwei große, dreieckige Stückchen von einem Dachziegel im Kopf; sein Mund bestand aus einem alten Rechen, folglich hatte sein Mund auch Zähne.
Geboren war er unter dem Jubelruf der Knaben, begrüßt vom Schellengeläut und Peitschenknall der Schlitten.
Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund, groß, klar und schön in der blauen Luft.
„Da ist sie wieder von einer anderen Seite!“ sagte der Schneemann. Damit wollte er sagen: die Sonne zeigt sich wieder. „Ich habe ihr doch das Glotzen abgewöhnt! Mag sie jetzt dort hängen und leuchten, damit ich mich selber sehen kann. Wüßte ich nur, wie man es macht, um von der Stelle zu kommen! Ich möchte mich gar zu gern bewegen! Wenn ich es könnte, würde ich jetzt dort unten auf dem Eis hingleiten, wie ich die Knaben gleiten gesehen habe; allein ich verstehe mich nicht darauf, weiß nicht, wie man läuft.“
„Weg! weg!“ bellte der alte Kettenhund; er war etwas heiser und konnte nicht mehr das echte „Wau! wau!“ aussprechen; die Heiserkeit hatte er sich geholt, als er noch Stubenhund war und unter dem Ofen lag. „Die Sonne wird dich schon laufen lehren! Das habe ich vorigen Winter an deinem Vorgänger und noch früher an dessen Vorgänger gesehen. Weg! weg! und weg sind sie alle!“
„Ich verstehen dich nicht, Kamerad“, sagte der Schneemann. „Die dort oben soll mich laufen lehren?“ Er meinte den Mond; „ja, laufen tat sie freilich vorhin, als ich sie fest ansah, jetzt schleicht sie heran von einer anderen Seite.“
„Du weißt gar nichts!“ entgegnete der Kettenhund, „du bist aber auch eben erst aufgekleckst worden. Der, den du da siehst, das ist der Mond; die, welche vorhin davongegangen ist, das war die Sonne; die kommt morgen wieder, die wird dich schon lehren, in den Wallgraben hinabzulaufen. Wir kriegen bald anderes Wetter, ich fühle es schon in meinem linken Hinterbein, es sticht und schmerzt; das Wetter wird sich ändern!“
„Ich verstehe ihn nicht“, sagte der Schneemann, „aber ich habe es im Gefühl, daß es etwas Unangenehmes ist, was er spricht. Sie, die so glotzte und sich alsdann davonmachte, die Sonne, wie er sie nennt, ist auch nicht meine Freundin, das habe ich im Gefühl!“
„Weg! weg!“ bellte der Kettenhund, ging dreimal um sich selbst herum und kroch dann in seine Hütte um zu schlafen.
Das Wetter änderte sich wirklich. Gegen Morgen lag ein dicker, feuchter Nebel über der ganzen Gegend; später kam der Wind, ein eisiger Wind; das Frostwetter packte einen ordentlich, aber als die Sonne aufging, welche Pracht! Bäume und Büsche waren mit Reif überzogen, sie glichen einem ganzen Wald von Korallen, alle Zweige schienen mit strahlend weißem Blüten über und über besät. Die vielen und feinen Verästelungen, die der Blätterreichtum während der Sommerzeit verbirgt, kamen jetzt alle zum Vorschein. Es war wie ein Spitzengewebe, glänzend weiß, aus jedem Zweig strömte ein weißer Glanz. Die Hängebirke bewegte sich im Wind, sie hatte Leben wie alle Bäume im Sommer; es war wunderbar und schön! Und als die Sonne schien, nein, wie flimmerte und funkelte das Ganze, als läge Diamantenstaub auf allem und als flimmerten auf dem Schneeteppich des Erdbodens die großen Diamanten, oder man konnte sich auch vorstellen, daß unzählige kleine Lichter leuchteten, weißer selbst als der weiße Schnee.
„Das ist wunderbar schön!“ sagte ein junges Mädchen, das mit einem jungen Mann in den Garten trat. Beide blieben in der Nähe des Schneemanns stehen und betrachteten von hier aus die flimmernden Bäume. „Einen schöneren Anblick gewährt der Sommer sicht!“ sprach sie, und ihre Augen strahlten.
„Und so einen Kerl wie diesen hier hat man im Sommer erst recht nicht“, erwiderte der junge Mann und zeigte auf den Schneemann. „Er ist hübsch“.
Das junge Mädchen lachte, nickte dem Schneemann zu und tanzte darauf mit ihrem Freund über den Schnee dahin, der unter ihren Schritten knarrte und pfiff, als gingen sie auf Stärkemehl.
„Wer waren die beiden?“ fragte der Schneemann.
„Liebesleute!“ Gab der Kettenhund zur Antwort. „Sie werden in eine Hütte ziehen und zusammen am Knochen nagen. Weg! weg!“ „Sind denn die beiden auch solche Wesen wie du und ich?“ fragte der Schneemann.
„Die gehören ja zur Herrschaft!“ versetzte der Kettenhund, „freilich weiß man sehr wenig, wenn man den Tag zuvor erst zur Welt gekommen ist. Ich merke es dir an! Ich habe das Alter, auch die Kenntnisse; ich kenne alle hier im Haus, und auch eine Zeit habe ich gekannt, da lag ich nicht hier in der Kälte und an der Kette. Weg! weg!“
„Die Kälte ist herrlich!“ sprach der Schneemann. „Erzähle, erzähle! Aber du darfst nicht mit den Ketten rasseln; es knackt in mir, wenn du das tust.“
„Weg! weg!“ bellte der Kettenhund. „Ein kleiner Junge bin ich gewesen, klein und niedlich, sagte man; damals lag ich auf einem mit Sammet überzogenen Stuhl dort oben im Herrenhaus, im Schoß der obersten Herrschaft; mir wurde die Schnauze geküßt, und die Pfoten wurden mir mit einem gestickten Taschentuch abgewischt, ich hieß Ami! lieber Ami! süßer Ami! Aber später wurde ich ihnen dort oben zu groß, und sie schenkten mich der Haushälterin. Ich kam in die Kellerwohnung! Du kannst dorthin hinunterschauen, wo ich Herrschaft gewesen bin, denn das war ich bei der Haushälterin. Es war zwar ein geringerer Ort als oben, aber er war gemütlicher, ich wurde nicht in einem fort von Kindern angefaßt und gezerrt wie oben. Ich bekam ebenso gutes Futter wie früher, ja besseres noch! Ich hatte mein eigenes Kissen, und ein Ofen war da, der ist um diese Zeit das Schönste von der Welt! Ich ging unter den Ofen, konnte mich darunter ganz verkriechen. Ach, von ihm träume ich noch. Weg! weg!“
„Sieht denn ein Ofen so schön aus?“ fragte der Schneemann. „Hat erÄhnlichkeit mit mir?“
„Der ist gerade das Gegenteil von dir! Rabenschwarz ist er, hat einen langen Hals mit Messingtrommel. Er frißt Brennholz, daß ihm das Feuer auf dem Munde sprüht. Man muß sich an der Seite von ihm halten, dicht daneben, ganz unter ihm, da ist es sehr angenehm. Durch das Fenster wirst du ihn sehen könne, von dort aus, wo du stehst.“
Und der Schneemann schaute danach und gewahrte einen blank polierten Gegenstand mit messingner Trommel; das Feuer leuchtete von unten heraus. Dem Schneemann wurde ganz wunderlich zumute, es überkam ihn ein Gefühl, er wußte selber nicht welches, er konnte sich keine Rechenschaft darüber ablegen; aber alle Menschen, wenn sie nicht Schneemänner sind, kennen es. „Und warum verließest du sie?“ fragte der Schneemann. Er hatte es im Gefühl, daß es ein weibliches Wesen sein mußte. „Wie konntest du nur einen solchen Ort verlassen?“
„Ich mußte wohl!“ sagte der Kettenhund. „Man warf mich zur Tür hinaus und legte mich hier an die Kette. Ich hatte den jüngsten Junker ins Bein gebissen, weil er mir den Knochen wegstieß, an dem ich nagte: Knochen um Knochen, so denke ich! Das nahm man mir aber sehr übel, und von dieser Zeit an bin ich an die Kette gelegt worden und habe meine Stimme verloren, hörst du nicht, daß ich heißer bin? Ich kann nicht mehr so sprechen wie die anderen Hunde: weg! weg! Das war das Ende vom Lied!“
Der Schneemann hörte ihm aber nicht mehr zu, er schaute immerfort in die Kellerwohnung der Haushälterin, in ihre Stube hinein, wo der Ofen auf seinen vier eisernen Beinen stand und sich in derselben Größe zeigte wie der Schneemann.
„Wie das sonderbar in mir knackt!“ sagte er. „Werde ich nie dort hineinkommen? Es ist doch ein unschuldiger Wunsch, und unsere unschuldigen Wünsche werden gewiß in Erfüllung gehen. Ich muß dort hinein, ich muß mich an sie anlehnen, und wollte ich auch das Fenster eindrücken!“
„Dort hinein wirst du nie gelangen!“ sagte der Kettenhund, „und kommst du an den Ofen hin, so bist du weg! weg!“
Ich bin schon so gut wie weg!“ erwiderte der Schneemann, „ich breche zusammen, glaube ich.“
Den ganzen Tag stand der Schneemann und schaute durchs Fenster hinein; in der Dämmerstunde wurde die Stube noch einladender; vom Ofen her leuchtete es mild, gar nicht wie der Mond, nicht wie die Sonne; nein, wie nur der Ofen leuchten kann, wenn er etwas zu verspeisen hat. Wenn die Stubentür aufging, hing ihm die Flamme zum Munde heraus, diese Gewohnheit hatte der Ofen; es flammte deutlich rot auf um das weiße Gesicht des Schneemannes, es leuchtete rot seine ganze Brust herauf.
„Ich halte es nicht mehr aus!“ sagte er. „Wie schön es ihr steht, die Zunge so herauszustrecken!“
Die Nacht war lang, dem Schneemann ward sie aber nicht lang, er stand in seine eigenen schönen Gedanken vertieft, und die froren, daß es knackte.
Am Morgen waren die Fensterscheiben der Kellerwohnung mit Eis bedeckt; sie trugen die schönsten Eisblumen, die nur ein Schneemann verlangen konnte, allein sie verbargen den Ofen. Die Fensterscheiben
wollten nicht auftauen; er konnte den Ofen nicht sehen, den er sich als ein
so liebliches weibliches Wesen dachte. Es knackte und knickte in ihm und
rings um ihn her; es war gerade so ein Frostwetter, an dem ein
Schneemann seine Freude haben mußte. Er aber freute sich nicht -wie
hätte er sich auch glücklich fühlen können, er hatte Ofensehnsucht. „Das ist eine schlimme Krankheit für einen Schneemann“, sagte der
Kettenhund, „ich habe an der Krankheit gelitten; aber ich habe sie
überstanden. Weg! weg!“ bellte er. „Wir werden anderes Wetter
bekommen!“ fügte er hinzu. Und das Wetter änderte sich; es wurde Tauwetter. Das Tauwetter nahm zu, der Schneemann nahm ab. Er sagte nichts, er
klagte nicht, und das ist das richtige Zeichen. Eines Morgens brach er zusammen. Und sieh, es ragte so etwas wie ein
Besenstiel da, wo er gestanden hatte, empor. Um den Stiel herum hatten
die Knaben ihn aufgebaut. „Ja, jetzt begreife ich es, jetzt verstehe ich es, daß er die große Sehnsucht
hatte!“ sagte der Kettenhund. „Da ist ja ein Eisen zum Ofenreinigen an
dem Stiel, der Schneemann hat einen Ofenkratzer im Leib gehabt! Das ist
es, was sich in ihm geregt hat, jetzt ist das überstanden; weg! weg!“ Und bald darauf war auch der Winter überstanden. „Weg! weg!“ bellte der heisere Kettenhund; aber die Mädchen aus dem
Hause sangen: Waldmeister grün! Hervor aus dem Haus,
Weide! Die wollenen Handschuhe aus;
Lerche und Kuckuck! Singt fröhlich drein,
Frühling im Februar wird es sein!
Ich singe mit: Kuckuck“ Kiwitt“
Komm, liebe Sonne, komm oft -kiwitt! Und dann denkt niemand an den Schneemann.

Hans Christian Andersen – Der Schweinehirt

Hans Christian Andersen

Der Schweinehirt

Es war einmal ein armer Prinz; er hatte nur ein ganz kleines Königreich; aber es war immer groß genug, um sich darauf zu verheiraten, und verheiraten wollte er sich.
Nun war es freilich etwas keck von ihm, daß er zur Tochter des Kaisers zu sagen wagte: „Willst du mich haben?“ Aber er wagte es doch, denn sein Name war weit und breit berühmt; es gab hundert Prinzessinnen, die gerne ja gesagt hätten; aber ob sie es tat? Nun, wir wollen hören.
Auf dem Grabe des Vaters des Prinzen wuchs ein Rosenstrauch, ein herrlicher Rosenstrauch; der blühte nur jedes fünfte Jahr und trug dann auch nur die einzige Blume; aber das war eine Rose, die duftete so süß, daß man alle seine Sorgen und seinen Kummer vergaß, wenn man daran roch. Der Prinz hatte auch eine Nachtigall, die konnte singen, als ob alle schönen Melodien in ihrer Kehle säßen. Diese Rose und die Nachtigall sollte die Prinzessin haben, und deshalb wurden sie beide in große silberne Behälter gesetzt und ihr zugesandt.
Der Kaiser ließ sie vor sich her in den großen Saal tragen, wo die Prinzessin war und mit ihren Hofdamen „Es kommt Besuch“ spielte. Als sie die großen Behälter mit den Geschenken erblickte, klatschte sie vor Freude in die Hände. „Wenn es doch eine kleine Miezekatze wäre!“ sagte sie, aber da kam der Rosenstrauch mit der herrlichen Rose hervor.
„Wie niedlich sie gemacht ist!“ sagten alle Hofdamen.
„Sie ist mehr als niedlich“, sagte der Kaiser, „sie ist schön!“
Aber die Prinzessin befühlte sie, und da war sie nahe daran, zu weinen.
„Pfui, Papa!“ sagte sie, „sie ist nicht künstlich, sie ist natürlich!“
„Pfui,“ sagten alle Hofdamen, „sie ist natürlich!“
„Laßt uns nun erst sehen, was in dem andern Behälter ist, ehe wir böse werden!“ meinte der Kaiser, und da kam die Nachtigall heraus, die so schön sang, daß man nicht gleich etwas Böses gegen sie vorbringen konnte.
„Superbe! Charmant!“ sagten die Hofdamen; denn sie plauderten alle französisch, eine immer ärger als die andere. „Ja!“ sagte der Kaiser, und dann weinte er wie ein kleines Kind.
„Es wird doch hoffentlich kein natürlicher sein?“ sagte die Prinzessin.
„Ja, es ist ein natürlicher Vogel!“ sagten die Boten, die ihn gebracht hatten.
„So laßt den Vogel fliegen“, sagte die Prinzessin, und sie wollte nicht gestatten, daß der Prinz käme.
Aber dieser ließ sich nicht einschüchtern. Er bemalte sich das Antlitz mit Braun und Schwarz, drückte die Mütze tief über den Kopf und klopfte an.
„Guten Tag, Kaiser!“ sagte er. „Könnte ich nicht hier auf dem Schlosse einen Dienst bekommen?“
„Jawohl!“ sagte der Kaiser. „Ich brauche jemand, der die Schweine hüten kann, denn deren haben wir viele.“
So wurde der Prinz angestellt als kaiserlicher Schweinehirt. Er bekam eine jämmerlich kleine Kammer unten bei den Schweinen, und da mußte er bleiben; aber den ganzen Tag saß er und arbeitete, und als es Abend war, hatte er einen niedlichen, kleinen Topf gemacht. Rings um ihn waren Schellen, und sobald der Topf kochte, klingelten sie und spielten die schöne Melodie:
„Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin!“
Aber das Allerkünstlichste war, daß, wenn man den Finger in den Dampf des Topfes hielt, man sogleich riechen konnte, welche Speisen auf jedem Feuerherd in der Stadt zubereitet wurden. Das war wahrlich etwas ganz anderes als die Rose!
Nun kam die Prinzessin mit allen ihren Hofdamen daherspaziert, und als sie die Melodie hörte, blieb sie stehen und sah ganz erfreut aus, denn sie konnte auch „Ach, du lieber Augustin“ spielen. Das war das einzige, was sie konnte, aber das spielte sie mit einem Finger.
„Das ist ja das, was ich kann!“ sagte sie. „Dann muß es ein gebildeter Schweinehirt sein! Höre, gehe hinunter und frage ihn, was das Instrument kostet!“
Da mußte eine der Hofdamen hineingehen.
Aber sie zog Holzpantoffeln an.
„Was willst du für den Topf haben?“ fragte die Hofdame. „Gott bewahre uns!“ sagte die Hofdame.
„Ja, anders tue ich es nicht!“ anwortete der Schweinehirt.
„Er ist unartig!“ sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, erklangen die Schellen so lieblich:
„Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin!“
„Höre“, sagte die Prinzessin, „frage ihn, ob er zehn Küsse von meinen Hofdamen will!“
„Ich danke schön“, sagte der Schweinehirt; „zehn Küsse von der Prinzessin, oder ich behalte meinen Topf.“
„Was ist das doch für eine langweilige Geschichte!“ sagte die Prinzessin. „Aber dann müßt ihr vor mir stehen, damit es niemand sieht!“
Die Hofdamen stellten sich davor und breiteten ihre Kleider aus, und da bekam der Schweinehirt zehn Küsse, und sie erhielt den Topf.
Nun, das war eine Freude! Den ganzen Abend und den ganzen Tag mußte der Topf kochen; es gab nicht einen Feuerherd in der ganzen Stadt, von dem sie nicht wußten, was darauf gekocht wurde, sowohl beim Kammerherrn wie beim Schuhflicker. Die Hofdamen tanzten und klatschten in die Hände.
„Wir wissen, wer süße Suppe und Eierkuchen essen wird, wir wissen, wer Grütze und Braten bekommt! Wie schön ist doch das!“
„Ja, aber haltet reinen Mund, denn ich bin des Kaisers Tochter!“
„Jawohl, jawohl!“ sagten alle.
Der Schweinehirt, das heißt der Prinz -aber sie wußten es ja nicht anders, als daß er ein wirklicher Schweinehirt sei -, ließ die Tage nicht verstreichen, ohne etwas zu tun, und da machte er eine Knarre. Wenn man diese herumschwang, erklangen alle die Walzer und Hopser, die man von Erschaffung der Welt an kannte.
,Ach, das ist superbe“, sagte die Prinzessin, indem sie vorbeiging. „Ich habe nie eine schönere Musik gehört! Höre, gehe hinein und frage ihn, was das Instrument kostet, aber ich küsse nicht wieder!“
„Er will hundert Küsse von der Prinzessin haben!“ sagte die Hofdame, die hineingegangen war, um zu fragen.
„Ich glaube, er ist verrückt!“ sagte die Prinzessin, und dann ging sie; aber als sie ein kleines Stück gegangen war, blieb sie stehen. „Man muß die „Ach, aber wir tun es ungern!“ sagten die Hofdamen.
„Das ist Geschwätz“, sagte die Prinzessin, wenn ich ihn küssen kann, dann könnt ihr es auch; bedenkt, ich gebe euch Kost und Lohn!“ Da mußten die Hofdamen wieder zu ihm hineingehen.
„Hundert Küsse von der Prinzessin“, sagte er, „oder jeder behält das Seine!“
„Stellt euch davor!“ sagte sie dann, und da stellten sich alle Hofdamen davor, und nun küßte er.
„Was mag das wohl für ein Auflauf beim Schweinestall sein?“ fragte der Kaiser, der auf den Balkon hinausgetreten war. Er rieb sich die Augen und setzte die Brille auf. „Das sind ja die Hofdamen, die da ihr Wesen treiben; ich werde wohl zu ihnen hinuntergehen müssen!“
Potztausend, wie er sich sputete!
Sobald er in den Hof hinunterkam, ging er ganz leise, und die Hofdamen hatten so viel damit zu tun, die Küsse zu zählen, damit es ehrlich zugehen möge, daß sie den Kaiser gar nicht bemerkten. Er erhob sich hoch auf den Zehen.
„Was ist das?“ sagte er, als er sah, daß sie sich küßten; und dann schlug er seine Tochter mit einem Pantoffel auf den Kopf, gerade als der Schweinehirt den sechsundachtzigsten Kuß erhielt.
„Fort mit euch!“ sagte der Kaiser, denn er war böse, und sowohl die Prinzessin wie der Schweinehirt mußten sein Kaiserreich verlassen.
Da stand sie nun und weinte, der Schweinehirt schalt, und der Regen strömte hernieder.
„Ach, ich elendes Geschöpf“, sagte die Prinzessin, „hätte ich doch den schönen Prinzen genommen! Ach, wie unglücklich bin ich!“
Der Schweinehirt aber ging hinter einen Baum, wischte sich das Schwarze und Braune aus seinem Antlitz, warf die schlechten Kleider von sich und trat nun in seiner Prinzentracht hervor, so schön, daß die Prinzessin sich verneigen mußte.
„Ich bin dahin gekommen, dich zu verachten!“ sagte er. „Du wolltest keinen ehrlichen Prinzen haben! Du verstandest dich nicht auf die Rose und die Nachtigall, aber den Schweinehirten konntest du für eine Spielerei küssen. Das hast du nun dafür!“
„Ach, du lieber Augustin, Alles ist hin, hin, hin!“

Hans Christian Andersen – Der silberne Schilling

Hans Christian Andersen

Der silberne Schilling

Es war einmal ein Schilling, blank ging er aus der Münze hervor, sprang und klang. „Hurra! Jetzt geht’s in die weite Welt hinaus!“ Und er kam freilich in die weite Welt hinaus.
Das Kind hielt ihn mit warmen Händen, der Geizige mit kalten,krampfhaften Händen; der Ältere wendete und drehte ihn Gott weiß wie viele Male, während die Jugend ihn gleich wieder rollen ließ. Der Schilling war aus Silber, hatte sehr wenig Kupfer an sich und befand sich bereits ein ganzes Jahr in der Welt, das heißt in dem Land, in dem er geprägt worden war. Eines Tages aber ging er auf Reisen ins Ausland; er war die letzte Landesmünze im Geldbeutel, den ein reisender Herr bei sich hatte, der Herr wußte selber nicht, daß er den Schilling noch hatte, bis er ihm unter die Finger kam. „Hier habe ich ja noch einen Schilling aus der Heimat!“ sagte er, „nun, der kann die Reise mitmachen!“ und der Schilling klang und sprang vor Freude, als er ihn wieder in den Beutel steckte. Hier lag er nun bei fremden Kameraden, die kamen und gingen, einer machte dem anderen Platz, aber der Schilling aus der Heimat blieb immer im Beutel, das war eine Auszeichnung.
Mehrere Wochen waren schon verstrichen, und der Schilling war weit in die Welt hinausgelangt, ohne daß er doch eigentlich wußte, wo er sich befand; zwar erfuhr er von den anderen Münzen, daß sie französische und italienische seien. Eine sagte, sie seien jetzt in dieser Stadt, eine andere sagte, in jener, allein der Schilling konnte sich keine Vorstellung von alledem machen; man sieht nichts von der Welt, wenn man immer im Sack steckt, und das war ja sein Los. Doch eines Tages, wie er so dalag, bemerkte er, daß der Geldbeutel nicht zugemacht war, und so schlich ersich bis an die Öffnung vor, um ein wenig hinauszuschauen; das hätte er nun freilich nicht tun sollen, er war aber neugierig und das rächt sich; er glitt hinaus in die Hosentasche, und als abends der Geldbeutel herausgenommen wurde, lag der Schilling noch da, wo er hingerutscht war, und kam mit den Kleidern auf den Vorplatz hinaus; dort fiel er sogleich auf den Fußboden, niemand hörte das, niemand sah das.
Am anderen Morgen wurden die Kleider wieder in das Zimmer getragen, der Herr zog sie an, reiste weiter, und der Schilling blieb zurück, er wurde gefunden, sollte wieder Dienste tun, und ging mit drei anderen Münzen aus. „Es ist doch angenehm, sich in der Welt umzuschauen“, dachte der Schilling, „Andere Menschen, andere Sitten kennenzulernen.“
„Was ist das für ein Schilling!“ hieß es in demselben Augenblick. „Das ist keine Landesmünze! Der ist falsch! Der taugt nichts!“
Ja, nun beginnt die Geschichte des Schillings, wie er sie später selber erzählte. „Falsch! Taugt nichts! -Dies ging mir durch und durch“, erzählte der Schilling. „Ich wußte, ich war von gutem Klang und hatte ein echtes Gepräge. Die Leute mußten sich jedenfalls irren, mich konnten sie nicht meinen, aber sie meinten mich doch! Ich war es, den sie falsch nannten; ich taugte nichts.
„Den muß ich im Dunkeln ausgeben!“ sagte der Mann, der mich erhalten hatte, und ich wurde im Dunkeln ausgegeben und am hellen Tag wieder ausgeschimpft. „Falsch, taugt nichts! Wir müssen machen, daß wir ihn los werden!“
Und der Schilling zitterte zwischen den Fingern der Leute jedesmal, wenn er heimlich fortgeschafft wurde und als Landesmünze gelten sollte. „Ich elender Schilling! Was hilft mir mein Silber, mein Wert, mein Gepräge, wenn das alles keine Geltung hat! In den Augen der Welt ist man eben das, was die Welt von einem hält! Es muß entsetzlich sein, ein böses Gewissen zu haben, sich auf bösen Wegen umherzuschleichen, wenn mir, der ich doch ganz unschuldig bin, schon so zumute sein kann, weil ich bloß das Aussehen habe! Jedesmal, wenn man mich hervorsuchte, schauderte ich vor den Augen, die mich ansehen würden, wußte ich doch, daß ich zurückgestoßen, auf den Tisch hingeworden werden würde, als sei ich Lug und Trug. Einmal kam ich zu einer alten, armen Frau, sie erhielt mich als Tagelohn für harte Arbeit, allein sie konnte mich nun gar nicht wieder los werden. Niemand wollte mich annehmen, ich war der Frau ein wahres Unglück. „Ich bin wahrhaftig gezwungen, jemanden mit dem Schilling anzuführen“, sagte sie, „ich kann mit dem besten Willen einen falschen Schilling nicht aufheben; der reiche Bäcker soll ihn haben, er kann es am besten verschmerzen -aber unrecht ist es trotzdem, daß ich’s tue“.
„Auch das Gewissen der Frau muß ich noch obendrein belasten!“ seufzte es in dem Schilling. „Habe ich mich denn auf meine alten Tage wirklich so verändert?“
„Und die Frau begab sich zu dem reichen Bäcker, aber der kannte gar zu gut die gängigen Schillinge, als daß er mich hätte behalten wollen, er warf mich der Frau gerade ins Gesicht, Brot bekam sie für mich nicht, und ich fühlte mich so recht von Herzen betrübt, daß ich solchergestalt zu anderer Ungemach geprägt worden war, ich, der ich in meinen jungen Tagen so freudig und sicher mir meines Wertes und echten Gepräges bewußt gewesen war! So recht traurig wurde ich, wie es ein armer Schilling werden kann, wenn niemand ihn haben will. Die Frau nahm mich aber wieder mit nach Hause, sie betrachtete mich mit einem herrlichen, freundlichen Blick und sagte: „Nein, ich will niemanden mit dir anführen! Ich will ein Loch durch dich schlagen, damit jedermann sehen kann, daß du ein falsches Ding bist, und doch -das fällt mir jetzt so ein -du bist vielleicht gar ein Glücksschilling, kommt mir doch der Gedanke so ganz von selber, so daß ich daran glauben muß! Ich werde ein Loch durch den Schilling schlagen und eine Schnur durch das Loch ziehen und dem Kleinen der Nachbarsfrau den Schilling um den Hals als Glücksschilling hängen.“ Und sie schlug ein Loch durch mich; angenehm ist es freilich nicht, wenn ein Loch durch einen geschlagen wird, allein wenn es in guter Absicht geschieht, läßt sich vieles ertragen! Eine Schnur wurde auch durchgezogen, ich wurde eine Art Medaillon zum Tragen, man hing mich um den Hals des kleinen Kindes, und das Kind lächelte mich an, küßte mich, und ich ruhte eine ganze Nacht an der warmen, unschuldigen Brust des Kindes.
Als es Morgen ward, nahm die Mutter mich zwischen ihre Finger, sah mich an und hatte so ihre eigenen Gedanken dabei, das fühlte ich bald heraus. Sie suchte eine Schere hervor und schnitt die Schnur durch.
„Glücksschilling!“ sagte sie. „Ja, das werden wir jetzt erfahren!“ Und sie legte mich in Essig, bis ich ganz grün wurde, darauf kittete sie das Loch zu, rieb mich ein wenig und ging nun in der Dämmerstunde zum Lotterieeinnehmer, um sich ein Los zu kaufen, das Glück bringen sollte.
Wie war mir übel zumute! Es zwickte in mir, als müßte ich zerknicken, ich wußte, daß ich falsch genannt und hingeworfen werden würde, und zwar gerade vor die Menge von Schillingen und Münzen, die mit Inschrift und Gesicht dalagen, auf welche sie stolz sein konnten; aber ich entging der Schande; beim Einnehmer waren viele Menschen, er hatte gar viel zu tun, und ich fuhr klingend in den Kasten unter die anderen Münzen ob später das Los gewann, weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß ich schon am andern Morgen als ein falscher Schilling erkannt, auf die Seite gelegt und ausgesandt wurde, um zu betrügen und immer zu betrügen. Es ist nicht auszuhalten, wenn man einen redlichen Charakter hat, und den kann ich mir selber nicht absprechen.
Jahr und Tag ging ich in solcher Weise von Hand zu Hand, von Haus zu Haus, immer ausgeschimpft, immer ungern gesehen; niemand traute mir, und ich traute mir selber, traute der Welt nicht, das war eine schwere Zeit! Da kam eines Tages ein Reisender, ein Fremder an, bei dem wurde ich angebracht, und er war treuherzig genug, mich für gängige Münze anzunehmen; aber nun wollte er mich abermals ausgeben, und ich vernahm wieder die Ausrufe: „Taugt nichts“ Falsch!“
„Ich habe ihn für echt erhalten“, sagte der Mann und betrachtete mich dabei recht genau; plötzlich lächelte er über sein ganzes Gesicht, das geschah sonst bei keinem Gesicht, wenn man mich betrachtete. „Nein, was ist doch das!“ sagte er. „Das ist ja eine unserer Landesmünzen, ein guter, ehrlicher Schilling aus der Heimat, durch den man ein Loch geschlagen hat, den man falsch nennt. Das ist in der Tat kurios! Dich werde ich mit nach Hause nehmen!“
Die Freude durchrieselte mich, man hieß mich einen guten, ehrlichen Schilling, und in die Heimat sollte ich zurückkehren, wo jedermann mich erkennen und wissen würde, daß ich aus gutem Silber war und echtes Gepräge hatte. Ich hätte vor Freude Funken schlagen können, aber es liegt nun einmal nicht in meiner Natur, zu sprühen, das kann wohl der Stahl, nicht aber das Silber.
Ich wurde in feines, weißes Papier eingewickelt, damit ich nicht mit den anderen Münzen verwechselt werden und abhanden kommen konnte, und bei festlichen Gelegenheiten, wenn Landsleute sich begegneten, wurde ich vorgezeigt, und es wurde sehr gut von mir gesprochen; sie sagten, ich sei interessant; es ist freilich merkwürdig, daß man interessant sein kann, ohne ein einziges Wort zu sagen.
Und endlich kam ich in die Heimat an! All meine Not hatte ein Ende, die Freude kehrte wieder bei mir ein, war ich doch aus gutem Silber, hatte das echte Gepräge! Und gar keine Widerwärtigkeiten hatte ich mehr auszustehen, obgleich man das Loch durch mich geschlagen hatte, weil ich als falsch galt, doch das tut nichts, wenn man es nur nicht ist! Man muß ausharren, alles kommt schließlich mit der Zeit zu seinem Recht! Das ist mein Glaube“, sagte der Schilling.

Hans Christian Andersen – Der Springer

Hans Christian Andersen

Der Springer

Der Floh, die Heuschrecke und der Hüpfauf wollten einmal sehen, wer von ihnen am höchsten springen könnte; und da luden sie die ganze Welt ein und wer sonst noch kommen wollte, die Pracht anzusehen. Und es waren drei tüchtige Springer, die sich im Zimmer versammelten.
„Ja, ich gebe meine Tochter dem, der am höchsten springt!“ sagte der König. „Denn es wäre zu ärmlich, wenn diese Personen umsonst springen sollten.“
Der Froh kam zuerst vor. Er hatte so niedliche Manieren und grüßte nach allen Seiten, denn er hatte Fräuleinblut in den Adern und war gewohnt, nur mit Menschen umzugehen, und das macht sehr viel aus.
Dann kam die Heuschrecke. Die war freilich bedeutend schwerer, aber sie hatte doch eine ganz hübsche Figur und trug grüne Uniform, und die warihr angeboren. Überdies behauptete diese Person, daß sie im LandeÄgypten einer sehr alten Familie angehöre und daß sie dort hoch geschätzt werde. Sie sei gerade vom Felde genommen und in ein Kartenhaus gesetzt worden, weclches drei Etage hoch war, alle aus Kartenfiguren, welche die bunte Seite einwärts kehren, zusammengeklebt. Da seien sowohl Türen wie Fenster, und zwar im Leib der Caeur-Dame, ausgeschnitten. „Ich singe so“, sagte sie, „daß sechzehn eingeborene Heimchen, die von klein auf gepfiffen und doch kein Kartenhaus erhalten haben, sich noch dünner, als sie schon waren, ärgerten, als sie mich hörten.
Alle beide, der Floh und die Heuschrecke, taten so gehörig kund, wer sie waren und daß sie glaubten, eine Prinzessin heiraten zu können.
Der Hüpfauf sagte nichts, aber man erzählte von ihm, daß er um so mehr denke; und als der Hofjund ihn loß beschnüffelt hatte, haftete er dafür, daß der Hüpfauf von guter Familie und von den Brustknochen einer echten Gans gemacht sei. Der alte Ratsherr, der drei Orden für das Stillschweigen erhalten hatte, versicherte, daß der Hüpfauf mit Weissagungskraft begabt sei, mann könne an seinem Knochen erkennen, ob man einen milden oder strengen Winter bekomme; und das kann man nicht einmal aus den Brustknochen desjenigen sehen, der den Kalender Schreibt.
„Ja, ich sage nun gar nichts!“ sagte der alte König; „aber ich gehe nur immer so und denke das Meine!“ Nun war es um den Sprung zu tun. Der Floh sprang so hoch, daß niemand sehen konnte, wie hoch, und da behaupteten sie, daß er gar nicht gesprungen sei. Das war doch unwürdig!
Die Heuschrecke sprang nur halb so hoch, aber sie sprang dem König gerade ins Gesicht, und da sagte dieser, das sei häßlich.
Der Hüpfauf stand lange still und bedachte sich; schließlich glaubte man, daß er gar niocht springen könne.
„Wenn ihm nur nicht unwohl geworden ist!“ sagte der Hofhund, und dann beschnüffelte er ihn wieder. Rutsch! da sprang er mit einem kleinen schiefen Spruzng hin in den Schoß der Prinzessin, welche auf einem niedrigen goldenen Schemel saß.
Da sagte der König: „Der höchste Sprung ist der, zu meiner Tochter hinaufzuspringen, denn darin liegt das Feine. Aber es gehört Kopf dazu, darauf zu kommen. Und der Springbock hat gezeigt, daß er Kopf hat.“
Und deshalb erhielt er die Prinzessin.
„Ich sprang doch am höchsten“, sagte der Floh. „Aber es ist einerlei! Llaß sie nur den Gänseknochen mit Stab und Pech haben! Ich sprang doch am höchsten. Allein es gehört in dieser Welt ein Körper dazu, damit man gesehen werden kann!“
Und darauf ging der Floh in fremde Kriegsdienste, wo er, wie man sagt, erschlagen worden sein soll.
Die Heuschrecke setzte sich draußen in den Graben und dachte darüber nach, wie es eigentlich in der Welt zugehe. Und sie sagte auch: „Körper gehört dazu! Korper gehört dazu!“ Und dann sang sie ihr eigenes trübseliges Lied, und daraus haben wir die Geschichte entnommen, die trotzdem wohl erlogen sein könnte, wenn sie auch gedruckt ist.

Hans Christian Andersen – Der standhafte Zinnsoldat

Hans Christian Andersen

Der standhafte Zinnsoldat

Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, die waren alle Brüder, denn sie waren aus einem alten zinnernen Löffel gemacht worden. Das Gewehr hielten sie im Arm und das Gesicht geradeaus; rot und blau, überaus herrlich war die Uniform; das allererste, was sie in dieser Welt hörten, als der Deckel von der Schachtel genommen wurde, in der sie lagen, war das Wort »Zinnsoldaten!« Das rief ein kleiner Knabe und klatschte in die Hände; er hatte sie erhalten, denn es war sein Geburtstag, und er stellte sie nun auf dem Tische auf. Der eine Soldat glich dem andern leibhaft, nur ein einziger war etwas anders; er hatte nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden, und da war nicht mehr Zinn genug da; doch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein wie die andern auf ihren zweien, und gerade er war es, der sich bemerkbar machte.
Auf dem Tisch, auf dem sie aufgestellt wurden, stand vieles andere Spielzeug; aber das, was am meisten in die Augen fiel, war ein niedliches Schloß von Papier; durch die kleinen Fenster konnte man gerade in die Säle hineinsehen. Draußen vor ihm standen kleine Bäume rings um einem kleinen Spiegel, der wie ein kleiner See aussehen sollte. Schwäne von Wachs schwammen darauf und spiegelten sich. Das war alles niedlich, aber das niedlichste war doch ein kleines Mädchen, das mitten in der offenen Schloßtür stand; sie war auch aus Papier ausgeschnitten, aber sie hatte ein schönes Kleid und ein kleines, schmales, blaues Band über den Schultern, gerade wie ein Schärpe; mitten in diesem saß ein glänzender Stern, gerade so groß wir ihr Gesicht.
Das kleine Mädchen streckte seine beiden Arme aus, denn es war eine Tänzerin, und dann hob es das eine Bein so hoch empor, daß der Zinnsoldat es durchaus nicht finden konnte und glaubte, daß es gerade wie er nur ein Bein habe.
‚Das wäre eine Frau für mich‘, dachte er, aber sie ist etwas vornehm, sie wohnt in einem Schlosse, ich habe nur eine Schachtel, und da sind wir fünfundzwanzig darin, das ist kein Ort für sie, doch ich muß suchen, Bekanntschaft mit ihr anzuknüpfen!‘ Und dann legte er sich, so lang er war, hinter eine Schnupftabaksdose, die auf dem Tische stand. Da konnte er recht die kleine, feine Dame betrachten, die fortfuhr auf einem Bein zu stehen, ohne umzufallen. Als es Abend wurde, kamen alle die andern Zinnsoldaten in ihre Schachtel, und die Leute im Hause gingen zu Bette. Nun fing das Spielzeug an zu spielen, sowohl ‚Es kommt Besuch!‘ als auch ‚Krieg führen‘ und ‚Ball geben‘; die Zinnsoldaten rasselten in der Schachtel, denn sie wollten mit dabei sein, aber sie konnten den Deckel nicht aufheben. Der Nußknacker schoß Purzelbäume, und der Griffel belustigte sich auf der Tafel; es war ein Lärm, daß der Kanarienvogel davon erwachte und anfing mitzusprechen, und zwar in Versen. Die beiden einzigen, die sich nicht von der Stelle bewegten, waren der Zinnsoldat und die Tänzerin; sie hielt sich gerade auf der Zehenspitze und beide Arme ausgestreckt; er war ebenso standhaft auf seinem einen Bein; seine Augen wandte er keinen Augenblick von ihr weg.
Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch, da sprang der Deckel von der Schnupftabaksdose auf, aber da war kein Tabak darin, nein, sondern ein kleiner, schwarzer Kobold.
Das war ein Kunststück!
»Zinnsoldat« sagte der Kobold, »halte deine Augen im Zaum!« Aber der Zinnsoldat tat, als ob er es nicht hörte.
»Ja, warte nur bis morgen!« sagte der Kobold.
Als es nun Morgen wurde und die Kinder aufstanden, wurde der Zinnsoldat in das Fenster gestellt, und war es nun der Kobold oder der Zugwind, auf einmal flog das Fenster zu, und der Soldat stürzte drei Stockwerke tief hinunter.
Das war eine erschreckliche Fahrt. Er streckte das Bein gerade in die Höhe und blieb auf der Helmspitze mit dem Bajonett abwärts zwischen den Pflastersteinen stecken.
Das Dienstmädchen und der kleine Knabe kamen sogleich hinunter, um zu suchen; aber obgleich sie nahe daran waren, auf ihn zu treten, so konnten sie ihn doch nicht erblicken. Hätte der Zinnsoldat gerufen: »Hier bin ich!«, so hätten sie ihn wohl gefunden, aber er fand es nicht passend, laut zu schreien, weil er in Uniform war.
Nun fing es an zu regnen; die Tropfen fielen immer dichter, es ward ein ordentlicher Platzregen; als der zu Ende war, kamen zwei Straßenjungen vorbei.
»Sieh du!« sagte der eine, »da liegt ein Zinnsoldat! Der soll hinaus und segeln!«
Sie machten ein Boot aus einer Zeitung, setzten den Soldaten mitten hinein, und nun segelte er den Rinnstein hinunter; beide Knaben liefen nebenher und klatschten in die Hände. Was schlugen da für Wellen in dem Rinnstein, und welcher Strom war da! Ja, der Regen hatte aber auch geströmt. Das Papierboot schaukelte auf und nieder, mitunter drehte es sich so geschwind, daß der Zinnsoldat bebte; aber er blieb standhaft, verzog keine Miene, sah geradeaus und hielt das Gewehr im Arm.
Mit einem Male trieb das Boot unter eine lange Rinnsteinbrücke; da wurde es gerade so dunkel, als wäre er in seiner Schachtel.
‚Wohin mag ich nun kommen?‘ dachte er. ‚Ja, Ja, das ist des Kobolds Schuld! Ach, säße doch das kleine Mädchen hier im Boote, da könnte es meinetwegen noch einmal so dunkel sein!‘
Da kam plötzlich eine große Wasserratte, die unter der Rinnsteinbrücke wohnte.
»Hast du einen Paß?« fragte die Ratte. »Her mit dem Passe!«
Aber der Zinnsoldat schwieg still und hielt das Gewehr noch fester.
Das Boot fuhr davon und die Ratte hinterher. Hu, wie fletschte sie die Zähne und rief den Holzspänen und dem Stroh zu: »Halt auf! Halt auf! Er hat keinen Zoll bezahlt; er hat den Paß nicht gezeigt!«
Aber die Strömung wurde stärker und stärker! Der Zinnsoldat konnte schon da, wo das Brett aufhörte, den hellen Tag erblicken, aber er hörte auch einen brausenden Ton, der wohl einen tapfern Mann erschrecken konnte.
Denkt nur, der Rinnstein stürzte, wo die Brücke endete, geradehinaus in einen großen Kanal; das würde für den armen Zinnsoldaten ebenso gefährlich gewesen sein wie für uns, einen großen Wasserfall hinunterzufahren!
Nun war er schon so nahe dabei, daß er nicht mehr anhalten konnte. Das Boot fuhr hinaus, der Zinnsoldat hielt sich so steif, wie er konnte; niemand sollte ihm nachsagen, daß er mit den Augen blinke. Das Boot schnurrte drei-, viermal herum und war bis zum Rande mit Wasser gefüllt, es mußte sinken. Der Zinnsoldat stand bis zum Halse im Wasser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr löste das Papier sich auf; nun ging das Wasser über des Soldaten Kopf. Da dachte er an die kleine, niedliche Tänzerin, die er nie mehr zu Gesicht bekommen sollte, und es klang vor des Zinnsoldaten Ohren das Lied:
Fahre, fahre Kriegsmann! Den Tod mußt du erleiden! Nun ging das Papier entzwei, und der Zinnsoldat stürzte hindurch, wurde aber augenblicklich von einem großen Fisch verschlungen.
Wie war es dunkel da drinnen! Da war es noch schlimmer als unter der Rinnsteinbrücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinnsoldat war standhaft und lag, so lang er war, mit dem Gewehr im Arm.
Der Fisch fuhr umher, er machte die allerschrecklichsten Bewegungen; endlich wurde er ganz still, es fuhr wie ein Blitzstrahl durch ihn hin. Das Licht schien ganz klar, und jemand rief laut: »Der Zinnsoldat!« Der Fisch war gefangen worden, auf den Markt gebracht, verkauft und in die Küche hinaufgekommen, wo die Köchin ihn mit einem großen Messer aufschnitt. Sie nahm mit zwei Fingern den Soldaten mitten um den Leib und trug ihn in die Stube hinein, wo alle den merkwürdigen Mann sehen wollten, der im Magen eines Fisches herumgereist war; aber der Zinnsoldat war gar nicht stolz. Sie stellten ihn auf den Tisch und da – wie sonderbar kann es doch in der Welt zugehen! Der Zinnsoldat war in derselben Stube, in der er früher gewesen war, er sah dieselben Kinder, und das gleiche Spielzeug stand auf dem Tische, das herrliche Schloß mit der niedlichen, kleinen Tänzerin. Die hielt sich noch auf dem einen Bein und hatte das andere hoch in der Luft, sie war auch standhaft. Das rührte den Zinnsoldaten, er war nahe daran, Zinn zu weinen, aber es schickte sich nicht. Er sah sie an, aber sie sagten gar nichts.
Da nahm der eine der kleinen Knaben den Soldaten und warf ihn gerade in den Ofen, obwohl er gar keinen Grund dafür hatte; es war sicher der Kobold in der Dose, der schuld daran war.
Der Zinnsoldat stand ganz beleuchtet da und fühlte eine Hitze, die erschrecklich war; aber ob sie von dem wirklichen Feuer oder von der Liebe herrührte, das wußte er nicht. Die Farben waren ganz von ihm abgegangen – ob das auf der Reise geschehen oder ob der Kummer daran schuld war, konnte niemand sagen. Er sah das kleine Mädchen an, sie blickte ihn an, und er fühlte, daß er schmelze, aber noch stand er standhaft mit dem Gewehre im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind ergriff die Tänzerin, und sie flog, einer Sylphide gleich, gerade in den Ofen zum Zinnsoldaten, loderte in Flammen auf und war verschwunden. Da schmolz der Zinnsoldat zu einem Klumpen, und als das Mädchen am folgenden Tage die Asche herausnahm, fand sie ihn als ein kleines Zinnherz; von der Tänzerin hingegen war nur der Stern noch da, und der war kohlschwarz gebrannt.

Hans Christian Andersen – Der Sturm zieht mit den Schildern um

Hans Christian Andersen

Der Sturm zieht mit den Schildern um

In alten Tagen, als Großvater ein ganz kleiner Knabe war und mit roten Höschen umherlief, auch mit einem roten Rocke, mit einen Gurt um den Leib und einer Feder aus der Casquette -denn so gingen die kleinen Knaben in seiner Kindheit gekleidet, wenn sie recht geputzt waren -, da war so vieles ganz anders wie jetzt; da war gar oft viel Staat auf der Straße, Staat, den wir nicht mehr sehen, weil er abgeschafft ist -er war zu altväterisch; aber unterhaltend ist es doch, Großvater davon erzählen zu hören.
Es muß damals wirklich ein Staat gewesen sein, als der Schuhmacher beim Wechsel des Gerichtshauses das Schild hinüberbrachte. Die seidene Fahne wehte; auf das Schild selber waren ein großer Stiefel und ein Adler mit zwei Köpfen gemalt; die jüngsten Buschen trugen das „Willkommen“ und die Lade der Handwerker-Innung und hatten rote und weiße Bänder an ihren Hemdärmeln herabflattern; die älteren trugen gezogene Degen mit einer Zitrone auf der Spitze. Da war tolle Musik, und das prächtigste von allen Instrumenten war „der Vogel“ wie Großvater die große Stange nannte mit dem Halbmonde daran und allen möglichen Tingeltangel; eine richtig türkische Musik. Die Stange wurde hoch in die Luft gehoben und geschwungen, daß es klingelte und klang und es einem die Augen blendete, wenn die Sonne auf das Gold, Silber und Messing schien.
Vor dem Zuge her lief der Harlekin in Kleidern von allen möglichen bunten Lappen zusammengenäht, mit schwarzem Gesicht und Glöckchen um den Kopf wie ein Schlittenpferd; der schlug mit seiner Pritsche auf die Leute ein, daß es klatschte, ohne ihnen Schaden zu tun, und die Leute drückten sich zusammen, um zurückzuweichen und gleich wieder hervorzukommen; kleine Knaben und Mädchen fielen über ihre eigenen Füße in den Rinnstein; alte Frauen pufften mit den Ellenbogen, machten saure Miene und schnupften. Der eine lachte, ein anderer schwatzte; das Volk war auf den Treppen und in den Fenstern, ja auf den Dächern. Die Sonne schien; ein wenig Regen bekamen sie auch, aber das war gut für den Landmann, und wenn sie so recht patschnaß wurden, so war das ein wahrer Segen für das Land.
Wie Großvater erzählen konnte! Er hatte als kleiner Knabe den Staat in der größten Pracht gesehen. Der älteste Gerichtsdiener hielt die Rede vom Gerüst, wo das Schild aufgehängt wurde; die Rede war in Versen, als ob sie gedichtet sei, und das war sie auch; es waren ihrer drei dazu gewesen; sie hatten erst eine tüchtige Terrine Punsch getrunken, um es recht gut zu machen.
Und das Volk brachte für die Rede ein Hurra aus, aber rief noch öfter: „Hurra für den Harlekin“, als er auf dem Gerüst zum Vorschein kam und den Leuten einen schiefen Mund zog.
Der Narr machte einen ausgezeichneten Narren und trank Met aus Schnapsgläsern, die er kann unter das Volk schleuderte, wo sie von den Leuten aufgefangen wurden. Großvater war im Besitz eines solchen, das ihm ein Maurergeselle, der es erwischt, verehrt hatte. Das war wirklich belustigend. Das Schild an dem neuen Gerichtshause war mit Blumen behangen.
„Solch einen Staat vergißt man niemals, wie alt man auch werden mag“, sagte Großvater, und er vergaß es auch nicht, obgleich er noch viel andere Pracht und Herrlichkeiten gesehen hatte und auch davon erzählte; das Ergötzlichste blieb aber doch immer, ihn von dem Schild erzählen zu hören, das in der großen Stadt von dem alten zu dem neuen Gerichtshause gebracht wurde.
Der Großvater reiste als kleiner Knabe mit seinen Eltern zu der Feierlichkeit; er hatte die größte Stadt des Landes vorher nie gesehen. Da waren so viele Menschen auf der Straße, daß er glaubte, man trüge schon das Schild fort; es gab da viele Schilder, man hätte hundert Stuben mit Bildern anfüllen können, hätte man sie inwendig und auswendig aufgehängt. Da waren bei dem Schneider alle Arten von Menschenkleidern abgemalt, und er konnte die Leute vom Groben bis zum Feinen benähen; da waren die Schilder von den Tabakswicklern, mit den anmutigsten kleinen Knaben welche Zigarren rauchten, ebenso wie in der Wirklichkeit; da waren Schilder mit Butter und Heringen, Priesterkragen und Särgen und außerdem Inschriften und Anschlagzettel; man konnte recht gut einen ganzen Tag in den Straßen auf und nieder gehen und sich an den Bildern müde sehen; dann wußte man aber auch das Ganze und welche Menschen in den Häusern wohnten, denn sie hatten ja ihr Schild selber herausgehängt, und das ist so gut, sagte der Großvater, und auch so lehrreich, gleich in einer großen Stadt zu wissen, wer darinnen wohnt.
So trug sich das mit den Schildern zu, als der Großvater in die Stadt kam; er hat es selbst erzählt, und er hatte keinen Schelm im Nacken, wie die Mutter glaubte, und hätte es mir gesagt, wenn er mir etwas weismachen wollte; er sah ganz zuverlässig aus. Die erste Nacht, als er zur Stadt gekommen, war hier das fürchterlichste Wetter gewesen, wovon man noch jemals in der Zeitung gelesen: ein Wetter, wie sich niemals ein Mensch erinnerte erlebt zu haben. Die ganze Luft war mit Ziegelsteinen angefüllt; altes Holzwerk stürzte zusammen; ja ein Schubkarren lief ganz von selber die Straße hinauf, nur um sich zu retten. Es brüllte in der Luft, es heulte und kreischte, es war ein entsetzlicher Sturm. Das Wasser im Kanal lief über das Bollwerk hinaus, denn es wußte nicht, wo es bleiben sollte. Der Sturm fuhr über die Stadt hin und nahm die Schornsteine mit; mehr als eine alte, stolze Kirchturmspitze mußte sich beugen und hat das seitdem nie verwunden.
Da stand ein Schilderhaus, draußen, wo der alte, anständige Brand-Major wohnte, der immer mit der letzten Spritze kam; der Sturm wollte ihm das kleine Schilderhaus nicht gönnen, es wurde aus den Fugen gerissen und rollte die Straße hinab; und wunderbar genug erhob es sich wieder und blieb vor dem Hause des Zimmergesellen stehen, der bei dem letzten Brande drei Menschenleben gerettet hatte; aber das Schilderhaus dachte sich nichts dabei.
Das Schild vom Barbier, der große Messingteller, wurde heruntergerissen und gerade in die Fenstervertiefung des Justizrates geschleudert, und das sah fast wie Bosheit aus, so sagte die ganze Nachbarschaft, weil diese und die allerintimsten Freundinnen der Frau Justizrätin sie Rasiermesser nannten. Sie war so klug, daß sie von den Menschen mehr als die Menschen über sich selber wußte.
Da flog ein Schild mit einem abgerissenen, trocknen Klippfische gerade über die Tür eines Hauses, wo ein Mann wohnte, der eine Zeitung schrieb. Das war ein flauer Scherz von dem Sturmwinde, der nicht daran dachte, daß ein Zeitungsschreiber gar nicht geschaffen ist, um mit sich scherzen zu lassen, denn er ist ein König in seiner eigenen Zeitung und auch in seiner eigenen Meinung. Der Wetterhahn flog auf das gegenüberliegende Dach und stand da wie die schwärzeste Bosheit -sagten die Nachbarn.
Die Tonne des Faßbinders wurde unter „Damenputz“ aufgehängt.
Des Gastwirts Speisezettel in einem schweren Rahmen, der an der Türe hing, wurde vom Sturme über den Eingang des Theaters gestellt, wo die Leute niemals hinkommen; es war ein lächerliches Plakat: „Meerrettichsuppe und gefüllter Kohlkopf“, aber jetzt kamen die Leute.
Des Kürschners Fuchspelz, der sein ehrbares Schild ist, wurde an die Klingelschnur des jungen Mannes geschleudert, der immer in die Frühpredigt ging, wie ein heruntergeschlagener Regenschirm aussah, nach Wahrheit strebte und, wie seine Tante sagte, ein „Exempel“ war. Die Inschrift „Höhere Bildungsanstalt“ wurde über den Billardklub hingeschleudert, und die Anstalt selber bekam das Schild „Hier zieht man Kinder mit der Flasche auf“; das war gar nicht witzig, nur unartig, aber das hatte der Sturm getan, und den kann man nicht regieren.
Es war eine fürchterliche Nacht, und am Morgen -denkt nur -waren fast alle Schilder der Stadt verwechselt; an einigen Orten war es mit so großer Bosheit geschehen, daß Großvater gar nicht davon reden wollte, aber doch, wie ich ganz gut gesehen, inwendig lachte, und da ist es doch wohl möglich, daß er etwas hinter den Ohren hatte.
Die armen Leute in der Stadt, und ganz besonders die Fremden, irrten sich nun in den Menschen, und es konnte auch nicht gut anders sein, wenn sie sich nach dem Schilde richteten. So wollten einige zu einer ernsten Versammlung älterer Männer, wo die wichtigsten Dinge verhandelt werden sollten, und kamen nun in eine kreischende Knabenschule, wo alle über Tisch und Bänke sprangen.
Es waren auch Leute da, die die Kirche mit dem Theater verwechselten, und das ist doch entsetzlich!
Einen solchen Sturm hat es in heutiger Zeit nicht mehr gegeben, bloß Großvater hat ihn erlebt, und da war er noch sehr klein; ein solcher Sturm kommt vielleicht auch zu unseren Lebzeiten gar nicht vor, aber zu Lebzeiten unserer Enkel -dann wollen wir aber hoffen und beten, daß sie in ihren vier Wänden bleiben, wenn der Sturm mit den Schildern umzieht.