Hans Christian Andersen – Der Floh und der Professor

Hans Christian Andersen

Der Floh und der Professor

Es war einmal ein Luftschiffer, dem ging es verkehrt, der Ballon zersprang, der Mann plumpste herunter und ging in Stücke. Seinen Jungen hatte er zwei Minuten früher mit dem Fallschirm herabgeschickt, das war des Jungen Glück, er blieb unbeschädigt und ging umher mit großen Vorkenntnissen, um Luftschiffer zu werden, aber er hatte keinen Ballon und auch nicht die Mittel, sich einen zu verschaffen.
Leben mußte er, und so verlegte er sich auf die Künste der Behendigkeit und darauf, mit dem Leib reden zu können, das heißt, Bauchredner zu sein. Jung war er und sah gut aus, und als er einen Bart bekam und gute Kleider anzog, konnte er für ein Grafenkind gehalten werden. Die Damen fanden ihn schön, ja, eine Jungfrau wurde so eingenommen von seiner Schönheit und seinen Behendigkeitskünsten, daß sie ihn zu fremden Städten und Ländern begleitete; dort nannte er sich Professor, weniger konnte es nicht sein.
Sein ständiger Gedanke war, sich einen Luftballon zu verschaffen und in die Luft zu gehen mit seiner kleinen Frau, aber sie hatten noch nicht die Mittel dazu.
„Sie kommen!“ sagte er.
„Wenn sie nur wollten!“ sagte sie.
„Wir sind ja junge Leute! Und nun bin ich ein Professor, Krümeln sind auch Brot!“
Sie half ihm neulich, saß am Eingang und verkaufte Billette zu der Vorstellung, und das war ein kaltes Vergnügen im Winter. Sie half ihm auch in einem Kunststück. Er steckte seine Frau ins Schubfach, ein großes Schubfach; da kroch sie hinein ins Hinterfach, und dann war sie im Vorderfach nicht zu sehen; das war wie eine Augentäuschung.
Aber eines Abends, als er das Schubfach aufzog, war sie auch fort von ihn; sie war nicht im Vorderfach, nicht im Hinterfach, nicht im ganzen Haus, nicht zu sehen, nicht zu hören. Das war ihre Behendigkeitskunst. Sie kam niemals wieder; sie hatte es satt, und er bekam es satt, verlor seine gute Laune, konnte nicht mehr lachen und Witze machen, und so kamen auch keine Leute hin; der Verdienst wurde schlecht, die Kleider wurden schlecht; er besaß zuletzt nur einen großen Floh, ein Erbstück von seiner Frau, und deshalb hielt er so viel auf ihn. So dressierte er ihn, lehrte ihn Behendigungskünste, lehrte ihn, das Gewehr zu präsentieren und eine Kanone abzuschießen, aber nur eine kleine.
Der Professor war stolz auf den Floh, und der war stolz auf sich selber; er hatte etwas gelernt und hatte Menschenblut in sich und war in den größten Städten gewesen, von Prinzen und Prinzessinnen gesehen worden und hatte ihren hohen Beifall gewonnen. Das stand gedruckt in den Zeitungen und auf den Plakaten. Er wußte, daß er eine Berühmtheit war und einen Professor ernähren konnte, sogar eine ganze Familie.
Stolz war er, und berühmt war er, und doch, wenn er und der Professor reisten, fuhren sie auf der Eisenbahn vierter Klasse; die geht ebenso schnell wie die erste. Es war ein stillschweigendes Gelübde, daß sie niemals sich trennen wollten, niemals sich verheiraten, der Floh wollte Junggeselle bleiben und der Professor Witwer; das kommt auf eins heraus.
„Wo man das größte Glück macht“, sagte der Professor, „dahin soll man nicht zweimal kommen!“ Er war ein Menschenkenner, und das ist auch eine Kenntnis.
Zuletzt hatten sie alle Länder bereist, außer dem Lande der Wilden; und so wollte er hin zu dem Lande der Wilden; dort essen sie freilich Christenmenschen, das wußte der Professor, aber er war kein richtiger Christ, und der Floh war kein richtiger Mensch, so meinte er, daß er wohl dahin reisen könnte und einen guten Verdienst haben.
Sie reisten mit dem Dampfschiff und mit dem Segelschiff; der Floh machte seine Künste, und so hatten sie freie Reise unterwegs und kamen zu dem Lande der Wilden.
Hier regierte eine kleine Prinzessin, sie war erst acht Jahre, aber sie regierte; sie hatte Vater und Mutter die Macht genommen, denn sie hatte einen Willen und war so unvergleichlich reizend und unartig.
Gleich, so wie der Floh das Gewehr präsentierte und die Kanone abschoß, wurde sie so eingenommen von dem Floh, daß sie sagte: „Ihn oder keinen!“ Sie wurde ganz wild vor Liebe und war ja schon vorher wild gewesen.
„Süßes, kleines, vernünftiges Kind“, sagte ihr eigener Vater, „könnte man nur erst einen Menschen aus ihm machen!“
„Dafür laß mich sorgen, Alter!“ sagte sie, und das ist nicht nett gesagt von einer kleinen Prinzessin, die zu ihrem Vater spricht, aber sie war wild.
Sie setzte den Floh auf ihre kleine Hand. „Nun bist du ein Mensch und regiert mit mir; aber du sollst tun, was ich will, sonst schlage ich dich tot und fresse den Professor.“
Der Professor bekam einen großen Saal, um darin zu wohnen. Die Wände waren aus Zuckerrohr, da konnte er hingehen und daran lecken, aber er war kein Leckermaul. Er bekam eine Hängematte, um darin zu schlafen, es war, als läge er in einem Luftballon, den Hatte er sich immer gewünscht und der war sein ständiger Gedanke.
Der Floh blieb bei der Prinzessin, saß auf ihrer kleinen Hand und auf ihrem feinen Hals. Sie hatte ein Haar von Ihrem Kopf genommen, und das mußte der Professor dem Floh ums Bein binden, und so hielt sie ihn an das große Korallenstück gebunden, das sie im Ohrläppchen hatte.
Das war eine herrliche Zeit für die Prinzessin, auch für den Floh, dachte sie; aber der Professor fühlte sich nicht zufrieden, er war ein Reisemensch, er liebte es, von Land zu Land zu ziehen, in den Zeitungen zu lesen von seiner Unterhaltendheit und Klugheit, daß er einen Floh lehren konnte, menschliche Taten zu tun. Tagaus, tagein lag er in der Hängematte, faulenzte und bekam sein gutes Essen, frische Vogeleier, Elefantenaugen und gebratenen Giraffenohren; die Menschenfresser leben nicht nur von Menschenfleisch, das ist eine Delikatesse. „Kinderschultern mit scharfer Sauce“, sagte die Prinzessinmutter, „ist das Delikateste.“
Der Professor langweilte sich und wollte gerne fort von dem Lande der Wilden, aber den Floh mußte er mithaben, das war sein Wunder und Lebensunterhalt. Wie sollte er ihn kriegen und fangen. Das war nicht so leicht. Er spannte alle seine Denkkräfte an, und da sagte er: „Nun habe ich es!“
„Prinzessinvater, gönne mir, etwas zu tun! Darf ich die Bewohner des Landes üben im Präsentieren, das ist das, was man in den größten Ländern der Welt Bildung nennt!“
„Und was kannst du mich lehren?“ fragte der Prinzessinvater.
„Meine größte Kunst“, sagte der Professor, „nämlich eine Kanone abzufeuern, so daß die ganze Erde bebt und all die leckersten Vögel des Himmels gebraten herabfallen! Das ist der Knall dabei!“
„Komm mit der Kanone!“ sagte der Prinzessinvater.
Aber im ganzen Land gab es keine Kanone außer der, die der Floh gebracht hatte, und die war zu klein.
„Ich gieße eine größere zurecht!“ sagte der Professor. „Gib mir nur die Mittel! Ich muß feines Seidenzeug haben, Nadel und Faden, Tau und Schnüre und Magentropfen für den Luftballon, die blasen auf, machen leicht und erheben, die geben den Knall in dem Kanonenbau.“ Alles, was er Verlangte, bekam er. Das ganze Land kam zusammen, um die große Kanone zu sehen. Der Professor rief sie nicht, bevor er nicht den Ballon ganz fertig hatte, um ihn aufzufüllen und aufzusteigen.
Der Floh saß auf der Hand der Prinzessin und sah zu. Der Ballon wurde gefüllt, er schwoll und konnte kaum gehalten werden, so wild war er.
„Ich muß ihn in der Luft haben, damit er abgekühlt werden kann!“ sagte der Professor und setzt sich in den Korb, der unter dem Ballon hing. „Allen vermag ich nicht, ihn zu lenken. Ich muß einen kundigen Kameraden mithaben, um mir zu helfen. Hier ist keiner, der das kann, außer dem Floh!“
„Ich gestatte es ungern!“ sagte die Prinzessin, aber sie reichte doch den Floh dem Professor, der ihn auf seine Hand setzte.
Laßt Taue und Schnüre los!“ sagte er. „Nun geht der Ballon!“
Sie glaubten, er sagte: „Die Kanone!“
Und dann ging der Ballon höher und höher, hinauf über die Wolken, fort von dem Lande der Wilden.
Die kleine Prinzessin, ihr Vater und ihre Mutter, das ganze Volk standen und warteten. Sie warten noch, und glaubst du das nicht, so reise nach dem Lande der Wilden, dort spricht jedes Kind vom Floh und dem Professor, glaubt, daß sie wiederkommen, wenn die Kanone abgekühlt ist, aber sie kommen nicht wieder, sie sind daheim bei uns, sie sind in ihrem Vaterland, fahren auf der Eisenbahn erster Klasse, nicht vierter, sie haben einen guten Verdienst, einen großen Ballon. Keiner fragt, wie sie den Ballon bekommen haben oder woher sie ihn haben, sie sind angesehene Leute, geehrte Leute, der Floh und der Professor.

Hans Christian Andersen – Der Gärtner und die Herrschaft

Hans Christian Andersen

Der Gärtner und die Herrschaft

Eine Meile von der Hauptstadt entfernt stand ein altes Schloß mit dicken Mauern, Türmen und gezackten Giebeln.
Hier wohnte, jedoch nur in der Sommerzeit, eine reiche, hochadelige Herrschaft; das Schloß war das beste und schönste von allen Schlössern, die sie besaß. Es stand wie neugegossen von außen da, und drinnen herrschten Traulichkeit und Bequemlichkeit. Das Wappen der Familie war in Stein über dem Tor eingehauen, wunderschöne Rosen schlangen sich um Wappen und Erker, ein ganzer Grasteppich breitete sich vor dem Schlosse aus, und da waren Rotdorn und Weißdorn, da waren seltene Blumen selbst außerhalb des Treibhauses.
Die Herrschaft hatte auch einen tüchtigen Gärtner; es war eine Lust, den Blumengarten, den Obst-und Küchengarten zu sehen. An diesen grenzte noch ein Rest von dem ursprünglichen alten Garten des Schlosses mit Buchsbaumhecken, die so beschnitten waren, daß sie Kronen und Pyramiden bildeten. Hinter diesen standen zwei mächtige alte Bäume; sie waren fast immer blätterlos, und man hätte leicht glauben können, daß ein Sturmwind oder eine Windhose sie mit großen Klumpen Dünger bestreut hätte, aber jeder Klumpen war ein Vogelnest.
Hier baute seit undenkbaren Zeiten eine Schar schreiender Dohlen und Krähen ihre Nester: es war eine ganze Vogelstadt, und die Vögel waren die Herrschaft, die Besitzer, die älteste Familie des Gutes, die eigentliche Herrschaft des Schlosses. Keiner von den Menschen da untern ging sie etwas an, aber sie duldeten diese niedrig gehenden Geschöpfe, obwohl diese zuweilen mit der Flinte knallten, so daß es den Vögeln im Rückgrat kribbelte und jeder Vogel vor Schreck aufflog und schrie: „Rack! Rack!“
Der Gärtner sprach oft mit seiner Herrschaft davon, daß man die alten Bäume fällen sollte, sie sähen nicht gut aus, und wenn sie wegkämen, würde man wahrscheinlich von den schreienden Vögeln befreit werden, die anderswohin fliegen würden. Aber die Herrschaft wollte weder die Bäume noch die Vogelschar entbehren, das war etwas, was das Schloß nicht verlieren durfte, es war etwas aus der alten Zeit, und die sollte man nicht ganz auslöschen.
„Diese Bäume sind nun des Erbgut der Vögel, mögen sie es behalten, mein guter Larsen!“ Der Gärtner hieß Larsen, aber das hat nun weiter nichts zu bedeuten.
„Ist ihr Wirkungskreis nicht groß genug, lieber Larsen? Sie haben doch den ganzen Blumengarten, die Treibhäuser, den Obst-und Küchengarten?“
Das alles hatte er, und er pflegte und hegte es mit Eifer und Tüchtigkeit, und das wurde von der Herrschaft anerkannt, aber sie verhehlten ihm nicht, daß sie bei Fremden oft Früchte aßen und Blumen sahen, die das übertrafen, was sie in ihrem eigenen Garten hatten, und das betrübte den Gärtner, denn er wollte das Beste und tat das Beste. Er hatte ein gutes Herz und verrichtete seine Arbeit gut.
Eines Tages ließ ihn die Herrschaft rufen und sagte in aller Milde und Herrschaftlichkeit, daß sie am vorhergehenden Tage bei vornehmenFreunden eine Art Äpfel und Birnen bekommen hatten, die so saftig und wohlschmeckend waren, daß sie und alle Gäste sich voller Bewunderung geäußert hatten. Die Früchte waren gewiß nicht hier aus dem Lande, aber die sollten eingeführt und hier heimisch werden, wenn unser Klima es erlaubte. Man wußte, daß sie drinnen in der Stadt bei dem ersten Fruchthändler gekauft waren. Der Gärtner sollte in die Stadt reiten undsich danach erkundigen, woher diese Äpfel und Birnen gekommen waren, und dann Pfropfzweige anfordern.
Der Gärtner kannte den Fruchthändler sehr gut, denn gerade an ihnverkaufte er für seine Herrschaft den Überfluß an Obst, der im Schloßgarten wuchs.
Und der Gärtner ritt in die Stadt und fragte den Obsthändler, woher erdiese hochgepriesenen Äpfel und Birnen habe.
„Die sind aus Ihrem eigenen Garten!“ sagte der Fruchthändler und zeigteihm sowohl Äpfel wie Birnen, die er wiedererkannte.
Wie sich der Gärtner freute; er eilte zu seiner Herrschaft und erzählte, daß sowohl die Äpfel als auch die Birnen aus ihrem eigenen Garten seine.
Das wollte die Herrschaft gar nicht glauben. „Das ist doch nicht möglich, Larsen! Können Sie ein schriftliches Zeugnis vom Fruchthändler beschaffen?“ Und das konnte er, er brachte ein schriftliches Attest.
„Das ist doch sonderbar!“ sagte die Herrschaft.
Nun kamen auf den herrschaftlichen Tisch jeden Tag große Schalen mitdiesen prächtigen Äpfeln und Birnen aus ihrem eigenen Garten; scheffel­und tonnenweise wurde diese Früchte an Freunde in der Stadt und außerhalb der Stadt gesandt, ja selbst nach dem Auslande. Das war ein wahres Vergnügen! Doch mußten sie hinzufügen, daß es ja auch zwei außergewöhnlich gute Sommer für Baumobst gewesen seien. Dies sei
überall im Lande gut geraten. Es verging eine Weile; die Herrschaft aß eines Mittags bei Hofe. Am Tage
darauf wurde der Gärtner zu seiner Herrschaft gerufen. Sie hatten bei
Tafel Melonen bekommen, überaus saftvoll, wohlschmeckend, sie waren
aus dem Treibhause der Majestäten. „Sie müssen zum Hofgärtner gehen, lieber Larsen, und uns einige von den
Kernen dieser köstlichen Melonen verschaffen!“ „Aber der Hofgärtner hat die Kerne von uns bekommen!“ sagte der
Gärtner ganz vergnügt. „Dann hat der Mann verstanden, die Früchte zu einer höheren Entwicklung
zu bringen! entgegnete die Herrschaft. „Jede Melone war ausgezeichnet.“ „Ja, dann kann ich stolz sein!“ sagte der Gärtner. „Ich will der gnädigen
Herrschaft nur sagen, daß der Schloßgärtner in diesem Jahre mit seinen
Melonen kein Glück gehabt hat, und als er sah, wie prächtig unsere
standen, und sie kostete, da bestellte der drei davon fürs Schloß!“ „Larsen, bilden Sie sich doch nicht ein, daß diese Melonen aus unserem
Garten waren!“ „Ich glaube es!“ sagte der Gärtner, ging zum Schloßgärtner und erhielt
von ihm einen schriftlichen Beweis, daß die Melonen auf der königlichen
Tafel aus dem Herrschaftsgarten gekommen seien. Das war wirklich eine Überraschung für die Herrschaft, und sie verschwieg
die Geschichte nicht, sie zeigte das Attest vor, ja, es wurden
Melonenkerne weit und breit versandt, so wie früher die Pfropfzweige. Von diesen erhielt man Nachricht, sie hatten angeschlagen, hatten Früchte
angesetzt, ganz vorzüglich, und die waren nach dem Schloß der
Herrschaft genannt, so daß der Name dadurch setzt auf englisch,
französisch und deutsch zu lesen war. Das hätte man sich doch niemals träumen lassen. „Wenn nur der Gärtner nicht zu große Ideen von sich bekommt!“ sagte die
Herrschaft. Es faßte die Sache ganz anders auf: er wollte jetzt bestrebt sein, seinen
Namen als einen der besten Gärtner des Landes zu behaupten, jedes Jahr
wollte er versuchen, etwas Vorzügliches von allen Gartenarten zu bringen,
und das tat er, aber oft mußte er doch hören, daß die allerersten Früchte,
die er gebracht hatte, die Äpfel und die Birnen, eigentlich die besten
gewesen seien, alle späteren Arten standen weit zurück. Die Melonen

Hans Christian Andersen – Der Goldschatz

Hans Christian Andersen

Der Goldschatz

Des Trommelschlägers Frau ging zur Kirche; sie sah den neuen Altar mit den gemalten Bildern und den geschnitzten Engeln; die waren ganz wunderschön, sowohl die auf der Leinwand mit Farben und einen Heiligenschein als auch die in Holz geschnitzten, die angemalt und vergoldet waren. Das Haar strahlte wie Gold und Sonnenschein, wunderschön war das; aber Gottes Sonnenschein war doch noch schöner; der schien klarer, röter zwischen den dunklen Bäumen, wenn die Sonne unterging. Wunderschön war es, in Gottes Antlitz hineinzusehen! Und sie sah in die rote Sonne hinein, und sie dachte so vieles dabei, sie dachte an den Kleinen, den der Storch bringen sollte, und die Frau des Trommelschlägers war so glücklich in dem Gedankten, sie sah und sah, und sie wünschte, das Kind möchte einen Widerschein von all diesem Glanz bekommen, möchte doch wenigsten einem von den strahlenden Engeln auf dem Altarbild gleichen.
Und als sie dann ihr kleines Kind wirklich in den Armen hielt und es dem Vater hinreichte, da sah es aus wie einer von den Engeln in der Kirche, das Haar war wie Gold, der Schein der untergehenden Sonne lag darauf.
„Mein Goldschatz, mein Reichtum, mein Sonnenschein!“ sagte die Mutter und küßte die strahlenden Locken; und es klang wie Musik und Gesang in des Trommelschlägers Stube; da war Freude und Leben und Bewegung. Der Trommelschläger schlug einen Wirbel, einen Freudenwirbel. Die Trommel ging, die Feuertrommel ging:
„Rotes Haar! Der Junge hat rotes Haar! Glaub dem Trommelfell und nicht den Worten der Mutter! Trommelom! Trommelom!“
Man brachte den Kleinen in die Kirche, er wurde getauft. Er wurde Peter genannt; über den Namen war nichts zu sagen. Die ganze Stadt, die Trommel mit inbegriffen, nannte ihn Peter, den Trommelschlägerjungen mit dem roten Haar; aber seine Mutter küßte ihn auf das rote Haar und nannte ihn Goldschatz.
Im Hohlwege, an der steilen Lehmwand, hatten gar viele ihre Namen eingeritzt, zur Erinnerung.
„Ruhm“, sagte der Trommelschläger, „das ist immer etwas!“ Und dann ritzte er auch seinen Namen und den seines kleinen Sohnes dort ein. Und die Schwalben kamen; sie hatten auf ihren langen Reisen dauerhaftere Schrift in den Felsabhang, in die Wand des Tempels in Hindustan eingeritzt gesehen: große Taten von mächtigen Königen, unsterbliche Namen, so alt, daß jetzt niemand sie mehr lesen oder aussprechen konnte.
Namenswert! Berühmtheit!
Im Hohlweg bauten die Schwalben; sie bohrten sich Löcher in den Abhang, Wind und Regen bröckelten und spülten die Namen hinweg, auch den des Trommelschlägers und seines kleinen Sohnes.
„Peters Name blieb doch anderthalb Jahre stehen!“ sagte der Vater. „Der Tor!“ dachte die Feuertrommel, aber sie sagte nur: „Dum, dum, dum! Dummelum!“
Es war ein Knabe voll Lust und Leben, dieser Trommelschlägerjunge mit dem roten Haar!“ Eine wunderschöne Stimme hatte er, er konnte singen, und er sang wie der Vogel im Walde; da war Melodie und doch keine Melodie.
„Er muß Chorknabe werden“, sagte die Mutter, „in der Kirche singen und dort unter den schönen, vergoldeten Engeln stehen, denen er gleicht!“
„Feuerroter Kater!“ sagten die witzigen Köpfe in der Stadt. Die Trommel hörte es von den Nachbarsfrauen.
„Geh nicht nach Hause, Peter!“ riefen die Straßenjungen. „wenn du im Dachstübchen schläfst, so brennt es im obersten Stockwerk, und die Feuertrommel geht!“
„Nehmt euch in acht vor den Trommelschlegeln!“ sagte Peter; und wie klein er auch war, ging er doch dreist drauflos und hieb gleich dem nächsten die Faust in den Magen, so daß ihm die Beine unterm Leib wegrutschten und die andern die Beine in die Hand nahmen, das heißt, die eigenen.
Der Stadtmusikant war so vornehm und fein, er war der Sohn eines königlichen Silberbewahrers; der fand Gefallen an Peter, nahm ihn stundenlang mit nach Hause, schenkte ihm eine Violine und lehrte ihn spielen; es war, als liege es dem Jungen in den Fingern, er würde mehr als Trommelschläger werden, er würde Stadtmusikant werden.
„Ich will Soldat werden!“ sagte Peter; denn er war noch ein ganz kleiner Junge und fand, das Schönste in der Welt sei, ein Gewehr zu tragen und so gehen zu können: eins, zwei“ eins, zwei! und Uniform und Säbel zu tragen. „Du sollst lernen, dem Trommelfell zu gehorchen! Trommelom! Komm, komm!“ sagte die Trommel. „Ja, wenn er nur bis zum General hinaufmarschieren könnte“, sagte der Vater, „aber dann muß Krieg sein!“
„Davor behüte uns Gott!“ sagte die Mutter.
„Wir haben nichts zu verlieren!“ sagte der Vater.
„Ohne Arme und Beine!“ sagte die Mutter. „Nein, meinen Goldschatz will ich heil und ganz behalten!“
„Trom, trom, trom!“ Die Feuertrommel ging, alle Trommeln gingen. Es war Krieg. Die Soldaten zogen davon, und der Trommelschlägerjunge zog mit. „Rotkopf! Goldschatz!“ Die Mutter weinte; der Vater sah ihn in Gedanken schon ruhmbedeckt, der Stadtmusikant meinte, er solle nicht in den Krieg gehen, sondern bei der Musik daheim bleiben.
„Rotkopf!“ sagten die Soldaten, und Peter lachte; sagte aber einer „Fuchspelz!“ dann biß er den Mund zusammen und sah in die weite Welt hinaus, das Schimpfwort ging ihn nichts an.
Tüchtig war der Junge, frisch war sein Sinn und seine Laune froh, und das sei die beste Feldflasche, sagten die alten Kameraden.
In Wind und Regen, bis auf die Haut durchnäßt, mußte er manch liebe Nacht unter offnem Himmel liegen, aber die gute Laune verließ ihn nicht. Die Trommelschlegel flogen: „Trommelom! Alle Mann auf!“ Ja, wahrlich, er war ein geborener Trommelschläger!
Es war am Morgen der Schlacht. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, die Luft war kalt, der Kampf war heiß, In der Luft hing Nebel, aber noch mehr Pulverdampf. Die Kugeln und Granaten flogen über die Köpfe hinweg und in die Köpfe hinein und in die Leiber und die Glieder; doch vorwärts ging es. Hier und da sank einer in die Knie mit blutiger Schläfe, kreideweiß im Gesicht. Der kleine Trommelschläger hatte seine gesunde Farbe noch; ihm war kein Haar gekrümmt; mit strahlendem Gesicht sah er dem Regimentshund zu, der vor ihm hersprang, so fröhlich, als sei das Ganze ein Scherz, als schlügen die Kugeln nur nieder, um mit ihm zu spielen.
„Marsch! Vorwärts, marsch“, so lauteten die Kommandoworte für die Trommel; und die Worte waren nicht zurückzunehmen; aber sie konnten dennoch zurückgenommen werden, und es kann ein tiefer Sinn darin liegen. Und jetzt hieß es auf einmal: „Rückwärts, marsch!“ aber da schlug der kleine Trommelschläger: „Vorwärts Marsch!“ Er hatte das Kommando so verstanden, und die Soldaten gehorchten dem Trommelfell. Es waren gute Trommelschläge, sie verleihen denen, die im Begriff waren zurückzuweichen, den Sieg. Leben und Glieder wurden in dieser Schlacht eingebüßt. Die Granate zerreißt das Fleisch in blutige Stücke; die Granate zündet den Strohhaufen an, zu dem sich der Verwundete hingeschleppt hat, um viele Stunden, vielleicht für dies ganze Leben verlassen dazuliegen. Es hilft nicht, darüber nachzudenken! Und doch denkt man daran, selbst in weiter Ferne, in der friedlichen Stadt; dort dachten der Trommelschläger und seine Frau daran: Peter war ja mit im Krieg!
„Jetzt hab ich das Gejammer satt!“ sagte die Feuertrommel.
Es war am Morgen der Schlacht; die Sonne war noch nicht aufgegangen. Der Trommelschläger und seine Frau schliefen; sie hatten fast die ganze Nacht gewacht und von dem Sohn geredet; er war ja da draußen -„in Gottes Hand“. Und der Vater träumte, daß der Krieg beendet sei, die Soldaten kehrten heim, und Peter hatte das silberne Kreuz auf der Brust; aber die Mutter träumte, sie komme in die Kirche und sehe die gemalten Bilder und die geschnitzten Engel mit dem vergoldeten Haar an, ihr eigener lieber Junge, ihres Herzens Goldschatz aber stand in weißen Kleidern mitten zwischen den Engeln und sang so herrlich, wie wohl nur Engel singen können, und mit denen hob er sich in den Sonnenschein empor und nickte seiner Mutter so liebevoll zu.
„Mein Goldschatz!“ rief sie und erwachte im selben Augenblick.
„Jetzt hat der liebe Gott ihn zu sich genommen!“ sagte sie, faltete ihre Hände, lehnte den Kopf gegen den Kattun-Bettvorhang und weinte. „Wo ruht er jetzt? Unter den Vielen in dem großen Grab, das sie für die Toten graben? Vielleicht in dem tiefen Moor! Niemand kennt sein Grab! Kein Gotteswort wird darüber gesprochen!“ Und ein Vaterunser glitt lautlos über ihre Lippen. Der Kopf sank herab, sie war so müde und schlummerte ein.
Die Tage gehen dahin, im Leben und im Traum!
Es war gegen Abend; ein Regenbogen spannte sich über der Walstatt aus, er berührte den Wald und das tiefe Moor. Ein alter Aberglaube sagt: wo der Regenbogen die Erde berührt, liegt ein Schatz begraben, ein Goldschatz; auch hier lag einer, niemand dachte an den kleinen Trommelschläger außer seiner Mutter, und daher träumte sie das.
Und die Tage gehen dahin, im Leben wie im Traum!
Nicht ein Haar war auf seinem Haupte gekrümmt, nicht ein Goldhaar. „Trammeram, trammeram, da ist er!“ hätte die Trommel sagen, hätte seine Mutter singen können, wenn sie es gesehen oder geträumt hätte. Mit Gesang und Hurra, mit Siegesgrün ging es heimwärts, als der Krieg beendet, als der Friede geschlossen war. Der Regimentshund sprang in großen Bogen voran, als wollte er sich den Weg dreimal so lang machen, wie er war. Und Wochen vergingen, und Tage vergingen, und Peter trat in die Stube der Eltern; er war so braun wie ein Wilder, seine Augen waren so klar, sein Gesicht strahlte wie eitel Sonnenschein. Und die Mutter hielt ihn in den Armen, küßte seinen Mund, seine Augen, sein rotes Haar. Sie hatte ihren Jungen wieder; er hatte kein silbernes Kreuz auf der Brust, wie es der Vater geträumt hatte, aber er hatte seine heilen Glieder, was die Mutter nicht geträumt hatte. Und das war eine Freude! Sie lachten, und sie weinten. Und Peter umarmte die alte Trommel.
„Da steht ja das alte Gerümpel noch!“ sagte er. Und der Vater schlug einen Wirbel drauf.
„Es ist wirklich, als wenn hier Großfeuer wäre!“ sagte die Feuertrommel.
„Feuer im Dach, Feuer in den Herzen, Goldschatz! Rattatatat, Rattatatat!“
Und dann? Ja, was dann? Frage nur den kleinen Stadtmusikanten.
„Peter wächst über die Trommel hinaus“, sagte der, „Peter wird größer als ich!“ Und er war doch der Sohn eines königlichen Silberbewahrers; aber alles, was er in einem langen Leben gelernt hatte, das lernte Peter in einem halben Jahr. Es lag etwas so Frisches, so Herzensgutes in seiner Natur. Die Augen strahlten, und das Haar strahlte -das ließ sich nicht leugnen.
„Er sollte sein Haar färben lassen!“ sagte die Nachbarin. „Der Tochter des Polizeisergeanten ist es so herrlich geglückt! Und sie hat sich auch verlobt.“
„Aber das Haar ist ja gleich nachher grün wie Entenflott geworden und muß nun fortwährend aufgefärbt werden!“
„Das erlauben ihr ihre Mittel!“ sagte die Nachbarin. „Und Peter hat es ja auch dazu. Er kommt in die vornehmsten Häuser, selbst bei Bürgermeisters, und gibt Fräulein Lotte Klavierstunden.“
Ja, spielen konnte er! Aus seinem Herzen heraus spielen, das schönste Stück das noch auf keinem Notenblatt geschrieben stand. Er spielte in den hellen Nächten, und er spielte in den dunklen Nächten. Es sei nicht auszuhalten, sagten die Nachbarn und die Feuertrommel.
Es spielte, so daß die Gedanken sich emporschwangen und große Zukunftspläne aufstiegen: Ruhm! Und Bürgermeisters Lotte saß am Klavier ihre feinen Finger tanzten über die Tasten hin, so daß es in Peters Herz hineinklang; es war, als werde es ihm viel zu groß. Und das geschah nicht einmal, sondern unzählige Male, und da umfaßte er eines Tages die feinen Finger und die schöngeformte Hand und küßte sie und sah Lotte in die großen braunen Augen; der liebe Gott weiß, was er sagte, wir andern dürfen es erraten. Lotte errötete über Hals und Schultern, nicht ein Wort sagte sie -im selben Augenblick kam Besuch des Etatsrats Sohn, der eine hohe, blanke Stirn hatte, die bis ganz nach hinten, bis in den Nacken hineinreichte. Und Peter saß lange bei ihnen und Lotte sah ihn am freundlichsten an.
Am Abend, daheim, sprach er von der weiten Welt und von dem Geldschatz, der für ihn in der Violine liege: Ruhm!
„Tummelum, tummelum, tummelumsk! sagte die Feuertrommel. „Nein ist es ganz arg mit Peter! Ich glaube, es brennt im Oberstübchen!“
Am nächsten Tag ging die Mutter auf den Markt.
„Weißt du das Neueste, Peter?“ sagte sie, als sie zurückkam. „Ganz was Wunderschönes! Bürgermeisters Lotte hat sich mit Etatrats ihrem Sohn verlobt; gestern abend haben sie Verlobung gefeiert!“
„Nein!“ sagte Peter und sprang vom Stuhl auf. Die Mutter sagte aber: ja; sie hatte es von der Frau des Barbiers gehört, und der ihr Mann hatte es aus des Bürgermeisters eignem Munde.
Und Peter wurde bleich wie eine Leiche, und er setzte sich wieder hin.
„Großer Gott, was fehlt dir nur einmal?“ sagte die Mutter.
„Nichts, nichts! Laßt mich nur!“ sagte er, und die Tränen rannen ihm an den Wangen herab.
„Mein Herzensjunge, mein Goldschatz!“ sagte die Mutter und weinte, aber die Feuertrommel sang inwendig, nicht auswendig: „Lott ist tot, Lott ist tot!“ Ja, nun ist das Lied aus!
Das Lied war nicht aus, da waren noch viele Verse, lange Verse, die allerschönsten, der Goldschatz eines Lebens.
„Wie läuft sie wie verrückt herum und spielt stich auf!“ sagte die Nachbarin. „Alle Welt soll die Briefe lesen, die sie von ihrem Goldschatz kriegt, soll hören, was die Zeitungen von ihm und seiner Violine erzählen. Und Geld schickt er ihr, das hat sie ja auch nötig, jetzt, wo sie Witwe ist.“
„Er spielt vor Kaisern und Königen!“ sagte der Stadtmusikant. „Das war mir nicht beschieden; aber er ist mein Schüler, und er vergißt seinen alten Lehrer nicht.“ „Vater träumte einmal, Peter käme mit dem silbernen Kreuz auf der Brust aus dem Krieg nach Hause“, sagte die Mutter. „Im Krieg hat er es nicht gekriegt, da ist es wohl sehr schwer zu kriegen! Aber nun hat er das Ritterkreuz! Das hätte Vater doch noch erleben sollen!“
„Berühmt!“ sagte die Feuertrommel, und die Geburtsstadt sagte es auch; der Trommelschlägerjunge, Peter mit dem roten Haar, Peter, den sie alle als kleinen Burschen mit Holzschuhen gekannt hatten, den sie als Trommelschläger gesehen und der ihnen zum Tanz aufgespielt hatte, der war jetzt berühmt!
„Er hat uns was vorgespielt, ehe er vor Kaisern und Königen spielte!“ sagte des Bürgermeisters Frau. „Er war damals ganz weg in Lotte! Er hat immer hoch hinaus gewollt. Damals war es unverschämt und töricht! Mein eigener Mann hat gelacht, als er von dem Unsinn hörte! Jetzt ist Lotte Etatsrätin!“
Es war ein Goldschatz in das Herz und die Seele des armen Kindes gelegt, das als kleiner Trommelschläger „Marsch, vorwärts!“ schlug. Siegestöne für die, die im Begriff waren, zu fliehen. In seiner Brust lag ein Goldschatz, ein Quell von Tönen, sie brausten aus seiner Violine, als steckte eine ganze Orgel da drinnen, als tanzten alle die Elfen einer Sommernacht über die Saiten hin; daher rief er auch Entzücken in aller Herzen wach, und sein Name ward durch alle Lande getragen. Es war eine große Feuersbrunst, das Feuer der Begeisterung brannte lichterloh.
„Und dann ist er so schön!“ sagten die jungen Damen, und die alten sagten es auch; ja, die allerälteste schaffte sich ein Album für berühmte Haarlocken an, nur um sich eine Locke von dem reichen, schönen Haarwuchs des jungen Violinspielers ausbitten zu können, einen Schatz, einen Goldschatz.
Und in das ärmliche Stübchen des Trommelschlägers trat der Sohn, fein wie ein Prinz, glücklicher als ein König. Die Augen waren so klar, das Antlitz war eitel Sonnenschein. Und er hielt seine Mutter in den Armen, und sie küßte seinen warmen Mund und weinte so glückselig, wie man vor Freude weint; und er nickte jedem alten Möbel im Zimmer zu, der Kommode mit den Teetassen und den Blumengläsern darauf; er nickte der Bettbank zu, auf der er als kleiner Knabe geschlafen hatte; aber die alte Feuertrommel stellte er mitten in die Stube und sagte zur Mutter und zur Trommel. „Vater würde heute einen Wirbel geschlagen haben! Jetzt muß ich es tun!“
Und er schlug ein wahres Donnerwetter auf der Trommel, und die fühlte sich so geehrt dadurch, daß ihr das Trommelfell zerplatzte.
„Er schlägt eine prächtige Faust!“ sagte die Trommel. „Nun habe ich doch für immer eine Erinnerung an ihn! Ich denk mir, Mutter wird auch noch platzen vor lauter Freude über ihren Goldschatz.“ Das ist die Geschichte vom Goldschatz.

Hans Christian Andersen – Der Halskragen

Hans Christian Andersen

Der Halskragen

Es war einmal ein feiner Herr, dessen sämtliches Hausgerät aus einem
Stiefelknecht und einer Haarbürste bestand, aber er hatte den schönsten
Halskragen von der Welt, und dieser Halskragen ist es, dessen Geschichte
wir hören werden. -Er war nun so alt geworden, daß er daran dachte, sich
zu verheiraten, und da traf es sich, daß er mit einem Strumpfband in die
Wäsche kam. Da meinte der Halskragen: „Habe ich doch nie jemand so schlank und so
fein und so niedlich gesehen. Darf ich um Ihren Namen bitten?“
„Den nenne ich nicht!“ sagte das Strumpfband.
„Wo sind Sie denn zu Hause?“ fragte der Halskragen.
Aber das Strumpfband war berschämt und meinte, es sei doch etwas
sonderbar, darauf zu antworten.
„Sie sind wohl ein Gürtel?“ sagte der Halskragen, „ein Gürtel ist immer zu
tragen. Ich sehe, Sie sind zum Nutzen und auch zum Staat!“
„Sie dürfen nicht mit mir sprechen!“ sagte das Stumpfband, „mich dünkt,
ich habe Ihnen durchaus keine Veranlassung dazu gegeben!“
„Ja, wenn man so schön wie Sie ist“, sagte der Halskragen, „so ist das
Veranlassung genug!“
„Kommen Sie mir nicht so nahe!“ sagte das Strumpfband, „Sie sehen so
männlich aus!“
„Ich bin auch ein feiner Herr!“ sagte der Halskragen, „ich besitze einen
Stiefelknecht und eine Haarbürste!“ Das war nun nicht wahr, denn sein
Herr hatte diese, aber er prahlte.
„Kommen Sie mir nicht so nahe!“ sagte das Strumpfband, „ich bin das
nicht gewohnt!“
„Zierliese!“ sagte der Halskragen, und dann wurden sie aus der Wäsche
genommen; sie wurden gestärkt, hingen auf dem Stuhl im Sonnenschein
und wurden dann aufs Plättbrett gelegt; da kam das warme Eisen. „Liebe Frau!“ sagte der Halskragen, „liebe Frau Witwe. Mir wird ganz
warm! Ich werde ein ganz anderer, ich komme ganz aus den Falten, Sie
brennen mir ein Loch! Uh! -Ich halte um Sie an!“
„Laps!“ sagte das Plätteisen und ging stolz über den Halskragen hin, denn
das bildete sich ein, daß es ein Dampfkessel sei, der in eine Maschine
kommen und Wagen ziehen sollte.
„Laps!“ sagte es.

Hans Christian Andersen – Der kleine Tuk

Hans Christian Andersen

Der kleine Tuk

Ja, das war der kleine Tuk. Er hieß eigentlich nicht Tuk; aber zu jener Zeit, als er noch nicht richtig sprechen konnte, nannte er sich selbst Tuk; das sollte Karl bedeuten, und es ist gut, wenn man das weiß. Er sollte sein Schwesterchen Gustave warten, die viel kleiner als er war, und dann sollte er auch seine Aufgaben lernen; aber diese beiden Dinge wollten sich nicht recht vereinigen lassen. Der arme Knabe saß mit seiner Schwester auf dem Schoße und sang ihr alle Lieder vor, die er wußte. Inzwischen wanderten die Augen verstohlen zu dem Geographiebuche, das aufgeschlagen vor ihm lag. Bis morgen sollte er alle Städte in Seeland auswendig wissen samt allem, was es in ihnen Bemerkenswertes gab.
Nun kam seine Mutter, die fortgewesen war, heim und nahm ihm die kleine Gustave ab. Tuk lief ans Fenster und las, daß er sich fast die Augen ausgelesen hätte; denn es war schon am Dunkelwerden und die Nacht rückte näher und näher. Aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.
„Dort geht die alte Waschfrau aus der Gasse drüben“ sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster sah. „Sie kann sich kaum selbst schleppen und muß doch den Eimer vom Brunnen tragen. Spring Du hinaus, kleiner Tuk, sei ein braver Junge und hilf der alten Frau!“
Tuk sprang gleich hinaus und half. Als er jedoch wieder nachhause kam, war es ganz dunkel geworden; von Licht war keine Rede und er sollte ins Bett. Das war eine alte Schlafbank. Darauf lag er nun und dachte an seine Geographieaufgabe, an Seeland und an alles, was der Lehrer erzählt hatte. Er hätte es freilich lernen müssen, aber das konnte er ja nun nicht. Da steckte er das Geographiebuch unter das Kopfkissen, denn er hatte gehört, daß dies das Behalten seiner Aufgabe bedeutend erleichtern solle. Doch darauf ist kein Verlaß.
Da lag er nun und dachte und dachte, und da war es ihm auf einmal, als ob jemand ihn auf Augen und Mund küsse. Er schlief und schlief doch wieder nicht. Ihm war, als sehe er der alten Waschfrau freundliche Augen auf sich niederschauen, und sie sagte: „Es wäre eine große Schande, wenn Du Deine Aufgabe nicht könntest. Du hast mir geholfen, nun werde ich Dir helfen, und der liebe Gott wird es immer tun.“ Und auf einmal kribbelte und krabbelte das Buch unter dem Kopfe des kleinen Tuk.
„Kikeriki put, put.“ Das war ein Huhn, das hereinspazierte; es kam aus der Stadt Kjöge. „Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge.“ Und dann nannte es die Anzahl der Einwohner und sprach von der Schlacht, die dort geschlagen worden sei, aber das wäre nichts besonderes.
„Kribbel, krabbe!, bums“ da fiel einer. Es war ein Vogel aus Holz, der nun heranmarschierte. Das war der Papagei vom Vogelschießen in Praestö. Er sagte, es wären dort soviele Einwohner, wie er Nägel im Leibe habe; und dann war er auch etwas stolz darauf, daß Thorwaldsen an der Ecke bei ihm gewohnt habe. „Bums, ich liege herrlich!“
Aber der kleine Tuk lag nicht. Er saß auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit leuchtendem Helm und wehendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde. Sie ritten durch den Wald zu der alten Stadt Vordingborg. Das war eine große Stadt voller Leben. Hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter glänzten weit durch die Fenster hinaus. Drinnen war Gesang und Tanz. König Waldemar schritt zum Tanze und mit ihm die geputzten jungen Hofdamen. -Es wurde Morgen, und sobald die Sonne aufging, versank die Stadt und des Königs Schloß; ein Turm nach dem anderen verschwand, zuletzt stand nur noch ein einziger auf der Höhe, wo das Schloß gestanden hatte, und die Stadt war klein und ärmlich geworden. Und es kamen Schuljungen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: „Zweitausend Einwohner.“ Aber das stimmte nicht, so viele waren es nicht.
Und der kleine Tuk lag in seinem Bett; ihm war, als ob er träumte und doch nicht träumte. Aber jemand stand ganz dicht bei ihm.
„Kleiner Tuk! Kleiner Tuk!“ sagte es. Es war ein Seemann, eine ganz kleine Person, als sei er nur ein Kadett; aber es war kein Kadett. „Ich soll Dich vielmals grüßen von Korsör; das ist eine Stadt, die im Aufblühen ist, eine lebhafte Stadt, die Dampfschiffe und Postwagen hat. Früher hatte sie den Ruf, häßlich zu sein, aber das ist eine veraltete Meinung. -Ich liege am Meere, sagt Korsör; ich habe Landstraßen und Lusthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der lustig ist; das sind nicht alle. Ich habe ein Schiff rings um die Welt fahren lassen wollen; ich tat es dann zwar nicht, hätte es aber tun können. Und dann rieche ich so herrlich; dicht am Tore blühen die schönsten Rosen!“
Der kleine Tuk sah sie, es wurde ihm rot und grün vor Augen; aber als wieder Ruhe in das Farbengewirr kam, war es ein waldbewachsener Abhang dicht am klaren Meerbusen. Oben darüber lag eine prächtige, alte Kirche mit zwei hohen, spitzen Kirchtürmen. Von dem Abhange sprudelten Quellen in dicken Wasserstrahlen herab und plätscherten lustig. Dicht dabei saß ein alter König mit einer goldenen Krone auf dem langen Haar; das war König Hroar bei den Quellen. Es war die Stadt Roeskilde, wie man sie nun heißt. Und über den Abhang hin in die alte Kirche hinein schritten alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit ihren goldenen Kronen auf dem Kopfe, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah alles und hörte alles. „Vergiß nicht die Stände!“ sagte König Hroar.
Mit einem Male war alles wieder verschwunden; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt im Buche umwendet. Und nun stand eine alte Frau da; das war eine Jäterin, die aus Sorö kam, wo das Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Linnenschürze über Kopf und Rücken hängen, die war so naß; es mußte geregnet haben. „Ja, das hat es“ sagte sie, und dann erzählte sie allerlei Lustiges aus Holbergs Komödien und wußte auch etwas über Waldemar und Absalon. Plötzlich aber schrumpfte sie zusammen, wackelte mit dem Kopfe und tat, als ob sie springen wolle: „Koax!“ sagte sie; „es ist naß, es ist naß, man schläft gut und still wie im Grabe in Sorö!“ Mit einem Male war sie ein Frosch, „koax“ und dann war sie wieder die alte Frau. „Man muß sich nach dem Wetter kleiden!“ sagte sie. „Es ist naß, es ist naß. Meine Stadt ist grade wie eine Flasche; man muß beim Pfropfen hinein, und da muß man auch wieder heraus! Früher habe ich Fische im Grund meiner Flasche gehabt; jetzt habe ich rotbäckige Knaben da. Bei mir lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Hebräisch! Koax!“ Es klang gerade wie Froschgequak, oder wenn man mit großen Stiefeln in einem Sumpf geht. Es war immer derselbe Ton, so einförmig, so langweilig, so furchtbar langweilig, daß der kleine Tuk in einen tiefen Schlaf fiel, und der tat ihm not.
Aber auch in diesen Schlaf schlich sich ein Traum, oder was es sonst war. Seine kleine Schwester Gustave mit den blauen Augen und dem blonden, lockigen Haar war auf einmal ein erwachsenes, schönes Mädchen und konnte, ohne Schwingen zu haben, fliegen. Und sie flogen über das ganze Seeland, über die grünen Wälder und das blaue Wasser dahin.
Hörst Du den Hahnenschrei, kleiner Tuk? Kikeriki. Die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf. Du bekommst einen Hühnerhof, so groß, so groß! Du wirst nicht Hunger, nicht Not leiden! Den Vogel sollst Du abschießen, wie man so sagt. Du wirst ein reicher und glücklicher Mann. Dein Haus soll prangen wie König Waldemars Turm, und reich wird er gebaut werden, mit Statuen aus Marmor, wie die von der Ecke in Prästö, Du verstehst mich wohl. Dein Name wird voller Ruhm durch die Welt fliegen, wie das Schiff, das von Korsör hätte ausgehen sollen, und in Roeskilde -„Denk an die Stände!“ sagte König Hroar -da wirst Du gut und klug reden, kleiner Tuk! Und wenn Du dann einmal in Dein Grab kommst, dann wirst Du so stille schlafen“, „als läge ich in Sorö!“ sagte Tuk, und dann erwachte er. Es war heller Morgen, und er konnte sich nicht im mindesten mehr auf seinen Traum besinnen; aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was die Zukunft bringen wird.
Und er sprang aus dem Bette und las in seinem Buche, da konnte er seine Aufgabe sogleich. Und die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Türe herein, nickte ihm zu und sagte:
„Schönen Dank für Deine Hilfe gestern, du gutes Kind. Der liebe Gott lasse Deinen schönsten Traum in Erfüllung gehen!“
Der kleine Tuk wußte gar nicht mehr, was er geträumt hatte, aber sieh, der liebe Gott wußte es.

Hans Christian Andersen – Der Kobold und die Madame

Hans Christian Andersen

Der Kobold und die Madame

Den Kobold kennst du; kennst du aber die Madame, die Gärtnersfrau? Sie besaß Bildung, wußte Gedichte auswendig, sie konnte mit Leichtigkeit selber welche schreiben; nur die Reime, „das Klingelingeling“, wie sie es nannte, machten ihr ein wenig Mühe. Sie besaß Schreibtalent und Rednertalent, sie hätte sehr gut Pastor sein können oder doch wenigstens Pastorin.
„Die Erde ist herrlich in ihrem Sonntagskleide!“ sagte sie, und den Gedanken hatte sie in Verse und „Klingeling“ gebracht, hatte ein schönes, langes Lied darüber gemacht.
Der Seminarist, Herr Kisserup, der Name tut nichts zur Sache, des Gärtners Schwestersohn, war zu Besuch im Gärtnerhaus. Er hörte das Gedicht der Madame, und es tue ihm wohl, sagte er, so recht innerlich wohl. „Sie haben Geist, Madame“, sagte er.
„Unsinn!“ sagte der Gärtner. „Setz ihr nicht so was in den Kopf! Eine Frau soll Körper sein, anständiger Körper, und auf ihren Kochtopf achtgeben, damit die Grütze nicht anbrennt!“
„Das Angebrannte nehme ich mit einer Holzkohle weg!“ sagte die Madame. „Und die Verstimmung bei dir nehme ich mit einem kleinen Kuß weg. Man sollte glauben, du dächtest nur an Kohl und Kartoffeln, und doch liebst du die Blumen.“ Und dann küßte sie ihn. „Die Blumen sind der Geist!“ sagte sie.
„Paß auf deinen Kochtopf auf!“ sagte er und ging in den Garten. Der war sein Kochtopf, und auf den gab er acht.
Aber der Seminarist saß bei der Madame und redete mit der Madame. Über ihre schönen Worte „Die Erde ist herrlich“ hielt er ihr gleichsam eine ganze Predigt auf seine Weise.
„Die Erde ist herrlich; machet sie euch untertan, ward gesagt, und wir wurden die Herrschaft. Einer ist es durch den Geist, der andere durch den Körper; der eine ward in die Welt gesetzt als Verwunderungs-Ausrufezeichen, ein anderer als Gedankenstrich, so daß man wohl fragen kann, was soll der hier? Einer wird Bischof, ein anderer nur ein armseliger Seminarist, aber alles ist weise eingerichtet. Die Erde ist herrlich, und sie ist immer im Sonntagskleide. Ihr Gedicht, Madame, war gedankenerweckend, voll Gefühl und Geographie.“ „Sie haben Geist, Herr Kisserup“, sagte die Madame, „viel Geist, das versichere ich Ihnen! Man bekommt Klarheit über sich selber, wenn man mit Ihnen redet!“
Und dann redeten sie weiter, ebenso schön und ebenso gut; aber draußen in der Küche, da redete auch jemand, nämlich der Kobold, der kleine, graugekleidete Kobold mit der roten Mütze.; du kennst ihn! Der Kobold saß in der Küche und war Topfgucker; er redete, aber niemand hörte ihn, außer der großen, schwarzen Mietzekatze, dem „Sahnedieb“, wie die Madame sie nannte.
Der Kobold war so böse auf die Madame, denn sie glaubte nicht an sein Vorhandensein, daß wußte er; sie hatte ihn freilich niemals gesehen, aber bei all ihrer Belesenheit mußte sie doch wissen, daß er existierte, und ihm dann eine kleine Aufmerksamkeit erweisen. Es fiel ihr niemals ein, am Weihnachtsabend auch nur einen Löffel voll Grütze für ihn hinzusetzen, das hatten alle seine Vorfahren bekommen, und zwar von lauter Madams, die gar keine Gelehrsamkeit besaßen. Die Grütze hatte in Butter und Sahne geschwommen. Der Katze wurde ganz feucht um den Bart, wenn sie nur davon hörte.
„Sie nennt mich einen Begriff“, sagte der Kobold, „Das geht wirklich über meine Begriffe. Sie verleugnet mich ja! Das hab ich ihr abgelauert, und nun habe ich wieder gelauert. Sie sitzt da und säuselt dem Seminaristen, diesem Büchsenspanner, was vor. Ich sage mit Vatern: „Paß du auf deinen Kochtopf auf!“ Das tut sie aber nicht, und nun will ich dafür sorgen, daß er überkocht!“
Und der Kobold blies ins Feuer, daß es aufflackerte und brannte. „Surre­rurre-rug!“, da kochte der Kochtopf über.
„Jetzt will ich hineingehen und Löcher in Vaters Socken zupfen!“ sagte der Kobold. „Ich will ein großes Loch in den Hacken und in die Zehe bohren, dann hat sie was zu stopfen, wenn sie nicht dichten muß. Dicht-Madame, stopf Vaters Strümpfe!“
Die Katze mußte niesen; sie war erkältet, obwohl sie immer mit einem Pelz ging.
„Ich habe die Speisekammertür aufgemacht“, sagte der Kobold, „da steht aufgekochte Sahne, so dick wie Mehlpaps. Willst du nicht naschen, so werde ich es tun!“
„Wenn ich doch die Schuld und die Prügel bekommen, so will ich doch auch wenigstens von der Sahne schlecken!“ sagte die Katze. „Erst die Sahne, dann die Haue!“ sagte der Kobold. „Aber nun will ich in des Seminaristen Stube gehen, seine Tragbänder über den Spiegel hängen und seine Socken in die Waschschüssel legen, dann glaubt er, daß derPunsch zu stark gewesen ist und daß ihm wirr im Kopfe ist. Über Nacht saß ich auf dem Holzstapel neben der Hundehütte; es ist mein größtes Vergnügen, den Kettenhund zu necken; ich ließ meine Beine herabhängen und baumelte damit. Der Hund konnte sie nicht erreichen, wie hoch er auch sprang; das ärgerte ihn. Er kläffte und kläffte, ich baumelte und baumelte; es war ein Spektakel. Der Seminarist erwachte davon; er stand dreimal auf und guckte, aber er sah mich nicht, obwohl er eine Brille aufhatte; er schläft immer mit der Brille!“
„Sag miau, wenn die Madame kommt!“ sagte die Katze. „Ich höre nicht gut, ich bin heute krank.“
„Du bist nur schleckkrank!“ sagte der Kobold. „Schleck drauflos, schleck die Krankheit weg! aber trockne dir den Bart, damit keine Sahne daran hängenbleibt! Ich will jetzt hingehen und lauschen.
Und der Kobold stand an der Tür, und die Tür stand angelehnt, da war niemand im Zimmer als die Madame und der Seminarist. Sie sprachen über das, was man, wie sich der Seminarist schön ausdrückte, in jedem Hause über Kochtöpfe und Kessel setzen sollte: über die Gaben des Geistes.
„Herr Kisserup“, sagte die Madame, „nun will ich Ihnen in bezug hierauf etwas zeigen, was ich bisher noch keiner menschlichen Seele, am allerwenigsten aber einem Manne, gezeigt habe, nämlich meine kleinen Dichtungen, einige sind ja freilich ein wenig lang. Jetzt sollen Sie sie hören.“
Und sie entnahm der Schublade ein Schreibheft mit hellgrünem Umschlag und zwei Tintenklecksen.
„Es steht viel Erst in dem Buch!“ sagte sie. „Ich habe am meisten Sinn für das Traurige. Da ist „Der Seufzer in der Nacht“, „Mein Abendrot“ und „Als ich Klemmensen bekam“, Das letztere können Sie überschlagen, obwohl viel Gefühl und tiefe Gedanken darin sind. „Hausfrauenpflichten“ ist das beste! Aber alle Gedichte sind traurig, darin liegt nun einmal meine Begabung. Nur eins ist in scherzendem Ton gehalten, das sind einige muntere Gedanken, wie man sie ja auch haben kann -Sie müssen nicht über mich lachen! -Gedanken darüber -wenn man Dichterin ist. Das kenne nur ich selber und meine Schublade, und nun kennen Sie es, Kerr Kisserup! Ich liebe die Poesie, sie kommt so über mich, sie neckt mich, sie beherrscht, regiert mich. Ich habe das in dem Gedicht „Der kleine Kobold“ zum Ausdruck gebracht. Sie kennen ja den alten Volksglauben von dem Hauskobold, der stets sein Spiel im Hause treibt. Ich habe mir gedacht, daß ich selber das Haus bin und daß die Poesie, die Gefühle in mir, der Kobold sind, der Geist, der regiert; seine Macht, seine Gewalt habe ich in „Der kleine Kobold“ besungen. Aber Sie müssen mir geloben, daß sie das niemals an meinen Mann oder an sonst jemand verraten. Lesen Sie es laut, damit ich hören kann, ob sie meine Schrift lesen können.“
Und der Seminarist las, und die Madame hörte zu, und der kleine Kobold hörte zu; er horchte, wie du ja weißt, und war gerade in dem Augenblickgekommen, als die Überschrift „Der kleine Kobold“ gelesen wurde.
„Das betrifft mich ja!“ sagte er. „Was kann sie nur über mich geschrieben haben? Ja, ich will sie schon zwicken; ich nehme ihr die Eier weg, nehme ihr die Küchlein weg, jage dem Fettkalb das Fett ab. Sie sollen mich schon kennenlernen, Madame!“
Und er lauschte mit spitzem Mund und langen Ohren; aber je mehr er von der Herrlichkeit und Macht des Kobolds, von seiner Gewalt über die Madame hörte -damit meinte sie ja, wie du wohl weißt, die Dichtkunst,aber der Kobold hielt sich wörtlich an die Überschrift -, um so heller wurde sein Lächeln, um so mehr strahlten seine Augen vor Freude, es kam etwas Vornehmes in seine Mündwinkel; er hob seine Fersen in die Höhe, stand auf den Zehenspitzen, wurde einen ganzen Zoll größer als sonst; er war entzückt über alles, was von dem kleinen Kobold gesagt wurde.
„Die Madame hat Geist und große Bildung! Wie hab ich der Frau doch unrecht getan! Sie hat mich in ihre Dichtung eingereiht, ich werde gedruckt und gelesen werden! Von nun an soll die Katze nicht mehr Erlaubnis haben, ihre Sahne zu trinken, das werde ich selber tun! Einer trinkt weniger als zweie, das ist immer eine Ersparnis, und die will ich einführen, und die Madame will ich achten und ehren.“
„Er ist ja der reine Mensch, dieser Kobold!“ sagte die Katze. „Nur ein süßes Miau von der Madame, ein Miau über ihn selber, und dann ist er gleich andern Sinnes. Sie ist schlau, die Madame!“
Aber die Madame war gar nicht schlauch, aber der Kobold war so, wie sonst die Menschen sind.
Wenn du diese Geschichte nicht verstehen kannst, so darfst du fragen; aber den Kobold muß du nicht fragen und die Madame auch nicht.

Hans Christian Andersen – Der Komet

Hans Christian Andersen

Der Komet

Und der Komet kam, schimmerte mit seinem Feuerkern und drohte mit seinem Schweif; er ward betrachtet aus dem reichen schloß, aus der armen Hütte, aus dem Menschengedränge auf der Straße und von dem einsamen Wanderer, der über die wegelose Heide schritt. Ein jeder hatte seinen Gedanken dabei.
»Kommt und seht das Zeichen des Himmel! Kommt und seht den prachtvollen Anblick!« sagte man, und alle beeilten sich, zu sehen.
Aber drinnen im Zimmer saßen noch ein kleiner Knabe und seine Mutter; das Talglicht brannte, und die Mutter glaubte, einen Hobelspan im Licht zu sehen; der Talg bildete eine Spitze und krümmte sich, das bedeutete, so glaubte sie, daß der kleine Knabe bald sterben müsse, der Hobelspan wandte sich ja ihm zu.
Das war ein alter Aberglaube, und den teilte sie.
Der kleine Knabe sollte aber noch viele Jahre auf der Erde leben, sollte leben und den Kometen sehen, wenn sich der nach mehr als sechzig Jahren wieder blicken ließ.
Der kleine Knabe sah nicht den Hobelspan im Licht, dachte auch nicht an den Kometen, der zum erstenmal in seinem Leben vom Himmel herabschien. Er saß, eine genietete Spülkumme vor sich, da; in der Kumme war Seifenwasser und dahinein tauchte er den Kopf einer kleinen tönernen Pfeife, setzte dann die Röhre an den Mund und machte Seifenblasen, kleine und große; sie bebten und schwebten in den herrlichsten Farben, sie gingen von Rot in Gelb, in Lila und Balu über, und dann wurden sie grün wie das Blatt des Waldes, wenn die Sonne hindurchschimmert.
»Gott schenke dir so viele Jahre hier unten auf der Erde, wie du Seifenblasen machst!«
»So viele, so viele!« sagte der Kleine. »Das Seifenwasser kann nie alle werden!« Und der Kleine blies eine Blase nach der anderen in die Luft hinein.
»Da fliegt ein Jahr! Da fliegt noch ein Jahr! Sieh nur, wie sie fliegen!« sagte er bei jeder Seifenblase, die sich loslöste und flog. Ein paar flogen ihm gerade in die Augen hinein; das biß und brannte, Tränen traten ihm in die Augen. In einer jeden Blase sah er ein Zukunftsbild, schimmernd, glitzernd.
»Jetzt kann man den Kometen sehen!« riefen die Nachbarn, »Kommt doch heraus und seht!«
Und die Mutter nahm den Kleinen bei der Hand, er mußte die tönerne Pfeife hinlegen, das Spiel mit den Seifenblasen unterbrechen; der Komet war da.
Und der Kleine sah die schimmernde Feuerkugel mit dem strahlenden Schweif, einige sagten, er sei drei Ellen lang, andere behaupteten, er messe Millionen Ellen; man sieht so verschieden.
Die meisten von denen, die das sagten, waren auch tot und begraben, als er sich wieder zeigte; aber der kleine Knabe, für den sich der Hobelspan im Licht gebildet hatte und von dem die Mutter glaubte, daß er bald sterben würde, der lebte noch, war als und weißhaarig. »Weiße Haare sind die Blüten des Alters!« sagt das Sprichwort, und er hatte viele von den Blüten; er war jetzt ein alter Schulmeister.
Die Schulkinder sagten, er sei so klug, er wisse so viel, er wußte Geschichte und Geographie und was man von den Himmelskörpern kennt.
»Aller kehrt wieder!« sagte er. »Gebt nur acht auf die Personen und Ereignisse, und ihr werdet erfahren, daß sie alle wiederkehren, in anderem Gewand, in anderem Land.«
Und der Schulmeister hatte gerade von Wilhelm Tell erzählt, der einen Apfel von seines Sohnes Haupt schießen mußte, aber ehe er den Pfeil abschoß, barg er einen zweiten auf seiner Brust, um ihn dem bösen Geßler ins Herz zu schießen. Das geschah in der Schweiz, aber viele Jahre früher war genau dasselbe in Dänemark mit Palnatoke geschehen; der sollte auch einen Apfel von seines Sohnes Haupt schießen und steckte, wie Tell, einen Pfeil beiseite, mit dem er sich rächen wollte; und vor mehr als tausend Jahren ward dieselbe Geschichte niedergeschrieben, die sich inÄgypten zugetragen hatte; es kehrt alles wieder so wie die Kometen, sie fahren hin verschwinden und kehren wieder.
Und der sprach von dem Kometen, der erwartet wurde, von dem Kometen, den er als kleiner Junge gesehen hatte. Der Schullehrer kannte die Himmelskörper, dachte über sie nach, vergaß aber darüber keineswegs die Weltgeschichte und die Geographie.
Seinen Garten hatte er in der Form der Landkarte von Dänemark angelegt. Hier standen Kräuter und Blumen, wie sie in den verschiedenen Gegenden des Landes Heimisch sind. »Holt mir Erbsen!« sagte er, und dann ging man nach dem Beet, das Laaland darstellte. »Holt mir Buchweizen!« und dann ging man nach Langeland. Der schöne blaue Enzian und der Porsch waren hoch oben bei Skagen zu finden, der schimmernde Christdorn drüben bei Silkeborg. Die Städte selber waren durch Postamente angedeutet. Hier stand St. Knud mit dem Lindwurm, das bedeutete Odense; Absalom mit dem Bischofsstab bedeutete Sorö; das kleine Fahrzeug mit den Rudern war das Kennzeichen, daß hier Aarhus lag. Aus dem Garten des Schulmeistern lernte man sehr gut die dänische Landkarte; aber erst mußte man ja von ihm belehrt werden, und das war gar ergötzlich.
Jetzt war der Komet in Aussicht, und von dem erzählte er, und er erzählte auch, was die Leute in alten Zeiten, als er zuletzt hier war, gesagt und geweissagt hatten. »Das Kometenjahr ist ein gutes Weinjahr!« sagte er. »Man kann den Wein mit Wasser verdünnen, ohne das es jemand merkt. Die Weinhändler sollen die Kometenjahre sehr lieben.«
Vierzehn Tage und vierzehn Nächte war die ganze Luft mit Wolken angefüllt, man konnte den Kometen nicht sehen, aber er war da. Der alte Schulmeister saß in seiner kleinen Kammer dicht neben der Schulstube. Die Bornholmer Uhr aus der Zeit seiner Eltern stand in der Ecke, die schweren Bleilote hoben sich nicht und sanken auch nicht. der Perpendikel rührte sich nicht; der kleine Kuckuck, der ehemals herauskam und die Stunden rief, hatte mehrere Jahre lang schweigend hinter dem geschlossenen Deckel gesessen; alles war stumm und still da drinnen, die Uhr ging nicht mehr. Aber das alte Klavier dicht dabei, das auch aus der Zeit der Eltern stammte, hatte noch Leben, die Saiten konnten noch klingen, freilich ein wenig heiser, konnten die Melodien eines ganzen Menschenalters singen. Der alte Mann ward dadurch an so vieles erinnert, an Frohes und Trauriges, während einer ganzen Reihe von Jahren, von der Zeit an, da er als kleiner Knabe den Kometen sah, bis auf heute, wo er wieder hier war. Er erinnerte sich dessen, was die Mutter von dem Hobelspan im Licht gesagt hatte, er erinnerte sich der herrlichen Seifenblasen, die er gemacht hatte; eine jede sei ein Lebensjahr, hatte sie gesagt, wie schimmernd, wie farbenreich! Alles Schöne und Erfreuliche hatte er darin gesehen: Kinderspiele und Jugendlust, die ganze weite Welt lag im Sonnenschein offen vor ihm, und dahinaus sollte er! Es waren Zukunftsblasen. Als alter Mann tönten ihm aus den Saiten des Klaviers Melodien aus entschwundenen Zeiten entgegen: Erinnerungsblasen mit dem Farbenschimmer der Erinnerungen; da erklang Großmutters Stricklied:
»Wohl keine Amazone hat den ersten Strumpf gestrickt.« Da erklang das Lied, da die alte Magd des Hauses ihm als Kind gesungen:
»Gar mancherlei Gedanken hienieden muß bestehn, wer jung und unerfahren und wenig hat gesehn!«
Ja, dann ertönten die Melodien, von dem ersten Ball, ein Menuett und ein Molinaski; jetzt klangen weiche, wehmutsvolle Töne, die Augen des alten Mannes füllten sich mit Tränen, jetzt brauste ein Kriegsmarsch, jetzt kam ein geistliches Lied, dann folgten untere Töne, eine Blase nach der andern, wie zu der Zeit, da er als kleiner Knabe Blasen aus dem Seifenwasser in die Luft hinausgesandt hatte.
Sein Auge war auf das Fenster gerichtet, eine Wolke da draußen am Himmel glitt fort, er sah in der klaren Luft den Kometen, seinen schimmernden Kern, einen leuchtenden Nebelschleier.
Es war, als habe er ihn erst gestern abend gesehen, und doch lag ein ganzes reiches Menschenleben zwischen damals und jetzt; damals war er ein Kind und sah in den Blasen »vorwärts«, jetzt zeigten die Blasen »zurück«. In ihm regten sich Kindersinn und Kinderglaube, seine Augen strahlten, seine Hand sank auf die Tasten nieder – es klang, als zerspringe eine Saite.
»Kommt doch und seht, der Komet ist da!« wurde von den Nachbarn gerufen. »Der Himmel ist so herrlich klar! Kommt doch heraus, damit ihr ihn recht sehen könnt!«
Der alte Schulmeister antwortete nicht, er war auf dem Wege dahin, wo man so recht sehen kann; seine Seele schwebte auf größeren Bahnen, in einen weiteren Raume, als ihn der Komet durchfliegt.
Und der Komet ward wieder von allen betrachtet, aus dem reichen Schloß, aus der armen Hütte, aus dem Gedränge auf der Straße und von dem Einsamen auf der wegelosen Heide.
Die Seele des alten Mannes aber schaute Gott an, schaute die lieben Heimgegangenen an, nach denen er sich gesehnt hatte.

Hans Christian Andersen – Der Kragen

Hans Christian Andersen

Der Kragen

Es war einmal ein feiner Kavalier, dessen Hausgerät aus einem Stiefelknecht und einem Kragen bestand; aber er hatte den schönsten Kragen von der Welt. Und von diesem Kragen sollen wir jetzt eine Geschichte hören. -Er war nun so alt geworden, daß er daran dachte, sich zu verheiraten; da traf es sich, daß er mit einem Strumpfband zusammen in die Wäsche kam.
„Nein,“ sagte der Kragen, „noch nie habe ich etwas so Schlankes und Feines gesehen, nie etwas so Weiches und Niedliches! Darf ich um Ihren Namen bitten?“
„Den sage ich nicht“ sagte das Strumpfband.
„Wo sind Sie denn zu Hause?“ fragte der Kragen.
Aber das Strumpfband war sehr schüchtern und fand es ungehörig, darauf zu antworten.
„Sie sind wohl ein Gürtel?“ fragte der Kragen, „so ein inwendiger Gürtel? Ich sehe, Sie sind sowohl zum Nutzen als zum Putzen, liebes Fräulein.“
„Sie dürfen mich nicht ansprechen“ sagte das Strumpfband. „Ich glaube nicht, daß ich Ihnen Veranlassung dazu gegeben hätte.“
„Wenn man so schön ist wie Sie,“ sagte der Kragen, „so ist das Veranlassung genug.“
„Kommen Sie mir nicht zu naher“ sagte das Strumpfband. „Sie sehen so männlich aus.“
„Ich bin auch ein feiner Kavalier“ sagte der Kragen. „Ich habe einen Stiefelknecht und einen Kamm.“ Das war ja nun nicht wahr, denn sie gehörten seinem Herrn, aber er prahlte.
„Kommen Sie mir nicht so naher“ sagte das Strumpfband. „Daran bin ich nicht gewöhnt!“
„Zimperliese“ sagte der Kragen, und dann wurden sie aus der Wäsche genommen! Sie wurden gestärkt, hingen im Sonnenschein auf einem Stuhl und wurden dann auf das Plättbrett gelegt; da kam das warme Eisen. „Liebe Frau!“ sagte der Kragen. „Liebe Wittfrau! Mir wird ganz heiß. Ich werde ein ganz anderer, ich komme ganz aus der Form, Sie brennen mir ein Loch! Hu! -Ich bitte um Ihre Hand.“
„Laps“ sagte das Plätteisen und glitt stolz über den Kragen hin; denn es bildete sich ein, es sei ein Dampfkessel, der zur Eisenbahn hinaus und dort Wagen ziehen sollte.
„Laps.“ sagte es.
Der Kragen faserte an den Rändern ein wenig, da kam die Papierschere und sollte die Fasern abschneiden.
„O,“ sagte der Kragen“ „Sie sind sicherlich erste Tänzerin. Wie Sie die Beine strecken können. Das ist das Hübscheste, was ich je gesehen habe! Das kann kein Mensch Ihnen nachmachen!“
„Das weiß ich“ sagte die Schere.
„Sie verdienten, eine Gräfin zu sein“ sagte der Kragen. „Alles was ich besitze, ist ein feiner Kavalier, ein Stiefelknecht und ein Kamm . Hätte ich nur eine Grafschaft dazu.“
„Er macht wohl gar einen Antrag“ sagte die Schere; sie wurde jetzt böse und gab ihm noch einen tüchtigen Schnitt. Dann war er entlassen.
„Ich werde wohl letzten Endes um den Kamm anhalten müssen. -Es ist doch merkwürdig, daß Sie alle ihre Zähne behalten, liebes Fräulein“ sagte der Kragen. „Haben Sie nie daran gedacht, sich zu verloben?“
„Ja, das können Sie sich doch denken!“ sagte der Kamm. „Ich bin ja mit dem Stiefelknecht verlobt!“
„Verlobt“ sagte der Kragen. Jetzt gab es keine mehr, um die er hätte anhalten können, und deshalb verachtete er das Freien.
Eine lange Zeit verging. Dann kam der Kragen in den Kasten beim Papiermüller. Dort war eine große Lumpengesellschaft, die feinen für sich und die groben für sich, wie es sich gehört. Alle hatten viel zu erzählen, aber der Kragen am meisten, denn er war ein ordentlicher Prahlhans.
„Ich habe so schrecklich viele Geliebte gehabt,“ sagte der Kragen, „daß ich Tag und Nacht keine Ruhe hatte. Aber ich war auch ein feiner Kavalier, immer gestärkt. Ich hatte einen Stiefelknecht und einen Kamm, die ich nie gebrauchtet. Sie hätten mich sehen sollen damals, sehen sollen, wenn ich auf der Seite lag. Nie werde ich meine erste Geliebte vergessen; sie war ein Gürtel, so fein, so weich und so niedlich. Sie stürzte sich in ein Waschfaß um meinetwillen! -Da war auch eine Wittfrau, die für mich erglühte, aber ich ließ sie stehen und schwarz werden. Dann war da noch die erste Tänzerin; sie brachte mir den Riß bei, mit dem ich mich jetzt noch trage. Sie war so bissig! Mein eigener Kamm war in mich verliebt und verlor alle Zähne vor Liebeskummer. Ja, derartiges habe ich viel erlebt! Aber am meisten schmerzt mich die Geschichte mit dem Strumpfband -ich meine, dem Gürtel, der sich ins Waschfaß stürzte. Ich habe viel auf dem Gewissen; ich sehne mich danach, wieder ein unbeschriebenes Blatt zu werden!“
Und das wurde er; alle Lumpen wurden zu weißem Papier, aber der Halskragen wurde gerade zu dem Stück weißen Papiers, was wir hier sehen und worauf die Geschichte gedruckt ist. Und das geschah, weil er so fürchterlich mit allem möglichen hinterher geprahlt hatte, obgleich sich die Geschichten ganz anders zugetragen hatten. Und daran sollen wir denken, damit wir es nicht ebenso machen, denn man kann nie wissen, ob wir nicht auch einmal im Lumpenkasten enden und weißes Papier werden und dann unsere ganze Geschichte samt allen Geheimnissen aufgedruckt bekommen, so daß wir damit herumlaufen und sie selbst erzählen müssen, wie es dem Kragen geschah.

Hans Christian Andersen – Der Krüppel

Hans Christian Andersen

Der Krüppel

Es war einmal ein altes Schloß mit jungen, prächtigen Edelleuten. Reichtum und Segen hatten sie, amüsieren wollten sie sich, und Gutes taten sie. Alle Menschen wollten sie froh machen, so wie sie selber es waren.
Am Weihnachtsabend stand ein prächtiger, wunderschöner Weihnachtsbaum im alten Rittersaal, wo Feuer in den Kaminen brannte und wo Tannenzweige um die alten Bilder gehängt waren. Hier versammelten sich die Herrschaft und die Gäste, es wurde gesungen und getanzt.
Früher am Abend war schon Weihnachtsfreude in der Gesindestube gewesen. Auch hier stand ein großer Tannenbaum mit brennenden roten und weißen Lichtern, kleinen Danebrogflaggen, ausgeschnittenen Schwänen und Fischernetzen, die mit Bonbons gefüllt waren. Die armen Kinder aus dem Dorfe waren eingeladen; jedes hatte seine Mutter mitgebracht. Die sahen nicht viel nach dem Baume hin, sie sahen nur nach den Weihnachtstischen, wo Wolle und Leinwand, Stoff zu Kleidern und Hosen lag. Ja, dahin sahen die Mütter und die erwachsenen Kinder, nur die ganz kleinen streckten die Hände nach den Lichtern, dem Flittergolde und den Flaggen aus.
Die ganze Versammlung kam früh am Nachmittag, bekam Reisbrei und Gänsebraten mit Rotkohl. Wenn dann der Tannenbaum besehen und die Gaben verteilt waren, bekam jeder ein kleines Glas Punsch und Apfelkuchen mit Apfelmus darin.
Sie kamen heim in ihre eigene, arme Stube, und es wurde von »der guten Lebensweise« geredet, das heißt, von den Eßwaren, und die Gaben wurden noch einmal ordentlich besehen.
Da waren nun Garten-Kirsten und Garten-Ole. Wie waren miteinander verheiratet und hatten ihr Haus und ihr tägliches Brot, und dafür mußten sie im Schloßgarten jäten und graben. Jede Weihnachten bekamen sie ihren guten Anteil an den Geschenken; sie hatten auch fünf Kinder, alle fünf wurden von der Herrschaft gekleidet.
»Unsere Herrschaft, das sind wohltätige Leute!« sagten sie. »Aber sie können es auch, und es macht ihnen Vergnügen!« »Hier sind gute Kleider für die vier Kinder gekommen!« sagte Garten-Ole. »Aber da ist ja nichts für den Krüppel. Den pflegen sie ja doch sonst auch zu bedenken, obwohl er nicht mit zum Tannenbaum kommen kann!«
Es war das älteste von den Kindern, das sie »den Krüppel« nannten, er war sonst auf den Namen Hans getauft.
Als kleines Kind war er das munterste und lebhafteste von ihnen allen, aber dann wurde er auf einmal »schlaff in den Beinen«, wie sie es nannten, er konnte weder stehen noch gehen und lag nun schon im fünften Jahr zu Bett.
»Ja, etwas habe ich auch für ihn mitbekommen!« sagte die Mutter. »Aber es ist ja nichts weiter, es ist nur ein Buch, worin er lesen kann!«
»Davon soll er auch wohl fett werden!« sagte der Vater.
Aber froh wurde Hans dadurch. Er war ein sehr aufgeweckter Knabe, der gern las, aber er benutzte auch seine Zeit zur Arbeit, soweit er, der immer zu Bett liegen mußte, Nutzen schaffen konnte. Er machte sich mit seinen Händen nützlich, er brauchte seine Hände, strickte wollene Strümpfe, ja ganze Bettdecken. Die gnädige Frau auf dem Schlosse hatte sie gelobt und gekauft. Es war ein Märchenbuch, das Hans bekommen hatte; darin war viel zu lesen, vieles, worüber er nachdenken konnte.
»Das schafft gar keinen Nutzen im Hause!« sagten die Eltern. »Aber laßt ihn nur lesen, dann vergeht ihm die Zeit schneller, er kann ja nicht immer Strümpfe stricken!«
Der Frühling kam; Blumen und Kräuter begannen zu sprießen, auch das Unkraut.
Es war viel zu tun im Schloßgarten, nicht nur für den Schloßgärtner und seine Lehrlinge, sondern auch für Garten-Kirsten und Garten-Ole.
»Das ist eine furchtbare Mühe!« sagten sie. »Und wenn man die Gänge eben geharkt hat und sie so recht hübsch gemacht hat, dann werden sie gleich wieder zertreten. Hier ist ein Ein-und Auswandern von Gästen auf dem Schloß. Was muß das kosten! Aber die Herrschaft ist ja reich!«
»Es ist doch sonderbar verteilt!« sagte Ole. »Wir sind ja alle Kinder unseres lieben Gottes, wie der Pfarrer sagt. Warum dann solch ein Unterschied?«
»Das kommt vom Sündenfall!« sagte Kirsten.
Darüber sprachen sie am Abend wieder, als der Krüppel-Hans mit seinem Märchenbuch dalag. Bedrängte Verhältnisse, Mühe und Arbeit hatten die Hände der Altern hart gemacht, aber sie waren auch hart in ihrem Urteil und ihren Ansichten geworden; sie begriffen es nicht, konnten es sich nicht erklären und redeten und redeten sich nun immer mehr in Zorn und Mißmut hinein.
»Einige Menschen bekommen Wohlstand und Glück, andere nur Armut! Warum sollen wir für den Ungehorsam und die Neugier unserer ersten Eltern bestraft werden. Wir hätten uns nicht so betragen wie die beiden!«
»Ja, das hätten wir!« sagte auf einmal Krüppel-Hans. »Es steht alles zusammen hier in diesem Buch!«
»Was steht in dem Buch?« fragten die Eltern.
Und Hans las ihnen das alte Märchen von dem Holzbauer und seiner Frau vor: die schalten auch über die Neugier von Adam und Eva, die an ihrem Unglück schuld waren. Da kam der König des Landes vorüber. »Kommt mit mir nach Hause«, sagte er, »dann sollt ihr es ebenso gut haben wie ich: sieben Gerichte und ein Schaugericht. Das steht in einer geschlossenen Terrine, die dürft ihr aber nicht anrühren, denn dann ist es mit der Herrlichkeit vorbei!« -»Was kann doch in der Terrine sein?« sagte die Frau. »Das geht uns nichts an!« sagte der Mann. »Ja, ich bin nicht neugierig«, sagte die Frau, »ich möchte nur wissen, warum wir den Deckel nicht aufheben dürfen; es ist wohl was ganz Delikates!« -»Wenn nur nicht eine Mechanik dabei ist!« sagte der Mann. »So ein Pistolenschuß, der knallt und das ganze Haus aufweckt.« -»Ach was!« sagte die Frau, rührte aber nicht an der Terrine. Aber des Nachts träumte sie, daß der Deckel selbst sich hebe und ein Duft vom feinsten Punsch, wie man ihn auf Hochzeiten und Begräbnissen bekommt, der Terrine entsteige. Es lag eine große silberne Münze da mit der Inschrift: »Wenn ihr von diesem Punsch trinket, so werdet ihr die Reichsten in der Welt, und alle andern Menschen werden Bettler!« -Und dann erwachte die Frau, und sie erzählte ihrem Mann ihren Traum. »Du denkst zu viel an die Sache!« sagte er. »Wir können ja mit Vorsicht den Deckel aufheben!« sagte die Frau. »Ganz vorsichtig!« sagte der Mann.
Und die Frau hob den Deckel ganz vorsichtig auf. -Da sprangen zwei kleine lebendige Mäuse heraus und verschwanden in einem Mauseloch. »Gute Nacht!« sagte der König. »Nun könnt ihr nach Hause gehen und euch in euer eigenes Bett legen. Scheltet nicht mehr auf Adam und Eva, ihr selber seid ebenso neugierig und undankbar gewesen!«
»Wie ist doch die Geschichte da in das Buch gekommen?« sagte Garten-Ole. »Es ist ja ganz, als ob sie uns gelten sollte. Das ist so recht zum Nachdenken!« Am nächsten Tage gingen sie wieder auf Arbeit; sie wurden von der Sonne verbrannt und von dem Regen durchnäßt: in ihren Herzen waren zornige Gedanken, an denen sie fortwährend kauten.
Es war noch heller Abend daheim, sie hatten eben ihren Milchbrei gegessen. »Lies uns noch einmal die Geschichte von dem Holzbauer vor«, sagte Garten-Ole.
»Da sind so viele hübsche Geschichten im Buch!« sagte Hans. »So viele, die ihr noch nicht kennt!«
»Darauf mache ich mir gar nicht!« sagte Garten-Ole. »Ich will die hören, die ich kenne!«
Und er und die Frau hörten wieder dieselbe Geschichte.
Und immer wieder kamen sie auf die Geschichte zurück.
»So recht erklären kann ich mir das Ganze doch nicht!« sagte Garten-Ole. »Es ist mit dem Menschen wie mit der süßen Milch, die gerinnt; ein Teil davon wird feiner Käse, und aus dem andern wird nichts als dünne, wässerige Molke! Einige Leute haben Glück in allem, sitzen alle Tage an der Festtafel und kennen weder Sorge noch Mühe!«
Das hörte der Krüppel-Hans. Wohl war er schlaff in den Beinen, aber er war klug. Er las ihnen die Geschichte von »dem Mann ohne Kummer und Sorge« aus dem Märchenbuch vor. Ja, wo war der zu finden, und gefunden werden mußte er.
Der König lag krank danieder und konnte nur geheilt werden, wenn er das Hemd anbekam, das von einem Menschen getragen und auf dem Körper verschlissen war, der in Wahrheit sagen konnte, daß er niemals Kummer und Sorge gekannt hatte.
Boten wurden in alle Länder der Welt entsandt, auf alle Schlösser und Rittergüter, zu allen wohlhabenden und frohen Menschen; aber wenn man sie richtig ausfragte, so hatte doch jeder von ihnen Sorge und Kummer kennengelernt.
»Ich habe sie nicht kennengelernt!« sagte der Schweinehirt, der am Grabenrand saß, lachte und sang. »Ich bin der glücklichste Mensch!«
»Dann gib uns dein Hemd«, sagten die Botschafter, »du sollst es mit einem halben Königreich bezahlt bekommen.«
Aber er hatte kein Hemd -und nannte sich doch den glücklichsten Menschen.
»Das war ein famoser Kerl!« rief Garten-Ole, und er und seine Frau lachten, wie sie seit Jahr und Tag nicht gelacht hatten. Da kam der Schullehrer vorbei.
»Wie vergnügt ihr seid!« sagte er. »Das ist etwas Seltenes und Neues hier im Hause. Habt ihr in der Lotterie gewonnen?«
»Nein, so was ist es nicht!« sagte Garten-Ole. »Aber Hans hat uns aus dem Märchenbuch vorgelesen; er las von dem »Mann ohne Kummer und Sorge«, und der Kerl hatte gar nicht mal ein Hemd. Einem geht ein helles Talglicht auf, wenn man so was hört, und noch dazu aus einem gedruckten Buch. Jeder hat wohl seine Last zu ziehen; man ist wohl nicht der einzige. Das ist doch immer ein Trost!«
»Wo habt ihr das Buch her?« fragte der Schullehrer.
»Das hat Hans vor mehr als einem Jahr zu Weihnachten bekommen. Die Herrschaft hat es ihm geschenkt. Sie wissen, daß er so gern lesen mag, und er ist ja ein Krüppel! Wir hätten es damals lieber gesehen, wenn er zwei Hemden aus Wergleinwand bekommen hätte. Aber das Buch ist sonderbar, das kann einem wirklich auf alle Gedanken antworten!«
Der Schullehrer nahm das Buch und öffnete es.
»Wir wollen dieselbe Geschichte noch einmal hören!« sagte Garten-Ole. »Ich weiß sie noch nicht richtig. Und dann muß er auch die von dem Holzbauer vorlesen!«
Die beiden Geschichten waren und blieben genug für Ole. Sie waren wie zwei Sonnenstrahlen in der armen Stube, in den niederdrückenden Gedanken, die sie verdrießlich und unzufrieden machten.
Hans hatte das ganze Buch gelesen, viele Male gelesen. Die Märchen trugen ihn in die Welt hinaus, wohin ihn die Beine nicht tragen konnten.
Der Schullehrer saß an seinem Bett; sie sprachen zusammen, und das war ein Vergnügen für die beiden.
Seit dem Tage kam der Schullehrer öfter zu Hans, wenn die Eltern auf Arbeit waren. Es war wie ein Fest für den Jungen, jedesmal wenn er kam. Wie lauschte er dem, was der alte Mann erzählte, von der Größe der Erde und von den vielen Ländern, und daß die Sonne noch fast eine halbe Million mal größer sei als die Erde und so weit entfernt, daß eine Kanonenkugel in voller Eile fünfundzwanzig ganze Jahre von der Sonne bis zur Erde braucht, während die Lichtstrahlen die Erde in acht Minuten erreichen können.
Hierüber weiß nun jeder tüchtige Schuljunge Bescheid, aber für Hans war das alles neu und noch viel wunderbarer als alles, was in dem Märchenbuch stand. Der Schullehrer kam ein paarmal im Jahr an die Tafel der Herrschaft, und bei einer solchen Gelegenheit erzählte er, welche Bedeutung das Märchenbuch in dem armen Haus erlangt habe und wie allein die zwei Geschichten zur Erweckung und zum Segen geworden seien. Der schwächliche, kleine Junge habe durch das Lesen Nachdenken und Freude ins Haus gebracht.
Als der Schullehrer sich verabschiedete, drückte ihm die Schloßherrin ein paar blanke Silbertaler in die Hand für den kleinen Hans.
»Die müssen Vater und Mutter haben!« sagte der Junge, als der Schullehrer ihm das Geld brachte.
Und Garten-Ole und Garten-Kirsten sagte: »Der Krüppel-Hans ist doch zum Nutzen und Segen!«
Ein paar Tage später, die Eltern waren auf Arbeit im Schloßgarten, hielt der herrschaftliche Wagen draußen vor dem Hause; es war die herzensgute Schloßherrin, die kam, erfreut darüber, daß ihr Weihnachtsgeschenk zu einem solchen Trost und so viel Freude für den Knaben und die Eltern geworden war.
Sie brachte feines Brot, Obst und eine Flasche süßen Saft mit; aber was noch schöner war, sie brachte ihm in einem vergoldeten Bauer einen kleinen schwarzen Vogel, der ganz allerliebst flöten konnte. Das Bauer mit dem Vogel wurde auf die alte Kommode gesetzt, ein wenig von dem Bett des Knaben entfernt; er konnte den Vogel sehen und seinen Gesang hören. Ja, die Leute, die auf der Landstraße vorüberkamen, konnten den Gesang hören.
Garten-Ole und Garten-Kirsten kamen erst nach Hause, nachdem die gnädige Frau wieder weggefahren war, sie merkten, wie froh Hans war, aber sie fanden doch, daß das Geschenk nur Mühe machte.
»Reiche Leute denken nicht recht nach!« sagten sie. »Sollen wir nun auch auf den Vogel aufpassen. Der Krüppel-Hans kann es ja nicht. Das Ende wird noch sein, daß ihn die Katze frißt!«
Es vergingen acht Tage, und noch acht Tage vergingen; die Katze war während der Zeit manchmal in der Stube gewesen, ohne den Vogel zu erschrecken, geschweige denn, ihm etwas zuleide zu tun. Dann ereignete sich etwas sehr Großes. Es war am Nachmittag, die Eltern und die andern Kinder waren auf Arbeit gegangen, Hans war ganz allen; er hatte das Märchenbuch in der Hand und las von der Frau des Fischers, der sämtliche Wünsche erfüllt wurden. Sie wolle König sein, das wurde sie; sie wollte Kaiser sein, das wurde sie; aber dann wollte sie der liebe Gott sein -und dann saß sie wieder in dem Morast, aus dem sie gekommen war. Die Geschichte stand nun in gar keinem Zusammenhang mit dem Vogel oder der Katze, aber es war gerade die Geschichte, die er las, als das Ereignis eintraf, das er nie wieder vergessen sollte.
Das Bauer stand auf der Kommode, die Katze stand auf dem Fußboden und sah starr mit ihren grüngelben Augen zu dem Vogel hinauf. Da war etwas im Gesicht der Katze, als wolle sie zu dem sagen: »Wie bist du reizend, ich möchte dich wohl auffressen!«
Das konnte Hans verstehen; er las es ganz deutlich aus dem Gesicht der Katze.
»Weg, Katze!« rief er. »Willst du wohl machen, daß du aus der Stube hinauskommst!«
Es war, als schickte sie sich an, zu springen.
Hans konnte sie nicht erreichen, hatte nichts anderes, womit er nach ihr werfen konnte, als seinen liebsten Schatz, das Märchenbuch. Das warf er denn auch, aber der Einband löste sich, flog nach der einen Seite, und das Buch selber mit allen seinen Blättern flog nach der anderen Seite. Mit langsamen Schritten ging die Katze ein wenig in das Zimmer zurück und sah Hans an, als wollte sie sagen: »Mische du dich nicht in diese Sache, kleiner Hans! ich kann gehen, und ich kann springen, du kannst nichts von beidem!«
Hans behielt die Katze im Auge und war in großer Unruhe. Der Vogel wurde auch unruhig. Kein Mensch war da, den er hätte rufen können; es war, als wüßte die Katze das. Sie schickte sich wieder an, zu springen. Hans schlug mit seiner Bettdecke nach ihr, die Hände konnte er gebrauchen; aber die Katze kehrte sich nicht an die Bettdecke; und als auch die nutzlos nach ihr geworfen war, sprang sie in einem Satz auf den Stuhl hinauf und in den Fensterrahmen hinein, hier war sie dem Vogel näher.
Hans konnte sein eigenes warmes Blut im seinem Körper spüren, aber daran dachte er nicht; er dachte nur an die Katze und an den Vogel. Allein konnte er ja nicht aus dem Bett herauskommen; auf den Beinen konnte er nicht stehen, nach weniger konnte er gehen. Es war, als ob sich ihm das Herz im Leibe umdrehe, als er die Katze von dem Fensterbrett gerade auf die Kommode hinüberspringen und an das Bauer stoßen sah, so daß es herunterfiel. Der Vogel flatterte ängstlich dadrinnen.
Hans stieß einen Schrei aus, ein Schrecken durchlief ihn, und ohne daran zu denken, sprang er aus dem Bett, auf die Kommode zu, riß die Katze herunter und hielt das Bauer fest, in dem der Vogel in Todesangst umherflatterte. Er hielt das Bauer in der Hand und lief damit zur Tür hinaus auf die Landstraße.
Da rollten ihm die Tränen über die Wangen; er jubelte und rief ganz laut: »Ich kann gehen! Ich kann gehen!«
Er hatte seine Beweglichkeit wieder bekommen; so etwas kann geschehen, und bei ihm geschah es.
Der Schullehrer wohnte ganz in der Nähe, und zu ihm lief er auf seinen nackten Füßen, nur in Hemd und Jacke und mit dem Vogel in dem Bauer.
»Ich kann gehen!« rief er. »Herr, mein Gott!« Und er schluchzte vor lauter Freude. Und Freude ward im Hause bei Garten-Ole und Garten-Kirsten. »Einen froheren Tag könnten wir nicht erleben!« sagten die beiden.
Hans wurde auf das Schloß gerufen. Diesen Weg war er seit vielen Jahren nicht gegangen: es war, als ob die Bäume und Nußbüsche, die er so gut kannte, ihm zunickten und sagten: »Guten Tag, Hans! Willkommen hier draußen!« Die Sonne schien ihm ins Gesicht, bis ins Herz hinein.
Die Herrschaft, die jungen, herzensguten Edelleute, ließen ihn bei sich sitzen und sahen so froh aus, als ob er zu ihrer eigenen Familie gehörte.
Am glücklichsten aber war die gnädige Frau, die ihm das Märchenbuch geschenkt und den kleinen Singvogel gebracht hatte, der war freilich vor Schrecken gestorben, aber er war gleichsam das Mittel zu seiner Genesung geworden, und das Buch war ihm und den Eltern zur Erweckung geworden; das Buch hatte er noch, das wollte er aufbewahren und darin lesen, wenn er auch schon ganz alt sein würde. Jetzt konnte er auch seinen Eltern von Nutzen sein. Er wollte ein Handwerk lernen, am liebsten Buchbinder werden. »Denn«, sagte er, »dann kann ich alle neuen Bücher zu lesen bekommen!«
Am Nachmittag ließ die gnädige Frau die Eltern zu sich rufen. Sie und ihr Mann hatten zusammen von Hans geredet; er war ein frommer und kluger Junge, hatte Lust zum Lernen, und es war ihm leicht. Der liebe Gott ist immer für eine gute Sache.
An dem Abend kamen die Eltern recht froh vom Schloß nach Hause, besonders Kirsten, aber eine Woche später weinten sie, denn da reiste der kleine Hans; er hatte gute Kleider bekommen; er war ein guter Junge; aber jetzt sollte er über das salzige Wasser, weit fort, in die Schule geschickt werden, in eine gelehrte Schule, und es würden viele Jahre vergehen, ehe sie ihn wiedersahen. Das Märchenbuch bekam er nicht mit, das wollten die Eltern zum Andenken behalten. Und der Vater las oft darin, aber immer nur die zwei Geschichten, denn die kannte er.
Und sie bekamen Briefe von Hans, einer immer glücklicher als der andere. Er war bei guten Menschen, in guten Verhältnissen, und am allerschönsten war es, zur Schule zu gehen; da war so viel zu lernen und zu wissen; er wünschte nur, daß er hundert Jahre alt werden möchte und daß er einmal Schullehrer werden könnte.
»Wenn wir das erleben sollten!« sagten die Eltern, und die drückten einander die Hände wie beim Abendmahl.
»Was ist doch nur aus Hans geworden!« sagte Ole. »Der liebe Gott denkt doch auch an die armen Kinder! Gerade bei dem Krüppel sollte sich das zeigen! Ist es nicht, als ob Hans uns das alles aus dem Märchenbuch vorgelesen hätte!«

Hans Christian Andersen – Der letzte Tag

Hans Christian Andersen

Der letzte Tag

Der heiligste von allen unseren Lebenstagen ist der Tag, an dem wir sterben; das ist der letzte Tag, der heilige, große Tag der Verwandlung. Hast Du schon einmal von rechtem Ernste erfüllt über diese mächtige, und allen gewisse letzte Stunde auf Erden nachgedacht?
Da war einmal ein Mann, ein Strenggläubiger, wie er genannt wurde, ein Streiter für das Wort, das ihm Gesetz war, ein eifernder Diener eines eifernden Gottes. -Nun stand der Tod an seinem Bette. Der Tod mit seinem strengen himmlischen Antlitz.
„Die Stunde ist gekommen, da Du mir folgen sollst!“ sagte der Tod; er berührte mit seinen eiskalten Händen seine Füße und sie erstarrten; der Tod berührte seine Stirn, und dann sein Herz, und es brach bei der Berührung und die Seele folgte dem Engel des Todes.
Aber in den wenigen Sekunden vorher, während der Weihe vom Fuße über die Stirn bis zum Herzen, brauste, wie eines Meeres große, schwere Woge, alles, was das Leben gebracht und erweckt hatte, über den Sterbenden dahin. So sieht man mit einem Blick hinab in die schwindelnde Tiefe und erfaßt mit einem blitzartigen Gedanken den unübersehbaren Weg, so sieht man mit einem Blick das zahllose Sternengewimmel, erkennt Körper und Welten im weiten Raume.
In solchem Augenblick schaudert der entsetzte Sünder und hat nichts, auf das er sich stützen könnte, es ist, als sänke er tief in eine unendliche Leere. Aber der Fromme birgt sein Haupt in Gottes Schoß und ergibt sich ihm wie ein Kind: „Dein Wille geschehe mit mir.“
Doch dieser Sterbende hatte nicht eines Kindes Sinn; er fühlte, daß er Mann war. Er schauderte nicht wie der Sünder, er wußte, er war ein Rechtgläubiger. Die Gesetze der Religion hatte er in all ihrer Strenge erfüllt. Millionen, wußte er, mußten den breiten Weg der Verdammnis beschreiten; mit Schwert und Feuer hätte er ihren Leib hier zerstören mögen, wie ihre ganze Seele es bereits war und ewig bleiben würde! Sein Weg ging nun gen Himmel, wo ihm die Gnade die Tore öffnen würde, die verheißene Gnade.
Und die Seele ging mit dem Engel des Todes, aber einmal noch blickte sie zurück zu dem Lager, wo ihre irdische Hülle in dem weißen Totenhemd lag. Ein fremder Abdruck ihres Ich. -Und sie flogen und sie gingen -es war wie in einer mächtigen Halle und doch wie in einem Walde. Die Natur war beschnitten, gespannt, aufgebunden und in Reihen gestellt, verkünstelt, wie in den alten französischen Gärten; es war eine Maskerade.
„So ist das Menschenleben“ sagte der Engel des Todes.
Alle Gestalten waren mehr oder weniger vermummt; es waren nicht immer die edelsten und mächtigsten, die mit Samt und Gold bekleidet waren, und es waren nicht die niedrigsten und geringsten, die in den Armeleutekleidern steckten. -Es war eine wunderliche Maskerade. Ganz besonders seltsam war es zu sehen, wie jeder unter seinen Kleidern sorgfältig etwas vor dem anderen verbarg; aber der eine riß am anderen, bis es zum Vorschein kam, und da sah man den Kopf eines Tieres hervorkommen; bei dem einen war es ein grinsender Affe, bei einem anderen ein häßlicher Ziegenbock, eine feuchte Schlange oder ein matter Fisch.
Es war das Tier, das wir alle in uns tragen, das Tier, das in jedem Menschen mit ihm zugleich wächst. und es hüpfte und sprang und wollte heraus, aber jeder hielt die Kleider fest darüber. Die anderen jedoch zerrten sie beiseite und riefen: „Siehst Du, sieh, das ist sie.“ Und einer entblößte des anderen Erbärmlichkeit.
„Und welches Tier war in mir?“ fragte die wandernde Seele; und der Engel des Todes zeigte auf eine stolze Gestalt vor ihnen, um deren Haupt eine buntschillernde Glorie sich zeigte. Aber am Herzen des Mannes verbargen sich die Füße des Tieres, eines Pfauen Füße; der Glorienschein war nur des Vogels bunter Schweif.
Und als sie weiter wanderten, schrieen große Vögel widerlich kreischend von den Zweigen der Baume; mit deutlich vernehmbaren Menschenstimmen kreischten sie: „Du Wanderer des Todes, denkst Du an mich?“ -Das waren alle die bösen Gedanken und Begierden aus den Tagen seines Lebens, die ihm jetzt zuriefen: „Denkst Du an mich?“ ­
Und die Seele schauderte einen Augenblick, denn sie erkannte die Stimmen, die bösen Gedanken und Begierden, die hier als Zeugen auftraten.
„In unserem Fleisch, in unserer bösen Natur wohnt das Gute nicht“ sagte die Seele, „aber die Gedanken wurden bei mir nicht zu Taten, die Welt hat ihre böse Frucht nicht gesehen!“ Und sie eilte vorwärts, um dem widerlichen Geschrei zu entgehen, aber die großen schwarzen Vögel umschwebten sie rings im Kreise und schrien und kreischten, als solle es über die ganze Welt gehört werden. Sie sprang wie die gejagte Hindin, und bei jedem Schritt stieß sie mit dem Fuße auf scharfe Feuersteine, die die Füße zerschnitten, daß es schmerzte. „Woher kommen diese scharfen Steine? Wie welkes Laub liegen sie auf der Erde.“
„Das ist jedes unvorsichtige Wort, das Du fallen ließest und das Deines Nächsten Herz weit tiefer versehrte, als jetzt die Steine Deinen Fuß.“
„Das habe ich nicht bedacht!“ sagte die Seele.
„Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet!“ erklang es durch die Luft. „Wir haben alle gesündigt!“ sagte die Seele und erhob sich wieder. „Ich habe das Gesetz und das Evangelium gehalten, ich habe getan, was ich tun konnte, ich bin nicht wie die anderen.“
Und sie standen an der Himmelspforte, und der Engel, der Hüter des Eingangs, fragte: „Wer bist Du? Bekenne mir Deinen Glauben und zeige ihn mir in Deinen Taten!“
Ich habe alle Gebote strenge erfüllt. Ich habe mich vor den Augen der Welt gedemütigt, ich habe das Böse und die Bösen gehaßt und verfolgt, sie, die auf dem breiten Weg zur ewigen Verdammnis schreiten, und das will ich noch jetzt mit Feuer und Schwert, wenn ich die Macht dazu habe.“
„Du bist also einer von Mohammeds Bekennern!“ sagte der Engel.
„Ich? -Niemals.“
„Wer zum Schwerte greifet, soll durch das Schwert umkommen, sagt der Sohn! Seinen Glauben hast Du nicht. Bist Du vielleicht ein Sohn Israels, der mit Moses spricht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ein Sohn Israels, dessen eifernder Gott nur Deines Volkes Gott ist?“
„Ich bin ein Christ!“
„Das erkenne ich weder in Deinem Glauben noch in Deinen Taten. Christi Lehre ist Versöhnung, Liebe und Gnade.“
„Gnade!“ erklang es durch den unendlichen Raum und die Himmelspforte öffnete sich und die Seele schwebte der offenen Herrlichkeit entgegen.
Aber das Licht, das herausströmte, war so blendend, so durchdringend, daß die Seele zurückwich wie vor einem gezogenen Schwerte. Die Töne erklangen so weich und ergreifend, wie keine irdische Zunge es wiedergeben kann, und die Seele bebte und beugte sich tiefer und immer tiefer; doch die himmlische Klarheit durchdrang sie und sie fühlte und empfand, was sie niemals zuvor gefühlt hatte, die Bürde ihres Hochmutes, ihrer Härte und Sünde. -Es wurde licht in ihr.
„Was ich Gutes tat in der Welt, das tat ich, weil ich nicht anders konnte, aber das Böse -das kam aus mir selbst!“ Und die Seele fühlte sich von dem reinen, himmlischen Lichte geblendet; ohnmächtig versank sie, so schien es ihr, in sich selbst verkrümmt in die Tiefe. Gebeugt, unreif für das Himmelreich und mit den Gedanken bei dem strengen, gerechten Gott, wagte sie nicht hervorzustammeln: „Gnade.“
Und nun war die Gnade da, die nicht erwartete Gnade.
Gottes Himmel war überall im unendlichen Raum, Gottes Liebe durchströmte ihn in unerschöpflicher Fülle.
„Werde heilig, herrlich, liebreich und ewig, o Menschenseele!“ klang es und sang es. Und alle, alle sollten wir an unseres irdischen Lebens letztem Tage, wie die Seele hier, zurückbeben vor des Himmelreichs Glanz und Herrlichkeit, sollten uns beugen und tief und demütig niedersinken und doch getragen von seiner Liebe, seiner Gnade, aufrecht erhalten werden, schwebend in neuen Bahnen, geläutert, edler und besser, und immer näher des Lichtes Herrlichkeit, bis wir, von ihm gestärkt, Kraft erhalten, um zur ewigen Klarheit emporzusteigen.