Hans Christian Andersen – Das Wichtelmännchen und der Höker

Hans Christian Andersen

Das Wichtelmännchen und der Höker

Es war einmal ein richtiger Student; er wohnte in der Dachkammer und besaß nichts. Und es war ein richtiger Höker, er wohnte im Parterre und besaß das ganze Haus, und zu ihm hielt sich das Wichtelmännchen, denn hier bekam es jeden Weihnachtsabend seine Schüssel Grütze mit einem großen Klumpen Butter darin! Das konnte der Höker geben; und das Wichtelmännchen blieb im Laden, das war recht lehrreich.
Eines Tages kam der Student durch die Hintertür, um in eigener Person sein Licht und seinen Käse einzukaufen. Er hatte niemand zum Schicken und deshalb ging er selbst. Er bekam, was er verlangte, er bezahlte es und der Höker und seine Frau nickten ihm Guten Abend zu. Das war eine Frau, die mehr konnte als nicken, sie hatte Redegaben. -Und der Student nickte auch, blieb aber stehen und las ganz vertieft in dem Blatt Papier, das um den Käse gewickelt war. Es war ein Blatt, aus einem alten Buche gerissen, das nicht hätte in Stücke zerrissen werden dürfen, denn es war ein altes Buch voller Poesie.
„Da liegt noch mehr davon“ sagte der Höker, „ich gab einer alten Frau ein paar Kaffeebohnen dafür; wenn Sie mir dafür acht Schilling geben wollen, sollen Sie den Rest haben.“
„Schönen Dank!“ sagte der Student, „geben Sie es mir anstelle des Käse! Ich kann heute Abend unbelegtes Butterbrot essen! Es wäre ja sündhaft, wenn das ganze Buch entzwei gerissen werden sollte. Sie sind ein prächtiger Mann, ein praktischer Mann, aber auf Poesie verstehen Sie sich nicht mehr, als diese Bütte hier.“
Das war unartig gesagt, besonders gegen die Bütte, doch der Höker lachte und der Student lachte, denn es war ja halb im Scherze gesagt. Aber das Wichtelmännchen ärgerte sich, daß man solche Dinge einem Höker sagen durfte, der Hauswirt war und die beste Butter verkaufte.
Als es Nacht wurde, der Laden geschlossen und alle zu Bette gegangen waren bis auf den Studenten, ging das Wichtelmännchen hinein und nahm das Maulwerk der Hökersfrau, sie brauchte es ja nicht, während sie schlief. Wo in der Stube er es auf einen Gegenstand setzte, bekam dieser Sprache und konnte seine Gedanken und Gefühlen ebensogut aussprechen wie die Frau; aber nicht mehr als einer konnte es auf einmal haben, und das war ein Segen, denn sonst wären sie sich gegenseitig übers Maul gefahren.
Nun setzte das Wichtelmännchen das Maulwerk auf die Bütte, worin die alten Zeitungen lagen. „Ist es wirklich wahr, daß Sie nicht wissen, was Poesie ist?“
„Ja, das weiß ich!“ sagte die Bütte, „das ist so etwas, was in den Zeitungen unter dem Strich steht und ausgeschnitten wird. Ich glaube, daß ich mehr davon in mir habe als der Student, und doch bin ich nur eine geringe Bütte beim Höker.“
Und das Wichtelmännchen setzte das Maulwerk auf die Kaffeemühle, nein, wie es bei ihr ging! Und er setzte es auf das Butterfäßchen und die Geldschublade -alle waren derselben Meinung wie die Bütte, und worüber die meisten sich einig sind, das muß man respektieren.
„Nun soll es der Student haben!“ damit ging das Wichtelmännchen ganz leise die Hintertreppe hinauf bis an die Dachkammer, wo der Student wohnte. Es war Licht drinnen, und das Wichtelmännchen guckte durch das Schlüsselloch und sah, daß der Student in dem zerfetzten Buche von unten las. Aber wie hell es da drinnen war. Aus dem Buche drang ein leuchtender Strahl hervor, er wurde zu einem Stamm, einem mächtigen Baum, der sich hoch erhob und seine Zweige weit über den Studenten hinbreitete. Jedes Blatt war frisch und jede Blüte ein schönes Mädchenantlitz mit Augen so dunkel und strahlend, und anderen blau und klar. Jede Frucht war ein leuchtender Stern und in den Zweigen sang und klang es so herrlich und wundersam!
Nein, solche Herrlichkeit hätte sich das kleine Wichtelmännchen niemals träumen lassen. Niemals hatte es Ähnliches vernommen. Und so blieb es auf den Zehenspitzen stehen und guckte und guckte, bis das Licht drinnen ausging. Der Student blies wohl seine Lampe aus und ging zu Bett, aber der kleine Wichtel stand noch immer da, denn der Gesang ertönte weiter und war so sanft und liebevoll wie ein Schlummerlied für den Studenten, der sich zur Ruhe legte.
„Hier ist es unsagbar schön“ sagte der kleine Wichtel, „das hätte ich nicht erwartet! Ich glaube, ich werde bei dem Studenten bleiben -und er dachte darüber nach -dachte ganz vernünftig nach; dann seufzte er: „Der Student hat keine Grütze“ -und dann ging er -Ja, dann ging er wieder hinab zu dem Höker. Und es war gut, daß er kam, denn die Bütte hatte das Maulwerk der Frau beinahe verbraucht, indem sie alles, was sie in sich aufgespeichert hatte, von der einen Seite von sich gab, und sie war gerade im Begriff, sich umzudrehen und es von der anderen Seite auch noch von sich zu geben, als das Wichtelmännchen kam und das Maulwerk wieder der Frau aufsetzte. Der ganze Laden jedoch, von der Geldschublade bis zum Brennholz hinab, richtete seit dieser Zeit seine Meinung nach der Bütte und achtete sie in einem solchen Grade und traute ihr soviel zu, daß von nun an, wenn der Höker in seiner Zeitung die Kunst-und Theatermitteilungen las, sie glaubten, daß sie von der Bütte herrührten.
Doch das kleine Wichtelmännchen saß nicht länger ruhig und lauschte all der Weisheit und dem Verstande hier unten, nein, sobald das Licht aus der Bodenkammer schimmerte, war es gerade, als seien die Lichtstrahlen ein starkes Ankertau, das ihn hinaufzog.
Und er mußte laufen und durch das Schlüsselloch gucken, und dort umbrauste ihn dann eine Größe, wie wir sie am rollenden Meere fühlen, wenn Gott im Sturme darüber hingeht, und er brach in Tränen aus; er wußte selbst nicht, weshalb er weinte, aber es waren so wohltuende Tränen. -Wie unvergleichlich schön mußte es sein, mit dem Studenten unter dem Baume zu sitzen, aber es sollte nicht sein, er war ja auch schon froh am Schlüsselloche. Dort stand er noch auf dem Gange, als der Herbstwind zu den Bodenluken hereinblies, und es war so kalt, so kalt, aber das fühlte der Kleine erst, wenn das Licht drinnen in der Dachkammer ausging und die Töne im Winde ersterben. Hu, dann fror er und kroch wieder hinunter in sein warmes Eckchen; dort war es angenehm und behaglich. Und als die Weihnachtsgrütze mit einem großen Klumpen Butter kam, ja, da war der Höker Meister.
Aber mitten in der Nacht erwachte das Wichtelmännchen durch ein fürchterliches Gepolter an den Fensterläden. Die Leute donnerten von außen dagegen, der Wächter pfiff, es war eine große Feuersbrunst; die ganze Straße glühte lichterloh. War es hier im Hause oder bei den Nachbarn? Wo? Das war ein Entsetzen. Die Hökersfrau war so bestürzt, daß sie ihre goldenen Ohrringe aus den Ohren nahm und sie in die Tasche steckte, um doch etwas zu retten. Der Höker lief zu seinen Obligationen und das Dienstmädchen nach seiner Seidenmantille, die zu kaufen ihr kürzlich ihre Mittel gestattet hatten. Jeder wollte das Beste retten, und das wollte auch der kleine Wichtel. In ein paar Sprüngen war er die Treppe hinauf und beim Studenten drinnen, der ganz ruhig am offenen Fenster stand und auf das Feuer herabsah, das im gegenüberliegenden Hause ausgebrochen war. Der kleine Wichtel griff nach dem wunderbaren Buche auf dem Tisch, steckte es in seine rote Kappe und hielt es mit beiden Händen fest. Des Hauses bester Schatz war gerettet! Und dann rannte er davon, aufs Dach und ganz oben auf den Schornstein hinauf, und dort saß er dann, von dem brennenden Hause gegenüber beleuchtet, und beide Hände fest um seine rote Kappe gepreßt, worin der Schatz lag. Nun erkannte er sein innerstes Herz und wem er eigentlich zugehörte, als jedoch später das Feuer gelöscht war und er seine Besinnung wiederfand, ja, da sagte er: „Ich will mich zwischen sie teilen. Ich kann mich von dem Höker nicht ganz lossagen, wegen der Grütze.“
Und das war ja auch ganz menschlich! -Wir anderen gehen ja auch zum Höker –wegen der Grütze.

Hans Christian Andersen – Der alte Grabstein

Hans Christian Andersen

Der alte Grabstein

In einem der kleinen Marktflecken bei einem Manne, der seinen eigenen Hof hatte, saß abends in der Jahreszeit, in der die Abende länger werden, die ganze Familie im Kreise zusammen. Es war noch milde und warm. Die Lampe war angezündet, die langen Gardinen hingen vor den Fenstern nieder, auf denen Blumentöpfe standen, und draußen war herrlicher Mondschein. Aber davon sprachen sie nicht, sie sprachen von einem alten, großen Stein, der unten im Hofe lag, dicht bei der Küchentür, wohin die Mädchen oft das geputzte Kupferzeug stellten, damit es in der Sonne trocknen sollte, und wo die Kinder gern spielten, es war eigentlich ein alter Grabstein.
„Ja,“ sagte der Hausherr, „ich glaube, er stammt aus der alten, abgebrochenen Klosterkirche. Die Kanzel, die Denkmäler und die Grabsteine wurden ja verkauft! Mein seliger Vater kaufte mehrere davon; sie wurden zu Pflastersteinen zerschlagen, aber dieser Stein blieb übrig und liegt seitdem im Hofe.“
Man kann wohl sehen, daß es ein Grabstein ist“, sagte das älteste von den Kindern. „Es ist darauf noch ein Stundenglas und ein Stück von einem Engel zu sehen, aber die Inschrift, die darauf gestanden hat, ist schon verwischt außer dem Namen Preben und einem großen ,S‘, das gleich dahinter steht, und ein bißchen weiter unten steht ,Marthe‘. Mehr kann man nicht herausbekommen und auch das ist nur deutlich zu sehen, wenn es geregnet hat oder wir ihn gewaschen haben.“
„Herrgott, das ist Preben Svanes und seiner Frau Leichensteint“ sagte ein alter, alter Mann im Zimmer. Seinem Alter nach hätte er gut und gerne der Großvater all der Alten und Jungen, die hier versammelt waren, sein können. „Ja, das Ehepaar war eines der letzten, die auf dem alten Klosterkirchhofe beerdigt worden sind! Das war ein altes, ehrenhaftes Paar aus meinen Knabenjahren! Alle kannten sie, und alle liebten sie; sie waren das Alters-Königspaar hier in der Gegend. Die Leute sagten von ihnen, daß sie über eine Tonne Gold besäßen, doch gingen sie einfach gekleidet. im gröbsten Zeug, aber ihr Linnen war blendend weiß. Das war ein prächtiges altes Paar. Preben und Marthe. Wenn sie auf der Bank oben auf der großen Steintreppe des Hauses saßen, über die der alte Lindenbaum seine Zweige breitete, und sie so freundlich und milde nickten, wurde man ordentlich fröhlich. Sie waren unendlich gutherzig gegen die Armen! Sie speisten sie und kleideten sie, und es war Vernunft und wahres Christentum in all ihren Wohltaten. Zuerst starb die Frau. Ich entsinne mich noch so gut des Tages. Ich war ein kleiner Knabe und mit meinem Vater drinnen beim alten Preben, als sie gerade hinübergeschlummert war. Der alte Mann war so bewegt, er weinte wie ein Kind. Die Tote lag noch in der Schlafkammer, dicht neben dem Zimmer, in dem wir saßen. Und er sprach zu meinem Vater und ein paar Nachbarn davon, wie einsam es nun sein würde, wie gut sie gewesen sei, wieviele Jahre sie zusammen gelebt hätten und wie es zugegangen wäre, daß sie einander kennen gelernt und sich lieb gehabt hätten. Ich war, wie gesagt, klein und stand und hörte zu, aber es erfüllte mich seltsam stark, dem alten Mann zu lauschen und zu sehen, wie er immer lebhafter wurde und rote Wangen bekam, als er vom Verlobungstage sprach und davon, wie lieblich sie gewesen wäre und wieviele unschuldige, kleine Umwege er gemacht hätte, um mit ihr zusammenzutreffen. Und er erzählte vom Hochzeitstag; seine Augen leuchteten auf dabei, er lebte sich gleichsam wieder zurück in die schönen Zeiten damals, und sie lag dicht dabei in der Kammer, tot, eine alte Frau, und er war ein alter Mann und sprach von den Zeiten der Hoffnung! -ja, ja, so gehts! Damals war ich ein Kind nur, und heute bin ich alt, alt wie Preben Svane. Die Zeit vergeht und alles verändert sich! Ich erinnere mich noch gut ihres Begräbnistages. Der alte Preben ging dicht hinter dem Sarge her. Ein paar Jahre vorher hatte das Ehepaar seinen Grabstein meißeln lassen mit Inschrift und Namen, bis auf den Todestag. Der Stein wurde am Abend hinausgefahren und auf das Grab gelegt, und ein Jahr später wurde er wieder emporgehoben und der alte Preben kam zu seiner Frau heim. -Sie hinterließen nicht solchen Reichtum, wie die Leute geglaubt und behauptet hatten. Das was blieb, fiel an die Familie, die weit entfernt lebte, keiner hatte sie je gekannt. Das Fachwerkhaus mit der Bank auf der hohen Steintreppe unter dem Lindenbaum wurde vom Magistrat niedergerissen, denn es war allzu baufällig, als daß man es hätte stehen lassen dürfen. Später, als es der Klosterkirche ebenso erging und der Kirchhof aufgehoben wurde, kam Prebens und Marthes Grabstein, wie alles andere von dort, zu dem, der ihn kaufen wollte, und nun hat es sich gerade so getroffen, daß er nicht mit zerschlagen und verbraucht worden ist, sondern noch immer im Hofe liegt als Spielzeug für die Kleinen und als Trockenstelle für das gescheuerte Küchenzeug der Mädchen. Die gepflasterte Straße geht nun über die Ruhestätte des alten Preben und seiner Frau. Keiner kennt sie mehr.“
Und der alte Mann, der all dies erzählte, schüttelte wehmütig das Haupt. „Vergessen“ -„Alles wird vergessen“ sagte er. Und dann sprachen sie im Zimmer von anderen Dingen, aber der kleinste Knabe, ein Kind mit großen. ernsten Augen, kletterte auf den Stuhl hinter der Gardine und sah hinab in den Hof, wo der Mond hell auf den großen Stein schien, der ihm zuvor stets leer und flach erschienen war, nun aber da lag, wie ein großes Blatt im Buche der Geschichte. Alles, was der Knabe von Preben und seiner Frau gehört hatte, knüpfte sich an den Stein. Und er blickte auf ihn und hinauf in den klaren, lichten Mond in der reinen, hohen Luft, und es war, als ob eines Gottes Antlitz über die Erde hinschien.
„Vergessen. Alles wird vergessen!“ klang es im Zimmer, und in diesem Augenblick küßte ein unsichtbarer Engel des Kindes Brust und Stirn und flüsterte leise: „Bewahre das empfangene Samenkorn gut. Bewahre es bis zur Zeit der Reife. Durch Dich, o Kind, sollen die verwischte Inschrift, der verwitterte Grabstein in leuchtenden, goldenen Zügen für kommende Geschlechter bewahrt bleiben. Das alte Ehepaar soll wieder Arm in Arm durch die alten Straßen wandern, mit frischen, roten Wangen lächelnd auf der Steintreppe unter dem Lindenbaum sitzen und arm und reich zunicken. Das Samenkorn aus dieser Stunde wird im Laufe der Jahre sich in eine blühende Dichtung verwandeln. Das Gute und Schöne wird nicht vergessen, es lebt in Sagen und Liedern.“

Hans Christian Andersen – Der Bischof auf Börglum und seine Sippe

Hans Christian Andersen

Der Bischof auf Börglum und seine Sippe

Jetzt sind wir oben in Jütland, oberhalb des Wildmoores; wir können den „Westwauwau“ hören (wie dort die Nordsee heißt); hören wie er bellt, er ist ganz nahe. Aber vor uns erhebt sich ein großer Sandhügel; lange haben wir ihn schon gesehen und wir fahren noch immer auf ihn zu, langsam fahren wir in dem tiefen Sande. Oben auf dem Sandhügel liegt ein großes altes Gebäude; es ist das Kloster Börglum, dessen größter Flügel noch heute als Kirche dient.. Spät am Abend langen wir an, aber es ist klares Wetter, es ist die Zeit der hellen Nächte. Weit, weit hinaus kann man von hier schauen, über Feld und Moor bis zur Aalborger Bucht, über Heide und Wiese, über das dunkelblaue Meer hin.
Nun sind wir oben, nun rasseln wir zwischen Ställen und Scheunen hindurch, biegen um und fahren gerade durch das große Tor in den alten Burghof hinein, wo die Mauer entlang eine Reihe stattlicher Lindenbäume steht. Dort stehen sie geschützt vor Wind und Wetter, deshalb wachsen sie, daß ihre Zweige die Fenster fast verhüllen.
Wir gehen die steinerne Treppe hinauf, wir schreiten durch die langen Gänge unter der Decke von starkem Gebälk hin, der Wind saust hier so wunderlich, draußen oder drinnen, man weiß wirklich nicht, wo es ist; und deshalb erzählt man -ja man erzählt so viel, man sieht so viel, wenn einem bange ist oder man andere bange machen will. Die alten verstorbenen Domherren gleiten, wie man sich erzählt, still an uns vorüber in die Kirche hinein, wo die Messe gesungen wird, die man im Sausen des Windes hören kann. Man wird dabei so sonderbar gestimmt, man denkt an die alten Zeiten -denkt, bis man sich im Geiste mitten in der alten Zeit befindet.
Ein Schiff ist an der Küste gescheitert, die Leute des Bischofs sind dort unten, sie verschonen die Unglücklichen nicht, die das Meer verschont hatte. Die See spült das rote Blut ab, das von den zerschmetterten Stirnen herabfloß. Das Strandgut gehört dem Bischof, und viel ist angetrieben. Die See rollt Fässer und Tonnen heran, gefüllt mit köstlichem Wein für den Klosterkeller, der schon voll ist mit Bier und Met. Voll ist auch die Küche mit erlegtem Wildbret, Wurst und Schinken; in den Teichen draußen schwimmt der fette Brassen und die leckere Karausche. Der Bischof auf Börglum ist ein mächtiger Mann, viele Ländereien gehören zu seinem Besitz und noch mehr will er gewinnen; alles soll sich vor Oluf Glob beugen. In Thy ist sein reicher Vetter gestorben. „Gott behüte mich vor meinen Freunden!“; die Wahrheit dieses Sprichwortes soll die Witwe erfahren. Ihr Gatte herrschte mit Ausnahme der geistlichen Güter über das ganze Land. Der Sohn befindet sich in der Fremde; schon als Knabe wurde er hinausgesandt, um fremde Sitten zu lernen, wonach sein Verlangen stand. Seit Jahren hat man nichts von ihm gehört. Vielleicht ruht er schon im Grabe und kehrt also nimmer heim, um zu herrschen, wo jetzt seine Mutter herrscht.
„Was soll ein Weib herrschen?“ ruft der Bischof. Er sendet eine Vorladung und ruft sie vor das Thinggericht. Aber was hilft ihm das? Sie war nie vom Gesetz abgewichen und ihre Stärke lag in ihrer gerechten Sache.
Bischof Oluf auf Börglum, worauf sinnst Du? Was schreibst Du auf das blanke Pergament nieder? Was verschließt es unter Siegel und Band, während du es Rittern und Knechten gibst, die damit aus dem Lande reiten, weit, weit fort, bis zur Stadt des Papstes?
Es ist die Zeit des Laubfalls, die Zeit der Schiffbrüche, nun kommt der eisige Winter.
Zweimal kam er, nun endlich ruft er den Rittern und Knechten ein Willkommen entgegen, die mit einem päpstlichen Briefe von Rom heimkehren, mit einem Bannbriefe über die Witwe, die den frommen Bischof zu beleidigen wagte. „Verflucht sei sie und alles Ihrige! Ausgestoßen sei sie aus der Kirche und Gemeinde! Niemand leist ihr hilfreiche Hand, Freunde und Verwandte sollen sie wie Pest und Aussatz scheuen!“
„Was sich nicht biegen läßt, muß man brechen!“ sagte der Bischof auf Börglum.
Sie verlassen sie alle; aber sie verläßt ihren Gott nicht, er ist ihr Wehr und Waffe.
Ein einziger Dienstbote, eine alte Magd, bleibt ihr treu; mit ihr geht sie hinter dem Pfluge her, und das Korn wächst und gedeiht, trotzdem daß die Erde von Papst und Bischof verflucht ist.
„Du Kind der Hölle! Ich will doch meinen Willen durchsetzen!“ sagt der Bischof von Börglum, „die Hand des Papstes soll sich jetzt auf dich legen und dich vor Gericht schleppen, damit du dein Urteil erhälst!“
Da spannt sie die letzten beiden Ochsen, die sie noch besitzt, vor den Wagen, setzt sich mit ihrer Magd hinauf und fährt über die Heide zum dänischen Lande hinaus. Als Fremde tritt sie unter ein fremdes Volk wo eine fremde Sprache geredet wird, fremde Sitten die Herrschaft führen, weit fort, wo die grünen Hügel sich zu Bergen erheben, auf denen der Wein gedeiht. Reisende Kaufleute ziehen dort die Straßen, ängstlich schauen sie von ihrem Lastwagen um sich, weil sie fürchten, von Raubrittern überfallen zu werden. Die beiden armen Frauen fahren auf ihrem armseligen, von zwei schwarzen Ochsen gezogenen Fuhrwerke unbesorgt in den unsicheren Hohlweg und in die dichten Wälder hinein. Sie befinden sich in Franken. Hier begegnet die arme Verbannte einem stattlichen Ritter, dem zwölf gewappnete Knappen folgen. Er macht halt, sieht sich den seltsamen Zug an und fragt die beiden Frauen nach dem Ziele ihrer Reise und aus welchem Lande sie kommen. Da nennt die Jüngere von beiden Thy in Dänemark, erzählt ihren Kummer und ihr Elend. Und gar bald hat das Elend ein Ende gefunden; Gott hat es so gefügt. Der fremde Ritter ist ihr Sohn. Er reicht ihr die Hand, er schließt sie in die Arme, und die Mutter weint, was sie seit Jahren nicht vermochte; vorher biß sie sich statt dessen in die Lippen, daß die warmen Blutstropfen hervorquollen.
Es ist die Zeit des Laubfalls, es ist die Zeit der Schiffbrüche; das Meer treibt Weinfässer für des Bischofs Keller und Küche an das Land. Über der lodernden Flamme brät das gespickte Wild. Warm und behaglich ist es jetzt, wo der Winter naht, hinter den geschlossenen Türen. Da verlautet etwas Neues: Jens Glob auf Thy ist mit seiner Mutter heimgekehrt; Jens Glob läßt Ladung ergehen; er ladet den Bischof nach Landes Gesetz und Recht vor das geistliche Gericht.
„Das wird ihm viel helfen!“ meinte der Bischof. „Laß deinen vergeblichen Streit nur ruhen, Ritter Jens!“
Es ist die Zeit des Laubfalles im nächsten Jahr, die Zeit der Schiffbrüche; nun kommt der eisige Winter. Die weißen Bienen schwärmen, sie stechen ins Gesicht, bis sie selbst schmelzen.
„Heute ist es frisches Wetter“, sagen die Leute, wenn sie vor der Tür gewesen sind. Jens Glob steht in Gedanken verloren da, so daß er sich am Kamin sein weites Gewand versengt, ja ein Loch hineinbrennt.
„Du Börglumer Bischof! Ich besiege dich doch noch! Unter dem Mantel des Papstes kann dich das Gesetz nicht erreichen, aber Jens Glob wird dich erreichen!“
Daruf schrieb er einen Brief an seinen Schwager, Herrn Oluf Hase in Salling, und bittet ihn, sich zur Frühmesse am Weihnachtstage in der Kirche zu Hvidberg einzufinden. Dort oben muß der Bischof Messe lesen, deshalb reist er von Börglum nach Thyland; das kennt und weiß Jens Glob. Wiese und Moor liegen unter einer Eis-und Schneedecke, die Pferde und Reiter, den ganzen Zug, den Bischof samt pfaffen und Knechten zu tragen vermag; sie reiten den kürzesten Weg durch das schwache Röhricht, durch das der Wind so traurig saust.
Stoße in deine Messingtrompete, du Spielmann in deinem Fuchspelze! Es klingt gut in der klaren Luft. Dann reiten sie über Heide und Moor, den Wiesengarten der Fata Morgana am warmen Sommertage, immer südwärts; sie wollen nach der Hvidberger Kirche.
Der Wind bläst seine Trompete stärker, er bläst einen Sturm, ein Unwetter zusammen, das mit furchtbarer Gewalt zunimmt. Zum Gotteshaus geht es im Unwetter weiter. Gottes Haus steht fest, aber der Sturm braust über Feld und Moor, über Bucht und Meer. Der Börglumer Bischof erreicht die Kirche, Herr Oluf Hase wird wohl schwerlich hinkommen, wie scharf er auch reitet. Er kommt mit seinen Mannen jenseits der Bucht Jens Glob zu Hilfe, nun, Bischof, wirst du vor des Höchsten Gericht geladen werden.
Gottes Haus ist der Gerichtssaal, der Altartisch Gerichtstisch; die Lichter auf den schweren Messingleuchtern sind alle angezündet. Der Sturm liest Klage und Urteil vor. Es braust in der Luft, über Moor und Heide, über die rollenden Wogen hin. Keine Fähre setzt in solchem Unwetter über die Meeresbucht.
Oluf Hase steht am Ottesund; er verabschiedet seine Mannen, schenkt ihnen Rosse und Harnische, erteilt ihnen Urlaub, heimzuziehen und trägt ihnen Grüße an seine Gattin auf. Allein will er sein Leben dem brausenden Wasser anvertrauen, aber sie sollen ihm bezeugen, daß nicht an ihm die Schuld liegt, wenn Jens Glob in der Kirche zu Hvidberg ohne Unterstützung ist. Die treuen Knappen verlassen ihn nicht, sie folgen ihm in das tiefe Wasser nach. Zehn werden eine Beute der Wellen, Oluf Hase selbst und zwei junge Knappen erreichen das andere Ufer; noch haben sie vier Meilen zu reiten.
Mitternacht ist vorüber, es ist Christnacht. Der Wind hat sich gelegt; die Kirche ist erleuchtet; das strahlende Licht scheint durch die Scheiben über Wiese und Heide hinaus. Längst ist die Christmette beendet. Im Gotteshause ist es still, man kann das Wachs von den Lichtern auf den steinernen Fußboden tropfen hören. Jetzt kommt Oluf Hase.
In der Vorhalle bietet ihm Jens Glob Guten Tag. „Jetzt“, fährt er fort, „habe ich mich mit dem Bischofe verglichen.“
„Das hättest du getan?“ ruft Oluf, „dann sollst weder du noch der Bischof lebendig aus der Kirche kommen!“ Und das Schwert fährt aus der Scheide, und Oluf Hase schlägt zu, daß die Planke der Kirchentüre, die Jens Glob schnell zwischen sich und Oluf zuschlägt, zersplittert wird.
„Halt ein, lieber Schwager, betrachte dir erst meinen Vergleich, ich habe den Bischof und seine ganze Begleitung erschlagen. Nicht eine Silbe sagen sie mehr in der Sache, und auch ich will von nun an von dem Unrecht schweigen, das meiner Mutter zugefügt ist.“
Die Schuppen an den Lichtern auf dem Altar leuchten so rot, aber röter leuchtet es vom Fußboden her; mit zerspaltenem Schädel liegt dort der Bischof in seinem Blute und getötet liegen all seine Begleiter da; lautlos und still ist es an dem heiligen Weihnachtsmorgen.
Aber am Abend des dritten Feiertages läuten im Kloster zu Börglum die Totenglocken; der getötete Bischof und seine erschlagenen Leute werden unter einem schwarzen Baldachin mit florumhüllten Kandelabern ausgestellt. In einem Mantel aus Silberbrokat liegt der Tote, der einst mächtige Herr, mit dem Krummstabe in der machtlosen Hand. Der Weihrauch duftet, die Mönche singen; es klingt wie Klage, es klingt wie ein Urteil des Zornes und der Verdammung, das weithin über das Land vernehmbar ist, getragen vom Winde, mitgesungen vom Winde. Er legt sich wohl und ruht, aber er stirbt niemals; immer erhebt er sich wieder und singt seine Lieder, singt sie bis in unsere Zeit hinein, singt sie hier oben von dem Bischof auf Börglum und seiner harten Sippe. In der finstern Nacht schallt sein Gesang; er wird von den furchtsamen Bauern vernommen, der auf dem schweren Sandwege am Börglumer Kloster vorbeifährt, wird von dem lauschenden Schlaflosen in den Stuben des Klosters trotz ihrer dicken Wände vernommen, und deshalb raschelt es in den langen widerhallenden Gängen, die nach der Kirche führen, deren zugemauerter Eingang längst verschlossen ist; freilich nicht vor den Augen des Aberglaubens. Noch immer erblicken sie die Tür, und sie öffnet sich; die Lichter strahlen von den messingnen Kronleuchtern, der Weihrauch duftet, die Kirche flimmert in altertümlicher Pracht, die Mönche singen die Messe für den getöteten Bischof, der in silberbrokatenem Mantel mit dem Bischofsstabe in seiner machtlosen Hand daliegt, und auf seiner bleichen stolzen Stirn leuchtet die blutige Wunde, die wie Feuer glänzt; es ist der Weltsinn und die bösen Lüste, die daraus hervorbrennen.
Versinket ins Grab, versinket in Nacht und Vergessenheit, ihr entsetzlichen Erinnerungen aus alten Tagen!
Hört den Windstoß, welcher das rollende Meer übertönt! Ein Sturm hat sich draußen erhoben, der viele Menschenleben kosten wird! Das Meer hat mit der neuen Zeit seinen Sinn nicht geändert. Heute nacht ist es nur ein Rachen, der verschlingt, morgen vielleicht ein klares Auge, daß man sich darin spiegeln kann, gerade wie in der alten Zeit, die wir jetzt begraben haben. Schlaf süß, wenn Du es vermagst!
Jetzt ist es Morgen!
Die neue Zeit scheint sonnig in das Zimmer hinein! Der Wind hält noch an. Ein Schiffbruch wird gemeldet, wie in alter Zeit.
Heute nacht ist dort unten bei Löcken, dem kleinen Fischerdorfe mit den roten Dächern, das wir von den Fenstern hier oben aus sehen können, ein Schiff gestrandet. Nicht weit vom Ufer stieß es auf, aber die Rettungsrakete schlug eine Brücke zwischen dem Wrack und dem festen Lande; alle, die an Bord waren, wurden gerettet, sie kamen ans Land und zu Bette. Heute sind sie auf das Kloster Börglum eingeladen. In den freundlichen und wohnlichen Zimmern werden sie Gastfreiheit finden und sanften Augen gegenübertreten, werden sie in ihrer eigenen Landessprache willkommen geheißen werden. Vom Klavier herüber tönen die Melodien ihrer Heimat, und ehe sie noch beendet sind, braust eine andere Saite, lautlos und doch so klangvoll und sicher; auf dem Gedankenträger schwingt die Botschaft bis zur Heimat der Schiffbrüchigen im fremden Lande fort und meldet ihre Rettung. Da fühlt der Sinn sich leicht, da steigt die Lust in ihnen auf, beim Feste am Abend in den alten Klosterstuben am Tanze teilzunehmen. Walzer und Reigen wollen wir tanzen und Lieder sollen gesungen werden von Dänemark und dem „tapfern Landsoldaten“ in dieser neuen Zeit.
Gesegnet seist du, neue Zeit! Mit gereinigter Luft zieh ein in die Stadt! Laß deine Sonnenstrahlen in Herzen und Gedanken leuchten! Auf deinem strahlenden Grunde schweben die finstern Sagen aus den harten, den strengen Zeiten vorüber.

Hans Christian Andersen – Der böse Fürst

Hans Christian Andersen

Der böse Fürst

Es war einmal ein böser Fürst; all sein Dichten und Trachten ging darauf aus, alle Länger der Welt zu erobern und allen Menschen Furcht einzuflößen; mit Feuer und Schwert zog er umher, und seine Soldaten zertraten die Saat auf den Feldern und zündeten des Bauern Haus an, so daß die rote Flamme die Blätter von den Bäumen leckte und das Obst gebraten an den versengten, schwarzen Bäumen hing. Mit dem nackten Säugling im Arm flüchtete manche Mutter sich hinter die noch rauchenden Mauern ihres abgebrannten Hauses, aber hier suchten die Soldaten sie auch, und fanden sie die Armen, so war dies neue Nahrung für ihre teuflische Freude: böse Geister hätten nicht ärger verfahren können als diese Soldaten; der Fürst aber meinte, gerade so sei es recht, so sollte es zugehen. Täglich wuchs seine Macht, sein Name wurde von allen gefürchtet, und das Glück schritt neben ihm her bei allen seinen Taten. Aus den eroberten Städten führte er große Schätze heim; in seiner Residenzstadt wurde ein Reichtum aufgehäuft, der an keinem anderen Orte seinesgleichen hatte. Und er ließ prächtige Schlösser, Kirchen und Hallen bauen, und jeder , der diese herrlichen Bauten und großen Schätze sah, rief ehrfurchtsvoll: „Welch großer Fürst!“ Sie gedachten aber nicht des Elends, das er über andere Länder und Städte gebracht hatte; sie vernahmen nicht all die Seufzer und all den Jammer, der aus den eingeäscherten Städten empordrang.
Der Fürst betrachtete sein Gold und seine prächtigen Bauten und dachte dabei wie die Menge: „Welch großer Fürst! Aber ich muß mehr haben, viel mehr! Keine Macht darf der meinen gleichkommen, geschweige denn größer als die meine sein!“ Und er bekriegte alle seine Nachbarn und besiegte sie alle. Die besiegten Könige ließ er mit goldenen Ketten an seinen Wagen fesseln, und so fuhr er durch die Straßen seiner Residenz; tafelte er, so mußten jene Könige ihm und seinen Hofleuten zu Füßen liegen und sich von den Brocken sättigen, die ihnen von der Tafel zugeworfen wurden.
Endlich ließ der Fürst seine eigene Bildsäule auf den öffentlichen Plätzen und in den königlichen Schlössern errichten, ja, er wollte sie sogar in den Kirchen vor dem Altar des Herrn aufstellen; allein hier traten die Priester ihm entgegen und sagten: „Fürst, du bist groß, aber Gott ist größer, wir wagen es nicht, deinem Befehl nachzukommen.“ „Wohlan denn!“ rief der Fürst, „ich werde auch Gott besiegen!“
Und in Übermut und törichtem Frevel ließ er ein kostbares Schifflein bauen, mit welchem er die Lüfte durchsegeln konnte; es war bunt und prahlerisch anzuschauen wie der Schweif eines Pfaus, und es wargleichsam mit Tausenden von Äugen besetzt und übersäht, aber jedes Auge war ein Büchsenlauf. Der Fürst saß in der Mitte des Schiffes, er brauchte nur auf eine dort angebrachte Feder zu drücken, und tausend Kugeln flogen nach allen Richtungen hinaus, während die Feuerschlünde sogleich wieder geladen waren. Hunderte von Adlern wurden vor das Schiff gespannt, und pfeilschnell ging es nun der Sonne entgegen. Wie lag da die Erde tief unten! Mit ihren Bergen und Wäldern schien sie nur ein Ackerfeld zu sein, in das der Pflug seine Furchen gezogen hatte, an dem entlang der grüne Rain hervorblickte, bald glich sie nur noch einer flachen Landkarte mit undeutlichen Strichen, und endlich lag sie ganz in Nebel und Wolken gehüllt. Immer höher flogen die Adler aufwärts in die Lüfte ­da sandte Gott einen einzigen seiner unzähligen Engel aus; der böse Fürst schleuderte Tausende von Kugeln gegen ihn, allein die Kugeln prallten ab von den glänzenden Fittichen des Engels, fielen herab wie gewöhnliche Hagelkörner; doch ein Blutstropfen, nur ein einziger, tröpfelte von einer der weißen Flügelfedern herab, und dieser Tropfen fiel auf das Schiff, in welchem der Fürst saß, er brannte sich in das Schiff ein, er lastete gleich tausend Zentner Blei darauf und riß das Schiff in stürzender Fahrt zur Erde nieder; die starken Schwingen der Adler zerbrachen, der Wind umsauste des Fürsten Haupt, und die Wolken ringsum -die waren ja aus dem Flammenrauch der abgebrannten Städte gebildet -formten sich zu drohenden Gestalten, zu meilenlangen Seekrabben, die ihre Klauen und Scheren nach ihm ausstreckten, sie türmten sich zu ungeheuerlichen Felsen mit herabrollenden, zerschmetternden Blöcken, zu feuerspeienden Drachen; halbtot lag der Fürst im Schiff ausgestreckt, und dieses blieb endlich mit einem fruchtbaren Stoß in den dicken Baumzweigen eines Waldes hängen.
„Ich will Gott besiegen!“ sagte der Fürst, „ich habe es geschworen, mein Wille muß geschehen!“ Uns sieben Jahre lang ließ er bauen und arbeiten an künstlichen Schiffen zum Durchsegeln der Luft, ließ Blitzstrahlen aus härtestem Stahl schneiden, denn er wollte des Himmels Befestigung sprengen. Aus allen Landen sammelte er Kriegsheere, die, als sie Mann an Mann aufgestellt waren, einen Raum von mehreren Meilen bedeckten. Die Heere gingen an Bord der künstlichen Schiffe, der Fürst näherte sich dem seinen: da sandte Gott einen einzigen kleinen Mückenschwarm aus. Der umschwirrte den Fürsten und zerstach sein Antlitz und seine Hände; zornentbrannt zog er sein Schwert und schlug um sich, allein er schlug nur in die leere Luft, die Mücken traf er nicht. Da befahl er, kostbare Teppiche zu bringen und ihn in dieselben einzuhüllen, damit ihn keine Mücke fernerhin steche; und die Diener taten wie befohlen. Allein, eine einzige Mücke hatte sich an die innere Seite des Teppichs gesetzt, von hier aus kroch sie in das Ohr des Fürsten und stach ihn; es brannte wie Feuer, das Gift drang hinein in sein Gehirn; wie wahnsinnig riß er die Teppiche von seinem Körper und schleuderte sie weit weg, zerriß seine Kleidung und tanzte nackend herum vor den Augen seiner rohen, wilden Soldaten, die nun den tollen Fürsten verspotteten, der Gott bekriegen wollte und von einer einzigen kleinen Mücke besiegt worden war.

Hans Christian Andersen – Der Buchweizen

Hans Christian Andersen

Der Buchweizen

Häufig, wenn man nach einem Gewitter an einem Acker vorübergeht, auf dem Buchweizen wächst, sieht man, daß er ganz schwarz geworden und abgesengt ist; es ist gerade, als ob eine Feuerflamme über ihn hingefahren wäre, und der Landmann sagt dann: »Das hat er vom Blitze bekommen!« Aber warum bekam er das? Ich will erzählen, was der Sperling mir gesagt hat, und der Sperling hat es von einem alten Weidenbaume gehört, der bei einem Buchweizenfelde steht. Es ist ein ehrwürdiger, großer Weidenbaum, aber verkrüppelt und alt, er ist in der Mitte geborsten, und es wachsen Gras und Brombeerranken aus der Spalte hervor; der Baum neigt sich vornüber, und die Zweige hängen ganz auf die Erde hinunter, gerade als ob sie langes, grünes Haar wären.
Auf allen Feldern ringsumher wuchsen Korn, Roggen, Gerste und Hafer, ja der herrliche Hafer, der, wenn er reif ist, gerade wie eine Menge kleiner, gelber Kanarienvögel an einem Zweige aussieht. Das Korn stand gesegnet, und je schwerer es war, desto tiefer neigte es sich in frommer Demut.
Aber da war auch ein Feld mit Buchweizen, und dieses Feld war dem alten Weidenbaume gerade gegenüber. Der Buchweizen neigte sich durchaus nicht wie das übrige Korn, sondern prangte stolz und steif.
»Ich bin wohl so reich wie die Ähre«, sagte er; »überdies bin ich weit hübscher; meine Blumen sind schön wie die Blüten des Apfelbaumes; es ist eine Freude, auf mich und die Meinigen zu blicken! Kennst du etwas Prächtigeres als uns, du alter Weidenbaum?«
Der Weidenbaum nickte mit dem Kopfe, gerade als ob er damit sagen wollte: »Ja, freilich!« Aber der Buchweizen spreizte sich aus lauter Hochmut und sagte: »Der dumme Baum, er ist so alt, daß ihm Gras im Leibe wächst!« Nun zog ein schrecklich böses Gewitter auf; alle Feldblumen falteten ihre Blätter zusammen oder neigten ihre kleinen Köpfe herab, während der Sturm über sie dahinfuhr.
Aber der Buchweizen prangte in seinem Stolze.
»Neige dein Haupt wie wir!« sagten die Blumen.
»Das ist durchaus nicht nötig«, erwiderte der Buchweizen. »Senke dein Haupt wie wir!« rief das Korn. »Nun kommt der Engel des Sturmes geflogen! Er hat Schwingen, die oben von den Wolken bis gerade herunter zur Erde reichen, und er schlägt dich mittendurch, bevor du bitten kannst, er möge dir gnädig sein!«
»Aber ich will mich nicht beugen!« sagte der Buchweizen.
»Schließe deine Blumen und neige deine Blätter!« sagte der alte Weidenbaum. »Sieh nicht zum Blitze empor, wenn die Wolke birst; selbst die Menschen dürfen das nicht, denn im Blitze kann man in Gottes Himmel hineinsehen; aber dieser Anblick kann selbst die Menschen blenden. Was würde erst uns, den Gewächsen der Erde, geschehen, wenn wir es wagten, wir, die doch weit geringer sind!«
»Weit geringer?« sagte der Buchweizen. »Nun will ich gerade in GottesHimmel hineinsehen!« Und er tat es in seinem Übermut und Stolz. Es war, als ob die ganze Welt in Flammen stände, so blitzte es.
Als das böse Wetter vorbei war, standen die Blumen und das Korn in der stillen, reinen Luft erfrischt vom Regen, aber der Buchweizen war vom Blitz kohlschwarz gebrannt; er war nun ein totes Unkraut auf dem Felde.
Der alte Weidenbaum bewegte seine Zweige im Winde, und es fielen große Wassertropfen von den grünen Blättern, gerade als ob der Baum weine, und die Sperlinge fragten: »Weshalb weinst du? Hier ist es ja so gesegnet! Sieh, wie die Sonne scheint, sieh, wie die Wolken ziehen! Kannst du den Duft von Blumen und Büschen bemerken: Warum weinst du, alter Weidenbaum?«
Und der Weidenbaum erzählte vom Stolze des Buchweizens, von seinem Übermute und der Strafe, die immer darauf folgt. Ich, der die Geschichte erzähle, habe sie von den Sperlingen gehört. Sie erzählten sie mir eines Abends, als ich sie um ein Märchen bat.

Hans Christian Andersen – Der Ehre Dornenpfad

Hans Christian Andersen

Der Ehre Dornenpfad

So heißt ein altes Märchen: „Der Ehre Dornenpfad“, und es handelt von einem Schützen mit Namen Bryde, der wohl zu großen Ehren und Würden kam, aber nicht ohne lange und vielfältige Widerwärtigkeiten und Fährnisse des Lebens durchzumachen. Manch einer von uns hat es gewiß als Kind gehört oder es vielleicht später gelesen und dabei an seinen eigenen stillen Dornenweg und die vielen Widerwärtigkeiten gedacht. Märchen und Wirklichkeit liegen einander so nahe, aber das Märchen hat seine harmonische Lösung hier auf Erden, während die Wirklichkeit sie meist aus dem Erdenleben hinaus in Zeit und Ewigkeit verlegt.
Die Weltgeschichte ist eine Laterne magica, die uns in Lichtbildern auf dem dunklen Grunde der Zeit zeigt, wie der Menschheit Wohltäter, die Märtyrer des Genies, den dornigen Pfad der Ehre wandeln.
Aus allen Zeiten, aus allen Ländern treten diese Glanzbilder hervor, jedes nur für einen Augenblick, und doch jedes ein ganzes Leben mit seinen Kämpfen und Siegen. Laß uns hie und da einen aus der Reihe der Märtyrer betrachten, die nicht abschließt, ehe die Erde vergeht.
Wir sehen ein vollbesetztes Amphitheater, Aristophanes‘ „Wolken“ senden Ströme von Spott und Munterkeit in die Menge: Von der Bühne herab wird Athens bemerkenswertester Mann, der dem Volke ein Schild gegen die dreißig Tyrannen war, körperlich und geistig verspottet. Sokrates, er, der im Schlachtgetümmel Alkibiades und Xenophon rettete, er, dessen Geist sich über die Götter des Altertums emporgeschwungen hatte -er ist selbst zur Stelle. Er erhebt sich von der Zuschauerbank und stellt sich dar, damit die lachenden Athener sehen können, ob er seinem Spottbild auf der Bühne ähnlich sehe. Aufgerichtet steht er vor ihnen, weit über alle erhaben.
Du saftiger, grüner, giftiger Schierling, Du solltest Athens Wahrzeichensein, und nicht der Ölbaum.
Sieben Städte stritten sich um die Ehre, Homers Geburtsort zu sein, das heißt, als er tot war. -Sieh ihn während seiner Lebenszeit. -Da wandert er durch eben diese Städte, er singt ihnen seine Verse vor, um zu leben. Der Gedanke an den morgigen Tag läßt sein Haar ergrauen. Er, der mächtigste Seher, ist blind und einsam. Der spitze Dorn reißt den Mantel des Königs aller Dichter in Fetzen. Seine Gesänge leben noch, und allein durch sie leben die Götter und Helden des Altertums.
Bild auf Bild wogt aus dem Morgen-und Abendlande hervor, so fern von einander an Ort und Zeit, und doch stets derselbe Gang auf der Ehre Dornenpfad, an dem die Distel erst blüht, um das Grab zu schmücken.
Unter den Palmen schreiten Kamele, reichbeladen mit Indigo und anderen köstlichen Schätzen. Des Landes Herrscher sendet sie ihm, dessen Gesänge des Volkes Freude, des Landes Ehre sind. Er, den Neid und Lüge aus dem Lande verjagt haben, ist gefunden! -Die Karawane nähert sich der kleinen Stadt, wo er eine Freistatt gefunden hat; ein ärmlicher Leichenzug kommt aus dem Tore, die Karawane hält. Der Tote ist eben der, welchen sie suchen: Firdusi -zu Ende ist der Ehre Dornenpfad.
Der Afrikaner mit den plumpen Zügen, den dicken Lippen, dem schwarzen Wollhaar, sitzt an des Palastes Marmortreppe in Portugals Hauptstadt und bettelt -es ist Camoens treuer Sklave, ohne ihn und die Kupferschillinge, die ihm zugeworfen werden, müßte sein Herr, der Sänger der „Lusiade“ verhungern.
Heut steht ein kostbares Monument auf Camoens Grabe.
Wieder ein Bild.
Hinter Eisenstangen zeigt sich ein Mann, totenbleich, mit langem verfilztem Bart: „Ich habe eine Erfindung gemacht, die größte des Jahrhunderte“ ruft er, „und man hat mich dafür mehr als zwanzig Jahre lang hier eingesperrt gehalten.“ -„Wo ist er?“ -„Ein Irrer“ sagt, der Aufseher der Irrenanstalt: „Auf was ein Mensch nicht alles verfallen kann. Er glaubt, man könne sich durch Dampf fortbewegen.“ Salomon de Caus, der Erfinder der Dampfkraft, der mit den unklaren Worten seines ahnenden Gefühls von einem Richelieu nicht verstanden wurde und eingekerkert in der Irrenzelle starb.
Hier steht Columbus, den einst die Straßenjungen verfolgten und verspotteten, weil er eine neue Welt entdecken wollte. -Er hat sie entdeckt: Die Glocken des Jubels erklingen bei seiner Heimkehr, aber der Mißgunst Glocken läuten stärker noch; der Weltenentdecker, er, der das amerikanische Goldland über das Meer erhob und es seinem Könige gab, wird mit eisernen Ketten belohnt und sie, die er mit in seinen Sarg zu legen bat, zeugen von der Welt und ihrem Lohn.
Bild drängt sich auf Bild, reich daran ist der Ehre Dornenpfad.
In Dämmer und Dunkel sitzt hier der welcher die Höhe der Mondgebirge ausmaß, er, welcher über den Raum hinaus zu den Planeten und Sternen drang, er, der Mächtige, welcher den Geist der Natur hörte und sah, der vernahm, wie die Erde sich unter ihm drehte: Galilei. Blind und taub sitzt er in den Jahren des Alters, gefoltert von den Dornen des Leidens: der Verleugnung Qual. Kaum hat er noch die Kraft, seinen Fuß zu heben, den Fuß, mit dem er einst im Seelenschmerz, als das Wort der Wahrheit ausgestrichen wurde, die Erde stampfte mit dem Ausruf: „Und sie bewegt sich doch.“
Hier steht ein Weib mit Kindessinn, Begeisterung und Glauben -sie trägt das Banner dem kämpfenden Heere voran und bringt ihrem Vaterland den Sieg und die Rettung. Der Jubel erschallt -und der Scheiterhaufen wird angezündet: Jeanne d’Arc, die Hexe, wird verbrannt. -Ja, das kommende Jahrhundert bespie die weiße Lilie: Voltaire, der Satyr des Verstandes, sing‘ von „La pucelle“.
Auf dem Ting in Viborg verbrennt der dänische Adel des Königs Gesetze ­sie lodern in Flammen, beleuchten die Zeit und den Gesetzgeber, werfen einen Glorienschein in den dunklen Gefängnisturm, wo er sitzt mit grauem Haupt, mit gekrümmtem Rücken, mit den Fingernägeln Furchen in einen steinernen Tisch grabend, er, einst Herr über drei Königreiche, der volkstümliche Herrscher, Freund der Bürger und Bauern: Christian der Zweite. Er, der mit hartem Sinn seine harte Zeit regierte. Die Feinde schrieben seine Geschichte. -An die siebenundzwanzigjährige Gefangenschaft wollen wir denken, wenn wir uns seiner Blutschuld erinnern.
Dort segelt ein Schiff aus Dänemark fort, ein Mann steht am hohen Mast, er blickt zum letzten Male zur Heimat zurück: Tycho Brahe, der Dänemarks Namen zu den Sternen empor trug, und dafür mit Kränkung und Verdruß belohnt wurde -er zieht nach einem fremden Lande. „Der Himmel ist allerorten, was brauche ich mehr!“ sind seine Worte. Dort segelt er fort, unser berühmtester Mann, um in fremdem Lande geehrt und frei zu leben.
Wir sind in Amerika an einem der großen Flüsse, eine Menschenmasse hat sich angesammelt. Ein Schiff soll gegen Wind und Wetter fahren können, eine Macht gegen die Elemente sein: Robert Fulton heißt er, welcher dies zu können glaubt. Das Schiff beginnt seine Fahrt; plötzlich steht es still. ­Der Haufen lacht, er schreit und pfeift, der eigene Vater pfeift mit: „Hochmut. Wahnsinn. Verdienter Lohn. Unter Schloß und Riegel mit dem Narren.“ -Da bricht ein kleiner Nagel, der einen
Augenblick die Maschine hemmte, die Räder drehen sich, die Schaufeln stoßen den Widerstand des Wassers beiseite, das Schiff fährt. Die Weberspule des Dampfers wandelt Stunden in Minuten zwischen des Ländern der Welt.
Menschheit! Begreifst Du das Bewußtsein der Seligkeit in solcher Minute, diesen Glauben des Geistes an seine Sendung in einem Augenblick, in dem alle Niederlagen auf dem dornigen Pfad der Ehre, selbst die durch eigene Schuld erlittenen, sich in Heilung, Gesundung, Kraft und Klarheit auflösen, die Disharmonie sich in Harmonie verwandelt und die Menschen die Offenbarung göttlicher Gnade schauen, die dem einzelnen erwiesen und von ihm zum Nutzen aller verwendet wurde
Der Dornenpfad der Ehre ist dann vom Glorienschein erleuchtet. Glückselig, zum Wanderer auf diesem Wege auserkoren zu sein und ohne Verdienst sich unter den Baumeistern der Brücke zu finden, die Menschengeschlecht mit Gott verbindet.
Auf mächtigen Schwingen schwebt der Geist der Geschichte durch die Zeiten und zeigt -zur Ermutigung, zum Troste und zur Nachdenken erweckenden Milde -in leuchtenden Bildern auf nachtschwarzem Grunde den Dornenpfad der Ehre, der nicht wie im Märchen schon auf Erden in Glanz und Freuden endet, sondern über sie hinaus in Zeit und Ewigkeit weist.

Hans Christian Andersen – Der Engel

Hans Christian Andersen

Der Engel

Jedesmal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Gott drückt sie dort an sein Herz, aber der Blume, die ihm die liebste ist, gibt er einen Kuß, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen.
Sieh, alles dieses erzählte ein Engel Gottes, während er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Traume; sie flogen über die Stätten in der Heimat, wo das Kleine gespielt hatte, und kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.
„Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?“ fragte der Engel.
Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte den Stamm abgebrochen, so daß alle Zweige, voll von großen, halb aufgebrochenen Knospen, vertrocknet rundherum hingen. „Der arme Rosenstock!“ sagte das Kind. „Nimm ihn, damit er oben bei Gott zum Blühen kommen kann!“
Und der Engel nahm ihn, küßte das Kind dafür, und das Kleine öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen Prachtblumen, nahmen aber auch die verachtete Butterblume und das wilde Stiefmütterchen.
„Nun haben wir Blumen!“ sagte das Kind, und der Engel nickte, aber er flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht und ganz still; sie blieben in der großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo Haufen Stroh und Asche lagen; es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern, Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was alles nicht gut aussah. Der Engel zeigte in allen diesen Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war. Von den Wurzeln einer großen vertrockneten Feldblume, die nichts taugte und die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, wurde er zusammengehalten. „Diese nehmen wir mit!“ sagte der Engel. „Ich werde dir erzählen, während wir fliegen!“ Sie flogen, und der Engel erzählte: „Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein armer, kranker Knabe. Von seiner Geburt an war er immer bettlägerig gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine Stube ein paarmal auf und nieder gehen, das war alles. An einigen Tagen im Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den Keller hinab, und wenn der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die er vor das Gesicht hielt, dann hieß es: ‚Heute ist er aus gewesen!‘ Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch, daß ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er über seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die Sonne scheint und die Vögel singen. An einem Frühlingstage brachte ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine Wurzel, deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und am Bette neben das Fenster gestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand gepflanzt, sie wuchs, trieb neue Zweige und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie wurde des kranken Knaben herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier auf Erden; er begoß und pflegte sie und sorgte dafür, daß sie jeden Sonnenstrahl, bis zum letzten, der durch das niedrige Fenster hinunterglitt, erhielt; die Blume selbst verwuchs mit seinen Tränen, denn für ihn blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute das Auge; gegen sie wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief. Ein Jahr ist er nun bei Gott gewesen, ein Jahr hat die Blume vergessen im Fenster gestanden und ist verdorrt und wurde deshalb beim Umziehen hinaus auf die Straße geworfen. Und dies ist die Blume, die vertrocknete Blume, die wir mit in unsern Blumenstrauß genommen haben, denn diese Blume hat mehr erfreut als die reichste Blume im Garten einer Königin!“
„Aber woher weißt du das alles?“ fragte das Kind, das der Engel gen Himmel trug.
„Ich weiß es“, sagte der Engel, „denn ich war selbst der kleine, kranke Knabe, der auf Krücken ging; meine Blume kenne ich wohl!“
Das Kind öffnete seine Augen ganz und sah in des Engels herrliches, frohes Antlitz hinein, und im selben Augenblick befanden sie sich in Gottes Himmel, wo Freude und Glückseligkeit waren. Gott drückte das tote Kind an sein Herz, und da bekam es Schwingen wie der andere Engel und flog Hand in Hand mit ihm. Gott drückte alle Blumen an sein Herz, aber die arme verdorrte Feldblume küßte er, und sie erhielt Stimme und sang mit allen Engeln, welche Gott umschwebten, einige ganz nahe, andere um diese herum in großen Kreisen und immer weiter fort in das Unendliche, aber alle gleich glücklich. Und alle sangen sie, klein und groß, samt dem guten, gesegneten Kinde und der armen Feldblume, die verdorrt dagelegen hatte, hingeworfen in den Kehricht des Umziehtages, in der schmalen, dunklen Gasse.

Hans Christian Andersen – Der Flachs

Hans Christian Andersen

Der Flachs

Der Flachs blühte. Er hat schöne, blaue Blumen, die so zart wie die Flügel einer Motte und noch viel feiner sind! -Die Sonne beschien den Flachs, und die Regenwolken begossen ihn, und das tut ihm ebenso wohl, wie es kleinen Kindern tut, wenn sie gewaschen werden und dann einen Kuß von der Mutter bekommen, sie werden ja viel schöner davon, und das wurde der Flachs auch.
„Die Leute sagen, daß ich ausgezeichnet gut stehe“, sagte der Flachs, „und daß ich schön lang werde, es wird ein prächtiges Stück Leinwand aus mir werden! Wie glücklich bin ich doch! Ich bin gewiß der glücklichste von allen! Ich habe es gut, und es wird etwas aus mir werden! Wie der Sonnenschein belebt, und wie der Regen schmeckt und erfrischt! Ich bin ganz überglücklich, ich bin der allerglücklichste!“
„Ja, ja, ja!“ sagten die Zaunpfähle, „Ihr kennt die Welt nicht, aber wir, wir haben Knorren in uns“; und dann knarrten sie ganz jämmerlich: „Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre, aus ist das Lied!“
„Nein, das ist es nicht!“ sagte der Flachs. „Die Sonne scheint am Morgen, der Regen tut wohl, ich kann hören, wie ich wachse, ich kann fühlen, daß ich blühe! Ich bin der allerglücklichste.“
Aber eines Tages kamen Leute, die den Flachs beim Schopfe faßten und mit der Wurzel herausrissen, das tat weh; er wurde in Wasser gelegt, als ob er ersäuft werden sollte, und dann kam er über Feuer, als ob er gebraten werden sollte, das war greulich!
„Es kann einem nicht immer gut gehen!“ sagte der Flachs. „Man muß etwas durchmachen, dann weiß man etwas!“
Aber es wurde sehr schlimm. Der Flachs wurde gerissen und gebrochen, gedörrt und gehechelt, ja, das wußte er, wie das alles hieß; er kam auf den Rocken: schnurre surr! Da war es nicht möglich, die Gedanken beisammenzubehalten.
‚Ich bin sehr, sehr glücklich gewesen!‘ dachte er bei all seiner Pein.
„Man muß froh sein über das Gute, was man genossen hat. Froh, froh, oh!“ und das sagte er noch, als er auf den Webstuhl kam, und so wurde er zu einem herrlichen, großen Stück Leinwand. Aller Flachs, jeder einzelne Stengel kam in das eine Stück. „Aber das ist ja ganz außerordentlich! Das hätte ich nie geglaubt! Nein, wie das Glück mir doch wohlwill! Ja, die Zaunpfähle wußten wahrlich gut Bescheid mit ihrem: ‚Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre!‘
Das Lied ist keineswegs aus! Nun fängt es erst recht an! Es ist herrlich! Ja, ich habe gelitten, aber jetzt ist dafür auch etwas aus mir geworden; ich bin der glücklichste von allen! -Ich bin so stark und so weich, so weiß und so lang! Das ist etwas ganz anderes als nur Pflanze zu sein, selbst wenn man Blumen trägt! Man wird nicht gepflegt und bekommt nur Wasser, wenn es regnet! Jetzt habe ich Aufwartung! Das Mädchen wendet mich jeden Morgen, und mit der Gießkanne erhalte ich jeden Abend ein Regenbad. Ja, die Frau Pastorin hat selbst eine Rede über mich gehalten und gesagt, daß ich das beste Stück im ganzen Kirchspiel sei. Glücklicher kann ich gar nicht werden!“
Nun kam die Leinwand ins Haus, dann kam sie unter die Schere. Wie man schnitt, wie man mit der Nähnadel hineinstach! Das war wahrlich kein Vergnügen. Aber aus der Leinwand wurden zwölf Stück Wäsche von der Art, die man nicht gern nennt, die aber alle Menschen haben müssen; es waren zwölf Stück davon.
„Ei sieh, jetzt ist erst etwas aus mir geworden! Das war also meine Bestimmung! Das ist ja herrlich; nun schaffe ich Nutzen in der Welt, und das ist es, was man soll, das ist das wahre Vergnügen. Wir sind zwölfe geworden, aber wir sind doch alle eins und dasselbe, wir sind ein Dutzend! Was ist das für ein erstaunliches Glück!“
Jahre verstrichen -dann konnten sie nicht länger halten.
„Einmal muß es ja doch vorbei sein!“ sagte jedes Stück. „Ich hätte gern noch länger halten mögen, aber man darf nichts Unmögliches verlangen!“ Dann wurden sie in Stücke und Fetzen zerrissen, so daß sie glaubten, nun sei es ganz vorbei, denn sie wurden zerhackt und zerquetscht und zerkocht, ja sie wußten selbst nicht, wie ihnen geschah -und dann wurden sie schönes, feines, weißes Papier!
„Nein, das ist eine Überraschung! Und eine herrliche Überraschung!“ sagte das Papier. „Nun bin ich feiner als zuvor, und nun werde ich beschrieben werden! Was kann nicht alles geschrieben werden! Das ist doch ein außerordentliches Glück!“ Es wurden die allerschönsten Geschichten darauf geschrieben, und die Leute hörten, was darauf stand, und es war richtig und gut, es machte die Menschen weit klüger und besser, als sie bisher waren, es war ein wahrer Segen, der dem Papier in den Worten gegeben war. „Das ist mehr als ich mir träumen ließ, als ich noch eine kleine, blaue Blume auf dem Felde war! Wie konnte es mir einfallen, daß ich dazu gelangen würde, Freude und Kenntnisse unter die Menschen zu bringen! Ich kann es selbst noch nicht begreifen! Aber es ist nun einmal wirklich so! Der liebe Gott weiß, daß ich selbst durchaus nichts dazu getan habe, als was ich nach schwachem Vermögen für mein Dasein tun mußte! Und doch gewährt er mir eine Freude nach der andern; jedesmal, wenn ich denke: ‚Aus ist das Lied!‘ dann geht es gerade zu etwas Höherem und Besserem über. Nun werde ich gewiß auf Reisen in der ganzen Welt herumgesandt werden, damit alle Menschen mich lesen können! Das ist das wahrscheinlichste! Früher trug ich blaue Blumen, jetzt habe ich für jede Blume die schönsten Gedanken! Ich bin der allerglücklichste!“
Aber das Papier kam nicht auf Reisen, ein anderer Teil kam zum Buchdrucker, und da wurde alles, was auf dem ersten Teil geschrieben stand, zum Druck für ein Buch gesetzt, ja zu vielen Büchern, denn so konnten unendlich viel Leute mehr Nutzen und Freude davon haben, als wenn das einzige Papier, auf dem das Geschriebene stand, die ganze Welt durchlaufen hätte und auf dem halben Wege schon abgenutzt worden wäre.
‚Ja, das ist freilich das allervernünftigste!‘ dachte das beschriebene Papier. ‚Das fiel mir gar nicht ein! Ich bleibe zu Hause und werde in Ehren gehalten wie ein alter Großvater! Ich bin es, der beschrieben worden ist, die Worte flossen aus der Feder gerade in mich hinein. Ich bleibe, und die Bücher laufen herum! Nun kann ordentlich was ausgerichtet werden! Nein, wie bin ich froh, wie bin ich glücklich!‘
Dann wurde das Papier in ein Päckchen gesammelt und in ein Fach gelegt. „Nach vollbrachter Tat ist gut ruhen!“ sagte das Papier. „Es ist ganz in Ordnung, daß man sich sammelt und über das nachdenkt, was in einem wohnt. Jetzt weiß ich erst recht, was in mir enthalten ist! Und sich selbst kennen, das ist erst der wahre Fortschritt. Was nun wohl kommen wird? Irgendein Fortschritt geschieht, es geht immer vorwärts!“ ­
Eines Tages wurde alles Papier auf den Feuerherd gelegt, denn es sollte verbrannt und nicht an Höker verkauft werden, die Butter und Zucker darin einwickeln. Alle Kinder im Hause standen ringsherum, sie wollten es auflodern sehen, sie wollten die vielen roten Feuerfunken in der Asche sehen, die gleichsam davonlaufen und erlöschen, einer immer nach dem andern, ganz geschwind -das sind die Kinder, die aus der Schule kommen, und der allerletzte Funke ist der Schulmeister; oft glaubt man, daß er schon fort ist, aber dann kommt er auf einmal noch hinterher. Und alles Papier lag in einem Bündel auf dem Feuer. Uh, wie flammte es empor! „Uh!“ sagte es, und gleichzeitig war da alles eine Flamme; die ging höher, als der Flachs je seine kleine, blaue Blume hatte erheben können, und glänzte, wie die weiße Leinwand nie hatte glänzen können. Alle die geschriebenen Buchstaben wurden augenblicklich ganz rot, und alle Worte und Gedanken gingen in Flammen auf.
„Nun gehe ich gerade zur Sonne hinauf!“ sprach es in der Flamme, und es war, als ob tausend Stimmen das mit einem Munde sagten, und die Flamme schlug durch den Schornstein oben hinaus. –Feiner als die Flammen, dem menschlichen Auge ganz unsichtbar, schwebten ganz kleine Wesen, an Zahl den Blumen, die der Flachs getragen hatte, gleich. Sie waren noch leichter als die Flamme, die sie führte, und als diese erlosch und von dem Papier nur noch die schwarze Asche übrig war, tanzten sie noch einmal darüber hin, und wo sie die berührten, erblickte man ihre Fußtapfen,das waren die roten Funken. -Die Kinder kamen aus der Schule, und der Schulmeister war der allerletzte! Das war eine Freude mit anzusehen, die Kinder des Hauses standen uns sangen bei der toten Asche:
„Schnipp-Schnapp-Schnurre, Baselurre, aus ist das Lied!“
Aber die kleinen, unsichtbaren Wesen sagten alle: „Das Lied ist nie aus, das ist das schönste von allem! Ich weiß es, und deswegen bin ich der allerglücklichste!“
Aber das konnten die Kinder weder hören noch verstehen, und das sollten sie auch nicht, denn Kinder brauchen nicht alles zu wissen.

Hans Christian Andersen – Der Flaschenhals

Hans Christian Andersen

Der Flaschenhals

In der engen, krummen Straße zwischen ärmlichen Häusern stand ein schmales, hohes Haus aus Fachwerk, das schon überall aus den Fugen ging. Arme Leute wohnten hier, und am ärmlichsten sah es in der Dachkammer aus, wo vor dem kleinen Fenster im Sonnenschein, ein altes verbeultes Vogelbauer hing, das nicht einmal ein ordentliches Trinknäpfchen hatte, sondern nur einen umgekehrten Flaschenhals mit einem Pfropfen unten. So ließ er sich mit Wasser füllen. Ein altes Mädchen stand an dem offenen Fenster, sie hatte eben den Käfig mit Vogelmiere geschmückt, in dem ein kleiner Hänfling von Stange zu Stange hüpfte und sang, daß es schallte.
„Ja, Du hast gut singen!“ sagte der Flaschenhals. Freilich sagte er es nicht so, wie wir es sagen können, denn ein Flaschenhals kann ja nicht sprechen, aber er dachte es in der Art bei sich, wie wir Menschen auch mit uns selbst sprechen. „Ja, Du hast gut singen, Du hast Deine ganzen Glieder. Du solltest einmal in meiner Lage sein, Deinen Unterleib verlieren und nur noch Hals und Mund übrig behalten, noch dazu mit einem Pfropfen darin, dann würdest Du nicht singen. Aber es ist doch gut, daß wenigstens einer vergnügt ist. Ich habe keinen Grund zum Singen, und ich kann es auch nicht. Damals, als ich noch eine ganze Flasche war, konnte ich es, wenn man einen Pfropfen gegen mich rieb. Damals wurde ich die wahre Lerche, die große Lerche genannt! -Und dann damals, als ich mit der Kürschnersfamilie im Walde war, und die Tochter sich verlobte -ja, daran erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen! Ich habe doch viel erlebt, wenn ich es überdenke! Ich bin durch Feuer und durch Wasser gegangen, unten in der schwarzen Erde bin ich gewesen, und weiter in die Höhe hinauf gekommen als die Meisten, und nun schwebe ich draußen vor dem Vogelbauer in Luft und Sonnenschein. Es wäre wohl der Mühe wert, meine Geschichte zu hören, aber ich spreche nicht laut darüber, denn das kann ich nicht.“
Und so erzählte sie sich, oder vielmehr, dachte sie sich ihre Geschichte, die merkwürdig genug war. Und der kleine Vogel sang lustig sein Liedchen, und unten auf der Straße fuhr man und ging man, jeder dachte an sich oder an überhaupt gar nichts, aber das tat der Flaschenhals.
Er dachte zurück an den flammenden Schmelzofen in der Fabrik, wo er ins Leben geblasen wurde. Er erinnerte sich noch, daß er ganz warm gewesen war und, als er in den glühenden Ofen hineingeschaut hatte, die größte Lust verspürt hatte, gerade wieder hineinzuspringen, sich aber später nach und nach, je nach dem Grade seiner Abkühlung, recht wohl befunden hatte, wo er war. Er stand in Reih und Glied in einem ganzen Regiment von Brüdern und Schwestern, alle aus demselben Ofen, aber einige waren zu Champagnerflaschen geblasen worden, andere zu Bierflaschen, und das ist ein Unterschied. Später in der Welt draußen kann freilich eine Bierflasche den köstlichsten Lacrimae Christi in dich fassen und eine Champagnerflasche mit Wichse gefüllt sein, aber wozu man geboren ist,kann man doch am Äußeren erkennen; Adel bleibt Adel, selbst mit Wichse im Leibe.
Bald wurden alle Flaschen eingepackt und unsere Flasche mit. Damals dachte sie noch nicht daran, daß sie einst als Flaschenhals enden würde, um sich nach und nach zu einem Vogelnäpfchen herauf zu dienen, was doch immerhin ein ehrlicher Beruf ist; man ist doch etwas. Sie sah erst das Tageslicht wieder, als sie mit anderen Kameraden im Keller eines Weinhändlers ausgepackt und das erste Mal gespült wurde; das war ein wunderliches Gefühl. Da lag sie nun leer und ohne Pfropfen und fühlte sich so merkwürdig flau. Es fehlte ihr etwas, aber sie wußte selbst nicht, was es war. Nun wurde sie mit einem guten, herrlichen Wein gefüllt; sie bekam einen Pfropfen, wurde mit Lack geschlossen und bekam die Aufschrift: „Prima Sorte“, das war gerade, als habe sie beim Examen die beste Nummer erhalten. Aber der Wein war gut, und die Flasche war auch gut. Ist man jung, so ist man Lyriker, es sang und klang in ihr von Dingen, die ihr ganz unbekannt waren, von grünen, sonnigen Bergen, wo der Wein wächst und muntere Mädchen und fröhliche Burschen singen und sich küssen. Ja, es ist herrlich, zu leben! Von alledem sang und klang es in der Flasche wie in jungen Dichtern, die oft auch nichts von dem wissen, was sie besingen.
Eines Morgens wurde sie gekauft. Der Laufbursche des Kürschners sollte eine Flasche Wein vom besten bringen, und so kam sie in den Eßkorb zu Schinken. Käse und Wurst; dort gab es die herrlichste Butter, das feinste Brot. Die Kürschnerstochter selbst packte sie ein, sie war so jung, so schön; die braunen Augen lachten, ein Lächeln lag um ihren Mund, das ebenso sprechend war wie die Augen. Sie hatte feine weiche Hände; so weiß waren sie, doch Hals und Brust waren weißer noch, man konnte sogleich sehen, daß sie eins der hübschesten Mädchen in der Stadt war, und doch war sie noch nicht verlobt.
Der Eßkorb stand auf ihrem Schoß, als die Familie in den Wald hinaus fuhr. Der Flaschenhals lugte unter den Zipfeln des weißen Tuches hervor. Der Pfropfen war mit rotem Lack verziert und sie schaute gerade in des jungen Mädchens Antlitz; sie sah auch den jungen Steuermann an, der an des Mädchens Seite saß. Er war ihr Jugendfreund, der Sohn eines Porträtmalers. Vor kurzem hatte er seine Steuermannsprüfung mit Ehren bestanden und sollte morgen mit seinem Schiffe fort nach fremden Ländern fahren; hiervon war schon während des Einpackens viel die Rede gewesen, und während davon gesprochen wurde, war just nicht viel Vergnügen in den Augen und um den Mund der schönen Kürschnerstochter zu sehen gewesen.
Die beiden jungen Leute gingen in den grünen Wald und sprachen zusammen -wovon sprachen sie wohl? Ja, das hörte die Flasche nicht, sie stand noch immer im Eßkorb. Es dauerte merkwürdig lange, bis sie hervorgeholt wurde. Als es jedoch nun geschah, hatten sich auch erfreuliche Dinge ereignet. Aller Augen lachten und auch die Kürschnerstochter lachte, aber sie sprach weniger als zuvor, und ihre Wangen glühten wie zwei rote Rosen.
Der Vater nahm die gefüllte Flasche und den Korkenzieher. -Ja, es ist ein wunderliches Gefühl, so zum ersten Male geöffnet zu werden. Der Flaschenhals konnte seitdem niemals mehr diesen feierlichen Augenblick vergessen; es hatte ordentlich „Schwupp“ in ihm gesagt, als der Pfropfen herausging, und dann gluckte es, als der Wein hinaus in die Gläser strömte.
„Den Verlobten zum Wohle“ sagte der Vater; jedes Glas wurde bis zur Neige geleert und der Steuermann küßte seine schöne Braut.
„Glück und Segen!“ sagten die beiden Alten, und der junge Mann füllte die Gläser noch einmal: „Auf Heimkehr und Hochzeit heut übers Jahr“ rief er, und als die Gläser geleert waren, ergriff er die Flasche, hob sie hoch empor und sagte: „Du bist am schönsten Tage meines Lebens mit dabei gewesen, weiter sollst Du keinem dienen!“
Dabei warf er sie hoch empor. Damals dachte die Kürschnerstochter nicht daran, daß sie sie wiedersehen sollte, aber sie sollte es. Die Flasche fiel in das dichte Schilf an dem kleinen Waldsee. Der Flaschenhals erinnerte sich so lebhaft daran, als sei es heute geschehen, wie er dort im Schilfe gelegen und nachgedacht hatte: „Ich gab ihnen Wein und sie geben mir Sumpfwasser, aber es war gutgemeint!“ Er konnte die Verlobten und die fröhlichen Alten nicht mehr sehen, aber noch lange hörte er sie jubilieren und singen. Dann kamen zwei kleine Bauernjungen, guckten zwischen das Schilf, erblickten die Flasche und nahmen sie mit; nun war sie versorgt.
Daheim in dem Waldhäuschen, wo sie wohnten, war gestern ihr ältester Bruder, der Seemann, gewesen und hatte Lebewohl gesagt, da er auf eine größere Reise gehen sollte. Die Mutter stand nun und packte noch ein und das andere ein, womit der Vater am Abend in die Stadt gehen sollte, um den Sohn noch einmal vor der Abreise zu sehen und ihm seinen und der Mutter Gruß zu bringen. Eine kleine Flasche mit Kräuterbranntwein war in das Päckchen gelegt worden, doch nun kamen die Knaben mit der größeren Flasche, die sie gefunden hatten. Dorthinein ging mehr als in die kleine, und außerdem war es doch ein so guter Schnaps gegen verdorbenen Magen; er war auf hypericum abgezogen. Es war kein roter Wein, wie zuvor, den die Flasche nun bekam, sie bekam gar bittere Tropfen, aber die sind auch gut -für den Magen. Die neue Flasche sollte mit, nicht die kleine -so kam die Flasche wieder auf die Wanderschaft, und sie kam an Bord zu Peter Jensen; das war gerade das gleiche Schiff, auf dem auch der junge Steuermann war. Aber er sah die Flasche nicht, er hätte sie wohl auch nicht wiedererkannt oder daran gedacht, daß es dieselbe sein könne, woraus er auf Verlobung und Heimkehr getrunken hatte.
Freilich war kein Wein mehr darin, aber etwas ebenso Gutes. Sie wurde auch jedesmal, wenn Peter Jensen sie hervorholte, „Der Apotheker“ genannt. Aus ihr schenkte man die gute Medizin, die dem Magen half, und sie half solange, wie noch ein Tropfen darin war. Das war eine fröhliche Zeit, und die Flasche sang, wenn man sie mit dem Pfropfen rieb; damals bekam sie auch den Namen der wahren Lerche, „Peter Jensens Lerche.“
Lange Zeit war vergangen, sie stand leer in einer Ecke, da geschah es -ob es auf der Hinreise oder Rückreise war, wußte die Flasche nicht so genau, denn sie war nicht mit an Land gewesen -da erhob sich ein Sturm; hohe Seen, schwarz und schwer, wälzten sich heran, sie hoben das Fahrzeug mit sich empor und schleuderten es wieder hinab. Eine Sturzsee schlug eine Planke ein, die Pumpen konnten nichts mehr ausrichten; es war stockfinstere Nacht und das Schiff sank Aber in der letzten Minute schrieb der junge Steuermann auf ein Blatt: „In Jesu Namen. Wir sinken!‘ Er schrieb den Namen seiner Braut, den seinen und den des Schiffes darauf, steckte den Zettel in eine leere Flasche, die da stand, drückte den Pfropfen fest hinein und warf die Flasche hinaus in das stürmende Meer.
Er wußte nicht, daß es die Flasche war, woraus einst der Hoffnung und der Freude Wohl getrunken worden war für ihn und für sie; nun schaukelte sie auf den Wellen mit einem Gruß und einer Todesbotschaft.
Das Schiff sank, die Mannschaft sank aber die Flasche flog wie ein Vogel, sie hatte ja ein Herz, einen Liebesbrief in sich. Und die Sonne ging auf und sie ging unter; es war für die Flasche fast ebenso anzusehen, wie der rote, glühende Ofen ihrer Jugend, und sie hatte Sehnsucht, wieder hineinzufliegen. Sie trieb in Windstille und neuen Stürmen dahin, doch stieß sie an keine Felsenklippe, kein Hai verschluckte sie; länger als Jahr und Tag trieb sie umher, bald nach Nord, bald nach Süd, wie die Strömung sie führte. Im übrigen war sie ihr eigener Herr, aber auch dessen kann man überdrüssig werden.
Das beschriebene Blatt, das letzte Lebewohl des Bräutigams an die Braut, sollte nur Trauer bringen, wenn es dereinst in die rechten Hände geriet. Aber wo waren die Hände, die so weiß geleuchtet hatten, als sie das Tuch in das frische Gras im grünen Walde ausgebreitet hatten am Verlobungstage? Wo war des Kürschners Tochter? Ja, wo war das Land, und welches Land war wohl das nächste? Die Flasche wußte es nicht; sie trieb und trieb und wurde schließlich des Treibens müde; es war ja nicht ihre Bestimmung, aber sie trieb trotzdem, bis sie endlich Land erreichte, ein fremdes Land. Sie verstand nicht ein Wort von dem, was gesprochen wurde, es war nicht die Sprache, die sie zuvor hatte sprechen hören; ja, es geht viel verloren, wenn man die Sprache nicht beherrscht.
Die Flasche wurde aufgehoben und betrachtet. Der Zettel darin wurde gesehen, herausgenommen und nach allen Seiten gedreht und gewendet, aber man verstand nicht, was darauf geschrieben stand. Sie begriffen wohl, daß die Flasche aus irgendeinem Grunde über Bord geworfen war und dieser Grund auf dem Papier geschrieben stand, aber was dort stand, war unbegreiflich -und der Zettel wurde wieder in die Flasche gesteckt, und diese kam in einen großen Schrank in einer großen Stube in einem großen Hause.
Jedesmal, wenn Besuch kam, wurde der Zettel hervorgeholt und gedreht und gewendet, so daß die Worte darauf, die nur mit Bleistift geschrieben waren, mehr und mehr unleserlich wurden. Zuletzt konnte niemand mehr erkennen, daß Buchstaben darauf waren. Die Flasche stand noch ein Jahr lang im Sehranke, dann kam sie auf den Boden und wurde von Staub und Spinnweben bedeckt. Da dachte sie an die besseren Tage zurück, wo sie roten Wein im frischen Walde einschenkte und auf den Wogen schaukelte und ein Geheimnis zu tragen hatte, einen Brief einen Abschiedsseufzer.
Und nun stand sie wohl zwanzig Jahre auf dem Boden; sie hätte noch länger dort stehen können, wäre das Haus nicht umgebaut worden. Das Dach wurde abgerissen, und die Flasche gefunden und besprochen, aber sie verstand die Sprache nicht. Die lernt man nicht vom auf dem Boden stehen, selbst in zwanzig Jahren nicht. „Wäre ich unten in der Stube geblieben,“ sagte sie ganz richtig, „dann hätte ich sie wohl gelernt.“
Sie wurde nun gewaschen und gespült und das hatte sie auch nötig; sie fühlte sich ganz klar und durchsichtig, sie wurde wieder jung in ihren alten Jahren; aber der Zettel, den sie in sich trug, war bei der Wäsche verloren gegangen.
Die Flasche wurde nun mit Samenkörnern gefüllt, von welcher Art, wußte sie nicht; sie wurde zugekorkt und gut eingewickelt und sah weder Licht noch Laterne, geschweige denn Sonne oder Mond, und etwas müsse man doch sehen, wenn man auf Reisen ginge, meinte die Flasche; aber sie sah nichts. Doch das Wichtigste tat sie -sie reiste und kam dorthin, wohin sie sollte; dort wurde sie ausgepackt.
„Was sie sich dort im Auslande für Umstände mit ihr gemacht haben“ wurde gesagt, „und doch wird sie wohl gesprungen sein.“ Aber sie war nicht gesprungen. Die Flasche verstand jedes einzige Wort, das gesagt wurde; es war die Sprache, die sie am Schmelzofen und beim Weinhändler, im Walde und auf dem Schiffe vernommen hatte, die einzig richtige, gute alte Sprache, die man verstehen konnte. Sie war wieder in ihr Heimatland zurückgekommen, sie bekam ihren Willkommensgruß. Vor Freude wäre sie ihnen fast aus den Händen gesprungen; sie merkte es kaum, wie der Korken herausgezogen, sie ausgeschüttet und in den Keller gesetzt wurde, um weggestellt und vergessen zu werden. In der Heimat ist es doch am besten, selbst im Keller. Es kam ihr nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie lange sie dort lag, sie lag gut und lag jahrelang. Da kamen eines Tages Leute in den Keller herunter und holten mit den Flaschen auch sie herauf.
Draußen im Garten herrschten Pracht und Herrlichkeit. Brennende Lampen hingen an Girlanden. Papierlaternen strahlten wie transparente Tulpen; es war ein herrlicher Abend. Das Wetter war stille und klar, die Sterne blinkten hell und der Neumond stand am Himmel, eigentlich sah man den ganzen runden Mond wie eine blaugraue Kugel mit goldenem Rande und es sah gut aus für gute Augen.
Die Nebengänge waren auch illuminiert, wenigstens so hell, daß man darin vorwärtskommen konnte. Zwischen den Hecken waren Flaschen mit Lichtern aufgestellt. Dort stand auch die Flasche, die wir kennen und die dereinst als Flaschenhals enden sollte, als Vogelnapf. Sie fand in diesem Augenblicke alles unaussprechlich schön, sie war wieder im Grünen, nahm wieder teil an Freud und Fest, vernahm Gesang und Musik. das Geschwirr und Gesumm vieler Menschen, besonders von der Seite des Gartens, wo die Lampen brannten und die Papierlaternen ihre Farbenpracht zeigten. Sie selbst stand wohl abseits in einem Gang, aber just das regte sie zum Nachdenken an. Da stand nun die Flasche und trug ihr Licht, stand hier zum Nutzen und zur Freude, und das ist das Richtige: in solch einer Stunde vergißt man die zwanzig Jahre auf dem Boden, und es ist gut, das zu vergessen.
Dicht an ihr vorbei ging ein einzelnes Paar Arm in Arm wie das Brautpaar damals im Walde, der Steuermann und die Kürschnerstochter. Es war für die Flasche, als erlebe sie es noch einmal. Im Garten gingen Gäste und Leute, die diese und all die Pracht anschauen durften; unter diesen war auch ein altes Mädchen, die keine Verwandten mehr, wohl aber Freunde besaß. Sie dachte ganz an dieselben Dinge wie die Flasche, an den grünen Wald und ein junges Brautpaar, das sie recht nahe anging, war sie doch selbst der eine Teil desselben. Das war ihre glücklichste Stunde gewesen, und die vergißt sich nie, auch wenn man eine noch so alte Jungfer wird. Aber sie erkannte die Flasche nicht, und diese erkannte sie nicht, so geht man aneinander vorüber in der Welt -bis man sich wieder begegnet, und das taten die beiden, in der Stadt waren sie ja zusammengekommen.
Die Flasche kam aus dem Garten zum Weinhändler, wurde wieder mit Wein gefüllt und an den Luftschiffer verkauft, der am nächsten Sonntag mit dem Ballon aufsteigen sollte. Das war ein Gewimmel von Menschen, die alle zuschauen wollten; Regimentsmusik erschallte und Vorbereitungen wurden getroffen. Die Flasche sah alles von einem Korbe aus, worin sie zusammen mit einem lebendigen Kaninchen lag; das war ganz verzagt, weil es wußte, daß es mit aufsteigen sollte, um dann mit einem Fallschirm hinabgelassen zu werden; die Flasche wußte weder etwas von herauf noch herunter, sie sah, daß der Ballon dicker und immer dicker aufschwoll und, als er nicht mehr größer werden konnte, sich emporzuheben begann, höher und höher; immer unruhiger wurde er, da durchschnitt man die Taue, die ihn hielten, und er schwebte mit dem Luftschiffer, dem Korbe, der Flasche und dem Kaninchen himmelwärts; die Musik setzte wieder ein und alle Menschen riefen: Hurra!
„Es ist doch ein merkwürdig Ding, so in die Luft zu gehen,“ dachte die Flasche, „das ist eine neue Art zu segeln; da oben kann man doch nicht laufen!“
Viele tausend Menschen sahen dem Ballon nach, und die alte Jungfer sah ihm auch nach; sie stand an ihrem offenen Dachkammerfenster, vor dem das Vogelbauer mit dem kleinen Hänfling hing, der damals noch kein Wasserglas hatte, sondern sich mit einer Tasse begnügen mußte. Im Fenster stand ein Myrtenstock, der ein wenig beiseite gerückt worden war, um nicht hinuntergestoßen zu werden, während das alte Mädchen sich vorbeugte, um hinauszusehen. Sie sah deutlich den Luftschiffer im Ballon, der das Kaninchen mit dem Fallschirm hinabließ, dann auf aller Menschen Wohl trank und die Flasche hoch in die Luft hinaus warf. Sie dachte nicht daran, daß sie just dieselbe Flasche schon einmal hatte so fliegen sehen, und zwar vor ihr und ihrem Freund an dem Freudentage draußen im grünen Walde in ihrer Jugendzeit.
Die Flasche hatte gar keine Zeit zum Denken übrig, so plötzlich, so unerwartet gelangte sie auf den Höhepunkt ihres Lebens, Türme und Dächer lagen tief unten, die Menschen waren nur wie kleine Pünktchen zu sehen.
Nun sank sie, und zwar mit einer anderen Geschwindigkeit als das Kaninchen; die Flasche schoß Purzelbäume in der Luft, sie fühlte sich so jung, so ausgelassen, sie war noch halbberauscht vom Weine in ihr, aber nicht lange. Welch eine Reise. Die Sonne schien auf die Flasche nieder, alle Menschen sahen ihrem Fluge nach, der Ballon war schon weit weg, und bald war auch die Flasche weg. Sie fiel auf eins der Dächer und dann war sie entzwei. Aber die Scherben waren noch so vom Fluge benommen, daß sie nicht liegen bleiben konnten, sie sprangen-und rollten, bis sie den Hof erreichten, um dort in noch kleinere Stücke zu zerspringen. Nur der Flaschenhals hielt; er sah aus wie von einem Diamanten abgeschnitten.
„Der könnte gut als Wassernäpfchen für einen Vogel verwendet werden!“ sagte der Krämer im Keller, aber er selbst hatte weder einen Vogel noch ein Bauer, und es wäre wohl etwas zu weit gegriffen, sich diese anzuschaffen, weil er nun einen Flaschenhals hatte, der als Wassernäpfchen verwendet werden könnte. Aber die alte Jungfer in der Dachkammer konnte ihn gebrauchen; und so kam der Flaschenhals zu ihr hinauf, bekam einen Pfropfen zu schlucken, und was er früher nach oben gekehrt hatte, kam nun nach unten, wie es gar oft bei Veränderungen zu geschehen pflegt, er bekam frisches Wasser und wurde vor das Bauer zu dem kleinen Vogel gehängt, der so herzhaft sang, daß es schallte.
„Ja, Du hast gut singen!“ Das war es, was der Flaschenhals sagte, und der war ja etwas Besonderes, weil er in einem Luftballon gewesen war. -Mehr wußte man nicht von seiner Geschichte. Nun hing er da als Vogelnäpfchen, konnte die Leute auf der Straße lärmen und sich tummeln hören und konnte das Gespräch der alten Jungfer drinnen in der Kammer mitanhören. Es war eben Besuch gekommen, eine gleichaltrige Freundin, und sie sprachen zusammen, nicht von dem Flaschenhals, sondern von dem Myrtenbaum am Fenster.
„Du solltest wahrhaftig nicht zwei Reichstaler wegwerfen für einen Brautkranz für Deine Tochter.“ sagte die alte Jungfer. „Du sollst von mir einen haben, und zwar einen hübschen ganz voller Blüten. Siehst Du, wie herrlich das Bäumchen steht? Ja, das ist ein Ableger von der Myrte, die Du mir am Tage nach meiner Verlobung gegeben hast, von dem Stock, von dem ich mir meinen Brautkranz schneiden sollte, wenn das Jahr um war. Aber der Tag kam nicht. Die Augen haben sich geschlossen, die mir zu Glück und Segen in diesem Leben leuchten sollten. Auf dem Meeresgrund schläft er süß, die Engelsseele. -Das Bäumchen wurde ein alter Baum, aber ich wurde noch älter, und als der Baum verdorrte, nahm ich den letzten frischen Zweig und setzte ihn in die Erde, und dieses Zweiglein ist nun ein großer Baum geworden und kommt nun doch endlich zu seinem Hochzeitsstaat, wird Deiner Tochter Brautkranz!“
Es standen Tränen In des alten Mädchens Augen; sie sprach von dem Freund ihrer Jugend, von der Verlobung im Walde; sie dachte an das Wohl, das damals ausgebracht wurde, dachte an den ersten Kuß, -aber das sagte sie nicht -war sie doch eine alte Jungfer. An so vieles dachte sie, aber daran dachte sie nicht, daß vor ihrem Fenster noch ein Andenken aus jener Zeit hing: der Hals jener Flasche, die damals „Schwupp“ sagte, als der Pfropfen knallte. Aber der Flaschenhals erkannte sie auch nicht, denn er hörte nicht darauf, was sie erzählte, er dachte nur an sich.

Hans Christian Andersen – Der fliegende Koffer

Hans Christian Andersen

Der fliegende Koffer

Es war einmal ein Kaufmann, der war so reich, daß er die ganze Straße und fast noch eine kleine Gasse mit Silbergeld pflastern konnte; aber das tat er nicht, er wußte sein Geld anders anzuwenden, und gab er einen Groschen aus, so bekam er einen Taler wieder, ein so kluger Kaufmann war er – bis er starb.
Der Sohn bekam nun all dieses Geld, und er lebte lustig, ging jeden Tag einem anderen Vergnügen nach, machte Papierdrachen von Talerscheinen und warf in das Wasser mit Goldstücken anstatt mit einem Steine. So konnte das Geld wohl zu Ende gehen. Zuletzt besaß er nicht mehr als vier Groschen und hatte keine anderen Kleider als ein Paar Schuhe und einen alten Schlafrock. Nun kümmerten sich seine Freunde nicht mehr um ihn, da sie ja nicht zusammen auf die Straße gehen konnten; aber einer von ihnen, der gutmütig war, sandte ihm einen alten Koffer mit der Bemerkung: »Packe ein!« Ja, das war nun ganz gut, aber er hatte nichts einzupacken, darum setzte er sich selbst in den Koffer.
Das war ein merkwürdiger Koffer. Sobald man an das Schloß drückte, konnte der Koffer fliegen. Das tat nun der Mann, und sogleich flog er mit dem Koffer durch den Schornstein hoch über die Wolken hinauf, weiter und weiter fort; sooft aber der Boden ein wenig krachte, war er sehr in Angst, daß der Koffer in Stücke gehe, denn alsdann hätte er einen ganz tüchtigen Luftsprung gemacht. So kam er nach dem Lande der Türken. Den Koffer verbarg er im Walde unter verdorrten Blättern und ging dann in die Stadt hinein; das konnte er auch recht gut, denn bei den Türken gingen ja alle so wie er in Schlafrock und Pantoffeln. Da begegnete er einer Amme mit einem kleinen Kinde. »Höre du, Türkenamme«, fragte er, »was ist das für ein großes Schloß hier dicht bei der Stadt, wo die Fenster so hoch sitzen?«
»Da wohnt die Tochter des Königs!« erwiderte die Frau. »Es ist prophezeit, daß sie über einen Geliebten sehr unglücklich werden würde, und deshalb darf niemand zu ihr kommen, wenn nicht der König und die Königin mit dabei sind!«
»Ich danke!« sagte der Kaufmannssohn, ging hinaus in den Wald, setzte sich in seinen Koffer, flog auf das Dach des Schlosses und kroch durch das Fenster zur Prinzessin. Sie lag auf dem Sofa und schlief; sie war so schön, daß der Kaufmannssohn sie küssen mußte; sie erwachte und erschrak gewaltig, aber er sagte, er sei der Türkengott, der durch die Luft zu ihr heruntergekommen sei, und das gefiel ihr.
So saßen sie beieinander, und er erzählte ihr Geschichten von ihren Augen; das waren die herrlichsten, dunklen Seen, und da schwammen die Gedanken gleich Meerweibchen; und er erzählte von ihrer Stirn, die war ein Schneeberg mit den prächtigsten Sälen und Bildern; und er erzählte vom Storch, der die lieblichen, kleinen Kinder bringt.
Ja, das waren schöne Geschichten! Dann freite er um die Prinzessin, und sie sagte sogleich ja!
»Aber Sie müssen am Sonnabend herkommen«, sagte sie, »da sind der König und die Königin bei mir zum Tee! Sie werden sehr stolz darauf sein, daß ich den Türkengott bekomme, aber sehen Sie zu, daß Sie ein recht hübsches Märchen wissen, denn das lieben meine Eltern ganz außerordentlich; meine Mutter will es erbaulich und vornehm und mein Vater belustigend haben, so daß man lachen kann!«
»Ja, ich bringe keine andere Brautgabe als ein Märchen!« sagte er, und so schieden sie, aber die Prinzessin gab ihm einen Säbel, der war mit Goldstücken besetzt, und die konnte er gerade gebrauchen.
Nun flog er fort, kaufte sich einen neuen Schlafrock und saß dann draußen im Walde und dichtete ein Märchen; das sollte bis zu Sonnabend fertig sein, und das ist nicht leicht.
Es wurde fertig, und da war es Sonnabend.
Der König, die Königin und der ganze Hof warteten mit dem Tee bei der Prinzessin. Der Kaufmannssohn wurde freundlich empfangen.
»Wollen Sie uns nun ein Märchen erzählen«, sagte die Königin, »eins, das tiefsinnig und belehrend ist?«
»Aber worüber man, auch wenn es viel Weisheit enthält, doch noch lachen kann!« sagte der König.
»Jawohl!« erwiderte er und erzählte; da muß man nun gut aufpassen.
»Es war einmal ein Bund Streichhölzer, die waren außerordentlich stolz auf ihre hohe Herkunft; ihr Stammbaum, das heißt, die große Fichte, wovon sie jedes ein kleines Hölzchen waren, war ein großer, alter Baum im Walde gewesen. Die Streichhölzer lagen nun in der Mitte zwischen einem alten Feuerzeuge und einem alten, eisernen Topfe, und diesem erzählten sie von ihrer Jugend. ‚Ja, als wir noch im Baum waren‘, sagten sie, ‚da waren wir wirklich auf einem grünen Zweig! Jeden Morgen und Abend gab es Diamanttee, das war der Tau. Den ganzen Tag hatten wir Sonnenschein, wenn die Sonne da war, und alle die kleinen Vögel mußten uns Geschichten erzählen. Wir konnten wohl merken, daß wir auch reich waren, denn die Laubbäume waren nur im Sommer bekleidet, aber unsere Familie hatte Mittel zu grünen Kleidern sowohl im Sommer als im Winter. Doch da kam der Holzhauer, und unsere Familie wurde zersplittert; der Stammherr erhielt Platz als Hauptmast auf einem prächtigen Schiffe, das die Welt umsegeln konnte, wenn es wollte, die anderen Zweige kamen nach anderen Orten, und wir haben nun das Amt, der Menge das Licht anzuzünden; deshalb sind wir vornehmen Leute hier in die Küche gekommen.‘
‚Mein Schicksal gestaltete sich auf eine andere Weise!‘ sagte der Eisentopf, an dessen Seite die Streichhölzer lagen. ‚Vom Anfang an, seit ich in die Welt kam, bin ich vielmal gescheuert und gewärmt worden; ich sorge für das Dauerhafte und bin der Erste hier im Hause. Meine einzige Freude ist, nach Tische rein und sauber auf meinem Platze zu liegen und ein vernünftiges Gespräch mit den Kameraden zu führen. Wenn ich den Wassereimer ausnehme, der hin und wieder einmal zum Hof hinunterkommt, so leben wir immer innerhalb der Türen. Unser einziger Neuigkeitsbote ist der Marktkorb, aber der spricht zu unruhig über die Regierung und das Volk. Ja, neulich war da ein alter Topf, der vor Schreck darüber niederfiel und sich in Stücke schlug; der war gut gesinnt, sage ich euch!‘ – ‚Nun sprichst du zuviel!‘ fiel das Feuerzeug ein, und der Stahl schlug gegen den Feuerstein, daß es sprühte. ‚Wollen wir uns nicht einen lustigen Abend machen?‘
‚Ja, laßt uns davon sprechen, wer der vornehmste ist!‘ sagten die Streichhölzer.
‚Nein, ich liebe es nicht, von mir selbst zu reden‘, wendete der Tontopf bescheiden ein. ‚Laßt uns eine Abendunterhaltung veranstalten. Ich werde anfangen, ich werde etwas erzählen, was ein jeder erlebt hat; da kann man sich leicht darein finden, und es ist sehr erfreulich! An der Ostsee bei den Buchen –‘
‚Das ist ein hübscher Anfang!‘ sagten die Teller. ‚Das wird sicher eine Geschichte, die uns gefällt!‘
‚Ja, da verlebte ich meine Jugend bei einer stillen Familie; die Möbel wurden geputzt, die Fußböden gescheuert, und alle vierzehn Tage wurden neue Vorhänge aufgehängt!‘ ‚Wie gut Sie erzählen!‘, sagte der Haarbesen. ‚Man kann gleich hören, daß ein Frauenzimmer erzählt; es geht etwas Reines hindurch!‘
‚Ja, das fühlt man!‘ sagte der Wassereimer und machte vor Freude einen kleinen Sprung, so daß es auf dem Fußboden klatschte.
Der Topf fuhr zu erzählen fort, und das Ende war ebensogut wie der Anfang.
Alle Teller klapperten vor Freude, und der Haarbesen zog grüne Petersilie aus dem Sandloche und bekränzte den Topf, denn er wußte, daß es die andern ärgern werde. ‚Bekränze ich ihn heute‘, dachte er, ’so bekränzt er mich morgen.‘
‚Nun will ich tanzen!‘ sagte die Feuerzange und tanzte. Ja, Gott bewahre uns, wie konnte sie das eine Bein in die Höhe strecken! Der alte Stuhlbezug dort im Winkel platzte, als er es sah. ‚Werde ich nun auch bekränzt?‘ fragte die Feuerzange, und das wurde sie.
‚Das ist das gemeine Volk!‘ dachten die Streichhölzer.
Nun sollte die Teemaschine singen, aber sie sagte, sie sei erkältet, sie könne nicht, wenn sie nicht koche; doch das war bloß Vornehmtuerei; sie wollte nicht singen, wenn sie nicht drinnen bei der Herrschaft auf dem Tische stand.
Im Fenster saß eine alte Feder, womit das Mädchen zu schreiben pflegte; es war nichts Bemerkenswertes an ihr, außer daß sie gar zu tief in die Tinte getaucht worden, aber darauf war sie nun stolz. ‚Will die Teemaschine nicht singen‘, sagte sie, ’so kann sie es unterlassen; draußen hängt eine Nachtigall im Käfig, die kann singen; die hat zwar nichts gelernt, aber das wollen wir diesen Abend dahingestellt sein lassen!‘
‚Ich finde es höchst unpassend‘, sagte der Teekessel – er war Küchensänger und Halbbruder der Teemaschine –, ‚daß ein fremder Vogel gehört werden soll! Ist das Vaterlandsliebe? Der Marktkorb mag darüber richten!‘
‚Ich ärgere mich nur‘, sagte der Marktkorb, ‚ich ärgere mich so, wie es sich kein Mensch denken kann! Ist das eine passende Art, den Abend hinzubringen? Würde es nicht vernünftiger sein, Ordnung herzustellen? Ein jeder müßte auf seinen Platz kommen, und ich würde das ganze Spiel leiten. Das sollte etwas anderes werden!‘
‚Laßt uns Lärm machen!‘ sagten alle. Da ging die Tür auf. Es war das Dienstmädchen, und da standen sie still. Keiner bewegte sich; aber da war nicht ein Topf, der nicht gewußt hätte, was er zu tun vermöge und wie vornehm er sei. ‚Ja, wenn ich gewollt hätte‘, dachte jeder, ’so hätte es ein recht lustiger Abend werden sollen!‘
Das Dienstmädchen nahm die Streichhölzer und zündete sich Feuer damit an. Wie sie sprühten und in Flammen gerieten!
‚Nun kann doch ein jeder sehen‘, dachten sie, ‚daß wir die Ersten sind. Welchen Glanz wir haben, welches Licht!‘ Damit waren sie ausgebrannt.
»Das war ein herrliches Märchen!« sagte die Königin. »Ich fühle mich ganz in die Küche versetzt zu den Streichhölzern, ja, nun sollst du unsere Tochter haben.«
»Jawohl!« sagte der König, »du sollst unsere Tochter am Montag haben!«
Denn nun sagten sie du zu ihm, da er ja nun fortan sowieso zur Familie gehören sollte.
Die Hochzeit war nun bestimmt, und am Abend vorher wurde die ganze Stadt beleuchtet, Zwieback und Brezeln wurden ausgeteilt, die Straßenbuben riefen hurra und pfiffen auf den Fingern, es war außerordentlich prachtvoll.
‚Ja, ich muß wohl auch etwas tun!‘ dachte der Kaufmannssohn und kaufte Raketen, Knallerbsen und alles Feuerwerk, was man erdenken konnte, legte es in seinen Koffer und flog damit in die Luft.
Das war kein kleiner Lärm!
Alle Türken hüpften dabei in die Höhe, daß ihnen die Pantoffeln um die Ohren flogen; solche Lufterscheinungen hatten sie noch nie gesehen. Nun konnten sie begreifen, daß es der Türkengott selbst war, der die Prinzessin haben sollte.
Sobald der Kaufmannssohn wieder mit seinem Koffer herunter in den Wald kam, dachte er: ‚Ich will doch in die Stadt hineingehen, um zu erfahren, wie es sich ausgenommen hat‘; es war ganz natürlich, daß er Lust dazu hatte.
Was doch die Leute erzählten! Ein jeder, den er danach fragte, hatte es auf seine Weise gesehen, aber schön hatten es alle gefunden.
»Ich sah den Türkengott selbst«, sagte der eine, »er hatte Augen wie glänzende Sterne und einen Bart wie schäumendes Wasser!«
»Er flog in einem Feuermantel«, sagte ein anderer. »Die lieblichsten Engelskinder blickten aus den Falten hervor!«
Ja, das waren herrliche Sachen, die er hörte, und am folgenden Tage sollte er Hochzeit haben. Nun ging er nach dem Walde zurück, um sich in seinen Koffer zu setzen – aber wo war der? Der Koffer war verbrannt. Ein Funken des Feuerwerks war zurückgeblieben, der hatte Feuer gefangen, und der Koffer lag in Asche. Nun konnte der Kaufmannssohn nicht mehr fliegen, nicht mehr zu seiner Braut gelangen.
Sie stand den ganzen Tag auf dem Dache und wartete; sie wartet noch, aber er durchwandert die Welt und erzählt Märchen, doch sind sie nicht mehr so lustig wie das Märchen von den Streichhölzern, das er als Türkengott erzählte.