Hans Christian Andersen – Die Geschichte des Jahres

Hans Christian Andersen

Die Geschichte des Jahres

Es war in den letzten Tagen des Januar; ein fürchterlicher Schneesturm trieb daher. Der Schnee fegte wirbelnd durch die Straßen und Gassen. Die Fensterscheiben waren außen wie vom Schnee gepolstert, von den Dächern stürzte er in ganzen Haufen und die Leute hasteten vorwärts; sie liefen, sie flogen und stürzten einander in die Arme, hielten sich aneinander einen Augenblick fest und hatten wenigstens solange einen Halt. Wagen und Pferde waren gleichsam überpudert, die Diener standen mit dem Rücken gegen den Wagen gelehnt, um sich vor dem Winde zu schützen, und die Fußgänger suchten beständig Deckung hinter den Wagen, die nur langsam in dem tiefen Schnee von der Stelle kamen. Als sich endlich der Sturm legte, und ein schmaler Fußsteig längs den Häusern ausgeworfen wurde, standen die Leute doch noch stille, wenn sie sich begegneten. Keiner von ihren hatte Lust, den ersten Schritt in den tiefen Schnee an den Seiten zu tun, damit der andere vorüber könne. Schweigend standen sie still, bis endlich, fast wie in einer stummenÜbereinkunft, jeder von ihnen ein Bein preisgab und es in dem Schneehaufen versinken ließ.
Gegen Abend wurde es windstill. Der Himmel sah aus wie gefegt und höher und durchsichtiger als zuvor; die Sterne waren funkelnagelneu und glänzten blau und klar. Dabei fror es, daß der Schnee krachte. Bei dem Wetter konnte wohl die oberste Schneeschicht so fest werden, daß sie am Morgen die Spatzen trug; die hüpften bald oben herum bald unten, wo geschaufelt war; viel Nahrung war jedoch nicht zu finden und sie froren bitterlich.
»Piep« sagte der eine zum anderen, »das nennt man nun das neue Jahr. Es ist ja schlimmer als das alte. Dann hätten wir es ebensogut behalten können. Ich bin schlechter Laune, und dazu habe ich guten Grund.«
»Ja, da liefen nun die Menschen umher und schossen das neue Jahr ein,« sagte ein kleiner verfrorener Spatz. »Sie warfen Töpfe gegen die Türen und waren rein außer sich vor Freude, daß nun das alte Jahr vergangen war. Und ich war auch froh darüber, denn ich erwartete, daß wir nun warme Tage bekommen würden, aber daraus ist nichts geworden! Es friert noch viel stärker als zuvor; die Menschen haben sich in der Zeitrechnung geirrt!« »Das haben sie« sagte ein Dritter, der schon alt und weißköpfig war. »Sie haben da etwas, das sie den Kalender nennen. Das ist ihre eigene Erfindung, und deshalb soll sich alles danach richten, aber das tut es nicht. Wenn der Frühling kommt, beginnt das Jahr. Das ist der Lauf der Natur und danach rechne ich.«
»Aber wann kommt der Frühling?« fragten die anderen.
»Der kommt, wenn der Storch kommt; aber damit ist es ziemlich unbestimmt. Hier in der Stadt ist keiner, der etwas davon versteht. Auf dem Lande draußen wissen sie es besser. Wollen wir hinaus fliegen und warten? Dort ist man doch dem Frühling näher.«
»Ja, das ist ein guter Gedanke!« sagte einer von denen, die lange auf und ab gehüpft waren und gepiept hatten, ohne eigentlich etwas zu sagen. »Ich habe hier in der Stadt allerdings einige Bequemlichkeiten, die ich fürchte, draußen entbehren zu müssen. Hier in der Nähe in einem Hofe wohnt eine Menschenfamilie, die den vernünftigen Gedanken gehabt, hat,an der Wand drei bis vier Blumentöpfe mit der großen Öffnung nach innen und dem Boden nach außen anzunageln. Dort ist ein Loch hineingeschnitten, das gerade so groß ist, daß ich aus und ein fliegen kann. Dort habe ich mit meinem Manne genistet, und von dort sind alle unsere Jungen ausgeflogen. Die Menschenfamilie hat das Ganze natürlich nur eingerichtet, um das Vergnügen zu haben, uns zu beobachten, sonst hätten sie es wohl kaum getan. Sie streuen Brotkrumen hin, natürlich auch zu ihrem Vergnügen, und wir haben dadurch Nahrung. Es ist sozusagen für uns gesorgt, -und deshalb glaube ich, daß ich bleibe und daß auch mein Mann bleibt, obgleich wir sehr unzufrieden sind, -aber wir bleiben!«
»Und wir fliegen hinaus aufs Land, um zu sehen, ob nicht das Frühjahr kommt.« Und dann flogen sie.
Aber es war eisiger Winter draußen auf dem Lande; es fror noch ein paar Grade mehr als in der Stadt drinnen. Der scharfe Wind blies über die schneebedeckten Felder. Der Bauer, mit großen Fausthandschuhen an den Händen, saß auf dem Schlitten und schlug die Arme übereinander, um die Kälte auszuhalten. Die Peitsche lag in seinem Schoße, die mageren Pferde liefen, daß sie dampften, der Schnee knirschte und die Spatzen hüpften in den Kufenspuren und froren. »Piep! wann kommt der Frühling? Es dauert so lange!«
»Solange!« erklang es über die Felder von dem schneebedeckten Hügel her. Es konnte das Echo sein, was man hörte, aber es konnte auch die Rede des wunderlichen alten Mannes sein, der oben auf der Schneewehe in Wind und Wetter saß. Er war ganz weiß, gerade wie ein Bauer im weißen Flauschmantel, mit langem weißen Haar, weißem Barte, ganz bleich und mit großen, klaren Augen.
»Wer ist der Alte dort?« fragten die Spatzen.
»Das weiß ich!« sagte ein alter Rabe, der auf einem Zaunpfahle saß und herablassend genug war, anzuerkennen, daß wir alle vor Gott nur kleine Vögel sind, und sich deshalb auch mit den Spatzen einließ und eine Erklärung abgab. »Ich weiß, wer der Alte ist. Das ist der Winter, der alte Mann vom vorigen Jahr; er ist nicht tot, wie der Kalender sagt, nein, er ist sozusagen der Vormund des kleinen Prinzen Frühling, der nun kommt. Ja, der Winter führt das Regiment. Hu! Ihr klappert ja ordentlich, Ihr Kleinen!«
»Na, was habe ich immer gesagt?« sagte der kleinste. »Der Kalender ist eine Menschenerfindung! die sich nicht in die Natur einfügen will. Das sollten sie lieber uns überlassen, uns, die wir mit viel feineren Sinnen begabt sind.«
Und es verging eine Woche, es vergingen fast zwei; der Wald war schwarz, der gefrorene See lag schwer und sah aus wie erstarrtes Blei. Die Wolken, ja, das waren keine Wolken, das war nasser, eiskalter Nebel, der über der Erde hing. Die großen, schwarzen Krähen flogen in Scharen ohne jeden Schrei; es war, als schliefe alles. -Da glitt ein Sonnenstrahl über den See, und er glänzte wie geschmolzenes Zinn. Die Schneedecke über den Feldern und oben auf der Anhöhe schimmerte nicht mehr wie zuvor, aber die weiße Gestalt, der Winter selbst, saß dort noch immer, den Blick stets gen Süden gerichtet. Er bemerkte es gar nicht, daß der Schneeteppich gleichsam in die Erde versank und daß hie und da ein kleiner grasgrüner Fleck zum Vorschein kam; da wimmelte es dann von Spatzen.
»Quivit, Quivit, kommt nun der Frühling?«
»Der Frühling« klang es über Feld und Wiese und durch die schwarzbraunen Wälder, in denen das Moos frischgrün auf den Baumstämmen leuchtete. Und durch die Luft kamen von Süden her die ersten zwei Störche gezogen. Auf dem Rücken jedes von ihnen saß ein kleines schönes Kind, ein Knabe und ein Mädchen. Sie küßten die Erde zum Willkomm, und wohin sie ihren Fuß setzten, wuchsen weiße Blumen unter dem Schnee hervor. Hand in Hand gingen sie hinauf zu dem alten Eismanne, dem Winter, und legten sich zu neuem Gruße an seine Brust, und in demselben Augenblick waren sie alle drei verschwunden, und die ganze Landschaft war verschwunden. Ein dicker, nasser Nebel, dicht und schwer, umhüllte alles. -Ein wenig später blies ein Lüftlein, dann fuhr der Wind daher mit starken Stößen und jagte den Nebel fort, und die Sonne schien warm. Der Winter selbst war verschwunden und des Frühlings schöne Kinder saßen auf dem Throne des Jahres.
»Das nenne ich Neujahr« sagten die Spatzen »Nun werden wir wohl wieder in unsere Rechte eingesetzt und bekommen Ersatz für den strengen Winter.«
Wohin die beiden Kinder sich wandten, sproßten grüne Knospen an Büschen und Bäumen hervor, wurde das Gras höher und die Saatfelder grüner und schöner. Und ringsum streute das kleine Mädchen Blumen. Siehatte einen ganzen Überfluß davon in ihrem Schürzchen, sie schienen daraus hervorzuquellen, stets war es gefüllt, wie eifrig sie auch streute. Inihrer Eilfertigkeit schüttelte sie einen wahren Blütenschnee über die Äpfel-und Pfirsichbäume, so daß sie in voller Pracht dastanden, noch bevor sie grüne Blätter hatten.
Und sie klatschte in die Hände und der Knabe klatschte ebenfalls. Da kamen alle Vögel hervor, man wußte nicht woher, und alle zwitscherten und sangen: »Der Frühling ist gekommen!«
Es war herrlich anzuschauen. Und manches alte Mütterchen kam aus seiner Tür in den Sonnenschein hinaus, sah sich ringsum und erblickte die vielen gelben Blumen, die die ganze Wiese bedeckten gerade wie in ihren jungen Jahren. Die Welt wurde wieder einmal jung. »Es ist ein gesegneter Tag heute« sagte sie.
Der Wald war noch braungrün und Knospe stand an Knospe, aber der Waldmeister war schon da, frisch und duftend. Die Veilchen standen in Mengen, und es gab Anemonen und gelbe Kuhblumen, ja, in jedem Grashalm war Saft und Kraft; es war wirklich ein Prachtteppich, der förmlich zum Sitzen aufforderte, und dort saß das junge Frühlingspaar, hielt sich an des Händen und sang und lächelte und wuchs und wuchs.
Ein milder Regen fiel vom Himmel auf sie herab; sie merkten es nicht. Regentropfen und Freudentränen vereinigten sich zu einem einzigen Tropfen. Braut und Bräutigam küßten einander, und im Nu schlug der ganze Wald aus. -Als die Sonne aufging, waren alle Wälder grün.
Und Hand in Hand ging das Brautpaar unter dem frischen, hängenden Laubdach, wo nur des Sonnenlichts Strahlen und die Schlagschatten einen Farbenwechsel in all dem Grün hervorzauberten. Eine jungfräuliche Reinheit und ein erfrischender Duft lag über den feinen Blättern. Klar und lebhaft rieselten Bächlein und Quellen zwischen dem samtgrünen Schilfe und über die glitzernden Steine dahin. »Und so ist es und bleibt es ewiglich« sagte die ganze Natur. Und der Kuckuck rief und die Lerche trillerte, und der schöne Frühling war da. Nur die Weiden trugen noch Wollhandschuhe über ihren Blüten, sie waren eben so übervorsichtig, und das ist langweilig!
Und so vergingen Tage und Wochen, die Wärme strömte zur Erde nieder; heiße Luftwellen gingen durch das Korn, das sich mehr und mehr gelb färbte. Des Nordens weiße Lotosblume breitete auf den Waldseen ihre großen, grünen Blätter über dem Wasserspiegel aus, und die Fische suchten den Schatten darunter. Auf der windgeschützten Seite des Waldes, wo die Sonne auf die Wände des Bauernhauses hinab brannte und die aufgeblühten Rosen tüchtig durchwärmte und wo die Kirschenbäume voller saftiger, schwarzer, fast sonnenheißer Kirschen hingen, saß des Sommers herrliches Weib, sie, die wir schon als Kind und Braut sahen. Sie sah in die aufsteigenden dunklen Wolken, die wogenförmig, den Bergen gleich, sich schwarzblau und schwer höher und höher erhoben. Von drei Seiten kamen sie; mehr und mehr senkten sie sich wie ein versteinertes Meer gegen den Wald hinab, wo alles wie verzaubert stille schwieg. Jedes Lüftchen hatte sich gelegt, jeder Vogel schwieg, Ernst und Erwartung lagen über der ganzen Natur. Aber auf den Wegen und Steigen eilten Fahrende, Reitende und Gehende vorwärts, um unter Dach zu kommen. ­Da leuchtete es mit einem Male auf, als breche die Sonne hervor, blinkend, blendend, verbrennend, und unter rollendem Krachen versank wieder alles im Dunkel. Das Wasser stürzte in Strömen vom Himmel; es wurde Nacht und wieder Licht, es ward totenstille, und dann donnerte es wieder. Die jungen braungefiederten Rohrstengel im Sumpfe bewegten sich wogend auf und nieder, die Zweige des Waldes verbargen sich unter einer Regenhülle; Dunkel und Licht, Stille und Donner wechselten unaufhörlich. Gras und Korn lagen wie niedergeschlagen, wie zur Erde gespült, als könnten sie sich nie wieder erheben. -Plötzlich wurden aus dem Regen einzelne Tropfen, die Sonne schien und von Gräsern und Blättern blinkten die Wassertropfen wie Perlen, die Vögel sangen wieder, die Fische sprangen im Wasser des Baches, die Mücken tanzten, und draußen auf den Steinen im salzigen, gepeitschten Meereswasser saß der Sommer selbst, der kräftige Mann mit den fülligen Gliedern, dem triefenden Haar -verjüngt vom frischen Bade saß er im warmen Sonnenschein. Die ganze Natur ringsum war verjüngt. Alles stand reich und kräftig und schön; es war Sommer, warmer, herrlicher Sommer.
Lieblich und süß war der Duft, der von dem üppigen Kleefelde herüberwehte, die Bienen summten um das uralte Thing, die Bromheerranken wanden sich um den Opferaltar, der vom Regen gewaschen im Sonnenlichte glänzte. Dorthin flog die Bienenkönigin mit ihrem Schwarm und setzte dort Wachs und Honig an. Niemand sah es außer dem Sommer und seinem kräftigen Weibe; für sie allein stand der Altartisch gedeckt mit den Opfergaben der Natur.
Der Abendhimmel erstrahlte wie Gold, keine Kirchenkuppel war so reich, und der Mond leuchtete zwischen Abend-und Morgenrot. Es war Sommerszeit. Und es vergingen Wochen und Tage. -Der Schnitter blanke Sensen blinkten in den Kornfeldern. Die Zweige der Apfelbäume beugten sich unter der Last ihrer gelben und roten Früchte; der Hopfen duftete köstlich und hing in großen Knospen, und unter dem Haselbusch, an dem die Nüsse in schweren Büscheln hingen, ruhten Mann und Frau, der Sommer und sein tiefernstes Weib.
»Welcher Reichtum« sagte sie. »Rundum ruht Segen, heimlich und gut, über allem, und doch, ich weiß selbst nicht, ich sehne mich nach Ruhe ­Stille. Ich finde nicht das rechte Wort dafür. Nun pflügen sie schon wieder auf den Feldern! Mehr und immer mehr wollen die Menschen gewinnen! ­Sieh, die Störche kommen schon in Scharen und gehen hinter dem Pflugeher, Ägyptens Vögel, die uns durch die Lüfte trugen. Erinnerst Du Dich, wie wir beide als Kinder hierher nach den Ländern des Nordens kamen? ­Blumen brachten wir her, herrlichen Sonnenschein und grüne Wälder, nun hat sie der Wind schon tüchtig zerzaust, sie werden braun und dunkel wie des Südens Bäume, aber sie tragen nicht, wie diese, goldene Früchte.«
»Danach sehnst Du Dich?« fragte der Sommer. »Nun so freue Dich.« Er hob den Arm und die Blätter färbten sich mit Rot und mit Gold und die Wälder erstrahlten in herrlichster Farbenpracht; an den Rosenhecken leuchteten feuerrote Hagebutten, die Fliederbüsche hingen schwer zur Erde unter der Last ihrer großen schwarzbraunen Beeren, die wilden Kastanien fielen reif aus ihren dunkelgrünen Schalen und im Walde drinnen blühten die Veilchen zum zweiten Male.
Aber des Jahres Königin wurde immer stiller und bleicher. »Es weht kalt« sagte sie, »die Nacht hat nasse Nebel. -Ich sehne mich nach dem Lande der Kindheit.«
Sie sah die Störche fortfliegen, jeden einzigen! Und sie streckte die Hände nach ihnen aus. Sie sah zu den Nestern empor, die leer standen; in einem wuchs eine langstielige Kornblume und in einem anderen der gelbe Löwenzahn, als sei das Nest nur zu ihrem Schutz und Schirm da. Und die Spatzen setzten sich hinein.
»Piep. Wo sind denn die Herrschaften geblieben! Sie können wohl nicht vertragen, daß ihnen ein bißchen Luft um die Nase weht, da sind sie gleich ins Ausland gegangen. Glück auf die Reise.« Und gelber und gelber färbten sich die Wälder, Blatt nach Blatt fiel, die Herbststürme sausten; die Erntezeit ging zu Ende. Auf dem gelben Laubteppich lag die Königin des Jahres und sah mit sanften Augen zu den blinkenden Sternen empor, ihr Gemahl stand bei ihr. Ein Windstoß wirbelte das Laub auf -es fiel wieder zur Erde, aber sie war verschwunden; nur ein Schmetterling, des Jahres letzter, flog durch die kalte Luft.
Und die nassen Nebel kamen, die eisigen Winde und die dunklen, langen Nächte. Des Jahres Beherrscher stand mit schneeweißem Haar. Er selbst wußte nichts davon, er glaubte, es seien Schneeflocken, die aus den Wolken niederfielen; eine dünne .Schneedecke legte sich über die grünen Felder.
Die Kirchenglocken läuteten die Weihnachtszeit ein.
»Die Glocken der Geburt klingen!« sagte des Jahres Beherrscher. »Bald wird das neue Herrscherpaar geboren, und ich gehe zur Ruhe wie sie. Zur Ruhe bei den blinkenden Sternen.«
Und in dem frischen, grünen Tannenwald, über dem der Schnee lag, stand der Weihnachtsengel und weihte die jungen Bäume, die zum Fest kommen sollten.
»Freude in den Stuben und unter den grünen Zweigen« sagte des Jahres greiser Beherrscher; diese Wochen hatten ihn schneeweiß und uralt gemacht. »Jetzt naht die Stunde der Ruhe; des Jahres, junges Paar empfängt nun Zepter und Krone.«
»Die Macht ist noch Dein« sagte der Weihnachtsengel, »die Macht und nicht die Ruhe! Laß den Schnee wärmend über den jungen Saaten liegen. Lerne ertragen, daß einem anderen gehuldigt wird, während Du noch Herrscher bist, lerne, vergessen zu sein und doch zu leben. Die Stunde Deiner Freiheit naht, wenn der Frühling kommt.«
»Wann kommt der Frühling?« fragte der Winter. »Er kommt, wenn der Storch kommt.«
Und mit weißen Locken und schneeweißem Barte saß der Winter eiskalt, alt und gebeugt, aber stark wie der Wintersturm und des Eises Macht hoch oben auf der Schneewehe des Hügels und blickte gen Süden, wie der vorige Winter gesessen und geschaut hatte. -Das Eis krachte, der Schnee knirschte, die Schlittschuhläufer schwangen sich auf den blanken Seen, und Raben und Krähen gefielen sich auf dem weißen Grunde, kein Wind rührte sich. Und in der stillen Luft faltete der Winter die Hände und das Eis legte sich stark als Brücke zwischen die Länder. Da kamen wieder die Spatzen aus der Stadt und fragten: »Wer ist der alte Mann dort oben?« Und der Rabe saß wieder dort, oder war es ein Sohn von ihm? aber das ist ja gleich -und er sagte zu ihnen: »Das ist der Winter. Der alte Mann vom vorigen Jahr. Er ist nicht tot, wie der Kalender sagt, sondern der Vormund des kommenden Frühlings.«
»Wann kommt der Frühling?« fragten die Spatzen, »dann bekommen wir bessere Zeiten und ein mildes Regiment. Das alte taugte nichts!«
Und in stillen Gedanken nickte der Winter zum blätterlosen, schwarzen Walde hinüber, wo jeder Baum seiner Zweige herrliche Form und Biegung zeigte, und über ihren Winterschlaf legten sich der Wolken eiskalte Nebel. Der Herrscher träumte von seinen Jugend-und Mannesjahren und als es tagte, stand der ganze Wald mit glitzerndem Rauhreif überschüttet; das war der Sommertraum des Winters. Der Sonnenschein aber nahm den Rauhreif wieder von den Zweigen.
»Wann kommt der Frühling?« fragten die Spatzen. »Der Frühling? erklang es wie Echo von den Hügeln, auf denen der Schnee noch lag. Und die Sonne schien wärmer und wärmer, der Schnee schmolz und die Vögel zwitscherten: »Der Frühling kommt.«
Und hoch durch die Lüfte kam der erste Storch, der zweite folgte; ein schönes Kind saß auf dem Rücken jedes von ihnen und sie schwebten auf das offene Feld nieder und küßten die Erde und küßten den alten stillen Mann, der, wie Moses auf dem Berge, von einer Nebelwolke getragen, verschwand.
Die Geschichte des Jahres war zu Ende.
»Das ist sehr richtig!« sagten die Spatzen, »und es ist auch sehr schön, aber es stimmt nach dem Kalender nicht und deshalb ist es doch verkehrt!«

Hans Christian Andersen – Die Geschichte von einer Mutter

Hans Christian Andersen

Die Geschichte von einer Mutter

Eine Mutter saß bei ihrem kleinen Kinde. Sie war so betrübt und hatte so große Angst, daß es sterben würde. Es war so bleich; die kleinen Augen hatten sich geschlossen. Der Atem ging ganz leise, nur mitunter tat es einen tiefen Zug gleich einem Seufzer, und die Mutter blickte immer sorgenvoller auf das kleine Wesen.
Da klopfte es an die Tür, und herein kam ein armer, alter Mann, der, wie es schien, in eine große Pferdedecke gehüllt war; denn die wärmt, und das tat ihm not; es war ja kalter Winter. Draußen lag alles mit Eis und Schnee bedeckt, und der Wind blies, daß es einem ins Gesicht schnitt.
Da der alte Mann vor Kälte zitterte und das kleine Kind einen Augenblick schlief, ging die Mutter hin und setzte Bier in einem kleinen Topfe in den Kachelofen, um es für ihn zu wärmen. Der alte Mann saß und wiegte das Kind, und die Mutter setzte sich dicht neben ihn auf einen Stuhl, schaute auf ihr krankes Kind, das so tief Atem holte, und hob die kleine Hand empor.
„Glaubst Du nicht, daß ich es behalte?“ fragte sie. „Der liebe Gott wird es mir nicht nehmen!“
Und der alte Mann -es war der Tod selbst -nickte so sonderbar, es konnte ebensogut ja wie nein bedeuten. Und die Mutter sah in ihren Schoß nieder und die Tränen liefen ihr über ihre Wangen. Das Haupt wurde ihr schwer, drei Tage und drei Nächte hatte sie ihre Augen nicht geschlossen, und nun schlief sie. Aber nur einen Augenblick; dann fuhr sie auf und zitterte vor Kälte: „Was ist das?“ fragte sie und sah sich nach allen Seiten um. Aber der alte Mann war fort, und ihr kleines Kind war fort; er hatte es mit sich genommen. Hinten in der Ecke schnurrte und schnurrte die alte Uhr; das große Bleigewicht lief bis zum Fußboden hinab, bum und da stand auch die Uhr still.
Aber die arme Mutter lief zum Hause hinaus und rief nach ihrem Kinde.
Draußen, mitten im Schnee, saß eine Frau in langen, schwarzen Kleidern und sprach: „Der Tod ist in Deiner Stube gewesen; ich sah ihn mit Deinem kleinen Kinde davoneilen. Er geht schneller als der Wind, er bringt niemals zurück, was er genommen hat.“
„Sage mir nur, welchen Weg er gegangen ist“ sagte die Mutter. „Sag mir den Weg, dann werde ich ihn finden!“ „Ich weiß ihn“ sagte die Frau in den schwarzen Kleidern; „aber ehe ich ihn Dir sage, mußt Du mir erst alle die Lieder singen, die Du Deinem Kinde vor gesungen hast. Ich liebe sie; ich habe sie schon früher gehört. Ich bin die Nacht und sah Deine Tränen, als Du sie sangst.“
„Ich will sie singen, alle, aller“ sagte die Mutter, „aber halt mich nicht auf, daß ich ihn einholen kann und mein Kind wiederfinde!“
Aber die Nacht saß stumm und still. Da rang die Mutter ihre Hände, sang und weinte, und es waren viele Lieder, aber noch mehr Tränen; und dann sagte die Nacht: „Geh nach rechts in den dunkeln Tannenwald, dorthin sah ich den Tod mit Deinem kleinen Kinde den Weg nehmen!“
Tief im Walde kreuzten sich die Wege, und sie wußte nicht, wo entlang sie gehen sollte. Da stand ein Dornenbusch, der hatte weder Blätter noch Blüten. Es war ja auch kalte Winterszeit, und Eiszapfen hingen an den Zweigen.
„Hast Du nicht den Tod mit meinem kleinen Kinde vorbeigehen sehen?“
„Ja,“ sagte der Dornenbusch, „aber ich sage Dir nicht, welchen Weg er eingeschlagen hat, wenn Du mich nicht vorher an Deinem Herzen aufwärmen willst. Ich friere sonst tot und werde ganz und gar zu Eis.“
Und sie drückte den Dornenbusch an ihre Brust, so fest, er sollte ja gut aufgewärmt werden. Und die Dornen drangen tief in ihr Fleisch, und ihr Blut floß in großen Tropfen. Aber der Dornenbusch trieb frische, grüne Blätter und bekam Blüten in der kalten Winternacht. So warm war es an dem Herzen der betrübten Mutter. Und der Dornenbusch sagte ihr den Weg, den sie gehen mußte.
Da kam sie an einen großen See, auf dem weder Schiff noch Boot war. Der See war noch nicht fest genug zugefroren, daß er sie hätte tragen können, und auch nicht offen und seicht genug, daß sie ihn hätte durchwaten können. Und hinüber mußte sie doch, wollte sie ihr Kind finden. Da legte sie sich nieder, um den See auszutrinken. Das war ja unmöglich für einen Menschen. Aber die betrübte Mutter dachte, daß doch vielleicht ein Wunder geschehen würde.
„Nein, das geht nicht“ sagte der See. „Laß uns beide lieber sehen, daß wir uns einigen. Ich liebe es, Perlen zu sammeln, und Deine Augen sind die zwei klarsten, die ich je gesehen habe. Willst Du sie für mich ausweinen, dann will ich Dich zu dem großen Treibhaus hinüber tragen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume pflegt. Jedes von ihnen ist ein Menschenleben.“ „O, was gäbe ich nicht, um zu meinem Kinde zu kommen!“ sagte die vergrämte Mutter. Nun weinte sie noch mehr, und ihre Augen sanken nieder auf den Grund des Sees und wurden zwei kostbare Perlen. Der See aber hob die Mutter empor, als säße sie in einer Schaukel, und sie flog in einer einzigen Schwingung an die Küste auf der anderen Seite, wo ein meilenbreites, seltsames Haus stand. Man wußte nicht, war es ein Berg mit Wäldern und Höhlen, oder war es gezimmert. Aber die arme Mutter konnte es nicht sehen; sie hatte ja ihre Augen ausgeweint.
„Wo soll ich den Tod finden, der mit meinem kleinen Kinde fortgegangen ist“ sagte sie.
„Er ist noch nicht gekommen!“ sagte die alte Frau, die da ging und auf das große Treibhaus des Todes aufpassen sollte. „Wie hast Du hierherfinden können, und wer hat Dir geholfen?“
„Der liebe Gott hat mir geholfen!“ sagte sie, „er ist barmherzig, und das wirst Du auch sein. Wo kann ich mein kleines Kind finden?“
„Ja, ich kenne es nicht,“ sagte die Frau, „und Du kannst ja nicht sehen. ­Viele Blumen und Bäume sind heute Nacht verwelkt. Der Tod wird gleich kommen und sie umpflanzen! Du weißt wohl, daß jeder Mensch seinen Lebensbaum hat oder seine Blume, je nachdem er nun beschaffen ist. Sie sehen aus wie andere Gewächse auch, aber sie haben Herzen, die schlagen. Kinderherzen können auch schlagen! Horche danach, vielleicht kannst Du den Herzschlag Deines Kindes erkennen. Aber was gibst Du mir, wenn ich Dir sage, was Du noch mehr tun mußt?“
„Ich habe nichts mehr zu geben,“ sagte die betrübte Mutter. „Aber ich will für Dich bis ans Ende der Welt gehen.“
„Ja, da habe ich nichts zu suchen!“ sagte die Frau, „aber Du kannst mir Dein langes, schwarzes Haar geben. Du weißt wohl selbst, daß es schön ist, und mir gefällt es. Du sollst mein weißes dafür haben, das ist doch immer etwas.“
„Verlangst Du nicht mehr?“ sagte sie. „Das gebe ich Dir mit Freuden.“ Und sie gab ihr schönes Haar und bekam das schneeweiße der Alten dafür.
Dann gingen sie in das große Treibhaus des Todes hinein, wo Blumen und Bäume wunderbar durcheinander wuchsen. Da standen feine Hyazinthen unter Glasglocken, und es standen baumstarke Pfingstrosen da. Es wuchsen Wasserpflanzen dort, einige ganz frisch, andere halbkrank. Wasserschlangen legten sich darauf, und schwarze Krebse kniffen sich im Stiele fest. Da standen herrliche Palmenbäume, Eichen und Platanen, da stand Petersilie und blühender Tymian. Jeder Baum und jede Blume hatte ihren Namen; jedes von ihnen war ja ein Menschenleben. Die Menschen lebten noch, einer in China, einer in Grönland, überall auf der Erde. Da gab es große Bäume in kleinen Töpfen, so daß sie ganz zusammengepreßt und nahe daran waren, den Topf zu zersprengen. An manchen Stellen gab es auch kleine, schwache Blümchen in fetter Erde, mit Moos ringsherum und gehegt und gepflegt. Die betrübte Mutter beugte sich über alle die kleinsten Pflanzen und horchte auf jeden Schlag ihres Menschenherzens, und unter Millionen erkannten sie den ihres Kindes.
„Das ist es!“ rief sie und streckte ihre Hand über einen kleinen blauen Krokus aus, der ganz krank nach der einen Seite hing.
„Rühre die Blume nicht an“ sagte die alte Frau. „Aber stelle Dich hierher, und wenn dann der Tod kommt, den ich jeden Augenblick erwarte, so laß ihn die Pflanze nicht herausreißen; drohe ihm, daß Du es mit den anderen Pflanzen ebenso machen würdest, dann wird er bange; denn er muß dem lieben Gott dafür Rechenschaft ablegen. Keine darf herausgerissen werden ohne seine Erlaubnis.“
Mit einem Male sauste es eiskalt durch den Saal, und die blinde Mutter merkte, daß es der Tod war, der kam.
„Wie hast Du den Weg hierher finden können?“ fragte er. „Wie konntest Du schneller hierher kommen als ich?“
„Ich bin eine Mutter!“ sagte sie.
Und der Tod streckte seine lange Hand aus nach der kleinen, feinen Blume; sie aber hielt ihre Hände so fest darum gelegt, so dicht und doch so besorgt, daß sie eins der Blättchen berühren könne. Da blies der Tod auf ihre Hände, und sie fühlte, daß dies kälter war als der kalte Wind, und ihre Hände fielen matt nieder.
„Du kannst gegen mich nichts ausrichten“ sagte der Tod.
„Aber der liebe Gott kann es!“ sagte sie.
„Ich tue nur nach seinem Willen!“ sagte der Tod, „ich bin sein Gärtner. Ich nehme alle seine Blumen und Bäume und pflanze sie in den großen Paradiesgarten, in das unbekannte Land. Aber wie sie dort wachsen und wie es dort ist, darf ich Dir nicht sagen!“
„Gib mir mein Kind zurück!“ sagte die Mutter und weinte und bat. Mit einem Male griff sie mit beiden Händen nach zwei anderen schönen Blumen und rief dem Tod zu: „Ich reiße alle Deine Blumen aus; denn ich bin in Verzweiflung!“
„Rühre sie nicht an!“ sagte der Tod. „Du sagst, daß Du so unglücklich bist, und nun willst Du eine andere Mutter ebenso unglücklich machen -?“ „Eine andere Mutter!“ sagte die arme Frau und ließ beide Blumen fahren.
„Da hast Du Deine Augen,“ sagte der Tod; „ich habe sie aus dem See gefischt, sie leuchteten so hell. Ich wußte nicht, daß es Deine waren. Nimm sie wieder. Sie sind jetzt klarer als früher. Sieh dann hinab in den tiefen Brunnen hier daneben. Ich werde Dir die Namen der beiden Blumen sagen, die Du ausreißen wolltest, und Du wirst ihre ganze Zukunft sehen, ihr ganzes Menschenleben, wirst sehen, was Du zerstören und vernichten wolltest!“
Und sie sah in den Brunnen hinab. Es war eine Glückseligkeit darin zu sehen, wie das eine Kind ein Segen für die ganze Welt wurde, und es war zu sehen, wieviel Glück und Freude es rings um sich verbreitete. Und sie sah des anderen Leben, und es war voller Sorge und Not, voller Kummer und Elend.
„Beides ist Gottes Wille!“ sagte der Tod.
„Welches von ihnen ist die Blume des Unglücks, und welches die des Segens?“ fragte sie.
„Das sage ich Dir nicht,“ sprach der Tod. „Aber das sollst Du von mir erfahren, daß die eine Blume die Deines eigenen Kindes war, es war Deines Kindes Schicksal, was Du sahst, Deines eigenen Kindes Zukunft.“
Da schrie die Mutter vor Schrecken: „Welches von ihnen war mein Kind? Sage mir das! Rette das Unschuldige! Rette mein Kind vor all dem Elend. Trag es lieber fort! Trage es zu Gottes Reich. Vergiß meine Tränen, vergiß meine Bitten und alles, was ich gesagt oder getan habe.“
„Ich verstehe Dich nicht“ sagte der Tod. „Willst Du Dein Kind zurückhaben, oder soll ich mit ihm dorthin gehen, wovon niemand weiß?“
Da rang die Mutter ihre Hände, fiel auf ihre Knie und bat den lieben Gott: „Erhöre mich nicht, wenn ich gegen Deinen Willen bitte, der der beste ist. Erhöre mich nicht! Erhöre mich nicht!“
Und sie neigte ihr Haupt auf ihre Brust.
Der Tod aber ging mit ihrem Kinde in das unbekannte Land.

Hans Christian Andersen – Die Glocke

Hans Christian Andersen

Die Glocke

In den engen Straßen der großen Stadt hörte bald der eine, bald der andere am Abend, wenn die Sonne unterging und die Wolken zwischen den Schornsteinen golden aufleuchteten, einen wunderlichen Laut, fast wie der Ton einer Kirchenglocke, aber man hörte ihn nur für einen Augenblick, dann wurde er wieder von dem Geräusch der rasselnden Wagen und des Straßenlärms übertönt. „Nun läutet die Abendglocke.“ sagte man, „nun geht die Sonne unter.“
Wenn man außerhalb der Stadt war, wo die Häuser von Gärten und kleinen Feldern umgeben waren und weiter voneinander entfernt standen, sah man den Abendhimmel noch prächtiger und hörte den Glockenklang weit stärker. Es war, als käme der Ton von einer Kirche tief in dem stillen, duftenden Walde; und die Leute blickten hinüber und wurden ganz andächtig.
Lange Zeit ging darüber hin. Der eine sagte zum andern: „Ob wohl eine Kirche draußen im Walde liegt? Die Glocke hat doch einen wunderbar schönen Klang; sollten wir nicht einmal hinaus und sie ein wenig näher betrachten?“ Und die reichen Leute fuhren, und die armen gingen, aber der Weg wurde ihnen so seltsam lang, und als sie bei einer Gruppe von Weidenbäumen anlangten, die am Saume des Waldes standen, setzten sie sich nieder, blickten zu den Zweigen empor und glaubten, nun recht im Grünen zu sein. Der Konditor aus der Stadt kam heraus und schlug sein Zelt auf, und dann kam noch ein Konditor. Der hing eine Glocke über seinem Zelte auf, und zwar eine Glocke, die geteert war, damit sie auch Regen vertragen könne, nur der Klöppel fehlte darin. Wenn dann die Leute wieder nachhause gingen, sagten sie, es sei sehr romantisch gewesen. Drei Personen versicherten, daß sie bis zum Ende des Waldes vorgedrungen seien und immerwährend den seltsamen Glockenklang gehört hätten, aber es wäre ihnen so vorgekommen, als ob er aus der Stadt herüberklänge. Der eine schrieb ein richtiges Gedicht darüber und sagte darin, daß die Glocke wie einer Mutter sanfte Stimme zu ihrem Kinde klänge; keine Melodie sei herrlicher als der Klang der Glocke.
Der Kaiser des Landes wurde auch darauf aufmerksam und versprach dem, der genau ausfindig machen konnte, woher der Schall stammte, den Titel eines „Weltglöckners“, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß es keine Glocke sei. Nun gingen gar viele in den Wald, denen das fette Amt in die Augen stach, aber nur einer von ihnen kam mit einer Art Erklärung nachhause. Keiner sei tief genug vorgedrungen, er selbst ebenfalls nicht, aber er meine doch, daß der Glockenklang von einer außergewöhnlich großen Eule in einem hohlen Baume herstamme. Das sei eine jener Weisheitseulen, die ihren Kopf unaufhörlich gegen den Baumstamm schlügen; aber ob der Laut von ihrem Kopfe oder dem Stamme verursacht würde, könne er noch nicht mit Bestimmtheit sagen. So wurde er denn als „Weltglöckner“ angestellt und schrieb jedes Jahr eine kleine Abhandlung um die Eule, aber viel klüger wurde man daraus auch nicht.
Nun war gerade ein Einsegnungstag. Der Pfarrer hatte so schön und innig gesprochen; die Konfirmanden waren sehr bewegt, denn es war für sie ein wichtiger Tag, an dem sie aus Kindern plötzlich zu erwachsenen Menschen werden sollten. Die Kinderseele sollte nun gleichsam in eine verständigere Person hinüberfliegen. Es war der herrlichste Sonnenschein. Die Konfirmanden gingen aus der Stadt hinaus, und vom Walde her klang wundersam stark die große unbekannte Glocke. Da überkam sie auf einmal eine solche Lust, dorthin zu gehen, daß sich alle aufmachten, bis auf drei von ihnen. Die eine mußte nachhause, um ihr Ballkleid anzuprobieren, denn es war gerade das Kleid und der Ball, die der Grund waren, weshalb sie schon dieses Mal mit eingesegnet worden war, denn sonst hätte sie noch warten müssen. Der andere war ein armer Junge, der seinen Konfirmationsrock und die Stiefel bei dem Sohn seines Wirtes geliehen hatte und sie auf den Glockenschlag zurückliefern mußte; der dritte sagte, daß er niemals an einen fremden Ort ohne seine Eltern ginge. und daß er immer ein artiges Kind gewesen wäre und das auch bleiben wolle, selbst als Konfirmand, und darüber brauche man sich gar nicht lustig machen. -Aber das taten die anderen trotzdem.
Drei von, ihnen gingen also nicht mit; die anderen trabten davon. Die Sonne schien, und die Vögel sangen, und die Konfirmanden sangen mit und hielten sich bei den Händen; denn noch hatten sie ja keine schweren Pflichten und waren gerade heute so recht Gottes Kinder.
Aber bald wurden zwei von den kleinsten müde und kehrten nach der Stadt um. Zwei kleine Mädchen setzten sich nieder und banden Kränze; sie kamen auch nicht mit, und als die anderen die Weidenbäume erreichten, wo der Konditor wohnte, sagten sie: „Seht, nun sind wir hier draußen; die Glocke ist ja eigentlich nichts wirklich Bestehendes, sondern mehr etwas in der Phantasie Lebendes.“
Da erklang auf einmal tief im Walde die Glocke so süß und feierlich, daß vier, fünf sich doch entschlossen, etwas tiefer in den Wald hineinzugehen. Der war so dicht belaubt, daß es ordentlich beschwerlich war, darin vorwärts zu kommen. Waldmeister und Anemonen wuchsen fast allzu üppig, blühende Winden und Brombeerranken hingen in langen Girlanden von Baum zu Baum, in denen Nachtigallen sangen und die Sonnenstrahlen spielten. O, es war so herrlich, aber es war kein Weg für Mädchen, denn sie wären mit zerrissenen Kleidern zurückgekommen. Da lagen Felsblöcke mit Moos von allen Farben bewachsen, das frische Quellwasser sickerte hervor, und leise und seltsam ertönte sein „kluck, kluck.“
„Sollte das etwa die Glocke sein?“ sagte einer der Konfirmanden und legte sich nieder, um zu lauschen. „Das muß man gründlich untersuchen!“ Und so blieb er liegen und ließ die anderen weitergehen.
Sie kamen zu einem Haus aus Borke und Zweigen. Ein großer, wilder Apfelbaum lehnte sich darüber, als wolle er seinen ganzen Segen über das Dach ausschütten, auf dem Rosen blühten. Die langen Zweige beschatteten gerade den Giebel, und an diesem hing eine kleine Glocke. Sollte es diese sein, die man gehört hatte? Ja, darüber waren sich alle einig, außer einem, der sagte, daß die Glocke zu klein und fein sei, als daß man sie so weit entfernt hören könne, wie sie gehört worden war, und daß es ganz andere Töne wären, die ein Menschenherz so zu rühren vermochten. Der so sprach, war ein Königssohn, und deshalb sagten die anderen: „So einer will doch auch immer klüger sein.“
Dann ließen sie ihn allein weitergehen, und als er ging, wurde seine Brust mehr und mehr von der Waldeseinsamkeit erfüllt. Aber noch immer hörte er die
kleine Glocke, an der die anderen sich ergötzten, und zwischendurch, wenn der Wind die Töne von dem Konditor herüber trug, konnte er auch hören, wie dort gesungen wurde. Aber der tiefe Glockenklang tönte doch starker, und bald war es, als spiele eine Orgel dazu; der Laut kam von links, von der Seite auf der man das Herz trägt.
Nun raschelte es im Gebüsch, und auf einmal stand ein kleiner Knabe vor dem Königssohn, ein Knabe in Holzschuhen und einem Jäckchen, so kurz, daß die Handgelenke weit daraus hervorschauten. Sie kannten sich beide; der Knabe war eben der von den Konfirmanden, der nicht mitgehen konnte, weil er nachhause gehen und Jacke und Stiefel an des Wirtes Sohn zurückliefern mußte. Das hatte er getan und war nun in Holzschuhen und den ärmlichen Kleidern ganz allein fortgegangen, denn die Glocke klang so stark, so tief; er mußte hinaus.
„Da können wir ja zusammengehen!“ sagte der Königssohn. Aber der arme Knabe mit den Holzschuhen war ganz verlegen; er zupfte an den kurzen Jackenärmeln und sagte, er fürchte, er könne nicht so rasch mitkommen; außerdem meine er, daß die Glocke nach rechts hinüber gesucht werden müsse, denn nach dieser Seite schiene alles so groß und herrlich zu sein.
„Ja, dann können wir freilich nicht zusammen gehen“ sagte der Königssohn und nickte dem armen Knaben zu. Der ging nun in den düstersten und dichtesten Teil des Waldes hinein, wo die Dornen ihm die ärmlichen Kleider und Antlitz, Hände und Füße blutig rissen. Der Königssohn bekam auch einige tüchtige Risse ab, aber die Sonne schien doch auf seinem Wege, und ihm wollen wir nun folgen, denn er war ein flinker Bursch.
„Die Glocke will und muß ich finden,“ sagte er, „ob ich auch bis zum Ende der Welt gehen müßte!“
Die häßlichen Affen saßen oben in den Bäumen und fletschten grinsend die Zähne. „Wollen wir ihn verprügeln?“ sagten sie; „wollen wir ihn verprügeln? Er ist ein Königssohn“
Aber er ging unverdrossen tiefer und tiefer in den Wald hinein, wo die seltsamsten Blumen wuchsen. Es waren dort weiße Sternlilien mit blutroten Staubfäden, himmelblaue Tulpen, die im Winde Funken zusprühen schienen, und Apfelbäume, deren Äpfel ganz und gar wie große leuchtende Seifenblasen aussahen. Wie mußten diese Bäume im Sonnenschein strahlen! Ringsum waren die herrlichsten grünen Wiesen, wo Hirsch und Hindin im Grase spielten, wuchsen prächtige Eichen und Buchen; und hatte einer der Bäume in der Borke einen Riß, so wucherten darin Gräser und lange Ranken. Da waren auch große Waldstrecken mit stillen Seen, worin weiße Schwäne schwammen und mit den Flügeln schlugen. Der Königssohn stand oft stille und lauschte. Oft glaubte er, daß aus einem dieser tiefen Seen die Glocke zu ihm heraufklinge, aber dann merkte er doch, daß die Glocke nicht von daher, sondern tiefer im Walde erklang.
Nun ging die Sonne unter. Die Luft leuchtete rot wie Feuer; es wurde so stille, so still im Walde, und er sank auf seine Knie, sang sein Abendlied und sagte: „Nie finde ich, was ich suche. Nun geht die Sonne unter, nun kommt die Nacht, die finstere Nacht; doch einmal kann ich vielleicht die rote Sonnenscheibe noch sehen, bevor sie ganz hinter der Erde versunken ist. Ich will auf die Felsen steigen, die sich dort über die Bäume erheben!“ Und er griff in die Ranken und Wurzeln, klomm über die nassen Steine, an denen sich Wasserschlangen emporwanden, und wo die Kröten ihn gleichsam anbellten; aber er erreichte die Höhe noch bevor die Sonne ganz untergegangen war. O, welche Pracht. Das Meer, das große, herrliche Meer, das seine langen Wogen gegen die Küste wälzte, dehnte sich vor seinen Augen aus. Und die Sonne stand wie ein großer, leuchtender Altar weit draußen, wo Himmel und Erde zusammentreffen. Alles schmolz in glühenden Farben, der Wald sang, das Meer sang, und sein Herz sang mit. Die ganze Natur war wie eine große, heilige Kirche, deren Pfeiler die Bäume und schwebenden Wolken, deren Samtbehänge die Blumen und das Gras, und deren große Kuppel der Himmel selbst war. Dort oben erloschen nun die roten Farben, während die Sonne verschwand; aber Millionen Sterne leuchteten auf, Millionen Diamantlämpchen erstratalten, und der Königssohn breitete seine Arme aus gegen den Himmel, das Meer und den Wald, -und im gleichenAugenblick kam von der rechten Seite mit kurzen Ärmeln und Holzschuhen der arme Knabe; er war ebenso zeitig angekommen auf seinem Wege, und sie liefen einander entgegen und hielten sich bei den Händen in der großen Kirche der Natur und der Poesie, und über ihnen erklang die unsichtbare heilige Glocke, umschwebt vom Tanze der seligen Geister zu einem jubelnden Hallelujah.

Hans Christian Andersen – Die Glockentiefe

Hans Christian Andersen

Die Glockentiefe

„Ding-dang! Ding-dang!“ klingt es aus der Glockentiefe herauf in den Odense-Bach. Jedes Kind in der alten Stadt Odense auf der Insel Fünen kennt den Bach, der die Gärten rings um die Stadt bespült und sich von der Schleuse bis zur Wassermühle unter den Holzbrücken hinzieht. Im Bach blühen gelbe Wasserlilien oder Seerosen, und braungefiedertes Röhricht wächst dort mit den schwarzen sammetartigen Rohrkolben, hoch und dick, alte geborstene Weiden, gereckt und gestreckt, hängen weit ins Wasser hinein an der Seite der Mönchswiese und der Bleiche, aber gegenüber liegt Garten an Garten, und keiner gleicht dem andern, bald mit schönen Blumen und Lauben, glatt und zierlich, wie ein kleiner Puppenstaat, bald nur mit Kohl und Gemüse bestanden; oder es ist auch gar kein Garten zu erblicken, da die großen Holunderbäume sich an den Ufern ausbreiten und weit über das strömende Gewässer hinaushängen, das hier und da tiefer ist, als daß die Ruderstange seinen Grund erreichen könnte. Dem alten Fräuleinkloster gegenüber ist die tiefste Stelle, Glockentiefe genannt, und dort unten wohnt der alte Wassermann. Der schläft den Tag über, wenn die Sonne durch das Wasser hinabstrahlt, aber bei sternenhellen Nächten und Mondschein zeigt er sich. Er ist sehr alt; die Großmutter sagt, sie habe von ihm erzählen hören von ihrer Großmutter; er lebe ein einsames Leben, habe gar niemanden, mit dem er reden könne, außer der großen, alten Kirchglocke. Einst hing die Glocke im Kirchturm, ja, jetzt ist keine Spur mehr davon zu sehen, weder vom Turm noch von der Kirche, welche St. Albani hieß.
„Ding-dang“ Ding-dang!“ klang die Glocke, als der Turm noch dastand, und eines Abends, als die Sonne sank und die Glocke im stärksten Schwunge sich befand, riß sie sich los und flog dahin durch die Luft; das blanke Metall blitze glühend in den roten Strahlen.
„Ding-dang! Ding-dang! Jetzt will ich mich zur Ruhe betten!“ sang die Glocke und flog hinaus in den Odense-Bach, wo er am tiefsten ist, und deshalb heißt die Stelle die Glockentiefe. Allein ihr ward keine Ruh‘ und kein Schlaf. Unten bei dem Wassermann singt und klingt sie, daß es zuweilen herauftönt durch die Gewässer, und viele Leute sagen, solch Klingen bedeute, daß jemand stirbt, aber es ist nicht so, sie singt und unterhält sich mit dem Wassermann, der jetzt nicht mehr allein ist. Und was erzählt wohl die Glocke? Sie ist alt, sehr alt, wie wir schon bemerkten, sie war schon lange da, bevor die Großmutter der Großmutter geboren ward, und doch ist sie dem Alter nach nur ein Kind gegen den Wassermann,der ein alter, stiller Mann, ein Sonderling ist mit seinen Hosen aus Aalhaut und seiner Fischjacke mit den gelben Knöpfen, mit dem Schilf-und Seerosenkranz im Haar und Wasserlinsen im Bart, aber hübsch sieht er doch aus so.
Was die Glocke erzählt -das wiederzugeben würde Jahre und Tage erfordern; sie erzählt jahrein, jahraus die alten Geschichten wieder aufs neue, bald kurz, bald lang, wie es ihr die Stimmung eingibt; sie erzählt von alten Zeiten, den harten, finstern Zeiten.
„in die St. Albani-Kirche, hinauf auf dem Turm stieg der Mönch, er war jung und schön, aber versonnen wie kein anderer. Er schaute von der Luke dort oben über den Odense-Bach hinaus, damals hatte er noch sein breites Bett, und die Mönchswiese war ein See; er schaute über ihn und über den grünen Wall hinweg zum „Nonnenhügel“ drüben, wo das Kloster lag, wo das Licht aus der Zelle der Nonne strahlte; er hatte die Nonne sehr gut gekannt, und er erinnerte sich ihrer, und sein Herz klopfte stärker dabei -Ding-dang! Ding-dang!“ Ja, so erzählte die Glocke.
„Den Turm hinauf stieg auch der dämliche Diener des Bischofs, und wenn ich, die Glocke, die aus Metall gegossene, hart und gewichtig sang und mich schwang, hätte ich ihm das Gehirn zerschmettern können; er setzte sich dicht unter mich und spielte mit zwei Stöckchen, als wenn dieselben gar ein Saitenspiel wären, und er sang dazu: „Jetzt darf ich laut heraussingen, was ich sonst nicht flüstern darf, von allem singen, was hinter Schloß und Riegel versteckt gehalten wird. Dort ist es kalt und naß! Die Ratten fressen sie bei lebendigem Leibe. Niemand weiß darum! Niemand hört davon! Auch jetzt nicht, denn die Glocke klingt und singt ihr lautes Ding-dang! Ding-dang!“
Ein König war damals, sie nannten ihn Kanut, er beugte sich vor Bischof und Mönch, als er aber den Wendelbauern zu nahe trat mit schweren Steuern und harten Worten, da nahmen diese Waffen und Stangen zur Hand und jagten ihn in die Flucht gleich einem wilden Tier; er suchte Schutz in der Kirche, schloß Tor und Tür hinter sich; die gewalttätige Schar lagerte draußen vor der Kirche, ich hörte davon erzählen; Krähen, Raben und Dohlen fuhren auf vor Schreck bei dem Geschrei und Gebrüll, welches ertönte; sie flogen in den Turm hinein und wieder hinaus, sie schauten auf die Menge dort unten hinab, sie blickten auch durch die Fenster der Kirche hinein, sie schrieen es laut heraus, was sie sahen. König Kanut lag betend vor dem Altar, seine Brüder Erich und Benedikt standen dort als Wache mit gezogenen Schwertern, allein der Diener des Königs, der falsche Blake, verriet seinen Herrn; die Menge vor der Kirche wußte, wo der König zu treffen sei, und einer schleuderte einen Stein durch die Fensterscheide, und der König lag tot da! Rufen und Schreien der wilden Schar und der Vögel zitterte durch die Luft, und auch ich stimmte mit ein, ich sang und Klang Ding-dang! Ding-dang!
Die Kirchglocke hängt hoch; schaut weit umher, sieht die Vögel um sich und versteht ihre Sprache, der Wind braust zu ihr hinein durch Luken und Schallblöcher, durch jede Ritze, und der Wind weiß alles, er hat es von der Luft, und diese umschließt alles, was Leben hat, sie dringt in die Lungen der Menschen hinein, weiß alles, was sich in Laut und Ton kundtut, jedes Wort, jeden Seufzer! Die Luft weiß es, der Wind erzählt es, die Kirchglocke versteht seine Sprache und läutet es hinaus in die Welt: Ding-dang! Ding-dang!
Allein es wurde mir zu viel, all dies zu hören und zu erfahren, ich vermochte nicht mehr, es hinauszuläuten. Ich wurde so müde, so schwer, daß der Balken zerbrach und ich in die leuchtende Luft hinausflog, hinab, wo der Bach am tiefsten ist und der Wassermann wohnt, einsam und allein, und dort erzähle ich jahraus, jahrein, was gehört habe und was ich weiß: Ding-dang! Ding-dang!“
So läutet und klagt es aus der Glockentiefe in dem Odense-Bach; das hat die Großmutter erzählt.
Aber der Schulmeister sagt: „Es gibt keine Glocke, die dort unten läuten kann, denn sie kann es nicht! -Auch keinen Wassermann gibt es dort unten, denn es gibt gar keinen Wassermann!“ Und wenn alle anderen Kirchenglocken gar herrlich klingen, so sagt er, daß es nicht die Glocken seien, sondern eigentlich die Luft, die da klingt, die sei es, die das Geläut gebe -und Großmutter erzählt auch, daß es die Glocke selber so gesagt habe -darüber sind sich beide demnach einig, so viel ist gewiß! „Sei behutsam, behutsam, und achte genau auf dich!“ sagen sie beide.
Die Luft weiß alles. Sie ist um uns, sie ist in uns,sie spricht von unseren Gedanken und unseren Taten, und sie spricht länger davon als die Glocke unten in der Tiefe des Odense-Baches, wo der Wassermann wohnt; sie tönt es hinauf in die große Himmelstiefe, weit, weit hinauf, ewig und immer, bis die Himmelsglocken klingen: Ding-dang! Ding-dang!

Hans Christian Andersen – Die glückliche Familie

Hans Christian Andersen

Die glückliche Familie

Das größte grüne Blatt hierzulande ist sicherlich das Klettenblatt. Hält man es vor seinen Leib, so ist es wie eine richtige Schürze, und legt man es auf seinen Kopf, so ist es bei Regenwetter fast so gut wie ein Regenschirm; denn es ist so riesig groß. Niemals wächst eine Klette allein, nein, wo die eine wächst, wachsen auch mehr. Das ist eine große Herrlichkeit, und all die Herrlichkeit ist Schneckenspeise. Die großen weißen Schnecken, die die vornehmen Leute in alten Zeiten zu Frikassee verwenden ließen, sie verspeisten und dazu sagten: „Hum! Das schmeckt herrlich!“-denn sie glaubten wirklich, es schmecke so herrlich,-die lebten von den Klettenblättern, und deshalb wurden die Kletten gesät.
Nun war da ein alter Herrenhof, wo man keine Schnecken mehr aß; sie waren ganz ausgestorben. Aber die Kletten waren nicht ausgestorben; sie wuchsen und wachsen, wuchsen über alle Gänge und alle Beete, man konnte ihrer gar nicht mehr Herr werden; es war ein wahrer Klettenwald. Hier und da stand ein Apfel-oder ein Pflaumenbaum, sonst hätte man nie und nimmer geglaubt, daß dies ein Garten sei, alles war voller Kletten, und da drinnen wohnten die beiden letzten uralten Schnecken.
Sie wußten selbst nicht mehr, wie alt sie waren; aber sie konnten sich noch gut erinnern, daß sie einst viel mehr gewesen waren, daß sie von einer Familie aus fremden Ländern stammten und daß für sie und die Ihren der ganze Wald gepflanzt worden war. Sie waren nie herausgekommen, doch sie wußten, daß es noch etwas in der Welt gab, das der Herrenhof hieß, und dort wurde man gekocht. Dann wurde man schwarz und kam auf eine silberne Schüssel, aber was dann weiter geschah, wußte man nicht. Wie es im übrigen war, gekocht zu werden und auf einer silbernen Schüssel zu liegen, konnten sie sich nicht vorstellen, aber herrlich mußte es sein und besonders vornehm. Weder Maikäfer, noch Kröten oder Regenwürmer, die sie darum befragten, konnten Bescheid geben. Keins von ihnen war gekocht worden oder hatte auf einer silbernen Schüssel gelegen.
Die alten weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt, das wußten sie. Der Wald war nur ihretwegen da, und der Herrenhof war dazu da, daß sie gekocht werden und auf eine silberne Schüssel gelegt werden konnten. Sie lebten nun sehr einsam und glücklich, und da sie selbst keine Kinder hatten, hatten sie eine kleine gewöhnliche zu sich genommen, die sie wie ihr eigenes Kind aufzogen. Aber der Kleine wollte nicht wachsen, denn er war gewöhnlich. Aber die Alten, besonders die Mutter, die Schneckenmutter, meinte doch zu bemerken, daß er zunahm, und sie bat Vater, wenn er es nicht sehen könne, so möge er nur das kleine Schneckenhaus anfühlen. Und dann fühlte er und fand, daß Mutter recht habe.
Eines Tages war starker Regen.
„Hör, wie es tromme-romme-rommelt auf den Klettenblättern.“ sagte der Schneckenvater.
„Da kommen auch schon die Tropfen“ sagte die Schneckenmutter. „Das lauft ja gerade am Stiel herunter. Du wirst sehen, es wird hier naß. Ich bin froh, daß wir unser gutes Haus haben und der Kleine auch. Für uns ist wirklich mehr gesorgt worden, wie für alle anderen Geschöpfe; man kann daraus erkennen, daß wir die Herren der Welt sind. Wir haben von der Geburt an ein Haus, und der Klettenwald ist unseretwegen gesät. Ich möchte wissen, wie weit er sich erstreckt und was außerhalb desselben ist.“
„Außerhalb desselben ist nichts“ sagte der Schneckenvater. „Besser als bei uns kann es nirgends sein, und ich wüßte nicht, was ich mir anderes wünschen sollte.“
„Ja,“ sagte Mutter, „ich möchte wohl auf den Herrenhof kommen, gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden. Das ist allen unseren Vorfahren geschehen, und Du kannst glauben, daß es etwas ganz Besondere für sich hat.“
„Der Herrenhof ist möglicherweise eingestürzt.“ sagte der Schneckenvater. „Oder der Klettenwald ist darüber hinweggewachsen, daß die Menschen nicht mehr herauskommen können. Es hat ja auch keine Eile, aber Du hastest immer so entsetzlich, und der Kleine fängt auch schon damit an. Ist er nicht jetzt drei Tage lang allein den Stiel hinaufgekrochen? Mir wird ganz schwindlig im Kopfe, wenn ich zu ihm hinausehe!“
„Du mußt nicht schelten,“ sagte die Schneckenmutter, „er kriecht so besonnen, wir werden noch unsere Freude an ihm erleben, wir haben doch nichts, für was wir sonst leben könnten! Aber hast Du schon daran gedacht, wo bekommen wir eine Frau für ihn her? Glaubst Du nicht, weiter hinten im Klettenwalde könnte noch jemand von unserem Geschlecht sein?“ „Schwarze Schnecken, glaube ich, werden wohl da sein,“ sagte der Alte. „Schwarze Schnecken ohne Haus. Aber das ist niedriges Volk und ist trotzdem noch eingebildet. Aber wir könnten ja die Ameisen damit beantragen; sie laufen immer hin und her, als ob sie etwas zu tun hätten, die wissen sicherlich eine Frau für unsern Kleinen.“
„Ich weiß freilich die allerschönste,“ sagten die Ameisen, „aber ich fürchte, es wird nicht angehen, denn sie ist eine Königin.“
„Das tut nichts!“ sagte der Alte. „Hat sie ein Haus?“
„Sie hat ein Schloß“ sagten die Ameisen, „das herrlichste Ameisenschloß mit siebenhundert Gängen.“
„Danke schön.“ sagte die Schneckenmutter, „unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen! Wißt Ihr nichts Besseres, dann geben wir den Auftrag an die weißen Mücken, die fliegen weit umher in Regen und Sonnenschein, und sie kennen den Klettenwald inwendig und auswendig.“
„Wir haben eine Frau für ihn“ sagten die Mücken. „Hundert Menschenschritte weit von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauch eine kleine Schnecke mit Haus. Sie steht ganz allein und ist alt genug, um sich zu verheiraten. Es ist nur hundert Menschenschritte von hier!“
„Ja, laßt sie zu ihm kommen!“ sagten die Alten. „Er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Strauch!“
Und so holten sie das kleine Schneckenfräulein. Es dauerte acht Tage, ehe sie ankam. Aber das war gerade das Hübsche daran. Da konnte man doch sehen, daß sie aus guter Familie war.
Dann hielten sie Hochzeit. Sechs Johanneswürmchen leuchteten so schön sie konnten. Sonst wurde es in aller Stille abgemacht, denn die alten Schnecken konnten das Schwärmen und die taute Fröhlichkeit nicht vertragen! Aber eine herrliche Rede wurde von der Schneckenmutter gehalten. Der Vater konnte nicht, er war so bewegt. Und dann gaben sie ihnen den ganzen Klettenwald zum Erbe und sagten, was sie immer gesagt hatten, daß dies das beste in der Welt sei, und wenn sie redlich und gesittet lebten und sich vermehrten, würden einmal sie und ihre Kinder auf den Herrenhof kommen, schwarz gekocht werden und auf einer silbernen Schüssel liegen.
Nachdem die Rede gehalten war, krochen die Alten in ihr Haus und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte im Walde und bekam eine große Nachkommenschaft, aber gekocht wurden sie nie, und sie kamen auch niemals auf silberne Schüsseln. Daraus schlossen sie, daß der Herrenhof eingestürzt und alle Menschen in der Welt ausgestorben wären. Und da niemand ihnen widersprach, mußte es ja wahr sein. Und der Regen schlug auf die Klettenblätter, um für sie Trommelmusik zu machen, und die Sonne schien, um dem Klettenwald ihretwillen eine schönere Färbung zu geben, und sie waren sehr glücklich, und die ganze Familie war glücklich, und sie waren es wirklich!

Hans Christian Andersen – Die große Seeschlange

Hans Christian Andersen

Die große Seeschlange

Es war einmal ein kleiner Seefisch aus guter Familie, des Namens entsinne ich mich nicht mehr, den müssen die Gelehrten dir sagten. Der kleine Fisch hatte achtzehnhundert Geschwister, alle gleich alt; sie kannten ihren Vater und Ihre Mutter nicht, sie mußten gleich selber für sich sorgen und umherschwimmen, aber das war ein großes Vergnügen für sie. Wasser zum Trinken hatten sie genug, das ganze Weltmeer, an Nahrung dachten sie nicht, die würde wohl kommen; jeder würde seiner Neigung folgen, jeder würde seine eigene Geschichte haben, ja, daran dachte auch keiner.
Die Sonne schien in das Wasser hinab, es schimmerte um sie herum, es war so klar, es war eine Welt mit den wunderlichsten Geschöpfen, und einige waren so schrecklich groß, mit mächtigen Rachen, die konnten die achtzehnhundert Geschwister verschlingen, aber auch daran dachten sie nicht, denn bisher war noch keines von ihnen verschlungen worden,
Die Kleinen schwammen zusammen, dicht nebeneinander, wie die Heringe und Makrelen schwimmen; aber während sie so im Wasser schwammen und an gar nichts dachten, sank mit einem schrecklichen Geräusch von oben herab mitten unter sie ein langes, schweres Ding, das gar kein Ende nehmen wollte; länger und länger streckte es sich, und jeder kleine Fisch, den es traf, wurde zerdrückt oder bekam einen Knacks, den er nie wieder verwinden konnte. Alle kleinen Fische und auch die großen, von der Meeresfläche hinab bis auf den Grund, stoben erschreckt beiseite; das schwere, gewaltsame Ding senkte sich tiefer und tiefer, es ward länger und länger, meilenlang, durch das ganze Meer. Fische und Schnecken, alles was schwimmt, alles, was kriecht oder von den Strömungen getrieben wird, spürte dies entsetzliche Ding, diesen unendlichen, unbekannten Meeraal, der so ganz auf einmal von oben herabgekommen war.
Was für ein Ding war dies nur einmal? Ja, wir wissen es! Es war das große, meilenlange Telegraphenkabel, das die Menschen zwischen Europa und Amerika versenkten.
Es entstand eine Angst, es entstand eine Bewegung zwischen den rechtmäßigen Bewohnern des Meeres, überall, wo das Kabel versenkt wurde. Der fliegende Fisch schnellte in die Höhe, über die Meeresfläche, so hoch er nur konnte, ja, der Knurrhahn sprang einen ganzen Büchsenschuß über das Wasser empor, denn das kann er; andere Fische flohen auf den Meeresgrund, sie schossen mit einer solchen Heftigkeit hinab, daß sie lange, bevor das Kabeltau noch gesehen war, dort anlangten; sie erschreckten Kabeljau und Scholle, die friedlich in der Meerestiefe wanderten und ihre Mitgeschöpfe fraßen.
Ein paar Meerwalzen erschraken so sehr, daß sie ihren Magen ausspuckten, aber trotzdem weiterlebten, denn das konnten sie. Viele Hummern und Taschenkrebse verließen ihren guten Harnisch und mußten die Beine zurücklassen.
Während all dieser Angst und Verwirrung kamen die achtzehnhundert Geschwister auseinander und begegneten sich nicht wieder oder kannten einander wenigstens nicht mehr; nur ein Dutzend blieb auf demselben Fleck, und als sie sich ein paar Stunden ruhig verhalten hatten, verwanden sie den ersten Schecken und fingen an, neugierig zu werden.
Sie sahen sich um; sie sahen aufwärts, und sie sahen abwärts, und da in der Tiefe glaubten sie das schreckliche Ding zu erblicken, das sie so in Angst versetzt hatte, groß wie klein. Das Ding lag lang über den Meeresboden ausgestreckt, so weit sie sehen konnten; sehr dünn war es, aber sie wußten ja nicht, wie dick es sich machen konnte oder wie stark es war. Es lag ganz still, aber, dachten sie, das konnte ja Hinterlist sein.
»Laßt es liegen, wo es liegt! Es geht uns gar nichts an!« sagte der vorsichtigste von den kleinen Fischen, aber der allerkleinste von ihnen konnte es sich doch nicht versagen, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, was das Ding wohl sein könne; von oben war es herabgekommen, von obenher mußte man am besten Auskunft einholen können, und so schwammen sie denn zur Meeresoberfläche hinauf; es war windstilles Wetter.
Da begegneten sie einem Delphin; das ist so ein Springgesell, ein Meerstreicher, der Purzelbäume auf der Wasserfläche schlagen kann; Augen zum Sehen hat er, und er mußte gesehen haben, mußte Bescheid wissen; den fragten sie, aber er hatte nur an sich selber und an seine Purzelbäume gedacht, hatte nichts gesehen, wußte nichts zu antworten, und da schwieg er denn und sah stolz aus.
Dann wandten sie sich an den Seehund, der gerade niedertauchte; der war höflicher, obwohl er kleine Fische frißt, aber heute war er satt. Er wußte ein wenig mehr als der Springfisch.
»Ich habe manch liebe Nacht auf einem nassen Stein gelegen und landeinwärts gesehen, meilenweit von hier; da gibt es hinterlistige Geschöpfe, die werden in ihrer Sprache Menschen genannt, sie stellen uns nach, gewöhnlich entschlüpfen wir ihnen aber doch, das habe ich verstanden, und der Seeaal, von dem ihr redet, hat es auch verstanden. Er ist oben an Land in ihrer Macht gewesen, wohl seit undenkbaren Zeiten; von dort haben sie ihn auf ein Schiff gebracht, wohl um ihn übers Meer nach einem andern fernliegenden Land zu schaffen. Ich sah, welch eine Mühe sie damit hatten, aber sie konnten ihn bezwingen, er war ja an Land matt geworden. Sie legten ihn in Kränzen und Kreisen zusammen, ich hörte, wie er sich wand und sich wehrte, als sie ihn an Bord brachten, aber er entkam ihnen doch, floh hier hinaus. Sie hielten ihn mit aller Gewalt fest, viele Hände hielten ihn, er entschlüpfte ihnen doch und gelangte auf den Meeresboden, da liegt er, denke ich, bis auf weiteres!«
»Er ist ziemlich dünn!« sagten die kleinen Fische.
»Sie haben ihn ausgehungert!« sagte der Seehund. »Aber er wird sich bald erholen, wird seine alte Dicke und Länge wiedergewinnen. Ich nehme an, daß dies die große Seeschlange ist, vor der den Menschen so bange ist, und von der sie soviel reden; bisher habe ich sie noch niemals gesehen und habe auch nie daran geglaubt; jetzt glaube ich, daß sie es ist!« Und dann tauchte der Seehund unter.
»Wieviel er wußte! Wieviel er redete!« sagten die kleinen Fische. »Ich bin noch nie so klug gewesen! -Wenn es nur nicht Lügen sind!«
»Wir könnten ja hinabschwimmen und die Sache untersuchen!« sagte der Kleinste. »Unterwegs hören wir die Ansicht der anderen!«
»Ich mache keinen Schlag mit meinen Flossen, um etwas zu erfahren!« sagten die andern und wandten sich ab.
»Aber das tue ich!« sagte der Kleinste und lenkte seinen Kurs hinab in das tiefe Wasser; aber er war weit entfernt von der Stelle, wo das »lange, versenkte Ding« lag. Der kleine Fisch sah und suchte nach allen Seiten tief unten auf dem Meeresgrund.
Noch nie war ihm seine Welt so groß erschienen. Die Heringe schwammen in großen Schwärmen, schimmernd wie ein Riesenband aus Silber, die Makrelen schlugen dieselbe Richtung ein und sahen noch prächtiger aus. Da kamen Fische in allen Gestalten und mit Zeichnungen in allen Farben; Medusen, die halbdurchsichtigen Blumen glichen, die sich von den Strömungen tragen und führen ließen. Große Pflanzen wuchsen aus dem Meeresboden auf, klafterhohes Gras und palmenförmige Bäume, jedes Blatt mit schimmernden Schaltieren besetzt.
Endlich gewahrte der kleine Seefisch einen langen, dunkeln Streif dort unten und steuerte darauf zu, aber das war weder Fisch noch Tau, es war die Reling eines großen versunkenen Fahrzeugs, dessen oberstes und unterstes Deck durch den Druck des Meeres zerbrochen war. Der kleine Fisch schwamm in den Raum hinein, aus dem die vielen Menschen, die umgekommen waren, als das Schiff sank, jetzt alle bis auf zwei weggeschwemmt waren; eine junge Frau lag dort ausgestreckt mit einem kleine Kind in ihren Armen. Das Wasser hob sie und wiegte sie gleichsam, sie schienen zu schlafen. Der kleine Fisch erschrak sehr, er wußte ja nicht, daß sie nicht wieder erwachen konnten. Die Wasserpflanzen hingen wie Laubwerk über die Reling herab, rankten sich um die beiden schönen Leichen der Mutter und des Kindes. Es war so still dort und so einsam. Der kleine Fisch machte sich, so schnell er nur konnte, von dannen, schwamm dahin, wo das Wasser beleuchtet war, wo Fische zu sehen waren. Er war noch nicht weit gekommen, da begegnete er einem jungen Walfisch, der schrecklich groß war.
»Verschlinge mich nicht!« sagte der kleine Fisch. »Ich bin ja nicht einmal ein Bissen, so klein bin ich, und es ist mir eine große Freude zu leben!«
»Was willst du so tief hier unten, wohin deine Art nicht kommt?« fragte der Walfisch. Und dann erzählte der kleine Fisch von dem langen wunderlichen Aal oder was für ein Ding es sein möchte, das sich von oben herabgesenkt und selbst die allermutigsten Meergeschöpfe erschreckt hatte.
»Ho, ho!« sagte der Walfisch und sog so gewaltig Wasser ein, daß er einen mächtigen Wasserstrahl von sich geben mußte, wenn er an die Meeresfläche kam und Luft schöpfte. »Ha, ha!« sagte er. »Das also war das Ding, das mir den Rücken kitzelte, als ich mich umwandte! Ich glaubte, es sei ein Schiffsmast, den ich gebrauchen könnte, um mich zu jucken! Aber hier in dieser Gegend war es nicht. Nein, viel weiter hinaus liegt das Ding. Ich will es doch gleich mal untersuchen, ich habe gerade nichts weiter zu tun!«
Und dann schwamm er vorwärts, und der kleine Fisch schwamm hinterdrein, nicht zu nahe, denn wo der große Walfisch durch das Wasser schwamm, entstand gleichsam ein reißender Strom.
Sie begegneten einem Hai und einem alten Schwertfisch; die beiden hatten auch von dem wunderlichen Seeaale gehört, der so lang und so dünn war; gesehen hatten sie ihn nicht, aber sie wollten ihn sehen.
Jetzt kam eine Meerkatze.
»Ich komme mit!« sagte sie; sie wollte doch denselben Weg. »Wenn die große Seeschlange nicht dicker ist als ein Ankertau, dann will ich sie schon in einem Biß durchbeißen!« Und dabei öffnete sie ihr Maul und zeigte ihre sechs Reihen Zähne. »Ich kann Merkzeichen in einen Schiffsanker beißen, da dann ich den Stengel wohl auch durchbeißen!« »Da ist er!« sagte der große Walfisch. »Ich kann ihn sehen!« Er glaubte, daß er besser sehen könne als die andern. »Seht, wie er sich hebt, seht, wie er sich windet und beugt und krümmt!«
Aber das war er gar nicht, es war ein ungeheurer großer Seeaal, mehrere Ellen lang, der sich näherte.
»Den hab ich schon früher gesehen», sagte der Schwertfisch, »der hat nie großen Aufruhr im Meer verursacht oder irgendeinem großen Frisch Schrecken eingejagt!«
Und dann sprach sie mit ihm von dem neuen Aal und fragten, ob er mit auf die Entdeckungsreise wolle.
»Ist der Aal länger als ich», sagte der Seeaal, »dann soll ihm ein Unglück geschehen!«
»Ja, dem soll ein Unglück geschehen!« sagten die anderen. »Wir sind genug, um ihn nicht zu dulden!« Und dann eilten sie weiter.
Aber da kam ihnen etwas in den Weg, ein wunderliches Ungeheuer, das größer war als sie alle zusammen.
Es sah aus wie eine schwimmende Insel, die sich nicht an der Oberfläche zu halten vermochte. Es war ein uralter Walfisch. Sein Kopf war mit Wasserpflanzen überwuchert, der Rücken mit so unendlich vielen Austern und Muscheln besetzt, daß seine schwarze Haut ganz weißgefleckt war.
»Komm mit, Alter», riefen sie ihm zu, »hier ist ein neuer Fisch angekommen, den wir nicht dulden wollen!«
»Ich will lieber liegenbleiben, wo ich liege!« sagte der alte Walfisch. »Laßt mich in Ruhe! Laßt mich liegen! Ja, ja, ja, ja! Ich leide an einer schweren Krankheit. Die einzige Linderung gewährt es mir, wenn ich an die Meeresfläche hinaufsteige und den Rücken außer Wasser halte. Dann kommen die großen Seevögel und kraulen mich, das tut so gut! Wenn sie die Schnäbel nur nicht zu tief hineinhacken, oft picken sie bis in meinen Speck hinein. Sehr nur einmal« Das ganze Gerippe eines Vogels sitzt mir noch auf dem Rücken; der Vogel schlug seine Klauen zu tief ein und konnte nicht wieder loskommen, als ich auf den Grund tauchte. Jetzt haben die kleinen Fische ihn abgefressen. Sehr nur, wie er aussieht und wie ich aussehe! Ich bin schwerkrank!«
»Das ist nichts als Einbildung», sagte der Walfisch. Ich bin niemals krank. Kein Fisch ist krank.« »Entschuldigen Sie», sagte der alte Walfisch, »der Aal hat die Hautkrankheit, der Karpfen soll Pocken haben, und wir alle haben Eingeweidewürmer!«
»Unsinn!« sagte der Haifisch; er mochte nichts mehr hören, die andern auch nicht, sie hatten ja etwas anderes zu tun.
Endlich kamen sie an die Stelle, wo das Telegraphenkabel lag. Es hat ein langes Lager auf dem Meeresboden, von Europa nach Amerika hinüber, hinweg über Sandbänke und Meeresschlamm, über Klippengründe und Pflanzenwildnis, ja, über ganze Korallenwälder; und dann wechseln die Strömungen da unten, die Wasserwirbel drehen sich, Fische wimmeln hervor, mehr in einem Schwarm als die zahllosen Vogelscharen, die die Menschen in der Zugvogelzeit sehen. Da ist ein Rühren, ein Plätschern, ein Summen, ein Sausen. Von diesem Sausen spukte es noch ein wenig in den großen, leeren Meeresmuscheln, wenn wir sie an unser Ohr halten.
Jetzt kamen sie an die Stelle.
»Da liegt das Tier!« sagten die großen Fische, und die kleinen sagten es auch. Sie sahen das Tau, dessen Anfang und Ende ihrem Gesichtskreis entschwand. Schwämme, Polypen und Gorgonen wiegten sich über dem Meeresgrund, senkten und beugten sich über das Tau, so daß es bald verdeckt war, bald wieder sichtbar wurde. Seestachelschweine, Schnecken und Würmer bewegten sich darum herum; riesige Spinnen, die eine ganze Besatzung von kriechenden Tieren mit sich schleppten, stolzierten auf dem Tau entlang. Dunkelblaue Meerwalzen oder wie das Gewürm heißt, das mit dem ganzen Körper frißt, lagen da und beschnüffelten das neue Tier, das sich auf dem Meeresboden gelagert hatte. Scholle und Kabeljau wendeten sich im Wasser, um nach allen Seiten zu lauschen. Der Sternfisch, der sich immer in den Schlamm hineinbohrt und nur die beiden langen Stengel mit den Augen blicken läßt, lag da und glotzte, um zu sehen, was aus der Bewegung herauskommen würde.
Das Telegraphenkabel lag ohne alle Bewegung da. Aber Leben und Gedanken waren darin; Menschengedanken gingen da hindurch.
»Das Ding ist heimtückisch!« sagte der Walfisch. »Es ist imstande, mich auf den Bauch zu schlagen, und das ist nun einmal meine schwache Seite!«
»Wir wollen uns vorfühlen!« sagte der Polyp. Ich habe lange Arme, ich habe geschmeidige Finger; berührt habe ich ihn schon, jetzt will ich ihn einmal etwas fester anfassen.«
Und er streckte seine geschmeidigen, längsten Arme nach dem Tau hinab, legte sie rund herum. »Eine Schale hat er nicht», sagte der Polyp. »er hat keine Haut! Ich glaube, er wird nie lebende Junge zur Welt bringen!«
Der Seeaal legte sich längs des Telegraphenkabels und streckte sich so lang aus, wie er nur konnte.
»Das Ding ist länger als ich!« sagte er. »Aber die Länge macht es nicht, man muß Haut und Magen und Geschmeidigkeit haben!«
Der Walfisch, der junge, starke Walfisch, neigte sich tief hinab, tiefer, als er jemals gewesen war.
»Bist du Fisch oder Pflanze?« fragte er. »Oder bist du nur ein Machwerk von oben, das hier unten bei uns nicht gedeihen kann?«
Aber das Kabel antwortete nicht; das ist nicht seine Art. Es gingen Gedanken durch seinen Leib hindurch, Menschengedanken; es führte sie in einer Sekunde, die vielen hundert Meilen von Land zu Land.
»Willst du antworten, oder willst du durchgebissen werden?« fragte der gierige Hai, und alle die andern großen Fische fragten dasselbe: »Willst du antworten, oder willst du durchgebissen werden?«
Das Tau rührte sich nicht, es hatte seinen ganz aparten Gedanken, und einen solchen kann derjenige haben, der mit Gedanken angefüllt ist.
»Mögen sie mich durchbeißen« Dann werde ich hinaufgezogen und komme in bester Ordnung wieder zurück; das ist schon andern meiner Art in weit kleineren Gewässern begegnet!«
Deswegen antwortete das Tau nicht, es hatte anderes zu tun, es telegraphierte. lag von Amts wegen auf dem Grunde des Meeres.
Oben auf der Erde ging jetzt die Sonne unter, wie die Menschen es nannten, sie glich dem rötesten Feuer, und alle Wolken des Himmels schienen wie Feuer, eine immer noch prächtiger als die andere.
»Jetzt bekommen wir die rechte Beleuchtung», sagten die Polypen, »dann sieht man das Ding am Ende besser, falls es nötig ist!«
»Drauflos! Drauflos!« rief die Meerkatze und zeigte alle ihre Zähne.
»Drauflos! Drauflos!« sagten der Schwertfisch und der Walfisch und der Seeaal.
Sie stürzten vorwärts, die Meerkatze voran; aber im selben Augenblick, als sie in das Tau hineinbeißen wollte, jagte der Schwertfisch aus lauter Aufgeregtheit sein Schwert in das Hinterteil der Meerkatze hinein; das war ein großes Versehen, und die Katze hatte nun keine Kraft mehr zum Biß. Es entstand ein wirres Durcheinander unten am Meeresgrund: große Fische und kleine Fische, Meerwalzen und Schnecken gingen aufeinander los, fraßen einander, wurden zerquetscht, zerdrückt. Das Tau lag still und verrichtete seine Arbeit, und das soll man tun.
Oben brütete die finstere Nacht, aber die Milliarden und Milliarden von lebenden kleinen Tieren des Meeres leuchteten. Krebse, kaum so groß wie ein Stecknadelkopf, leuchteten. Es ist ganz wunderbar, aber so ist es nun einmal. Die Tiere des Meeres sahen das Telegraphenkabel an.
»Was ist doch das Ding, und was ist es nicht?«
Ja, das war die Frage.
Da kam eine alte Meerkuh. Die Menschen nennen die Art: Meermann, oder Meermaid. Eine Sie war es, sie hatte einen Schwanz und zwei kurze Arme zum Plätschern, einen hängenden Busen und Tang und Muscheln im Haar und darauf war sie stolz.
»Wollt ihr Kenntnis und Wissen erlangen», sagte sie, »so bin ich wohl die einzige, die euch dazu verhelfen kann. Aber dafür verlange ich gefahrlosen Weideplatz auf dem Meeresboden für mich und die Meinen. Ich bin einFisch wie ihr. Und ich bin auch ein kriechendes Tier durch Übung. Ich bin die Klügste im ganzen Meer, ich weiß von allem, was sich hier unten regt, und von allem, was da oben vor sich geht. Das Ding da, über das ihr euch die Köpfe zerbrecht, stammt von da oben, und was von da oben herunterplumpst, ist tot oder wird tot und machtlos; laßt es liegen, wie es liegt. Es ist nur eine Menschenerfindung.«
»Ich glaube nun doch, daß etwas mehr daran ist!« sagte der kleine Walfisch.
»Halts Maul, Makrele!« sagte die große Meerkuh.
»Stichling!« sagten die andern, und das war eine noch größere Beleidigung. Und die Meerkuh erklärte ihnen, daß das ganze Alarmtier, das ja übrigens keinen Muck sagte, nur eine Erfindung von dem trocknen Land sei. Und sie hielt einen Vortrag über die Verschlagenheit der Menschen.
»Sie wollen sich unser bemächtigen», sagte sie, »das ist das einzige, wofür sie leben, sie spannen ihre Netze aus, stecken den Köder auf den Angelhaken, um uns zu locken. Dies hier ist eine Art großer Angelleine, und sie glauben, daß wir daran anbeißen werden, so dumm sind sie! Aber das sind wir nicht! Berührt nur ja nicht das Machwerk, das löst sich in Fasern auf, wird zu Stückwerk und Schlamm, das Ganze. Was von oben kommt, hat alles einen Knacks, taugt nichts!« »Taugt nichts!« sagten alle Geschöpfe des Meeres und hielten sich an die Meinung der Meerkuh, um auch eine Meinung zu haben.
Der keine Seefisch behielt seinen eigenen Gedanken. »Die unendlich dünne, lange Schlange ist am Ende der wunderbarste Fisch im ganzen Meer. Ich habe eine Empfindung davon.«
»Ja, der wunderbarste!« sagen wir Menschen auch und sagen es mit Kenntnis und Gewißheit.
Es ist die große Seeschlange, von der schon längst in Liedern und Sagen erzählt ist.
Sie ist geboren und großgezogen, entsprungen aus der Klugheit der Menschen und auf dem Meeresboden niedergelegt, wo sie sich von den Ländern des Ostens bis zu den Ländern des Westens erstreckt und die Botschaft so schnell weiterträgt, wie der Strahl des Lichts von der Sonne zu unserer Erde hinabdringt. Sie wächst, wächst an Macht und Ausdehnung, wächst Jahr für Jahr, durch alle Meere, um die ganze Welt herum, unter den strömenden Wassern und des glasklaren Wassern, wo der Schiffer hinabsieht, als segele er durch die durchsichtige Luft, wo er wimmelnde Fische sieht, ein ganzes Farbenfeuerwerk.
Ganz tief unten erstreckt sich die Schlange, eine sagenhafte, segenspendende Riesenschlange, die sich in den Schwanz beißt, indem sie die Erde umschließt. Fische und kriechendes Gewürm rennt mit der Stirn dagegen, sie verstehen die Dinge von oben doch nicht: der Menschheit gedankenerfüllte, in allen Sprachen redende und doch lautlose Schlage der Erkenntnis des Guten und Bösen, das wunderbarste von allen Wundern des Meeres, die große Seeschlange unserer Zeit.

Hans Christian Andersen – Die Hirtin und der Schornsteinfeger

Hans Christian Andersen

Die Hirtin und der Schornsteinfeger

Hast du wohl je einen recht alten Holzschrank, ganz schwarz vom Alter und mit ausgeschnitzten Schnörkeln und Laubwerk daran, gesehen? Gerade ein solcher stand in einer Wohnstube; er war von der Urgroßmutter geerbt und mit ausgeschnitzten Rosen und Tulpen von oben bis unten bedeckt. Da waren die sonderbarsten Schnörkel, und aus ihnen ragten kleine Hirschköpfe mit Geweihen hervor. Aber mitten auf dem Schranke stand ein ganzer Mann geschnitzt; er war freilich lächerlich anzusehen, und er grinste auch, man konnte es nicht lachen nennen. Er hatte Ziegenbocksbeine, kleine Hörner am Kopfe und einen langen Bart. Die Kinder nannten ihn immer den ZiegenbocksbeinOber-und Unterkriegsbefehlshaber; das war ein langes Wort, und es gibt nicht viele, die den Titel bekommen.
Da war er nun! Immer sah er nach dem Tische unter dem Spiegel, denn da stand eine liebliche, kleine Hirtin von Porzellan; die Schuhe waren vergoldet, das Kleid mit einer roten Rose niedlich aufgeheftet, und dann hatte sie einen Goldhut und einen Hirtenstab; sie war wunderschön. Dicht neben ihr stand ein kleiner Schornsteinfeger, so schwarz wie Kohle, aber auch aus Porzellan; er war ebenso rein und fein wie irgendein anderer. Der Porzellanfabrikant hätte ebensogut einen Prinzen oder einen König aus ihm machen können, denn das war einerlei.
Da stand er mit seiner Leiter und mit einem Antlitz, so weiß und rot wie ein Mädchen, und das war eigentlich ein Fehler, denn etwas schwarz hätte es doch wohl sein können. Er hatte seinen Platz ganz nahe bei der Hirtin; und da sie nun so hingestellt waren, hatten sie sich verlobt -sie paßten ja zueinander, sie waren von demselben Porzellan und beide gleich zerbrechlich.
Dicht bei ihnen stand noch eine Figur, die war dreimal größer. Es war ein alter Chinese, der nicken konnte. Er war auch aus Porzellan und sagte, er sei der Großvater der kleinen Hirtin, aber das konnte er freilich nicht beweisen; er behauptete, daß er Gewalt über sie habe, und deswegen hatte er dem Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber, der um die kleine Hirtin freite, zugenickt.
„Da erhältst du einen Mann“, sagte der alte Chinese, „einen Mann, der, wie ich fast glaube, von Mahagoniholz ist. Der kann dich zur ZiegenbocksbeinOber-und Unterkriegsbefehlshaberin machen; er hat den ganzen Schrank voll Silberzeug, ungerechnet, was er in den geheimen Fächern hat.“
„Ich will nicht in den dunklen Schrank!“ sagte die kleine Hirtin. „Ich habe sagen hören, daß er elf Porzellanfrauen darin hat.“
„Dann kannst du die zwölfte sein!“ sagte der Chinese. „Diese Nacht, sobald es in dem alten Schrank knackt, sollt ihr Hochzeit halten, so wahr ich ein Chinese bin!“ Und dann nickte er mit dem Kopf und fiel in Schlaf.
Aber die kleine Hirtin weinte und blickte ihren Herzallerliebsten, den Porzellanschornsteinfeger, an.
„Ich möchte dich bitten“, sagte sie, „mit mir in die weite Welt hinauszugehen, denn hier können wir nicht bleiben!“
„Ich will alles, was du willst!“ sagte der kleine Schornsteinfeger. „Laß uns gleich gehen; ich denke wohl, daß ich dich mit meinem Handwerk ernähren kann!“
„Wenn wir nur erst glücklich von dem Tische herunter wären!“ sagte sie. „Ich werde erst froh, wenn wir in der weiten Welt draußen sind.“
Er tröstete sie und zeigte, wie sie ihren kleinen Fuß auf die ausgeschnittenen Ecken und das vergoldete Laubwerk am Tischfuße hinabsetzen sollte; seine Leiter nahm er auch zu Hilfe, und da waren sie auf dem Fußboden. Aber als sie nach dem alten Schranke hinsahen, war große Unruhe darin. Alle die ausgeschnittenen Hirsche steckten die Köpfe weit hervor, erhoben die Geweihe und drehten die Hälse; der Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber sprang in die Höhe und rief zum alten Chinesen hinüber: „Nun laufen sie fort! Nun laufen sie fort!“
Da erschraken sie und sprangen geschwind in den Schubkasten. Hier lagen drei bis vier Spiele Karten, die nicht vollständig waren, und ein kleines Puppentheater, das, so gut es sich tun ließ, aufgebaut war. Da wurde Komödie gespielt, und alle Damen saßen in der ersten Reihe und fächelten sich mit ihren Tulpen, und hinter ihnen standen alle Buben und zeigten, daß sie Kopf hatten, sowohl oben wie unten, wie die Spielkarten es haben. Die Komödie handelte von zwei Personen, die einander nicht bekommen sollten, und die Hirtin weinte darüber, denn es war gerade wie ihre eigene Geschichte.
„Das kann ich nicht aushalten!“ sagte sie. „Ich muß aus dem Schubkasten heraus!“ Als sie aber auf dem Fußboden anlangten und nach dem Tische hinaufblickten, da war der alte Chinese erwacht und schüttelte mit dem ganzen Körper; unten war er ja ein Klumpen. „Nun kommt der alte Chinese!“ schrie die kleine Hirtin und fiel auf ihre Knie nieder, so betrübt war sie.
„Es fällt mir etwas ein“, sagte der Schornsteinfeger. „Wollen wir in das große Gefäß, das in der Ecke steht, hinabkriechen? Da könnten wir auf Rosen und Lavendel liegen und ihm Salz in die Augen werfen, wenn er kommt.“
„Das kann nichts nützen!“ sagte sie. „‚Überdies weiß ich, daß der alte Chinese und das Gefäß miteinander verlobt gewesen sind, und es bleibt immer etwas Wohlwollen zurück, wenn man in solchen Verhältnissen gestanden hat. Nein, es bleibt uns nichts übrig, als in die weite Welt hinauszugehen.“
„Hast du wirklich Mut, mit mir in die weite Welt hinauszugehen?‘ fragte der Schornsteinfeger. „Hast du auch bedacht, wie groß die ist und daß wir nicht mehr an diesen Ort zurückkommen können?“
„Ja“, sagte sie.
Der Schornsteinfeger sah sie fest an, und dann sagte er: „Mein Weg geht durch den Schornstein; hast du wirklich Mut, mit mir durch den Ofen, sowohl durch den Kasten als durch die Röhre zu kriechen? Dann kommen wir hinaus in den Schornstein, und da verstehe ich mich zu tummeln. Wir steigen so hoch, daß sie uns nicht erreichen können, und ganz oben geht ein Loch in die weite Welt hinaus.“
Und er führte sie zu der Ofentür hin.
„Da sieht es schwarz aus!“ sagte sie, aber sie ging doch mutig mit ihm sowohl durch den Kasten als durch die Röhre, wo eine pechfinstere Nacht herrschte.
„Nun sind wir im Schornstein!“ sagte er. „Und sieh, sieh, dort oben scheint der herrlichste Stern.“
Es war ein Stern am Himmel, der zu ihnen herabschien, gerade als wollte er ihnen den Weg zeigen. Und sie kletterten und krochen; ein greulicher Weg war es, sehr hoch, aber er hob und hielt sie und zeigte die besten Stellen, wo sie ihre kleinen Porzellanfüße hinsetzen konnte; so erreichten sie den Schornsteinrand, und auf den setzten sie sich, denn sie waren tüchtig ermüdet, und das konnten sie auch wohl sein.
Der Himmel mit all seinen Sternen war oben über ihnen und alle Dächer der Stadt tief unten; sie sahen weit umher, weit hinaus in die Welt; die arme Hirtin hatte es sich nie so gedacht, sie legte sich mit ihrem kleinen Haupte gegen ihren Schornsteinfeger, und dann weinte sie, daß das Gold von ihrem Leibgürtel absprang. „Das ist allzuviel!“ sagte sie. „Das kann ich nicht ertragen, die Welt ist allzu groß! Wäre ich doch wieder auf dem Tische unter dem Spiegel; ich werde nie froh, ehe ich wieder dort bin! Nun bin ich dir in die weite Welt hinaus gefolgt, nun kannst du mich auch wieder zurückbringen, wenn du etwas von mir hältst! “
Der Schornsteinfeger sprach vernünftig mit ihr von dem alten Chinesen und vom Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber, aber sie schluchzte gewaltig und küßte ihren kleinen Schornsteinfeger, daß er nicht anders konnte als sich ihr zu fügen, obgleich es töricht war.
So kletterten sie wieder mit vielen Beschwerden den Schornstein hinunter und krochen durch den Kasten und die Röhre. Das war gar nichts Schönes. Und dann standen sie in dem dunklen Ofen; da horchten sie hinter der Tür, um zu erfahren, wie es in der Stube stehe. Dort war es ganz still; sie sahen hinein -ach, der alte Chinese lag mitten auf dem Fußboden; er war vom Tische heruntergefallen, als er hinter ihnen her wollte, und lag in drei Stücke zerschlagen. Der ganze Rücken war in einem Stücke abgegangen, und der Kopf war in eine Ecke gerollt; der Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber stand, wo er immer gestanden hatte, und dachte nach.
„Das ist gräßlich!“ sagte die kleine Hirtin. Der alte Großvater in Stücke zerschlagen, und wir sind schuld daran! Das werde ich nicht überleben!“ Und dann rang sie ihre kleinen Hände.
„Er kann noch gekittet werden!“ sagte der Schornsteinfeger. „Er kann sehr gut gekittet werden! Sei nur nicht heftig; wenn sie ihn im Rücken kitten und ihm eine gute Niete im Nacken geben, so wird er so gut wie neu sein und kann uns noch manches Unangenehme sagen.“ „Glaubst du?‘ sagte sie. Und dann krochen sie wieder auf den Tisch hinauf.
„Sieh, soweit kamen wir“, sagte der Schornsteinfeger. „Da hätten wir uns alle die Mühe ersparen können.“ „Hätten wir nur den alten Großvater wieder gekittet!“ sagte die Hirtin. „Wird das sehr teuer sein?“
Und genietet wurde er; die Familie ließ ihn im Rücken kitten, er bekam eine gute Niete am Halse, und er war so gut wie neu, aber nicken konnte er nicht mehr.
„Sie sind wohl hochmütig geworden, seitdem Sie in Stücke geschlagen sind!“ fragte der Ziegenbocksbein-Ober-und Unterkriegsbefehlshaber. „Mich dünkt, daß Sie nicht Ursache haben, so wichtig zu tun. Soll ich nun die kleine Hirtin haben, oder soll ich sie nicht haben?“
Der Schornsteinfeger und die kleine Hirtin sahen den alten Chinesen rührend an, sie fürchteten sehr, er möchte nicken; aber er konnte nicht; und das war ihm unbehaglich, einem Fremden zu erzählen, daß er beständig eine Niete im Nacken habe. Und so blieben die Porzellanleute zusammen, und sie segneten des Großvaters Niete und liebten sich, bis sie in Stücke gingen.

Hans Christian Andersen – Die Irrlichter sind in der Stadt

Hans Christian Andersen

Die Irrlichter sind in der Stadt, sagte die Moorfrau

Es war einmal ein Mann, der einst so viele neue Märchen wußte, aber nun seien sie ihm ausgegangen, sagte er; das Märchen, das von selber Besuch machte, kam nicht mehr und klopfte an seine Türe; und weshalb kam es nicht? Ja, das ist freilich war, der Mann hatte in Jahr und Tag nicht daran gedacht, nicht erwartet, daß es kommen sollte, um anzuklopfen, aber es war gewiß auch nicht hier gewesen, denn draußen war Krieg und drinnen Kummer und Not, wie der Krieg sie mitbringt.
Storch und Schwalbe kamen von ihrer langen Reise, sie dachten an keine Gefahr, und als sie kamen waren das Nest verbrannt, die Häuser der Menschen verbrannt, die Hecken zerstört, ja ganz verschwunden; die Rosse der Feinde stampften auf den alten Gräbern, Es waren harte, dunkle Zeiten; aber auch die nehmen ein Ende.
Und nun hatten sie ein Ende, sagte man, doch noch klopfte das Märchen nicht an oder ließ von sich hören.
»Es ist wohl tot und verschollen mit den vielen andern«, sagte der Mann. Aber das Märchen stirbt nie!
Und es verging mehr als ein ganzes Jahr, und er sehnte sich so schrecklich. »Ob das Märchen nicht doch wiederkommen und anklopfen würde!« Und er erinnerte sich seiner so lebhaft in all den vielen Gestalten, in denen es zu ihm gekommen war; bald jung und herrlich, der Frühling selber, ein reizendes kleines Mädchen mit einem Maiglöckchenkranz im Haar und einem Buchenzweig in der Hand; ihre Augen glänzten wie tiefe Waldseen im klaren Sonnenschein, bald war es auch als Hausierer gekommen, hatte den Kramkasten geöffnet und das Seidenband mit Vers und Inschrift voll alter Erinnerungen flattern lassen; aber am allerschönsten war es doch, wenn es als altes Mütterchen mit silberweißem Haar und mit so großen und so klugen Augen kam, da wußte sie recht zu erzählen von den allerältesten Zeiten, lange noch, bevor die Prinzessinnen Gold spannen, während Drachen und Lindwürmer draußen lagen und sie bewachten. Da erzählte sie so lebendig, daß jedem schwarze Flecken vor die Augen kamen, der darauf hörte, der Boden wurde schwarz von Menschenblut, graulich anzusehen und zu hören und doch so vergnüglich, denn es war so lange her, daß es geschehen war. »Ob sie nicht mehr anklopfen würde!« sagte der Mann und starrte nach der Tür, so daß ihm schwarze Flecken vor die Augen kramen, schwarze Flecken auf den Boden; er wußte nicht, ob es Blut war oder Trauerschleier aus den schweren, dunklen Tagen.
Und wie er saß, kam ihm in den Sinn, ob nicht das Märchen sich verborgen halte wie die Prinzessin in den richtigen, alten Märchen und nur aufgesucht werden wollte; wurde sie gefunden, dann strahle sie in neuer Herrlichkeit, schöner als je zuvor.
»Wer weiß, vielleicht liegt sie verborgen in dem weggeworfenen Strohhalm, der am Brunnenrand schaukelt. Vorsichtig! Vorsichtig! Vielleicht hat sie sich in eine verwelkte Blume versteckt, die in einem der großen Bücher auf dem Bücherbord liegt.«
Und der Mann ging hin, öffnete eines der allerneuesten, aus denen man Verstand bekommen soll; aber das lag keine Blume, da stand von Holger Danske zu lesen; und der Mann las, daß die ganze Geschichte erfunden und zusammengesetzt sei von einem Mönch in Frankreich, daß es ein Roman sei, der »übersetzt und gedruckt in der dänischen Sprache« worden war; daß Holger Danske gar nicht existierte und also gar nicht wiederkommen könne, wie wir davon gesungen und so gerne daran geglaubt hatten. Es war mit Holger Danske wie mit Wilhelm Tell, nur Gerede, auf das man sich nicht verlassen konnte, und das war in dem Buch mit großer Gelehrsamkeit dargelegt.
»Ja, ich glaube nun, was ich glaube, sagte der Mann, »es wächst kein Wegerich, wo noch kein Fuß hintrat.«
Und er machte das Buch zu, stellte es auf das Bord und ging dann hin zu den frischen Blumen am Fensterbrett; vielleicht hatte sich dort das Märchen versteckt in die rote Tulpe mit den goldgelben Rändern oder in die frische Rose oder in die starkfarbige Kamelie. Der Sonnenschein lag zwischen den Blättern, aber nicht das Märchen.
»Die Blumen, die hier in der Trauerzeit standen, waren alle weit schöner; aber sie wurden abgeschnitten, jede einzelne, in Kränze gebunden, auf Särge niedergelegt, und über sie wurde die Fahne gebreitet. Vielleicht ist das Märchen mit den Blumen begraben! Aber davon müßten die Blumen gewußt haben, der Sarg hätte es vernommen, die Erde hätte es vernommen, jeder kleine Grashalm, der hervor wuchs, würde es erzählt haben. Das Märchen stirbt niemals!
Vielleicht ist es auch hier gewesen und hat angeklopft, aber wer hatte damals Ohren dafür, Gedanken dafür! Man sah düster, schwermütig, fast böse zu dem Sonnenschein des Frühlings, seinem Vogelgezwitscher und all dem fröhlichen Grün; ja, die Zunge konnte nicht die alten, volksfrischen Lieder singen, wie wurden eingesargt mit so vielem, was unserm Herzen teuer war; das Märchen kann wohl angeklopft haben; aber es wurde nicht gehrt, nicht willkommen geheißen, und so ist es fortgeblieben.
Ich will gehen und es aufsuchen.
Hinaus aufs Land! Hinaus in den Wald, an den offenen Strand!«
Draußen liegt ein alter Herrenhof mit roten Mauern, zackigem Giebel und wehender Fahne auf dem Turm. Die Nachtigall singt unter den feingefransten Buchenblättern, während sie auf des Garten blühende Apfelbäume blickt und glaubt, daß sie Rosen tragen. Hier sind in der Sommersonne die Bienen geschäftig, und mit summendem Gesang schwärmen sie um ihre Königin. Der Herbststurm weiß von der wilden Jagd zu erzahlen, von den Menschengeschlechtern und den Blättern des Waldes, die hinwehen. Zur Weihnachtszeit singen die wilden Schwäne draußen vor dem offenen Wasser, während man drinnen in dem alten Hof am Kaminfeuer Lust hat, Lieder und Sagen zu hören.
Drunten in dem alten Teil des Gartens, wo die große Allee von wilden Kastanien mit ihrem Halbdunkel lockt, ging der Mann, der das Märchen suchte; hier hatte ihm einmal der Wind von Waldemar Daa und seinen Töchtern vorgesaust. Die Dryade im Baum, das war die Märchenmutter selbst, hatte ihm hier von des alten Eichenbaums letztem Traum erzählt, Zu der Großmutter Zeiten standen hier beschnittene Hecken, nun wuchsen nur Farnkräuter und Nesseln; sie breiteten sich aus über hingeworfene Reste alter Steinfiguren; Moos wuchs ihnen in den Augen, aber sie konnten ebenso gut sehen wie früher, das konnte der Mann, der nach dem Märchen suchte, nicht. es sah das Märchen nicht. Wo war es?
Über ihm und die alten Bäume hin flogen Krähen zu Hunderten und schrieen »Fort von Hier! Fort von hier!«
Und er ging aus dem Garten über den Wallgraben des Herrenhofes hin in das Erlenwäldchen hinein; dort stand ein kleines, sechseckiges Haus mit einem Hühnerhof und einem Entenhof; mitten in der Stube saß die alte Frau, die das Ganze leitete und genau von jedem Ei Bescheid wußte, das gelegt wurde, von jedem Küken, das aus dem Ei schlüpfte! Aber sie war nicht das Märchen, das der Mann suchte; das konnte sie beweisen mit einem christlichen Taufschein und einem Impf-Attest, beide lagen in der Truhe.
Draußen, nicht weit von dem Hause, ist ein Hügel mit Rotdorn und Goldregen; hier liegt ein alter Grabstein, der vor vielen Jahren vom Kirchhof eines Landstädtchens hierhergebracht wurde, eine Erinnerung an einen der ehrenhaften Ratsherren der Stadt, seine Frau und seine fünf Töchter, alle mit gefalteten Händen und Halskrausen, stehen, aus Stein gehauen, um ihn herum. Man konnte sie so lange betrachten, daß sie auf die Gedanken wirkten, und diese wieder wirkten auf den Stein, so daß er von alten Zeiten erzählte; wenigstens war es dem Mann so ergangen, der das Märchen suchte. Als er nun dahin kam, sah er einen lebendigen Schmetterling grade auf der Stirn von dem gemeißelten Bilde des Ratsherrn sitzen; der schlug mit den Flügeln, flog eine kleine Strecke und setzt sich wieder dicht neben den Grabstein, gleichsam um zu zeigen, was dort wuchs. Dort wuchs ein Vierklee, dort wuchsen ganze sieben Stück nebeneinander. Kommt das Glück, so kommt es in Fülle! Er pflückte die Kleeblätter und steckte sie in die Tasche. Das Glück ist so gut wie bares Geld, aber ein neues, schönes Märchen wäre doch noch besser, dachte der Mann, aber das fand er dort nicht.
Die Sonne ging unter, rot und groß; die Wiese dampfte, und das Moorweib braute.
Es war spät am Abend; er stand allein in seiner Stube, sah hinaus über den Garten, über Wiese, Moor und Strand, der Mond schien hell, es lag ein Dunst über der Wiese, als sei sie ein großer See, und das war sie auch einmal gewesen, ging die Sage, und im Mondschein trat die Sage in Erscheinung. Da dachte der Mann daran, was er drinnen, in der Stadt gelesen hatte, daß Wilhelm Tell und Hollger Danske nicht gelebt hätten, aber im Volksglauben werden sie doch, wie der See hier draußen, lebende Erscheinungen der Sage. Ja, Holger Danske kommt wieder!
Während er so stand und dachte, schlug etwas ganz stark an das Fenster. War es ein Vogel? eine Fledermaus oder eine Eule? Ja, die läßt man nicht ein, wenn sie klopfen. Das Fenster sprang von selber auf, ein altes Weib sah herein zu dem Mann.
»Was ist gefällig?« fragte er. »Wer ist Sie? Gleich herein in die erste Etage sieht sie, steht Sie auf einer Leiter?«
»Sie haben ein Vierblatt in der Tasche«, sagte sie, »ja, Sie haben ganze sieben, von denen eines ein Sechsklee ist.«
»Wer ist Sie?« fragte der Mann.
»Das Moorweib:« sagte sie. »Das Moorweib, das braut; ich war gerade in voller Arbeit; der Zapfen saß im Faß, aber einer der kleinen Moorjungenriß ihm Übermut den Zapfen ab und warf ihn gerade bis herauf zum Haus, wo er an das Fenster schlug; nun läuft das Bier aus dem Faß, und damit ist keinem gedient.« »Erzahle Sie mir doch!« sagte der Mann.
»Ja, wart ein wenig!« sagte das Moorweib. »Jetzt habe ich anderes zu besorgen!« Und da war sie fort.
Der Mann war dabei, das Fenster zu schließen, da stand das Weib wieder da. »Nun ist es geschehen!« sagte sie. »Aber das halbe Bier kann ich morgen wieder brauen, wenn das Wetter danach bleibt. Nun, was haben Sie zu fragen? Ich komme wieder, denn ich halte immer Wort, und Sie haben sieben Vierblätter in der Tasche, von denen eines ein Sechsklee, das ist ein Ordenszeichen, das an der Landstraße wächst, aber nicht von jedem gefunden wird. Wonach haben Sie also zu fragen? Stehen Sie jetzt nicht da wie ein dummes Ende, ich muß bald fort zu meinem Zapfen und meinem Faß!«
Und der Mann fragte nach dem Märchen, fragte, ob das Moorweib es auf seinem Wege gesehen hätte.
»Ih, du großes Brauhaus!« sagte das Weib. »Haben Sie noch nicht genug von Märchen? Das glaube ich doch freilich, daß die meisten genug haben. Hier ist anderes zu besorgen, anderes zu beachten. Selbst die Kinder sind darüber hinausgewachsen. Gebt den kleinen Jungen eine Zigarre und den kleinen Mädchen eine neue Krinoline, das mögen sie lieber! Auf Märchen hören? Nein, hier ist wahrlich anderes zu besorgen, wichtigeres auszurichten!«
»Was meinen Sie damit?« fragte der Mann. »Und was wissen sie von der Welt? Sie sehen ja nur Frösche und Irrlichter.
»Ja, nehmen sie sich in acht vor den Irrlichtern« sagte das Weib, »sie sind aus! Sie sind losgekommen! Von denen wollen wir reden! Kommen sie zu mir in das Moor, wo meine Anwesenheit notwendig ist; dort werde ich Ihnen alles sagen, aber eilen Sie sich ein wenig, solange Ihre sieben Vierblätter mit dem einen Sechser frisch sind und der Mond noch scheint!« Weg war das Moorweib.
Die Glocke schlug zwölf von der Turmuhr, und bevor sie das nächste Viertel schlug, war der Mann draußen auf dem Hof, draußen aus dem Garten und stand in der Wiese. Der Nebel hatte sich gelegt, das Moorweib hörte auf zu brauen.
»Es dauerte lange, bis Sie kamen!« sagte das Moorweib. »Das Zauberzeug kommt schneller vorwärts als die Menschen, und ich bin froh, daß ich als Zauberwesen geboren bin.«
»Was haben Sie mir nun zu sagen?« fragte der Mann. »Ist es ein Wort vom Märchen?« »Können Sie denn niemals weiter kommen, als danach zu fragen?« sagte das Weib.
»Ist es dann von der Zukunftspoesie, von der Sie sprechen können?« fragte der Mann.
»Werden Sie nur nicht hochtrabend:, sagte das Weib, »dann werde ich wohl antworten. Sie denken nur an die Dichterei, fragen nach dem Märchen, als ob es die Madame über das Ganze wäre!« sie ist freilich schon die Älteste, aber sie gilt immer als Jüngste. Ich kenne sie wohl! Ich bin auch einmal jung gewesen, und das ist keine Kinderkrankheit, Ich bin auch einmal ein ganz niedliches Elfenmädchen gewesen und habe mit den anderen im Mondschein getanzt, auf die Nachtigall gehört, bin in den Wald gegangen und dem Märchenfräulein begegnet, das immer aus war und sich herumtrieb. Bald nahm sie ihr Nachtlager in einer halberblühten Tulpe oder in einer Wiesenblume, bald huscht sie hinein in die Kirche und hüllte sich in den Trauerflor, der von den Altarkerzen herabhing!«
»Sie wissen herrlich Bescheid!« sagte der Mann.
»Ich sollte doch wahrscheinlich ebenso viel wissen wie Sie!« sagte das Moorweib. »Märchen und Poesie, ja, das sind zwei Ellen von einem Stück; die können gehen und sich schlafen legen, wo sie wollen. All ihre Worte und Werke kann man nachbrauen und besser und billiger haben. Sie sollen sie bei mir umsonst bekommen. Ich habe einen ganzen Schrank voll von Poesie auf Flaschen. Es ist die Essenz, das Feine davon, die Bierwürze, das Süße und auch das Bittere. Ich habe auf Flaschen alles, was die Menschen von Poesie brauchen, um an Feststagen etwas auf ihr Sacktuch zu tun, um daran zu riechen.«
»Das sind ganz seltsame Dinge, die Sie da sagen«, sagte der Mann. »Haben Sie Poesie auf Flaschen?«
»Mehr als Sie aushalten können!« sagte das Weib. »Sie kennen wohl die Geschichte von dem Mädchen, welches aufs Brot trat, um seine neuen Schuhe nicht zu beschmutzen? Sie ist sowohl geschrieben wie gedruckt.«
»Die habe ich selber erzählt«, sagte der Mann.
»Ja, dann kennen Sie sie«, sagte das Weib, »und wissen, daß das Mädchen direkt hinab in die Erde sank zur Moorfrau, gerade, als des Teufels Großmutter Besuch machte, um die Brauerei zu sehen. Sie sah das Mädchen, das hereinsank, und bat es sich als Postament aus, als Erinnerung an den Besuch, und sie bekam es, und ich bekam ein Geschenk, für das ich gar keine Verwendung habe, eine Reiseapotheke, einen ganzen Schrank voll Poesie auf Flaschen. Die Großmutter sagte, wo der Schrank stehen sollte, und da steht er noch. Sehen Sie nur! Sie haben ja Ihre sieben Vierblätter in der Tasche, von denen das eine ein Sechsklee ist, da werden Sie es wohl sehen können.«
Und wirklich, mitten im Moor lag wie ein großer Erlenstrunk der Schrank der Großmutter. Er stand offen für das Moorweib und für jeden in allen Ländern und in allen Zeiten, wenn man nur wußte, wo der Schrank stand. Er war vorne und hinten zu öffnen, auf allen Seiten und Ecken, ein ganzes Kunstwerk, und sah doch nur wie ein alter Erlenstrunk aus. Die Poeten aller Länger, besonders die unseres eigenen Landes, waren hier nachbereitet; ihr Geist war ausspekuliert, rezensiert, renoviert, konzentriert und auf Flaschen gezogen. Mit großem Instinkt, wie es genannt wird, wenn man nicht Genie sagen will, hatte die Großmutter das in der Natur genommen, was gleichsam nach diesem oder jenem Poeten schmeckte, hatte etwas Teufelei hinzugesetzt, und so hatte sie eine Poesie auf Flaschen für die ganze Zukunft.
»Lassen Sie mich einmal sehen!« sagte der Mann.
»Ja, aber es gibt wichtigere Dinge zu hören!« sagte das Moorweib.
»Aber jetzt sind wir bei dem Schrank!« sagte der Mann und sah hinein. »Hier sind Flaschen in allen Größen. Was ist in dieser? Und was in dieser?«
»Hier ist das, was sie Maiduft nennen!« sagte das Weib. »Ich habe es nicht versucht, aber ich weiß, wenn man davon nur einen kleinen Tropfen auf den Boden spritzt, dann liegt da gleich ein herrlicher Waldsee mit Wasserlilien, blühendem Rohr und wilder Krauseminze. Man gießt nur zwei Tropfen auf ein altes Heft, selbst aus der untersten Klasse, und dann wird das Buch eine ganze Duftkomödie, die man sehr gut aufführen und bei der man einschlafen kann, so stark durftet sie. Das soll wohl eine Höflichkeit für mich sein, daß auf der Flasche steht: »Gebräu des Moorweibs«.
Hier steht die Skandalflasche. Sie sieht aus, als ob nur schmutziges Wasser darin wäre, und es ist schmutziges Wasser, aber mit Brausepulver von Stadtgeklatsch, drei Lot Lügen und zwei Gran Wahrheit mit einem Birkenzweig umgerührt, nicht aus einer Spießrute, die man in Salzlake gelegt hat und aus dem blutigen Körper des Sünders schnitt, auch nicht eine Gerte von der Rute des Schulmeisters, nein, direkt vom Besen genommen, der den Rinnstein fegte.
Hier steht die Flasche mit der frommen Poesie im Psalmenton. Jeder Tropfen hat einen Klang wie das Quietschen der Höllentüre und ist zubereitet aus dem Blut und Schweiß der Züchtigung; einige sagen, es ist nur Taubengalle, aber die Tauben sind die frömmsten Tiere, sie haben keine Galle, sagen die Leute, die nicht Naturgeschichte kennen.« Hier stand die Flasche aller Flaschen; sie nahm den halben Schrank ein, die Flasche mit den Alltagsgeschichten; sie war sowohl mit einer Schweinshaut als auch mit einer Blase zugebunden, denn sie durfte nichts von ihrer Kraft verlieren. Jede Nation konnte hier ihre eigene Suppe erhalten, sie kam, je nachdem man die Flasche wandte und drehte. Hier war alte deutsche Blutsuppe mit Räuberklößchen, auch dünne Hausmannssumme mit wirklichen Hofräten, die wie Wurzelwerk darin lagen, und auf der Oberfläche schwammen philosophische Fettaugen. Es gab englische Gouvernantensuppe und die französische Potage à la Kock, mit Hühnerknochen und Spatzeneiern zubereitet, auf dänisch Cancansuppe genannt. Aber die beste von den Suppen war die Kopenhagener. Das sagte die Familie.
Hier stand die Tragödie in Champagnerflaschen; sie konnte knallen, und das soll sie. Das Lustspiel sah aus wie feiner Sand, um ihn den Leuten in die Augen zu werfen, das heißt, das feinere Lustspiel; das gröbere war auch auf Flaschen, aber bestand nur aus Zukunftsplakaten, wo der Name das Kräftigste vom Stück war. Es waren ausgezeichneten Komödiennamen wie: »Willst du herausrücken mit dem Geld?«, »Eins um die Ohren«, »Der süße Esel« und »Sie ist knallvoll!«
Der Mann verfiel in Gedanken dabei, aber das Moorweib dachte weiter, sie wollte ein Ende haben.
»Nun haben Sie wohl genug in dem Kramkasten gesehen!« sagte sie. »Nun wissen Sie, was das ist; aber das Wichtigere, was Sie wissen sollten, wissen Sie noch nicht. Die Irrlichter sind in der Stadt! Das hat mehr zu bedeuten als Poesie und Märchen. Ich sollte nun gerade meinen Mund dabei halten, aber es muß eine Fügung sein, ein Schicksal, etwas, was stärker ist als ich, es drückt mir das Herz ab, es muß heraus. Die Irrlichter sind in der Stadt! Sie sind losgekommen: Nehmt euch in acht, ihr Menschen!«
»Davon verstehe ich kein Wort!« sagte der Mann.
»Seien Sie so gut und setzen Sie sich auf den Schrank«, sagte sie, »aber fallen Sie nicht hinein, daß Sie nicht die Flaschen entzweischlagen; Sie wissen, was darin ist. Ich werde Ihnen das große Ereignis erzählen; es ist nicht länger her als seit gestern; es hat sich schon früher zugetragen. Es hat noch dreihundertvierundsechzig Tage zu dauern. Sie wissen, wieviel Tage ein Jahr hat?«
Und das Moorweib erzählte.
»Hier hat sich gestern etwas Großes in den Sümpfen ereignet: Hier war Kinderfest! Hier wurde ein kleines Irrlicht geboren, hier wurden zwölf geboren von der Gattung, der es gegeben ist, wenn sie wollen, als Menschen auftreten zu können und unter diesen zu agieren und zu kommandieren, als ob sie geborene Menschen wären. Das ist ein großes Ereignis im Sumpf, und deshalb tanzten über Moor und Wiese hin alle Irrlichter und Irrlichterinnen; es gibt auch ein weibliches Geschlecht, aber das ist nicht im Sprachgebrauch. Ich saß da auf meinem Schrank und hatte alle die zwölf kleinen neugeborenen Irrlichter auf meinem Schoß; sie leuchteten wie Johanniswürmchen; sie fingen schon an zu hüpfen, und jede Minute nahmen sie an Größe zu, so daß, ehe eine Viertelstunde um war, jedes von ihnen ebenso groß aussah wie der Vater oder Onkel. Nun ist es ein altes, angeborenes Gesetz und eine Gunst, wenn der Wind so weht, wie er gestern wehte, und der Mond so steht, wie er gestern stand, dann ist es allen Irrlichtern, die in dieser Stunde und Minute geboren werden, gegeben und gegönnt, daß sie Menschen werden können und jedes von ihnen ein ganzes Jahr lang ringsum seine Macht üben kann. Das Irrlicht kann durch das Land und um die Welt ziehen, wenn es nicht Angst hat, in die See zu fallen oder in einem starken Sturm ausgeblasen zu werden. Es kann kerzengerade in einen Menschen hineinfahren, für ihn sprechen und alle Bewegungen machen, die es will. Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, von Mann oder Weib, kann in ihrem Geist handeln, aber seinem ganzen Wesen entsprechend, so daß dabei herauskommt, was es will; aber in einem Jahr muß es wissen und verstehen, dreihundertfünfundsechzig Menschen auf falsche Wege zu führen, und dies in großem Stil, sie von dem Recht und der Wahrheit fortzuführen, dann erreicht es das Höchste, wozu es ein Irrlicht bringen kann, nämlich Läufer vor des Teufels Staatskarosse zu werden, glühende, feuergelbe Kleider zu bekommen und Flammen, die ihm zum Hals herausschlagen. Danach kann sich ein einfaches Irrlicht die Finger ablecken. Aber es ist auch Gefahr und große Unannehmlichkeit für ein ehrgeiziges Irrlicht damit verbunden, das gerne eine Rolle spielen will. Gehen dem Menschen die Augen auf und sieht er, wer es ist, und kann es wegblasen, so ist es weg und muß zurück in den Sumpf; und wenn ein Irrlicht, bevor das Jahr um ist, von der Sehnsucht gepackt wird, zu seiner Familie zu kommen, und sich selber aufgibt, so ist es auch weg, kann nicht länger hell brennen, geht bald aus und kann nicht wieder angezündet werden; und ist das Jahr zu Ende und hat es dann noch nicht dreihunderfünfundsechzig Menschen fortgeführt von der Wahrheit und von dem, was schön und gut ist, so ist es verurteilt, in faulem Holz zu liegen und zu leuchten, ohne sich rühren zu können, und das ist die fürchterlichste Strafe für ein lebhaftes Irrlicht. All dies wußte ich, und all dies sagte ich den zwölf kleinen Irrlichtern, die ich auf dem Schoß hatte und die wie toll vor Freude waren. Ich sagte ihnen, daß es das sicherste und bequemste wäre, die Ehre aufzugeben und nichts anzustellen; das wollten die jungen Flammen nicht, sie sahen sich schon glühend, brandgelb, mit der Flamme zum Halse heraus. »Bleibt bei uns!« sagten einige von den Alten. »Treibst Spiel mit den Menschen!« sagten die andern. »Die Menschen trocknen unsere Wiesen aus, die dränieren! Was soll da aus unseren Nachkommen werden!«
»Wir wollen flammen in Flammen!« sagten die neugeborenen Irrlichter, und so war es abgemacht.
Hier war nun gleich Minutenball, kürzer konnte es nicht sein! Die Elfenmädchen schwingen sich dreimal herum mit allen den andern, um nicht hochmütig zu seinen; sie tanzen sonst am liebsten mit sich selber. Dann wurden Patengeschenke gegeben, »Rikoschettiert«, wie man es nennt. Geschenke flogen wie Kieselsteine über das Moorwasser hin. Jedes von den Elfenmädchen gab einen Zipfel von ihrem Schleier. »Nimm ihn«, sagten sie, »dann kannst du gleich den höheren Tanz, die schwierigsten Schwingungen und Wendungen, auch wenn es drückt; du bekommst die rechte Haltung und kannst dich in der steifsten Gesellschaft zeigen!« Der Nachtrabe lehrte jedes der jungen Irrlichter »bra, bra, brav!« zu sagen, es am rechten Ort zu sagen und das ist eine große Gabe, die sich selber lohnt. Die Eule und der Storch ließen auch etwas fallen, aber das war nicht der Rede wert, sagten sie, also reden wir nicht davon. König Waldemars wilde Jagd fuhr gerade hin über das Moor, und da diese Herrschaft von dem Fest hörte, sandte sie als Geschenk ein paar feine Hunde, die mit Windeseile jagen und wohl ein Irrlicht tragen können, oder auch drei. Zwei alte Nachtmahre, die sich durch Reiten ernähren, waren mit bei dem Fest; die lehrten sie gleich die Kunst, durch ein Schlüsselloch hineinzuschlüpfen, das ist, als ob einem alle Türen offenstünden. Sie boten sich an, die jungen Irrlichter in die Stadt zu führen, wo sie gut Bescheid wissen. Sie reiten gewöhnlich durch die Luft auf ihrem eigenen langen Nackenhaar, das sie in einen Knoten gebunden haben, um fest zu sitzen. Aber nun setzt sie sich beide quer auf die Hunde der wilden Jagd, nahmen die jungen Irrlichter auf den Schoß, die hineinsollten, um die Menschen zu verleiten und zu verwirren -husch! waren sie fort. Das war alles gestern nacht. Nun sind die Irrlichter in der Stadt, jetzt haben sie die Sache schon angepackt, aber wie und so, ja, sag mir das! Ich habe einen Wetterpropheten in meiner großen Zehe, der mir immer etwas erzählt!«
»Das ist ein ganzes Märchen!« sagte der Mann.
»Ja, das ist doch nur der Anfang zu einem«, sagte das Weib. »Können Sie mir erzahlen, wie sich die Irrlichter nun tummeln und betragen, in welchen Gestalten sie aufgetreten sind, um die Menschen auf falsche

Wege zu ringen?« »Ich glaube wohl«, sagte der Mann, »es konnte ein ganzer Roman über die Irrlichter geschrieben werden, ganze zwölf Teile, einen über jedes Irrlicht, oder vielleicht noch besser ein ganzes Volkslustspiel.«
»Das sollten Sie schreiben«, sagte das Weib, »oder lieber es sein lassen.«
»Ja, das ist angenehmer und bequemer«, sagte der Mann, »dann braucht man sich nicht in der Zeitung zerrupfen zu lassen, und dabei wird es einem oft ebenso beklommen zumut wie einem Irrlicht, wenn es in einem Baume liegen, leuchten muß und nicht mucksen darf!«
»Mir ist das ganz gleich«, sagte das Weib, »aber lassen Sie lieber die andern schreiben, die, die es können, und die, die es nicht können! Ich gebe einen alten Zapfen von meinem Faß, der schließt den Schrank mit der Poesie auf Flaschen auf, darauf können sie bekommen, was ihnen fehlt; aber Sie, mein guter Mann, scheinen mir nun Ihre Finger genug mit Tinte beschmiert zu haben, und Sie sollten wohl zu dem Alter und der Gesetztheit gekommen sein, daß Sie nicht jedes Jahr dem Märchen nachlaufen dürfen, nun, wo viel wichtigere Dinge zu tun sind. Sie haben doch wohl verstanden, was los ist=« »Die Irrlichter sind in der Stadt!« sagte der Mann. »Ich habe es gehört, ich habe es verstanden! Aber was wollen Sie, daß ich tun soll? Es wird mir ja doch schlecht ergehen, wenn ich sie sehe und den Leuten sage: »Seht einmal, da geht ein Irrlicht in Staatsuniform!«
»Sie gehen auch in Röcken!« sagte das Weib. »Das Irrlicht kann jede Gestalt annehmen, die es will, und allerorten auftreten. Es geht in die Kirche, nicht um Gottes willen, nein, vielleicht ist es in den Priester gefahren. Es spricht am Wahltag nicht zu des Landes und Reiches Gunsten, nein, nur zu seinen eigenen; es ist Künstler sowohl im Farbentopf als auch im Theatertopf, aber bekommt es ordentlich Macht, dann ist es aus mit dem Topf! Ich schwatze und schwatze, ich muß heraus mit dem, was ich auf dem Herzen habe, zum Schaden meiner eigenen Familie; aber ich werde nun die Retterin der Menschheit sein. Das geschieht wahrlich nicht aus guter Absicht oder um der Medaille willen. Ich tue das Verkehrteste, was ich tun kann, ich sage es einem Poeten und so bekommt es gleich die ganze Stadt zu wissen!«
»Die Stadt nimmt sich das nicht zu Herzen!« sagte der Mann. »Das wird keinen einzigen Menschen bekümmern, sie glauben alle, daß ich ein Märchen erzähle, während ich im tiefsten Ernst ihnen sage: »Die Irrlichter sind in der Stadt«, sagte die Moorfrau, »Nehmt euch in acht.«

Hans Christian Andersen – Die kleinen Grünen

Hans Christian Andersen

Die kleinen Grünen

Im Fenster stand ein Rosenstock. Kürzlich war er noch frisch und blank, doch nun sah er matt aus, er litt unter irgend etwas. Er hatte Einquartierung bekommen die ihn auffraß; übrigens recht ehrenhafte Einquartierung in grüner Uniform.
Ich sprach mit einem der Einquartierten, er war erst drei Tage alt und schon Großvater. Weißt du, was er sagte? Wahr ist es, was er sagte; er sprach von sich und der ganzen Einquartierung.
„Wir sind das merkwürdigste Regiment unter den Geschöpfen der Erde. In der warmen Zeit gebären wir lebende Junge; das Wetter ist ja dann gut. Kaum sind wir da, so verloben wir uns schon und halten Hochzeit. In der kalten Zeit legen wir Eier; die Kleinen liegen warm. Das weiseste Tier, die Ameise, vor der wir viel Achtung haben, studiert uns und erkennt unseren Wert. Sie frißt uns nicht gleich, nein, sie nimmt unsere Eier und legt sie in ihren und ihrer Familie gemeinsamen Bau, und zwar in die unterste Etage. Dort legt sie uns mit Fachkenntnis, nach Nummern geordnet, Seite an Seite, Schicht auf Schicht, so daß jeden Tag ein neues aus den Eiern springen kann. Dann bringen sie uns in einen Stall, klemmen uns mit den Hinterbeinen fest und melken uns, bis wir tot sind; das ist ein angenehmer Tod! Bei ihnen tragen wir den wunderhübschen Namen: „Süße Milchkuh!“ Alle Tiere mit Ameisenverstand nennen uns so, nur die Menschen nicht, und das ist eine Kränkung für uns, über die wir fast unsere Süßigkeit verlieren möchten. Können Sie dieses Unrecht nicht steuern, können Sie sie nicht zurechtweisen, diese Menschen? Sie sehen uns an, so dumm, als wollten sie uns mit ihren Blicken besudeln, nur weil wir ein Rosenblatt essen, während sie selber alle lebenden Geschöpfe, alles, war grünt und blüht, auffressen. Sie geben uns den verächtlichsten, den abscheulichsten Namen; ich nenne ihn nicht, puh! Alles dreht sich in mir, ich kann ihn nicht aussprechen, wenigstens nicht in Uniform, und ich bin immer in Uniform.
Ich bin auf dem Blatt des Rosenstocks geboren, ich und das ganze Regiment leben von dem Rosenstock. Aber durch uns leben wieder höhergeartete Geschöpfe. Die Menschen dulden uns nicht; sie kommen und töten uns mit Seifenwasser; das ist greulicher Trank! Mir scheint, ich rieche ihn schon. Es ist furchtbar, gewaschen zu werden, wenn man dazu geboren ist, nicht gewaschen zu werden! Mensch! Du, der du mich mit den strengen Seifenwasseraugen betrachtest, denke über unseren Platz in der Natur nach, über unsere kunstreiche Einrichtung, Eier zu legen und Junge zu liefern! Uns wurde auch der Segen zuteil, die Welt zu erfüllen und uns zu mehren. In Rosen werden wir geboren, in Rosen sterben wir; unser ganzes Leben ist Poesie. Behafte uns nicht mit dem Namen, den du am abscheulichsten und garstigsten findest, dem Namen -nein, ich spreche ihn nicht aus, ich mag ihn nicht nennen! Nenne uns Milchkuh der Ameisen, das Regiment des Rosenstocks, die kleinen Grünen!“
Und ich, der Mensch, stand da und sah das Bäumchen an und die kleinen Grünen, deren Namen ich nicht nennen will, denn ich mag einen Rosenbürger, der eine große Familie mit Eiern und lebendigen Jungen hat, nicht kränken. Aus dem Seifenwasser, mit dem ich sie abwaschen wollte ­denn ich war mit Seifenwasser und bösen Absichten gekommen -, will ich nun Schaum schlagen und Seifenblasen daraus machen. Und dann will ich mir die Pracht betrachten, vielleicht liegt ein Märchen in jeder Kugel.
Und die Kugel wurde so groß und schillerte in so wundersam strahlenden Farben, und in ihrem Grunde schien eine Silberperle zu schlummern. Die Kugel schwankte, schwebte, flog gegen die Tür und zerplatzte, aber die Tür sprang auf, und da stand das Märchenmütterchen selber.
Ja, jetzt kann sie erzählen, und besser als ich, von den -nein, ich sage den Namen nicht! -den kleinen Grünen!“
„Blattläusen!“ sagte Märchenmütterchen. „Man soll jedes Ding beim rechten Namen nennen, und darf man es sonst nicht, so muß man es doch im Märchen können!“

Hans Christian Andersen – Die kleine Seejungfer

Hans Christian Andersen

Die kleine Seejungfer

Weit draußen im Meere ist das Wasser so blau wie die Blütenblätter der schönsten Kornblume, und so klar wie das reinste Glas, aber es ist dort sehr tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht, viele Kirchtürme müßten aufeinandergestellt werden, um vom Grunde bis über das Wasser zu reicher. Dort unten wohnt das Meervolk.
Nun muß man nicht etwa glauben, daß dort nur der nackte, weiße Sandboden sei! Nein, da wachsen die wundersamsten Bäume und Pflanzen, deren Stiele und Blätter so geschmeidig sind, daß sie sich bei der geringsten Bewegung des Wassers rühren, als ob sie lebend wären. Alle Fische, klein und groß, schlüpfen zwischen den Zweigen hindurch, gerade wie hier oben die Vögel in der Luft. An der allertiefsten Stelle liegt des Meerkönigs Schloß. Die Mauern sind aus Korallen und die langen spitzen Fenster von allerklarstem Bernstein. Das Dach aber besteht aus Muschelschalen, die sich öffnen und schließen, je nachdem das Wasser strömt; das sieht prächtig aus, denn in jeder liegen strahlende Perlen, eine einzige davon würde der Stolz einer Königskrone sein.
Der Meerkönig dort unten war seit vielen Jahren Witwer, aber seine alte Mutter besorgte sein Haus. Sie war eine kluge Frau, doch recht stolz auf ihren Adel deshalb trug sie zwölf Austern auf dem Schwanze während die anderen Vornehmen nur sechs tragen durften. Sonst verdiente sie großes Lob, besonders weil sie die kleinen Meerprinzessinnen, ihre Enkelinnen, so liebte. Das waren sechs prächtige Kinder, aber die jüngste war die schönste von allen. Ihre Haut war so klar und zart wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie die tiefste See, aber ebenso wie alle die anderen hatte sie keine Füße. Ihr Körper endete in einem Fischschwanz.
Den lieben langen Tag durften sie unten im Schlosse, wo lebendige Blumen aus den Wänden wuchsen, spielen. Die großen Bernsteinfenster wurden aufgemacht, und dann schwammen die Fische zu ihnen herein, gerade wie bei uns die Schwalben hereinfliegen, wenn wir die Fenster aufmachen. Aber die Fische schwammen geradeswegs auf die kleinen Prinzessinnen zu, fraßen aus ihren Händen und ließen sich streicheln.
Draußen vor dem Schlosse war ein großer Garten mit feuerroten und dunkelblauen Bäumen, die Früchte strahlten wie Gold und die Blumen wie brennendes Feuer, indem sie fortwährend Stengel und Blätter bewegten. Der Boden selbst war der feinste Sand, aber blau wie Schwefelflamme. Über dem Ganzen dort unten lag ein seltsamer blauer Schein, man hätte eher glauben mögen, daß man hoch oben in der Luft stände und nur Himmel über und unter sich sähe, als daß man auf dem Meeresgrunde sei. Bei Windstille konnte man die Sonne sehen, sie erschien wie eine Purpurblume aus deren Kelche alles Licht strömte.
Jede der kleinen Prinzessinnen hatte ihren kleinen Fleck im Garten, wo sie graben und pflanzen konnte, ganz wie sie wollte. Eine gab ihrem Blumenbeet die Gestalt eines Walfisches, einer anderen erschien es hübscher, daß das ihre einem Meerweiblein glich, aber die Jüngste machte ihr Beet ganz rund wie die Sonne und hatte nur Blumen darauf, die so rot wie diese leuchteten. Sie war ein seltsames Kind, still und nachdenklich, und während die anderen Schwestern sich mit den merkwürdigsten Sachen, die aus gestrandeten Schiffen genommen waren, putzten, wollte sie nur, außer ihren rosenroten Blumen, die der Sonne dort oben glichen, ein schönes Marmorbild haben. Es war ein herrlicher Knabe, aus weißem, klarem Stein gehauen, der beim Stranden auf den Meeresboden gesunken war. Sie pflanzte neben dem Bilde eine rosenrote Trauerweide, die prächtig wuchs und mit ihren frischen Zweigen darüber hing bis auf den blauen Sandboden hinab, wo der Schatten sich violett färbte und gleich den Zweigen in sanfter Bewegung war; es sah aus, als ob die Spitze und die Wurzeln miteinander spielten, als ob sie sich küssen wollten.
Sie kannte keine größere Freude, als von der Menschenwelt über ihr zu hören, die alte Großmutter mußte ihr alles erzählen, was sie wußte von den Schiffen und Städten, Menschen und Tieren. Ganz besonders wunderbar und herrlich erschien es ihr, daß oben auf der Erde die Blumen dufteten, denn das taten sie auf dem Meeresboden nicht, und daß die Wälder grün waren und die Fische, die man dort auf den Zweigen sieht, so laut und lieblich singen konnten, daß es eine Lust war. Es waren die kleinen Vögel, die die Grobmutter Fische nannte, denn sonst hätten es die Kinder nicht verstehen können, da sie nie einen Vogel gesehen hatten.
»Wenn Ihr Euer fünfzehntes Jahr erreicht habt,« sagte die Grobmutter, »so werdet Ihr Erlaubnis bekommen, aus dem Meere emporzutauchen, im Mondschein auf den Klippen zu sitzen und die großen Schiffe vorbeisegeln zu sehen, auch die Wälder und Städte sollt Ihr dann sehen!« Im nächsten Jahre wurde die eine von den Schwestern fünfzehn Jahre, aber die anderen, die eine war immer ein Jahr jünger als die andere, die Jüngste mußte also noch fünf lange Jahre warten, bevor sie vom Meeresgrund aufsteigen und sehen konnte, wie es bei uns aussieht. Aber die eine versprach der anderen zu erzählen, was sie gesehen und am ersten Tage am schönsten gefunden hätte, denn ihre Grobmutter erzählte ihnen nicht genug, da war noch so vieles, worüber sie Bescheid wissen mußten. Keine war so sehnsuchtsvoll, wie die Jüngste, gerade sie, die am längsten Zeit zu warten hatte und die so still und gedankenvoll war. Manche Nacht stand sie am offenen Fenster und sah hinauf durch das dunkelblaue Wasser, wo die Fische mit ihren Flossen und Schwänzen einherruderten. Mond und Sterne konnte sie sehen; zwar leuchteten sie nur ganz bleich, aber durch das Wasser sahen sie viel größer aus, als für unsere Augen; glitt es dann gleich einer schwarzen Wolke unter ihnen dahin, so wußte sie, daß es entweder ein Walfisch war, der über ihr schwamm, oder auch ein Schiff mit vielen Menschen; die dachten gewiß nicht daran, daß eine liebliche kleine Seejungfer unten stand und ihre weißen Hände gegen den Kiel emporstrecken.
Nun war die älteste Prinzessin fünfzehn Jahre alt und durfte zur Meeresoberfläche aufsteigen.
Als sie zurückkam, wußte sie hundert Dinge zu erzählen, das herrlichste jedoch, sagte sie, wäre, im Mondschein auf einer Sandbank in der ruhigen See zu liegen und zu der großen Stadt dicht bei der Küste hinüberzuschauen, wo die Lichter blinkten wie hundert Sterne, die Musik und den Lärm und die Geräusche der Wagen und Menschen zu hören, die vielen Kirchtürme und Giebel zu sehen und zu hören, wie die Glocken läuten. – Und die Jüngste sehnte sich immer mehr nach diesem allen, gerade weil sie noch nicht hinauf durfte.
O, wie horchte sie auf, und wenn sie dann abends am offenen Fenster stand und durch das dunkelblaue Wasser hinaufsah, dachte sie an die große Stadt mit all ihrem Lärm und Geräusch, und dann vermeinte sie, die Kirchenglocken bis zu sich herunter läuten zu hören.
Ein Jahr danach bekam die zweite Schwester Erlaubnis, durch das Wasser aufzusteigen und zu schwimmen, wohin sie wollte. Sie tauchte auf, gerade als die Sonne unterging, und dieser Anblick erschien ihr das schönste. Der ganze Himmel habe wie Gold ausgesehen, sagte sie, und die Wolken – ja, deren Herrlichkeit konnte sie nicht genug beschreiben! Rot und violett waren sie über ihr dahingesegelt, aber weit hurtiger als sie flog, wie ein langer weißer Schleier, ein Schwarm wilder Schwäne über das Wasser hin, wo die Sonne stand. Sie schwamm ihr entgegen, aber sie sank, und der Rosenschimmer erlosch auf der Meeresfläche und den Wolken.
Im Jahre darauf kam die dritte Schwester hinauf. Sie war die dreisteste von allen. Darum schwamm sie einen breiten Fluß hinauf, der in das Meer mündete. Herrliche grüne Hügel mit Weinreben sah sie, und Schlösser und Bauernhöfe schauten zwischen den prächtigen Wäldern hervor, sie hörte, wie alle Vögel sangen, und die Sonne schien so warm, daß sie untertauchen mußte, um im Wasser ihr brennendes Antlitz zu kühlen. In einer kleinen Bucht traf sie eine Schar kleiner Menschenkinder, ganz nackend liefen sie im Wasser umher und plätscherten, sie wollte mit ihnen spielen, aber sie waren erschreckt davon gelaufen, und ein kleines schwarzes Tier war gekommen – das war ein Hund, aber sie hatte nie zuvor einen Hund gesehen –, der bellte sie so schrecklich an, daß sie es mit der Angst bekam und schnell in die offene See zu kommen suchte. Aber niemals konnte sie die prächtigen Wälder vergessen, und die grünen Hügel und die niedlichen Kinder, die im Wasser schwimmen konnten, obwohl sie keinen Fischschwanz hatten.
Die vierte Schwester war nicht so dreist, sie blieb draußen mitten im wilden Meer und erzählte, daß gerade das das Herrlichste gewesen wäre: Man sehe viele Meilen weit umher, und der Himmel stände über einem wie eine große Glasglocke. Schiffe hätte sie gesehen, aber weit in der Ferne, sie sähen aus wie Strandmöven; die lustigen Delfine hätten Purzelbäume geschlagen, und die großen Walfische hätten aus ihren Nasenlöchern Wasser hoch in die Luft gespritzt, so daß es wie hundert Springbrunnen ringsumher ausgesehen habe.
Nun kam die Reihe an die fünfte Schwester; ihr Geburtstag fiel gerade in den Winter, und darum sah sie, was die anderen das erste Mal nicht gesehen hatten. Das Meer nahm sich ganz grün aus, und ringsum schwammen große Eisberge. Jeder sähe aus, wie eine Perle, sagte sie, und doch sei er größer als die Kirchtürme, die die Menschen bauten. In den seltsamsten Gestalten zeigten sie sich und funkelten wie Diamanten. Sie hatte sich auf einen der größten gesetzt, und alle Segler kreuzten erschrocken in großem Bogen dort vorbei, wo sie saß und ihre Haare im Winde fliegen ließ. Aber gegen Abend überzog sich der Himmel mit schwarzen Wolken, es blitzte und donnerte, während die schwarze See die großen Eisblöcke hoch emporhob und sie in rotem Lichte erglänzen ließ. Auf allen Schiffen nahm man die Segel herein, und überall herrschte Angst und Grauen, sie aber saß ruhig auf ihrem schwimmenden Eisberg und sah die blauen Blitze im Zickzack in die schimmernde See herniederschlagen. Das erste Mal, wenn eine der Schwestern über das Wasser emporkam, war jede entzückt über all das Neue und Schöne. was sie sah, aber da sie nun als erwachsene Mädchen emporsteigen durften, wann sie wollten, wurde es ihnen gleichgültig, sie sehnten sich wieder nach Hause zurück, und nach eines Monats Verlauf sagten sie, daß es doch unten bei ihnen am allerschönsten sei, man sei da so hübsch zu Hause.
In mancher Abendstunde faßten sich die fünf Schwestern an den Händen und stiegen in einer Reihe über das Wasser hinauf. Herrliche Stimmen hatten sie, schöner als irgendein Mensch, und wenn dann ein Sturm heraufzog, so daß sie annehmen konnten, daß Schiffe untergehen würden, so schwammen sie vor den Schiffen her und sangen so wundersam, wie schön es auf dem Meeresgrunde sei, und sie baten die Schiffer, sich nicht zu fürchten vor dem Untergehn, aber diese konnten die Worte nicht verstehen und glaubten, es wäre der Sturm. Und sie bekamen die Herrlichkeiten da unten auch nicht zu sehen, denn wenn das Schiff sank, ertranken die Menschen und kamen nur als Tote zu des Meerkönigs Schloß.
Wenn die Schwestern so Arm in Arm am Abend durch die See hinaufstiegen, dann stand die kleine Schwester ganz allein und sah ihnen nach, und es war ihr, als ob sie weinen müßte, aber Seejungfern haben keine Tränen und leiden darum viel schwerer.
»Ach, wäre ich doch fünfzehn Jahre!« sagte sie, »ich weiß, daß ich die Welt da oben und die Menschen, die dort bauen und wohnen, recht in mein Herz schließen werde!«
Endlich war sie fünfzehn Jahre alt.
»Sieh, nun bist du erwachsen,« sagte ihre Grobmutter die alte Königin-Witwe. »Komm nun und lasse dich von mir schmücken wie deine anderen Schwestern!« Und sie setzte ihr einen Kranz von weißen Lilien ins Haar, aber jedes Blumenblatt war eine halbe Perle: und dann ließ die Alte acht große Austern sich im Schwanze der Prinzessin festklemmen, um ihren hohen Stand zu zeigen.
»Das tut so weh!« sagte die kleine Seejungfer.
»Ja, Adel hat seinen Zwang!« sagte die Alte.
Ach, sie würde so gerne die ganze Pracht abgeschüttelt und den schweren Kranz weggelegt haben, ihre roten Blumen im Garten kleideten sie viel besser, aber das nutzte nun nichts mehr. »Lebewohl,« sagte sie und stieg leicht und klar, gleich einer Blase, im Wasser empor. Die Sonne war gerade untergegangen, als sie ihr Haupt aus dem Wasser erhob, aber alle Wolken leuchteten noch wie Rosen und Gold, und mitten in der zartroten Luft strahlte der Abendstern so licht und klar. Die Luft war mild und frisch und das Meer windstill. Da lag ein großes Schiff mit drei Masten. Nur ein einziges Segel war aufgezogen, denn nicht ein Lüftchen rührte sich und rings im Tauwerk und auf den Stangen saßen Matrosen. Da war Musik und Gesang, und als es abends dunkelte, wurden Hunderte von bunten Lichtern angezündet; und es sah aus, als ob die Flaggen aller Nationen in der Luft wehten. Die kleine Seejungfer schwamm bis dicht an das Kajütenfenster, und jedesmal, wenn das Wasser sie emporhob, konnte sie durch die spiegelklaren Scheiben sehen, wie viele geputzte Menschen drinnen standen, aber der schönste war doch der junge Prinz mit den großen schwarzen Augen. Er war gewiß nicht viel über sechzehn Jahre; es war sein Geburtstag, und darum herrschte all die Pracht. Die Matrosen tanzten auf dem Deck, und als der junge Prinz heraustrat, stiegen über hundert Raketen in die Luft empor, die leuchteten wie der klare Tag, so daß die kleine Seejungfer ganz erschreckt ins Wasser niedertauchte, aber sie steckte den Kopf bald wieder hervor und da war es, als ob alle Sterne des Himmels auf sie herniederfielen. Niemals hatte sie solche Feuerkünste gesehen. Große Sonnen drehten sich sprühend herum, Feuerfische schwangen sich in die blaue Luft, und alles spiegelte sich in der klaren, stillen See. Auf dem Schiffe selbst war es so hell, daß man jedes kleine Tau sehen konnte, wieviel genauer noch die Menschen. Ach, wie schön war doch der junge Prinz, und er drückte den Leuten die Hand und lächelte, während die Musik in die herrliche Nacht hinausklang.
Es wurde spät, aber die kleine Seejungfer konnte die Augen nicht von dem Schiffe und von dem schönen Prinzen wegwenden. Die bunten Lichter wurden gelöscht, Raketen stiegen nicht mehr empor, und auch keine Kanonenschüsse ertönten mehr, aber tief unten im Meere summte und brummte es. Sie saß inzwischen und ließ sich vom Wasser auf und nieder schaukeln, so daß sie in die Kajüte hineinsehen konnte; aber jetzt bekam das Schiff stärkere Fahrt, ein Segel nach dem anderen breitete sich aus, die Wogen gingen höher, große Wolken zogen herauf, es blitzte in der Ferne. Ein schreckliches Unwetter war im Anzuge, deshalb nahmen die Matrosen die Segel ein. Das große Schiff schaukelte in fliegender Fahrt auf der wilden See. Die Wogen stiegen auf wie große, schwarze Berge, die sich über die Masten wälzen wollten, aber das Schiff tauchte wie ein Schwan zwischen den hohen Wogen nieder und ließ sich wieder emportragen auf die aufgetürmten Wasser. Der kleinen Seejungfer schien es eine recht lustige Fahrt zu sein, aber den Seeleuten erschien es ganz und gar nicht so. Das Schiff knackte und krachte, die dicken Planken bogen sich bei den starken Stößen, mit denen sich die See gegen das Schiff warf, der Mast brach mitten durch, als ob er ein Rohr wäre, und das Schiff schlingerte auf die Seite, während das Wasser in den Raum drang. Nun sah die kleine Seejungfer, daß sie in Gefahr waren. Sie mußte sich selbst in acht nehmen, vor den Balken und Schiffstrümmern, die auf dem Wasser trieben. Einen Augenblick war es so kohlschwarze Finsternis, daß sie nicht das mindeste gewahren konnte, aber wenn es dann blitzte, wurde es wieder so hell, daß sie alle auf dem Schiffe erkennen konnte; jeder tummelte sich, so gut er konnte. Besonders suchte sie nach dem jungen Prinzen, und sie sah ihn, als das Schiff verschwand, in das tiefe Meer versinken. Zuerst war sie sehr froh darüber, denn nun kam er ja zu ihr herunter, aber dann erinnerte sie sich, daß Menschen nicht unter dem Wasser leben können, daß er also nur als Toter hinunter zu ihres Vaters Schloß gelangen konnte. Nein, sterben durfte er nicht; deshalb schwamm sie hin zwischen die Balken und Planken, die auf dem Meere trieben, und vergaß ganz daß sie von ihnen hätte zermalmt werden können. Sie tauchte tief unter das Wasser, stieg wieder empor zwischen den Wogen und gelangte so zuletzt zu dem jungen Prinzen hin, der kaum mehr in der stürmischen See schwimmen konnte, seine Arme und Beine begannen zu ermatten, die schönen Augen schlossen sich, und er wäre gestorben, wenn nicht die kleine Seejungfer dazu gekommen wäre. Sie hielt seinen Kopf über Wasser und ließ sich so von den Wogen mit ihm treiben, wohin sie wollten.
Am Morgen war das Unwetter vorüber, vom Schiffe war nicht ein Span mehr zu sehen, die Sonne stieg rot empor und glänzte über dem Wasser, und es war gerade, als ob des Prinzen Wangen Leben dadurch erhielten, aber die Augen blieben geschlossen. Die Seejungfer küßte seine hohe, schöne Stirn und strich sein nasses Haar zurück, sie dachte, daß er dem Marmorbilde unten in ihrem kleinen Garten gliche, und sie küßte ihn wieder und wünschte, daß er doch leben möchte.
Nun sah sie vor sich das feste Land, hohe blaue Berge, auf deren Gipfel der weiße Schnee schimmerte, als ob Schwäne dort oben lägen. Unten an der Küste waren herrliche grüne Wälder, und vorn lag eine Kirche oder ein Kloster, das wußte sie nicht recht, aber ein Gebäude war es. Zitronen-und Apfelsinenbäume wuchsen dort im Garten, und vor den Toren standen große Palmenbäume. Die See bildete hier eine kleine Bucht, da war es ganz still, aber sehr tief. Bis dicht zu den Klippen, wo der feine, weiße Sand angespült lag, schwamm sie mit dem schönen Prinzen, legte ihn in den Sand, und sorgte besonders dafür, daß der Kopf hoch im warmen Sonnenschein lag.
Nun läuteten die Glocken in dem großen, weißen Gebäude, und es kamen viele junge Mädchen durch den Garten. Da schwamm die kleine Seejungfer etwas weiter hinaus hinter ein paar große Felsen, die aus dem Meere aufragten, bedeckte ihre Brust und ihr Haar mit Meerschaum, so daß niemand ihr kleines Antlitz sehen konnte, und dann paßte sie auf, wer zu dem armen Prinzen kommen würde.
Es dauerte nicht lange, bis ein junges Mädchen dahin kam. Sie schien sehr erschrocken, aber nur einen Augenblick, dann holte sie mehrere Leute herbei, und die Seejungfer sah, daß der Prinz wieder zu sich kam und alle anlächelte, aber hinaus zu ihr lächelte er nicht, er wußte ja auch nicht, daß sie ihn gerettet hatte; sie wurde sehr traurig, und als er in das große Gebäude geführt wurde, tauchte sie betrübt ins Wasser hinab und kehrte heim zu ihres Vaters Schloß. Immer war sie still und gedankenvoll gewesen, aber nun wurde sie es noch weit mehr. Die Schwestern fragten sie, was sie das erste Mal dort oben gesehen habe, aber sie erzählte nichts.
Manchen Abend und Morgen stieg sie auf zu der Stelle, wo sie den Prinzen verlassen hatte. Sie sah des Gartens Früchte reifen und gepflückt werden, sie sah den Schnee auf den hohen Bergen schmelzen, aber den Prinzen sah sie nicht, und deshalb kehrte sie immer betrübter heim. Es war ihr einziger Trost, in dem kleinen Garten zu sitzen und ihre Arme um das schöne Marmorbild, das dem Prinzen glich, zu schlingen, aber ihre Blumen pflegte sie nicht, sie wuchsen wie in einer Wildnis über die Gänge hinaus und flochten ihre langen Stiele und Blätter in die Zweige der Bäume, so daß es dort ganz dunkel war.
Zuletzt konnte sie es nicht länger aushalten und sagte es einer von ihren Schwestern, und so bekamen es schnell all die anderen zu wissen, aber nicht mehr als sie und noch ein paar Seejungfern, die es niemand weitersagten, als ihren allernächsten Freundinnen. Eine von diesen wußte, wer der Prinz war, sie hatte auch das Fest auf dem Schiffe gesehen und wußte, woher er war und wo sein Königreich lag.
»Komm, Schwesterchen,« sagten die anderen Prinzessinnen, und Arm in Arm stiegen sie in einer langen Reihe aus dem Meere empor, dorthin, wo sie des Prinzen Schloß wußten.
Dies war aus einer hellgelb glänzenden Steinart aufgeführt, mit großen Marmortreppen, von denen eine gerade bis zum Meere hinunter führte. Prächtige vergoldete Kuppeln erhoben sich über dem Dache, und zwischen den Säulen, die das ganze Gebäude umkleideten, standen Marmorbilder, die sahen aus, als ob sie Leben hätten. Durch das klare Glas in den hohen Fenstern konnte man in die prächtigsten Gemächer hineinsehen, wo kostbare Seidengardinen und Teppiche hingen und die Wände mit großen Gemälden geschmückt waren, so daß es ein wahres Vergnügen war, alles anzusehen. Mitten in dem größten Saal plätscherte ein großer Springbrunnen, seine Strahlen sprangen hoch auf gegen die Glaskuppel in der Decke, wo hindurch die Sonne auf das Wasser und die herrlichen Pflanzen schien, die in dem großen Marmorbecken wuchsen.
Nun wußte sie, wo er wohnte, und so brachte sie manchen Abend und manche Nacht dort auf dem Wasser zu. Sie schwamm dem Lande weit näher, als es eine der anderen je gewagt hatte, ja sie drang bis weit in den schmalen Kanal unter dem prächtigen Marmoraltan ein, der einen langen Schatten über das Wasser warf. Hier saß sie und sah auf den jungen Prinzen, der sich ganz allein in dem klaren Mondschein glaubte. An manchem Abend sah sie ihn mit Musik und wehenden Flaggen in seinem prächtigen Boot davonsegeln. Sie lugte zwischen dem grünen Schilfe hervor, und wenn der Wind mit ihrem langen silberweißen Schleier spielte und jemand das sah, dachte er, es sei ein Schwan, der seine Flügel höbe.
Sie hörte in mancher Nacht, wenn die Fischer mit Fackeln auf dem Meer lagen, daß viel Gutes von dem jungen Prinzen berichtet wurde, und da freute sie sich, daß sie ihn gerettet hatte, als er halbtot auf den Wogen trieb, und sie dachte daran, wie fest sein Haupt an ihrer Brust geruht hatte, und wie innig sie ihn da geküßt hatte. Aber er wußte nichts davon und konnte nicht einmal von ihr träumen.
Mehr und mehr kam sie dazu, die Menschen zu lieben, und mehr und mehr wünschte sie, zu ihnen hinaufsteigen zu können, denn die Menschenwelt erschien ihr weit größer als die ihre. Sie konnten zu Schiff über die Meere fliegen, auf die hohen Berge weit über den Wolken steigen, und ihre Länder erstreckten sich mit Wäldern und Feldern weiter, als sie blicken konnte. Da war so vieles, was sie gern wissen wollte, aber die Schwestern konnten ihr auf viele Fragen keine Antwort geben, deshalb fragte sie die alte Großmutter, denn diese kannte die höhere Welt, wie sie sehr richtig die Länder oberhalb des Meeres nannte, recht gut.
»Wenn die Menschen nicht ertrinken,« fragte die kleine Seejungfer, »können sie dann ewig leben? Sterben sie nicht, wie wir hier unten im Meere?«
»Ja«, sagte die Alte, »sie müssen auch sterben, und ihre Lebenszeit ist sogar noch kürzer als die unsere. Wir können dreihundert Jahre alt werden, aber wenn wir dann aufgehört haben, zu sein, so werden wir in Schaum auf dem Wasser verwandelt und haben nicht einmal ein Grab hier unten zwischen unseren Lieben.
Wir haben keine unsterbliche Seele; wir erhalten nie wieder Leben. Wir sind gleich dem grünen Schilfe, ist es einmal abgeschnitten, so kann es nie wieder grünen. Die Menschen dagegen haben eine Seele, die ewig lebt, die lebt, auch wenn der Körper zu Erde zerfallen ist. Sie steigt auf in der klaren Luft und zu all den schimmernden Sternen empor! Gerade wie wir aus dem Meere auftauchen und die Länder der Menschen sehen, so tauchen sie zu unbekannten, herrlichen Orten empor, die wir niemals erblicken werden.«
»Warum bekamen wir keine unsterbliche Seele?« sagte die kleine Seejungfer betrübt, »ich wollte alle meine hundert Jahre, die ich zu leben habe, dafür hingeben, einen Tag ein Mensch zu sein und Teil zu haben an der himmlischen Welt!«
»So etwas mußt du nicht denken!« sagte die Alte, »wir sind viel glücklicher und besser daran, als die Menschen dort oben!«
»Ich muß also sterben und als Schaum auf dem Meere treiben, und darf nicht mehr der Wellen Musik hören, die herrlichen Blumen und die rote Sonne sehen. Kann ich denn gar nichts tun, um eine unsterbliche Seele zu gewinnen?«­
»Nein«, sagte die Alte. »Nur wenn ein Mensch dich so lieb gewinnt, daß du für ihn mehr wirst, als Vater und Mutter, wenn er mit allen seinen Gedanken und seiner Liebe an dir hinge und den Priester deine rechte Hand in seine legen ließe mit dem Gelübde der Treue hier und für alle Ewigkeit, dann würde seine Seele in deinen Körper überfließen und du bekämest auch Teil an dem Glücke der Menschen. Er gäbe dir eine Seele und behielte doch die eigene. Aber das kann niemals geschehen! Was hier im Meere gerade als schön gilt, dein Fischschwanz, das finden sie häßlich oben auf der Erde, sie verstehen es eben nicht besser. Man muß dort zwei plumpe Säulen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!«
Da seufzte die kleine Seejungfer und sah betrübt auf ihren Fischschwanz.
»Laß uns fröhlich sein,« sagte die Alte, »hüpfen und springen wollen wir in den dreihundert Jahren, die wir zu leben haben, das ist eine ganz schöne Zeit. Später kann man sich um so sorgenloser in seinem Grabe ausruhen. Heute abend haben wir Hofball!«
Das war eine Pracht, wie man sie auf der Erde nie sehen konnte. Wände und Decke in dem großen Tanzsaal waren aus dickem, aber klarem Glase. Mehrere hundert riesige Muschelschalen, rosenrote und grasgrüne, standen in Reihen an jeder Seite mit einem blau brennenden Feuer, das den ganzen Saal erleuchtete und durch die Wände hinausschien, so daß die See draußen ebenfalls hell erleuchtet war. Man konnte all die unzähligen Fische sehen, große und kleine, die gegen die Glasmauern schwammen. Bei einigen schimmerten die Schuppen purpurrot, bei anderen wie Silber und Gold. Mitten im Saale floß ein breiter Strom, und auf diesem tanzten die Meermänner und Meerweiblein zu ihrem eigenen herrlichen Gesang. So süßklingende Stimmen gibt es bei den Menschen auf der Erde nicht. Die kleine Seejungfer sang am schönsten von allen, und alle klatschten ihr zu, und einen Augenblick lang fühlte sie Freude im Herzen, denn sie wußte, daß sie die schönste Stimme von allen im Wasser und auf der Erde hatte! Aber bald dachte sie doch wieder an die Welt über

sich; sie konnte den schönen Prinzen nicht vergessen und auch nicht ihren Kummer darüber, daß sie nicht, wie er, eine unsterbliche Seele besaß.
Deshalb schlich sie sich aus ihres Vaters Schloß, und während alle drinnen sich bei Gesang und Fröhlichkeit vergnügten, saß sie betrübt in ihrem kleinen Garten. Da hörte sie das Waldhorn durch das Wasser hinunter erklingen, und sie dachte: »Nun fährt er gewiß dort oben, er, den ich lieber habe, als Vater und Mutter, er, an dem meine Gedanken hängen und in dessen Hand ich meines Lebens Glück legen möchte. Alles will ich wagen um ihn und um eine unsterbliche Seele zu gewinnen! Während meine Schwestern dort drinnen in meines Vaters Schloß tanzen, will ich zur Meerhexe gehen, vor der ich mich immer so gefürchtet habe. Aber sie kann vielleicht raten und helfen!«
Nun ging die kleine Seejungfer aus ihrem Garten hinaus zu dem brausenden Malstrom, hinter dem die Hexe wohnte. Diesen Weg war sie nie zuvor gegangen, da wuchsen keine Blumen, kein Seegras, nur der nackte graue Sandboden streckte sich gegen den Malstrom, wo das Wasser wie brausende Mühlenräder im Kreise wirbelte und alles, was es erfaßte, mit sich in die Tiefe riß. Mitten zwischen diesen zermalmenden Wirbeln mußte sie dahingehen, um in das Reich der Meerhexe zu gelangen. Dann gab es eine ganze Strecke keinen anderen Weg, als über heißsprudelnden Schlamm, den die Hexe ihr Torfmoor nannte. Dahinter lag ihr Haus mitten in einem seltsamen Walde. Alle Bäume und Büsche waren Polypen, halb Tier, halb Pflanze, sie sahen aus, wie hundertköpfige Schlangen, die aus der Erde wuchsen; alle Zweige waren lange schleimige Arme mit Fingern wie geschmeidige Würmer, und Glied für Glied bewegten sie sich von der Wurzel bis zur äußersten Spitze. Alles was in ihre Greifnähe kam im Meer, umschnürten sie fest und ließen es nicht wieder los. Die kleine Seejungfer blieb ganz erschrocken draußen stehen, ihr Herz klopfte vor Angst, fast wäre sie wieder umgekehrt, aber da dachte sie an den Prinzen und an die Menschenseele, und das machte ihr Mut. Ihr langes, wehendes Haar band sie fest um den Kopf, so daß die Polypen sie nicht daran ergreifen könnten, beide Hände legte sie über der Brust zusammen und schoß von dannen, schnell wie nur ein Fisch durchs Wasser schießen kann, mitten hinein zwischen die häßlichen Polypen, die ihre geschmeidigen Arme und Finger nach ihr ausstreckten. Sie sah, wie jeder von ihnen etwas, was er aufgegriffen hatte mit hundert kleinen Armen festhielt wie mit starken Eisenbanden. Menschen, die in der See umgekommen waren und tief heruntergesunken waren, sahen als weiße Gerippe aus dem Armen der Polypen hervor. Steuerruder und Kisten hielten sie fest, Skelette von Landtieren und eine kleine Meerjungfer, die

sie gefangen und erstickt hatten, – das erschien ihr fast als das Schrecklichste.
Nun gelangte sie an einen großen, mit Schleim bedeckten Platz im Walde, wo große, fette Wasserschlangen sich wälzten und ihre häßlichen, weißgelben Bäuche zeigten. Mitten auf dem Platze war ein Haus errichtet aus ertrunkener Menschen weißen Gebeinen. Da saß die Meerhexe und ließ eine Kröte von ihrem Munde essen, gerade wie Menschen einen kleinen Kanarienvogel Zucker picken lassen. Die häßlichen, fetten Wasserschlangen nannte sie ihre kleinen Küchlein und ließ sie sich auf ihrer großen, schwammigen Brust wälzen.
»Ich weiß schon, was du willst!« sagte die Meerhexe, »das ist zwar dumm von dir, aber du sollst trotzdem deinen Willen haben, denn er wird dich ins Unglück stürzen, meine schöne Prinzessin. Du willst gern deinen Fischschwanz los sein und dafür zwei Stümpfe haben, um darauf zu gehen, ebenso wie die Menschen, damit der junge Prinz sich in dich verlieben soll und du ihn und eine unsterbliche Seele bekommen kannst!« Gleichzeitig lachte die Hexe so laut und scheußlich, daß die Kröte und die Schlangen zur Erde fielen und sich dort wälzten. »Du kommst gerade zur rechten Zeit,« sagte die Hexe, »morgen, wenn die Sonne aufgeht, könnte ich dir nicht mehr helfen, bevor wieder ein Jahr um wäre. Ich will dir einen Trunk bereiten, mit dem sollst du, bevor die Sonne aufgeht, ans Land schwimmen, dich ans Ufer setzen und ihn trinken, dann verschwindet dein Schwanz und schrumpft zusammen zu dem, was die Menschen hübsche Beine nennen, aber es tut weh, es wird sein als ob ein scharfes Schwert durch dich hindurch ginge. Alle, die dich sehen, werden sagen, du seiest das liebreizendste Menschenkind, das sie je gesehen hätten! Du behältst deinen schwebenden Gang, keine Tänzerin wird schweben können, wie du, aber jeder Schritt, den du tust, wird sein, als ob du auf scharfe Messer trätest, so daß dein Blut fließen muß. Willst du alles dies erleiden, so werde ich dir helfen!«
»Ja!« sagte die kleine Seejungfer mit bebender Stimme und dachte an den Prinzen und die unsterbliche Seele.
»Bedenke aber«, sagte die Hexe, »hast du erst menschliche Gestalt bekommen, so kannst du nie wieder eine Seejungfer werden! Niemals wieder kannst du durch das Wasser zu deinen Schwestern niedersteigen und zu deines Vaters Schloß. Und wenn du die Liebe des Prinzen nicht erringst, so daß er um deinetwillen Vater und Mutter vergißt, mit allen seinen Gedanken nur an dir hängt und den Priester eure Hände ineinander legen läßt, so daß Ihr Mann und Frau werdet, so bekommst du keine unsterbliche Seele! Am ersten Morgen, nachdem er sich mit einer anderen

vermählt hat, muß dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.«
»Ich will es!« sagte die kleine Seejungfer und war bleich wie der Tod.
»Aber mich mußt du auch bezahlen!« sagte die Hexe, »und es ist nicht wenig, was ich verlange. Du hast die herrlichste Stimme von allen hier unten auf dem Meeresgrunde, damit willst du ihn bezaubern, hast du dir wohl gedacht, aber die Stimme mußt du mir geben. Das beste, was du besitzest, will ich für meinen kostbaren Trank haben! Ich muß ja mein eigenes Blut für dich darein mischen, damit der Trank scharf werde, wie ein zweischneidiges Schwert!«
»Aber wenn du mir meine Stimme nimmst,« sagte die kleine Seejungfer, »was behalte ich dann übrig?«
»Deine schöne Gestalt,« sagte die Hexe, »Deinen schwebenden Gang und deine sprechenden Augen, damit kannst du schon ein Menschenherz betören. Na, hast du den Mut schon verloren? Streck deine kleine Zunge hervor, dann schneide ich sie ab, zur Bezahlung, und du bekommst dafür den kräftigen Trank!«
»Es geschehe!« sagte die kleine Seejungfer, und die Hexe setzte ihren Kessel auf, um den Zaubertrank zu kochen. »Reinlichkeit ist ein gutes Ding!« sagte sie und scheuerte den Kessel mit Schlangen ab, die sie zu einem Knoten band. Nun ritzte sie sich selbst in die Brust und ließ ihr schwarzes Blut hineintropfen. Der Dampf nahm die seltsamsten Gestalten an, so daß einem angst und bange wurde. Jeden Augenblick tat die Hexe neue Sachen in den Kessel, und als es recht kochte, war es, als ob ein Krokodil weint. Zuletzt war der Trank fertig, er sah aus, wie das klarste Wasser.
»Da hast du ihn!« sagte die Hexe und schnitt der kleinen Seejungfer die Zunge ab. Nun war sie stumm und konnte weder singen noch sprechen.
»Sobald du von den Polypen ergriffen wirst, wenn du durch meinen Wald zurück gehst,« sagte die Hexe, »so wirf nur einen einzigen Tropfen von diesem Trank auf sie, dann springen ihre Arme und Finger in tausend Stücke!« Aber das brauchte die kleine Seejungfer gar nicht. Die Polypen zogen sich erschreckt vor ihr zurück, als sie den leuchtenden Trank sahen, der in ihrer Hand glänzte, gerade als ob sie einen funkelnden Stern hielte. So kam sie bald durch den Wald, das Moor und den brausenden Malstrom.
Sie konnte ihres Vaters Schloß sehen; die Lichter in dem großen Tanzsaal waren gelöscht, sie schliefen gewiß alle darinnen, aber sie wagte doch nicht noch einmal hinzugehen, nun sie stumm geworden war und sie auf immer verlassen wollte. Es war, als ob ihr Herz vor Kummer zerspringen

wollte. Sie schlich sich in den Garten, nahm eine Blume von jeder Schwester Beet, warf tausend Kußhände zum Schlosse hin und stieg durch die dunkelblaue See empor.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie des Prinzen Schloß erblickte und die prächtige Marmortreppe emporstieg. Der Mond schien wundersam klar. Die kleine Seejungfer trank den brennend scharfen Trank und es war ihr, als ob ein zweischneidiges Schwert durch ihre feinen Glieder ging. Sie wurde darüber ohnmächtig und lag wie tot da. Als die Sonne über die See schien, erwachte sie und fühlte einen schneidenden Schmerz, aber gerade vor ihr stand der schöne, junge Prinz. Er heftete seine kohlschwarzen Augen auf sie, so daß sie die ihren niederschlug, und nun sah sie, daß ihr Fischschwanz fort war und sie die niedlichsten kleinen, weißen Füßchen hatte, die nur ein Mädchen haben kann. Aber sie war ganz nackend, darum hüllte sie sich in ihr langes, dichtes Haar. Der Prinz fragte, wer sie wäre und wie sie hierhergekommen sei, und sie sah ihn mild aber doch so traurig mit ihren dunkelblauen Augen an; sprechen konnte sie ja nicht. Da nahm er sie bei der Hand und führte sie in das Schloß. Jeder Schritt, den sie tat, war, wie die Hexe es ihr vorausgesagt hatte, als ob sie auf spitzige Nadeln und scharfe Messer träte, aber das erduldete sie gerne; an des Prinzen Hand stieg sie so leicht wie eine Seifenblase empor, und er und alle Anderen verwunderten sich über ihren anmutig dahinschwebenden Gang.
Mit köstlichen Kleidern aus Seide und Musselin wurde sie nun bekleidet. Sie war die Schönste im Schlosse, aber sie war stumm, konnte weder singen noch sprechen. Wunderschöne Sklavinnen, gekleidet in Seide und Gold, traten hervor und sangen vor dem Prinzen und seinen königlichen Eltern. Eine von ihnen sang schöner als die anderen, und der Prinz klatschte in die Hände und lächelte ihr zu. Da ward die kleine Seejungfer traurig, sie wußte, daß sie selbst weit schöner gesungen hatte! Und sie dachte, o, wüßte er nur, daß ich, um in seiner Nähe zu sein, meine Stimme für alle Ewigkeit hingegeben habe!
Nun tanzten die Sklavinnen lieblich schwebende Tänze zu der herrlichsten Musik. Da hob die kleine Seejungfer ihre schönen, weißen Arme, erhob sich auf den Zehenspitzen und schwebte über den Boden hin, und sie tanzte, wie noch keine getanzt hatte. Bei jeder Bewegung offenbarte sich ihre Schönheit anmutiger, und ihre Augen sprachen tiefer zum Herzen, als der Gesang der Sklavinnen.
Alle waren entzückt, besonders aber der Prinz, der sie sein kleines Findelkind nannte, und sie tanzte fort und fort, ob auch bei jedem Male, wenn ihr Fuß die Erde berührte, sie einen Schmerz fühlte, als ob sie auf

scharfe Messer träte. Der Prinz sagte, daß sie immer bei ihm bleiben müsse, und sie bekam die Erlaubnis, vor seiner Tür auf einem samtenen Kissen zu schlafen.
Er ließ ihr eine Knabentracht nähen, damit sie ihm auch zu Pferde folgen könne. Sie ritten durch die duftenden Wälder, wo die Zweige an ihre Schultern schlugen und die kleinen Vögel unter den frischen Blättern sangen. Sie kletterte mit dem Prinzen die hohen Berge hinauf, und obgleich ihre feinen Füße bluteten, daß selbst die anderen es sahen, lachte sie dessen und folgte ihm doch, bis sie die Wolken unter sich dahinsegeln sahen, wie einen Schwarm Vögel, der nach fremden Ländern zog.
Daheim auf des Prinzen Schloß, wenn nachts die anderen schliefen, ging sie die breite Marmortreppe hinab; es kühlte ihre brennenden Füße, im kalten Meereswasser zu stehen, und dann dachte sie derer unten in der Tiefe.
Eines Nachts kamen ihre Schwestern Arm in Arm, sie sangen so traurig, während sie über das Wasser dahinschwammen, und sie winkte ihnen zu, und sie erkannten sie und erzählten, wie traurig sie alle um sie seien. Sie besuchten sie von nun an jede Nacht. Und in einer Nacht sah sie weit draußen die alte Grobmutter die seit vielen Jahren nicht mehr über dem Wasser gewesen war, und den Meerkönig mit seiner Krone auf dem Haupte. Sie streckten die Arme nach ihr aus, aber wagten sich nicht so nahe ans Land, wie die Schwestern.
Tag für Tag wurde sie dem Prinzen lieber, er hatte sie lieb, wie man ein gutes und liebes Kind gern hat, aber sie zu seiner Königin zu machen, kam ihm nicht in den Sinn. Und sie mußte doch seine Frau werden, sonst erhielt sie keine unsterbliche Seele und mußte an seinem Hochzeitsmorgen zu Schaum vergehen.
»Hast du mich nicht am liebsten von allen?« schienen der kleinen Seejungfer Augen zu fragen, wenn er sie in seine Arme nahm und sie auf die schöne Stirn küßte.
»Ja, du bist mir die Liebste,« sagte der Prinz, »denn du hast das beste Herz von allen, du bist mir am meisten ergeben, und du gleichst einem jungen Mädchen, das ich einmal sah aber gewiß nie wieder finden werde. Ich war auf einem Schiffe, das unterging. Die Wogen trieben mich bei einem heiligen Tempel an das Land, wo mehrere junge Mädchen die Tempeldienste verrichteten. Die Jüngste fand mich am Meeresufer und rettete mir das Leben. Ich sah sie nur zwei Mal. Sie ist die einzige in dieser Welt, die ich lieben könnte, aber du gleichst ihr, du verdrängst fast

ihr Bild in meiner Seele. Sie gehört dem heiligen Tempel an, und deshalb hat mein Glücksengel dich mir gesendet. Nie wollen wir uns trennen!« – »Ach, er weiß nicht, daß ich sein Leben gerettet habe!« dachte die kleine Seejungfer, »ich trug ihn über das Meer zu dem Walde, wo der Tempel stand; ich saß hinter dem Schaum und paßte auf, ob Menschen kommen würden; ich sah das schöne Mädchen, das er mehr liebt, als mich!« Und die Seejungfer seufzte tief, denn weinen konnte sie nicht. »Das Mädchen gehört dem heiligen Tempel an, hat er gesagt; sie kommt nie in die Welt hinaus, sie begegnen einander nicht mehr; ich bin bei ihm, sehe ihn jeden Tag. Ich will ihn pflegen, ihn lieben, ihm mein Leben opfern!«
Aber nun sollte der Prinz sich verheiraten mit des Nachbarkönigs schöner Tochter, erzählte man. Deshalb rüstete er auch ein so prächtiges Schiff aus. Der Prinz reist, um des Nachbarkönigs Länder kennen zu lernen, hieß es allerdings, aber es geschah im Grunde genommen, um des Nachbarkönigs Tochter kennen zu lernen. Ein großes Gefolge sollte ihn begleiten. Aber die kleine Seejungfer schüttelte das Haupt und lächelte. Sie kannte die Gedanken des Prinzen weit besser, als alle anderen. »Ich soll reisen!« hatte er ihr gesagt, »ich soll die schöne Prinzessin sehen, meine Eltern verlangen das. Aber zwingen wollen sie mich nicht, sie als meine Braut heimzuführen. Ich kann sie ja nicht lieben! Sie gleicht nicht dem schönen Mädchen im Tempel, der du gleich siehst. Sollte ich einmal eine Braut wählen, so würdest eher du es werden, du, mein stummes Findelkind mit den sprechenden Augen!« Und er küßte ihren roten Mund, spielte mit ihren langen Haaren und legte sein Haupt an ihr Herz, das von Menschenglück und einer unsterblichen Seele träumte.
»Du hast doch keine Furcht vor dem Meere, mein stummes Kind!« sagte er, als sie auf dem prächtigen Schiffe standen, das ihn in des Nachbarkönigs Land führen sollte. Und er erzählte ihr von Sturm und Windstille, von seltsamen Fischen in der Tiefe, und was der Taucher dort gesehen hatte. Sie lächelte bei seiner Erzählung, sie wußte ja besser als nur irgend ein Mensch im Meere bescheid.
In der mondklaren Nacht, als alle schliefen außer dem Steuermann, der am Ruder saß, saß sie an der Brüstung des Schiffes und starrte durch das klare Wasser hinab, und sie vermeinte, ihres Vaters Schloß zu sehen. Oben darauf stand ihre alte Großmutter mit der Silberkrone auf dem Haupte und starrte durch die wilde Strömung zu des Schiffes Kiel hinauf. Da kamen ihre Schwestern über das Wasser empor, und sie schauten sie traurig an und rangen ihre weißen Hände. Sie winkte ihnen zu, lächelte und wollte erzählen, daß sie glücklich sei und es ihr gut gehe, aber der Schiffsjunge näherte sich ihr, und die Schwestern tauchten hinab, so daß er glaubte, das Weiße, das er gesehen, sei Meeresschaum.

Am nächsten Morgen fuhr das Schiff in den Hafen bei des Nachbarkönigs prächtiger Stadt ein. Alle Kirchenglocken erklangen, und von den hohen Türmen wurden die Posaunen geblasen, während die Soldaten mit wehenden Fahnen und blinkenden Bajonetten dastanden. Jeder Tag brachte ein neues Fest. Bälle und Gesellschaften folgten einander, aber die Prinzessin war nicht da. Sie war weit entfernt von hier in einem heiligen Tempel erzogen worden, sagte man. Dort lehre man sie alle königlichen Tugenden. Endlich traf sie ein.
Die kleine Seejungfer stand begierig, ihre Schönheit zu sehen, und sie mußte anerkennen, eine lieblichere Erscheinung hat sie nie gesehen. Die Haut war so fein und zart, und hinter den langen, schwarzen Wimpern lächelte ein Paar dunkelblauer, treuer Augen.
»Du bist es!« sagte der Prinz, »Du, die mich rettete, als ich wie tot an der Küste lag!« und er schloß die errötende Braut in seine Arme. »O, ich bin allzu glücklich!« sagte er zu der kleinen Seejungfer. »Das allerhöchste, auf was ich nie zu hoffen wagte, ist mir in Erfüllung gegangen. Du wirst dich mit mir über mein Glück freuen, denn du meinst es von allen am besten mit mir!« Und die kleine Seejungfer küßte seine Hand, und sie fühlte fast ihr Herz brechen. Sein Hochzeitsmorgen sollte ihr ja den Tod bringen und sie zu Meeresschaum verwandeln.
Alle Kirchenglocken läuteten, Herolde ritten in den Straßen umher undverkündeten die Verlobung. Auf allen Altaren brannten duftende Öle in kostbaren Silberlampen. Die Priester schwangen die Räucherfässer, und Braut und Bräutigam reichten einander die Hand und nahmen den Segen des Bischofs entgegen. Die kleine Seejungfer stand in Gold und Seide gekleidet und hielt die Schleppe der Braut, aber ihre Ohren hörten nichts von der festlichen Musik, ihre Augen sahen nicht die heilige Zeremonie. Sie dachte an ihre Todesnacht und an alles, was sie in dieser Welt verlor.
Noch am selben Abend gingen Braut und Bräutigam an Bord des Schiffes. Die Kanonen donnerten, alle Flaggen wehten, und inmitten des Schiffes war ein königliches Zelt aus Gold und Purpur mit herrlichen Kissen errichtet. Dort sollte das Brautpaar in der kühlen, stillen Nacht schlafen.
Die Segel bauschten sich im Winde, und das Schiff glitt leicht und ohne große Bewegung über die klare See.
Als es dunkelte, wurden bunte Lampen entzündet, und die Seeleute tanzten lustige Tänze auf dem Deck. Die kleine Seejungfer mußte des ersten Abends gedenken, da sie aus dem Meere auftauchte und dieselbe Pracht und Freude mit angesehen hatte. Und sie wirbelte mit im Tanze, schwebte, wie die Schwalbe schwebt, wenn sie verfolgt wird, und alle

jubelten ihr Bewunderung zu, denn noch nie hatte sie so wundersam getanzt; es schnitt wie mit scharfen Messern in ihre zarten Füße, aber sie fühlte es nicht, denn weit mehr schmerzte ihr Herz. Sie wußte, an diesem Abend sah sie ihn zum letzten Male, ihn, um dessen willen sie die Heimat verlassen hatte, für den sie ihre herrliche Stimme hingegeben hatte, und für den sie täglich unendliche Qualen erlitten hatte, ohne daß er es auch nur ahnte. Es war die letzte Nacht, daß sie dieselbe Luft mit ihm atmete, das tiefe Meer und den blauen Sternenhimmel erblickte. Ewige Nacht ohne Gedanken und Träume wartete ihrer, die eine Seele nicht hatte und sie nimmermehr gewinnen konnte. Und ringsum war Lust und Fröhlichkeit auf dem Schiffe bis weit über Mitternacht hinaus. Sie lächelte und tanzte mit Todesgedanken im Herzen. Der Prinz küßte seine schöne Braut, und sie spielte mit seinem schwarzen Haar, und Arm in Arm gingen sie zur Ruhe in das prächtige Zelt.
Es wurde ruhig und still auf dem Schiffe, nur der Steuermann stand am Ruder. Die kleine Seejungfer legte ihre weißen Arme auf die Schiffsbrüstung und sah nach Osten der Morgenröte entgegen. Der erste Sonnenstrahl, wußte sie, würde sie töten. Da sah sie ihre Schwestern aus dem Meere aufsteigen, sie waren bleich wie sie selbst; ihre langen schönen Haare wehten nicht mehr im Winde. Sie waren abgeschnitten.
»Wir haben sie der Hexe gegeben, damit sie dir Hilfe bringen sollte und du nicht in dieser Nacht sterben mußt! Sie hat uns ein Messer gegeben. Hier ist es! Siehst du, wie scharf es ist? Bevor die Sonne aufgeht, mußt du es dem Prinzen ins Herz stoßen, und wenn sein warmes Blut über deine Füße spritzt, wachsen sie zu einem Fischschwanz zusammen und du wirst wieder eine Seejungfer, kannst zu uns ins Wasser herniedersteigen und noch dreihundert Jahre leben, ehe du zu totem, kaltem Meeresschaum wirst. Beeile dich! Er oder du mußt sterben, bevor die Sonne aufgeht. Unsere alte Großmutter trauert so sehr, daß ihr weißes Haar abgefallen ist, wie das unsere von der Schere der Hexe. Töte den Prinzen und komm zurück! Beeile dich! Siehst du den roten Streifen am Himmel. In wenigen Minuten steigt die Sonne empor, und dann mußt du sterben!« und sie stießen einen tiefen Seufzer aus und versanken in den Wogen.
Die kleine Seejungfer zog den purpurnen Teppich vor dem Zelte fort, und sie sah die schöne Braut, ihr Haupt an der Brust des Prinzen gebettet, ruhen. Da beugte sie sich nieder, küßte ihn auf seine schöne Stirn, sah zum Himmel auf, wo die Morgenröte mehr und mehr aufleuchtete, sah auf das scharfe Messer und heftete die Augen wieder auf den Prinzen, der im Traume den Namen seiner Braut flüsterte. Sie nur lebte in seinen Gedanken, und das Messer zitterte in der Hand der Seejungfer, – dann aber schleuderte sie es weit hinaus in die Wogen. Sie glänzten rot, und wo

es hinfiel, sah es aus, als ob Blutstropfen aus dem Wasser aufquollen. Noch einmal sah sie mit halbgebrochenem Auge auf den Prinzen, dann stürzte sie sich vom Schiffe ins Meer hinab und fühlte, wie ihre Glieder sich in Schaum auflösten.
Nun stieg die Sonne aus dem Meere empor. Ihre Strahlen fielen so mild und warm auf den todeskalten Meeresschaum, und die kleine Seejungfer fühlte den Tod nicht. Sie sah die klare Sonne, und über ihr schwebten Hunderte von herrlichen, durchsichtigen Geschöpfen. Durch sie hindurch konnte sie des Schiffes weiße Segel sehen und des Himmels rote Wolken, ihre Stimmen waren wie Musik, aber so geisterhaft, daß kein menschliches Ohr sie vernehmen konnte, ebenso wie kein menschliches Auge sie wahrnehmen konnte. Ohne Flügel schwebten sie durch ihre eigene Leichtigkeit in der Luft dahin. Die kleine Seejungfer sah, daß sie einen Körper hatte, wie diese Wesen, der sich mehr und mehr aus dem Schaume erhob.
»Zu wem komme ich?« fragte sie, und ihre Stimme klang wie die der anderen Wesen, so geisterhaft zart, daß keine irdische Musik es wiederzugeben vermag.
»Zu den Töchtern der Luft!« antworteten die anderen. Seejungfrauen haben keine unsterbliche Seele und können nie eine erringen, es sei denn, daß sie die Liebe eines Menschen gewinnen! Von einer fremden Macht hängt ihr ewiges Dasein ab. Die Töchter der Luft haben auch keine unsterbliche Seele, aber sie können sich durch gute Taten selbst eine schaffen. Wir fliegen zu den warmen Ländern, wo die schwüle Pestluft die Menschen tötet; dort fächeln wir Kühlung. Wir verbreiten den Duft der Blumen durch die Lüfte und senden Erquickung und Heilung. Wenn wir dreihundert Jahre lang danach gestrebt haben, alles Gute zu tun, was wir vermögen, so erhalten wir eine unsterbliche Seele und nehmen teil an der ewigen Glückseligkeit der Menschen. Du arme, kleine Seejungfer hast von ganzem Herzen dasselbe erstrebt, wie wir. Du hast gelitten und geduldet, hast dich nun zur Welt der Luftgeister erhoben und kannst jetzt selbst durch gute Werke dir eine unsterbliche Seele schaffen nach dreihundert Jahren.«
Und die kleine Seejungfer hob ihre durchsichtigen Arme empor zu Gottes Sonne, und zum ersten Male fühlte sie Tränen in ihre Augen steigen. – Auf dem Schiffe erwachte wieder Geräusch und Leben, sie sah den Prinzen mit seiner schönen Braut nach ihr suchen, wehmütig starrten sie in den wogenden Schaum, als ob sie wüßten, daß sie sich in die Wogen gestürzt hatte. Unsichtbar küßte sie die Stirn der Braut, lächelte dem Prinzen zu

und stieg dann mit den anderen Kindern der Luft zu der rosenroten Wolke hinauf, die über ihnen dahinsegelte.
»In dreihundert Jahren schweben wir so in Gottes Reich«
»Auch noch frühzeitiger können wir dorthin gelangen!« flüsterte eine der eine der Lufttöchter ihr zu. »Unsichtbar schweben wir in die Häuser der Menschen, wo Kinder sind, und um jeden Tag, an dem wir ein gutes Kind finden, das seinen Eltern Freude macht und ihre Liebe verdient, verkürzt Gott unsere Prüfungszeit. Das Kind weiß nicht, wann wir in die Stube fliegen, und wenn wir vor Freude über ein Kind lächeln, so wird uns ein Jahr von den dreihundert geschenkt. Aber wenn wir ein unartiges und böses Kind sehen, dann müssen wir Tränen des Kummers vergießen, und jede Träne legt unsere Prüfungszeit einen Tag hinzu.«