Hans Christian Andersen – Suppe von einem Wurstspeiler

Hans Christian Andersen

Suppe von einem Wurstspeiler
I. Suppe von einem Wurstspeiler.
„Das war gestern ein ausgezeichnetes Mittagessen“ sagte eine alte Mäusedame zu einer anderen, die nicht mit dabei gewesen war. „Ich saß auf dem einundzwanzigsten Platz von dem alten Mäusekönig abgerechnet, das ist etwas nichts Geringes. Über die Gänge kann ich Ihnen nur sagen, daß sie ausgezeichnet zusammengesetzt waren! Verschimmeltes Brot, Speckschwarte, Talglichte und Wurst und dann dasselbe noch einmal von vorne an. Es war ebensogut, als hätten wir zweimal Mahlzeit gehalten. Es war eine behagliche Stimmung und ein gemütlicher Wirrwar wie in einem Familienkreise. Nichts ist übrig geblieben außer den Wurstspeilern. Darüber wurde natürlich gesprochen und jemand meinte sogar, man könne aus einem Wurstspeiler Suppe kochen. Gehört hatte ja schon jeder davon, aber niemand hatte solche Suppe je gekostet, geschweige denn, daß er sie zu bereiten verstünde. Es wurde ein sehr hübsches Wohl auf den Erfinder der Suppe ausgebracht, er verdiene, Armenhausvorstand zu werden. War das nicht witzig? Und der alte Mäusekönig erhob sich und gelobte, daß diejenige von den jungen Mäuschen, die die besprochene Suppe am wohlschmeckendsten herzustellen verstünde, seine Königin werden sollte. Jahr und Tag sollten sie Bedenkzeit haben.“
„Das wäre gar nicht so übel!“ sagte die andere Maus, aber wie bereitet man die Suppe zu?“
„Ja, wie bereitet man sie zu?“ Danach fragten alle kleinen Mäuschen, die jungen und die alten. Jede wollte gern Königin werden, aber keine wollte die Unbequemlichkeit auf sich nehmen, in die weite Welt hinauszugehen, um es zu erlernen, aber es würde wohl doch notwendig werden. Doch es ist nicht jedem gegeben, die Familie und die alten traulichen Ecken und Winkel zu verlassen. Da draußen geht man nicht jeden Tag über Käserinden und riecht Speckschwarten, nein, man kann sogar dazu kommen, zu hungern, vielleicht auch dazu, lebendigen Leibes von einer Katze gefressen zu werden.
Diese Gedanken waren es wohl auch, die die meisten davon abschreckten, auf Kundschaft auszuziehen. Endlich fanden sich zur Abreise nur vier Mäusejungfrauen, jung und heiter, aber arm, bereit. Jede wollte an eine der vier Ecken der Welt ziehen nun kam es nur darauf an, welcher das Glück folgte. Jede nahm einen Wurstspeiler mit, um nicht zu vergessen, weshalb sie reiste; er sollte ihr Wanderstab sein.
Anfang Mai zogen sie von dannen, und in den ersten Maitagen, nach einem Jahre, kamen sie zurück, doch nur drei von ihnen, die vierte meldete sich nicht und ließ auch nichts von sich hören. Und nun war der Tag der Entscheidung.
„Daß doch immer ein bitterer Tropfen im Freudenbecher sein muß“ sagte der Mäusekönig, gab aber doch Befehl, alle Mäuse viele Meilen im Umkreise einzuladen: sie sollten sich in der Küche versammeln. Die drei weitgereisten Mäusejungfrauen standen für sich in einer Reihe; für die vierte, die fehlte, war ein Wurstspeiler mit schwarzem Flor hingestellt worden. Niemand wagte seine Meinung zu sagen, ehe die drei gesprochen und der Mäusekönig gesagt haben würde, was weiter geschehen solle.
Nun werden wir hören.
II. Was das erste Mäuschen auf der Reise gesehen und gelernt hatte.
„Als ich in die weite Welt hinauszog,“ sagte das Mäuschen, „glaubte ich wie so viele in meinem Alter, daß ich alle Weisheit der Welt in meinem Kopfe hätte. Ich ging sogleich zur See, und zwar mit einem Schiffe, das nach Norden steuerte. Ich hatte gehört, daß der Koch auf See es verstehen müsse, sich zu helfen. Aber es ist leicht, sich zu helfen, wenn alles mit Speckseiten, Pökelfleisch und stockigem Mehl gefüllt ist; man lebt ausgezeichnet! Aber man lernt nicht, wie man aus einem Wurstspeiler Suppe bereitet. Wir segelten viele Tage und Nächte lang, bald schlingerte das Schiff, bald hatten wir mit eindringendem Wasser zu kämpfen. Als wir an Ort und Stelle ankamen, verließ ich das Schiff; es war hoch oben im Norden.
Es ist ein wunderlich Ding, aus dem heimatlichen Winkel auf ein Schiff zu kommen, das auch eine Art Winkel ist, und sich dann plötzlich über hundert Meilen entfernt im fremden Lande zu finden. Dort gab es wilde Tannen-und Birkenwälder; sie dufteten so stark. Aber ich mag das nicht. Die wilden Kräuter rochen so gewürzig, daß ich niesen und an Wurst denken mußte. Dort waren große Waldseen, in der Nähe sah ihr Wasser so klar aus, aber aus einigem Abstand gesehen war es schwarz wie Tinte. Da schwammen weiße Schwäne, ich hielt sie zuerst für Schaum, so stille lagen sie auf dem Wasser, doch dann sah ich sie fliegen und gehen und erkannte sie. Sie gehören zum Geschlecht der Gänse, das Blut läßt sich nicht verleugnen! Ich hielt mich zu meiner Art und schloß mich den Wald-und Feldmäusen an, die übrigens, besonders was feine Bewirtung angeht, blutig unwissend sind. Und das war es ja einzig und allein, wofür ich ins Ausland gereist war. Allein die Möglichkeit, aus einem Wurstspeiler Suppe zu kochen, schien ihnen ein so außerordentlicher Gedanke, daß es sich wie ein Lauffeuer durch den ganzen Wald verbreitete. Aber die Aufgabe zu lösen, rechneten sie durchaus zur Unmöglichkeit, und ich hätte am allerwenigsten gedacht, daß ich hier und noch in derselben Nacht in deren Zubereitung eingeweiht werden würde. Es war um Mittsommer; deshalb röche auch der Wald so stark, meinten sie, und deswegen seien auch die Kräuter so gewürzig, die Seen so klar und doch so dunkel mit den weißen Schwänen auf ihrem Wasser. Am Waldessaum, zwischen drei, vier Häusern war eine Stange aufgestellt, hoch wie ein Mastbaum, daran hingen Kränze und Bänder. Das war die Maistange. Mädchen und Burschen tanzten rund herum und sangen mit der Geige des Spielmanns um die Wette. Da ging es lustig zu beim Sonnenuntergang und im Mondenschein, aber ich ging nicht mit, was soll ein Mäuschen beim Ball im Walde! Ich saß in dem weichen Moos und hielt meinen Wurstspeiler in der Hand. Der Mond schien vor allem auf eine Stelle, wo ein Baum mit dem feinsten Moos unter sich stand, ein Moos so fein, ja, ich erkühne mich zu sagen, so fein, wie unseres Mäusekönigs Fell, aber es war von grüner Farbe, so daß es für die Augen eine Wohltat war. Da kamen auf einmal die niedlichsten kleinen Personen aufmarschiert, nicht größer, als daß sie gerade bis zu meinen Knien reichten. Sie sahen wie Menschen aus, aber besser proportioniert, sie nannten sich Elfen und trugen die feinsten Kleider aus Blumenblättern mit Fliegen-und Mückenflügelbesatz, es sah gar nicht übel aus. Bald schien es mir, als suchten sie etwas, ich wußte nicht was. Doch dann kamen ein paar von ihnen auf mich zu, der vornehmste zeigte auf meinen Wurstspeiler und sagte: „Das ist gerade so einer, wie wir ihn brauchen! Er ist zugespitzt, das ist ausgezeichnet!“ Und er wurde immer entzückter, während er meinen Wanderstab betrachtete.
„Nur leihen, aber nicht behalten!“ sagte ich.
„Nicht behalten“ sagten alle, ergriffen den Wurstspeiler, den ich losließ, und tanzten damit zu dem feinen Moosfleckchen. Dort richteten sie den Wurstspeiler mitten im Grünen auf. Sie wollten auch eine Maistange haben, und die, die sie nun hatten, war ja auch wie dafür geschaffen. Nun wurde sie geschmückt; ja, da bekam sie ein Aussehen!
Kleine Spinnen spannen Goldfäden darum und hängten wehende Schleier und Fahnen daran, so feingewebt, so schneeweiß im Mondenschein gebleicht, daß mir ordentlich die Augen schmerzten. Sie nahmen Farbe von den Schmetterlingsflügeln und streuten sie auf das weiße Linnen, da erschienen Blumen und Diamanten darauf, ich erkannte meinen Wurstspeiler nicht wieder. Solch eine Maistange fand gewiß nicht ihresgleichen in der Welt. Und nun kam erst die richtige große Elfengesellschaft, ganz ohne Kleider, das war das Feinste, und ich wurde eingeladen, den Staat mit anzusehen, aber aus einem gewissen Abstand, denn ich war ihnen zu groß.
Nun begann ein Musizieren. Es war, als ob tausend gläserne Glöckchen erklängen, so voll und lieblich tönte es; ich glaubte, es wären Schwäne, die dort sängen, ja, mir war fast, als hörte ich den Kuckuck und die Drossel heraus. Zuletzt war es gar, als erklänge der ganze Wald mit. Kinderstimmen, Glockenklang und Vogelsang verschmolzen zu einer einzigen lieblichen Melodie, und all die Herrlichkeit erklang aus der Maistange heraus wie aus einem Glockenspiel, und doch war es nur mein Wurstspeiler. Nie hätte ich geglaubt, daß so viel da herauskommen könnte, aber es kommt wohl immer darauf an, in welche Hände man gerät. Ich wurde wirklich ganz bewegt, ich weinte, wie nur ein Mäuschen weinen kann vor lauter Freude.
Die Nacht war allzu kurz! Aber sie ist nun einmal dort zu jener Zeit nicht länger. Beim Tagesgrauen wehte ein Lüftchen, der Wasserspiegel auf dem Waldsee kräuselte sich, all die feinen, schwebenden Schleier und Fahnen flogen durch die Luft dahin; die schaukelnden Lauben aus Spinneweb, die Hängebrücken und Balustraden oder wie sie nun heißen mögen, die dort von Blatt zu Blatt gespannt waren, verflogen wie nichts. Sechs Elfen kamen und brachten mir meinen Wurstspeiler, während sie fragten, ob ich irgend einen Wunsch hätte, den sie mir erfüllen könnten. Da bat ich sie, mir zu sagen, wie man Suppe aus einem Wurstspeiler bereiten könne.
„Wie wir das machen,“ sagte der Vornehmste und lachte „ja, das hast Du ja eben gesehen! Du kanntest wohl Deinen Wurstspeiler kaum wieder?“
„Also so meinen Sie es!“ sagte ich und erzählte geradeheraus, weshalb ich auf Reisen wäre, und was man sich zuhause davon verspräche. „Welchen Gewinn,“ fragte ich, „hat der Mäusekönig und unser ganzes mächtiges Reich davon, daß ich all diese Herrlichkeit gesehen habe! Ich kann sie nicht aus dem Wurstspeiler herausschütteln und sagen: Seht, hier ist der Speiler, nun kommt die Suppe! Das wäre doch immerhin eine Art Nachgericht, wenn man satt wäre.“
Da tauchte der Elf seinen kleinen Finger in die blaue Blüte eines Veilchens und sagte zu mir: „Gib acht, ich bestreiche Deinen Wanderstab, und wenn Du heim zum Schlosse des Mäusekönigs kommst, so berühre mit dem Stabe Deines Königs warme Brust. Dann werden Veilchen aus dem Stabe hervorblühen selbst in der kältesten Winterszeit, sieh, dann bringst Du doch etwas mit heim von uns, und nun bekommst Du noch etwas dazu.“ Aber bevor das Mäuschen sagte, was dieses Etwas wäre, richtete es den Stab gegen des Königs Brust, und wirklich, es sprang der herrlichste Blumenstrauß aus dem Stabe hervor. Er duftete so stark, daß der Mäusekönig den Mäusen, die am dichtesten am Schornstein standen, befahl, schnellsten ihre Schwänze über das Feuer zu halten, damit es ein bißchen angebrannt rieche, denn der Veilchenduft war nicht auszuhalten; er war nicht von der Art, wie man ihn hier schätzte.
„Aber was war das für ein Etwas dazu, von dem Du eben sprachst?“ fragte der Mäusekönig.
„Ja,“ sagte das Mäuschen, „das ist das, was man den Knalleffekt nennt“ und es drehte den Wurstspeiler um; da waren es keine Blumen mehr, nur den nackten Speiler hielt es in der Hand und erhob ihn wie einen Taktstock.
„Veilchen sind für die Augen, die Nase und das Herz,“ sagte der Elf zu mir, „doch es fehlt noch etwas für Ohren und Zunge.“ Dabei schlug es Takt und eine Musik setzte ein, nicht wie sie im Walde beim Fest der Elfen erklang, sondern wie sie in der Küche laut wird. Na, das war ein Tumult! Urplötzlich kam es, sauste wie der Wind durch alle Schornsteinrohre, Kessel und Töpfe kochten über, der Feuerhaken donnerte an den Messingkessel, und dann, ebenso plötzlich, war es wieder stille. Man hörte des Teekessels gedämpften Gesang, ganz wunderlich, man wußte nicht, wollte er beginnen oder aufhören. Und der kleine Topf kochte und der große Topf kochte, der eine kümmerte sich nicht um den anderen, es war, als habe der Topf seine Gedanken nicht beisammen. Und das kleine Mäuschen schwang seinen Taktstock wilder und wilder -die Töpfe schäumten, brodelten, kochten über, der Wind sauste, der Schornstein pfiff-hu ha, es wurde so grauenerregend, daß das kleine Mäuschen selbst den Stock fallen ließ.
„Das war eine schwierige Suppe“ sagte der alte Mäusekönig, „wird sie nun angerichtet?“
„Das war alles!“ sagte das Mäuschen und verneigte sich.
„Alles! ja, dann wollen wir hören, was die nächste zu sagen hat“ sagte der Mäusekönig.
III. Was das zweite Mäuschen zu erzählen wußte.
„Ich bin in der Schloßbibliothek geboren,“ sagte die zweite Maus. „Ich und noch mehrere andere Mitglieder meiner Familie haben nie das Glück kennen gelernt, in ein Speisezimmer, geschweige denn in eine Speisekammer zu kommen. Als ich abreiste und dabei diesen Raum hier betrat, sah ich zum ersten Male eine Küche. Wir litten wirklich Hunger auf der Bibliothek, doch dafür eigneten wir uns mancherlei Kenntnisse an. Dort oben erreichte uns das Gerücht von dem königlichen Preise, der für die Bereitung einer Suppe aus einem Wurstspeiler ausgesetzt war. Nach einigem Nachdenken zog meine alte Großmutter ein Manuskript hervor, das sie zwar nicht lesen konnte, aber sie hatte es einst lesen hören. Darin stand: Ist man ein Dichter, so kann man selbst aus einem Wurstspeiler Suppe kochen. Sie fragte mich, ob ich Dichterin wäre. Ich wußte mich frei davon, und sie sagte mir, daß ich eben sehen müsse, eine zu werden. Ich erkundigte mich, was dazu nötig sei, denn es schien mir ebenso schwierig zu sein, wie das Suppe kochen. Doch meine Großmutter war wohlunterrichtet; sie sagte, daß drei Dinge dazu notwendig wären: Verstand, Fantasie und Gefühl! Könnte ich mir diese zu eigen machen, so wäre ich eine Dichterin und würde auch die Sache mit dem Wurstspeiler ins rechte Lot bringen. Und so zog ich nach Westen in die weite Welt hinaus, um Dichterin zu werden.
Verstand, das wußte ich, ist das Wichtigste bei jedem Dinge, die beiden anderen Teile genießen nicht die gleiche Achtung. So ging ich also zunächst auf den Verstand aus. Ja, wo mochte er wohnen? Geh zur Ameise und werde weise! hat einst ein großer König der Juden gesagt. Und ich ruhte und rastete nicht, bis ich einen großen Ameisenhaufen gefunden hatte. Dort legte ich mich auf die Lauer, um weise zu werden.
Die Ameisen sind ein sehr respektables Volk, sie sind nur auf Verstand eingestellt. Alles ist bei ihnen ein Rechenstück, bei dem die Probe aufs Exempel gemacht ist; es geht auf. Arbeiten und Eier legen, sagen sie, ist in der Zeit leben und für die Zukunft sorgen, und danach handeln sie. Sie scheiden sich in reine und unreine Ameisen, der Rang besteht in einer Nummer. Die Ameisenkönigin ist Nummer eins, und ihre Meinung ist die einzig richtige. Sie hatte alle Weisheit gepachtet und das zu wissen war für mich von Wichtigkeit. Sie sagte vieles, was so klug war, daß es mir dumm vorkam. Sie sagte auch, ihr Haufen sei das Höchste in dieser Welt. Aber dicht bei dem Haufen stand ein Baum, der höher war, viel höher, das ließ sich nicht ableugnen, deshalb sprach man nicht davon. Eines Abends hatte sich eine Ameise dorthin verirrt, war den Stamm hinaufgekrochen, nicht einmal bis zur Krone, aber doch höher, als je eine Ameise gekommen war. Und als sie umgekehrt und wieder nachhause gekommen war, erzählte sie im Haufen, daß es etwas weit Höheres draußen gäbe. Doch das hatten alle Ameisen als Beleidigung des ganzen Gemeinwesens aufgefaßt, und so wurde die Ameise zum Maulkorb und lebenslänglicher Einsamkeit verurteilt. Aber kurze Zeit darauf kam eine andere Ameise zu dem Baum und machte die gleiche Reise und Entdeckung. Sie sprach auch davon, jedoch, wie man sagte, mit Besonnenheit und in unklaren Ausdrücken, und da sie außerdem eine geachtete Ameise, eine von den reinen war, so glaubte man ihr, und als sie starb, wurde ihr eine Eierschale als Monument für ihre Verdienste um die Wissenschaften gesetzt. „Ich sah,“ sagte das Mäuschen, „daß die Ameisen häufig mit ihren Eiern auf dem Rücken umherliefen. Eine von ihnen verlor das ihre und machte große Anstrengungen, es wieder aufzuladen, doch wollte es ihr nicht glücken. Zwei andere kamen Ihr mit allen Kräften zu Hülfe, so daß sie fast ihre eigenen Eier verloren hätten, da ließen sie es augenblicklich sein, denn jeder ist sich selbst der Nächste, und die Ameisenkönigin äußerte darüber, daß hierbei sowohl Herz als Verstand bewiesen worden wären. „Diese beiden Eigenschaften stellen uns Ameisen an die Spitze derVernunftswesen. Der Verstand soll und muß das Überwiegende sein, und ich habe den größten!“ sagte sie und erhob sich auf den Hinterbeinen. Sie machte sich dadurch so deutlich erkennbar -ich konnte gar nicht fehl gehen -und so verschluckte ich sie. Geh zur Ameise und werde weise! Nun hatte ich die Königin!
Ich ging nun näher an den besprochenen Baum heran; es war eine Eiche mit hohem Stamm und mächtiger Krone, die sehr alt war. Ich wußte, daß hier ein lebendiges Geschöpf, eine Frau, wohne, die Dryade genannt wurde. Sie wird mit dem Baume zugleich geboren und stirbt mit ihm. ihm. Ich hatte davon auf der Bibliothek gehört. Nun sah ich solch einen Baum, sah solch ein Lebewesen. Sie stieß einen furchtbaren Schrei aus, als sie mich so nahe erblickte; sie hatte, wie alle Frauenzimmer, die größte Angst vor einer Maus, doch sie hatte dazu mehr Ursache als die anderen, denn ich hätte ja den Baum durchnagen können, an dem ihr Leben hing. Ich redete freundlich und herzlich mit ihr, sprach ihr Mut zu, und sie nahm mich auf ihre feine Hand. Als sie erfuhr, weshalb ich in die weite Welt hinausgegangen war, versprach sie mir, daß ich vielleicht schon am gleichen Abend einen der beiden Schätze, nach denen ich suchte, erhalten solle. Sie erzählte mir, das Phantasus ein recht guter Freund von ihr und schön wie der Liebesgott sei. Er pflege manche Stunde der Ruhe hier unter des Baumes dichtbelaubten Zweigen, die dann noch voller über ihnen beiden rauschten. Er nenne, sie seine Dryade, und den Baum seinen Baum. Die knorrige, mächtige schöne Eiche sei gerade nach seinem Sinne, die Wurzeln klammerten sich tief und fest in die Erde, Stamm und Krone erhöben sich hoch in die frische Luft und kannten den fegenden Schnee, die scharfen Winde und den warmen Sonnenschein, wie sie gekannt werden sollen. Und die Vögel sängen dort oben und erzählten von den fremden Ländern. Auf dem einzigen verdorrten Zweige habe der Storch sein Nest gebaut, das schmücke so hübsch, und man erfahre doch einiges vom Lande der Pyramiden. „AII dies hört Phantasus so gern,“ sagte sie, „es ist ihm sogar nicht genug, ich selbst muß ihm noch vom Leben im Walde erzählen von der Zeit an, wo ich noch klein war und der Baum so zart, daß eine Nessel ihn verbergen konnte, bis auf den heutigen Tag, wo er so groß und mächtig dasteht. Setz Dich nun hier unter den Waldmeister und gib acht: wenn Phantasus kommt, werde ich wohl Gelegenheit finden, ihn am Flügel zu zupfen und ihm dabei eine kleine Feder auszureißen. Die nimm dann, eine bessere bekam kein Dichter;-dann hast Du genug.“
Und Phantasus kam, die Feder wurde ihm ausgerissen und ich nahm sie,“ sagte das Mäuschen, „ich mußte sie aber erst in Wasser legen, damit sie weich würde, sie war immer noch sehr schwer verdaulich, aber ich knabberte, sie doch auf. Es ist gar nicht leicht, sich durchzubeißen, bis man ein Dichter ist, es ist gar viel, was man in sich aufnehmen muß. Nun hatte ich schon zwei von den Dingen, Verstand und Fantasie, und durch diese beiden wußte ich, daß das dritte auf der Bibliothek zu finden sei, denn ein großer Mann hat gesagt und geschrieben, daß es Romane gäbe, die nur dazu da seien, die Menschen von den überflüssigen Tränen zu befreien, sie seien so eine Art Schwamm, um die Gefühle aufzusaugen. Ich entsann mich ein paar dieser Bücher, sie waren mir immer ganz appetitlich vorgekommen, sie waren so zerlesen, so fettig, sie mußten ja ganze Gefühlsströme in sich aufgenommen haben.
Ich kehrte wieder nachhause in die Bibliothek zurück, aß sogleich ziemlich einen ganzen Roman auf, das heißt also das Weiche, das Eigentliche, die Rinde dagegen, den Einband, ließ ich liegen. Als ich ihn nun verdaut hatte und noch einen zweiten dazu, verspürte ich schon, wie es sich in mir regte; ich aß ein wenig von dem dritten, da war ich Dichterin. Das sagte ich mir selbst und den anderen auch. Ich hatte Kopfschmerzen. Leibschmerzen, ich weiß nicht mehr alle die Schmerzen, die ich hatte. Ich dachte nun darüber nach, welche Geschichte in Verbindung mit einem Wurstspeiler gesetzt werden könnte, und bald wimmelte es von Speilern in meinen Gedanken; die Ameisenkönigin hat einen ungewöhnlichen Verstand gehabt. Ich entsann mich des Mannes, der ein weißes Hölzchen in den Mund nahm, wodurch beide unsichtbar wurden, und so gingen über diese Geschichte meine Gedanken über alle Hölzchen und Speiler, von denen je eine Geschichte gehandelt hatte, sie gingen völlig in Speilern auf. Daraus müßte sich ein Gedicht machen lassen, wenn man Dichterin ist, und das bin ich, ich habe es mir sauer werden lassen. So werde ich nun jeden Tag mit einem Speiler, einer Geschichte, aufwarten können, ja, das ist eine Suppe.“
„Nun wollen wir also die dritte hören“ sagte der Mäusekönig.
„Piep, piep“ sagte es in der Küchentür, eine kleine Maus, es war die vierte von ihnen, die totgeglaubte, eilte herein und rannte dabei den Wurstspeiler mit dem Trauerflor um. Sie war Tag und Nacht gelaufen, war auf der Eisenbahn mit einem Güterzug gefahren, wozu sie Gelegenheit gefunden hatte, und wäre doch fest zu spät gekommen. Sie drängte sich vor, sah ganz zerzaust aus und hatte wohl ihren Wurstspeiler, aber nicht ihre Sprache verloren; sie erzählte sogleich darauf los, als ob man nur auf sie gewartet hatte, das alles kam so unerwartet, daß niemand Zeit fand, sich über sie oder ihre Rede aufzuhalten, bevor sie damit fertig war. Nun wollen wir hören:
IV. Was die vierte Maus, die die Rede an sich riß, ehe die dritte Maus gesprochen hatte, zu erzählen wußte.
„Ich ging gleich in die Großstadt,“ sagte sie, „auf den Namen besinne ich mich nicht mehr, ich kann so schlecht Namen behalten. Von der Eisenbahn kam ich mit konfiszierten Gütern nach dem Rathause, und dort lief ich zu dem Kerkermeister. Er erzählte von seinen Gefangenen, besonders von einem, der unbesonnene Worte hatte fallen lassen, die dann weitererzählt worden waren. Er habe gesagt, daß das Ganze nur eine Suppe aus Wurstspeilern wäre, und diese Suppe könne ihn leicht den Kopf kosten. Das weckte mein Interesse für den Gefangenen,“ sagte die kleine Maus, „und so nahm ich die Gelegenheit wahr und schlüpfte zu ihm hinein. Hinter verschlossene Türen führt immer ein Mauseloch. Er sah bleich aus, hatte einen großen Bart und große, leuchtende Augen. Die Lampe rußte und die Wände waren daran gewöhnt, sie wurden nicht schwärzer. Der Gefangene ritzte Bilder und Verse hinein, Weiß auf Schwarz, aber ich las sie nicht. Ich glaube, er langweilte sich, und so war ich ein willkommener Gast. Er lockte mich mit Brotkrumen, mit Pfeifen und sanften Worten; er war so froh über mich! Da faßte ich Vertrauen, und wir wurden Freunde. Er teilte Brot und Wasser mit mir und gab mir Käse und Wurst. Ich lebte flott; aber es war hauptsächlich der gute Umgang, der mich fesselte. Er ließ mich auf seiner Hand und seinem Arm umherlaufen, bis ganz hinauf inden Ärmel. Er ließ mich in seinen Bart kriechen und nannte mich seine kleine Freundin, ich gewann ihn ordentlich lieb, so etwas ist eben gegenseitig. Ich vergaß mein Geschäft draußen in der Welt und vergaß meinen Wurstspeiler in einer Fußbodenritze, wo er heute noch liegt. Ich wollte bleiben, wo ich war. Wenn ich ging, so hatte ja der arme Gefangene gar niemanden, und das ist zu wenig in dieser Welt! Ich blieb also, aber er blieb nicht. Das letzte Mal sprach er so traurig mit mir; er gab mir doppelt soviel Brot und Käserinde und warf mir noch eine Kußhand zu; er ging und kam niemals wieder. Ich kenne seine Geschichte nicht. „Suppe aus einem Wurstspeiler“ sagte der Kerkermeister, und zu ihm ging ich, aber ihm hätte ich nicht trauen sollen. Wohl nahm er mich auf seine Hand, aber er setzte mich in einen Käfig, in eine Tretmühle. Das ist etwas Grauenhaftes. Man läuft und läuft und kommt nicht weiter und wird obendrein ausgelacht! Des Kerkermeisters Enkelin war ein liebes kleines Ding, mit goldblondem Lockenhaar, fröhlichen Augen und einem lachenden Mund. „Armes kleines Mäuschen“ sagte sie, guckte in meinen häßlichen Käfig hinein, schob den eisernen Riegel zurück-und ich sprang hinab auf das Fensterbrett und in die Dachrinne hinaus. Frei, frei! Daran allein dachte ich, und nicht an meinen Reisezweck.
Es war dunkel, und es ging auf die Nacht zu. In einem alten Turm nahm ich Herberge; dort wohnte ein Wächter und eine Eule. Ich traute keinem von ihnen über den Weg, am wenigsten der Eule. Sie gleicht einer Katze und hat den großen Fehler, daß sie Mäuse frißt. Doch man kann sich irren, und das tat ich. Es war eine respektable, überaus gebildete alte Eule, sie wußte mehr als der Wächter und ebensoviel wie ich. Die jungen Eulen machten um jede Kleinigkeit ein großes Geschrei. „Kocht keine Suppe aus einem Wurstspeiler“ sagte sie, das war das Härteste, was sie ihnen sagen konnte, sie hatte soviel Gefühl für ihre eigene Familie. Ich faßte ein solches Vertrauen zu ihr, daß ich von der Spalte aus, wo ich saß, Piep sagte. Dies Zutrauen gefiel ihr, und sie versicherte mir, daß ich jetzt unter ihrem Schutze stände. Kein Tier dürfe mir ein Leides tun, das wolle sie selbst im Winter tun, wenn es mit der Kost knapp würde.
Sie war in allen Dingen gleich beschlagen; sie bewies mir, daß der Wächter ohne Horn nicht tuten könne, er bilde sich schrecklich viel darauf ein und glaube, er sei Eule im Turm! Etwas Großes solle es sein und sei doch nur etwas ganz Geringes, Suppe aus einem Wurstspeiler! Ich bat sie um das Rezept, und darauf erklärte sie mir folgendes: Suppe aus einem Wurstspeiler sei nur eine menschliche Redensart, der verschiedener Sinn untergelegt werden könne. Jeder glaube, seine Auslegung sei die rechte. Doch sei das Ganze eigentlich nichts!
Nichts? fragte ich; ich war tief betroffen. Die Wahrheit ist nicht immer angenehm, aber sie ist das Höchste, das sagte auch die alte Eule, Ich dachte darüber nach und sah ein, wenn ich das Höchste brächte, so brächte ich weit mehr, als die Suppe aus einem Wurstspeiler. Und so eilte ich davon, um noch rechtzeitig nachhause zu kommen und das Höchste und Beste hierher zu bringen: die Wahrheit! Die Mäuse sind ein aufgeklärtes Volk und der König ist es vor ihnen allen. Er ist imstande, mich um der Wahrheit willen zur Königin zu machen!“
„Deine Wahrheit ist Lüge!“ sagte das Mäuschen, das noch keine Erlaubnis zum sprechen bekommen hatte. „Ich kann die Suppe bereiten und werde es tun!“
Wie es gemacht wird.
Seite

Hans Christian Andersen – Tantchen

Hans Christian Andersen

Tantchen

Du hättest Tantchen kennen sollen! Sie war reizend! Ja, das heißt, sie war gar nicht reizend, wie man es versteht, wenn man von ‚reizend sein‘ spricht, aber sie war süß und lieb, unterhaltend auf ihre Weise, richtig um über sie zu sprechen, wenn man über jemanden sprechen und sich lustig machen soll, sie war, um sie direkt in eine Komödie zu setzten -und das einzig und allein, weil sie nur für das Komödienhaus lebte und alles, was sich darinnen rührt. Sie war so ehrenwert, aber der Agent Fabs, den Tantchen immer Flabs nannte, nannte sie theatertoll.
„Das Theater ist meine Schule“, sagte sie, „meine Wissensquelle, von dort her habe ich meine biblische Geschichte aufgefrischt: „Moses“, „Joseph und seine Brüder“, das sind nun Opern! Ich habe vom Theater meine Weltgeschichte, Geographie und Menschenkenntnis! Ich kenne das Pariser Leben aus den französischen Stücken -schlüpfrig, aber höchst interessant! Wie habe ich geweint über „Die Familie Riquebourg“, daß der Mann sich tottrinken soll, damit sie den jungen Liebhaber bekommen kann! -Ja, wie viele Tränen habe ich doch geweint in den fünfzig Jahren, die ich abonniert bin!“
Tantchen kannte jedes Theaterstück, jede Kulisse, jede Person, die auftrat oder aufgetreten war. Sie lebte nur wirklich in den neun Theatermonaten. Der Sommer ohne Sommertheater war eine Zeit, die sie alt machte, während ein Theaterabend, der sich über Mitternacht hinauszog, eine Lebensverlängerung war. Sie sprach nicht wie andere Leute: „Nun haben wir Frühling, der Storch ist gekommen!“ -„Es steht in der Zeitung, von der ersten Erdbeere.“ Sie dagegen verkündete das Kommen des Herbstes. „Haben Sie gesehen, und kommen die Theaterlogen zur Auktion, nun beginnen die Vorstellungen?“
Sie berechnete den Wert und díe gute Lage einer Wohnung danach, wie nahe sie dem Theater lag. Es war ihr ein Schmerz, die kleine Gasse hinter dem Theater zu verlassen und in die große Straße etwas weiter davon zu ziehen und dort in einem Haus zu wohnen, wo sie kein Gegenüber hatte.
„Zu Hause muß mein Fenster meine Theaterloge sein! Man kann doch nicht sitzen und in sich selber aufgehen; Menschen muß man doch sehen! Aber nun wohne ich, als wäre ich hinaus aufs Land gezogen. Will ich Menschen sehen, muß ich hinausgehen in meine Küche und mich auf den Gußstein setzen, nur da habe ich ein Gegenüber. Nein, als ich in meinem Gäßchen wohnte, da konnte ich gerade zum Leinenhändler hineinsehen, und dann hatte ich nur drei Schritte zum Theater, nun habe ich dreitausend Gardistenschritte.“
Tantchen konnte krank sein, aber wie schlecht sie sich auch fühlte, versäumte sie doch das Theater nicht. Ihr Arzt verordnete, daß sie eines Abends Sauerteig unter den Sohlen haben sollte, sie tat, wie er sagte, aber fuhr hin ins Theater und saß dort mit Sauerteig unter den Füßen. Wäre sie dort gestorben, so würde es sie gefreut haben. Thorwaldsen starb im Theater, das nannte sie einen „seligen Tod“.
Sie konnte sich gewiß das Himmelreich nicht anders vorstellen, als daß auch dort ein Theater sein müßte; das war uns ja nicht verheißen, aber es war doch anzunehmen, daß die vielen ausgezeichneten Schauspieler und Schauspielerinnen, die vorausgegangen waren, einen weiteren Wirkungskreis haben mußten.
Tantchen hatte ihren elektrischen Draht vom Theater zu ihrer Wohnung; das Telegramm kam jeden Sonntag zum Kaffee. Ihr elektrischer Draht war „Herr Sivertsen von der Theatermaschinerie“, der die Signale gab für Auf und Ab, Ein und Aus mit Vorhängen und Kulissen.
Von ihm bekam sie voraus eine kurze und lebendige Ankündigung der Stücke, Shakespeares „Sturm“ nannte er „verfluchtes Zeug! Da ist so viel aufzustellen, und dann beginnt es mit Wasser bis zur ersten Kulisse!“ Das hieß, so weit heran gingen die rollenden Wogen. Stand dagegen durch all die fünf Akte ein und dieselbe Zimmerdekoration, dann sagte er, daß es vernünftig und gut geschrieben sei, es war ein Ruhestück, es spielte sich selber, ohne Aufstellung.
In früher Zeit, wie Tantchen die Zeit vor einigen dreißig Jahren nannte, waren sie und der eben erwähnte Herr Sivertsen jünger; er war schon bei der Maschinerie und, wie sie ihn nannte, ihr Wohltäter. Es war nämlich zu der Zeit Sitte, daß bei der Abendvorstellung in dem einzigen und großen Theater der Stadt Zuschauer auch auf den Boden kamen, jeder Maschinist hatte über einen oder zwei Plätze zu verfügen. Es war da oft gestopft voll und sehr feine Gesellschaft; man sagte, daß da sowohl Generalinnen als auch Kommerzienrätinnen gewesen seien; es war so interessant, hinter die Kulissen hinabzusehen und zu wissen, wie die Menschen gingen und standen, wenn der Vorhang unten war.
Tantchen war mehrere Male dagewesen, sowohl zu Tragödien, als auch zu Ballet, denn die Stücke, wo das meiste Personal auftrat, waren die interessantesten vom Boden. Man saß so ziemlich im Dunkeln dort oben, die meisten hatten Abendbrot mit; einmal fielen drei Äpfel und eine Schnitte Butterbrot mit Rollwurst gerade hinab in Ugolinos Gefängnis, wo der Mensch Hungers sterben sollte, und da entstand ein Gelächter im Publikum. Die Rollwurst war einer der wichtigsten Gründe, weshalb die hohe Direktion die Zuschauerplätze auf dem Boden ganz aufheben ließ.
„Aber ich war siebenunddreißigmal da“, sagte Tantchen, „und das vergesse ich Herrn Sivertsen niemals.“
Es war gerade der letzte Abend, daß der Boden dem Publikum geöffnet war, da wurde „Salomons Urteil“ gespielt, Tantchen erinnerte sich so genau; sie hatte durch ihren Wohltäter, Herrn Sievertsen, dem Agenten Fabs ein Eintrittsbillett verschafft, obgleich er es nicht verdiente, da er immer Narrenpossen mit dem Theater trieb und neckte; aber sie hatte ihn nun da hinaufgeschafft. Er wollte das Komödienzeug von der Kehrseite sehen, das waren seine eigenen Worte, und sie sahen ihm ähnlich, sagte Tantchen.
Und er sah „Salomons Urteil“ von oben und schlief ein; Man sollte wahrlich glauben, daß er von einem großen Diner mit vielen Toasten gekommen sei. Er schlief und wurde eingeschlossen, und schlief in der dunklen Nacht auf dem Theaterboden, und als er erwachte, erzählte er, aber Tantchen glaubte ihm nicht, da war „Salomons Urteil“ aus, alle Lampen und Lichter waren aus, alle Menschen aus, oben und unten; aber da begann erst das richtige Theater, das „Nachspiel“, das war das Netteste, sagte der Agent. Da kam Leben in das Zeug! Es war nicht „Salomons Urteil“, das gegeben wurde, nein, es war der Gerichtstag auf dem Theater. Und all das hatte der Agent Fabs die Frechheit, Tantchen einreden zu wollen; das war der Dank, weil sie ihn auf den Boden hinaufgeschafft hatte.
Was erzählte doch der Agent, ja, das war komisch genug zu hören, aber es lag Bosheit und Neckerei zugrunde.
„Es sah dunkel aus dort oben“, sagte der Agent, „aber dann begann das Zauberzeug, große Vorstellung „Gerichtstag auf dem Theater“. Die Kontrolleure standen an den Türen, jeder Zuschauer mußte sein geistiges Zensurbuch vorzeigen, ob er mit freien Händen hineinkommen durfte oder mit gebundenen, mit Maulkorb oder ohne Maulkorb. Herrschaften, die zu spät kamen, wenn die Vorstellung schon begonnen hatte, ebenso junge Menschen, die ja unmöglich immer die Zeit abpassen können, wurden draußen gefesselt, bekamen Filzsolen unter die Füße, um beim Anfang des nächsten Aktes hineinzugehen, dazu auch einen Maulkorb. Und dann begann der Gerichtstag.“
„Reine Bosheit, von der Gott nichts weiß“, sagte Tantchen. Der Maler sollte, wollte er in den Himmel, eine Treppe hinaufgehen, die er selber gemalt hatte, die aber kein Mensch hinaufklettern konnte. Das war ja nur eine Sünde gegen die Perspektive. Alle die Pflanzen und Gebäude, die der Maschinenmeister mit großer Ungelegenheit in Länder gestellt hatte, in die sie nicht hineingehörten, sollte der arme Mensch an den rechten Ort versetzen, und das vor dem ersten Hahnenschrei, wenn er in den Himmel hineinwollte. Herr Fabs sollte nur sehen, daß er selber hineinkommen könne; und was er von dem Personal erzählte, von der Komödie, von Gesang und Tanz, war nun das Schwärzeste von Herrn Fabs, Flabs! Er verdiente nicht, auf den Boden zu kommen, Tantchen wollte seine Worte nicht in den Mund nehmen. Es war niedergeschrieben, das Ganze, was er gesagt hatte, der Flabs! Es sollte in Druck kommen, wenn er tot und unter der Erde wäre, nicht früher; er wollte nicht geschunden werden.
Tantchen war nur einmal in Angst und Not gewesen in ihrem Glückseligkeitstempel, dem Theater. Es war ein Wintertag, einer von den Tagen, an denen es nur zwei Stunden Tag ist und auch da grau. Es war eine Kälte und ein Schnee, aber ins Theater mußte Tantchen; sie gaben „Herman von Unna“, dazu eine kleine Oper und ein großes Ballett, einen Prolog und einen Epilog. Es würde erst in der Nacht aus sein. Tantchen mußte dahin; ihre Mieter hatten ihr ein Paar Pelzstiefel geliehen mit Fell außen und innen; sie reichten ihr hoch an den Beinen hinauf.
Sie kam ins Theater, sie kam in die Loge; die Stiefel waren warm, sie behielt sie an. Auf einmal wurde „Feuer“ gerufen; es kam Rauch von einer Kulisse, es kam Rauch vom Boden; es wurde ein fürchterlicher Schrecken. Die Leute stürmten hinaus; Tantchen war die letzte in der Loge -„zweiter Stock links, da nehmen sich die Dekorationen am besten aus“, sagte sie, „sie werden immer so aufgestellt, daß sie sich von der königlichen Seite am besten ausnehmen“ -Tantchen wollte hinaus, die vor ihr warfen in Angst und Unbedachtheit die Türe zu; da saß Tantchen, hinaus konnte sie nicht kommen, hinein auch nicht, das heißt, hinein in die Nachbarloge, das Geländer war zu hoch. Sie rief, niemand hörte, sie sah hinab in den Stock unter ihr, der war leer, der war niedrig, der war ganz nahe; Tantchen fühlte sich in der Angst so jung und so leicht; sie wollte hinabspringen, brachte auch das eine Bein über die Brüstung, das andere auf die Bank; da saß sie rittlings, schön drapiert mit ihrem blumigen Rock, mit einem langen Bein, das über den Rand hinausschwebte, einem Bein mit einem ungeheuren Pelzstiefel; das war ein Bild zu sehen! Und da es gesehen wurde, wurde Tantchen auch gehört und davor gerettet, drinnen zu verbrennen, denn das Theater brannte nicht. Das war der erinnernswerteste Abend ihres Lebens, sagte sie und war froh darüber, daß sie sich nicht selber hatte sehen können, denn sonst wäre sie vor Scham gestorben.
Ihr Wohltäter bei der Maschinerei, Herr Sivertsen, kam beständig jeden Sonntag zu ihr, aber von Sonntag zu Sonntag war eine lange Zeit; in der späteren Zeit hatte sie deshalb mitten in der Woche ein kleines Kind „zumÜberrest“, das heißt, um das zu genießen, was an dem Tag von Mittag übrigblieb. Es war ein kleines Kind vom Ballett, das das Essen auch brauchte. Die Kleine trat als Elfe und auch als Page auf; die schwierigste Partie war als Hinterfuß des Löwen in der „Zauberflöte“, aber sie wuchs auf zum Vorderbein vom Löwen, dafür bekam sie freilich nur drei Mark, die Hinterbeine gaben einen Reichstaler, aber da mußte sie krumm gehen und die frische Luft entbehren. Das war sehr interessant zu wissen, meinte Tantchen.
Sie hätte verdient, zu leben, solange das Theater stand, aber das hielt sie doch nicht aus; sie starb auch nicht dort, sondern anständig und ehrbar in ihrem eignen Bett; ihre letzten Worte waren übrigens ganz charakteristisch, sie fragt: „Was spielen sie morgen?“
Nach ihrem Tode waren wohl ungefähr fünfhundert Reichstaler da; wir schließen aus der Rente, die zwanzig Reichstaler machte. Die hatte Tantchen als Legat für eine würdige alte Jungfer ohne Familie bestimmt; sie sollte verwendet werden, um jährlich einen Platz im zweiten Stock links für den Sonnabend zu abonnieren, denn an dem Tag gab man die besten Stücke. Es war nur eine einzige Verpflichtung an die Nutznießung des Legats geknüpft: jeden Sonnabend sollte die, die im Theater war, an Tantchen denken, die in ihrem Grabe lag. Das war Tantchens Religion.

Hans Christian Andersen – Tante Zahnweh

Hans Christian Andersen

Tante Zahnweh

Woher haben wir die Geschichte?
Willst du es wissen?
Wir haben sie aus der Tonne, aus der mit dem alten Papier.
Manch ein gutes und seltenes Buch ist zum Fettwarenhändler und zum Gewürzkrämer gewandert, nicht als Lektüre, sondern als Gebrauchsartikel. Die müssen Papier gebrauchen zu Tüten für Stärke und Kaffeebohnen, Papier für gesalzene Heringe, Butter und Käse. Geschriebene Sachen sind auch brauchbar.
Oft wandert in die Bütte, was nicht in die Bütte wandern sollte.
Ich kenne einen Krämerlehrling, den Sohn eines Fettwarenhändlers; er ist vom Keller in das Erdgeschoß aufgestiegen, ein Mensch, der viel gelesen hat, Tütenlektüre, die gedruckte und die geschriebene. Er hat eine interessante Sammlung, und darin sind mehrere wichtige Aktenstücke aus dem Papierkörben dieses und jenes überarbeiteten, zerstreuten Beamten; manch ein vertraulicher Brief von einer Freundin an die Freundin: Skandalmitteilungen, die nicht weitergehen dürften, von niemand erwähnt werden sollten. Er ist eine lebende Rettungsanstalt für einen großen Teil der Literatur, er hat den Laden der Eltern und des Prinzipals und hat da manch ein Buch oder Blätter von einem Buch gerettet, die wohl verdienen könnten, zweimal gelesen zu werden.
Er hat mir seine Sammlung von gedruckten und geschriebenen Sachen aus der Bütte gezeigt, am reichsten war die Sammlung aus der Bütte des Fettwarenhändlers. Da lagen ein paar Blätter aus einem größeren Schreibheft; die außerordentlich schöne und deutliche Handschrift zog gleich meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Das hat der Student geschrieben“, sagte er, „der Student, der hier gerade gegenüber wohnte und vor einem Monat starb. Er hat an schrecklichen Zahnschmerzen gelitten, das sieht man aus seinen Aufzeichnungen. Das ist ganz amüsant zu lesen. Es ist nur noch wenig von dem Geschriebenen da, es war ein ganzes Buch und noch ein bißchen mehr; meine Eltern gaben der Wirtin des Studenten ein halbes Pfund grüne Seife dafür. Dies ist alles, was ich gerettet habe.“
Ich lieh es, ich las es und jetzt erzähle ich es. Die Überschrift lautete: Tante Zahnweh
I
Tante gab mir süße Näschereien, als ich klein war. Meine Zähne hielten es aus, wurden nicht schlecht dadurch; jetzt bin ich älter geworden, bin Student; sie verhätschelt mich noch immer mit Süßigkeiten, sagt, daß ich ein Dichter bin.
Ich habe etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Oft, wenn ich in den Straßen der Stadt gehe, ist es mir, als ginge ich in einer großen Bibliothek; die Häuser sind Bücherregale, jedes Stockwerk ist ein Brett mit Büchern. Dort steht eine gute, alte Komödie, dort stehen wissenschaftliche Werke aus allen Fächern, hier Schnitzliteratur und gute Lektüre. Ich kann über alle die Bücher phantasieren und philosophieren.
Es ist etwas vom Poeten in mir, aber nicht genug. Manche Menschen haben gewiß ebenso viel davon in sich und tragen doch kein Schild oder Halsband mit dem Namen Poet.
Ihnen wie mir ist eine Gabe Gottes gegeben, ein Segen, groß genug an sich, aber zu klein, um ausgestückt und an andre gegeben zu werden. Es kommt ganz plötzlich, wie ein Sonnenstrahl, füllt die Seele und den Gedanken, es kommt wie ein Blumenduft, wie eine Melodie, die man kennt, ohne doch zu wissen, woher sie kommt.
Neulich abends saß ich in meinem Zimmer, hatte Verlangen, etwas zu lesen, hatte kein Buch, kein Blatt, da fiel ein grünes Blatt vom Lindenbaum. Der Wind trug es zum Fenster, zu mir herein.
Ich betrachtete die vielen verzweigten Adern; ein kleiner Wurm bewegte sich darüber hin, als wollte er ein gründliches Studium des Blattes unternehmen.
Da mußte ich an Menschenweisheit denken, wir krabbeln auch auf dem Blatt umher, kennen nur das, aber halten sofort einen Vortrag über den ganzen großen Baum, die Wurzeln, den Stamm und die Krone; über den großen Baum: Gott, die Welt und die Unsterblichkeit, und kennen von dem ganzen Baum nur ein kleines Blatt.
Wie ich so dasaß, bekam ich Besuch von Tante Mille.
Ich zeigte ihr das Blatt mit dem Wurm, sagte ihr meine Gedanken dabei, und ihre Augen leuchteten. „Du bist ein Dichter“, sagte sie, „vielleicht der größte, den wir haben! Wenn ich das erleben sollte, dann gehe ich gern in mein Grab. Du hast mich seit Brauer Rasmussens Begräbnis immer durch deine mächtige Phantasie in Erstaunen versetzt.“
Das sagte Tante Mille, und dann küßte sie mich.
Wer war Tante Mille, und wer war Brauer Rasmussen?
II
Muters Tante wurde von uns Kindern Tante genannt, wir hatten keinen anderen Namen für sie.
Sie gab uns Eingemachtes und Zucker, obwohl das sehr schlecht für unsere Zähne war, aber sie war den süßen Kindern gegenüber schwach, das sagte sie selber. Es sei ja grausam, ihnen das bißchen Süße vorzuenthalten, das sie doch so sehr liebten.
Und daher hatten wir Tante so lieb.
Sie war ein altes Fräulein, solange ich mich erinnern kann, immer alt! Sie stand im Alter still.
In früheren Jahren litt sie sehr an Zahnschmerzen und sprach immer davon, und dann war Ihr Freund, Brauer Rasmussen, witzig und nannte sie Tante Zahnweh.
Während der letzten Jahre braute er nicht mehr, er lebte von seinen Zinsen, kam oft zu Tante und war älter als sie. Er hatte gar keine Zähne, nur ein paar schwarze Stummel.
Als kleiner Junge habe er zuviel Zucker gegessen, sagte er zu uns Kindern, und dann würde man so aussehen.
Tante hatte als Kind gewiß niemals Zucker gegessen, sie hatte die schönsten weißen Zähne.
Sie gehe auch sparsam damit um, schlafe des Nachts nicht mit ihren Zähnen, sagte Brauer Rasmussen.
Das war eine Bosheit, das wußten wir Kinder, er dachte sich aber nichts dabei.
Eines Vormittags, beim Frühstück, erzählte sie einen schrecklichen Traum; sie hatte in der Nacht geträumt, daß einer ihrer Zähne ausgefallen war.
„Das bedeutet“, sagte sie, „daß ich einen wahren Freund oder eine Freundin verlieren werde!“ „War es ein falscher Zahn“, sagte der Brauer lächelnd, „dann kann es nur bedeuten, daß Sie einen falschen Freund verlieren!“
„Sie sind ein unhöflicher alter Herr!“ sagte Tante so erzürnt, wie ich sie niemals, weder früher noch später, gesehen habe.
Später sagte sie, es sei nur eine Neckerei von ihrem alten Freund, er sei der edelste Mensch auf der Welt, und wenn er einmal stürbe, würde er ein kleiner Engel Gottes im Himmel werden.
Ich dachte viel über die Verwandlung nach und ob ich wohl imstande sein würde, ihn in der neuen Gestalt zu erkennen.
Als die Tante jung war und er auch jung war, hielt er um ihre Hand an. Sie besann sich zu lange, blieb sitzen, blieb zu lange sitzen, wurde ein altes Fräulein, blieb aber immer eine treue Freundin.
Und dann starb Brauer Rasmussen.
Er wurde im teuersten Leichenwagen zu Grabe geführt und hatte ein großes Gefolge, Leute mit Orden und in Uniformen.
Tante stand in Trauerkleidern am Fenster mit uns Kindern allen, den kleinen Bruder ausgenommen, den der Storch vor einer Woche gebracht hatte.
Nun waren der Leichenwagen und das Gefolge vorüber, die Straße war leer, die Tante wollte gehen, aber das wollte ich nicht, ich wartete auf den Engel, Brauer Rasmussen; er war ja jetzt ein kleines, beschwingtes Kind Gattes geworden und mußte nun erscheinen.
„Tante!“ sagte ich. „Glaubst du nicht, daß er jetzt kommt? Oder daß, wenn der Storch uns wieder einen kleinen Bruder bringt, er uns dann den Engel Rasmussen bringt?“
Tante war ganz überwältigt von meiner Phantasie und sagte: „Das Kind wird ein großer Dichter!“ Und das wiederholte sie während meiner ganzen Schulzeit, ja nach meiner Konfirmation und auch jetzt noch, wo ich Student bin.
Sie war und ist meine treueste Freundin, sowohl in Dichterschmerzen als auch in Zahnschmerzen. Ich habe ja Anfälle von beiden.
„Schreibe nur alle deine Gedanken nieder“, sagte sie, „und lege sie in die Tischschublade; das tat Jean Paul: er wurde ein großer Dichter; ich mag ihn freilich nicht, er ist nicht spannend genug! Du mußt spannend sein! Und du wirst spannen!“
In der Nacht nach dieser Rede lag ich in großer Sehnsucht und Schmerzen, in Drang und Lust, der große Dichter zu werden, den Tante in mir sah und spürte; ich lag in Dichterschmerzen, aber es gibt noch einen schlimmeren Schmerz: das Zahnweh; das wühlte und bohrte in mir; ich ward ein sich windender Wurm mit Kräuterkissen und spanischer Fliege.
„Das kenne ich!“ sagte die Tante.
Ein Lächeln des Kummers umspielte ihren Mund; ihre Zähne schimmerten so weiß.
Aber ich muß einen neuen Abschnitt in meiner Geschickte und der Geschichte meiner Tante anfangen.
III
Ich war in eine neue Wohnung gezogen und hatte da während eines Monats gewohnt. Hierüber sprach ich mit Tante.
„Ich wohne bei einer stillen Familie; sie denkt nicht an mich, selbst nicht, wenn ich dreimal klingele. Übrigens ist es ein wahres Spektakelhaus mit Geräuschen und Lärm von Wetter und Wind und Menschen. Ich wohne gerade über dem Torweg, jeder Wagen, der herein-oder hinausfährt, macht die Bilder an den Wänden erzittern. Die Haustür knallt und rüttelt, so daß das Haus schwankt wie bei einem Erdbeben. Wenn ich im Bett liege, fühle ich die Stöße in allen Gliedern; aber das soll nervenstärkend sein. Wenn es weht, und hierzulande weht es ja immer, dann baumeln die langen Fensterhaken draußen hin und her und schlagen gegen die Mauer. Die Torglocke des Nachbarn auf dem Hof klingelt bei jedem Windstoß.
Unsere Hausbewohner kommen tropfenweise nach Hause, spät am Abend, tief in der Nacht; der Mieter gerade über mir, der am Tage Stunden in Posaunenblasen gibt, kommt am spätesten nach Hause, und er legt sich nicht schlafen, ehe er einen kleinen Mitternachtssparziergang mit schweren Schritten und eisenbeschlagenen Stiefeln gemacht hat.
Doppelte Fenster sind nicht da, aber da ist eine gerissene Fensterscheibe, die hat die Wirtin mit Papier verkleistert, der Wind bläst trotzdem durch den Riß hinein und bringt einen Laut hervor wie von einer summenden Bremse. Das ist Schlafmusik. Schlafe ich dann endlich ein, dann werde ich bald vom Hahnengeschrei geweckt. Hahn und Huhn auf dem Hühnerhof bei dem Kellermann melden, daß es bald Morgen ist. Die kleinen Nordlandspferdchen, die keinen Stall haben, sondern im Sandloch unter der Treppe angebunden sind, schlagen gegen die Tür und das Paneel, um sich Bewegung zu machen.
Der Tag dämmert; der Pförtner, der mit seiner Familie in der Mansarde wohnt, lärmt die Treppe hinab; die hölzernen Pantoffeln klappern, die Haustür knallt, das Haus erbebt, und wenn das überstanden ist, fängt der Mieter über mir an, sich im Turnen zu üben: er hebt in jeder Hand eine schwere Eisenkugel empor, die er nicht halten kann; sie fällt wieder und wieder herab, während gleichzeitig die Jugend des Hauses, die zur Schule gehen soll, schreiend die Treppe hinabstürzt. Ich gehe an das Fenster und mache es auf, um frische Luft zu haben, und das ist auch erquickend, wenn ich sie nur bekommen kann und die Mansell im Hinterhaus nicht gerade Handschuhe in Fleckwasser wäscht; das ist nämlich ihrLebensunterhalt. Übrigens ist es ein gutes Haus, und ich wohne bei einer stillen Familie.“
Das war das Referat, das ich Tante über meine Wohnung gab; ich erzählte lebhafter, der mündliche Vortrag hat frischere Farben als der geschriebene.
„Du bist ein Dichter!“ rief Tante. „Schreibe nur deine Rede auf, dann kannst du es dreist mit Dickens aufnehmen! Ja, mich interessierst du viel mehr! Du malst, wenn du redest! Du beschreibst dein Haus, so daß man es sieht! Es schaudert einen! -Dichte nur weiter! Lege etwas Lebendes hinein, Menschen, nette Menschen, am liebsten unglückliche!“
Das Haus schrieb ich wirklich nieder, wie es mit allen seinen Geräuschen und Mängeln dasteht, aber nur mit mir selber, ohne Handlung. Die kam später!
IV
Es war zur Winterzeit, spät am Abend, nach dem Theater, ein furchtbares Wetter, Schneesturm, so daß man kaum vorwärtskommen konnte.
Die Tante war im Theater, und ich war gekommen, um sie nach Hause zu begleiten, aber man hatte Mühe, selber zu gehen, geschweige denn andere zu führen. Die Mietkutschen waren alle besetzt; die Tante wohnte weit draußen in der Vorstadt, meine Wohnung dahingegen lag dicht beim Theater, wäre das nicht der Fall gewesen, so hätten wir bis auf weiteres in einem Schilderhaus stehen müssen.
Wir stolperten vorwärts im tiefen Schnee, umsaust von den wirbelnden Schneeflocken. Ich hielt sie, stieß sie vorwärts. Nur zweimal fielen wir, aber wir fielen weich.
Wir erreichten meinen Torweg, wo wir unsere Kleider schüttelten; auch an der Treppe schüttelten wir uns und hatten doch Schnee genug mitgebracht, um den Fußboden auf dem Vorplatz damit anzufüllen.
Wir zogen die Überkleider und Stiefel und Strümpfe aus, befreiten uns von allem, was wir nur abwerfen konnten. Die Wirtin gab der Tante trockene Strümpfe und eine Morgenmütze, das sei notwendig, sagte die Wirtin und fügte hinzu, was auch richtig war, die Tante könne unmöglich in dieser Nacht nach Hause kommen; sie bat sie, mit ihrer Wohnstube fürliebzunehmen; da wollte sie ein Bett auf dem Sofa vor der immer zu meinem Zimmer abgeschlossenen Tür für sie aufmachen.
Und das geschah.
Das Feuer brannte in meinem Ofen, die Teemaschine kam auf den Tisch, es ward gemütlich in dem kleinen Zimmer, wenn auch nicht so gemütlich wie bei Tante, wo im Winter dicke Gardinen vor den Fenstern hängen und doppelte Teppiche, mir drei dicken Schichten Papier darunter, auf dem Fußboden liegen; man sitzt da wie in einer fest zugekorkten Flasche mit warmer Luft, doch, wie gesagt, es ward auch gemütlich bei mir; der Wind sauste draußen.
Die Tante erzählte und erzählte; die Jugendzeit kam wieder, der Brauer kam wieder, alte Erinnerungen.
Sie erinnerte sich noch, wie ich den ersten Zahn bekam, und an die Freude der Familie darüber.
Der erste Zahn! Der Zahn der Unschuld, schimmernd wie ein kleiner Milchtropfen, der Milchzahn.
Es kam einer, es kamen mehrere, eine ganze Reihe, nebeneinander, oben und unten, die schönsten Kinderzähne, und doch nur die Vortraber, nicht die richtigen, die für das ganze Leben dauern sollen.
Auch die kamen und auch die Weisheitszähne, die Flügelmänner in der Reihe, unter Schmerzen und großen Beschwerden geboren.
Die vergehen wieder, jeder einzelne, die vergehen, ehe die Dienstzeit um ist, selbst der letzte Zahn vergeht, und das ist kein Festtag, das ist ein Wehmutstag.
Dann ist man alt, selbst wenn das Gemüt noch jung ist.
Solche Gedanken und Reden sind nicht immer vergnüglich, und doch sprachen wir von alldem, wir kehrten zurück zu den Jahren der Kindheit, redeten und redeten, die Uhr wurde zwölf, ehe Tante sich in die Stube nebenan begab.
„Gute Nacht, mein süßes Kind!“ rief sie. „Nun schlafe ich, als läge ich in meiner eigenen Kommode!“
Und sie war zur Ruhe gegangen, aber Ruhe war weder im Hause noch draußen. Der Sturm rüttelte an den Fenstern, schlug mit den langen, baumelnden eisernen Haken, klingelte mit der Türglocke im Hinterhof. Der Mieter oben war nach Hause gekommen. Er machte noch einen kleinen nächtlichen Spaziergang auf und nieder, warf dann die Stiefeln hinaus und legte sich endlich ins Bett zum Schlafen nieder; aber er schnarcht, so daß man es mit guten Ohren durch die Decke hindurch hören kann.
Ich fand nicht Ruhe, ich konnte nicht schlafen; das Wetter ward auch nicht ruhig, es war unmanierlich lebhaft. Der Wind sauste und sang auf seine Weise, meine Zähne fingen auch an, lebhaft zu werden, sie sausten und sangen auf ihre Weise. Sie schlugen an zu großen Zahnschmerzen.
Vom Fenster her zog es. Der Mond schien auf den Fußboden hinein. Das Licht kam und ging im Sturm. Es war eine Unruhe in Schatten und Licht, aber schließlich sah der Schatten am Fußboden aus wie etwas; ich starrte nach diesem beweglichen Etwas hin und spürte einen eiskalten Wind.
Auf dem Fußboden saß eine Gestalt, dünn und lang, wie wenn ein Kind mit einem Griffel etwas auf die Tafel zeichnet, was einem Menschen gleichen soll, ein einziger dünner Strich ist der Körper, ein Strich und noch einer sind die Arme; die Beine sind auch nur ein Strich, der Kopf ist ein Vieleck.
Bald wurde die Gestalt deutlicher, sie bekam eine Art Gewand, sehr dünn, sehr fein, aber es deutete an, daß sie dem weiblichen Geschlecht angehörte. Ich vernahm ein Summen. War sie es, oder war es der Wind, der wie eine Bremse im Fensterriß surrte.
Nein, sie war es selber, Frau Zahnweh! Ihre Entsetzlichkeit Satania infernalis, Gott bewahre uns vor ihrem Besuch.
„Hier ist gut sein!“ summte sie. „Hier ist ein gutes Quartier, Sumpfgrund, Moorgrund. Hier haben die Mücken mit Gift in den Stacheln gesummt, jetzt habe ich den Stachel. Der muß an Menschenzähnen gewetzt werden. Sie schimmern so weiß bei dem, der hier im Bett liegt. Sie haben Süß und Sauer, Heiß und Kalt, Nußkern und Pflaumenstein getrotzt! Aber ich will sie schon rütteln und schütteln, die Wurzeln mit Zugwind düngen, sie fußkalt machen!“
Es war eine schreckliche Rede, ein fürchterlicher Gast.
„Du bist also Dichter!“ sagte sie. „Ja, ich will dich in allen Versmaßen der Pein hinaufdichten! Ich will dir Eisen und Stahl in den Körper geben, die Fäden in alle deine Nervenfasern hineinlegen!“
Es war, als führe sie einen glühenden Pfriem in den Kinnbacken hinein; ich wand und krümmte mich.
„Ein famoses Zahnwerk!“ sagte sie! Eine Orgel, auf der man spielen kann. Maulharfen-Konzert, großartig, mit Pauken und Trompeten, Flöte piccolo, Posaune im Weisheitszahn. Großer Poet, große Musik!“ Ja, sie spielte auf, und entsetzlich sah sie aus, selbst wenn man nichts weiter von ihr sah als die Hand, diese schattengraue, eiskalte Hand mit den langen, pfriemdünnen Fingern; jeder von ihnen war ein Foltergerät: der Daumen und der Zeigefinger waren Kneifzange und Schrauben, der Langemann endete in einem spitzen Pfriem, der Ringfinger war ein Handbohrer und der kleine Finger eine Spritze mit Mückengift.
„Ich will dich Versemachen lehren!“ sagte sie. „Ein großer Dichter soll große Zahnschmerzen haben, kleine Dichter kleine Zahnschmerzen!“
„Ach, laß mich klein sein!“ bat ich. „Laß mich gar nicht sein! Und ich bin nicht Poet, ich habe nur Dichteranfälle sowie Anfälle von Zahnweh. Fahre hin! Fahre hin!“
„Erkennst du denn, daß ich mächtiger bin als die Poesie, die Philosophie, die Mathematik und die ganze Musik!“ sagte sie. „Mächtiger als alle diese abgemalten und in Marmor gehauenen Empfindungen. Ich bin die älteste von ihnen allen. Ich bin dicht am Garten des Paradieses geboren, draußen, wo der Wind sauste und die nassen Pilze wuchsen. Ich veranlaßte Eva, sich in dem kalten Wetter zu bekleiden, und Adam auch. Du kannst mir glauben, da war Kraft in dem ersten Zahnweh!“
„Ich glaube alles!“ sagte ich. „Fahre hin! Fahre hin!“
„Ja, willst du deine Dichterwirksamkeit aufgeben, nimmermehr Verse auf Papier, Tafel oder irgendeine Art von Schreibmaterial niederschreiben, dann will ich dich verlassen, aber ich komme wieder, sobald du dichtest!“
„Ich schwöre!“ sagte ich. „Laß mich dich nur niemals mehr sehen oder spüren!“
„Sehen sollst du mich, aber in einer volleren, lieberen Gestalt wie jetzt! Du sollst mich als Tante Mille sehen; und ich will sagen; dichte, mein süßer Junge! Du bist ein großer Dichter, der größte vielleicht, den wir haben, aber sobald du es glaubst und anfängst zu dichten, setze ich deine Verse in Musik, spiele sie auf deiner Mundharfe, du süßes Kind! -Denke an mich, wenn du Tante Mille siehst!“
Und dann verschwand sie.
Zum Abschied bekam ich noch einen glühenden Pfriemstich in den Kinnbacken hinten, aber das beruhigte sich bald, es war, als flösse ich auf dem weichen Wasser, als sähe ich die weißen Wasserrosen mit den grünen breiten Blättern sich neigen, sich unter mich senken, verwelken, sich auflösen, und ich sank mit ihnen wurde in Frieden und Ruhe aufgelöst. ­
„Sterben, hinschmelzen wie der Schnee!“ sang es und klang es im Wasser. „In der Wolke verdunsten, hinfahren wie die Wolke!-“
Zu mir hinab durch das Wasser schimmerten große, strahlende Namen, Inschriften auf wehenden Siegesfahnen, das Patent der Unsterblichkeit ­auf dem Flügel der Eintagsfliege geschrieben.
Der Schlaf war tief, der Schlaf ohne Traum. Ich hörte weder den sausenden Wind, die knallende Hautür, die klingelnde Torglocke des Nachbarn noch die schweren Turnübungen des Mieters über mir.
Glückseligkeit!
Dann kam ein Windstoß, so daß die verschlossene Tür zu Tante aufsprang. Auch Tante sprang auf, kam in ihre Schuhe, kam in die Kleider, kam zu mir herein.
„Ich habe wie ein Engel Gottes geschlafen“, sagte sie, sie habe nicht gewagt, mich zu wecken.
Ich erwachte auch, schloß die Augen auf, hatte ganz vergessen, daß Tante hier im Hause war, aber bald fiel es mir ein, meine Zahnweh-Erscheinung fiel mir ein. Traum und Wirklichkeit vermischten sich miteinander.
„Du hast gestern abend, nachdem wir einander Gute Nacht gesagt hatten, wohl nicht mehr geschrieben?“ frage sie. Ach hättest du es doch getan! Du bist mein Dichter, und das bleibst du!“
Es war mir, als lächle sie hinterlistig. Ich wußte nicht, ob es die gute Tante Mille war, die mich liebte, oder die Entsetzliche, der ich des Nachts das Versprechen gegeben hatte.
„Hast du gedichtet, süßes Kind?“
„Nein, nein!“ rief ich. „Du bist doch Tante Mille?“
„Wer sollte ich sonst wohl sein!“ sagte sie. Und es war wirklich Tante Mille. Sie küßte mich, kam in eine Droschke und fuhr nach Hause. Ich schrieb nieder, was hier geschrieben steht. Es ist nicht in Versen und soll nie gedruckt werden. —­
Ja, hier hörte das Manuskript auf. Mein junger Freund, der Krämergehilfe, konnte das Fehlende nicht auftreiben, es war in die Welt hinausgegangen, als Papier um gesalzene Heringe, grüne Seife und Butter; es hatte seine Bestimmung erfüllt.
Der Brauer ist tot, die Tante ist tot, der Student ist tot, er, dessen Gedankenfunken in die Bütte wanderten: das ist das Ende der Geschichte -der Geschichte von Tante Zahnweh.
Seite

Hans Christian Andersen – Tanze, tanze, Püppchen mein

Hans Christian Andersen

Tanze, tanze, Püppchen mein

Ja, das ist nun ein Lief für ganz kleine Kinder“, versicherte Tante Male,
„dem kann ich mit dem besten Willen nicht folgen.“ Aber die kleine Amalie konnte es; sie war nur drei Jahre als, spielte mit
Puppen und erzog diese so, daß sie ebenso klug wurden wie Tante Male. Es kam ein Student ins Haus, der Gab den Brüdern Stunden, er sprach so
viel mit der kleinen Amalie und deren Puppen, sprach ganz anders wie alle
anderen; das fand die Kleine so unterhaltend, und doch sagte Tante Male,
er verstehe durchaus nicht mit Kindern umzugehen, die kleinen Köpfe
könnten ein solches Geschwätz durchaus nicht vertragen. Die kleine
Amalie konnte es; ja, sie lernte sogar ein ganzes Lied von dem Studenten:
Tanze, tanze, Püppchen mein!“ und das sang sie ihren drei Puppen vor,
von denen zwei neu waren, ein Fräulein und ein junger Herr, die dritte
aber war alt und hieß Liese. Sie bekam auch das Lied zu hören, und sie
kam auch mit darin vor. „Tanze, tanze, Püppchen mein!
nein, wie ist das Fräulein fein!
Ebenso der Kavalier,
Hut und Handschuh‘ hat er hier,
blauen Frack und Hos‘ wie Schnee,
Leichdorn auf dem großen Zeh‘,
er ist fein, und sie ist fein,
tanzet, tanzet, Püppchen mein!“ „Allte Mutter Liese hier,
kannst schon vor’ges Jahr zu mir.
Neu dein Haar, wie Flachs so fein,
dein Gesicht wusch Butter rein;
bist ja wieder ganz wie neu,
alte Freundin, komm herbei.
Tanzt nun alle drei recht schön,
es ist Geld wert, das zu seh’n!“ „Tanzet, tanzet, Püppchen mein!
Recht im Takte muß es sein!
Füße auswärts, Brust heraus,
das nimmt sich am besten aus.

Hans Christian Andersen – Tölpel-Hans

Hans Christian Andersen

Tölpel-Hans
Tief im Innern des Landes lag ein alter Herrenhof; dort war ein Gutsherr, der zwei Söhne hatte, die sich so witzig und gewitzigt dünkten, daß die Hälfte genügt hätte. Sie wollten sich nun um die Königstochter bewerben, denn die hatte öffentlich anzeigen lassen, sie wolle den zum Ehegemahl wählen, der seine Worte am besten zu stellen wisse.
Die beiden bereiteten sich nun volle acht Tage auf die Bewerbung vor, die längste, aber allerdings auch genügende Zeit, die ihnen vergönnt war, denn sie hatten Vorkenntnisse, und wie nützlich die sind, weiß jedermann. Der eine wußte das ganze lateinische Wörterbuch und nebenbei auch drei Jahrgänge vom Tageblatte des Städtchens auswendig, und zwar so, daß er alles von vorne und hinten, je nach Belieben, hersagen konnte. Der andere hatte sich in die Innungsgesetze hineingearbeitet und wußte auswendig, was jeder Innungsvorstand wissen muß, weshalb er auch meinte, er könne bei Staatsangelegenheiten mitreden und seinen Senf dazugeben; ferner verstand er noch eins: Er konnte Hosenträger mit Rosen und anderen Blümchen und Schnörkeleien besticken, denn er war auch fein und fingerfertig.
„Ich bekomme die Königstochter!“ riefen sie alle beide, und so schenkte der alte Papa einem jeden von ihnen ein prächtiges Pferd. Derjenige, welcher das Wörterbuch und das Tageblatt auswendig wußte, bekam einen Rappen, der Innungskluge erhielt ein milchweißes Pferd, und dann schmierten sie sich die Mundwinkel mit Fischtran ein, damit sie recht geschmeidig würden. -Das ganze Gesinde stand unten im Hofraume und war Zeuge, wie sie die Pferde bestiegen, und wie von ungefähr kam auch der dritte Bruder hinzu, denn der alte Gutsherr hatte drei Söhne, aber niemand zählte diesen dritten mit zu den anderen Brüdern, weil er nicht so gelehrt wie diese war, und man nannte ihn auch gemeinhin Tölpel-Hans.
„Ei!-sagte Tölpel-Hans, „wo wollt ihr hin? Ihr habt euch ja in den Sonntagsstaat geworfen!“
„Zum Hofe des Königs, uns die Königstochter zu erschwatzen! Weißt du denn nicht, was dem ganzen Lande bekanntgemacht ist?“ Und nun erzählten sie ihm den Zusammenhang. „Ei, der tausend! Da bin ich auch dabei!“ rief Tölpel-Hans, und die Brüder
lachten ihn aus und ritten davon. „Väterchen!“ schrie Tölpel-Hans, „ich muß auch ein Pferd haben. Was ich
für eine Lust zum Heiraten kriege! Nimmt sie mich, so nimmt sie mich,
und nimmt sie mich nicht, so nehm ich sie -kriegen tu ich sie!“ „Laß das Gewäsch!“ sagte der Alte, „dir gebe ich kein Pferd. Du kannst ja
nicht reden, du weißt ja deine Worte nicht zu stellen; nein, deine Brüder,
ah, das sind ganz andere Kerle.“ „Nun“, sagte Tölpel-Hans, „wenn ich kein Pferd haben kann, so nehme ich
den Ziegenbock, der gehört mir sowieso, und tragen kann er mich auch!“
Und gesagt, getan. Er setzte sich rittlings auf den Ziegenbock, preßte die
Hacken in dessen Weichen ein und sprengte davon, die große Hauptstraße
wie ein Sturmwind dahin. Hei, hopp! Das war eine Fahrt! „Hier komm“
ich!“ schrie Tölpel-Hans und sang, daß es weit und breit widerhallte. Aber die Brüder ritten ihm langsam voraus; sie sprachen kein Wort, sie
mußten sich alle die guten Einfälle überlegen, die sie vorbringen wollten,
denn das sollte alles recht fein ausspekuliert sein! „Hei!“ schrie Tölpel-Hans, „hier bin ich! Seht mal, was ich auf der
Landstraße fand!“ -Und er zeigte ihnen eine tote Krähe, die er
aufgehoben hatte. „Tölpel!“ sprachen die Brüder, „was willst du mit der machen?“
„Mit der Krähe? -Die will ich der Königstochter schenken!“
„Ja, das tu nur!“ lachten sie. „Hei -hopp! Hier bin ich! Seht, was ich jetzt habe, das findet man nicht
alle Tage auf der Landstraße!“ Und die Brüder kehrten um, damit sie sähen, was er wohl noch haben
könnte. „Tölpel!“ sagten sie, „das ist ja ein alter Holzschuh, dem noch
dazu das Oberteil fehlt; wirst du auch den der Königstochter schenken?“ „Wohl werde ich das!“ erwiderte Tölpel-Hans; und die Brüder lachten und
ritten davon; sie gewannen einen großen Vorsprung. „Hei hoppsassa! Hier bin ich!“ rief Tölpel-Hans; „nein, es wird immer
besser! Heißa! Nein! Es ist ganz famos!“ „Was hast du denn jetzt?“ fragten die Brüder. „Oh“, sagte Tölpel-Hans, „das ist gar nicht zu sagen! Wie wird sie erfreut
sein, die Königstochter.“ „Pfui!“ sagten die Brüder, „das ist ja reiner Schlamm, unmittelbar aus dem
Graben.“

Hans Christian Andersen – Turmwächter Ole

Hans Christian Andersen

Turmwächter Ole
In der Welt geht es immer hinauf und hinunter und hinunter und hinauf! – »Jetzt kann ich nicht höher hinauf!« sagte der Turmwächter Ole, »Hinauf und hinunter müssen die meisten Leute erleben; im Grunde genommen werden wir alle zuletzt Turmwächter, schauen das Leben und die Dinge von oben an«. So sprach Ole, mein Freund, der alte Wächter, ein kurioser, gesprächiger Kauz, der alles zu sagen schien und der doch gar vieles in seinem ersten Sinn tief im Herzen verbarg. Ja, er war guter Leute Kind, es gab welche, die da sagten, er sei der Sohn eines Geheimrates oder hätte es sein können; studiert hatte er, war Hilfslehrer, Hilfsküster gewesen, wozu nützte ihm das Alles! Damals wohnte er bei dem Küster, sollte dort alles im Hause haben, freien Unterhalt, wie man sagt, und war noch, wie es heißt, ein junger, feiner Herr. Er wollte seine Stiefel mit Glanzwichse geputzt haben, aber der Küster wollte nur Schmiere hergeben und darüber wurden sie uneins; der eine sprach von Geiz, der andere von Eitelkeit, die Wichse ward der schwarze Grund ihrer Feindschaft, und endlich trennten sie sich.
Was er vom Küster forderte, das forderte er von der Welt überhaupt: Glanzwichse, und er bekam stets nur Schmiere; deshalb zog er sich endlich von allen Menschen zurück und wurde ein Eremit; aber Eremitentum, Amt und Brot zugleich inmitten einer großen Stadt gibt es nur oben im Kirchturm. Dort stieg er denn auch hinauf und schmauchte seine Pfeife während seines einsamen Turmganges; er blickte hinab und hinauf, dachte nach dabei und erzählte in seiner Art und Weise von dem, was er sah und was er nicht sah, was er in Büchern und in sich selber las. Ich lieh ihm oft Bücher, gute Bücher, und an dem Umgang mit ihnen erkennt man den Mann. Er liebe weder die englischen Gouvernanten-Romane noch die französischen, die ein Gebräu aus Zugwind und Rosinenstengel seien, sagte er, nein, er wolle Lebensbeschreibungen, Bücher von den Wundern der Erde haben. Ich besuchte ihn mindestens einmal im Jahre, gewöhnlich gleich nach Neujahr, er sprach dann immer von diesem und jenem, das ihm beim Jahreswechsel in den Sinn gekommen war.
Ich will von drei Besuchen erzählen und werde seine eigenen Worte wiedergeben, wenn ich es vermag. Erster Besuch
Unter den Büchern, die ich letzthin Ole geliehen hatte, war eins, welches ihn namentlich erfreute und erfüllte, nämlich ein Buch von den Gesteinen.
»Ja, das sind wahrhaftige Jubelgreise, diese Gesteine!« sagte er, »und an ihnen geht man gedankenlos vorüber! Ich selber habe es getan auf dem Feld und am Strand, wo sie in Mengen liegen. Und über das Straßenpflaster, die Pflastersteine, diese Brocken der allerältestenÜberreste des Altertums, schreitet man auch so ohne weiteres dahin! Auch dies habe ich getan. Jetzt aber zolle ich jedem Pflasterstein meine Hochachtung. Schönsten Dank für das Buch, es hat mich mit Gedanken erfüllt und alte Ansichten und Gewohnheiten zum Weichen gebracht, hat mich erpicht gemacht, mehr von der Art zu lesen. Der Roman der Erde ist doch der ehrwürdigste aller Romane! Schade nur, daß man die ersten Teile nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache abgefaßt sind, die wir nicht gelernt haben; man muß in den Erdschichten, in den Kieselsteinen, in allen Erdperioden lesen, und die handelnden Personen, Herr Adam und Frau Eva, treten erst in dem sechsten Teil auf; das ist dann vielen Lesern zu spät, sie möchten sie gleich im ersten Teil haben – mir ist das auch so recht. Ja, das ist ein Roman, ein höchst abenteuerlicher Roman, und wir alle kommen in ihm vor. Wir kribbeln und krabbeln umher und bleiben doch an demselben Ort, aber die Kugel dreht sich, ohne daß das Weltmeer über uns ausgegossen wird; die Scholle, auf der wir uns bewegen, hält schon, wie fallen nicht durch; und dann ist es eine Geschichte, die sich durch Millionen von Jahren hindurchzieht und die ewig weitergeht. Besten Dank für das Buch von den Gesteinen, das sind Kerle! Die könnten was erzählen, wenn sie es überhaupt könnten! Es ist so recht ein Vergnügen, einmal dann und wann ein Nichts zu werden, und vollends, wenn man so hoch sitzt wie ich, und dann zu denken, daß wir alle, selbst mit Glanzwichse, weiter nichts sind als Minutenameisen auf dem Erdenhaufen, wenn wir auch Ameisen mit Ordensbändern sind, Ameisen, die gehen und sitzen können! Es wird einem ganz grünschnabelig zumute neben diesen millionenjahralten, ehrwürdigen Gesteinen. Ich las am Neujahrsabend in dem Buch und hatte mich dermaßen darin vertieft, daß ich mein gewöhnliches Neujahrsvergrünen vergaß, nämlich ‚Die wilde Jagd nach Amack‘, die kennen Sie sicher nicht!
Der Ritt der Hexen auf dem Besenstiel ist bekannt genug, der geht in der ersten Mainacht zum Brocken, aber wir haben auch eine wilde Jagd, die ist einheimisch und neuzeitig, die geht nach Amack in der Neujahrsnacht.
Alle schlechten Poeten, Poetinnen, Musikanten, Zeitungsschreiber und künstlerischen Notlabilitäten, die, welche nichts taugen, reiten in der Neujahrsnacht durch die Luft nach Amack hinaus; sie sitzen rittlings auf ihren Pferden oder Federkielen, Stahlfedern tragen sie nicht, die sind zu steif. Ich sehe das, wie gesagt, in jeder Neujahrsnacht, die Mehrzahl von den Reitern könnte ich beim Namen nennen, aber ich möchte doch nicht ihre Feindschaft auf mich laden, sie lieben es nicht, daß die Leute von ihrer Amackfahrt auf Federkielen etwas erfahren. Ich habe eine Art Nichte, die Fischweib ist und, wie sie sagt, drei geachteten Zeitungsblättern die Schmäh-und Schimpfwörter liefert; sie ist selber dort auf Amack als geladener Gast gewesen, sie wurde hinausgetragen, sie selber hält keinen Federkiel und kann nicht reiten. Die hat es erzählt. Die Hälfte von dem, was sie sagt, ist Lüge, aber die andere Hälfte unterrichtet uns zur Genüge. Als sie draußen war, begannen sie die Festlichkeiten mit Gesang, jeder der Gaste hatte sein Lied geschrieben, und jeder sang auch sein eigen Lied, denn das Lied war das beste, alles war eins, alles dieselbe Melodie. Darauf marschierten in kleinen Kameradschaften diejenigen auf, die nur mit dem Maulwerk tätig sind, als da sind die Glockenspiele, die wechselweise singen; darauf kamen die kleinen Trommelschläger, die in den Familienkreisen austrommeln. Bekanntschaft wurde mit denjenigen gemacht, die da schreiben, ohne daß sie ihren Namen dazu hergeben, das heißt hier so viel wie diejenigen, die Schmiere anstatt der Glanzwichse gebrauchen; da war der Büttel und sein Bursche, und der Bursche war der Schlimmste, denn sonst beachtet man ihn nicht; da war auch der gute Straßenkehrer mit seinem Karren, der den Kehrichtkübel umstülpt und ihn »gut«, »Sehr gut«, ausgezeichnet« nennt. Und in all dem Vergnügen, das schon die Zusammenkunft gewähren mochte, schloß aus der großen Aasgrube auf Amack ein Stengel, ein Baum, eine ungeheure Blüte, ein großer Erdpilz, ein ganzes Dach hervor, das war die Schlaraffenschlange der geehrten Versammlung, an der alles hing, was sie während des alten Jahres der Welt geschenkt hatte; aus dem Baum sprühten Funken wie Feuerflammen, das waren all die von andern entliehenen Gedanken und Ideen, die sie benutzt hatten und die nun sich lösten und dahinfuhren, ein ganzes Feuerwerk. Man spielte »der Prügel brennt«, und die kleinen Poeten spielten »das Herz brennt«; die Witzigen witzelten, und die Witze rollten donnernd dahin, als schlüge man leere Töpfe an den Türen entzwei. Es war höchst vergnüglich, sagte meine Nichte; eigentlich sagte sie noch vieles, was aber sehr maliziös, aber auch sehr amüsant war – ich sage es nicht wieder, man soll ein guter Mensch und kein Räsoneur sein. Sie werden indes wohl einsehen, daß wenn man wie ich einmal Bescheid über das Fest draußen auf Amack weiß, es natürlich ist, daß man jede Neujahrsnacht aufpaßt, damit man die wilde Jagd dahinfahren sieht; vermisse ich in einem Jahr einzelne, die früher dabei waren, so sind wiederum neue hinzugekommen, aber dieses Jahr versäumte ich es, mir die Gästen anzusehen, ich rollte davon auf den Gesteinen, rollte dahin durch Millionen von Jahren und sah die Steine sich losreißen hoch oben im Norden, sah sie auf den Eisschollen umhertreiben, lange bevor die Arche Noah gezimmert ward, sah sie auf dem Meeresgrund hinabsinken und wieder auftauchen mit einer Sandbank, die aus den Gewässern emporragte und sagte: »Dies soll Seeland sein!« Ich sah sie die Heimat von Vögeln werden, die wir nicht kennen, bis endlich die Axt ihre Runenzeichen in ein paar von den Steinen hieb, die alsdann in die Zeitrechnung hineingerieten, aber ich war dabei aus aller Zeitrechnung herausgeraten und ganz und gar zu null und nichts geworden. Da fielen drei, vier herrliche Sternschnuppen, die klärten wieder auf, gaben den Gedanken einen anderen Schwung: Sie wissen doch, was eine Sternschnuppe ist? Die Gelehrten wissen das sonst nicht! Ich habe nun so meine eigenen Gedanken vom Sternschuß, wie der gemeine Mann die Sternschnuppen in vielen Gegenden nennt, und ich gehe von folgendem aus: wie oft wird nicht im geheimen Dank und Segen jedwedem gespendet, der etwas Schönes und Gutes ausgerichtet hat, öfter ist der Dank lautlos, aber er geht nicht verloren! Ich denke mir, er wird vom Sonnenschein aufgefangen, und der Sonnenstrahl bringt den stillempfundenen, verborgenen Dank über das Haupt des Wohltäters; ist es ein ganzes Volk, welches durch die Zeiten seinen Dank sendet, ja, dann erscheint der Dank als ein Blumenstrauß, fällt als eine Sternschnuppe auf das Grab des Wohltäters herab. Mir ist es in der Tat ein großes Vergnügen, wenn ich eine Sternschnuppe, namentlich in der Neujahrsnacht, erblicke und dann herausfinden, wem wohl der Dankesstrauß gelten mag. Letzthin fiel eine leuchtende Sternschnuppe im Südwest: ein Danksagen an viele, viele! Wem mochte die Sternschnuppe wohl gelten? Die fiel gewiß, dachte ich, auf den Abhang an dem Flensburger Meerbusen, wo der Danebrog über die Gräber Schleppergrells, Lässoes und deren Kameraden weht. Eine fiel auch mitten ins Land hinein, fiel auf Sorö herab, ein Strauß auf Holbergs Ruhestätte, eine Danksagung des Jahres von gar vielen, Dank für die herrlichen Komödien!
Es ist ein großer, ein freudiger Gedanke, zu wissen, daß eine Sternschnuppe auf unser Grab herabfällt; auf das meinige fällt nun freilich keine, kein Sonnenstrahl bringt mir eine Danksagung, denn hier ist nichts des Dankes wert! Ich bringe es nicht zu Glanzwichse«, sagte Ole, »mein Los auf Erden ist nun einmal Schmiere.« Zweiter Besuch
Es war am Neujahrstag, ich stieg auf den Turm. Ole sprach von denTrinksprüchen, die beim Übergang vom alten ins neue Jahr, von der einen Traufe in die Andere, wie er sagte, ausgebracht werden. Und so gab er mir seine Geschichte von den Gläsern zum besten, und die hatte einen tiefen Sinn.
»Wenn in der Neujahrsnacht die Uhr zwölf schlägt, erheben sich die Leute an der Tafel, das volle Glas in der Hand, und leeren es und bringen dem neuen Jahr ein Hoch. Man beginnt das Jahr mit dem Glas in der Hand, das ist ein guter Anfang für Säufer! Man beginnt das Jahr damit, daß man sich zu Bett legt, das ist ein guter Anfang für Faule! Der Schlaf wird im Verlaufe des Jahres schon eine große Rolle spielen, das Glas desgleichen. Wissen Sie wohl, was in den Gläsern wohnt?« fragte Ole. »Ja, es wohnen im Glase Gesundheit, Freude und der maßloseste Sinnenrausch, es wohnen Verdruß und das herbste Unglück im Glase. Zählen wir einmal die Gläser, ich spreche natürlich von der unterschiedlichen Bedeutung der einzelnen für die verschiedenen Menschen.
Siehst du, das erste Glas, das ist das Glas der Gesundheit, in dem wächst das Kraut der Gesundheit; stelle es auf den Balken an der Decke, und am Ende des Jahres kannst du dann in der Laubhütte der Gesundheit sitzen.
Nimmst du das zweite Glas – ja, aus dem schwingt sich ein kleiner Vogel empor, der zwitschert unschuldig fröhlich, so daß der Mensch seinem Gezwitscher lauscht und vielleicht mit einstimmt: schön ist das Leben! Keine Kopfhängerei! Frischen Mut, freudig vorwärts!
Aus dem dritten Glas erhebt sich ein kleines geflügeltes Kerlchen ein Engelskind darf es freilich nicht genannt werden, denn das Blut eines Kobolds steckt in seinen Adern, und es hat auch das Gemüt eines Kobolds, nicht um dich zu ärgern und dir Verdruß zu bereiten, sondern nur zum Schabernack. Es setzt sich hinter dein Ohr und flüstert dir lustige Einfälle zu, es legt sich in deine Herzgrube und erwärmt dich, daß du recht ausgelassen, der »gute Kopf« wirst, wie das Urteilsvermögen der anderen Köpfe es nennt.
In dem vierten Glas ist weder Kraut, Vogel noch Kerlchen, in dem Glas ist der Gedankenstrich für den Verstand, und über den Strich darf man nie hinaus!
Nimm das fünfte Glas, und du wirst über dich selber weinen, du wirst so recht innig-vergnüglich gerührt werden, oder es knallt in anderer Weise; aus dem Glas springt mit einem Knall Prinz Karneval, neunfach und über die Maßen lustig; er zieht dich mit sich fort, du vergißt deine Würde, wenn du eine hast, du vergißt mehr, als du vergessen sollst und darfst. Alles ist Tanz, Sang und Klang; die Masken reißen dich mit sich fort. Des Teufels Töchter, in Schleier und Seide, kommen, herzen mit aufgelöstem Haar und wunderherrlichen Gliedern – reiße dich los, wenn du es vermagst!
Das sechste Glas – ja, in dem sitzt der Satan selber, ein kleiner, wohlgekleideter, einnehmender, höchst angenehmer Mann, der dich durch und durch begreift, dir Recht in allem gibt, dein ganze zweites Ich ist! Er hat eine Laterne bei sich, um dir zu leichten, wenn er dich nach Hause begleitet. Es gibt eine alte Legende, die vom Heiligen, der eine von den sieben Todsünden wählen sollte und, wie ihm schien, die geringste, die Trunksucht, wählte, in dieser aber alle noch übrigen sechs Sünden beging. Der Mensch und der Teufel vermischten ihr Blut, es ist das sechste Glas, und mit dem treiben alle bösen Keime in unserm Innern – ein jeder erhebt sich mit einer Kraft wie das biblische Senfkorn, wird zum ganzen Baum und breitet sich über die ganze Welt aus, und die meisten Leute haben dann keine andere Wahl, als in den Schmelzofen zu kommen um umgegossen zu werden.
Das ist die Geschichte der Gläser«, sagte der Turmwächter Ole, »und die kann mit Glanzwichse und auch mit Schmiere zum besten gegeben werden, je nach Belieben! Ich gebe sie mit beiden!« Dritter Besuch
Dieses Mal stieg ich an dem allgemeinen Umzugstag zu Ole hinauf, weil es an dem Tag durchaus nicht angenehm auf den Straßen unten in der Stadtist; sind sie doch über und über mit Kehricht, Scherben und Überbleibseln aller Art bedeckt, nicht zu reden von dem ausgedienten Bettstroh, in dem man umherwaten muß. Dabei kam ich gerade dazu, wie ein paar Kinder in diesem Schwall von Kehricht umherspielten; sie spielten »zu Bette gehen«, das Feld schien ihnen recht passend zu diesem Spiele und höchst einladend zu sein, sie verkrochen sich in dem Bettstroh und zogen ein altes Stück zerfetzter Tapete als Deckbett über sich. »Das ist gar zu schön!« sagten sie; mir war das nun ein bißchen zu stark, und überhaupt mußte ich ja fort, mußte zu Ole hinauf.
»Es ist heute Umzugstag«, sprach er, »Straßen und Gassen dienen als Kehrichtkübel, als großartige Kehrichtkübel! Mir genügt aber schon ein Wagen voll. Aus dem kann ich schon etwa herauskriegen und ich fand auch manches, einmal kurz nach Weihnachten. Ich ging die Straße hinaus, es war ein rauhes Wetter, naß, schmutzig, so recht ein Wetter zum Schnupfenholen; der Kehrichtmann war da mit seiner Karre, die war gefüllt, eine Art Farbkarte der Straßen, wie sie es am Umzugstage sind. Hinten in der Karre stand eine Tanne, noch ganz grün und mit Rauschgold an den Zweigen, die war zwar zum Weihnachtsfest bestimmt gewesen, jetzt aber war sie auf die Straße geworfen und vom Kehrichtmann hinten in der Karre aufgestellt worden. Es war lustig anzusehen oder auch zum Weinen; es kommt darauf an, was man sich dabei denkt; ich dachte mir etwas dabei und dachte ganz gewiß auch an dieses und jenes von dem, was auf der Karre lag, oder hätte daran wenigstens denken können, was ja ungefähr dasselbe ist. Da lag auch ein alter Damenhandschuh; was dachte der wohl? Soll ich es Ihnen sagen? Der Handschuh lag dort und zeigte mit dem kleinen Finger gerade auf die Tanne. »Mich jammert der Baum,« dachte er, »auch ich bin beim Fest mit Kronleuchtern gewesen! Mein eigentliches Leben war eine Ballnacht, ein Händedruck, und ich platzte! Dort bleibt meine Erinnerung stehen, und ich habe weiter nichts, wofür ich leben könnte!« Das dachte der Handschuh – oder hätte es denken können.
»Das ist dumm mit der Tanne!« sagten die Scherben. Scherben finden nun alles summ. »Wenn man auf dem Kehrichtkarren ist«, sagten sie, »soll man sich nicht brüsten und Rauschgold tragen; ich weiß, daß ich in dieser Welt genützt habe, mehr genützt als so ein grüner Stecken!« Das war nun auch so eine Ansicht, und ich glaube, sie steht nicht gerade allein da; die Tanne sah doch gut aus, sie war gleichsam ein wenig Poesie auf dem Kehrichthaufen, und wahrlich, Kehricht gibt es in Mengen auf den Straßen am Umzugstage.« Der Weg wird einen schwer und mühsam, und ich muß dann vorwärts, aus dem Trubel heraus, und wenn ich auf dem Turm bin, muß ich oben bleiben und mit Humor hinabschauen.
Da spielen die lieben Leute unten Häusertausch! Sie schleppen und rackern sich ab mit ihrem Hab und Gut, und der Kobold sitzt im alten Fasse und zieht aus mit ihnen; all die kleinen Leiden der Wohnung und der Familie, die wirkliche Sorgen und der Kummer ziehen mit aus der alten Wohnung in die neue, und was kommt dann für sie und für uns bei der ganzen Geschichte heraus? – Ja, das steht freilich schon längst geschrieben in dem alten, guten Sinnspruch: »Denke an den großen Umzugstag des Todes!« Das ist ein ernster Gedanken, es ist Ihnen doch nicht unangenehm, daß ich ihn anrege? Der Tod ist und bleibt der zuverlässigste Beamte, und zwar trotz seiner vielen Nebenbeschäftigungen. Ja, der Tod ist Omnibusschaffner, er ist Paßschreiber, er bescheinigt unser Führungszeugnis, und er ist Direktor der großen Sparkasse des Lebens. Verstehen Sie? Alle Taten unseres Erdenlebens, große und kleine, legen wir auf diese Sparkasse, und wenn der Tod dann kommt mit seinem Umzugsomnibus und wir steigen ein und müssen mitfahren in das Land der Ewigkeit, dann gibt er uns an der Grenze unser Führungszeugnis als Reisepaß. Als Zehrpfennig auf der Reise nimmt er aus der Sparkasse diese oder jene Tat, die wir verübt haben, und gibt sie uns mit; es kann dies sehr erfreulich, aber auch ganz entsetzlich sein. Noch niemand ist dieser Omnibusfahrt entronnen, man spricht und erzählt freilich von einem, dem es nicht gewährt ward, mitzufahren, dem Ewigen Juden, der mußte hinter dem Omnibus einherrennen; hätte man ihm einzusteigen erlaubt, so wäre er der Behandlung durch die Poeten entgangen.
Schau einmal in Gedanken in jeden großen Umzugsomnibus hinein. Die Gesellschaft ist gemischt: König und Bettler, Genie und Idiot sitzen nebeneinander; mit müssen sie, ohne Geld und Gut, nur das Führungszeugnis und den Sparkassenpfennig führen sie mit sich. Doch welche von unseren Taten wird wohl hervorgesucht und uns mitgegeben? Vielleicht eine ganz kleine, eine vergessene, aber doch eingeschriebene, klein wie eine Erbse, aber die Erbse kann eine blühende Ranke treiben. Der arme Tolpatsch, der auf dem niedrigen Schemel im Winkel saß und gepufft und geschimpft wurde, bekommt vielleicht seinen abgenutzten Schemel als Zehrpfennig mit; der Schemel wird zum Tragesessel ins Land der Ewigkeit, hebt sich dort als Thron empor, strahlend wie Gold, blühend wie eine Laubhütte. Derjenige, der hier auf Erden niemals umherschlenderte und der den Kräutertrank der Vergnügungen schlurfte, damit er das Verkehrte vergäße, das er hier tat, bekommt sein Fäßchen mit auf die Reise und muß aus demselben während der Omnibusfahrt trinken, und der Trank ist so rein und klar, so daß die Gedanken sich erhalten, alle guten und edlen Gefühle erweckt werden und er das sieht und empfindet, was er früher nicht sehen mochte oder sehen konnte, und alsdann hat er in seinem Innern die Strafe, den nagenden Wurm, der nicht stirbt in endlosen Zeiten. Stand auf den Gläsern geschrieben Vergessenheit, so steht auf de Fäßchen geschrieben Erinnerung.
Wenn ich ein gutes Buch, eine historische Schrift lese, so muß ich mir stets zuletzt die Person, von der das Buch handelte, und den Omnibus des Todes vorstellen, muß darüber nachdenken, welche von dessen Taten der Tod wohl aus der Sparkasse herausgenommen, welchen Zehrpfennig er ihm mit auf die Reise in die Ewigkeit gegeben haben mag. Es war einmal ein französischer König, ich habe seinen Namen vergessen, der Name guter Leute wird manchmal vergessen, auch von mir, allein er taucht schon wieder auf – es war ein König, der während einer Hungersnot der Wohltäter seines Volkes wurde, und das Volk errichtete ihm ein Monument aus Schnee, mit der Inschrift: »Schneller als dieses schmilzt, brachtest du Hilfe!« Ich denke mir, daß der Tod ihn nun, im Hinblick auf das Monument, eine einzige Schneeflocke als Zehrpfennig gab, eine Flocke, die nie schmilzt, und diese flog, ein weißer Schmetterling, über seinem königlichen Haupt in das Land der Unsterblichkeit. – So gab es auch einen Ludwig den Elften, ja, seinen Namen habe ich behalten, das Böse behält man schon. Ein Zug seines Charakters kommt mir oft in die Gedanken, ich wollte, man könnte sagen, die Geschichte sei unwahr. Er ließ seinen Oberstallmeister hinrichten, und er konnte ihn hinrichten lassen, mit Recht oder Unrecht, aber er ließ auch die unschuldigen Kinder des Oberstallmeisters, eines von acht, eines von sieben Jahren, auf den Richtplatz bringen und mit dem warmen Blut ihres Vaters bespritzen, ließ sie darauf in die Bastille führen und in eiserne Käfige sperren, woselbst sie nicht einmal eine Decke zum Schutz gegen die Kälte bekamen. Und König Ludwig sandte jede Woche den Henker zu ihnen und ließ jedem einen Zahn ausziehen, damit sie es nicht zu gut hätten; und der älteste Knabe sagte: »Meine Mutter würde vor Kummer sterben, wenn sie wüßte, daß mein kleiner Bruder so sehr leiden muß, deshalb zieh mir zwei Zähne aus und verschone ihn!« Dem Henker traten die Tränen in die Augen, allein des Königs Wille war stärken als die Tränen, und jede Woche wurden dem König zwei Kinderzähne auf einem silbernen Teller überbracht; er hatte sie verlangt, und er bekam sie. Diese zwei Zähne, denke ich mir, nahm der Tod aus der Sparkasse des Lebens und gab sie Ludwig dem Elften mit auf die Reise in das große Land der Unsterblichkeit; sie fliegen wie zwei Feuerflammen ihm voran, sie leuchten, sie brennen, sie zwacken ihn, die unschuldigen Kinderzähne.
Ja, das ist eine ernste Fahrt, die Omnibusfahrt an dem großen Umzugstag! Und wann muß sie wohl angetreten werden? Das ist eben der Ernst: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute muß man den Omnibus erwarten. Welche von unseren Taten wird wohl der Tod aus der Sparkasse herausnehmen und uns mitgeben? – Gedenken wir des Umzugstages, der nicht im Kalender steht.

Hans Christian Andersen – Unter dem Weidenbaum

Hans Christian Andersen

Unter dem Weidenbaum
Die Gegend ist kahl bei Kjöge; die Stadt liegt wohl am Meere, und das ist stets etwas Schönes, aber es könnte doch noch schöner dort sein, als es ist. Ringsum liegt flaches Feld und weit, weit ist es bis zum Walde. Wenn man aber an einem Orte erst richtig zu Hause ist, so findet man immer etwas Schönes, etwas, wonach man sich auch an den herrlichsten Orten der Welt sehnen kann! Und wir müssen auch anerkennen, daß es am Rande der Stadt Kjöge, wo ein paar kleine dürftige Gärten sich hinunter erstrecken bis an den Bach, der ins Meer fließt, zur Sommerszeit gar lieblich sein konnte. Das fanden besonders die zwei kleinen Nachbarkinder, Knut und Johanne, die hier spielten und unter den Stachelbeerbüschen hindurch zueinanderkrochen. In dem einen Garten stand ein Holunderbusch, in dem anderen ein alter Weidenbaum; unter diesem spielten die Kinder ganz besonders gern, und dazu hatten sie auch Erlaubnis, obwohl der Baum ganz dicht am Bache stand, wo sie leicht hätten ins Wasser fallen können. Aber der liebe Gott hat seine Augen über den Kleinen, sonst sähe es schlimm aus. Sie waren auch sehr vorsichtig, ja, der Knabe hatte solche Angst vor dem Wasser, daß er auch zur Sommerszeit nicht zu bewegen war, an den Strand hinunter zu kommen, wo doch die anderen Kinder so gern ins Wasser laufen und plantschen. Er hatte viel Spott darüber zu erdulden, und das mußte er sich gefallen fassen. Aber da träumte des Nachbars kleine Johanne, sie habe in einem Boot in der Bucht von Kjöge gesegelt und Knud sei gerade auf sie zugegangen; zuerst habe ihm das Wasser nur bis an den Hals gereicht, aber dann sei es ihm über dem Kopfe zusammengeschlagen. Und von dem Augenblick an, als Knud diesen Traum gehört hatte, duldete er es nicht länger, daß man ihn wasserscheu schalt, sondern wies auf Johannes Traum hin; der war sein Stolz, aber ins Wasser ging er nicht.
Die armen Eltern kamen häufig zusammen und Knud und Johanne spielten in den Gärten und auf der Landstraße, die an beiden Seiten von Gräben, an denen eine ganze Reihe von Weidenbäumen stand, eingefaßt war. Schön waren sie nicht, die Kronen waren ihnen abgehauen, aber sie standen ja auch nicht zum Staat da, sondern um Nutzen zu schaffen. Schöner war die alte Weide im Garten, und unter dieser saßen sie manch liebes Mal.
In Kjöge wird ein großer Jahrmarkt abgehalten, und zur Marktzeit stehen dort ganze Straßen von Zeltbuden mit seidenen Bändern, Stiefeln und allem möglichen. Es herrschte Gedränge und gewöhnlich auch Regenwetter, und dann machte sich der Dunst der Bauernröcke, aber auch der herrliche Geruch von Honigkuchen bemerkbar. Davon war eine ganze Bude voll da, und was das prächtigste war, der Mann, der sie verkaufte, logierte sich während der Marktzeit stets bei den Eltern des kleinen Knud ein, und dabei fiel natürlich auch ein kleiner Honigkuchen ab, wovon auch Johanne ihr Stückchen bekam. Aber fast noch schöner war es, daß der Honigkuchenhändler Geschichten erzählen konnte, und zwar fast von einer jeden Sache, sogar von seinen Honigkuchen; ja, von diesen erzählte er eines Abends eine Geschichte, die einen gar tiefen Eindruck auf die beiden Kinder machte, so daß sie sie seither niemals wieder vergaßen, und deshalb ist es wohl das beste, wenn wir sie auch hören, besonders, da sie nur kurz ist.
„Da lagen auf dem Tische zwei Honigkuchen,“ erzählte er, „der eine hatte die Gestalt eines Mannes mit einem Hut, der andere die einer Jungfrau ohne Hut, aber mit einem Streifchen Schaumgold auf dem Kopfe. Sie trugen das Gesicht auf der Seite, die nach oben lag, und von dort sollte man sie auch sehen und nicht von der Kehrseite aus, von wo man nie einen Menschen ansehen soll. Der Mann hatte eine bittere Mandel links, das war sein Herz, die Jungfrau dagegen war durch und durch aus Honigkuchen. Sie lagen als Proben auf dem Tische. Dort lagen sie lange, und so liebten sie sich; aber der eine sagte es nicht zum anderen, und das muß sein, wenn etwas daraus werden soll.
„Er ist ein Mann, er muß das erste Wort sprechen!“ dachte sie, aber sie wäre doch vergnügt gewesen, wenn sie nur gewußt hätte, ob ihre Liebe erwidert würde.
Er trug sich mit begierigeren Gedanken, das tun ja die Mannsleute immer; er träumte, er sei ein lebendiger Straßenjunge, der vier Schillinge besäße, damit kaufte er die Jungfrau und verschlänge sie.
Und sie lagen Tage und Wochen hindurch auf dem Tische; sie wurden trocken und der Jungfrau Gedanken wurden feiner und weiblicher: „Es ist mir genug, daß ich auf einem Tische mit ihm zusammen gelegen habe!“ dachte sie und brach mitten durch. „Hätte sie von meiner Liebe gewußt, dann hätte sie wohl länger gehalten“ dachte er. „Und das ist die Geschichte, und das sind die beiden“ sagte der Kuchenhändler. „Sie sind bemerkenswert durch ihren Lebenslauf und ihre stumme Liebe, die niemals zu etwas führt. Seht, da habt Ihr sie!“ und dann gab er Johanne den Mann, der noch ganz war, und Knud bekam die gebrochene Jungfrau; aber sie waren so benommen von der Geschichte, daß sie nicht daran denken konnten, das Liebespaar zu verspeisen. Am nächsten Tage gingen sie mit ihnen auf den Kirchhof, wo die Kirchenmauern mit dem herrlichsten Efeu besponnen waren, der Winter und Sommer wie ein reicher Teppich darüber hing. Sie stellten die Honigkuchen ins Grüne hinauf in den Sonnenschein und erzählten einer Schar anderer Kinder von der stummen Liebe, die zu nichts gut ist, das heißt die Liebe, denn die Geschichte fanden sie alle gar hübsch, und als sie nun auf das Honigpaar schauten, ja, da hatte ein großer Junge -aus Bosheit hatte er es getan, die gebrochene Jungfrau verspeist. Die Kinder weinten darüber und nachher -es geschah sicherlich nur, damit der arme Mann nicht so einsam auf der Welt bleiben sollte -verspeisten sie ihn auch, aber nie vergaßen sie die Geschichte. Immer waren die Kinder zusammen unter dem Holunderbusch oder unter dem Weidenbaum, und das kleine Mädchen sang mit silberglockenheller Stimme die lieblichsten Lieder. Knud war für die Musik verloren, aber er konnte die Worte, die zu den Liedern gehörten, und das ist immerhin etwas. -Die Leute in Kjöge, selbst die Eisenkrämerin, standen stille und hörten Johanne zu. „Sie hat doch ein süßes Stimmchen, die Kleine“ sagte sie.
Das waren schöne Tage, aber sie währten nicht ewig. Die Nachbarn mußten von einander scheiden. Des kleinen Mädchens Mutter war gestorben, der Vater wollte sich in Kopenhagen wieder verheiraten. Er konnte dort einen guten Broterwerb bekommen; er sollte als Bote angestellt werden und das war ein sehr einträgliches Amt. Die Nachbarn schieden unter Tränen, und besonders die Kinder weinten bitterlich; aber die Alten versprachen, einander zu schreiben, und zwar mindestens einmal im Jahre. Knud kam in die Schuhmacherlehre, die Eltern konnten ihn nicht länger gehen und die Zeit vergeuden lassen. Und so wurde er nun eingesegnet.
O, wie gern wäre er an diesem Festtage nach Kopenhagen gekommen, um die kleine Johanne wiederzusehen; doch er kam nicht hin und war auch nie dort gewesen, obgleich es nur fünf Meilen von Kjöge entfernt liegt; aber die Türme hatte Knud bei klarem Wetter über die Bucht ragen sehen, und am Einsegungstage sah er deutlich das goldene Kreuz auf der Frauenkirche leuchten.
Ach, wie oft dachte er an Johanne. Ob sie sich seiner erinnerte? Ja, aber freilich! -Zur Weihnachtszeit kam ein Brief von ihrem Vater an Knuds Eltern, darin stand, daß es ihnen in Kopenhagen recht gut ginge, und daß Johanne ein wahres Glück in ihrer Stimme zuteil geworden wäre. Sie sei beim Theater angestellt worden, dort, wo man singt; ein wenig Geld bekäme sie auch schon dafür, und von diesem sende sie den lieben Nachbarsleuten einen ganzen Reichstaler, um sich einen vergnügten Weihnachtsabend davon zu machen; sie sollten auf ihr Wohl trinken, das hatte sie mit eigener Hand in einer Nachschrift hinzugefügt und darin stand auch: „Freundlichen Gruß an Knud!“
Da weinten sie alle zusammen, trotzdem das Ganze ja nur erfreulich war, aber sie weinten ja auch vor Freude. Jeden Tag war Johanne in seinen Gedanken gewesen und nun sah er, daß sie auch an ihn dachte, und je mehr die Zeit herannahte, wo er Geselle werden sollte, desto klarer stand es vor seiner Seele, daß er Johanne lieb habe und daß sie seine kleine Frau werden solle. Dann spielte wohl ein Lächeln um seinen Mund und er zog den Draht hurtiger, während das Bein den Spannriemen anspannte. Er stach sich den Pfriem mitten durch den einen Finger, aber das tat nichts. Er würde gewiß nicht stumm sein wie die beiden Honigkuchen, diese Geschichte war ihm eine Lehre gewesen.
Dann wurde er Geselle und schnürte sein Ränzel. Endlich sollte er zum ersten Mal in seinem Leben nach Kopenhagen, dort hatte er schon einen Meister. Und wie froh und überrascht Johanne sein würde. Sie war jetzt siebzehn Jahre und er war neunzehn.
Er wollte schon in Kjöge einen Goldreif für sie kaufen, aber er bedachte, daß man wohl in Kopenhagen weit schönere bekommen würde Dann wurde Abschied von den beiden Alten genommen und hurtig wanderte er von dannen durch Herbst und Wind und Wetter. Die Blätter fielen von den Bäumen, und bis auf die Haut durchnäßt kam er in das große Kopenhagen und zu seinem neuen Meister.
Am ersten Sonntag wollte er Johannes Vater einen Besuch machen. Die neuen Gesellenkleider zog er an, dazu den neuen Hut noch aus Kjöge, der ihn so gut kleidete, denn vorher war er immer mit einer Mütze gegangen. -Er fand das Haus, das er suchte und stieg die vielen Treppen hinauf; es war um schwindelig zu werden, wie die Menschen hier in dieser großen Stadt, in der man sich so leicht verirren konnte, übereinandergepfercht waren.
Die Stube machte einen recht wohlhabenden Eindruck, und freundlich empfing ihn Johannes Vater. Der zweiten Frau war er ja ein Fremder, aber sie reichte ihm die Hand und lud ihn zum Kaffee.
„Johanne wird sich freuen, Dich zu sehen“ sagte der Vater, „Du bist ja ein prächtiger Junge geworden! -Ja, nun sollst Du sie gleich zu sehen bekommen! Sie ist ein Mädchen, an dem ich meine Freude habe und mit Gottes Beistand werde ich auch noch mehr an ihr erleben! Sie hat ihr eigenes Zimmer, dafür bezahlt sie uns Miete.“ Dann klopfte der Vater selbst höflich an ihre Tür, als sei er ein Fremder, und dann traten sie ein. Nein, wie reizend sah es hier aus. Solch ein Zimmer war gewiß in ganz Kjöge nicht zu finden, die Königin konnte es nicht hübscher haben. Da waren Teppiche, da waren Gardinen, die bis zur Erde hinab reichten, sogar ein wirklicher Samtsessel stand da und ringsum Blumen und Gemälde, und ein Spiegel, in den man versucht war, hineinzulaufen, denn er war so groß wie eine Tür. Knud sah alles mit einem Blick und sah doch nur Johanne, die nun als erwachsenes Mädchen vor ihm stand; ganz anders war sie, als Knud sie sich gedacht hatte, aber viel schöner. Es gab kein Mädchen in Kjöge, das ihr gleich gekommen wäre; wie war sie zart und fein. Aber wie sonderbar fremd blickte sie Knud an, doch nur einen Augenblick lang, dann flog sie ihm entgegen, ganz als ob sie ihn küssen wollte; sie tat es zwar nicht, aber viel hatte nicht daran gefehlt. Ja, sie war herzensfroh, ihren Jugendfreund wiederzusehen. Die Tränen standen ihr in den Augen, und dann hatte sie soviel zu fragen und zu erzählen, von Knuds Eltern bis zum Holunderstrauch und Weidenbaum, den sie Fliedermütterchen und Weidenväterchen nannte, ganz als ob sie auch Menschen wären, und dafür konnten sie ja ebensogut gelten, wie es früher die Honigkuchen gegolten hatten. Von ihnen sprach sie auch, von ihrer stummen Liebe, wie sie auf dem Tische lagen und dann den Weg alles Irdischen gegangen waren, und dabei lachte sie so herzlich. -Aber das Blut brannte Knud in den Wangen und sein Herz schlug schneller als sonst! -Nein, sie war gar nicht hochmütig geworden. -Und um ihretwillen, das merkte er wohl, baten ihn auch ihre Eltern, den Abend über dazubleiben, und sie schenkte den Tee ein und bot ihm selbst eine Tasse an; später nahm sie ein Buch und las laut daraus vor, und es war Knud, als handele das, was sie vorlas, gerade von seiner eigenen Liebe, so sehr stimmte es mit allen seinen Gedanken überein. Und dann sang sie ein einfaches Lied, aber in ihrem Munde wurde es zu einer ganzen Geschichte, es war, als ströme ihr eigenes Herz darin über. Ja, gewiß hatte sie Knud auch lieb. Die Tränen liefen ihm über die Wangen herab, er konnte ihnen nicht gebieten und konnte auch kein einziges Wort sprechen. Es schien ihm selbst, daß er sich recht dumm benehme, und doch drückte sie seine Hand und sagte: „Du hast ein gutes Herz, Knud! Bleib immer wie Du bist“
Es war ein unaussprechlich schöner Abend, er war gar nicht dazu angetan, um danach zu schlafen, und Knud schlief auch nicht. Beim Abschied hatte Johannes Vater gesagt: „Nun vergißt Du uns wohl auch nicht ganz! Laß uns sehen, daß Du nicht den ganzen Winter vergehen läßt, bevor Du wieder einmal nach uns siehst!“
Und so konnte er wohl gut am Sonntag wiederkommen! Das wollte er bestimmt. Aber jeden Abend nach der Arbeit, und sie arbeiteten bei Licht, ging Knud in die Stadt. Er ging durch die Straße, wo Johanne wohnte, und sah zu ihrem Fenster hinauf. Dort war fast immer Licht, und eines Abends sah er ganz deutlich den Schatten ihres Gesichts auf der Gardine; das war ein schöner Abend! Die Meisterin sah es nicht gern, daß er des Abends immer umherstrich, wie sie es nannte, und sie schüttelte den Kopf darüber, aber der Meister lachte: „Es ist ein junger Mensch!“ sagte er.
„Am Sonntag sehen wir uns, und dann sage ich ihr, wie alle meine Gedanken von ihr erfüllt sind, und daß sie meine kleine Frau werden soll! Ich bin ja nur ein armer Schuhmachergesell, aber ich kann Meister werden, und ich werde arbeiten und streben. Ja, ich sage es ihr, bei der stummen Liebe kommt nichts heraus, das habe ich von den Honigkuchen gelernt!“
Und der Sonntag kam und Knud kam, aber wie unglücklich traf es sich. Sie waren alle eingeladen und mußten es ihm sagen. Johanne drückte ihm die Hand und fragte: „Warst Du schon in der Oper? Da mußt Du einmal hingehen! Ich singe am Mittwoch, und wenn Du dann Zeit hast, werde ich Dir ein Billet schicken, mein Vater weiß, wo Dein Meister wohnt.“
Wie lieb das von ihr war. Am Mittwoch Mittag kam auch richtig ein versiegeltes Kuvert ohne eine Zeile, aber das Billet lag darin, und am Abend ging Knud zum ersten Male in seinem Leben ins Theater und was sah er dort? Ja, er sah Johanne, und schön und lieblich wie nie erschien sie ihm. Sie verheiratete sich zwar mit einer fremden Person, doch das war Theater, das wußte Knud, denn sonst hätte sie sicher nicht das Herz gehabt, ihm ein Billet zu schicken, daß er zusehen müsse. Und alle Leute klatschten und riefen laut Beifall und Knud rief Hurra.
Selbst der König lächelte Johanne zu, als freue er sich auch über sie. Ach Gott, wie fühlte sich Knud klein, aber er liebte sie so innig und sie hatte ihn ja auch lieb; die Mannsleute müssen das erste Wort sagen, so hatte die Honigkuchenjungfer gesagt. In der Geschichte lag wirklich ein tiefer Sinn.
Als der Sonntag herangekommen war, ging Knud wieder hin; seine Gedanken waren so feierlich wie beim Abendmahl. Johanne war allein und empfing ihn, es konnte sich nicht glücklicher treffen.
„Es ist gut, daß Du kommst!“ sagte sie. „Fast hätte ich Vater zu Dir geschickt, aber ich hatte so eine Ahnung, daß Du heute abend herkommen würdest; denn ich muß Dir sagen, daß ich am Freitag nach Frankreich reise, das ist nötig, damit etwas Tüchtiges aus mir wird.“
Knud war es, als drehe sich die ganze Stube um ihn, als solle sein Herz brechen; aber es kamen keine Tränen in seine Augen, so deutlich es auch sichtbar war, wie betrübt er wurde. Johanne sah es und war nahe daran zu weinen. „Du ehrliche, treue Seele“ sagte sie -und nun löste sich Knuds Zunge, und er sagte ihr, wie innig er sie liebe und daß sie seine kleine Frau werden müsse. Aber während er es sagte, sah er, daß Johanne totenbleich wurde, sie ließ seine Hand los und sagte ernst und betrübt: „Mache nicht Dich selbst und mich unglücklich, Knud. Ich bleibe Dir immer eine gute Schwester, auf die Du Dich verlassen kannst -aber auch nicht mehr.“ Und sie strich mit ihrer weichen Hand über seine heiße Stirn. „Gott gibt uns Kraft zu vielem, wenn man nur selbst will.“
In diesem Augenblick trat ihre Stiefmutter herein.
„Knud ist ganz außer sich, weil ich reise“ sagte sie; „sei doch ein Mann“ und dann klopfte sie ihn auf die Schulter. Es sah aus, als hätten sie nur von der Reise und von nichts anderem gesprochen. „Kind“ sagte sie, „nun mußt Du gut und vernünftig sein wie unter dem Weidenbaum, da wir beide als Kinder darunter spielten!“
Für Knud war es, als sei die Welt aus ihren Fugen gegangen. Seine Gedanken hingen wie ein loser Faden, willenlos dem Winde preisgegeben. Er blieb, er wußte nicht, ob sie ihn darum gebeten hatten, aber sie waren freundlich und gut zu ihm. Johanne schenkte ihm Tee ein und sang; es war nicht der alte Klang, aber doch so unsagbar schön; daß ihm das Herz in Stücke brechen wollte, und dann schieden sie. Knud reichte ihr nicht die Hand, aber sie nahm die seine und sagte: „Du gibst doch Deiner Schwester die Hand zum Abschied, mein alter Spielbruder.“ Sie lächelte unter Tränen, und während sie ihr über die Wangen herabliefen, wiederholte sie: „Bruder.“ Ja, das konnte groß helfen! -So war ihr Abschied.
Sie segelte nach Frankreich und Knud lief durch die schmutzigen Kopenhagener Gassen. -Die anderen Gesellen aus der Werkstatt fragten ihn, was er so umherliefe und grübele; er solle mit ihnen zum Vergnügen gehen, er sei ja ein junges Blut.
Und sie gingen zusammen auf einen Tanzboden. Dort gab es viele hübsche Mädchen, aber freilich keine wie Johanne, und dort, wo er geglaubt hatte, sie vergessen zu können, gerade dort stand sie am lebendigsten vor seiner Seele. „Gott gibt Kraft zu vielem, wenn man nur selbst will!“ hatte sie gesagt; und es kam eine Andacht über ihn, daß er seine Hände falten mußte -und die Violinen spielten und die Mädchen tanzten um ihn her. Er erschrak, es schien ihm, dies sei hier kein Ort, wohin er Johanne führen konnte, und sie war ja stets in seinem Herzen. So ging er wieder hinaus und lief durch die Straßen. Er kam an dem Hause vorbei, wo sie gewohnt hatte. Es war dunkel dort, überall war es dunkel, leer und einsam; die Welt ging ihren Gang und Knud den seinen. Es wurde Winter und die Gewässer froren zu, es war gerade, als ob alles sich zur Grabesruh einrichtete.
Als aber das Frühjahr kam und das erste Dampfschiff ging, erfaßte ihn eine Sehnsucht fortzukommen, weit in die Welt hinaus, nur nicht zu nahe an Frankreich heran.
So schnürte er sein Ränzel und wanderte weit nach Deutschland hinein, von Stadt zu Stadt, ohne Rast und Ruh. Erst als er in die alte prächtige Stadt Nürnberg kam, war es, als ob ihm wieder einiges Sitzfleisch wüchse, und er vermochte zu bleiben.
Das ist eine wunderliche alte Stadt, wie aus einem alten Bilderbuche ausgeschnitten. Die Straßen lagen, ganz wie sie selbst es zu wollen schienen, die Häuser mochten nicht in einer Reihe stehen, Erker mit Türmchen, Schnörkel und Steinbilder sprangen bis weit über den Bürgersteig hervor, und hoch oben an den wunderlich schiefen Dächern liefen mitten über die Straßen Dachrinnen, die wie Drachen oder Hunde mit langen Leibern geformt waren.
Hier stand Knud auf dem Markte mit dem Ränzel auf dem Rücken; er stand an einem alten Springbrunnen, wo die herrlichen Erzfiguren, biblische und historische, zwischen den aufsteigenden Wasserstrahlen stehen Ein hübsches Dienstmädchen holte gerade Wasser, sie gab Knud einen frischen Trunk, und da sie eine ganze Hand voller Rosen hatte, gab sie Knud auch eine von diesen, und das schien ihm ein gutes Vorzeichen zu sein.
Aus der Kirche nahe dabei brauste Orgelklang bis zu ihm hinaus, das klang ihm so heimatlich wie die Klänge der Kirche in Kjöge, und er trat in den großen Dom ein. Die Sonne schien durch die gemalten Fenster hinein zwischen die hohen, schlanken Pfeiler; seine Gedanken wurden von Andacht ergriffen und Stille zog in seine Seele ein.
Und er suchte und fand einen guten Meister in Nürnberg, und bei ihm blieb er und lernte die Sprache.
Die alten Gräben um die Stadt sind in kleine Gärtchen verwandelt, aber die hohen Mauern stehen noch mit ihren schweren Türmen da. Der Seiler schnürt seine Stricke auf der hölzernen Galerie, die an den Mauern hinläuft, und hier wuchsen aus Spalten und Löchern Holundersträuche, die ihre Zweige über die kleinen, niedrigen Häuser unter ihnen hängen, und ineinem von diesen wohnte der Meister, bei dem Knud arbeitete. Über das kleine Dachfenster hin, wo er schlief, breitete ein Holunderbusch seine Zweige. Hier wohnte er einen Sommer und einen Winter. Als aber das Frühjahr kam, war es nicht mehr auszuhalten. Der Holunder stand in Blüte und duftete so heimatlich, daß ihm war, als sei er im Garten vor. Kjöge, und so sagte Knud seinem Meister Lebewohl und zog zu einem anderen, der weiter innen in der Stadt wohnte, wo keine Holundersträuche standen.
Seine neue Werkstatt lag nahe bei einer von den alten steinernen Brücken und gerade gegenüber einer stets brausenden, niedrigen Wassermühle. Dahinter strömte ein reißender Fluß, der gleichsam von den Häusern eingeklemmt wurde, die alle mit alten, baufälligen Altanen behängt waren; es sah aus, als wollten sie diese ins Wasser hinabschütteln. -Hier wuchs kein Holunder, hier stand nicht einmal ein Blumentopf mit ein wenig Grün, aber gerade gegenüber stand ein großer alter Weidenbaum, der sich gleichsam an dem Hause dort festklammerte, um nicht vom Strome mit fortgerissen zu werden. Er streckte seine Zweige über den Fluß hin, ganz wie der Weidenbaum im Garten am Bache von Kjöge.
Ja, da war er freilich nur vom Fliedermütterchen zum Weidenväterchen gekommen. Der Baum hier, ganz besonders an Mondscheinabenden, hatte etwas, wobei er sich fühlte: „so dänisch im Herzen beim Mondenschein.“
Aber es war nicht der Mondschein, der es machte, nein, es war der alte Weidenbaum.
Wieder konnte er es nicht aushalten, und warum nicht? Frag die Weide, frag den blühenden Holunder. Und so sagte er dem Meister und Nürnberg Lebewohl und zog weiter.
Zu niemandem sprach er von Johanne. Tief innen verbarg er seinen Kummer, und eine besondere Bedeutung legte er der Geschichte von den Honigkuchen bei. Nun verstand er, warum der Mann an der linken Seite eine bittere Mandel an Stelle des Herzens hatte; er hatte selbst einen bitteren Geschmack davon und Johanne, die stets so freundlich und lächelnd war, sie war nur reiner Honigkuchen. Es war, als schnüre ihn der Riemen seines Ränzels, so schwer wurde ihm das Atemholen. Er lockerte ihn, aber es wollte nichts helfen. Die Welt um ihn war nur zur Hälfte da, die andere Hälfte trug er in sich, das war es.
Erst als er die hohen Berge sah, erschien ihm die Welt wieder größer, seine Gedanken wandten sich wieder seiner Umgebung zu und Tränen stiegen in seine Augen. Die Alpen erschienen ihm wie die zusammengelegten Flügel der Erde. Wie, wenn sie sich emporhöbe und die großen Federn ausbreitete mit den bunten Bildern von schwarzen Wäldern, brausenden Wassern, Wolken und Schneemassen! Am Jüngsten Tage entfaltet die Erde ihre großen Schwingen, fliegt zu Gott empor und platzt wie eine Blase vor seinen klaren Strahlen. „O, wäre doch erst der Tag da!“ seufzte er.
Still wanderte er durch das Land, das ihm wie ein großer grüner Fruchtgarten erschien; von den Holzaltanen der Häuser nickten ihm die klöppelnden Mädchen zu, die Gipfel der Berge glühten in der roten Abendsonne, und als er die grünen Seen zwischen den dunklen Bäumen schimmern sah, -da mußte er wieder an den Strand bei der Bucht von Kjöge denken, und es war Wehmut, aber kein Schmerz mehr in seiner Brust.
Dort, wo der Rhein wie in einer großen Woge sich vorwärts wälzt, hinabstürzt, zerschellt und sich zu schneeweißen klaren Wolkenmassen verwandelt -ein Regenbogen flattert wie ein loses Band darüber hin -, dachte er an die Wassermühle von Kjöge, wo auch das Wasser brausend zerschellt war.
Gern wäre er in der stillen Stadt am Rhein geblieben, aber auch hier war so viel Holunder und so viele Weidenbäume -so zog er weiter, über die hohen, mächtigen Berge, durch Felssprengungen, und Wege entlang, die wie Schwalbennester an den Steinwänden klebten. Das Wasser brauste in der Tiefe, die Wolken jagen unter ihm; über blanke Disteln, Alpenrosen und Schnee wanderte er in der warmen Sommersonne dahin -und dann sagte er den Ländern des Nordens Lebewohl und kam hinab unter Kastanienbäume, wischen Weingärten und Maisfelder. Die Berge waren wie eine Mauer zwischen ihm und allen Erinnerungen aufgerichtet, und so sollte es sein.
Vor ihm lag eine große, prächtige Stadt, die sie Milano nannten, und hier fand er einen deutschen Meister, der ihm Arbeit gab. Es war ein altes, ehrliches Ehepaar, zu dem er in die Werkstatt gekommen war, und sie gewannen den stillen Gesellen, der wenig sprach, aber desto mehr arbeitete und fromm und christlich war, lieb. Es war ihm nun, als habe Gott die schwere Last von seinem Herzen genommen.
Seine größte Freude war, bisweilen die große Marmorkirche hinaufzusteigen, die ihn aus dem heimatlichen Schnee geschaffen schien, und mit ihren Bildern, spitzen Türmen und blumengeschmückten offenen Hallen einen gar schönen Anblick bot. Aus jeder Ecke, von jeder Spitze und jedem Bogen lächelten die weißen steinernen Bilder ihm zu.
Oben hatte er den blauen Himmel über sich, unter sich die Stadt und die weite grüne Ebene der Lombardei, und nach Norden zu die hohen Berge mit ihrem ewigen Schnee -und dann dachte er wieder an die Kirche von Kjöge mit den Efeuranken um die roten Mauern, aber er sehnte sich nicht mehr zurück, hier hinter den Bergen wollte er begraben sein.
Ein Jahr lang hatte er hier gelebt; es war nun drei Jahre her, seit er aus der Heimat gezogen war, da führte ihn sein Meister einmal in die Stadt, nicht in den Zirkus, um die Kunstreiter zu sehen, nein, in die große Oper, und das war auch ein Saal, der wert war, gesehen zu werden. Sieben Etagen hoch hingen dort Seidenvorhänge, und vom Boden bis zur Decke hinauf, schwindelnd hoch, saßen die feinsten Damen mit Blumen in den Händen, als wollten sie zum Ball gehen. Auch die Herren waren in vollem Staat und viel Gold und Silber glänzte. Es war so hell wie im liebtesten Sonnenschein und dann brauste die Musik so stark und so herrlich empor, es war noch weit prachtvoller als in der Kopenhagener Oper, aber dort war doch Johanne und hier -da, es war wie ein Zauber, die Gardine wurde zur Seite gezogen -auch hier stand Johanne, in Gold und Silber gekleidet und mit einer goldenen Krone auf dem Haupte. Sie sang, wie nur ein Engel Gottes singen kann. Sie trat vor, so weit sie es konnte und lächelte, wie nur Johanne es vermochte; sie blickte gerade Knud an.
Der arme Knud griff nach seines Meisters Hand und rief laut: „Johanne.“ Aber es war nicht zu hören, die Musikanten spielten so laut, und der Meister nickte ihm zu: „Ja, gewiß heißt sie Johanne“ und dann nahm er ein gedrucktes Blatt und zeigte ihm, wo ihr Name stand, ihr ganzer Name.
Nein, es war kein Traum. Und alle Menschen jubelten und warfen ihr Blumen und Kränze zu und jedes Mal, wenn sie ging, wurde sie wieder hervorgerufen; sie ging und kam wieder.
Auf den Straßen draußen scharten sich die Leute um ihren Wagen und zogen ihn, und Knud war der allervorderste und der allerglücklichste. Und als sie an ihr prächtiges, hellerleuchtetes Haus kamen, stand Knud gerade vor der Wagentür. Sie wurde geöffnet und sie stieg heraus, das Licht fiel hell auf ihr anmutiges Gesicht und sie lächelte und dankte so freundlich; sie konnte ihre Rührung kaum verbergen. Und Knud blickte ihr gerade ins Antlitz und sie blickte Knud gerade ins Antlitz, aber sie erkannte ihn nicht. Ein Herr mit einem Stern auf der Brust reichte ihr den Arm -sie wären verlobt, sagte man.
Da ging Knud nachhause und schnürte sein Ränzel, er wollte, er mußte heim zum Holunder und der Weide -ach, unter den Weidenbaum. In einer Stunde kann man ein ganzes Menschenleben durchleben!
Sie baten ihn, zu bleiben; kein Wort konnte ihn zurückhalten. Sie sagten ihm, es sei Winterszeit und in den Bergen fiele schon Schnee; aber in der Spur der langsam fahrenden Wagen, vor denen ja Weg gebahnt werden

Hans Christian Andersen – Vaenö und Glaenö

Hans Christian Andersen

Vaenö und Glaenö

An Seelands Küste, gegenüber von Holsteinborg, lagen einmal zwei waldbewachsene Inseln, Vaenö und Glaenö, auf denen waren Kirchdörfer und Höfe; sie lagen nahe am Strande, sie langen einander nahe, nun ist da nur die eine Insel.
Eines Nachts war ein entsetzliches Wetter, das Meer stieg, wie es seit Menschengedenken nicht gestiegen war, der Sturm nahm gewaltig zu, es war ein Wetter wie am Jüngsten Tag, es toste, als ob die Erde risse, die Kirchenglocken kamen in Schwung und läuteten ohne Menschenhilfe.
In dieser Nacht verschwand Vaenö in der Tiefe des Meeres; es war, als ob es diese Insel niemals gegeben hätte. Aber später, in mancher Sommernacht bei stiller, klarer Ebbe, wenn der Fischer draußen war, um Aale zu fangen mit einem Licht vorne im Schiff, sah er mit ordentlich scharfem Blick tief unter sich Vaenö liegen mit seinem weißen Kirchturm und der hohen Kirchenmauer. „Vaenö warten auf Glaenö“, sagte die Sage; er sah die Insel, er hörte die Kirchenglocken unten läuten, aber darin irrte er doch, es waren gewiß Töne von den vielen wilden Schwänen, die hier oft auf der Wasserflut liegen; die glucksen und klagen, als hörte man aus weiter Ferne Glockenklang.
Es gab eine Zeit, da sich noch viele alte Leute auf Glaneö jener Sturmnacht erinnerten, und das sie selber als kleine Kinder in der Ebbe zwischen den beiden Inseln gefahren waren, wie man heutzutage von Seelands Ufer nicht weit von Holsteinborg hinüber nach Glaneö fährt, das Wasser reicht nur bis in die Mitte der Räder. „Vaneö warten auf Glaenö“, wurde gesagt, und es wurde Sage und Gewißheit.
Mancher kleine Junge oder manches kleine Mädchen lagen in stürmischen Nächten und dachten: „Heute nacht kommt die Stunde, da Vaenö Glaenö holt.“ In Angst beteten sie ihr Vaterunser, schliefen dann ein, träumten süß -und am nächsten Morgen war Glaenö noch da mit seinen Wäldern und Kornfelder, seinen freundlichen Bauernhäusern und Hopfengärten; der Vogel sang, der Damhirsch sprang; der Maulwurf roch kein Meerwasser, solange er wühlen konnte.
Und doch sind Glaneös Tage gezählt; wir können nicht sagen,wie viele es sind, aber eines schönen Morgens ist die Insel verschwunden. Du warst vielleicht von noch gestern drunten am Ufer, sahst die wilden Schwäne auf dem Wasser liegen zwischen Seeland und Glaenö, sahst ein Segelboot mit ausgespannten Segeln am Walddickicht vorbeigleiten, du selber fuhrst durch den niederen Wasserstand, es gab keinen andern Fahrweg, die Rosse stampften in das Wasser, es spritzte um die Wagenräder.
Du bis von dort weggereist, vielleicht nur ein kleines Stück, in die weite Welt hinausgereist und kommst nach einigen Jahren wieder zurück; du siehst dann den grünen Wald umschlossen von einer großen grünen Wiesenstrecke, wo das Heu vor hübschen Bauernhäusern dufttet. Wo bist du? Holsteinborg prangt ja noch hier mit seinen vergoldeten Turmspitzen, aber nicht dicht am Fjord, es liegt tiefer hinein ins Land, du gehst durch den Wald, hin übers Feld, hinab zum Strand -wo ist Glaenö? Du siehst keine Waldinsel vor dir, du siehst das offne Wasser. hat Vaenö Glaenö geholt, auf das es lange wartete? Wann war die Sturmnacht, in der es geschah, in der die Erde zitterte, so daß das alte Holsteinborg viele tausend Hahnenschritte hinein ins Land versetzt wurde? Das war keine Sturmnacht, das war am hellen Sonntag. Die Menschenklugheit legte einen Damm vor das Meer, die Menschenklugheit blies das Binnenwasser fort, band Glaenö an das feste Land, der Fjord ist Wiese geworden mit üppigem Gras, Glaenö ist an Seeland festgewachsen. Der alte Hof liegt, wo er immer lag. Es war nicht Vaenö, das Glaenö holte, es war Seeland, das mit langen Deicharmen zugriff und mit dem Atem der Pumpen blies und die Zauberworte sprach, das Vermählungswort, und Seeland erhielt viele Morgen Land als Brautgabe. Das ist Wahrheit, das ist wirklich, du kannst es sehen, statt es zu hören, die Insel Glaenö ist verschwunden.

Hans Christian Andersen – Vogel Phönix

Hans Christian Andersen

Vogel Phönix
Im Garten des Paradieses, unter dem Baume der Erkenntnis, stand ein Rosenstrauch. Hier, in der ersten Rose, wurde ein Vogel geboren, dessen Flug war wie der des Lichts, herrlich war seine Farbe und herrlich sein Gesang.
Als aber Eva die Frucht der Erkenntnis brach und sie und Adam aus dem Garten des Paradieses gejagt wurden, fiel vom flammenden Schwerte des strafenden Engels ein Funken in das Nest des Vogels und zündete es an. Der Vogel starb in den Flammen, aber aus dem glühenden Ei flog ein neuer, der einzige, der stets einzige Vogel Phönix. Die Sage meldet, daß er in Arabien nistet und sich selbst jedes hundertste Jahr in seinem Neste verbrennt, und ein neuer Phönix, wieder der einzige in der Welt, fliegt aus dem glühenden Ei empor.
Der Vogel umflattert uns, schnell wie das Licht, herrlich von Farbe und herrlich klingt sein wundersamer Sang. Wenn die Mutter an der Wiege ihres Kindes sitzt, schwebt er über dem Kopfkissen und weht mit den Flügeln einen Glorienschein um des Kindes Haupt. Er fliegt durch die Stuben der Genügsamkeit, und Sonnenglanz breitet sich darüber und die ärmliche Kommode duftet nach Veilchen.
Doch der Vogel Phönix ist nicht allein der Vogel Arabiens. Er flattert im Nordlichtschein über die Eisfelder Lapplands, er hüpft zwischen den gelbenBlumen in Grönlands kurzem Sommer. Über Faluns Kupferfelsen ist er zu sehen und in Englands Kohlengruben. Er huscht wie eine gepuderte Motte hin über das Gesangbuch in des frommen Arbeiters Händen. Er segelt auf dem Lotosblatt mit den heiligen Fluten des Ganges hinab und des Hindumädchens Augen leuchten bei seinem Anblick.
Vogel Phönix, kennst Du ihn nicht? Den Vogel des Paradieses, des Gesanges heiligen Schwan. Auf dem Tespiskarren saß er wie ein geschwätziger Rabe und schlug mit den schwarzen, hefetriefendenFlügeln. Über Islands Sängerharfe glitt des Schwanes roter, klingender Schnabel; auf Shakespeares Schultern saß er wie Odins Rabe und flüsterte ihm ins Ohr: Unsterblichkeit. Beim Sängerfeste flog er durch der Wartburg Rittersaal.
Vogel Phönix Kennst Du ihn nicht? Er sang Dir die Marsallaise vor, und Du küßtest die Feder, die aus seiner Schwinge fiel. Im Paradiesesglanze kam er, und Du wandtest Dich vielleicht fort und dem Sperling zu, der mit Schaumgold auf den Flügeln dasaß.
O, Du Vogel des Paradieses, in jedem Jahrhundert erneut, in Flammen geboren, in Flammen gestorben, Dein Bild hängt in Gold gefaßt in den Sälen der Reichen und selbst fliegst Du verirrt und einsam -eine Sage nur: Vogel Phönix in Arabien!
Im Garten des Paradieses, da Du geboren wurdest unter dem Baume der Erkenntnis in der ersten Rose, küßte Dich Gott und gab Dir Deinen rechten Namen „-Poesie.

Hans Christian Andersen – Von einem Fenster im Vartou

Hans Christian Andersen

Von einem Fenster im Vartou
Nach dem grünen Walle hinaus, der sich rings um Kopenhagen zieht, liegt ein großes rotes Haus mit vielen Fenstern, in denen Balsaminen und Ambrabäumchen wachsen; innen sieht es ärmlich aus und armes, altes Volk wohnt dort. Es ist das Vartou, das Armenhaus.
Sieh, oben lehnt sich eine alte Jungfer gegen den Fensterrahmen. Sie pflückt ein welkes Blatt von der Balsamine und sieht auf den grünen Wall hinaus, wo lustige Kinder sich tummeln. Woran denkt sie? Ein Lebensschicksal zieht an ihr vorüber.
Die ärmlichen Kleinen, wie glücklich sie spielen! Welch rote Wangen, welch strahlende Augen haben sie, aber an den Beinchen nicht Schuhe noch Strümpfe. Sie tanzen auf dem grünen Walle, von dem die Sage erzählt, daß man vor vielen, vielen Jahren, als die Erde unter dem Wall immer wieder fortsank, ein unschuldiges Kind mit Blumen und Spielzeug in ein offenes Grab lockte, das zugemauert wurde, während die Kleine spielte und aß. Von diesem Tage an lag der Wall fest und trug bald einen üppig grünenden Rasen. Die Kleinen kannten die Sage nicht, sonst würden sie das Kind noch immer weinen hören unter der Erde, und der Tau auf dem Grase würde ihnen wie brennende Tränen erscheinen. Sie kannten nicht die Geschichte von Dänemarks König, der, als der Feind draußen lag, hier vorbeiritt und schwor, er wolle eher sterben als sich ergeben. Da kamen die Männer und Frauen der Stadt und gossen kochendes Wasser über die weißgekleideten Feinde, die im Schnee die äußere Wallseite erkletterten.
Lustig spielen die armen Kleinen.
Spiele, Du kleines Mädchen. Bald kommen die Jahre, die schönen, glücklichen Jahre; die Konfirmanden spazieren Hand in Hand, Du gehst im weißen Kleide. Es hat Deine Mutter genug gekostet, ob es auch aus einem größeren alten zurechtgenäht wurde. Du bekommst einen roten Schal, der fast nachschleppt, so lang ist er; aber so kann man doch sehen, wie groß er ist, wie allzugroß. Du denkst an Deinen Staat und an den lieben Gott. Herrlich ist so eine Wanderung auf dem Walle. Und die Jahre vergehen und manch trüber Tag, Du aber hast Deinen frischen Jugendsinn. Und dann bekommst Du einen Freund, kaum weißt Du es selbst. Ihr begegnet Euch; Ihr wandert auf dem Walle im zeitigen Frühjahr, wenn alle Kirchenglocken den Bußtag einläuten. Noch sind dort keine Veilchen zu finden, aber draußen vor dem Rosenburg-Schloß steht ein Baum mit den ersten grünen Knospen, da steht Ihr stille. Jedes Jahr treibt der Baum neues Grün, doch nicht das Herz in der Menschenbrust. Mehr dunkle Wolken streifen darüber hin, als der Norden kennt. Armes Kind! Deines Bräutigams Brautkammer ist der Sarg, und Du wirst eine alte Jungfer; vom Vartou siehst Du hinter Balsaminen auf die spielenden Kinder herab, siehst Dein Schicksal sich wiederholen.
Dies ist das Lebensschicksal, das vor der alten Jungfer vorüberzieht, die auf den Wall hinausblickt, wo die Kinder mit roten Wangen und ohne Strümpfe und Schuhe jubeln, wie all die andern Vögel des Himmels.