Hans Christian Andersen – Ib und die kleine Christine

Hans Christian Andersen

Ib und die kleine Christine

Bei Gudenaa, im Walde von Silkeborg, erhebt sich wie ein großer Wall ein Landrücken und am Fuße dieses Landrückens nach Westen zu, lag und liegt noch heute ein kleines Bauernhaus mit einigen mageren Feldern; der Sand schimmerte allerorten unter dem dünnen Roggen-und Gerstenboden hervor.
Es sind nun ein gut Teil Jahre vergangen seitdem. Die Leute, die hier wohnten, bebauten ihren kleinen Acker und hielten drei Schafe, ein Schwein und zwei Ochsen; kurz gesagt, sie konnten recht wohl davon leben, wenn sie bescheidene Ansprüche stellten. Ja, sie hätten es wohl auch dazu bringen können, ein paar Pferde zu halten; aber sie sagten wie die anderen Bauern auch: „Das Pferd frißt sich selbst auf.“ -Es zehrt das Gute, was es schafft, reichlich wieder auf. Jeppe-Jäns beackerte sein kleines Feld im Sommer selbst und während des Winters war er ein flinker Holzschuhmacher. Dazu hatte er auch einen Gehülfen, einen Knecht, der es verstand, die Holzschuhe zurechtzuschneiden, so daß sie sowohl fest, als auch leicht und wohlgeformt waren. Löffel und Schuhe schnitzten sie, das brachte Geld; man konnte Jeppe-Jäns nicht zu den armen Leuten zählen.
Der kleine Ib, ein siebenjähriger Knabe, das einzige Kind des Hauses, saß dabei und sah zu, er schnitzte an einem Stecken, schnitt sich auch wohl in den Finger; aber eines Tages hatte er zwei Stücken Holz zurechtgeschnitzt, die kleinen Schuhen gleich sahen. Sie sollten, so sagte er, der kleinen Christine geschenkt werden; das war des Schiffers kleine Tochter. Sie war fein und zart wie vornehmer Leute Kind. Hätte sie Kleider gehabt, die ihrer lieblichen Erscheinung angemessen waren, so hätte niemand geglaubt, daß sie aus dem Torfhaus in der Seiser Heide stamme. Dort drüben wohnte ihr Vater. Er war Witwer und ernährte sich damit, aus dem Walde Brennholz nach Silkeborg, ja, oft noch weiter hinauf zu schiffen. Er hatte niemand, der auf die kleine Christine, die ein Jahr jünger als Ib war, geachtet hätte, und so war sie fast immer bei ihm auf dem Kahn oder zwischen dem Heidekraut und den Preißelbeerbüschen; und ging es einmal ganz bis nach Randers hinauf, so kam die kleine Christine zu Jeppe-Jäns hinüber.
Ib und die kleine Christine vertrieben sich prächtig die Zeit mit spielen und essen. Sie wühlten und gruben, sie krochen und liefen, und eines Tages wagten sich die beiden allein gar auf den Landrücken und ein Stück in den Wald hinein. Dort fanden sie Schnepfeneier; das war eine große Begebenheit.
Ib war bisher noch niemals aus der Seiser Heide fortgewesen, niemals war er durch die Seen geschifft bis nach Gudenaa aber nun sollte es geschehen; der Schiffer hatte ihn eingeladen, und am Abend vorher kam er mit zu des Schiffers Hause.
Auf den hochaufgestapelten Brennholzstücken im Schiffe saßen die Kinder schon am frühen Morgen und aßen Brot und Himbeeren. Der Schiffer und sein Knecht schoben sich mit ihren Staken vorwärts; es ging mit dem Strome in rascher Fahrt den Fluß hinab, durch Seen, die ganz von Wald und Schilf umschlossen schienen; aber zuletzt fand sich doch immer eine Durchfahrt, ob auch die alten Bäume sich tief zu ihnen niederbogen unddie Eichen ihre trockenen Äste ihnen entgegenstreckten, als hätten sie dieÄrmel hochgestreift, um ihre nackten, knorrigen Arme zu zeigen. Alte Erlen, die der Strom vom Ufer gelöst hatte, hielten sich mit den Wurzeln am Boden fest und sahen wie kleine Waldinseln aus. Die Seerosen wiegten sich auf dem Wasser; es war eine herrliche Fahrt. -Und dann kam man zu der Aalfangstätte, wo das Wasser durch die Schleusen brauste. Das war etwas für Ib und die kleine Christine zum Schauen.
Damals war dort unten weder Fabrik noch Stadt, es stand dort nur das alte Gehöft mit dem Stauwerk, und die Besetzung war nicht stark. Der Fall des Wassers durch die Schleusen und der Schrei der Wildente waren damals fast die einzigen Laute, die das Schweigen der Natur unterbrachen. Als nun das Holz ausgeladen war, kaufte Christines Vater sich ein großes Bund Aale und ein kleines geschlachtetes Ferkel, und alles zusammen wurde in einen Korb hinten auf dem Schiffe verstaut. Nun ging es stromaufwärts heim; aber der Wind kam von hinten, und als sie das Segel aufgesetzt hatten, ging es ebensogut, als hätten sie zwei Pferde vorgespannt.
Als sie mit dem Kahn bis an die Stelle im Walde gelangt waren, von wo der Knecht nur ein kurzes Stückchen zu laufen hatte, um zu seinem Hause zu kommen, gingen er und Christines Vater an Land, nachdem den Kindern anbefohlen war, sich ruhig und vorsichtig zu verhalten. Das taten sie jedoch nicht lange; sie mußten in den Korb gucken, in dem die Aale und das Ferkel aufbewahrt waren, und das Schwein mußten sie herausnehmen und wollten es halten, und da beide es halten wollten, ließen sie es fallen, und zwar gerade ins Wasser. Da trieb es mit dem Strome dahin, es war ein schreckliches Ereignis. Ib sprang ans Land und lief ein kleines Stückchen am Ufer entlang, dann kam auch Christine. „Nimm mich mit“ rief sie und bald waren sie im Gebüsch verschwunden. Der Kahn und der Fluß waren nicht mehr zu sehen; ein kleines Stück liefen sie noch weiter, dann fiel Christine und weinte; Ib hob sie auf.
„Komm nur mit“ sagte er. „Das Haus liegt dort drüben!“ Aber es lag nicht dort drüben. Sie gingen weiter und weiter über welkes Laub und dürre abgefallene Zweige, die unter ihren kleinen Füßen knackten. Nun hörten sie ein starkes Rufen -sie standen still und lauschten; ein Adler schrie, es war ein häßlicher Schrei, und sie erschraken heftig. Aber vor ihnen im Walde wuchsen die prächtigsten Blaubeeren, eine ganz unglaubliche Menge; es war allzu einladend, um nicht zu verweilen, und sie blieben und aßen und wurden ganz blau um Mund und Wangen. Nun hörten sie wieder einen Ruf.
„Wir bekommen Schläge für das Ferkel“ sagte Christine.
„Laß uns zu mir nachhause gehen“ sagte Ib, „Das muß hier im Walde sein.“ Und sie gingen und kamen auf einen Fahrweg, aber heim führte er nicht; es wurde dunkel und sie fürchteten sich. Die seltsame Stille ringsum wurde von dem dumpfen Schrei der Horneulen und anderen unbekannten Vogellauten unterbrochen. Endlich saßen beide in einem Busche fest; Christine weinte und Ib, weinte, und als sie beide wohl eine Stunde geweint hatten, legten sie sich ins Laub und schliefen ein.
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie erwachten. Sie froren, aber dicht dabei auf dem Hügel oben schien die Sonne zwischen den Bäumen hindurch, dort konnten sie sich wärmen und von dort aus, meinte Ib, müßten sie auch ihrer Eltern Haus erblicken können. Aber sie waren weit davon entfernt in einem ganz anderen Teil des Waldes. Sie kletterten den Hügel ganz hinauf und standen nun vor einem Abhang an einem klaren, durchsichtigen See, in dem es von Fischen wimmelte, die in der hellen Sonne blitzten. Was sie sahen, war so unerwartet, und dicht daneben stand auch ein großer Busch voller Nüsse; und sie pflückten und knackten und aßen die feinen Kerne, die eben in der Bildung begriffenwaren -und dann kam noch eine Überraschung, ein Schrecken. Aus den Büschen hervor trat ein großes, altes Weib, deren Antlitz braun und deren Haare glänzend und schwarz waren; das Weiße in ihren Augen leuchtete wie bei einem Mohren. Sie hatte ein Bündel auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand; es war eine Zigeunerin. Die Kinder verstanden nicht gleich, was sie sagte. Da nahm sie drei große Nüsse aus ihrer Tasche, in einer jeden lägen die herrlichsten Dinge versteckt, erzählte sie, es seien Wünschelnüsse. Ib sah sie an, sie war so freundlich, und dann faßte er sich ein Herz und fragte, ob er die Nüsse haben dürfe, und das Weib gab sie ihm und pflückte sich eine ganze Tasche voll Nüsse von dem Busch.
Und Ib und Christine saßen mit großen Augen und sahen die drei Wünschelnüsse an.
„Ist in dieser ein Wagen mit Pferden davor?“ fragte Ib.
„Es ist sogar ein goldener Wagen mit goldenen Pferden“ sagte das Weib.
„Dann gib sie mir“ sagte die kleine Christine, und Ib gab sie ihr, während die Frau die Nüsse in ihr Halstuch knüpfte.
„Ist in dieser hier, so ein hübsches kleines Halstuch, wie Christine es hat?“ fragte Ib.
„Es sind zehn Halstücher darin“ sagte das Weib, „auch feine Kleider und Strümpfe und ein Hut.“
„Dann will ich sie auch haben“ sagte Christine, und der kleine Ib gab ihr auch die andere Nuß; die dritte war eine kleine schwarze.
„Die kannst Du behalten!“ sagte Christine,“ sie ist ja auch ganz hübsch.“
„Und was ist in dieser?“ fragte Ib.
„Das allerbeste für Dich“ sagte das Zigeunerweib.
Und Ib hielt die Nuß fest. Das Weib versprach ihnen, sie auf den rechten Weg nach Hause zu führen, und sie gingen, aber freilich gerade in entgegengesetzter Richtung, als sie hätten gehen müssen. Aber deshalb darf man sie noch nicht beschuldigen, daß sie es darauf anlegte, Kinder zu stehlen.
Mitten im dichten Walde trafen sie den Waldläufer Chrän, der Ib kannte, und durch ihn wurden Ib und die kleine Christine wieder nach Hause gebracht, wo man in großer Angst um sie war. Aber es wurde ihnen verziehen, obwohl sie beide tüchtig die Rute verdient hätten, einmal weil sie das Ferkel hatten ins Wasser fallen lassen, und sodann, weil sie davongelaufen waren.
Christine kam heim in die Heide, und Ib blieb in dem kleinen Waldhaus. Das erste, was er dort am Abend tat, war, daß er die Nuß hervorholte, die das „Allerbeste“ enthielt. -Er legte sie zwischen Tür und Türrahmen, klemmte dann zu und die Nuß knackte. Aber nicht einmal ein Kern war darin. Sie war mit einer Art Schnupftabak oder Torferde gefüllt; sie hatte den Wurmstich, wie man es nennt. „Ja, das hätte ich mir wohl denken können!“ meinte Ib. „Wo sollte auch in der kleinen Nuß Platz für das Allerbeste sein. Christine bekommt ihre feinen Kleider oder die goldene Kutsche auch nicht zu sehen aus ihren zwei Nüssen.“
Und der Winter kam und das neue Jahr kam.
Es vergingen mehrere Jahre. Ib sollte Konfirmationsunterricht beim Pfarrer haben, und der wohnte weit entfernt. In jener Zeit kam eines Tages der Schiffer und erzählte bei Ibs Eltern, daß die kleine Christine nun aus dem Hause solle, um ihr Brot zu verdienen. Es sei ein wahres Glück für sie, daß sie in gute Hände käme, sie habe bereits eine Stellung bei recht braven Leuten. Sie solle zu den reichen Krugwirtsleuten in Herning, das weiter nach Westen lag, ziehen. Dort solle sie der Hausfrau zur Hand gehen und später, wenn sie sich schickte und eingesegnet war, wollten sie sie behalten.
Ib, und Christine nahmen Abschied voneinander; sie wurden jetzt als versprochen angesehen. Sie zeigte ihm beim Abschied, daß sie noch immer die beiden Nüsse habe, die sie damals von ihm bekommen hatte, als sie verirrt im Walde umherliefen; sie sagte auch, daß sie in ihrer Wäschekiste die kleinen Holzschuhe aufbewahrte, die er als Knabe geschnitzt und ihr geschenkt hätte. Dann schieden sie.
Ib wurde eingesegnet, aber er blieb in seiner Mutter Haus; denn er war ein geschickter Holzschuhmacher und bearbeitete auch im Sommer das kleine Ackerfeld, daß es aufs beste gedieh. Seine Mutter hatte nur noch ihn, Ibs Vater war tot.
Nur selten, und dann durch einen Postboten oder durch einen Aalhändler, hörte man von Christine. Es ging ihr gut bei dem reichen Krugwirte, und als sie eingesegnet war, schrieb sie an ihren Vater einen Brief mit einem Gruße auch an Ib und seine Mutter. Im Briefe stand noch von sechs neuen Hemden und einem herrlichen Kleid, das Christine von ihrer Herrschaft bekommen hatte. Das waren wirklich gute Nachrichten.
Im nächsten Frühjahr, an einem schönen Tage, klopfte es an Ibs und seiner Mutter Tür. Es war der Schiffer mit Christine. Sie war für einen Tag zu Besuch gekommen. Es hatte sich gerade Gelegenheit zu einer Fahrt bis in die Nähe und wieder zurück geboten, und die hatte sie benützt. Sie war hübsch und sah wie ein feines Fräulein aus. Und schöne Kleider hatte sie an, die gut gearbeitet waren und zu ihr paßten. Da stand sie nun in ihrem vollen Staat, und Ib war in seiner alten Werktagskleidung. Er konnte gar keine Worte finden. Wohl nahm er ihre Hand, hielt sie fest und war so herzlich froh, aber den Mund konnte er nicht gebrauchen. Dafür konnte es die kleine Christine um so besser, und sie sprach und hatte so viel zu erzählen und küßte Ib mitten auf den Mund.
„Kennst Du mich auch wieder?“ fragte sie. Aber selbst als sie beide allein waren und er noch immer mit ihrer Hand in der, seinen stand, war alles, was er sagen konnte: „Du bist ja eine feine Dame geworden! Und ich sehe so armselig dagegen aus. Wie oft ich an Dich gedacht habe. An Dich und die alten Zeiten.“
Und dann gingen sie Arm in Arm den Hügel hinauf und schauten über Gudenaa nach der Seiser Heide mit den großen Heidehügeln hin, aber Ib sagte nichts. Doch als sie sich trennten, war er sich darüber klar geworden, daß sie seine Frau werden müsse; sie waren ja von klein auf Liebesleute genannt worden und waren, so schien es ihm, ein verlobtes Paar, obgleich keines von ihnen selbst es gesagt hatte.
Nur einige Stunden noch konnten sie zusammen sein, denn sie mußte wieder dorthin, von wo am nächsten Morgen der Wagen abfuhr. Der Vater und Ib begleiteten sie. Es war heller Mondschein und als sie angekommen waren, hielt Ib, noch immer ihre Hand und konnte sie nicht loslassen. In seinen Augen stand sein ganzes Herz geschrieben, aber die Worte fielen nur spärlich, doch jedes einzige kam aus innerstem Herzen: „Wenn Du Dich nicht zu fein gewöhnt hast,“ sagte er, „und Du könntest Dir denken, in unserer Mutter Haus mit mir als Deinem Ehemann zu leben, dann werden wir beiden einmal Mann und Frau -aber wir können ja noch ein wenig warten!“
„Ja, laß uns die Zeit abwarten, Ib!“ sagte sie; und dann drückte sie seine Hand und er küßte sie auf den Mund. „Ich vertraue auf Dich, Ib!“ sagte Christine, „und ich glaube, daß ich Dich lieb habe! Aber laß es mich beschlafen!“
Dann schieden sie. Ib sagte zu dem Schiffer, daß er und Christine nun so gut wie verlobt seien, und der Schiffer fand, daß es so wäre, wie er es sich gedacht bebe; und er ging mit Ib nach Hause und schlief dort in einem Bett mit ihm, und es wurde über die Verlobung nicht mehr gesprochen.
Ein Jahr war darüber vergangen; zwei Briefe waren zwischen Ib, und Christine gewechselt worden; „Treu bis zum Tode!“ stand als Unterschrift darin. Eines Tages trat der Schiffer zu Ib herein, er brachte ihm einen Gruß von Christine; was er weiter zu sagen hatte, ging ihm ein wenig schwer von der Zunge, aber es war daraus zu entnehmen, daß es Christine wohl gehe, mehr als wohl sogar, sie wäre ja ein hübsches Mädchen und geachtet und beliebt. Des Krugwirts Sohn wäre zu einem Besuch zu Hause gewesen; er wäre in Kopenhagen in einem Kontor beschäftigt und habe dort eine große Stellung. Er möge Christine wohl leiden und sie fände ihn auch nach ihrem Sinn, seine Eltern wären ebenfalls nicht dagegen, aber es lag doch Christine schwer auf dem Herzen, daß wohl Ib noch immer an sie dächte, und so hätte sie beschlossen, das Glück von sich zu stoßen, sagte der Schiffer.
Ib sagte zuerst kein Wort, aber er wurde so weiß wie ein leinenes Tuch; dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Christine darf ihr Glück nicht von sich stoßen!“
„Schreibe ihr das in ein paar Worten!“ sagte der Schiffer.
Und Ib schrieb, aber er konnte nicht recht die Worte setzen, wie er wollte und strich durch und zerriß, aber am Morgen war ein Brief an die kleine Christine zustande gebracht, und hier ist er.
„Den Brief an Deinen Vater habe ich gelesen und sehe daraus, daß es Dir in jeder Beziehung wohl geht und Du es noch besser haben könntest! Frage Dein Herz, Christine! und bedenke wohl, was Deiner wartet, wenn Du mich nimmst! Was mein ist, ist nur geringe. Denke nicht an mich und wie ich es tragen werde, denke nur an Deinen eigenen Nutzen. An mich bist Du durch kein Versprechen gebunden, und hast Du mir in Deinem Herzen eins gegeben, so löse ich Dich davon. Alles Glück der Welt sei mit Dir, kleine Christine. Der liebe Gott wird wohl auch für mein Herz Trost wissen.
Immer Dein aufrichtiger Freund
Ib.“
Und der Brief wurde abgesandt und Christine bekam ihn.
Um Martini wurde sie in der Kirche in der Seiser Heide und in Kopenhagen, wo der Bräutigam war, aufgeboten, und dorthin reiste sie mit ihrer Schwiegermutter, da der Bräutigam wegen seiner vielen Geschäfte nicht so weit fortreisen konnte. Christine war, wie verabredet, mit ihrem Vater in einem kleinen Dorfe, das auf ihrem Wege lag, zusammengetroffen; dort nahmen sie voneinander Abschied. Es fielen darüber ein paar Worte, aber Ib sagte nichts dazu, er wäre so nachdenklich geworden, sagte seine alte Mutter. Ja, nachdenklich war er, und deshalb kamen ihm auch die drei Nüsse nicht aus dem Sinn, die er als Kind von der Zigeunerin bekommen und von denen er zwei Christine abgegeben hatte. Es waren wirklich Wünschelnüsse gewesen. In den ihren hatten ja ein goldener Wagen und Pferde und schöne Kleider gelegen; es traf bei ihr zu. All diese Herrlichkeiten sollte sie nun drüben in Kopenhagen haben! Bei ihr ging es in Erfüllung. -Für Ib war in der Nuß nur der schwarze Staub. „Das Allerbeste“ für ihn, hatte das Zigeunerweib zu ihm gesagt, -ja, auch das ging in Erfüllung. Der schwarze Staub war für ihn das Beste. Nun verstand er deutlich, was das Weib damit gemeint hatte: die schwarze Erde, des Grabes Stille waren für ihn das Allerbeste. Und es vergingen Jahre darüber -nicht viele, aber Ib, erschienen sie lang. Die alten Krugwirtsleute starben, einer kurz nach dem anderen; das ganze Vermögen, viele tausend Reichstaler, ging auf den Sohn über. Ja, nun konnte Christine wohl eine Kutsche und schöne Kleider bekommen!
Zwei lange Jahre hindurch, die nun folgten, kam kein Brief von Christine, und als dann der Vater einen bekam, war er nicht mehr in Wohlstand und Vergnügen geschrieben. Arme Christine! Weder sie noch ihr Mann hatten es verstanden, mit dem Reichtum Maß zu halten, er verging, wie er gekommen war, es ruhte kein Segen darauf; sie hatten es selbst so gewollt.
Die Heide stand in Blüte und die Heide verdorrte wieder. Der Schnee hatte manchen Winter über die Heide gefegt und über die Anhöhe, in deren Schutz Ib
wohnte. Die Frühjahrssonne schien und Ib ließ den Pflug durch die Erde ziehen. Da stieß er damit, wie es ihm schien, an einen Feuerstein. Es kam ein großer, schwarzer Hobelspan über die Erde hervor, und als Ib ihn in die Hand nahm, fühlte er, daß er von Metall war, und an der Stelle, wo der Pflug daran geschlagen war, blitzte es blank. Es war ein schwerer goldener Armring aus dem heidnischen Altertum. Ein Hünengrab war hier geebnet worden und sein kostbarer Schmuck gefunden. Ib zeigte ihn dem Pfarrer, der ihm sagte, was das für ein herrliches und wertvolles Stück sei, und von ihm ging Ib, zum Landrat, der darüber nach Kopenhagen berichtete und Ib, anriet, den kostbaren Fund selbst zu überbringen.
„Du hast in der Erde das Köstlichste gefunden, was sie Dir zu geben vermag!“ sagte ihm der Landrat.
„Das Beste“ dachte Ib, „Das Allerbeste für mich -in der Erde. Dann hatte das Zigeunerweib also auch mit mir recht, wenn dies das Beste war.“
Und Ib, fuhr mit der Fähre von Aarhuus nach Kopenhagen; es war für ihn, der bisher nur nach Gudenaa hinübergekommen war, wie eine Reise übers Weltmeer. Und er kam nach Kopenhagen.
Der Wert des gefundenen Goldes wurde ihm ausbezahlt; es war eine große Summe, sechshundert Reichstaler. Da wanderte nun Ib, aus dem Walde bei der Seiser Heide-in dem großen, lärmenden Kopenhagen umher.
Es war gerade an dem Abend, als er mit einem Schiffer wieder nach Aarhuus zurückfahren wollte, als er sich in den Straßen verirrte und in eine ganz andere Richtung geriete als er eigentlich wollte. Er war über die Knippelsbrücke nach Christianshafen gekommen anstatt zum Walle beim Westtor. Er war ganz richtig nach Westen gesteuert, aber nicht dorthin, wohin er sollte. Nicht ein Mensch war in den Straßen zu sehen. Da kam ein ganz kleines Mädchen aus einem der ärmlichen Häuser. Ib fragte sie nach dem Wege und die Kleine blickte auf. Da sah er, daß sie heftig weinte. Nun fragte er sie, was ihr fehle; sie sagte etwas, was er nicht verstand, und als sie beide unter eine Laterne kamen, deren Schein ihr Gesichtchen beleuchtete, wurde es ihm ganz wunderlich zumute; denn es war leibhaftig die kleine Christine, die da vor ihm stand, ganz wie er sich ihrer erinnerte, als sie beide noch Kinder waren.
Und er ging mit dem kleinen Mädchen in das ärmliche Haus, die schmale, ausgetretene Treppe hinauf bis zu einer kleinen, verkommenen Kammer hoch oben unter dem Dache. Es war eine schwere stickige Luft darin, kein Licht war entzündet, und in einer Ecke seufzte es und mühsame Atemzüge drangen daraus hervor. Ib strich ein Zündholz an. Es war die Mutter des Kindes, die in dem ärmlichen Bette lag.
„Kann ich Euch mit irgendetwas helfen?“ sagte Ib. „Die Kleine hat mich auf der Straße getroffen, aber ich bin selbst fremd hier in der Stadt. Ist hier kein Nachbar oder irgend jemand, den ich Euch rufen könnte?“ -Und er richtete ihr Haupt in die Höhe.
Es war Christine aus der Seiser Heide.
Jahre hindurch war ihr Name daheim in Jütland nicht mehr genannt worden, es würde Ibs stillen Gedankengang aufgerührt haben, und es war ja auch nichts Gutes, was Gerücht und Wahrheit meldeten, daß das viele Geld, das ihr Mann von seinen Eltern geerbt hatte, ihn übermütig und leichtlebig gemacht hätte. Er hatte seine feste Stellung aufgegeben und war ein halbes Jahr im Auslande umhergereist, dann kehrte er zurück, machte Schulden über Schulden, der Wagen neigte sich immer mehr und endlich stürzte er um. Seine vielen lustigen Tischfreunde sagten von ihm, es sei ihm nur nach Verdienst geschehen, er habe ja darauf los gelebt wie ein Narr. Eines Morgens war seine Leiche im Schloßkanal gefunden worden.
Nach seinem Tode ging Christine in sich; ihr jüngstes Kindchen, im Wohlstand empfangen, im Elend geboren, war, nur einige Wochen alt, gestorben und ruhte im Grabe, und jetzt war es mit Christine so weit gekommen, daß sie todkrank und verlassen in einer elenden Kammer lag, so elend, wie sie es in ihren jungen Jahren in der Seiser Heide wohl hätte ertragen können; aber nun, da sie es besser gewöhnt war, fühlte sie ihr Elend doppelt. Es war ihr ältestes Kind, auch eine kleine Christine, die Not und Hunger mit ihr litt und die Ib zu ihr heraufgebracht hatte.
„Ich habe Angst für das arme Kind, wenn ich sterbe“ brachte sie seufzend hervor, „wo in aller Welt soll es dann hin.“ -Mehr konnte sie nicht sagen.
Ib brannte wieder ein Zündhölzchen an und fand einen Lichtstumpf, den er anzündete, nun fiel der trübe Lichtschein auf all das Elend in der Kammer.
Ib sah des kleine Mädchen an und dachte an Christine in ihren jungen Jahren. Um Christines willen konnte er ja an diesem Kinde, das er nicht kannte, Gutes tun. Die Sterbende sah ihn an, ihre Augen wurden größer und größer. -Erkannte sie ihn? Nie erfuhr er das, kein Wort mehr hörte er sie sprechen.
Es war im Walde bei Gudenaa in der Seiser Heide; die Luft war grau, die Heide stand ohne Blüten. Die Weststürme trieben das gelbe Laub der Wälder in den Fluß und über die Heide, wo das Torfhaus stand. Fremde Leute wohnten darin; aber am Fuße des Landrückens, im Schutze hoher Bäume, stand das kleine Haus, weiß und schmuck. Im Kachelofen in der Stube brannten Torfstücken, in der Stube hier war Sonnenschein, er strahlte aus zwei Kinderaugen, Frühling und Lerchengezwitscher klangen aus dem roten, lachenden Mund, Leben und Fröhlichkeit herrschten hier; es war die kleine Christine, die auf Ibs Knien saß. Ib war ihr Vater und Mutter, die beide von ihr gegangen waren, wie ein Traum vergeht. Ib saß in dem netten, reinlichen Hause, ein wohlhabender Mann; die Mutter des kleinen Mädchens lag auf dem Armenfriedhof in der Königstadt Kopenhagen.
Ib hatte Geld im Kasten, sagte man. Gold aus der Erde, und er hatte ja auch die kleine Christine.

Hans Christian Andersen – Im Entenhof

Hans Christian Andersen

Im Entenhof

Es kam eine Ente aus Portugal, einige sagten, aus Spanien, doch das bleibt sich gleich; genug, sie wurde die Portugiesin genannt, legte Eier, wurde geschlachtet und angerichtet -das war ihr Lebenslauf. Alle Enten, die aus ihren Eiern auskrochen, wurden später auch Portugiesin genannt, und das wollte schon etwas heißen. Jetzt war von der ganzen Familie nur noch eine im Entenhof, einem Hof, zu dem auch die Hühner Zutritt haben und in dem der Hahn mit viel Hochmut auftrat.
„Er ärgert mich durch sein lautes Krähen“, sagte die Portugiesin. „Aber bübisch ist er, das ist nicht zu leugnen, wenn er auch kein Enterich ist. Er sollte sich mäßigen, aber das ist eine Kunst, die von höherer Bildung zeugt, die haben bloß die kleinen Singvögel, drüben im Nachbargarten, in den Linden. Wie lieblich sie singen! Es liegt so etwas Rührendes in ihrem Gesang, ich nenne es Portugal! Hätte ich nur solch einen kleinen Singvogel, ich würde ihm eine Muter sein, lieb und gut, das liegt mir im Blut, in meinem portugiesischen Blut!“
Und während sie noch so sprach, kam ein kleiner Singvogel kopfüber vom Dach herab in den Hof. Der Kater war hinter ihm her, aber der Vogel kam dessen ungeachtet mit einem gebrochenen Flügel davon, deshalb fiel er in den Entehof.
„Das sieht dem Kater ähnlich, er ist ein Bösewicht!“ sagte die Portugiesin; „ich kenne ihn noch von der Zeit her, wo ich Kinder hatte. Daß so ein Wesen leben und auf den Dächern umhergehen darf! Ich glaube nicht, daß dies in Portugal der Fall ist!“ Und sie bemitleidete den kleinen Singvogel, und die anderen Enten, die nicht portugiesischer Abkunft waren, bemitleideten ihn auch.
„Das kleine Tierchen!“ sagten sie, während eine nach der andern herankam. „Wir können zwar nicht singen“, sprachen sie, „aber wir haben den Resonanzboden, oder so etwas, innerlich, das fühlen wir, wenn wir auch nicht davon sprechen!“
„Ich aber werde davon sprechen!“ sagte die Portugiesin, „und ich will etwas für die Kleine tun, das ist Pflicht!“ und sie trat in den Wassertrog und schlug mit den Flügeln so in das Wasser, daß der kleine Singvogel in dem Bad, das er bekam, fast ertrank; aber es war gut gemeint. „Das ist „Piep!“ sagte der kleine Vogel, dem einer seiner Flügel gebrochen war und dem es schwer wurde, sich zu schütteln; aber er begriff sehr gut das wohlgemeinte Bad. „Sie sind herzensgut, Madame!“ sagte er, aber es verlange ihm nicht nach einem zweiten Bade.
„Ich habe nie über mein Herz nachgedacht; fuhr die Portugiesin fort, „aber das eine weiß ich, daß ich alle meine Mitgeschöpfe liebe; nur nicht den Kater, das kann aber auch niemand von mir verlangen. Er hat zwei der meinigen gefressen; doch tun Sie so, als seien Sie zu Hause, das kann man schon. Ich selber bin auch aus einer fremden Gegend, wie Sie schon aus meiner Haltung und meinem Federkleid ersehen werden; mein Enterich dagegen ist ein Eingeborener, er ist nicht von meinem Geblüt, aber ich bin nicht hochmütig! Versteht Sie jemand hier im Hof, so darf ich wohl sagen, daß ich es bin!“
„Sie hat Portulak im Magen!“ sagte ein kleines, gewöhnliches Entlein, das witzig war, und alle die andern gewöhnlichen Enten fanden das Wort Portulak ganz ausgezeichnet: es klang wie Portugal, und sie stießen sich an und sagen „Rapp“ Es war zu witzig! Und alle anderen Enten gaben sich dann mit dem kleinen Singvogel ab.
„Die Portugiesin hat zwar die Sprache mehr in ihrer Gewalt“, äußerten sie. „Was uns aber anbelangt, wir brüsten uns nicht so mit großen Worten im Schnabel; unsere Teilnahme jedoch ist ebenso groß. Tun wir nichts für Sie, so gehen wir still mit umher; und das finden wir am schönsten!“
„Sie haben eine liebliche Stimme!“ sagte eine der ältesten. „Es muß ein schönes Bewußtsein sein, so vielen Freude zu bereiten, wie Sie dieses zu tun vermögen. Ich verstehe mich freilich auf Ihren Gesang nicht, deshalb halte ich auch den Schnabel, und dies ist immer besser, als ihnen etwas Dummes zu sagen, wie dies gar viele andere tun!“
„Quäle ihn nicht so“, sagte die Portugiesin, „er bedarf der Ruhe und Pflege. Wünschen Sie, mein kleiner Singvogel, daß ich Ihnen wieder ein Bad bereite?“
„Ach nein, lassen sie mich trocken bleiben!“ bat er.
„Die Wasserkur ist die einzige, die mir hilft, wenn mir etwas fehlt“, antwortete die Portugiesin. „Zerstreuung ist auch etwas Gutes! Jetzt werden bald die Nachbarhühner ankommen und Visite machen, unter ihnen befinden sich auch zwei Chinesinnen; diese haben Höschen an, besitzen viel Bildung und sind importiert; deshalb stehen sie höher in „Sie sind ein wirklicher Singvogel“, sprach er, „und Sie machen aus Ihrer kleinen Stimme alles, was aus so einer kleinen Stimme zu machen ist. Aber etwas mehr Lokomotive muß man haben, damit jeder hört,daß man männlichen Geschlechts ist.“
Die zwei Chinesinnen standen ganz entzückt da beim Anblick des Singvogels; er sah recht struppig aus von dem Bad, das er bekommen hatte, so daß es ihnen schien, er sehe fast wie ein chinesisches Küchlein aus. „Er ist reizend!“ sagten sie, ließen sich mit ihm in ein Gespräch ein und sprachen nur flüsternd und mit Pa-Lauten, d. h. in vornehmem Chinesisch, mit ihn.
„Wir sind von Ihrer Art“, führen sie fort. „Die Enten, selbst die Portugiesin, sind Schwimmvögel, wie Sie wohl bemerkt haben werden. Uns kennen Sie noch nicht; nur wenige kennen uns oder geben sich die Mühe, uns kennenzulernen; selbst von den Hühnern niemand, obwohl wir dazu geboren sind, auf einer höheren Sprosse zu sitzen als die meisten anderen; das kümmert uns aber nicht; wir gehen ruhig unseres Weges inmitten der anderen, deren Grundsätze nicht die unseren sind, denn wir beachten nur die guten Sitten und sprechen nur von dem Guten, obwohl es schwierig ist, da etwas zu finden, wo nichts ist. Außer uns beiden und dem Hahn gibt es im ganzen Hühnerhof niemanden, der talentvoll und zugleich honett ist! Das kann nicht einmal von den Bewohnern des Entenhofs gesagt werden. -Wir warnen Sie, kleiner Singvogel! Trauen Sie nicht der da mit den kurzen Schwanzfedern; sie ist hinterlistig. Die Bunte da, mit der schiefen Zeichnung auf den Flügeln, ist streitsüchtig und läßt keinem das letzte Wort, und obendrein hat sie noch immer unrecht. Die fette Ente dort spricht Böses über alle; dies ist unserer Natur zuwider; kann man nicht Gutes sprechen, so muß man den Schnabel halten. Die Portugiesin ist die einzige, die ein wenig Bildung hat und mit der man Umgang pflegen kann; aber sie ist leidenschaftlich und spricht zu viel von Portugal!“
„Was die beiden Chinesinnen nur immer zu flüstern haben!“ flüsterte sich ein Entenpaar zu, „mich langweilen sie, wir haben nie mit ihnen gesprochen“. Jetzt kam der Enterich herbei. Er glaubte, der Singvogel sei ein Spatz. „Ja ich kenne den Unterschied nicht“, sagte er, „und das ist auch einerlei! Er gehört zu den Spielwerken, und hat man sie, so hat man sie!“
„Legen Sie nur kein Gewicht auf das, was er sagt“, flüsterte die Portugiesin, „er ist in Geschäftssachen sehr respektabel, und Geschäfte Und sie legte sich nun in die Sonne und blinzelte mit einem Auge; sie lag sehr gut, war auch sehr gut und schließ außerdem sehr gut.
Der kleine Singvogel machte sich an seinem gebrochenen Flügel zu schaffen, endlich legte er sich auch hin und drückte sich eng an seine Beschützerin; die Sonne schien warm und herrlich, er hatte einen recht guten Ort gefunden.
Die Nachbarhühner dagegen waren wach, sie liefen umher und kratzten den Boden auf; im Grunde genommen hatten sie den Besuch einzig und allein nur gemacht, um Nahrung zu sich zu nehmen. Die Chinesinnen waren die ersten, die den Entenhof verließen, die anderen Hühner folgten ihnen bald darauf. Das witzige Entlein sagte von der Portugiesin, die Alte werde nun bald „entenkindisch“. Die anderen Enten lachten darüber, daß es nur so schnatterte. „Entenkindisch!“ flüsterten sie, „das ist zu witzig!“ Und sie wiederholten nun auch den ersten Witz: „Portulak!“ Das war zu amüsant, meinten sie, dann legten sie sich nieder.
Als sie eine Weile gelegen hatte, wurde plötzlich etwas zum Schnabulieren in den Entenhof geworfen; es kam mit einem solchen Klatsch herab, daß die ganze Besatzung aus dem Schlaf auffuhr und mit den Flügeln schlug; auch die Portugiesin erwachte, wälzte sich auf die andere Seite und quetschte dabei den kleinen Singvogel sehr unsanft.
„Piep“, sagte er. „Sie traten sehr hart auf, Madame!“
„Ja, warum liegen Sie mir auch im Weg!“ rief sie. „Sie dürfen nicht so empfindlich sein! Ich habe auch Nerven, aber ich habe noch niemals Piep gesagt!“ „Seien Sie nicht böse!“ sagte der kleine Vogel, “ das Piep fuhr mir unwillkürlich aus dem Schnabel.“
Die Portugiesin hörte nicht darauf, sondern führ schnell in das Fressen und hielt eine gute Mahlzeit. Als diese zu Ende war und sie sich wieder hinlegte, nahte sich ihr der kleine Singvogel und wollte liebenswürdig sein:
Tilleleleit! Von Herzen dein will ich singen fein, fliegen so weit, weit, weit!
„Jetzt will ich nach dem Essen ruhen!“ sprach die Portugiesin. „Sie müssen hier auf die Sitten des Hauses achten. Jetzt will ich schlafen!“ Der kleine Singvogel war ganz verdutzt, denn er hatte es gut gemeint. Als die Madame später erwachte, stand er vor ihr mit einem Körnchen, das er gefunden hatte; er legte es ihr zu Fußen; da sie aber nicht gut geschlafen hatte, war sie natürlich sehr schlechter Laune.
„Geben Sie das einem Küken!“ sagte sie; „Stehen Sie mir überhaupt hier nicht immer im Weg!“
„Warum zürnen Sie mir?“ antwortete das Vöglein. „Was habe ich gemacht?“
„Gemacht?“ fragte die Portugiesin, „dieser Ausdruck ist nicht gerade fein, darauf möchte ich Ihre Aufmerksamkeit lenken!“
„Gerstern war hier Sonnenschein“, sagte der kleine Vogel, „heute ist hier trübe und dicke Luft.“
„Sie wissen wohl wenig Bescheid mit der Zeitrechnung“, entgegnete die Portugiesin, „der Tag ist noch nicht zu Ende; stehen Sie nicht so dumm da!“
„Aber Sie sehen mich gerade so an wie die bösen Augen, als ich hier in den Hof herabfiel.“
„Unverschämter!“ sagte die Portugiesin; „vergleichen Sie mich mit dem Kater, dem Raubtier? Kein falscher Blutstropfen ist in mir; ich habe mich Ihrer angenommen und werde Ihnen gute Manieren beibringen!“
Und sofort biß sie dem Singvogel den Kopf ab; tot lag er da.
„Was ist nun das wieder?“ sagte sie, „das konnte er nicht vertragen! Ja, dann war er freilich auch nicht für diese Welt geschaffen. Ich bin ihm eine Mutter gewesen, das weiß ich, denn ein Herz habe ich.“
Da steckte des Nachbars Hahn seinen Kopf in den Hof hinein und krähte mit Lokomotivkraft.
„Sie bringen mich um mit Ihrem Krähen‘!“ rief sie. „Sie haben Schuld an allem; er hat den Kopf verloren, und ich bin nahe daran, ihn auch zu verlieren.“
„Da wo er hinfiel, liegt nicht viel'“, sagte der Hahn.
„Sprechen Sie mit Achtung von ihm!“ erwiderte die Portugiesin, „er hatte Ton, Gesang und hohe Bildung: Liebevoll war er und weich, und das schickt sich sowohl für die Tiere wie für die sogenannten Menschen.“
Und alle Enten drängten sich um den kleinen toten Singvogel. Die Enten haben starke Passionen, mögen sie nun Neid oder Mitleid fühlen, und da „Einen solchen Singvogel werden wir nimmer wieder bekommen; er war fast ein Chinese“, flüsterte sie, und dabei weinten sie, daß es gluckste, und alle Hühner glucksten, aber die Enten gingen mit roten Augen umher.
„Herz haben wir!“ sagten sie, „das kann uns niemand absprechen.“
„Herz!“ wiederholte die Portugiesin, „ja, das haben wir beinahe ebensoviel wie in Portugal!“
„Denken wir jetzt daran, etwas in den Magen zu bekommen!“ sagte der Enterich, „das ist das Wichtigste! Wenn auch eins von den Spielwerken entzwei geht, wir haben genug dergleichen!“

Hans Christian Andersen – Im Herzen bewahrt aber nicht vergessen

Hans Christian Andersen

Im Herzen bewahrt aber nicht vergessen

Es gab einmal ein altes Schloß mit morastigen Gräben und einer Zugbrücke. Sie war öfter aufgezogen wie hinabgelassen; nicht alle Gäste, die kommen, sind gut. Schießscharten und Löcher zogen sich unterm Dach entlang; durch die konnte man hinausschießen oder kochendes Wasser oder sogar geschmolzenes Blei auf den Feind herabschütten, wenn er zu nahe kam. Hoch waren die balkengedeckten Räume drinnen, und das war gut des vielen Rauches wegen, der aus dem Kaminfeuer hervorqualmte, das von nassen Holzklötzen unterhalten wurde. An der Wand hingen Bilder gepanzerter Männer und stolzer Frauen in schweren Kleidern. Die stolzeste von ihnen allen wandelte lebend im Schlosse umher; sie hieß Mette Mogens, sie war die Besitzerin des Schloßes.
Am Abend nahten Räuber; sie schlugen drei ihrer Leute tot, den Kettenhund ebenfalls, und darauf banden sie Fraun Mette mit der Hundekette an der Hundehütte fest, setzten sich selbst in die Halle und tranken den Wein aus ihrem Keller und all das gute Bier.
Frau Mette stand angebunden an der Hütte; sie konnte nicht einmal bellen.
Da kam ein junger Räuber; still hatte er sich hinabgeschlichen; es durfte nicht bemerkt werden, denn sonst hätten sie ihn erschlagen.
»Frau Mette Mogens!« sagte der Bursche, »kannst du dich dessen entsinnen, wie einst mein Vater zur Zeit deines Gatten auf dem hölzernen Pferde reiten mußte? Damals batest Du für ihn, wenn auch ohne Erfolg. Er sollte sich zum Krüppel sitzen. Aber du schlüpftest hinab, wie ich jetzt hinabgeschlüpft bin; selbst legtest du einen Stein unter jeden seiner Füße, um ihm einen Ruhepunkt zu verschaffen. Niemand sah es, oder sie stellten sich wenigstens alle, als ob sie es nicht sähen; warst du doch die junge, die gnädige Frau. Mein Vater hat es mir erzählt, und ich habe es in meinem Herzen bewahrt, aber nicht vergessen! Nun befreie ich Dich, Frau Mette Mogens!«
Darauf zogen sie Pferde aus dem Stalle und ritten in Regen und Sturm, um Freundeshilfe herbeizuholen.
»Das war eine reiche Bezahlung für den geringen Dienst, den ich dem Alten erwiesen habe!« sagte Mette Mogens. »Was im Herzen bewahrt ruht, ist darum noch nicht vergessen!« erwiderte der junge Mann.
Die Räuber wurden gehängt.
In einsamer Gegend lag ein altes Schloß; noch heute liegt es da; es war nicht jenes der Frau Mette Mogens, es gehörte einem anderen hochadeligen Geschlechte.
Die Geschichte spielt in unserer Zeit. Die Sonne scheint auf die vergoldeten Spitzen des Turmes. Kleine waldige Inseln liegen wie Blumensträuße auf dem Wasser, und ringsum schwimmen wilde Schwäne. Im Garten wachsen Rosen; die Schloßfrau ist selbst das feinste Rosenblatt, das in Freude erglänzt, in der Freude über eine gute Tat. Nicht nach außen, nicht in die Welt hinein fällt der Freudenstrahl, sondern tief in die Herzen dringt er hinein; in ihnen ruht er wohlverwahrt, aber nicht vergessen.
Nun kommt sie vom Schlosse und geht nach dem Tagelöhnerhäuschen auf dem Felde. Darin wohnt ein armes gelähmtes Mädchen; das Fenster des kleinen Stübchens liegt nach Norden; nie scheint die Sonne hinein; sie kann nur ein Stückchen Feld überschauen, das durch den hohen Grabenrand abgeschlossen wird. Aber heute ist Sonnenschein darin, Gottes warme schöne Sonne scheint hinein, sie kommt von Süden her durch das neue Fenster, wo vorher nur Mauer war. Die Gelähmte sitzt im warmen Sonnenschein, sieht Wald und Meeresufer, die Welt ist ihr so groß und schön geworden, und zwar durch ein freundliches Wort der freundlichen Schloßfrau.
»Das Wort war so leicht, die Tat so klein!« sagte sie, »aber die Freude, die ich empfand, war unendlich groß und segenbringend!«
Und deshalb übt sie soviel Gutes, denkt an alle in den armen Häusern und in den reichen, wo es ja auch Betrübte gibt. Es ist im Verborgenen und im Geheimen geübt; aber von Gott ist es nicht vergessen.
Ein altes Patrizierhaus liegt in der großen geschäftigen Stadt. Darin gab es Stuben und Säle; in sie treten wir nicht hinein, wir bleiben in der Küche. Warm und hell ist es da, rein und sauber. Das kupferne Geschirr ist spiegelblank, der Tisch wie poliert, der Gußstein wie ein frisch gescheuertes Küchenbrett. Eine einzige Magd hat das alles getan und doch noch soviel Zeit gefunden, sich rein anzuziehen, als wollte sie in die Kirche gehen. Sie hat eine Schleife an der Haube, eine schwarze Schleife; das deutet auf Trauer. Sie hat ja aber niemand, für den sie Trauer anlegen könnte, weder Vater noch Mutter, weder Verwandte noch einen Bräutigam; sie ist eine arme Magd. Einmal war sie verlobt, das war mit einem armen Mann; sie liebten einander innig. Eines Tages kam er zu ihr.
»Wir haben beide nichts!« sagte er; » die reiche Witwe drüben im Keller hat warme Worte zu mir gesprochen; sie will mich in Wohlstand versetzen, aber du allein lebst in meinem Herzen. Wozu rätst du mir?«
»Zu dem, wovon du glaubst, daß es Dein Glück ist!« sagte das Mädchen. »Sei gut und freundlich gegen sie; sei aber eingedenk, daß wir uns von der Stunde an, wo wir uns trennen, nicht wieder sehen dürfen!«
Darauf vergingen ein paar Jahre; eines Tages begegnete sie auf der Straße ihrem früheren Freunde und Bräutigam; er sah krank und elend aus; so daß sie sich nicht enthalten konnte, ihn zu fragen: »Wie geht es Dir?«
»Über die Maßen gut und auskömmlich!« erwiderte er, »die Frau ist gut und brav, aber du erfüllst mein Herz. Ich habe einen schweren Kampf gekämpft, bald ist er zu Ende! Erst vor Gottes Thron sehen wir uns wieder.«
Eine Woche ist vergangen, da stand diesen Morgen in der Zeitung, daß er gestorben wäre; deshalb trägt das Mädchen Trauer. Sein einstiger Bräutigam ist, wie dort zu lesen steht, von Frau und drei Stiefkindern durch den Tod geschieden, das klingt, als ob da ein Sprung wäre; und doch ist das Metall rein.
Die schwarze Schleife deutet die Trauer an; des Mädchens Antlitz deutet sie noch mehr an; im Herzen ruht sie verborgen, wird aber nie vergessen!

Hans Christian Andersen – Kinderschnack

Hans Christian Andersen

Kinderschnack

Drinnen bei dem reichen Kaufmann war eine Kindergesellschaft, reicher Leute Kinder und vornehmer Leute Kinder; der Kaufmann war ein gelehrter Mann, er hatte einst das Studentenexamen gemacht, dazu hatte ihn sein ehrlicher Vater angehalten, der von Anfang an nur Viehhändler gewesen wahr, aber ehrlich und betriebsam; der Handel hatte Geld gebracht, und die Gelder hatte der Kaufmann zu mehren gewußt, Klug war er, und Herz hatte er auch, aber von seinem Herzen wurde weniger gesprochen als von seinem vielen Geld. Bei dem Kaufmann gingen vornehmen Leute ein und aus, wohl Leute von Geblüt, wie es heißt, als von Geist, auch Leute, die beides hatten oder keines von beiden. Diesmal war eine Kindergesellschaft dort und Kindergeschwätz, und Kinder sprechen frei von der Leber weg. Unter anderem war dort ein wunderschönes kleines Mädchen, aber die Kleine war ganz entsetzlich stolz, das hatten die Dienstleute in sie geküßt, nicht die Eltern, denn dazu waren die gar zu vernünftige Leute, ihr Vater war Kammerjunker, und das ist was gar Großes, das wußte sie.
„Ich bin ein Kammerkind!“ sagte sie. Sie hätte nun ebensogut ein Kellerkind sein können, jeder kann selber dafür gleich viel; und dann erzählte sie den anderen Kindern, daß sie „geboren“ sei, und sagte, wenn man nicht geboren sei, könne man nichts werden; das nütze einem nichts, daß man lesen und fleißig sein wolle; wenn man nicht „geboren“ sei, könne man nichts werden. „Und diejenigen, deren Namen mit „sen“ endigen“, sagte sie, „aus denen kann nun ganz und gar nichts werden! Man muß die Arme in die Seite stemmen und sie recht weit fern von sich halten, diese ’sen! ’sen!“ Und dabei stemmte sie ihre wunderschönen kleinen Arme in die Seite und machte den Ellenbogen ganz spitz, um zuzeigen, wie man es machen sollte; und die Ärmchen waren gar niedlich. Es war ein recht süßes Mädchen.
Doch die kleine Tochter des Kaufmanns wurde bei dieser Rede gar zornig; ihr Vater hieß Petersen, und von dem Namen wußte sie, daß er auf „sen“ endigte, und deshalb sagte sie so stolz, wie sie konnte: „Aber mein Vater kann für hundert Taler Bonbons kaufen und sie unter die Kinder werfen! Kann dein Vater das?“
„Nein, aber mein Vater“, sagte das Töchterlein eines Schriftstellers, „kann deinen Vater und deinen Vater und alle Väter in die Zeitung setzen! Alle Menschen fürchten ihn, sagt meine Mutter, denn mein Vater ist es, der in der Zeitung regiert!“
Und das Töchterlein schaute gar stolz dabei aus, als wenn es eine wirkliche Prinzessin wäre, die stolz ausschauen muß.
Aber draußen vor der nur angelehnten Tür stand ein armer Knabe und blickte durch die Türspalte. Er war so gering, daß er nicht einmal mit in die Stube hinein durfte. Er hatte der Köchin den Bratspieß gedreht, und die hatte ihm nun erlaubt, hinter der Tür zu stehen und zu den geputzten Kindern, die sich einen vergnügten Tag machten, hineinzublicken, und das war für ihn recht viel.
„Wer doch einer von ihnen wäre!“ dachte er, und dabei hörte er, was gesprochen wurde, und das war nun freilich so, um recht mißmutig zu werden. Nicht einen Pfennig besaßen die Eltern zu Hause, den sie hätten zurücklegen können, um dafür eine Zeitung zu halten, geschweige denn eine solche zu schreiben, mitnichten! Und nun noch das Allerschlimmste: seines Vaters Name und also auch der seinige endigte ganz und gar auf „sen“, aus ihm konnte denn somit auch ganz und gar nichts werden. Das war zu traurig! Doch geboren war er, schien es ihm, so recht ordentlich geboren, das konnte doch unmöglich anders sein. Das war nun an diesem Abend.
Seitdem verstrichen viele Jahre, und währenddessen werden Kinder zu erwachsenen Menschen. In der Stadt stand ein prächtiges Haus, es war angefüllt mit lauter schönen Sachen und Schätzen, die Leute wollten es sehen, selbst Leute, die außerhalb der Stadt wohnten, kamen in die Stadt, um es zu sehen. Wer von den Kindern, von denen wir erzählt haben, mochte wohl jetzt dieses Haus das seinige nennen? Ja, das zu erraten, ist natürlich sehr leicht! Nein, nein, es ist doch nicht so sehr leicht. Das Haus gehörte dem kleinen, armen Knaben, der an jenem Abend hinter der Tür gestanden hatte; aus ihm wurde doch etwas, obgleich sein Name auf „sen“ endigte -Thorwaldsen.
Und die drei anderen Kinder? Die Kinder des Blutes, des Geldes und des Geisteshochmutes, ja, eins hat dem anderen nichts vorzuwerfen, sie sind gleiche Kinder -aus ihnen wurde alles Gute, die Natur hatte sie gut ausgestattet; was sie damals gedacht und gesprochen hatten, war eben nur Kinderschnack.

Hans Christian Andersen – Moorkönigs Tochter

Hans Christian Andersen

Moorkönigs Tochter
Die Störche erzählen ihren Jungen gar viele Märchen, und alle handeln von Sumpf und Moor; gewöhnlich sind sie dem Alter und Fassungsvermögen angepaßt. Die kleinsten sind schon entzückt, wenn man »Kribble, krabble, plurremurre« sagt, das finden sie sehr ergötzlich; aber die älteren wollen Geschichten mit tieferem Inhalt hören, am liebsten, wenn sie von der Familie handeln. Von den zwei ältesten und längsten Märchen, die sich bei den Störchen erhalten haben, kennen wir alle das eine, das von Moses, der von seiner Mutter in den Fluten des Nils ausgesetzt und von der Tochter des Königs gefunden wurde, eine gute Erziehung erhielt und ein großer Mann wurde, von dem man nicht einmal weiß, wo er begraben wurde. Aber das ist etwas ganz Alltägliches.
Das andere Märchen ist nicht so bekannt, vielleicht weil es mehr inländisch ist. Dies Märchen hat sich wohl tausend Jahre schon von Storchmutter zu Storchmutter übertragen, und jede hat es besser und besser erzählt, und wir erzählen es am allerbesten.
Das erste Storchpaar, das es erzählte und erlebt hatte, hatte seinen Sommersitz auf einem Wikingerblockhaus bei dem großen Wildmoor in Jütland. Noch immer ist dort ein ungeheuer großes Moor, wie man aus allen Landesbeschreibungen ersehen kann. Hier sei einst Meeresboden gewesen, der sich gehoben habe, steht darin. Es erstreckt sich meilenweit, und ist von allen Seiten von feuchten Wiesen und schwankendem Torfboden umgeben, auf dem nur unbrauchbare Beeren und kümmerliche Bäume gedeihen. Fast immer schwebt ein Nebel darüber, und vor siebzig Jahren fanden sich hier noch Wölfe. Es trägt seinen Namen »Wildmoor« wirklich zu recht, und man kann sich wohl vorstellen, wie verwildert, voller Sümpfe und Seen, es hier vor tausend Jahren gewesen sein mag! Im einzelnen sah man damals hier, was man noch jetzt sieht. Die Rohrstangen hatten die gleiche Höhe, die gleiche Art langer Blätter und violettbraun gefiederte Blütenbüschel, wie sie sie jetzt noch tragen. Die Birke stand mit weißer Rinde und lose im Winde schaukelnden Blättern wie jetzt, und was die Lebewesen betrifft, die hierher kamen, ja, die Fliege trug ihr Florwämslein im selben Schnitt wie noch heute, die Leibfarbe der Störche war weiß und schwarz mit roten Strümpfen, die Menschen dagegen hatten einen anderen Kleiderschnitt als heutigentags, doch ein jeder, Sklave oder Jäger, wer sich auch hinaus auf den sumpfunterwühlten Boden wagte, dem erging es vor tausend Jahren wie jetzt, sie kamen her, brachen ein und sanken hinab zum Moorkönig, wie er genannt wurde, der drunten in dem großen Moorreiche regiert. Sehr wenig wußte man von seiner Regierung, doch das ist vielleicht ganz gut so.
Dicht beim Moor, nahe am Limfjord, lag das Blockhaus mit steinuntermauertem Keller, einem Turm und drei Stockwerken. Oben auf dem Dache hatte der Storch sein Nest gebaut, die Storchmutter lag auf ihren Eiern und wiegte sich in Sicherheit, daß ihr Vorhaben glücken werde.
Eines Abends blieb Storchvater etwas lange aus, und als er dann heimkam, sah er ganz verstört und abgehetzt aus.
»Ich muß Dir etwas ganz Furchtbares erzählen!« sagte er zur Storchmutter.
»Laß es lieber sein« sagte sie »denke daran, daß ich auf den Eiern liege, ich könnte durch den Schreck Schaden nehmen, und das wirkt auf die Eier.«
»Du mußt es wissen!« sagte er. »Sie ist hergekommen, die Tochterunseres Wirtes in Ägypten. Sie hat die Reise hier herauf gewagt, und weg ist sie.«
»Ist es die, die aus dem Geschlecht der Feen ist? Erzähle doch nur, Du weißt, daß ich es gar nicht vertragen kann, in der Brutzeit zu warten!«
»Siehst Du, Mutter, sie hat doch dem Doktor geglaubt, daß die Moorblume von hier oben ihrem kranken Vater helfen könne. Da ist sie in ihrem Federkleide hergeflogen, zusammen mit den beiden anderen Federkleidprinzessinnen, die jedes Jahr hierher nach dem Norden sollen, um sich durch Baden zu verjüngen. Sie ist gekommen. und sie ist weg.«
»Du erzählst immer so weitläufig!« sagte die Storchmutter, »die Eier können sich unterdessen erkälten! Ich kann soviel Spannung nicht vertragen!«
»Ich habe genau aufgepaßt« sagte der Storchvater, »und heute abend, als ich ins Schilf ging, wo der Moorboden mich tragen kann, kamen drei Schwäne. Es war etwas im Flügelschlage, das mir sagte: »Nimm Dich in acht, das sind keine richtigen Schwäne, das sind nur Schwanenhäute, Du weißt ja, Mutter, wie man so etwas im Gefühl haben kann, Du fühlst auch, was das Richtige ist.«
»Ja gewiß« sagte sie, »aber erzähle nun von der Prinzessin, ich habe es über, von Schwanenhäuten zu hören.« »Hier, mitten im Moor, ist, wie Du weißt, eine Art See,« sagte der Storchvater. »Du kannst ein Stückchen davon sehen, wenn Du Dich aufrichtest; dort zwischen dem Schilf und dem grünen Moorboden lag ein großer Erlenstamm. Auf diesem ließen sich die drei Schwäne nieder und blickten sich um; die eine von ihnen warf ihre Schwanenhaut ab, und ich erkannte in ihr die Prinzessin unseres Hauses in Ägypten. Sie saß da und hatte keinen anderen Mantel um sich, als ihr langes, schwarzes Haar. Ich hörte, wie sie die beiden anderen bat, wohl auf ihre Schwanenhaut achtzugeben, wenn sie unter das Wasser tauchen würde, um die Blume zu pflücken, die sie zu sehen glaubte. Sie nickten und richteten sich empor; dabei hoben sie das lose Federkleid auf. Sieh nur, was wollen sie wohl damit tun? dachte ich, und sie fragte sicherlich ebenfalls danach. Die Antwort bekam sie durch den Anblick der Tat – sie flogen mit ihrem Federkleide in die Höhe und riefen: »Tauch nur unter. Niemals mehr sollst Du im Schwanenkleide fliegen, nie das Land Ägypten wiedersehen. Bleib Du im Wildmoore sitzen!« Und dann rissen sie ihr Federkleid in hundert Fetzen, daß die Federn rings umher flogen, als seien es Schneeflocken, und fort flogen sie, die beiden bösen Prinzessinnen.
»Das ist schrecklich!« sagte die Storchmutter, »ich kann das gar nicht mit anhören! – Sag mir schnell, was dann weiter geschah!«
»Die Prinzessin jammerte und weinte, Ihre Tränen rollten auf den Erlenstamm nieder. Da bewegte er sich, denn es war der Moorkönig selbst, der dort im Moore wohnt. Ich sah, wie der Stamm sich umdrehte, und da war er kein Stamm mehr; lange schlammbedeckte Zweige reckten sich empor wie Arme. Das arme Kind erschrak und sprang davon auf dem schwankenden Moorboden. Aber der kann an dieser Stelle mich nicht einmal tragen, geschweige denn sie. Sie versank sogleich, und der Erlenstamm tauchte auch unter, er war es, der sie hinabzog. Es stiegen noch ein paar große, schwarze Blasen auf, und dann war nichts mehr zu sehen. Nun liegt sie im Wildmoor begraben, niemals kommt sie mit derBlume nach Ägypten. Du hättest es nicht mit ansehen können, Mutter!«
»So etwas hättest Du mir in dieser Zeit überhaupt nicht erzählen dürfen! Das kann den Eiern schaden! – Die Prinzessin wird sich schon zu helfen wissen! Sie findet schon jemanden, der ihr beisteht! Wärest Du es gewesen oder ich, einer von den unsrigen, so wäre es vorbei mit uns!«
»Ich will doch jeden Tag nach ihr sehen!« sagte der Storchvater, und das tat er auch.
Nun verging eine lange Zeit darüber. Eines Tages jedoch sah er, daß tief aus dem Grunde des Moors ein grüner Stengel emporschoß. Und als er den Wasserspiegel erreicht hatte, trieb ein Blatt daraus hervor; breiter wurde es und immer breiter. Dicht neben ihm sproßte auch eine Knospe empor, und als der Storch eines Morgens über ihr dahinflog, öffnete sich die Blumenknospe in den heißen Sonnenstrahlen, und mitten darin lag ein wunderhübsches Kind, ein kleines Mädchen, frisch, als sei es gerade ausdem Bade genommen worden. Sie glich der Prinzessin aus Ägypten in solchem Maße, daß der Storch zuerst glaubte, sie sei es selbst, nur kleiner geworden. Doch als er darüber nachdachte, fand er es wahrscheinlicher, daß es ihr und des Moorkönigs Kind sei. Deshalb lag es wohl auch in einer Wasserrose.
»Da kann sie doch nicht liegen bleiben!« dachte der Storch. »In meinem Nest sind wir schon so viele, doch halt, da fällt mir etwas ein! Die Wikingerfrau hat keine Kinder, und sie hat sich schon oft so ein Kleines gewünscht. Ich werde ja immer beschuldigt, die kleinen Kinder zu bringen, nun will ich einmal ernst damit machen! Ich fliege mit dem Kind zur Wikingerfrau; das wird eine Freude werden!«
Der Storch nahm das kleine Mädchen, flog zum Blockhause, schlug mit dem Schnabel ein Loch in die Fensterscheibe aus Blasenhaut und legte das Kind an die Brust der Wikingerfrau. Dann flog er zur Storchmutter und erzählte ihr alles, und die Jungen durften zuhören, sie waren nun schon groß genug dazu.
»Siehst Du, die Prinzessin ist nicht tot! Sie hat das Kleine heraufgeschickt, und nun ist es untergebracht!«
»Das habe ich ja von vornherein gesagt!« meinte die Storchmutter. »Denk aber jetzt etwas an Deine eigenen Kinder. Jetzt kommt bald die Reisezeit; es kribbelt mir schon ab und zu unter den Flügeln. Der Kuckuck und die Nachtigall sind schon fort, und die Wachteln hörte ich eben davon sprechen, daß wir guten Wind bekommen werden. Unsere Jungen werden beim Manöver schon ihren Mann stehen, wie ich sie kenne!«
Nein, wie freute sich die Wikingerfrau, als sie am Morgen erwachte und das hübsche kleine Kind an ihrer Brust fand; sie küßte und streichelte es, doch es schrie ganz schrecklich und strampelte mit Armen und Beinen; gute Laune schien es nicht zu haben. Zuletzt weinte es sich in Schlaf, und wie es da lag, war es wirklich das Hübscheste, was man sehen konnte. Der Wikingerfrau war so leicht, so froh, so wohl zumute, sie nahm es als geheimes Zeichen, daß ihr Gemahl mit allen seinen Mannen ebenso unerwartet hereinschneien würde, wie die Kleine; da gab es denn bei ihr und im ganzen Hause ein emsiges Rühren, damit alles instand käme. Die langen farbigen Wandbehänge mit den hineingewirkten Bildern ihrer Götter Odin, Thor und Freia, die sie mit ihren Mägden selbst gewebt hatte, wurden aufgehängt, die Sklaven mußten die alten Schilder, die als Schmuck an den Wänden hingen, putzen, Polster wurden auf die Bänke gelegt, und auf der Feuerstätte mitten in der Halle wurde trockenes Holz aufgeschichtet, damit das Feuer sogleich entzündet werden könne. Die Wikingerfrau griff selbst tüchtig mit zu, so daß sie am Abend herzlich müde war und gut schlief.
Als sie gegen Morgen erwachte, erschrak sie zutiefst, denn das kleine Kind war spurlos verschwunden. Sie sprang auf, zündete einen Kiefernspan an und sah sich um, da lag am Fußende ihres Bettes nicht mehr das kleine Kind, sondern eine große, häßliche Kröte. Ihr wurde ganz übel zumute bei dem Anblick, und sie nahm einen großen Stock, um das Tier totzuschlagen. Doch es blickte sie mit so wunderlich betrübten Augen an, daß sie nicht zuschlagen konnte. Noch einmal sah sie sich nach allen Seiten um, der Frosch gab ein leises, so klägliches Quaken von sich, daß sie zusammenfuhr und ans Fenster sprang. Sie riß es auf und im gleichen Augenblick ging die Sonne auf; sie warf ihre Strahlen gerade auf das Bett und die große Kröte, und mit einem Male war es, als ob sich des Untiers breites Maul zusammenzöge und klein und rot würde, die Glieder streckten sich und wandelten sich zu der niedlichsten Gestalt, und da lag wieder ihr eigenes kleines hübsches Kind im Bette und kein häßlicher Frosch.
»Was ist das nur« sagte sie. »Habe ich einen bösen Traum geträumt! Das ist ja mein herziges kleines Elfenkind, das da vor mir liegt.« Und sie küßte es und drückte es an ihr Herz, aber es kratzte und biß um sich wie eine kleine Wildkatze.
Nicht an diesem Tag, auch nicht am nächsten kam der Wikinger, obgleich er auf dem Heimwege war; denn er hatte den Wind gegen sich, der nach Süden blies wegen der Störche. Des einen Freude ist des andern Leid.
Nach ein paar Tagen und Nächten wurde es der Wikingerfrau klar, wie es mit ihrem kleinen Kinde stand. Ein scheußlicher Zauber ruhte auf ihm. Am Tage war es schön wie ein Lichtelf, hatte aber eine böse, wilde Natur, das Nachts dagegen war es eine häßliche Kröte, still und kläglich mit traurigen Augen. Hier waren zwei Naturen, die einander abwechselten, sowohl äußerlich wie innerlich; das kam daher, daß das kleine Mädchen, daß der Storch hierher gebracht hatte, am Tage das Äußere seiner Mutter, aber gleichzeitig die Sinnesart seines Vaters besaß, bei Nacht dagegen trat die körperliche Verwandtschaft mit ihm in der Gestalt zutage, während der Mutter Gemüt und Herz aus seinen Augen strahlte. Wer konnte diesen Zauber lösen? Die Wikingerfrau war in Angst und Betrübnis, und doch hing ihr Herz an diesem armen Geschöpfe, dessen Zustand sie ihrem Gemahl nicht zu offenbaren wagte, wenn er jetzt heimkehrte, dann würde er gewiß nach Schick und Brauch das arme Kind an der Fahrstraße aussetzen, damit es nähme, wer wollte. Das brachte die gute Wikingerfrau nicht übers Herz. Nur beim hellen Tageslichte sollte er das Kind zu sehen bekommen.
Eines Morgens sauste es von Storchschwingen über dem Dache. Da hatten über Nacht wohl hundert Storchpaare sich für das große Manöver ausgeruht, sie flogen jetzt auf, um nach Süden zu ziehen.
»Alle Mann fertig!« hieß es, »Frau und Kinder auch!«
»Uns ist so leicht!« sagten die jungen Störche, »es kribbelt und krabbelt uns in den Beinen, gerade als ob wir voll lebendiger Frösche steckten! Wie herrlich ist es, nach dem Ausland zu reisen!«
»Haltet Euch im Schwarm!« sagten Vater und Mutter, »und klappert nicht so viel mit dem Schnabel, das legt sich auf die Brust!«
Und sie flogen.
Zur gleichen Stunde erklangen die Luren über die Heide hin; der Wikinger mit all seinen Mannen war gelandet. Sie kehrten mit reicher Beute von der gallischen Küste heim, wo die Leute, wie in Britland, voll Schrecken sangen:
»Von den wilden Normannen befreie uns, Herr.«
Welch Leben und welche Lust begann nun im Wikingerhause beim Wildmoor! Die Metkannen wurden in die Halle gebracht, das Feuer wurde entzündet, und Pferde wurden geschlachtet. Hier sollte ordentlich aufgetafelt werden! Der Opferpriester sprengte das warme Pferdeblut zur Weihe über die Sklaven, das Feuer knisterte, und der Rauch zog unter der Decke hin, daß der Ruß von den Balken tropfte, aber das war man gewöhnt. Es waren Gäste geladen, und sie wurden wohl aufgenommen; vergessen waren Feindschaft und Ränke. Es wurde gezecht, und dann warf man einander die abgenagten Knochen ins Gesicht, das war ein Zeichen guter Laune. Der Skalde – das war so eine Art Spielmann, der aber auch zu den Kriegern gehörte, die den Zug mitgemacht hatten, und die Taten mitangesehen hatte, die er besang – gab ein Lied zum besten, in dem er ihre Kriegs-und Heldentaten verkündete. Jeder Vers schloß mit dem Kehrreim: »Habe vergeht, Geschlechter vergehen, selbst gehst Du dahin, doch nie vergeht ein ruhmreicher Name.« Dabei schlugen alle an ihre Schilde und hämmerten mit den Messern oder einem Knochen auf die Tischplatte, daß es weithin zu hören war.
Die Wikingerfrau saß auf der Querbank in der offenen Festhalle. Sie trug das Staatskleid und war mit goldenen Armringen und großen Bernsteinperlen geschmückt; der Skalde erwähnte auch ihrer in seinem Sange, sprach von dem goldenen Schatz, den sie ihrem reichen Gemahl zugebracht hätte, und dieser war von Herzen fröhlich über das schöne Kind, das er nur bei Tage in all seiner Wohlgestalt gesehen hatte. Die Wildheit, die sich bei ihm zeigte, gefiel ihm gerade. Sie könne, so meinte er, eine gewaltige Schildjungfrau werden, die einen Kampf wohl bestünde. Sie würde nicht mit der Wimper zucken, wenn eine geübte Hand ihr im Scherze mit scharfem Schwerte die Augenbrauen abtrennte.
Die Metkanne wurde geleert und neue aufgefahren. Es wurde gewaltig gezecht zu damaliger Zeit, es waren Leute, die wohl einen Tropfen vertragen konnten. Das Sprichwort lautete damals: »Das Vieh weiß, wenn es von der Weide gehen muß, doch ein unkluger Mann kennt nicht das Maß seines Magens.« Ja, das wußte man, aber Wissen und Handeln, jedes Ding zu seiner Zeit. Man wußte auch, daß man »des Freundes satt wird, ist man zu lange in seinem Haus.« Aber man blieb doch hier, Fleisch und Met sind gut Ding. Es ging lustig her, und des Nachts schliefen die Sklaven in der warmen Asche, tauchten die Finger in den fetten Ruß und leckten sie ab. Das waren gute Zeiten.
Noch einmal in diesem Jahre zog der Wiking aus, ungeachtet der nahen Herbststürme. Er ging mit seinen Mannen zu Britlands Küsten, »das sei ja nur übers Wasser,« sagte er. Sein Weib blieb mit ihrem kleinen Mädchen zurück, und es war gewiß, daß die Pflegemutter bald die arme Kröte mit den frommen Augen und den tiefen Seufzern fast mehr liebte als die Schönheit, die kratzte und um sich biß.
Die rauhen, nassen Herbstnebel, die »Vögel-Mundlos«, die die Blätter abnagen, legten sich über Wald und Heide, und der »Vogel Federlos«, der Schnee, kam gleich hinterher geflogen; der Winter war auf dem Wege. Die Spatzen belegten das Storchnest mit Beschlag und nörgelten auf ihre Art an der abwesenden Herrschaft herum.
Wo war das Storchpaar mit all seinen Jungen?
Die Störche waren nun im Lande Ägypten, wo die Sonne so warm scheint, wie bei uns an warmen Sommertagen. Tamarinden und Akazien blühten ringsum, und Mohameds Mond strahlte blank von den Kuppeln der Moscheen. Auf den schlanken Türmen saß manch Storchpaar und ruhte nach der langen Reise. Ganze Scharen hatten auf den mächtigen Säulen und zerbrochenen Tempelbogen vergessener Stätten genistet; Dattelpalmen erhoben ihre dachartigen Wipfel wie Sonnenschirme, und die weißgrauen Pyramiden standen wie Schattenrisse in der klaren Luft vor der Wüste, wo der Strauß zeigte, daß er seine Beine zu gebrauchen verstand, und der Löwe saß und mit großen klugen Augen die Marmorsphinx betrachtete, die halb vom Sande begraben liegt. Das Wasser des Nils war zurückgetreten. Das ganze Flußbett wimmelte von Fröschen, und für die Storchfamilie war dies der schönste Anblick in diesem Lande. Die Jungen glaubten, es sei eine Augentäuschung, so ohnegleichen fanden sie das Ganze.
»So ist es hier immer in unserem warmen Lande« sagte die Storchmutter, und es kribbelte den Kleinen im Magen.
»Bekommen wir noch mehr zu sehen?« sagten sie, »sollen wir noch viel, viel weiter ins Land hinein?«
»Da gibt’s nichts weiter zu sehen!« sagte die Storchmutter; »hinter dem fruchtbaren Uferstrich liegt nur undurchdringlicher Wald, wo die Bäume ineinander wachsen und von stachligen Schlinggewächsen verfilzt sind, nur der Elefant mit seinen plumpen Füßen kann sich dort einen Weg bahnen. Die Schlangen dort sind uns zu groß und die Eidechsen zu flink. Wollt Ihr aber in die Wüste, so bekommt ihr Sand in die Augen, das heißt, wenn es fein zugeht. Geht es aber grob zu, so kommt ihr in eine Sandhose. Nein, hier ist es am besten. Hier sind Frösche und Heuschrecken. Hier bleibe ich und Ihr mit.«
Und sie blieben; die Alten saßen in ihrem Neste auf dem schlanken Minarett, pflegten der Ruhe und hatten genug damit zu tun, ihre Federn zu glätten und mit dem Schnabel die roten Strümpfe zurechtzuzupfen. Ab und an reckten sie die Hälse, grüßten gravitätisch und hoben die Köpfe mit der hohen Stirn und den feinen, glatten Federn, und ihre braunen Augen leuchteten klug. Die Storchfräulein gingen gravitätisch im saftigen Schilfe umher, lugten heimlich zu den jungen Störchen hinüber, machten Bekanntschaften und verschluckten bei jedem dritten Schritt einen Frosch oder schwenkten eine kleine Schlange hin und her; das nähme sich gut aus, fanden sie, und schmecken tat es auch. Die jungen Männer fingen Händel an, pufften einander mit den Flügeln, schlugen mit den Schnäbeln um sich, ja stachen sich wohl sogar blutig, und dann verlobte sich hier einer und da eine, das war ja schließlich auch der Sinn des Lebens. Und sie bauten Nester und gerieten sich dabei aufs neue in die Haare, denn in den heißen Ländern ist man gar hitzig, aber vergnügt ging es doch zu, besonders den Alten machte es Spaß. Die eigenen Kinder kleidet eben alles. Jeden Tag schien hier die Sonne, jeden Tag gab es vollauf zu essen, man konnte nur an Lust und Freude denken. – Aber in dem reichen Schloß des ägyptischen Hauswirts, wie sie ihn nannten, hatte die Freude keine Stätte.
Der reiche, mächtige Herr lag auf dem Ruhebett, steif in allen Gliedern und ausgestreckt wie eine Mumie, mitten in dem große Saal mit den prächtig bemalten, farbigen Wänden. Verwandte und Diener standen um ihn her, tot war er nicht; daß er lebte, konnte man auch füglich nicht sagen. Die rettende Moorblume aus den nördlichen Ländern, die gesucht und gepflückt werden mußte von der, die ihn am herzlichsten liebte, ward ihm nicht gebracht. Seine junge schöne Tochter, die im Schwanenkleide über Meer und Land weit zum hohen Norden hinauf geflogen war, sollte niemals mehr zurückkehren. »Sie ist tot und fort!« hatten die beiden heimgekehrten Schwanenjungfrauen gemeldet sie hatten sich eine ganze Geschichte ausgedacht, die sie nun erzählten:
»Wir flogen alle drei hoch oben in der Luft, als uns ein Jäger sah und seinen Pfeil abschoß. Er traf unsere junge Freundin, und langsam ihr Fahrwohl singend glitt sie wir ein schwebender Schwan mitten in einen Waldsee hinab. Dort am Ufer unter einer duftenden Hängebirke begruben wir sie. Doch sie ist gerächt. Feuer banden wir unter die Flügel der Schwalbe, die unter dem Schilfdach des Jägers nistet, es zündete, das Haus loderte in Flammen auf, und er verbrannte darin. Weit hinaus über den See bis zu der hängenden Birke leuchtete es, wo sie als Erde in derErde ruht. Niemals mehr kehrt sie zurück nach Ägypten.«
Dann weinten die beiden, und der Storchvater, der die Geschichte mit anhören mußte, klapperte mit dem Schnabel, daß es schallte.
»Lüge und Erfindung« sagte er. »Ich hätte die größte Lust, ihnen meinen Schnabel in die Brust zu jagen.«
»Und ihn dabei abzubrechen!« sagte die Storchmutter. »Dann wirst Du ja recht hübsch aussehen! Erst denk an Dich selbst und dann an Deine Familie; alles andere kommt erst in zweiter Reihe.«
»Ich will mich doch morgen an den Rand der offenen Kuppel setzen, wenn sich alle die Gelehrten und Weisen versammeln, um über den Kranken zu beraten, vielleicht kommen sie dann der Wahrheit etwas näher.«
Und die Gelehrten und Weisen kamen zusammen und sprachen viel, sprachen lang und breit, und der Storch konnte nicht daraus klug werden.
– Für den Kranken kam auch nichts dabei heraus, auch nicht für die Tochter im Wildmoor, aber trotzdem können wir ja ein wenig zuhören, man muß sich ja sonst auch so vielerlei mit anhören.
Das Richtigste wird jetzt sein, auch zu hören und zu wissen, was dem vorausgegangen war, dann sind wir besser im Bilde, wenigstens ebenso gut wie der Storchvater.
»Liebe gebiert das Leben. Die höchste Liebe gebiert das höchste Leben. Nur durch Liebe ist Rettung für sein Leben zu gewinnen!« war gesagt worden, und das wäre außerordentlich klug und gut gesagt, versicherten die Gelehrten.
»Das ist ein schöner Gedanke« sagte auch der Storchvater sofort.
»Ich verstehe ihn nicht richtig!« sagte die Storchmutter, »und das ist nicht mein Fehler, sondern der des Gedankens, doch das kann mir auch gleichgültig bleiben, ich habe an mehr zu denken!«
Darauf hatte sich zwischen den Gelehrten eine lange und tiefsinnige Diskussion über die Liebe entsponnen, welche Unterschiede es darin gab, Liebe, die Verliebte fühlen, Liebe zwischen Eltern und Kindern, zwischen Licht und Pflanzen – es war so weitläufig und gelehrt auseinandergesetzt, daß es dem Storchvater unmöglich wurde, weiter zu folgen, geschweige denn, es zu wiederholen. Er wurde ganz gedankenvoll, schloß die Augen halb zu und stand noch einen ganzen Tag danach auf einem Bein, er hatte zu schwer an seiner Gelehrsamkeit zu balzen.
Doch eins verstand der Storchvater, denn er hatte die geringen wie die vornehmsten Leute aus Herzensgrund seufzen hören, daß es ein großes Unglück für viele Tausende und gleichzeitig für das Land sei, daß dieser Mann krank danieder läge und nicht wieder genesen könne: Wohltat und Segen würde es bedeuten, wenn er seine Gesundheit zurückerhielte. »Aber wo wächst die Blume, die ihm die Gesundheit wiedergeben kann?« Danach hatten alle gefragt, in gelehrten Schriften, blinkenden Sternbildern, in Wetter und Wind hatten sie es zu erforschen gesucht, alle Umwege waren sie gegangen, um es herauszufinden, und zuletzt hatten die Gelehrten und Weisen, wie gesagt, dies eine herausbekommen: »Die Liebe gebiert Leben, Leben für den Vater«, und damit hatten sie mehr gesagt, als sie selbst verstanden. Sie wiederholten und schrieben es als Rezept auf: »Liebe gebiert Leben.« Aber wie dies Ding zubereitet werden müsse, ja, da hatte die Sache ihren Haken. Zuletzt wurden sie darüber einig, daß die Hülfe von der Prinzessin kommen müsse, von ihr, die mit ganzer Seele und von ganzem Herzen ihren Vater liebte. Man fand endlich auch heraus, wie es zustande gebracht werden müsse, aber darüber waren Jahr und Tag vergangen. Sie solle in der Nacht nachdem der Neumond zum ersten Male untergegangen wäre, sich hinaus zu der Marmorsphinx in der Wüste begeben, den Sand von einer Tür am Fußende fortscharren, und dort durch den langen Gang gehen, der ins Innere einer der großen Pyramiden führt, wo ein mächtiger König aus alter Zeit, von Pracht und Herrlichkeit umgeben, in seiner Mumienhülle läge. Hier sollte sie ihr Haupt zu dem Toten hinabbeugen, dann würde ihr offenbart werden, wie Leben und Rettung für ihren Vater zu gewinnen wären.

Hans Christian Andersen – Nach Jahrtausenden

Hans Christian Andersen

Nach Jahrtausenden
Ja, nach Jahrtausenden kommen sie auf den Flügeln des Dampfes durch die Luft über das Weltmeer. Amerikas junge Einwohner besuchen das alte Europa. Sie kommen zu den Denkmälern hier und zu unserer versunkenen Pracht, so wie wir heute nach Südasien wandern, um dessen bröckelnde Herrlichkeiten zu sehen.
Nach Jahrtausenden kommen sie.
Themse, Donau und Rhein rollen noch; der Montblanc steht mit seinem Schneegipfel, die Nordlichter schimmern über den Ländern des Nordens, aber Geschlecht auf Geschlecht wird zu Staub, die Mächtigen des Augenblicks werden vergessen, wie es schon jetzt diejenigen sind, die unter dem Hügel dort schlummern auf dem der wohlhabende Mehlhändler, dem der Grund und Boden gehört, sich eine Bank hat zimmern lassen um dort sitzen und über die flachen, wogenden Kornfelder hinschauen zu können.
„Nach Europa“ heißt es bei Amerikas jungem Geschlecht, „nach der Väter Land, dem herrlichen Lande der Erinnerung und der Fantasie, Europa“
Das Luftschiff kommt; es ist überfüllt mit Reisenden, denn die Fahrt geht geschwinder als zur See. Der elektromagnetische Draht unter dem Weltmeer hat schon telegraphiert, wie groß die Luftkarawane ist. Schon kommt Europa in Sicht, es sind Irlands Küsten, die sich zeigen, aber die Passagiere schlafen noch; sie wollen erst geweckt werden, wenn sie über England sind. Dort betreten sie Europas Erde in Shakespeares Land, wie es die Söhne des Geistes heißen; das Land der Politik, das Land der Maschinen, wie es andere nennen.
Einen ganzen Tag wird hier Aufenthalt genommen, soviel Zeit widmet das eilfertige Geschlecht dem großen England und Schottland.
Dann geht die Fahrt durch den Kanaltunnel nach Frankreich, Karls des Großen und Napoleons Land. Moliere wird genannt, die Gelehrten sprechen von einer klassischen und romantischen Schule im fernen Altertum, und von Helden, Dichtern und Gelehrten, die unsere Zeit nicht kennt, die aber auf Europas Krater, Paris, geboren werden sollen.
Der Luftdampfer fliegt über das Land hin, von wo Kolumbus ausging, wo Cortez geboren wurde und wo Calderon Dramen in wiegenden Strophen sang. Herrliche schwarzäugige Frauen wohnen noch in den blühenden Tälern und in uralten Gesängen gedenkt man des Cid und der Alhambra.
Durch die Luft über das Meer nach Italien, wo das alte, ewige Rom lag; es ist ausgelöscht, die Campagne ist eine Wüste. Von der Peterskirche wird ein einsamer Mauerrest gezeigt, aber man zweifelt an seiner Echtheit.
Nach Griechenland, um eine Nacht in dem Luxushotel auf der Spitze des Olymps zu schlafen, dann ist man dort gewesen. Die Fahrt gebt auf den Bosporus zu, um dort einige Stunden zu ruhen und die Stätte zu sehen,wo Byzanz einst lag. Ärmliche Fischer spannen ihre Netze dort, wo die Sage von den Gärten des Harems in der Zeit der Türken erzählt.
Überreste von mächtigen Städten an der breit dahinfließenden Donau, die unsere Zeit nicht kennt, werden überquert, aber hier und da -über Stätten reicher Erinnerungen, den kommenden, die die Zeit noch gebiert ­hier und da senkt sich die Luftkarawane und hebt sich wieder.
Dort unten liegt Deutschland -das einmal vom dichtesten Netz von Eisenbahnen und Kanälen überspannt war, das Land, wo Luther sprach, Goethe sang und Mozart in seiner Zeit der Töne Zepter trug. Große Namen leuchteten dort in Wissenschaft und Kunst, Namen, die wir noch nicht kennen. Eines Tages Aufenthalt für Deutschland und einen Tag für den Norden, für Oerstedts und Linnés Vaterland, und für Norwegen, der alten Helden und jungen Nordmänner Land. Island wird auf dem Heimwege mitgenommen; die Geiser kochen nicht mehr, der Hekla ist erloschen, aber die Felseninsel, der Saga ewige Steintafel, steht stark mitten im brausenden Meer.
„In Europa gibt es viel zu sehen“ sagt der junge Amerikaner. „Wir haben es in acht Tagen gesehen, und das läßt sich recht gut schaffen, wie der große Reisende“ -ein Name wird genannt, der der kommenden Zeit angehört -In seinem berühmten Werk, „Europa in acht Tagen“ bewiesen hat.“

Hans Christian Andersen – Ole Luk-Oie

Hans Christian Andersen

Ole Luk-Oie

Es gibt niemanden in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß, wie Ole Luk-Oie. Der kann gehörig erzählen:
So gegen Abend hin, wenn die Kinder noch so nett am Tisch oder auf ihrem Schemel sitzen, kommt Ole Luk-Oie. Er kommt sachte die Treppe herauf, denn er geht auf Socken; er macht ganz leise die Türe auf und husch! da spritzt er den Kindern süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, so fein, aber doch immer genug, daß sie die Augen nicht aufhalten und ihn deshalb auch nicht sehen können. Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und davon wird es ihnen schwer im Kopf. O ja! aber es tut nicht weh, denn Ole Luk-Oie meint es gerade gut mit den Kindern; er will nur, daß sie ruhig sein sollen, und das sind sie, wenn man sie zu Bett gebracht hat; sie sollen still sein, damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Wenn die Kinder dann schlafen, setzt sich Ole Luk-Oie auf ihr Bett. Er ist gut gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich, zu sagen, von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er sich wendet. Unter jedem Arme hält er einen Regenschirm; den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und dran träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; aber einen anderen Schirm hat er, auf dem überhaupt nichts ist; den stellt er über die unartigen Kinder, dann schlafen sie wie dumm und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das allergeringste geträumt. Nun werden wir hören, wie Ole Luk-Oie jeden Abend während einer ganzen Woche zu einem kleinen Knaben kam, welcher Hjalmar hieß, und was er ihm erzählte. Es sind sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der Woche. Montag
„Höre einmal!“ sagte Ole Luk-Oie am Abend, als er Hjalmar zu Bett gebracht hatte; „jetzt werde ich aufputzen!“ Und da wurden alle Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen Zweige unter der Zimmerdecke und längs den Wänden ausstreckten, so daß die ganze Stube wie ein prächtiges Lusthaus aussah. Alle Zweige waren voller Blumen, jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete gleich lieblich, und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes! Die Früchte glänzten wie Gold, und es waren da Kuchen, die vor lauter Rosinen platzten. Es war unvergleichlich schön! Aber zur gleicher Zeit ertönte ein schreckliches Jammern aus dem Tischkasten her, wo Hjalmars Schulbücher lagen.
Was ist nur das? sagte Ole Luk-Oie und ging hin zu dem Tisch und zog den Kasten heraus. Es war die Schiefertafel, in er es riß und wühlte, denn es war eine falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so daß es nah daran war, auseinanderzufallen. Der Stift hüpfte und sprang an seinem Band, als ob er ein kleiner Hund seil,, der dem Rechenexempel helfen möchte; aber er konnte es nicht. Und dann jammerte es auch in Hjalmars Schreibheft; oh, es war ordentlich häßlich mitahnzuhören! Auf jedem Blatt standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben, ein jeder mit einem kleinen zur Seite. Das war die Vorschrift; und neben diesen standen wieder einige Buchstaben, welche ebenso auszusehen glaubten, und diese hatte Hjalmar geschrieben. Sie lagen aber fast so, als ob sie über die Bleistiftstriche gefallen wären, auf denen sie stehen sollten.
„Seht, so solltet ihr auch halten!“ sagte die Vorschrift. „Seht, so schräg geneigt, mit einem kräftigen Schwung!“ Oh, wir möchten gern“, sagten Hjalmars Buchstaben; „aber wir können nicht; wir sind so schwächlich!“ „Dann müßt ihr einnehmen!“ sagte Ole Lu-Oie.
„O nein!“ riefen sie, und da standen sie so schlank, daß es eine Lust war“ „Ja, nun können wir keine Geschichten erzählen!“ sagte Ole Luk-Oie; „nun muß ich mit ihnen üben! Eins, zwei! Eins, zwei!“ und so übte er mit den Buchstaben, und sie standen ganz schlank und so schön, wie nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als Ole Luk-Oie ging und Hjalmar sie am Morgen besah, da waren sie ebenso schwächlich und jämmerlich wie vorher. Dienstag
Sobald Hjalmar zu Bett war, berührte Ole Luk-Oie mit seiner kleinen Zauberspritze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu plaudern, und allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, daß sie so eitel sein könnten, nur von sich selbst zu sprechen, nur an sich selbst zu denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große, alte Bäume, Blumen im Grase und einen breiten Fluß, welcher um den Wald herumfloß, an vielen Schlössern vorbei, und weit hinaus in das wilde Meer. Ole Luk-Oie berührte mit seiner Zauberspritze das Gemälde; sogleich begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich, und die Wolken zogen ordentlich weiter; man konnte ihre Schatten über die Landschaft hingleiten sehen.
Nun hob Ole Luk-Oie den kleinen Hjalmar zu dem Rahmen empor und stellte seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da stand er. Die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag. Es war rot und weiß angestrichen, die Segel glänzten wie Silber, und sechs Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einem strahlenden blauen Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Wald vorüber, wo die Bäume von Räubern und Hexen, die Blumen von den niedlichen kleinen Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.
Die herrlichsten Fische, mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boot nach; mitunter machten sie einen Sprung, so daß es im Wasser plätscherte, und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in zwei langen Reihen hinterher; die Mücken tanzten, und die Maikäfer sagten: Bum! Bum! Sie wollten Hjalmar alle folgen, und jeder hatte eine Geschichte zu erzählen.
Dies war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder dicht und dunkel, bald waren sie wie der herrlichste Garten voll Sonnenschein und Blumen. Und da lagen große Schlösser von Glas und von Marmor; auf den Altanen standen Prinzessinnen, und diese alle waren kleine Mädchen, die Hjalmar gut kannte; er hatte früher mit ihnen gespielt. Eine jede streckte die Hand aus und hielt das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen konnte, und Hjalmar faßte die Hälfte eines Zuckerherzens an, indem er vorüberfuhr; die Prinzessin hielt aber recht fest, und so bekam jeder ein Stück; sie das kleinste, Hjalmar das allergrößte. Bei jedem Schloß standen kleine Prinzen Schildwache; sie schulterten mit Goldsäbeln und ließen es Rosinen und Zinnsoldaten regnen; man sah ihnen an, daß es echte Prinzen waren!
Bald segelte Hjalmar durch Wälder, bald durch große Säle oder mitten durch eine Stadt. Er kam auch durch die, in welcher seine Kinderfrau wohnte, die ihn getragen hatte, als er noch ein ganz kleiner Knabe war, und die ihm immer so gut gewesen; sie nickte und winkte und sang den niedlichen kleinen Vers, den sie selbst gedichtet und Hjalmar gesendet hatte:
Ich denke deiner so manches Mal, Mein teurer Hjalmar, du Lieber! Ich gab dir Küsse ja ohne Zahl Auf Stirn, Mund und Augenlider.
Ich hörte dich lallen das erste Wort, Doch mußt‘ ich dir Abschied sagen. Es segne der Herr dich an jedem Ort, Du Engel, den ich getragen!
Und alle Vögel sangen mit, die Blumen tanzten auf den Stielen, und die alten Bäume nickten, gerade als ob Ole Luk-Oie ihnen auch Geschichten erzählte. Mittwoch
Nein, wie strömte der Regen draußen hernieder! Hjalmar konnte es im Schlaf hören; und als Ole Luk-Oie ein Fenster öffnete, stand das Wasser herauf bis an das Fensterbrett; es war ein ganzer See da draußen, aber das prächtigste Schiff lag dicht am Hause.
„Willst du mitsegeln, kleiner Hjalmar“, sagte Ole Luk-Oie, „so kannst du diese Nacht nach fremden Ländern gelangen und morgen wieder hier sein!“ Und da stand Hjalmar plötzlich in seinen Sonntagskleidern mitten auf dem prächtigen Schiff. Sogleich wurde das Wetter schön, und sie segelten durch die Straßen, kreuzten um die Kirche, und nun war alles eine große, wilde See. Sie segelten so lange, bis kein Land mehr zu erblicken war, doch sahen sie einen Zug Störchen, die kamen aus der Heimat und wollten nach den warmen Ländern; ein Storch flog immer hinter dem andern, und sie waren schon weit, sehr weit geflogen! Einer von ihnen war so ermüdet, daß seine Flügel ihn kaum noch zu tragen vermochten; es war der allerletzte in der Reihe, und bald blieb er ein großes Stück zurück; zuletzt sank er mit ausgebreiteten Flügeln tiefer und tiefer; er machte noch ein paar Schlage mit den Schwingen, aber es half nicht; nun berührte er mit seinen Füßen das Tauwerk des Schiffes, nun glitt er vom Segel herab, und plumps! da stand er auf dem Verdeck.
Jetzt nahm ihn der Schiffsjunge und setzt ihn in das Hühnerhaus, zu den Hühnern, Enten und Truthühnern; der arme Storch stand ganz befangen mitten unter ihnen.
„Sieh den Kerl an!“ sagten alle Hühner. Und der kalkuttische Hahn blies sich so dick auf, wie er konnte, und fragte, wer er sein; und die Enten gingen rückwärts und pufften einander: „Rappel dich! Rappel dich!“ Und der Storch erzählte vom warmen Afrika, von den Pyramiden und vom Strauß, der, einem wilden Pferde gleich, die Wüste durchlaufe; aber die Enten verstanden nicht, was er sagte, und dann pufften sie einander: „Wir sind doch wohl alle derselben Meinung, nämlich, daß er dumm ist?“ -„Ja, sicher ist er dumm!“ sagte der Truthahn, und dann kollerte er. Da schwieg der Storch ganz still und dachte an sein Afrika.
„Das sind ja herrlich dünne Beine, die Ihr habt!“ sagte der Kalkuttaer. „Was kostet die Elle davon?“ -„Skrat, skrat, skrat“ grinsten alle Enten, aber der Storch tat, als ob er es gar nicht höre.
„Ihr könnt ruhig mitlachen“, sagte der Kalkuttaer zu ihn; „denn es war sehr witzig gesagt! Oder war es Euch vielleicht zu hoch? Ach, ach! er ist nicht vielseitig! Wir wollen interessant unter uns selbst bleiben!“ Und dann gluckte er, und die Enten schnatterten: „Gik, gak! Gik, gak!“ Es war erschrecklich, wie sie sich selbst belustigten.
Aber Hjalmar ging nach dem Hühnerhaus, öffnete die Türe, rief den Storch, und der hüpfte zu ihm hinaus auf das Verdeck. Nun hatte er ja ausgeruht, und es war gleichsam, als ob er Hjalmar zunichte, um ihm zu danken. Darauf entfaltete er seine Schwingen und flog nach den warmen Ländern; aber die Hühner gluckten, die Enten schnatterten, und der kalkuttische Hahn wurde ganz feuerrot am Kopf.
„Morgen werden wir Suppe von euch kochen!“ sagte Hjalmar, und damit erwachte er und lag in seinem kleinen Bett. Es war doch eine sonderbare Reise, die Ole Luk-Oie ihn diese Nacht hatte machen lassen. Donnerstag
„Weißt du was?“ sagte Ole Luk-Oie; „Werde nur nicht furchtsam! Hier wirst du eine kleine Maus sehen!“ Und dann hielt er ihm seine Hand hin mit dem leichten, niedlichen Tier in derselben. „Sie ist gekommen, um dich zur Hochzeit einzuladen. Es wollen diese Nacht zwei kleine Mäuse in den Stand der Ehe treten. Sie wohnen unter deiner Mutter Speisekammerfußboden: das soll eine schöne Wohnung sein!“
„Aber wie kann ich durch das kleine Mauseloch im Fußboden kommen?“ fragte Hjalmar. „Da laß mich nur sorgen!“ sagte Ole Luk-Oie. „Ich werde dich schon klein machen!“ Und nun berührte er Hjalmar mit seiner Zauberspritze, worauf dieser sogleich kleiner und kleiner wurde; zuletzt war er keinen Finger lang. „Nun kannst du dir die Kleider des Zinnsoldaten leihen; ich denke, wie werden dir passen, und es sieht so gut aus, Uniform zu tragen, wenn man in Gesellschaft ist!“. „Ja freilich!“ sagte Hjalmar, und da war er im Augenblick wie der niedlichste Zinnsoldat gekleidet.
„Wollen Sie nicht so gut sein und sich in Ihrer Mutter Fingerhut setzen“, sagte die kleine Maus; „dann werde ich die Ehre haben, Sie zu ziehen!“ „Gott, wollen das Fräulein selbst sich bemühen!“ sagte Hjalmar; und so fuhren sie zur Mäusehochzeit. Zuerst kamen sie unter den Fußboden in einen langen Gang, der gar nicht höher war, als das sie gerade mit dem Fingerhut dort fahren konnten; und der ganze Gang war mit faulem Holz ausgelegt.
„Riecht es hier nicht herrlich?“ fragte die Maus, die ihn zog. „Der ganze Gang ist mit Speckschwarten geschmiert worden! Es kann nichts Schöneres geben!“ Nun kamen sie in den Brautsaal hinein. Hier standen zur Rechten alle kleinen Mäusedamen; und die wisperten und pisperten, als ob sie einander zum besten hätten. Zur Linken standen alle Mäuseherren und strichen sich mit der Pfote den Schnauzbart; mitten in dem Saal aber sah man die Brautleute; die standen in einer ausgehöhlten Käserinde und küßten sich gar erschrecklich viel, denn sie waren ja Verlobte und sollten nun gleich Hochzeit halten.
Es kamen immer mehr und mehr Fremde; die eine Maus war nahe daran, die andere totzutreten, und das Brautpaar hatte sich mitten in die Tür gestellt, so daß man weder hinaus-noch hereingelangen konnte. Die Stube war ebenso wie der Gang mit Speckschwarten eingeschmiert, das war die ganze Bewirtung; aber zum Dessert wurde eine Erbse vorgezeigt, in die eine Maus aus der Familie den Namen des Brautpaares eingebissen hatte, daß heißt, den ersten Buchstaben. Das war etwas ganz Außerordentliches! Alle Mäuse sagten, daß es eine schöne Hochzeit und daß die Unterhaltung sehr angenehm gewesen sei.
Hierauf fuhr Hjalmar wieder nach Hause; er war wahrlich in vornehmer Gesellschaft gewesen, aber er hatte auch ordentlich zusammenkriechen, sich klein machen und Zinnsoldaten-Uniform anziehen müssen. Freitag
„Es ist unglaublich, wie viele ältere Leute es gibt, die mich gar zu gern haben möchten!“ sagte Ole Luk-Oie. „Es sind besonders die, welche etwas Böses verübt haben. „Guter, kleiner Ole“, sagen sie zu mir, „Wir können die Augen nicht schließen, und so liegen wir die ganze Nacht und sehen alle unsere bösen Taten, die wie häßliche kleine Kobolde auf der Bettkante sitzen und uns mit heißem Wasser bespritzen; möchtest du doch kommen und sie fortjagen, damit wir einen guten Schlaf bekämen“; und dann seufzen sie so tief; wir möchten es wahrlich gern bezahlen; gute Nacht, Ole! das Geld liegt im Fenster!“ -Aber ich tue es nicht für Geld“, sagte Ole Luk-Oie.
„Was wollen wir nun diese Nacht vornehmen?“ fragte Hjalmar. „Ja, ich weiß nicht, ob du diese Nacht wieder Lust hast, zur Hochzeit zu gehen; es ist eine von anderer Art als die gestrige. Deiner Schwester große Puppe, die, welche wie ein Mann aussieht und Hermann genannt wird, will sich mit der Puppe Bertha verheiraten. Es ist obendrein der Puppe Geburtstag,
und deshalb werden sie sehr viele Geschenke bekommen!“ „Ja, das kenne ich schon!“ sagte Hjalmar. „Immer wenn die Puppen neue
Kleider brauchen, dann läßt meine Schwester sie ihren Geburtstag feiern
oder Hochzeit halten; das ist sicher schon hundertmal geschehen!“ „Ja, aber in dieser Nacht ist es die hundertunderste Hochzeit, und wenn
hundertundeins aus ist, dann hört alles auf! Deshalb wird auch diese ganz
beispiellos schön. Sieh nur einmal!“ Und Hjalmar sah auf den Tisch. Da stand das kleine Papphaus mit Licht in
den Fenstern, und draußen vor demselben präsentierten alle Zinnsoldaten
das Gewehr. Das Brautpaar saß ganz gedankenvoll, wozu es wohl Ursache
hatte, auf dem Fußboden und lehnte sich gegen das Tischbein. Aber Ole
Luk-Oie, in der Großmutter schwarzen Rock gekleidet, traute sie. Als die
Trauung vorbei war, stimmten alle Möbel in der Stube folgenden schönen
Gesang an, welcher von dem Bleistift geschrieben war; er ging nach der
Melodie des Zapfenstreiches: Das Lied ertöne wie der Wind;
Dem Brautpaar Hoch! das sich verbind’t;
Sie sprangen beide steif und blind,
Da sie von Handschuhleder sind!
:;: Hurra, Hurra! ob taub und blind,
Wir singen es in Wetter und Wind!:;: Und nun bekamen sie Geschenke, aber sie hatten sich alle Speisewaren
verbeten, denn sie hatten an ihrer Liebe genug. „Wollen wir nun eine Sommerwohnung beziehen oder auf Reisen gehen?“
fragte der Bräutigam. Und da wurde die Schwalbe, die so viel gereist war,
und die alte Hofhenne, welche fünfmal Küchlein ausgebrütet hatte, zu
Rate gezogen. Und die Schwalbe erzählte von den herrlichen warmen
Ländern, wo die Weintrauben so groß und schwer hingen, wo die Luft so
mild sei und die Berge Farbe hätten, wie man sie hier gar nicht an
denselben kenne! „Sie haben aber nicht unseren Braunkohl!“ sagte die Henne. „Ich war
einen Sommer lang mit allen meinen Küchlein auf dem Lande; da war eine
Sandgrube, in der wir umhergehen und kratzen konnten; und dann hatten
wir Zutritt zu einem Garten mit Braunkohl! O wie war der herrlich! Ich
kann mir nichts Schöneres denken.“ „Aber der eine Kohlstrunk sieht gerade so aus wie der andere“, sagte die
Schwalbe; „und dann ist hier so oft schlechtes Wetter!“ „Ja, daran ist man
gewöhnt!“ sagte die Henne. „Aber hier ist es kalt, und es friert!“

Hans Christian Andersen – Pieter, Peter und Per

Hans Christian Andersen

Pieter, Peter und Per

Es ist unglaublich, was Kinder in unserer Zeit alles wissen! Man weiß bald nicht mehr, was sie nicht wissen. Daß der Storch sie aus dem Brunnen oder Mühlteich geholt und, wie sie noch ganz klein waren, zu Vater und Mutter gebracht hat, ist nun eine so alte Geschichte, daß sie nicht mehr daran glauben, und es ist doch das einzig Richtige.
Aber wie kommen die Kleinen in den Mühlteich und Brunnen? Ja, das weiß nicht jeder, aber manche wissen es doch. Hast du den Himmel richtig betrachtet, in einer sternklaren Nacht die vielen Sternschnuppen gesehen, die sind, wie wenn ein Stern fiele und verschwände? Die Gelehrtesten können nicht erklären, was sie selber nicht wissen; aber es kann erklärt werden, wenn man es weiß. Es ist, wie wenn ein kleines Weihnachtslicht vom Himmel fiele und verlöscht; es ist ein Seelenfunken vom lieben Gott, der zur Erde herabfährt, und während er in unsere dichtere, schwerere Luft hineinkommt, schwindet des Glanz, es bleibt nur, was unsere Augen nicht zu sehen vermögen, denn es ist etwas weit Feineres als unsere Luft, es ist ein Himmelskind, das da ausgesandt wird, ein kleiner Engel, aber ohne Flügel, das Kleine soll ja Mensch werden; still gleitet es durch die Luft, und der Wind trägt es hin in eine Blume; das kann nun eine Nachtviole sein, eine Butterblume eine Rose oder Pechnelke; da liegt es und ruht aus. Luftig und leicht ist es, eine Fliege kann damit fliegen, geschweige denn eine Biene, und sie kommen wechselweise und suchen nach dem süßen in der Blume; liegt ihnen das Luftkind nun im Wege, so stoßen sie es nicht heraus, sie haben nicht das Herz dazu, sie legen es hin in die Sonne auf ein Seerosenblatt, und von dort krabbelt und kriecht es hinab ins Wasser, wo es schläft und wächst, bis der Storch es sehen und zu einer Menschenfamilie holen kann, die sich so ein süßes Kleines wünscht; aber ob es süß ist oder nicht, beruht darauf, ob das Kleine von dem klaren Wasser getrunken hat oder ob Schlamm und Entenflott ihm in die falsche Kehle gekommen ist; das macht so irdisch. Der Storch nimmt ohne Wahl das erste, das er sieht. Eins kommt in ein gutes Haus zu unvergleichlich guten Eltern, ein anderes kommt zu harten Leuten in großes Elend, so daß es viel besser gewesen wäre, in dem Mühlenteich zu bleiben.
Die Kleinen erinnern sich gar nicht, was sie unter dem Seerosenblatt träumten, wo am Abend die Frösche ihnen vorsangen: »Koax, koax, Strax, strax!« Das bedeutet in der Menschensprache: »Nun sollt ihr sehen, ihr könnt schlafen und träumen!« Sie können sich auch nicht erinnern, in welcher Blume sie zuerst lagen oder wie sie duftete, und doch ist da etwas in ihnen, wenn sie erwachsene Menschen werden, das sagt: »Die Blume haben wir am liebsten!« Und das ist die, in der sie als Luftkinder lagen.
Der Storch wird sehr alt, und immer gibt er darauf acht, wie es den Kleinen geht, die er gebracht hat, und wie sie sich in die Welt schicken; er kann freilich nichts für sie tun oder ihre Lage verändern, er hat seine eigene Familie, für die er sorgen muß, aber er verliert sie niemals aus den Augen.
Ich kenne einen alten, sehr ehrbaren Storch, der große Vorkenntnisse hat und viele Kleine geholt hat und auch ihre Geschichte weiß, in der immer etwas Schlamm und Entenflott aus dem Mühlenteich ist. Ich bat ihn, mir eine kleine Lebensbeschreibung von einem von diesen zu erzählen, und da sagte er, daß ich drei für eine haben sollte aus Pietersens Haus.
Das war eine besonders nette Familie, Pietersens; der Mann war einer der zweiunddreißig Ratsmänner der Stadt, und das war eine Auszeichnung; er lebte für die zweiunddreißig und ging auf in den zweiunddreißig. Hier kam der Storch hin und brachte einen kleinen Pieter, so wurde das Kind genannt. Im nächsten Jahr kam der Storch wieder mit noch einem, den nannten sie Peter, und als der dritte gebracht wurde, erhielt er den Namen Per, denn in den Namen Pieter-Peter-Per liegt der Name Pietersen.
Das waren also drei Brüder, drei Sternschnuppen, jeder in seiner Blume gewiegt, unter das Seerosenblatt in den Mühlenteich gelegt und von da vom Storch zu der Familie Pietersen gebracht, deren Haus an der Ecke liegt, wie du wohl weißt.
Die wuchsen auf an Körper und Geist, und so wollten sie noch etwas mehr werden als die zweiunddreißig Männer.
Pieter sagte, er wolle Räuber werden. Er hatte die Komödie von »Fra Diavolo« gesehen und sich für das Räuberhandwerk, als das hübscheste der Welt, entschieden.
Peter wollte Mistbauer werden, und Per, der ein so süßer und artiger Junge war, dick und rund, aber seine Nägel biß, das war sein einziger Fehler, Per wollte Vater werden. Das sagte nun ein jeder, wenn man sie fragte, was sie in der Welt werden sollten.
Und dann kamen sie in die Schule. Einer wurde Erster, und einer wurde Letzter, und einer kam gerade in die Mitte, aber deshalb konnten sie ja ebenso klug und ebenso gut sein, und das waren sie, sagten ihre sehr einsichtsvollen Eltern. Sie kamen auf Kinderbälle, sie rauchten Zigarren, wenn keiner es sah, sie nahmen zu an Kenntnis und Erkenntnis.
Pieter war von Klein auf streitbar, wie ja ein Räuber sein muß; er war ein sehr unartiger Junge, aber das kam davon, sagte die Mutter, daß er an Würmern litt; unartige Kinder haben immer Würmer, das ist Schlamm im Leib. Ein Eigensinn und seine Streitlust gingen eines Tages über der Mutter neuen Seidenkleid hin.
»Stoß nicht an den Kaffeetisch, mein Gotteslamm!« hatte sie gesagt. »Du könntest den Sahnetopf umwerfen und ich bekäme Flecken auf mein neues Seidenkleid!«
Und das »Gotteslamm« nahm mit fester Hand den Sahnetopf und goß mit fester Hand die Sahne der Mama gerade in den Schoß, die nicht unterlassen konnte, zu sagen: »Lamm, Lamm! Das war nicht klug, mein Lämmchen!« Aber einen Willen hatte das Kind, das mußte sie einräumen. Wille zeigt Charakter und das ist so vielversprechend für eine Mutter.
Er hätte ganz gewiß Räuber werden können, aber er wurde es nicht buchstäblich; er kam nur dahin, auszusehen wie ein Räuber: er ging mit verbeultem Hut, bloßem Hals und langen, wirren Haaren, er sollte Künstler werden, aber er kam nur in die Künstlerkleider und sah dazu aus wie eine Stockrose; alle Menschen, die er zeichneten, sahen aus wie Stockrosen. Er hatte diese Blume sehr gern, er hatte auch in einer Stockrose gelegen, sagte der Storch.
Peter hatte in einer Butterblume gelegen. Er sah so geschmiert aus um die Mundwinkel, hatte eine gelbe Haut, man mußte glauben, wäre er angeschnitten worden, so wäre Butter herausgekommen. Er war geboren zum Butterhändler und hätte sein eigenes Firmenschild sein können, aber innerlich, so in seinem Innern, war er »Mistbauer«, er war der musikalische Teil der Pietersenschen Familie, aber »Genug für sie alle zusammen«, sagten die Nachbarn. Er machte siebzehn neue Polkas in einer Woche und setzt sie zusammen zu einer Oper mit Trompeten und Schellen; ei, wie war die schön!
Per war weiß und rot, klein und gewöhnlich; er hatte in einer Gänseblume gelegen. Niemals schlug er um sich, wenn die andern Jungen ihn hauten, er sagte, daß er der Vernünftigste sei, und der Vernünftigste gibt immer nach. Er sammelte zuerst Griffel, dann Marken, dann schaffte er sich ein kleines Naturalienkabinett, in dem das Skelett eines Stichlings, drei bildgeborene Rattenjungen in Spiritus und ein ausgestopfter Maulwurf waren. Per hatte Sinn für das Wissenschaftliche und Blick für die Natur, und das war erfreulich für die Eltern und für Per auch. Er ging lieber in den Wald als in die Schule, lieber in die Natur als in die Dressur; seine Brüder waren schon verlobt, als er noch dafür lebte, seine Sammlung von Wasservogeleiern zu vervollständigen. Er wußte bald viel mehr von den Tieren als von den Menschen, ja, er meinte, daß wir das Tier in dem, was wir am höchsten schätzen, nicht erreichen können, in der Liebe. Er sah, daß, während das Nachtigallweibchen auf seinen Eiern brütete, der Nachtigallvater dasaß und die ganze Nacht seiner kleinen Frau »Kluck, kluck! Zi, zi! Lo, lo, li!« vorsang. Das hätte Per nie tun oder sich dazu hergeben können. Wenn die Storchmutter mit ihren Jungen im Nest lag stand der Storchvater die ganze Nacht auf einem Bein auf dem Dachfirst, Per hätte so nicht eine Stunde stehen können. Und als er eines Tages das Gewebe der Spinne betrachtete und was darin saß, da gab er den Ehestand ganz auf. Herr Spinne webt, um unbedachtsame Fliegen zu fangen, junge und alte, blutreiche und winddürre, er lebt, um zu weben und seine Familie zu ernähren, aber Madame Spinne lebt einzig und allein für ihren Mann. Sie ißt ihn auf vor lauter Liebe, sie ißt sein Herz, seinen Kopf, seinen Leib, nur seine langen, dünnen Beine bleiben zurück im Spinngewebe, wo er mit Nahrungssorgen für die ganze Familie saß. Das ist die reine Wahrheit, direkt aus der Naturgeschichte. Das sah Per, das überdachte er, »so von seiner Frau geliebt zu werden, von ihr aufgegessen zu werden in gewaltsamer Liebe. Nein, so weit treibt es kein Mensch; und wäre es zu wünschen?«
Per beschloß, sich nie zu verheiraten! Nie einen Kuß zu geben oder zu nehmen, der wie der erste Schritt in den Ehestand aussehen könnte. Aber einen Kuß bekam er doch, einen, den wir alle bekommen, des Todes großen Kuß. Wenn wir lange genug gelebt haben, dann bekommt der Tod die Order: »Küß weg!« Und dann ist der Mensch weg; da leuchtet ein Sonnenblitz vom lieben Gott, so hell, daß es uns schwarz wird vor den Augen; die Menschenseele, die wie eine Sternschnuppe kam, fliegt wieder hin wie eine Sternschnuppe, aber nicht, um in einer Blume zu ruhen oder unter einem Seerosenblatt zu träumen; sie hat wichtigere Dinge vor, sie fliegt hinein in das große Ewigkeitsland, aber wie es dort ist und aussieht, kann niemand sagen. Keiner hat da hineingesehen, nicht einmal der Storch, wie weit er auch sieht und wieviel er auch weiß; er wußte nun auch nicht das mindeste mehr von Per, aber dagegen von Pieter und Peter, aber von denen hatte ich genug gehört, und das hast du wohl auch; so sagte ich dem Storch Dank für diesmal, aber nun verlangt er für diese kleine, gewöhnliche Geschichte drei Frösche und ein Schlangenjunges, er nimmt Bezahlung in Lebensmitteln. Willst du bezahlen? Ich will nicht! Ich habe weder Frösche noch junge Schlangen.

Hans Christian Andersen – Sie taugte nichts

Hans Christian Andersen

Sie taugte nichts
Der Stadtvogt stand am offenen Fenster. Er hatte ein Oberhemd an und eine Brustnadel in der Hemdkrause stecken und war außerordentlich gut rasiert, das hatte er eigenhändig getan und sich dabei nur einen kleinen Schnitt zugezogen, doch über diesen hatte er ein Stückchen Zeitungspapier geklebt.
„Hörst Du, Kleiner“ rief er.
Der Kleine war aber niemand Anderes als der Sohn der Waschfrau, der eben vorbeiging und ehrerbietig seine Mütze zog. Der Schirm war geknickt und auch sonst war sie nach und nach so eingerichtet worden, daß man sie in die Tasche stecken konnte. In seinen ärmlichen aber sauberen und durchaus ordentlich geflickten Kleidern und den schweren Holzschuhen stand der Knabe ehrerbietig da, als ob er vor dem Könige selber stehe.
„Du bist ein guter Junge“ sagte der Stadtvogt, „Du bist ein höflicher Junge Deine Mutter spült wohl Wäsche unten am Fluß. Dahin sollst Du wohl auch mit dem, was Du in der Tasche hast. Das ist eine schlimme Sache mit Deiner Mutter. Wieviel hast Du da?“
„Ein halb Nößel,“ sagte der Knabe mit erschreckter, halbleiser Stimme.
„Und heute morgen bekam sie ebensoviel,“ fuhr der Mann fort.
„Nein, gestern war es“ antwortete der Knabe.
„Zwei halbe geben ein ganzes. -Sie taugt nichts. Es ist traurig mit dieser Volksklasse. -Sag Deiner Mutter, sie sollte sich schämen. Und werde nicht auch zum Trunkenbold, aber das wirst Du ja doch. -Armes Kind. -Geh nun.“
Und der Knabe ging; die Mütze behielt er in der Hand und der Wind blies durch sein blondes Haar, sodaß es sich in langen Strähnen aufrichtete. Er ging um die Straßenecke in das Gäßchen zum Flusse hinab, wo die Mutter draußen im Wasser neben der Waschbank stand und mit dem Wäscheklöpfel auf das schwere Leinen schlug. Es war starke Strömung im Flusse, denn die Schleusen der Wassermühle waren geöffnet. Die Laken wurden vom Strome fortgetrieben und rissen fast die Waschbank mit sich; die Waschfrau mußte sich kräftig dagegenstemmen.
„Ich bin nahe daran, fortzuschwimmen.“ sagte sie, „es ist gut, daß Du kommst, denn eine Hülfe tut den Kräften schon not! Es ist kalt hier draußen im Wasser; sechs Stunden habe ich schon hier gestanden. Hast Du etwas für mich?“
Der Knabe zog die Flasche hervor und die Mutter setzte sie an den Mund und trank einen Schluck.
„Ach, das tut gut. Wie das wärmt. Das ist ebenso gut wie warmes Essen, und es ist nicht so teuer. Trink, mein Junge. Du siehst so blaß aus, Du frierst in den dünnen Kleidern; es ist ja auch Herbst. Hu, Das Wasser ist kalt. Wenn ich nur nicht krank werde. Aber das tue ich nicht. Gib mir noch einen Tropfen und trinke auch, aber nur einen kleinen Tropfen, Du darfst Dich nicht daran gewöhnen, mein liebes armes Kind.“
Sie ging um die Brücke, auf der der Knabe stand, und trat aufs Land. Das Wasser triefte aus der Schilfmatte, die sie um den Leib gebunden trug und es triefte auch aus ihrem Hemde.
„Ich quäle und placke mich ab, daß mir das Blut fast unter den Nägeln hervorspritzt, aber das tut nichts, wenn ich Dich nur ehrlich durch die Welt bringe, mein Kind.“
Im gleichen Augenblick kam eine etwas ältere Frau, ärmlich an Kleidung und Gestalt. Sie hinkte auf dem einen Bein und trug über dem einen Auge eine mächtige falsche Locke, das sollte von der Locke verdeckt werden, aber das Gebrechen fiel dadurch nur noch mehr in die Augen. Es war eine Freundin der Waschfrau, „Humpelmaren mit der Locke“ nannten die Nachbarn sie.
„Du Ärmste, wie Du Dich quälen und placken und in dem kalten Wasser stehen mußt. Du hast doch wahrhaftig ein bißchen Warmes nötig, und doch mißgönnt man Dir noch den Tropfen, den Du bekommst!“
Und nun war bald des Stadtvogts ganze Rede zu dem Knaben der Waschfrau zu Ohren gebracht; denn Maren hatte das Ganze mitangehört und es hatte sie geärgert, daß er zu dem Kinde so von seiner eigenen Mutter und von dem Tropfen, den sie zu sich nahm, sprach, wehrend er gleichzeitig große Essen abhielt, bei denen der Wein flaschenweise floß. „Feine Weine und starke Weine werden da getrunken, auch ein bißchen über den Durst bei vielen. Aber das nennt man beileibe nicht trinken! Sie taugen etwas, aber Du taugst nichts!“
„Hat er so zu Dir gesprochen, Kind“ sagte die Waschfrau und ihre Lippen bewegten sich zitternd. „Du hast eine Mutter, die nichts taugt. Vielleicht hat er recht, aber dem Kinde hätte er das nicht sagen dürfen. Doch von diesem Hause kommt viel über mich.“ „Ihr habt ja dort im Hause gedient, als des Stadtvogts Eltern noch lebten und dort wohnten; das ist viele Jahre her. Seit der Zeit sind viele Scheffel Salz gegessen worden, da kann man schon Durst bekommen!“ und Maren lachte. „Heute ist großes Mittagessen beim Stadtvogt, es sollte abgesagt werden, aber es wurde zu spät, und das Essen war schon fertig. Ich habe es von dem Hausknechte. Vor einer Stunde ungefähr ist ein Brief gekommen, daß der jüngere Bruder in Kopenhagen gestorben ist.“
„Gestorben“ schrie die Waschfrau auf und wurde totenbleich.
„Aber ja doch“ sagte die Frau. „Geht es Euch so nahe? Nun ja, Ihr habt ihn ja gekannt von der Zeit an, wo Ihr im Hause dientet.“
„Ist er tot! Er war der beste Mensch auf Erden. Unser Herrgott bekommt nicht viele, wie er war.“ Und Tränen liefen über ihre Wangen. „O, mein Gott. Es dreht sich alles vor mir im Kreise. Das kommt, weil ich die Flasche ausgetrunken habe; ich habe es nicht vertragen können. Ich fühle mich so krank“ und sie lehnte sich gegen einen Bretterzaun.
„Aber Mutter, Ihr seid ja ganz krank“ sagte die Frau. „Seht nur, daß es vorübergeht! Nein, Ihr seid wirklich krank. Es wird das beste sein, daß ich Euch nachhause bringe!“
„Aber die Wäsche hier.“
„Da laßt mich nur machen. Faßt mich unter den Arm. Der Junge kann hier bleiben und solange aufpassen. Nachher komme ich und wasche den Rest. Es ist ja nicht mehr viel übrig.“
Und die Waschfrau schwankte auf ihren Füßen.
„Ich habe zu lange in dem kalten Wasser gestanden. Seit heute morgen habe ich weder etwas Warmes noch etwas Kaltes in den Magen bekommen! Ich fühle, wie das Fieber in meinem Körper sitzt. O, Herr Jesus, hilf mir nachhause. Mein armes Kind“ und sie brach in Tränen aus.
Der Knabe weinte und saß bald allein am Flusse neben der nassen Wäsche. Die beiden Frauen gingen nur langsam, die Waschfrau schwankend, das Gäßchen entlang, sie bogen um die Ecke am Hause des Stadtvogts vorbei, und gerade vor diesem sank sie auf das Pflaster. Die Leute liefen zusammen.
Humpelmaren lief in das Haus um Hülfe. Der Stadtvogt mit seinen Gästen sah aus dem Fenster.
„Das ist die Waschfrau“ sagte er. „Sie hat wohl eins über den Durst getrunken; sie taugt nichts. Es ist schade um ihren hübschen Jungen. Für das Kind habe ich etwas übrig. Aber die Mutter taugt nichts.“ Dann wurde sie wieder zur Besinnung gebracht und in ihr ärmliches Heim geführt, wo man sie auf das Bett legte. Die brave Maren machte ihr eine Tasse warmes Bier mit Butter und Zucker zurecht, eine Medizin, die sie immer für die beste hielt. Und dann ging sie zum Flusse hinunter und spülte schlecht aber mit viel guter Meinung die Wäsche, sie zog das nasse Zeug eigentlich nur ans Land und nahm es mit sich.
Am Abend saß sie in der ärmlichen Stube bei der Waschfrau. Ein paar gebratene Kartoffeln und ein prächtig fettes Stück Schinken hatte sie von der Köchin des Stadtvogts für die Kranke bekommen, daran taten sich der Knabe und Maren gütlich; die Kranke freute sich am Geruche, der so nährend wäre, wie sie sagte.
Und der Knabe kam ins Bett, in das gleiche Bett, in dem die Mutter lag, aber er hatte seinen Platz quer zu ihren Füßen und zog einen alten Fußteppich über sich, der aus roten und blauen Streifen zusammengenäht war.
Der Waschfrau ging es ein wenig besser; das warme Bier hatte sie gestärkt und der Duft des feinen Essens ihr wohlgetan.
„Dank, Du gute Seele“ sagte sie zu Maren. „Wenn der Junge schläft, will ich Dir auch alles sagen. Ich glaube, er tut es schon. Wie süß und lieb er doch aussieht mit den geschlossenen Augen. Er weiß nicht, wie schlecht es seiner Mutter geht. Der liebe Gott möge ihm ein anderes Schicksal bescheren! -Als ich bei Gerichtsrats, den Eltern des Stadtvogts diente, traf es sich, daß der Jüngste von den Söhnen, der damals Student war, heimkam; damals war ich jung, wild und warmblütig, aber anständig, das kann ich auch vor Gott getrost behaupten!“ sagte die Waschfrau. -„Der Student war so lustig und fröhlich, ein prachtvoller Mensch. Jeder Blutstropfen in ihm war rechtschaffen und gut. Einen besseren Menschen gab es auf der ganzen Welt nicht. Er war der Sohn des Hauses und ich nur das Dienstmädchen, aber wir wurden uns einig in Zucht und Ehren. Ein Kuß ist doch keine Sünde, wenn man einander richtig lieb hat. Und dann sagte er es seiner Mutter, die für ihn der Herrgott hier auf Erden war. Und sie war auch so klug, so liebevoll und so gut. -Dann reiste er fort und setzte mir seinen goldenen Ring auf den Finger. Als er fort war, rief mich meine Dienstherrin in ihr Zimmer. Ernst und doch so mild stand sie da und sprach mit mir, wie der liebe Gott auch hätte sprechen können. Sie erklärte mir den Abstand in Geist und Bildung zwischen ihm und mir. Jetzt sieht er noch, wie hübsch Du aussiehst, aber die Schönheit vergeht! Du bist nicht in dem Stande erzogen wie er, Ihr seid in den Reichen des Geistes nicht gleich, und darin liegt das Unglück. Ich achte den Armen, sagte sie, bei Gott erhält er vielleicht einen höheren Platz als mancher Reiche, aber auf Erden darf man nicht in der verkehrten Spur fahren, wenn man vorwärts will, sonst schlägt der Wagen um, und Ihr beiden würdet umschlagen! Ich weiß, daß ein braver Mann, ein Handwerker, um Dich gefreit hat, es ist der Handschuhmacher Erik. Er ist Witwer, er hat keine Kinder und steht sich gut; denke darüber nach.“ Jedes Wort, was sie sagte, schnitt mir wie ein Messer ins Herz, aber die Frau hatte recht. Und das drückte mich und lastete auf mir. Ich küßte ihr die Hand und weinte meine bittersten Tränen und noch mehr, als ich dann in meiner Kammer war und mich übers Bett warf. Es war eine schwere Nacht, die dieser Stunde folgte; der liebe Gott weiß es, wie ich gelitten und gestritten habe. Dann ging ich am Sonntag zum Abendmahl, um innere Klarheit zu finden. Da geschah es wie in einer Fügung, daß ich gerade den Handschuhmacher Erik traf, als ich aus der Kirche kam. Da war es mit meinen Zweifeln vorbei, wir paßten zu einander in Stellung und Verhältnissen, ja, er war sogar ein wohlhabender Mann, und so ging ich gerade auf ihn zu, nahm seine Hand und sagte: Sind Deine Gedanken immer noch bei mir? -Ja, ewig und immer werden sie das sein. sagte er. -Willst Du ein Mädchen haben, das Dich achtet und ehrt, wenn es Dich auch nicht liebt? Aber auch das kann wohl noch kommen. -Das wird kommen sagte er, und dann gaben wir einander die Hand. Ich ging heim zu meiner Dienstherrin. Den Goldring, den der Sohn mir gegeben hatte, trug ich auf meiner bloßen Brust, am Tage konnte ich ihn nicht auf meinen Finger setzen, aber jeden Abend, wenn ich mich ins Bett legte, setzte ich ihn auf. Ich küßte den Ring, daß meine Lippen dabei bluteten. Und dann gab ich ihn meiner Dienstherrin und sagte, daß ich in der nächsten Woche von der Kanzel herab mit dem Handschuhmacher aufgeboten werden würde. Da nahm sie mich in ihre Arme und küßte mich -sie sagte nicht, daß ich nichts tauge, aber damals war ich vielleicht auch noch besser, obgleich ich noch nicht so viel Widerstand im Leben hatte durchmachen müssen. Zu Lichtmeß fand dann die Hochzeit statt. Das erste Jahr ging es gut, wir hielten einen Gesellen und einen Burschen, und damals dientest Du auch bei uns, Maren.“
„Ach, Ihr wart mir eine gute Dienstherrin“ sagte Maren. „Niemals werde ich vergessen, wie freundlich Ihr und Euer Mann zu mir waret.“
„Das waren die guten Jahre, in denen Du bei uns warst -Kinder hatten wir da noch nicht. -Den Studenten sah ich niemals mehr. -Doch, ich sah ihn, aber er sah mich nicht. Er kam zu seiner Mutter Begräbnis. Ich sah, ihn am Grabe stehen, er war kreideweiß und tiefbetrübt, aber es war um der Mutter willen! Als später der Vater starb, war er in fremden Ländern und kam nicht her, auch später ist er nicht mehr hier gewesen. Niemals hat er sich verheiratet, das weiß ich; er war wohl Rechtsanwalt. -An mich dachte er nicht mehr und hätte er mich gesehen, so hätte er mich wohl nicht mehr erkannt, so häßlich bin ich geworden. Und das ist ja auch gut so!“
Und sie sprach von den schweren Tagen der Prüfung, wie das Unglück geradezu über sie hergefallen war. Sie besaßen fünfhundert Reichstaler, und da in der Straße ein Haus für zweihundert zu haben war und es sich gelohnt hätte, es niederzureißen und ein neues zu bauen, wurde das Hausgekauft. Der Maurer und der Zimmermann machten einen Überschlag, wonach das weitere noch eintausendzwanzig Mark kosten würde. Kredit hatte der Handschuhmacher, das Geld bekam er in Kopenhagen geliehen, aber der Schiffer, der es bringen sollte, ging unter und das Geld mit.
Damals war es, daß mein lieber Junge, der hier schläft, geboren wurde. ­Der Vater fiel in eine schwere langwierige Krankheit. Dreiviertel Jahr lang mußte ich ihn aus-und anziehen. Es ging immer weiter rückwärts mit uns; wir liehen und liehen, all unser Eigentum ging verloren und der Vater starb. -Ich habe mich gequält und geplagt, habe gestritten und gestrebt um des Kindes willen, habe Treppen gescheuert und Wäsche gewaschen, grobe und feine. Aber Gott wollte, daß ich es nicht besser haben sollte, aber er wird mich wohl einmal erlösen und für den Knaben sorgen.“
Dann schlief sie ein.
Am Morgen fühlte sie sich gekräftigt und, wie sie glaubte, stark genug, wieder an ihre Arbeit zu gehen. Sie war eben in das kalte Wasser gestiegen, als ein Zittern, eine Ohnmacht sie befiel. Krampfhaft griff sie mit der Hand nach vorwärts, machte einen Schritt an das Land und fiel dann um. Der Kopf war auf dem Trockenen, aber die Füße lagen draußen im Fluß. Ihre Holzschuhe, mit denen sie auf dem Grunde gestanden hatte -in jedem von ihnen war eine Strohlage -trieben in der Strömung; hier wurde sie von Maren aufgefunden, die mit Kaffee herunterkam.
Vom Stadtvogt war eine Bestellung zuhause, daß sie sogleich zu ihm kommen möge, er habe ihr etwas zu sagen. Das war zu spät. Ein Barbier wurde geholt, um ihr zur Ader zu lassen; aber die Waschfrau war tot.
„Sie hat sich totgetrunken!“ sagte der Stadtvogt.
In dem Briefe, der die Nachricht vom Tode des Bruders brachte, war der Inhalt des Testaments angegeben und darin stand, daß sechshundert Reichstaler der Handschubmacherswitwe vermacht waren, die einmal bei seinen Eltern gedient habe. Nach bestem Gewisses sollte das Geld in kleineren oder größeren Teilen ihr und ihrem Kinde übergeben werden.
„Da hat einmal so ein Techtelmechtel zwischen meinem Bruder und ihr stattgefunden!“ sagte der Stadtvogt. „Gut: daß sie aus dem Wege ist, nun bekommt der Knabe das Ganze. Ich werde ihn zu braven Leuten geben, daß ein guter Handwerker aus ihm wird.“ -Und in diese Worte legte der liebe Gott seinen Segen.
Der Stadtvogt rief den Knaben zu sich, versprach, für ihn zu sorgen und sagte zu ihm, wie gut es sei, daß seine Mutter gestorben wäre, sie taugte nichts.
Sie wurde auf den Kirchhof gebracht, auf den Armenfriedhof. Maren pflanzte einen kleinen Rosenstrauch auf das Grab -und der Knabe stand an ihrer Seite.
„Meine liebe Mutter“ sagte er und seine Tränen strömten: „Ist es wahr, daß sie nichts taugte?“
„Ja, sie taugte!“ sagte das alte Mädchen und sah zum Himmel auf. „Ich weiß das seit langen Jahren und seit der letzten Nacht noch mehr. Ich sage Dir, sie taugte. Und unser Herrgott im Himmelreich sagt es auch. Laß die Welt nur ruhig sagen: sie taugt nichts!“

Hans Christian Andersen – Sonnenschein-Geschichten

Hans Christian Andersen

Sonnenschein-Geschichten

„Jetzt werde ich erzählen!“ sagte der Wind.
„Nein, erlauben Sie, „sagte das Regenwetter, „jetzt ist die Reihe an mir! Sie haben lange genug an der Straßenecke gestanden und haben geheult, was Sie heulen konnten!“
„Ist das der Dank“, sagte der Wind, „weil ich Ihnen zur Ehre manchen Regenschirm umgekippt, ja zerknickt habe, wenn die Leute nichts von Ihnen wissen wollten!“
„Ich erzähle!“ sagte der Sonnenschein. „Still!“, und das wurde mit Glanz und Majestät gesagt, so daß der Wind sich legte, so lang er war, aber das Regenwetter rüttelte den Wind und sagte: „Daß wir das ertragen müssen! Sie bricht immer durch, diese Madame Sonnenschein. Wir wollen sie nicht anhören! Es ist der Mühe nicht wert!“
Und der Sonnenschein erzählte:
„Es flog ein Schwan über das rollende Meer dahin, jede Feder desselben leuchtete wie Gold; eine Feder fiel herab auf das große Kaufmannsschiff, welches mit vollen Segeln vorüberglitt; die Feder fiel auf den Lockenkopf eines jungen Mannes, des Beaufsichtigers der Waren, Superkargo nannten sie ihn. Die Feder des Glücksvogels berühre seine Stirn, wurde zur Schreibfeder in seiner Hand, und er wurde bald der reiche Kaufmann, der sich schon Sporen von Gold kaufen und eine goldne Schüssel in einen Adelsschild verwandeln konnte; ich habe den Schild beschienen!“ sagte der Sonnenschein.
„Der Schwan flog über die grüne Wiese dahin, wo der kleine Schafhüter, ein Knaben von sieben Jahren, sich in den Schatten des alten einzigen Baumes hingestreckt hatte. Und der Schwan in seinem Fluge küßte ein Blatt des Baumes und das Blatt fiel herab, in die Hand des Knaben, und dieses eine Blatt wurde zu dreien, wurde zu zehn Blättern, wurde zu einem ganzen Buch, und der Knabe las in demselben von den Wunderwerken der Natur, von der Muttersprache, von Glauben und Wissen. Wenn er schlafen ging, legte er das Buch unter seinen Kopf, damit er nicht vergessen möchte, was er gelesen, und das Buch trug ihn auf die Schulbank und zu dem Tische des Gelehrten. Ich habe seinen Namen unter denen der Gelehrten gelesen!“ sagte der Sonnenschein. „Der Schwan flog in die Waldeinsamkeit, ruhte sich dort aus auf den stillen dunklen Seen, wo die Wasserlilien blühen, wo die wilden Waldäpfel wachsen und des Kuckucks und der Waldtaube Heimat ist. Eine arme Frau las dort Reisig auf; herabgefallene Baumzweige, die sie in einem Bündel auf ihrem Rücken trug, ihr Kind trug sie an der Brust, und so wanderte sie ihren Weg nach Hause. Sie sah den goldenen Schwan, den Glücksschwan, sich von dem schilfbewachsenen Ufer emporschwingen. Was glänzte dort? Ein goldiges Ei; es war noch warm. Sie legte es an ihre Brust, und es blieb warm, das Ei hatte gewiß Leben. Ja, es tickte hinter der Schale; sie fühlte das und glaubte, es sei ihr eigenes Herz, welches klopfte.
Zu Hause in ihrem ärmlichen Stübchen nahm sie das Goldei hervor. Ticktick! sagte es, als sei es eine köstliche goldene Uhr, aber es war ein Ei mit lebendigem Leben. Das Ei platzte, ein kleines Schwanenjunges, wie aus dem reisten Gold, strecke das Köpfchen hervor; das Junge hatte vier Ringe und den Hals, und da die arme Frau gerade vier Knaben, drei zu Hause und den vierten, den sie bei sich in der Waldeinsamkeit getragen, hatte, so begriff sie sogleich, daß hier ein Ring für jedes der Kinder sei, und indem sie das begriff, flog der kleine Goldvogel davon.
Sie küßte jeden Ring, ließ jedes der Kinder einen von den Ringen küssen, legte diesen an das Herz des Kindes und steckte ihn an seinen Finder.
„Ich sah dies alles“ sagte der Sonnenschein, „ich sah auch, was darauf geschah.
Der eine Knabe setzt sich an den Lehmgraben, nahm einen Klumpen Lehm zur Hand, drehte und formte ihn mit den Fingern, und es wurde eine Jasongestalt daraus, die, welche das Goldene Vlies geholt hatte.
Der zweite der Knaben lief sogleich auf die Wiese hinaus, wo Blumen in allen denkbaren Farben standen; er pflückte eine Handvoll, drückte sie, daß der Saft ihm in die Augen spritzte und den Ring benetzt; es kribbelte und krabbelte in Gedanken und in der Hand, und nach Jahren und Tagen sprach die große Stadt von dem großen Meister.
Der dritte der Knaben hielt den Ring so fest in seinem Mund, daß er Klang und Widerhall vom Herzboden gab, Gefühle und Gedanken stiegen empor in Tönen, stiegen empor wie singende Schwäne, tauchten wie Schwäne hinab in den tiefen See, den tiefen See der Gedanken; er wurde ein Meister der Töne, jedes Land kann nun sagen: „Mir gehört er an!“
Der vierte Kleine, ja, der war nun der Zurückgesetzte; er habe den Pips, sagten die Leute, er müsse Pfeffer und Butter haben, wie die kranken Hühner, geschmiert werden -und das meinten sie nun in ihrem Sinne, und Schmiere bekam er, aber von mir bekam er einen Sonnenschein-Kuß!“ sagte der Sonnenschein. „Er bekam zehn Küsse für einen. Er war eine Dichter-Natur, er wurde gebliebkost und geküßt; aber den Glücksring hatte er vom goldenen Schwan des Glücks. Seine Gedanken flogen aus wie singende Schmetterlinge, der Unsterblichkeit Symbol.“
„Das war eine lange Geschichte!“ sagte der Wind.
„Und langweilig!“ sagte das Regenwetter.
„Blase mich an, daß ich mich wieder erhole!“
Und der Wind blies, und der Sonnenschein erzählte:
Der Glücksschwan flog über den tiefen Meerbusen dahin, wo die Fischer ihr Garn ausgeworfen hatte. Der ärmste derselben dachte daran, sich zu verheiraten und er heiratete.
Ihm brachte der Schwan ein Stück Bernstein, und der Bernstein zieht an, er zog die Herzen ans Haus heran. Bernstein ist die schönste Räucherung. Es kam ein Duft ins Haus wie aus der Kirche, ein Duft wie aus der Natur Gottes. Er und die Seinen empfangen so recht das Glück des häuslichen Lebens, Zufriedenheit n kleinen Verhältnisse, und ihr Leben gestaltete sich deshalb auch zu einer ganzen Sonnenschein-Geschichte.“
„Brechen wir aber jetzt ab!“ sagte der Wind. „Nun hat der Sonnenschein lange genug erzählt. Ich habe mich gelangweilt!“
„Ich auch“, sagte das Regenwetter.
Was sagen nun wir anderen, die wir die Geschichten gehört haben?
Wir sagen: „Nun sind sie aus!“.