Hans Christian Andersen – Elfenhügel

Hans Christian Andersen

Elfenhügel

Da schlüpften so flink einige Eidechsen in den Spalten eines alten Baumes umher; sie konnten einander gut verstehen, denn sie sprachen die Eidechsensprache.
»Nein, wie es poltert und brummt in dem alten Elfenhügel« sagte die eine Eidechse, »ich habe vor dem Spektakel nun schon zwei Nächte lang kein Auge zugetan, ebensogut könnte ich liegen und Zahnschmerzen haben, denn dann schlafe ich auch nicht.«
»Da muß irgendetwas los sein drinnen!« sagte die andere Eidechse, »den Hügel lassen sie auf vier roten Pfählen bis zum ersten Hahnenschrei stehen, es wird gründlich ausgelüftet, und die Elfenmädchen haben neue Tänze eingeübt. Da muß irgend etwas los sein.«
»Ja, ich habe mit einem Regenwurm aus meinem Bekanntenkreise gesprochen,« sagte die dritte Eidechse, »der Regenwurm kam gerade aus dem Hügel heraus, wo er Tag und Nacht in der Erde gewühlt hatte. Der hatte allerlei gehört, sehen kann es ja nicht, das arme Tier, aber vorfühlen und nachhören, das versteht er. Sie erwarten Besuch im Elfenhügel, vornehmen Besuch, aber wen, das wollte der Regenwurm nicht sagen, oder er wußte es vielleicht selbst nicht. Alle Irrlichter sind zu einem Fackelzug, wie man es nennt, befohlen, und das Silber und Gold, wovon es genug im Hügel gibt, wird poliert und in den Mondschein hinausgestellt!«
»Wer mögen nur die Fremden sein?« sagten alle Eidechsen. »Was mag nur los sein? Hört, wie es summt! Hört, wie es brummt!«
Da öffnete sich der Elfenhügel und ein altes Elfenmädchen kam trippelnd heraus. Ihr Rücken war bloß, aber sonst war sie sehr anständig angezogen. Es war des alten Elfenkönigs Haushälterin, eine entfernte Verwandte, die ein Bernsteinherz auf der Stirn trug. Sie setzte die Beinchen so flink, tripp, tripp! Potztausend, wie sie trippeln konnte und zwar ging es hinunter ins Moor zum Nachtraben.
»Sie werden zum Elfenhügel eingeladen für diese Nacht!« sagte sie, aber wollen Sie uns nicht zuvor einen großen Dienst erweisen und die Einladungen übernehmen? Sie müssen auch etwas tun, da sie selbst kein Haus machen! Es kommen einige hochvornehme Fremde aus dem »Wer soll eingeladen werden?« fragte der Nachtrabe.
»Ja, zum großen Ball kann jedermann kommen, selbst Menschen, wenn sie im Schlafe sprechen oder irgend etwas an sich haben, was in unsere Art schlägt. Aber bei dem vorhergehenden Fest muß strenge Auswahl herrschen, wir wollen nur die Allervornehmsten dabei haben. Ich habe mich schon mit dem Elfenkönig gezankt, denn ich meinte, wir könnten nicht einmal die Gespenster zulassen. Der Wassernix und seine Töchter müssen zuerst eingeladen werden, sie finden zwar nicht viel Spaß daran, auf das Trockene zu kommen, aber sie sollen mindestens jeder einen nassen Stein zum sitzen bereitgestellt finden, wenn nicht sogar etwas Besseres, da hoffe ich denn, daß sie dieses Mal nicht absagen werden. Alle alten Trolle erster Klasse mit Schwanz, alle Nixen und Wichtelmännchen müssen wir haben, und dann denke ich, können wir den Werwolf, das Höllenpferd und die Kirchenwichtel nicht gut übergehen; eigentlich gehören sie ja zur Geistlichkeit, die nicht mit zu unseren Leuten zählt, aber das ist nun einmal ihr Amt; sie gehören immerhin zur näheren Familie und machen uns ständig Besuche.«
»Bra!« sagte der Nachtrabe und flog von dannen, um einzuladen.
Die Elfenmädchen tanzten schon auf dem Elfenhügel, sie schwebten auf und nieder mit ihren langen Schals, die aus Nebel und Mondschein gewoben waren, und sahen gar lieblich aus für jemand, der an dergleichen Gefallen findet. Mitten im Elfenhügel war der große Saal prächtig geschmückt. Der Boden war mit Mondschein gewaschen und die Wände mit Hexenfett abgerieben, so daß sie wie Tulpenblätter im Lichte schimmerten. In der Küche waren reichlich Vorräte aufgestapelt: Frösche am Spieß, Kinderfinger in Schneckenhaut mit Salat aus Pilzsamen, feuchte Mäuseschnauzen und Schierling, Bier von dem Gebräu der Sumpffrau und funkelnder Salpeterwein aus Grabgewölben. Alles war höchst solide und anständig; rostige Nägel und Kirchenfensterglas gehörten zum Naschwerk.
Der alte Elfenkönig ließ seine Goldkrone mit gestoßenem Griffel polieren; es war Tuffsteingriffel, und es ist mit großen Schwierigkeiten für einen Elfenkönig verknüpft, Tuffsteingriffel aufzutreiben! In den Schlafzimmern wurden Gardinen aufgehängt und mit Schneckenhörnern aufgeheftet. Ja, überall hörte man das geschäftige Summen und Brummen.
»Nun muß hier noch mit Roßhaar und Schweinsborsten geräuchert werden, dann bin ich für meinen Teil fertig!« sagte das alte Elfenmädchen. »Nun ja,« sagte er, »da muß ich es wohl sagen. Zwei meiner Töchter müssen sich zur Hochzeit bereit halten. Zwei von Euch werden sicher fortheiraten. Der alte Troll oben aus Norwegen, der, der im alten Dovrefelsen wohnt, und die vielen Klippenschlösser aus Felsblöcken und ein Goldbergwerk hat, das ertragreicher ist, als man glaubt, kommt mit seinen zwei Söhnen herunter; die sollen sich eine Frau aussuchen. Der alte Troll ist so ein richtiger alter, ehrlicher, moralischer Greis, lustig und geradezu, ich kenne ihn aus alten Tagen, als wir Duzbrüderschaft tranken und er hier unten war, um sich seine Frau zu holen. Nun ist sie tot. Sie war eine Tochter des Felsenkönigs von Möen, und er saß tüchtig bei ihr in der Kreide, wie man zu sagen pflegt. O, wie ich mich nach dem alten nordischen Troll sehne. Die Söhne sollen ein paar unerzogene, hochnäsige Schlingel sein, aber man kann ihnen ja auch damit unrecht tun, und mit den Jahren werden sie schon Vernunft annehmen. Seht nun zu, daß Ihr ihnen Lebensart beibringt!«
»Und wann kommen sie?« fragte die eine Tochter.
»Das kommt auf Wind und Wetter an,« sagte der Elfenkönig. »Sie reisen sparsam! Sie wollten eine Schiffsgelegenheit benutzen. Ich wollte, sie sollten über Schweden gehen, aber der Alte findet noch immer keinen Geschmack daran. Er hält nicht mit seiner Zeit Schritt, und das kann ich nicht leiden!«
In diesem Augenblicke kamen zwei Irrlichter hereingehüpft, das eine schneller als das andere, und daher kam das eine zuerst.
»Sie kommen. Sie kommen!« riefen sie.
»Gebt mir meine Krone und laßt mich im Mondschein stehen!“ sagte der Elfenkönig.
Die Töchter hoben die Schals und verneigten sich bis zur Erde.
Da stand nun der alte Troll von Dovre mit seiner Krone von gehärteten Eiszapfen und polierten Tannenzapfen; sonst hatte er noch einen Bärenpelz und Wasserstiefel an; die Söhne dagegen gingen mit bloßem Halse und ohne Hosenträger; denn sie waren Kraftmänner.
»Ist das ein Hügel?« fragte der Jüngste der Söhne und zeigte auf den Elfenhügel. »Das nennen wir oben bei uns in Norwegen ein Loch.«
»Jungens!« sagte der Alte, »ein Loch geht nach innen, ein Hügel nach außen. Habt Ihr keine Augen im Kopfe?« »Spielt Euch nun nicht auf,« sagte der Alte, »man könnte sonst glauben, daß Ihr nicht richtig ausgebacken seid.«
Und dann gingen sie in den Elfenhügel hinein, wo eine wirklich feine Gesellschaft sich zusammengefunden hatte, und das in solcher Geschwindigkeit, als ob sie zusammengeweht wären. Für jeden war es nett und behaglich eingerichtet worden. Das Meervolk saß in großen Wasserkufen bei Tisch, und sie sagten, daß sie sich wie zuhause fühlten. Alle befleißigten sich guter Tischsitten, außer den beiden kleinen nordischen Trollen, die die Beine auf den Tisch legten. Sie waren der Ansicht, daß ihnen alles zu Gesichte stehe.
»Die Füße von der Schüssel,« sagte der alte Troll. Da gehorchten sie, aber auch noch nicht gleich. ihre Tischdamen kitzelten sie mit Tannenzapfen, die sie in der Tasche mit sich führten, und dann zogen sie ihre Stiefel aus, um behaglicher zu sitzen und gaben ihnen die Stiefel zu halten. Der Vater, der alte Dovre-Troll, war freilich ganz anders. Er erzählte so herrlich von den stolzen nordischen Felsen und von den Wasserfällen, die Schaumweiß mit einem Getöse wie Donnerschlag und Orgelklang herabstürzen. Er erzählte von dem Lachse, der stromaufwärts gegen das stürzende Wasser emporspringt, wenn der Wasserneck auf der Goldharfe spielt. Er erzählte von den schimmernden Winternächten, wenn die Schlittenschellen klingeln und die Burschen mit brennenden Fackeln über das blanke Eis laufen, das so durchsichtig ist, daß sie die Fische unter ihren Füßen aufschrecken sehen. Ja, er konnte erzählen, daß man sehen und hören konnte, was er sagte; es war, als höre man die Sägemühlen klappern, als sängen die Knechte und Mägde ihre Lieder und tanzten dazu ihre Tänze. Heisa. – Mit einem mal gab der alte Troll dem alten Elfenmädchen einen Gevatterschmatz. Das war ein ordentlicher Kuß, und dabei waren sie doch gar nicht miteinander verwandt.
Nun mußten die Elfenmädchen tanzen, sowohl die einfachen Tänze, als auch die, bei denen gestampft werden mußte; das ließ alle ihre Vorzüge zur Geltung kommen. Dann kam der Kunsttanz. Ei der Tausend, wie konnten sie die Beine werfen. Man wußte nicht mehr, wo Anfang und Ende, und nicht mehr, ob es Arm oder Bein war. Es ging alles durcheinander wie Sägespäne, und dann schnurrten sie herum, daß dem Höllenpferd übel wurde und es vom Tische gehen mußte.
»Prrrrr,« sagte der alte Troll, »ist das eine Wirbelei mit dem Beinwerk. Aber was können sie mehr als tanzen, Beinewerfen und Wirbelwind machen?« »Das sollst Du nun auch zu wissen bekommen,« sagte der Elfenkönig, und dann rief er seine älteste Tochter heran. Sie war so zierlich und klar wie Mondschein, sie war die feinste von allen Schwestern. Sie nahm einen weißen Span in den Mund, und dann war sie verschwunden; das war ihre Kunst.
Aber der alte Troll sagte, daß er solche Kunst bei seiner Frau nicht leiden könne, und er glaube auch nicht, daß seine Söhne davon begeistert seien.
Die zweite konnte sich selbst zur Seite gehen, als ob sie einen Schatten würfe, den besitzen die Elfen nämlich nicht.
Die dritte war von ganz anderem Schlag. Sie hatte im Bräuhaus der Sumpffrau gelernt, und sie war diejenige, die Elfenknorren mit Johanneswürmchen zu spicken verstand.
»Sie wird eine gute Hausfrau abgeben!« sagte der alte Troll und dankte mit den Augen beim Zutrinken, denn er wollte nicht so viel trinken.
Nun kam das vierte Elfenmädchen. Sie hatte eine große Goldharfe zum Spielen, und als sie die erste Saite anschlug, hoben alle das linke Bein, denn die Unterirdischen sind linksbeinig, und als sie die andere Saite anschlug, mußten alle tun, was sie wollte.
»Das ist ein gefährliches Frauenzimmer,« sagte der alte Troll; die beiden Söhne aber gingen zum Hügel hinaus, denn nun fanden sie es langweilig.
»Und was kann die nächste Tochter?« fragte der alte Troll.
»Ich habe gelernt, die Norweger zu lieben,« sagte sie, »und niemals werde ich mich vermählen, wenn ich nicht nach Norwegen komme.«
Aber die jüngste der Schwestern flüsterte dem alten Troll ins Ohr: »Das sagt sie nur, weil sie in einem nordischen Lied gehört hat, daß, wenn die Welt untergeht, doch die nordischen Felsen als Wahrzeichen stehen bleiben, und deshalb will sie dort hinauf, denn sie hat solche Angst vor dem Untergehen.«
»Ho, ho,« sagte der alte Troll, »geht es darauf hinaus, aber was kann die siebente und letzte?«
»Die sechste kommt vor der siebenten,« sagte der Elfenkönig, denn er konnte rechnen; aber die sechste wollte nicht recht hervorkommen.
»Ich kann nur den Leuten die Wahrheit sagen,« sagte sie, »mich mag keiner leiden und ich habe genug damit zu tun, mein Totenhemde zu nähen.«
Nun kam die siebente und letzte, und was konnte sie? Ja, sie konnte Märchen erzählen, und zwar so viele, wie sie nur wollte. Und das Elfenmädchen faßte ihn ums Handgelenk und er lachte, daß es in ihm kluckerte, und als sie zum Goldfinger kam, der einen Goldreif um den Leib hatte, gerade als ob er gewußt hätte, daß Verlobung sein sollte, sagte der alte Troll: »Halt fest was Du hast, die Hand ist Dein. Dich will ich selbst zur Frau haben.«
Und das Elfenmädchen sagte, daß der Goldfinger und der kleine Peter Spielmann noch übrig seien!
»Die wollen wir im Winter hören,« sagte der alte Troll, »und von der Tanne wollen wir hören und von der Birke und den Gaben der Unterirdischen und dem klingenden Frost. Du sollst schon zum Erzählen kommen, denn das macht bis jetzt keiner da oben richtig! – Und dann wollen wir in der steinernen Halle sitzen, wo der Kienspan brennt, und Met trinken aus den Goldhörnern der alten nordischen Könige; der Neck hat mir ein paar davon geschenkt! Und wenn wir dann sitzen, kommt der Hofwichtel und macht Besuch, und dann singt er Dir alle Weisen der Hütermädchen vor. Das wird lustig werden. Der Lachs wird den Wasserfall hinausspringen und gegen die Steinwände schlagen, aber er kommt doch nicht herein. – Ja, Du kannst mir glauben, es ist gut sein in dem lieben alten Norwegen. Aber wo sind die Jungen?«
Ja, wo waren die Jungen? Die liefen auf den Feldern umher und bliesen die Irrlichter aus, die so nett und gesittet daherkamen, um einen Fackelzug zu machen.
»Treibt man sich so herum,« sagte der alte Troll, »nun habe ich mir eine Mutter für Euch genommen, und Ihr könnt Euch jetzt eine Tante nehmen!«
Aber die Jungen sagten, daß sie lieber eine Rede halten und Brüderschaft trinken wollten. Zum Heiraten hätten sie keine Lust. – Und dann hielten sie Reden, tranken Brüderschaft und machten die Nagelprobe, um zu zeigen, daß sie ausgetrunken hätten. Dann zogen sie die Kleider aus und legten sich ohne viel Federlesens auf den Tisch, um zu schlafen, denn sie genierten sich nicht. Aber der alte Troll tanzte in der Stube herum mit seiner jungen Braut und wechselte Stiefel mit ihr, denn das ist feiner als Ringe wechseln.
»Nun kräht der Hahn,« sagte das alte Elfenmädchen, die das Haus zu besorgen hatte. »Jetzt müssen wir die Fensterläden schließen, damit uns die Sonne nicht verbrennt!«
Und dann schloß sich der Hügel.
»Ich mochte die Jungen lieber!« sagte der Regenwurm, aber der konnte ja nichts sehen, das elende Tier.

Hans Christian Andersen – Es ist ein Unterschied

Hans Christian Andersen

Es ist ein Unterschied

Es war im Monat Mai, der Wind blies noch kalt: aber der Frühling sei da, sagten Büsche und Bäume, Feld und Wiese. Es wimmelte von Blüten, und zwar bis oben in die Hecke hinauf. Und just dort verfocht der Frühling selbst seine Sache. Er sprach von einem kleinen Apfelbäumchen herab. Daran saß nur ein einziger Zweig, der war so frisch, so blühend und ganz übersät mit feinen, rosenroten Knospen, die sich eben öffnen wollten; er wußte auch selbst, wie schön er war, denn das liegt im Blatt ebenso wie im Blut. Deshalb war er auch nicht überrascht, als der herrschaftliche Wagen vor ihm auf dem Wege anhielt und die junge Gräfin sagte, daß der Apfelzweig das lieblichste sei, was man sehen könne, er sei der Frühling selbst in seiner herrlichsten Offenbarung. Und der Zweig wurde abgebrochen und sie hielt ihn in ihrer feinen Hand und beschattete ihn mit ihrem seidenen Sonnenschirme. So fuhren sie nach dem Schlosse, wo es hohe Säle und reichgeschmückte Zimmer gab. Lichte, weiße Vorhänge flatterten an den offenen Fenstern, und herrliche Blumen standen in glänzenden, durchsichtigen Vasen, und in einer von diesen, die wie aus frischgefallenem Schnee geschnitten glitzerte, wurde der Apfelzweig mitten zwischen frische, lichtgrüne Buchenzweige gesetzt; es war eine Lust, ihn anzuschauen!
Da wurde der Zweig stolz, und das war ja nur menschlich!
Es kamen vielerlei Leute durch die Zimmer, und je nach ihrer Geltung durften sie ihrer Bewunderung Ausdruck geben. Manche sagten gar nichts und manche sagten zu viel, und der Apfelzweig sah daraus, daß es einen Unterschied zwischen den Menschen gibt ebenso wie zwischen den Gewächsen. „Manche sind zum Staat da, manche zur Nahrung und manche sind ganz überflüssig“ meinte der Apfelzweig, und da er just an das offene Fenster gesetzt worden war, von wo aus er in den Garten, aber auch auf das Feld hinaus sehen konnte, gab es für ihn Blumen und Pflanzen genug zum Betrachten und um sich Gedanken darüber zu machen. Da standen reiche und arme, einige allzu arme.
„Arme, verworfene Kräuter“ sagte der Apfelzweig, „da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Wie müssen sie sich unglücklich fühlen, wenn sie überhaupt fühlen können wie ich und meinesgleichen. Da ist wahrlich ein Unterschied gemacht! Aber er muß ja auch gemacht werden, sonst ständen wir ja alle auf der gleichen Stufe.“ Und der Apfelzweig betrachtete mit einer Art Mitleid besonders eine Sorte von Blumen, die in großen Mengen an Feldern und Gräbern wuchsen. Niemand band sie zum Strauße, sie waren allzu gewöhnlich. Ja man konnte sie selbst zwischen den Pflastersteinen finden; sie schossen emporwie das ärgste Unkraut, und dann trugen sie zum Überfluß noch den häßlichen Namen „Des Teufels Milchschläuche.
„Armes, verachtetes Gewächs“ sagte der Apfelzweig. „Du kannst nichts dafür, daß Du wurdest, was Du bist, daß Du so gewöhnlich bist und den häßlichen Namen bekamst, den Du trägst. Aber es ist mit den Gewächsen wie mit den Menschen: es müssen Unterschiede sein.
„Unterschiede?“ sagte der Sonnenstrahl und küßte den blühenden Apfelzweig, aber er küßte auch die gelben Milchschläuche des Teufels, die Butterblumen draußen auf dem Felde, und alle Brüder des Sonnenstrahls küßten die Blumen, die armen wie die reichen.
Der Apfelzweig hatte noch nie über Gottes unendliche Liebe gegen alles, was da lebt und webt, nachgedacht, wie viel Schönes und Gutes verborgen aber nicht vergessen liegt -aber das war ja nur menschlich!
Der Sonnenstrahl, der Strahl des Lichtes wußte es besser: „Du siehst nicht weit, Du siehst nicht klar! -Wo ist die verworfene Pflanze, die Du so besondere beklagst?“
„Die Milchschläuche des Teufels!“ sagte der Apfelzweig. „Niemals werden sie in einen Strauß gebunden. sie werden mit Füßen getreten, es gibt zu viele davon und wenn sie Samen tragen, fliegen sie wie kleine Wollföckchen über die Wege hin und hängen sich den Leuten an die Kleider. Unkraut ist es! Aber das muß ja auch sein. -Ich bin wirklich recht dankbar, daß ich nicht eine von diesen geworden bin!“
Über das Feld her kam eine ganze Schar Kinder. Das kleinste von ihnen war so winzig, daß es von den anderen getragen wurde, und als es ins Gras zwischen die gelben Blumen gesetzt wurde, jauchzte es vor Freuden laut auf, zappelte mit den kleinen Beinen, wälzte sich herum, pflückte nur die gelben Blumen und küßte sie in süßer Unschuld. Die etwas größeren Kinder brachen die Blüten von den hohlen Stengeln, bogen sie rund zu Ringen zusammen und reihten Glied an Glied, eine ganze Kette wurde daraus. Erst eine um den Hals, dann eine, die um Schultern und Leib gehängt wurde, und dann noch eine für Brust und Kopf. Es war wirklich eine Pracht mit des grünen Ketten und Bändern! Aber die größten Kinder nahmen vorsichtig die abgeblühten Stengel, die die flockenartig zusammengesetzte Samenkrone trugen. Diese lose, luftige Wollblume, die ein ganz zartes, kleines Kunstwerk wie aus den feinsten Federn, Flöckchen oder Daunen ist, hielten sie vor den Mund und versuchten, sie mit einem einzigen Hauch vollkommen abzublasen. Der, der es konnte, bekam neue Kleider, bevor noch das Jahr um war, hatte die Großmutter gesagt.
Die verachtete Blume wurde zu einem richtigen Propheten bei dieser Gelegenheit.
„Siehst Du“ sagte der Sonnenstrahl, „siehst Du ihre Schönheit, ihre Macht?“
„Ja, für Kinder“ sagte der Apfelzweig.
Dann kam eine alte Frau auf das Feld und stach mit ihrem stumpfen, grifflosen Messer rings um die Wurzel der Blumen und zog sie heraus. Einige der Wurzeln wollte sie ihrem Kaffee zusetzen, andere wollte sie dem Apotheker als Heilmittel bringen und Geld damit verdienen.
„Schönheit ist doch etwas Höheres“ sagte der Apfelzweig. „Nur die Auserwählten kommen in das Reich des Schönen! Es sind Unterschiede zwischen den Gewächsen, ebenso wie es Unterschiede zwischen den Menschen gibt.“
Und der Sonnenstrahl sprach von Gottes unendlicher Liebe zu allem Erschaffenen, zu allem, was Leben hat, und wie alles gleichmäßig in Zeit und Ewigkeit verteilt sei.
„Ja, das ist Ihre Meinung!“ sagte der Apfelzweig.
Da kamen Leute in das Zimmer und die junge Gräfin kam, sie, die den Apfelzweig in die schöne, durchsichtige Vase gestellt hatte, wo das Sonnenlicht auf ihn schien. Und sie brachte eine Blume oder was es sonst sein mochte, mit, die von drei, vier großen Blättern, die wie eine Tüte rund darum standen, beschützt wurde, damit kein Zug oder Windhauch sie verletzen konnte, und so vorsichtig wurde sie getragen, wie es nicht einmal mit dem feinen Apfelzweig geschehen war. Ganz sacht wurden nun die großen Blätter beiseite geschoben, und man sah die feine, flockige Samenkrone der gelben, verachteten Milchschläuche des Teufels. Sie war es, die so vorsichtig gepflückt und so sorgsam getragen worden war, damit nicht einer der feinen Federpfeile, die gleichsam ihre Nebelhülle bilden und so lose sitzen, abgeblasen würde.
Unversehrt und herrlich hatte sie die Blume nun hier und bewunderte ihre schönen Formen, ihre luftige Klarheit, ihre ganze eigenartige Zusammensetzung und ihre Schönheit, wenn die Krone vom Winde fortgetragen würde.
„Sieh nur, wie wunderbar schön der liebe Gott sie gemacht hat!“ sagte sie. „Ich will sie mit dem Apfelzweige zusammen malen, der ist so unendlich schön für die Augen aller Menschen, aber auch diese arme Blume hat vom lieben Gott ebensoviel, nur auf eine andere Art, mitbekommen! So verschieden sind sie, und doch beide Kinder im Reiche der Schönheit.“
Und der Sonnenstrahl küßte die arme Blume und küßte den blühenden Apfelzweig, dessen Blüten dabei zu erröten schienen.

Hans Christian Andersen – Etwas

Hans Christian Andersen

Etwas

„Ich will etwas sein“, sagte der älteste von fünf Brüdern, „ich will etwas nützen in de Welt; mag es eine noch so geringe Stellung sein, wenn nur das, was ich ausrichte, etwas Gutes ist, dann ist es in der Tat etwas. Ich will Ziegelsteine machen, die sind nicht zu entbehren, und ich habe wirklich etwas gemacht!“
„Aber etwas gar zuwenig!“ sprach der zweite Bruder. „Das, was du tun willst, ist so gut wie gar nichts, das ist Handlangerarbeit und kann durch eine Maschine ausgeführt werden. Nein, dann lieber Maurer sein, das ist doch etwas, das will ich sein. Das ist ein Stand! Durch den wird man in die Zunft aufgenommen, wird Bürger, bekommt seine eigene Fahne, seine Herberge; ja, wenn alles gut geht, kann ich Gesellen halten, werde ich Meister, und meine Frau wird Frau Meisterin heißen; das ist doch etwas!“
„Das ist gar nichts“, sagte der dritte, „das ist doch außerhalb der eigentlichen Stände, und es gibt viele in einer Stadt, die weit über einen Handwerksmeister stehen. Du kannst ein braver Mann sein, allein du gehörst als „Meister“ doch nur zu denen, die man den „gemeinen“ Mann nennt, nein, da weiß ich etwas Besseres! Ich will Baumeister erden, will mich auf das Gebiet der Kunst, auf das des Denkens begeben, will zu den Höherstehenden im Reiche des Geistes zählen. Zwar muß ich von der Pike auf dienen, je, daß ich es geradeheraus sage: ich muß als Zimmerlehrling anfangen, muß als Bursche mit der Mütze einhergehen, obgleich ich daran gewöhnt bin, einen seidenen Hut zu tragen, muß den gewöhnlichen Gesellen Schnaps und Bier holen, und diese werden mich „du“ nennen, das ist beleidigend! Aber ich werde mir einbilden, daß das Ganze ein Mummenschanz, daß es Narrenfreiheit ist! Morgen -das heißt, wenn ich Geselle bin, gehe ich meinen eigenen Weg, die andern gehen mich nichts an! Ich gehe auf die Akademie, bekomme Zeichenunterricht und heiße Architekt! Das ist etwas, das ist viel! Ich kann Wohl-, ja Hochwohlgeboren werden, ja, gar noch etwas mehr bekommen vorn und hinten, und ich baue und baue, ganz wie die andern vor mir gebaut. Das ist immer etwas, worauf man eben bauen kann! Das Ganze ist etwas!“
„Ich aber mache mir aus diesem Etwas gar nichts“, sprach der vierte, „ich will nicht im Kielwasser anderer segeln, nicht eine Kopie werden; ich will ein Genie werden, will tüchtiger dastehen als ihr alle miteinander! Ich werde der Schöpfer eines neuen Stils, ich gebe die Idee zu einem Gebäude, passend für das Klima und das Material des Landes, für die Nationalität des Volkes, für die Entwicklung des Zeitalters, und gebe außerdem noch ein Stockwerk zu für mein eigenes Genie!“
„Wenn nun aber das Klima und das Material nichts taugen“, sagte der fünfte, „das wäre unangenehmem, denn die üben ihren Einfluß aus! Die Nationalität kann auch dermaßen übertrieben werden, daß sie affektiert wird, die Entwicklung des Zeitalters kann mit dir durchgehen. Ich sehe es schon kommen, daß keiner von euch eigentlich etwas werden wird, wie sehr ihr es auch selber glaubt! Aber tut, was ihr wollt, ich werde euch nicht ähnlich sein, ich stelle mich außerhalb der Dinge, ich will über das räsonieren, was ihr ausrichtet! An jeder Sache klebt etwas, das nicht richtig ist, etwas Verkehrtes, das werde ich heraustüfteln und besprechen, das ist etwas!“
Und das tat er dann auch, und die Leute sagten von dem fünften: „An dem ist bestimmt etwas! Er ist ein kluger Kopf! Aber er tut nichts!“ Doch gerade dadurch war er etwas!
Seht, das ist nur eine kleine Geschichte, und doch hat sie kein Ende, solange die Welt steht!
Aber wurde denn weiter nichts aus den fünf Brüdern? Das war ja nichts und nicht etwas!
Hören wir weiter, es ist ein ganzes Märchen.
Der älteste Bruder, der Ziegelsteine fabrizierte, wurde bald inne, daß von jedem Ziegel, wenn er fertig war, eine kleine Münze, wenn auch nur von Kupfer, abfiel; doch viele Kupferpfennige, aufeinandergelegt, machen einen blanken Taler, und wo man mit so einem anklopft, sei es beim Bäcker, beim Schlachter, Schneider, ja bei allen, dort fliegt die Tür auf, und man bekommt, was man braucht; seht, das werfen die Ziegel ab; einige zerbröckelten zwar oder sprangen entzwei, aber selbst die konnte man brauchen.
Auf dem hohen Erdwall, dem schützenden Deich an der Meeresküste, wollte Margarethe, die arme Frau, sich ein Häuschen bauen; sie bekam all die zerbröckelten Ziegel und dazu noch einige ganz denn ein gutes Herz hatte der älteste Bruder, wenn er es auch in der Tat nicht weiterbrachte, als Ziegelsteine anzufertigen. Die arme Frau baute selbst ihr Häuschen; es war schmal und eng, das eine Fenster saß ganz schief, die Tür war zu niedrig, und das Strohdach hätte besser gelegt werden können, aber Schutz bot es immerhin, und weit über das Meer, das sich mit Gewalt am Wall brach, konnte man von dem Häuschen hinausschauen; die salzigen Wogen spritzten ihren Schaum über das ganze Haus, das noch dastand, als der, der die Mauersteine dazu fabriziert hatte, schon tot und begraben war.
Der zweite Bruder, ja der verstand nun das Mauern besser, war er doch auch dazu angelernt. Als er die Gesellenprüfung bestanden hatte, schnürte er seinen Ranzen und stimmte das Lied des Handwerkers an:
Weil ich jung bin, will ich wandern, draußen will ich Häuser baun, ziehen von einem Ort zum andern; Jugendsinn gibt mir Vertrauen. Und kehr ich heim ins Vaterland, wo mein die Liebst harrt! Hurra, der brave Handwerksstand! Wie bald ich Meister ward!
Und das war er dann auch. Als er zurückgekehrt und Meister geworden war, baute er in der Stadt ein Haus neben dem andern, eine ganze Straße, und als die Straße vollendet war, sich gut ausnahm und der Stadt zur Zierde gereichte, bauten die Häuschen ihm wieder ein Haus, das sein Eigentum sein sollte. Doch wie können die Häuser wohl bauen? Frage sie, und sie werden dir die Antwort schuldig bleiben; aber die Leute antworten und sagen: „Allerdings hat ihm die Straße sein Haus gebaut!“ Klein war es und der Fußboden war mit Lehm belegt, aber als er mit seiner Braut über den Lehmboden dahintanzte, da wurde dieser blank wie poliert, und aus jedem Stein in der Wand sprang eine Blume hervor und schmückte das Zimmer wie die kostbarste Tapete. Es war ein hübsches Haus und ein glückliches Ehepaar. Die Fahne der Innung flatterte vor dem Hause, Gesellen und Lehrburschen schrieen: „Hurra!“ Ja, war der etwas! Und dann starb er, das war auch etwas!
Nun kam der Architekt, der dritte Bruder, der erst Zimmermannslehrling gewesen und mit der Mütze gegangen war und den Laufburschen gemacht hatte, aber von der Akademie bis zum Baumeister aufgestiegen war, „Hoch-und Wohlgeborner Herr!“ Ja, hatten die Häuser der Straße den Bruder, der Maurermeister gewesen war, ein Haus gebaut, so erhielt nun die Straße seinen, des Architekten Namen, und das schönste Haus der Straße wurde sein Eigentum; das war etwas, und er war etwas -und das mit einem langen Titel vorn und hinten. Seine Kinder hieß man „vornehme“ Kinder, und als er starb, war seine Witwe eine „Witwe von Stand“ -das ist etwas! Und sein Name blieb für immer an der Straßenecke geschrieben und lebte in aller Munde als Straßenname -ja, das ist etwas!
Darauf kam das Genie, der vierte Bruder, der etwas Neues, etwas Apartes und noch ein Stockwerk darüber erfinden wollte, aber das fiel herunter, und er selbst fiel auch herunter und brach sich das Genick -allein er bekam ein schönes Begräbnis mit Zunftfahnen und Musik, Blumen in der Zeitung und auf der Straße über das Pflaster hin, und man hielt ihm drei Leichenreden, eine länger als die andere, und das hätte ihn sehr erfreut, denn er hatte es sehr gern, wenn von ihm geredet wurde; auch ein Monument wurde ihm auf seinem Grab errichtet, zwar nur ein Stockwerk hoch, aber das ist immerhin etwas!
Er war nun gestorben wie die drei anderen Brüder; der letzte aber, der, welcher räsonierte, überlebte sie alle, und das war ja eben richtig so, wie es sein sollte, denn dadurch hatte er ja das letzte Wort, und ihm war es von großer Wichtigkeit, das letzte Wort zu haben. War er doch ein kluger Kopf, wie die Leute sagten. Endlich schlug aber auch seine Stunde, er starb und kam an die Pforten des Himmels. Dort treten stets je zwei heran; er stand da mit einer anderen Seele, die auch gern hineinwollte, und das war gerade die alte Frau Margarethe aus dem Haus auf dem Deich.
„Das geschieht wohl des Kontrastes halber, daß ich und diese elende Seele hier zu gleicher Zeit antreten müssen!“ sprach der Räsoneur. „Nur, wer ist Sie, Frauchen? Will Sie auch hier hinein?“ fragte er.
Und die alte Frau verneigte sich, so gut sie es vermochte, sie glaubte, es sei Sankt Petrus selber, der zu ihr sprach. „Ich bin eine alte, arme Frau ohne alle Familie, bin die alte Margarethe aus dem Haus auf dem Deich.“
„Nun, was hat Sie getan, was hat Sie ausgerichtet dort unten?“
„Ich habe wahrscheinlich gar nichts in dieser Welt ausgerichtet! Nichts, wodurch mir könnte aufgeschlossen werden! Es ist wahre Gnade, wenn man erlaubt, daß ich durchs Tor hineinschlüpfe!“
„Auf welche Weise hat Sie diese Welt verlassen?“ fragte er weiter, um doch von etwas zu reden, da es ihm Langeweile machte, dort zu stehen und zu warten.
„Ja, wie ich sie verlassen habe, das weiß ich nicht! Krank und elend war ich ja während der letzten Jahre, und ich habe es wohl nicht verragen können, aus dem Bett zu kriechen und in Frost und Kälte so plötzlich hinauszukommen. Es war ein harter Winter, doch jetzt habe ich ihn ja überstanden. Es war einige Tage ganz stilles Wetter, aber sehr kalt, wie Euer Ehrwürden ja selbst wissen, die Eisdecke ging so weit ins Meer hinaus, als man nur schauen konnte; alle Leute aus der Stadt spazierten aufs Eis hinaus, dort war, wie sie sagten, Schlittschuhlaufen und Tanz, glaube ich, große Musik und Bewirtung war auch da; die Musik schallte in mein ärmliches Stübchen hinein, wo ich lag. Und dann war es so gegen Abend, der Mond war schön aufgegangen, aber noch nicht in seinem vollen Glanze, ich blickte von meinem Bett über das ganze weite Meer hinaus, und dort draußen, grade am Rande zwischen Himmel und Meer, tauchte eine wunderliche Wolke empor; ich lag da und sah die Wolke an, ich sah auch das schwarze Pünktchen inmitten der Wolke, das immer größer und größer wurde, und da wußte ich, was das zu bedeuten hatte; ich bin alt und erfahren, obwohl man das Zeichen nicht oft sieht. Ich kannte es, und ein Grausen überkam mich. Habe ich doch zweimal früher bei Lebzeiten das Ding kommen sehen, und wußte ich doch, daß es einen entsetzlichen Sturm mit Springflut geben würde, die über die armen Menschen draußen käme, die jetzt tranken, umhersprangen und jubilierten; jung und alt, die ganze Stadt war ja draußen; wer sollte sie warnen, wenn niemand dort das sah und zu deuten wußte, was ich wohl kannte. Mir wurde ganz angst, ich wurde so lebendig wie seit langer Zeit nicht mehr. Aus dem Bett heraus kam ich zum Fenster hin, weiter konnte ich mich vor Mattigkeit nicht schleppen. Es gelang mir aber doch, das Fenster zu öffnen; ich sah die Menschen draußen auf dem Eis laufen und springen, ich sah auch die schönen Flaggen, die im Winde wehten, ich hörte die Knaben Hurra schreien, Knechte und Mägde sangen, es ging fröhlich her, aber -die weiße Wolke mit dem schwarzen Punkt! Ich rief, so laut ich konnte, aber niemand hörte mich; ich war zu weit weg von den Leuten entfernt. Bald mußte das Unwetter losbrechen, das Eis platzen und alles, was draußen war, ohne Rettung verloren sein. Mich hören konnten sie nicht, zu ihnen hinauskommen konnte ich nicht; oh, könnte ich sie doch an Land führen! Da gab der gute Gott mir den Gedanken, mein Bett anzuzünden, lieber das Haus niederzubrennen, als daß die Vielen so jämmerlich umkommen sollten. Es gelang mir, ein Licht anzuzünden; die rote Flamme loderte hoch empor -ja, ich entkam glücklich durch die Tür, aber davor blieb ich liegen, ich konnte nicht weiter; die Flamme leckte nach mir heraus, flackerte aus den Fenstern, loderte hoch aus dem Dach empor; die Menschen alle draußen auf dem Eis wurden sie gewahr, und alle liefen sie, was sie konnten, um einer Armen zu Hilfe zu eilen, die sie lebendig verbrennen wähnten; nicht einer war da, der nicht lief; ich hörte sie kommen, aber ich vernahm auch, wie es mit einemmal in der Luft brauste, ich hörte es dröhnen wie schwere Kanonenschüsse; die Springflut hob die Eisdecke, die in tausend Stücke zerschellte; aber die Leute erreichten den Damm, wo die Funken über mir dahinflogen; ich rettete sie alle! Doch ich habe wohl die Kälte nicht vertragen können und auch nicht den Schrecken, und so bin ich nun hier herauf an das Tor des Himmels gekommen; man sagt ja, es wird auch so einem armen Menschen, wie ich es bin, aufgetan, und jetzt habe ich ja kein Haus mehr auf dem Deich, doch das gibt mir wohl noch keinen Eintritt hier!“ Da öffnete sich des Himmels Pforte, und der Engel führte die alte Frau hinein; sie verlor einen Strohalm draußen, einen der Strohhalme, die in ihrem Lager gewesen waren, als sie es anzündete, um die vielen zu retten, und das hatte sich in das reinste Gold verwandelt, und zwar in Gold, das wuchs und sich in den schönsten Blumen und Blättern emporrankte.
„Sieh, das brachte die arme Frau!“ sagte der Engel. „Was bringst du? Ja, ich weiß es wohl, daß du nichts ausgerichtet hast, nicht einmal einen Ziegelstein hast du gemacht; wenn du nur wieder zurückgehen und es wenigstens so weit bringen könntest; wahrscheinlich würde der Stein, wenn du ihn gemacht hättest, nicht viel wert sein, doch mit gutem Willen gemacht, wäre es doch immerhin etwas; aber du kannst nicht zurück, und ich kann nichts für dich tun!“
Da legte die arme Seele, das Mütterchen aus dem Haus auf dem Deich, ein gutes Wort für ihn ein: „Sein Bruder hat mir die Ziegelsteine und Brocken geschenkt, aus denen ich mein armseliges Haus zusammengebaut habe, und das war sehr viel für mich Arme! Könnten nun nicht all die Brocken und ganzen Ziegelsteine als ein Ziegelstein für ihn gelten? Es ist ein Akt der Gnade gewesen. Er ist ihrer jetzt bedürftig, und hier ist ja der Urquell der Gnade!“
„Dein Bruder, der, den du den Geringsten nanntest“, sagte der Engel, „der, dessen ehrliches Tun dir am niedrigsten erschien, schenkt dir seine Himmelsgabe. Du sollst nicht abgewiesen werden, es soll dir erlaubt sein, hier draußen zu stehen und nachzusinnen und deinem Leben dort unten aufzuhelfen, aber hinein gelangst du nicht, bevor du nicht in guter Tat ­etwas ausgerichtet hast!“
„Das hätte ich besser sagen können“, dachte der Räsoneur, aber er sprach es nicht laut aus, und das war wohl schon „Etwas“.

Hans Christian Andersen – Feder und Tintenfaß

Hans Christian Andersen

Feder und Tintenfaß

In der Stube eines Dichters, wo sein Tintenfaß auf dem Tisch stand, wurde gesagt: „Es ist merkwürdig, was doch alles aus dem Tintenfaß herauskommen kann! Was wohl nun das Nächste sein wird? Ja, es ist merkwürdig!“
„Ja, freilich!“ sagte das Tintenfaß. „Es ist merkwürdig, was alles aus mir herauskommen kann! Ja, es ist schier unglaublich! Und ich weiß wirklich selber nicht, was das Nächste sein wird, wenn der Mensch erst beginnt, aus mir zu schöpfen. Ein Tropfen aus mir genügt für eine halbe Seite Papier, und was kann nicht alles auf der stehen! Ich bin etwas ganz Merkwürdiges! Von mir gehen alle Werke des Dichters aus, all diese lebendigen Menschen, die die Leute zu kennen wähnen, diese innigen Gefühle, dieser Humor, diese anmutigen Naturschilderungen; ich selber begreife es nicht, denn ich kenne die Natur nicht, aber es steckt nun einmal in mir! Von mir sind sie ausgegangen und gehen sie aus, die Heerscharen schwebender, anmutiger Mädchen, tapferer Ritter auf schnaubenden Rossen, Blinder und Lahmer; ja ich weiß selber nicht, was alles; ich versichere Ihnen, ich denke nichts dabei!“
„Da haben Sie recht“, sagte die Feder, „denken tun Sie gar nichts, denn wenn Sie es täten, würden Sie auch begreifen, daß Sie nur die Flüssigkeit hergeben. Sie geben das Flüssige, damit ich auf dem Papier das, was mir innewohnt, das, was ich schreibe, zur Anschauung bringen kann. Die Feder ist es, die schreibt! Daran zweifelt kein Mensch, und die meisten Menschen haben nur ebensoviel Ahnung von der Poesie wie ein altes Tintenfaß.“
„Sie haben nur wenig Erfahrung“, antwortete das Tintenfaß; Sie sind ja kaum eine Woche im Dienst -und schon halb abgenutzt. Bilden Sie sich ein, Sie wären der Dichter? Sie sind nur ein Dienstbote, und ehe Sie kamen, habe ich viele von der Art gehabt, sowohl aus der Gänsefamilie wie aus englischem Fabrikat, ich kenne so gut den Federkiel wie die Stahlfeder. Viele habe ich im Dienst gehabt, und ich werde noch viele bekommen, wenn erst der Mensch kommt, der für mich die Bewegung macht und niederschreibt, was er aus meinem Innern herausbekommt. Ich möchte wohl wissen, was er jetzt zuerst aus mir herausheben wird!“ „Tintentopf!“ sagte die Feder. Spät am Abend kam der Dichter nach Hause, er war in einem Konzert gewesen, hatte einen ausgezeichneten Violinspieler gehört und war ganz erfüllt und entzückt von dessen herrlichem Spiel. Einen erstaunlichen Schwall von Tönen hatte der Spieler dem Instrument entlockt: bald hatte es wie klingende Wassertropfen, wie rollende Perlen getönt, bald wie zwitschernde Vögel im Chor, dann wieder war es dahingebraust wie der Wind durch Tannenwälder; er meinte sein eigenes Herz weinen zu hören, aber in Melodien, wie sie in der Stimme einer Frau ertönen können, als hätten nicht allein die Saiten der Violine, sondern auch der Steg, ja selbst die Schrauben und der Resonanzboden geklungen! Es war außerordentlich gewesen! Und schwer war es auch gewesen, hatte aber ausgesehen wie eine Spielerei, als fahre der Bogen nur so über die Saiten hin und her, man hätte glauben können, jeder könne das nachmachen. Die Violine klang von selbst, der Bogen spielte von selbst, die beiden waren es, die das Ganze taten, man vergaß den Meister, der sie führte, ihnen Leben und Seele einhauchte; den Meister vergaß man; aber seiner erinnerte sich der Dichter, er nannte ihn und schrieb seine Gedanken dabei nieder:
„Wie töricht, wollten die Violine und der Bogen sich eitel über ihr Tun gebärden! Und wir Menschen tun es doch so oft, der Dichter, der Künstler, der Erfinder auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Feldherr, wir tun es alle, wir alle sind doch nur die Instrumente, auf denen Gott, der Herr, spielt. Ihm allein die Ehre! Wir haben nichts, worauf wir stolz sein könnten!“ Ja, das schrieb der Dichter nieder, schrieb es wie eine Parabel und nannte dieselbe: „Der Meister und die Instrumente.“
„Da kriegen Sie was ab, Madame“, sprach die Feder zum Tintenfaß, als die beiden wieder allein waren. „Sie hörten ihn doch laut vorlesen, was ich niedergeschrieben hatte?“
„Ja, das, was ich Ihnen zu schreiben gab!“ sagte das Tintenfaß. „Das warja ein Hieb für Sie, Ihres Übermuts wegen. Daß Sie nicht einmal begreifen können, daß man Sie zum besten hat! Ich versetzte Ihnen einen Hieb direkt aus meinem Innersten heraus, ich muß doch meine eigene Bosheit kennen.“
„Tintenscherbe!“ sagte die Feder. „Schreibstecken!“ sagte das Tintenfaß.
Und beide hatten das Bewußtsein, gut geantwortet zu haben, und das ist ein angenehmes Bewußtsein, zu wissen, daß man gut geantwortet hat, darauf kann man schlafen, und sie schliefen darauf. Allein der Dichter schlief nicht. Gedanken sprudelten aus ihm hervor gleich den Tönen aus der Violine, rollend wie Perlen, brausend wie der Sturmwind durch die Wälder, er empfand sein eigenes Herz in diesen Gedanken, verspürte einen Blitzstrahl vom ewigen Meister. Ihm allein die Ehre!

Hans Christian Andersen – Fliedermütterchen

Hans Christian Andersen

Fliedermütterchen

Es war ein kleiner Knabe, der war erkältet. Er war ausgegangen und hatte nasse Füße bekommen. Niemand konnte begreifen wie, denn es war ganz trockenes Wetter. Nun entkleidete ihn seine Mutter, brachte ihn zu Bett und ließ die Teemaschine hereinbringen, um ihm eine gute Tasse Fliedertee zu bereiten, denn der erwärmt! Zur gleichen Zeit kam auch der alte freundliche Mann zur Türe herein, der ganz oben im Hause wohnte und ganz alleine lebte, denn er hatte weder Frau noch Kinder, hielt aber viel auf alle Kinder und wußte so viele Märchen und Geschichten zu erzählen, daß es eine Lust war.
„Nun trinkst du deinen Tee!“ sagte die Mutter, „vielleicht bekommst du dann auch ein Märchen zu hören.“
„Ja, wenn man nur eines wüßte!“ sagte der alte Mann und nickte freundlich. „Wo hat aber der Kleine die nassen Füße bekommen?“ fragte er.
„Ja, wie das geschehen ist“, sagte die Mutter, „das kann niemand begreifen.“ „Bekomme ich ein Märchen zu hören?“ fragte der Knabe.
„Ja, kannst du mir einigermaßen genau sagen -denn das muß ich zuerst wissen -wie tief der Rinnstein in der kleinen Gasse ist, wo du in die Schule gehst?“
„Gerade bis mitten auf die Stiefelschäfte“, sagte der Knabe; „aber dann muß ich in das tiefe Loch gehen!“
„Sieh, davon haben wir die nassen Füße“, sagte der Alte. „Nun sollte ich eigentlich ein Märchen erzählen, aber ich weiß keins mehr!“
„Sie können gleich eins machen“, sagte der kleine Knabe. „Mutter sagt, daß alles, was Sie betrachten, zu einem Märchen werden kann, und aus allem, was Sie berühren, können Sie eine Geschichte machen!“
„Ja, aber die Märchen und Geschichten taugen nichts! Nein, die ordentlichen, die kommen von selbst, die klopfen mir an die Stirn und sagen: Hier bin ich!“ „Klopft es nicht bald?“ fragte der kleine Knabe; und die Mutter lachte, tat Fliedertee in die Kanne und goß kochendes Wasser darüber.
„Erzähle! Erzähle!“ „Ja,wenn ein Märchen von selbst kommen möchte; aber so eins ist vornehm; es kommt nur, wenn es Lust hat.“ -„Warte!“ sagte er auf einmal. „Da haben wir es! Gib acht, nun ist eins in der Teekanne!“
Und der kleine Knabe sah zur Teekanne hin, der Deckel hob sich mehr und mehr und die Fliederblüten kamen frisch und weiß daraus hervor. Sie schossen zu großen, langen Zweigen empor; selbst aus der Schnauze verbreiteten sie sich nach allen Seiten und wurden größer und größer. Es war der herrlichste Fliederbusch, ein großer Baum. Er ragte in das Bett hinein und schob die Vorhänge zur Seite; nein, wie das blühte und duftete! Und mitten im Baum saß eine alte, freundliche Frau mit einem sonderbaren Kleid; es war ganz grün, so wie die Blätter des Fliederbaumes, und mit großen weißen Fliederblüten besetzt. Man konnte nicht gleich erkennen, ob es Stoff oder lebendiges Grün und Blumen waren.
„Wie heißt die Frau?“ fragte der kleine Knabe.
„Ja, die Römer und die Griechen“, sagte der alte Mann, „die nannten sie eine Dryade, aber das verstehen wir nicht. Draußen in der Vorstadt der Matrosen haben wir einen besseren Namen für sie; dort wird sie Fliedermütterchen genannt, und sie ist es, auf die du acht geben mußt. Horch nur und betrachte den herrlichen Fliederbaum.
Gerade ein solcher großer, blühender Baum steht da draußen. Er wuchs dort in einem Winkel eines kleinen ärmlichen Hofes. Unter diesem Baum saßen eines Nachmittags im schönsten Sonnenschein zwei alte Leute. Es waren ein alter, alter Seemann und seine alte, alte Frau. Sie waren Urgroßeltern und glaubten bald ihre goldene Hochzeit zu feiern, aber sie konnten sich des Datums nicht recht entsinnen; und die Fliedermutter saß im Baum und sah so vergnügt aus, gerade wie hier. „Ich weiß wohl, wann die goldene Hochzeit ist!“ sagte sie; aber sie hörten es nicht, sie sprachen von alten Zeiten.
„Ja, entsinnst du dich“, sagte der alte Seemann; „damals, als wir noch ganz klein waren und herumliefen und spielten. Es war gerade in demselben Hof, in dem wir nun sitzen. Wir pflanzten kleine Zweige in den Hof und machten einen Garten.“
„Ja“, sagte die alte Frau, „daran erinnere ich mich recht gut. Wir begossen die Zweige, und einer davon war ein Fliederzweig, der schlug Wurzeln, schoß grüne Zweige und ist ein großer Baum geworden, unter dem wir alten Leute jetzt sitzen.“ „Ja, sicher!“ sagte er; „und dort in der Ecke stand ein Wasserkübel, darin schwamm mein Fahrzeug; ich hatte es selbst ausgehöhlt. Wíe das segeln konnte; aber ich kam freilich bald anderswohin zum Segeln.“
„Ja, aber zuerst gingen wir in die Schule und lernten etwas“, sagte sie; und dann wurden wir eingesegnet. Wir weinten beide; aber des Nachmittags gingen wir Hand in Hand auf den runden Turm und sahen in die Welt hinaus über Kopenhagen und das Wasser. Dann gingen wir nach Frederiksborg, wo der König und dir Königin in ihrem prächtigen Boot auf den Kanälen herumfuhren.“
„Ich aber mußte anderswo umherfahren, und das viele Jahre, weit weg, auf den langen Reisen!“
„Ja, ich weinte oft deinetwegen“, sagte sie; „ich glaubte, du seiest tot und fort und lägest dort unten im tiefen Wasser, von den Wellen geschaukelt. Manche Nacht stand ich auf und sah, ob die Wetterfahne sich drehte. Ja, sie drehte sich wohl, aber du kamst nicht! Ich erinnere mich ganz deutlich, wie es eines Tages vom Himmel strömte; der Karrenschieber, der den Kehricht holte, kam dorthin, wo ich diente. Ich ging mit dem Kehrichtfaß hinunter und blieb in der Türe stehen; was war das für ein abscheuliches Wetter! Und gerade als ich dastand, kam der Briefträger und gab mir einen Brief -der war von dir! Ja, wie der herumgereist war! Ich riß ihn auf und las; ich lachte und weinte, ich war so froh! Darin stand, daß du in den warmen Ländern wärst, wo die Kaffeebohnen wachsen. Was muß das für ein herrliches Land sein! Du erzähltest so viel,, und ich las das alles, während der Regen niederströmte und ich mit dem Kehrichtfaß dastand. Da kam einer und faßte mich um den Leib –“
„Ja, aber du gabst ihm einen tüchtigen Schlag auf die Backe, daß es klatschte.“ „Ich wußte ja nicht, daß du es warst; du warst ebenso geschwind wie dein Brief gekommen, und du warst so schön. Das bist du ja noch. Du hattest ein langes, gelbes, seidenes Tuch in der Tasche und einen glänzenden Hut auf. Du warst so fein! Gott, was das doch führ ein Wetter war, und wie die Straße aussah!“
„Dann heirateten wir,“ sagte er, „entsinnst du dich? Und dann, als wir den ersten kleinen Knaben und dann Marie und Niels und Peter und Hans Christian bekamen?“
„Ja, und wie alle herangewachsen und ordentliche Menschen geworden sind, die ein jeder leiden mag!“
„Und ihre Kinder haben wieder Kinder bekommen“, sagte der alte Matrose. „Ja, das sind Kindeskinder! Da ist ein guter Kern darin. Es war, wenn ich nicht irre, in dieser Zeit des Jahres, als wir Hochzeitstag hielten.“
„Ja, eben heute ist der goldene Hochzeitstag“, sagte die Fliedermutter und streckte den Kopf gerade zwischen die beiden Alten hinunter; und die glaubten es sei die Nachbarin, die da nickte. Sie sahen einander an und faßten sich bei den Händen. Bald darauf kamen die Kinder und Kindeskinder, die wußten wohl, daß heut der goldene Hochzeitstag war. Sie hatten schon am Morgen gratuliert, aber die Alten hatten es wieder vergessen, während sie sich so gut an all das erinnerten, war vor vielen Jahren schon geschehen war. Und der Fliederbaum duftete so stark, und die Sonne, die im Untergehen begriffen war, schien den Alten gerade ins Gesicht. Sie sahen beide so rotwangig aus. Und das kleinste der Kindeskinder tanzte um sie herum und rief ganz glücklich, daß es diesen Abend prächtig zugehen werde, denn sie sollten warme Kartoffeln bekommen. Und die Fliedermutter nickte im Baum und rief mit allen anderen: „Hurra!“
„Aber das war ja kein Märchen!“ sagte der kleine Knabe, der es erzählen hörte.
„Ja, das mußt du verstehen!“ sagte der Alte, der erzählte. „Aber laß uns Fliedermütterchen danach fragen!“
„Das war kein Märchen“, sagte die Fliedermutter; „aber nun kommt es! Aus der Wirklichkeit wächst gerade das sonderbarste Märchen heraus; sonst könnte ja mein schöner Fliederbusch nicht der Teekanne entsprossen sein“. Und dann nahm sie den kleinen Knaben aus dem Bett und legte ihn an ihre Brust; und die Fliederzweige voller Blüten schlugen um sie zusammen. Sie saßen wie in der dichtesten Laube, und diese flog mit ihnen durch die Luft. Es war unaussprechlich schön. Fliedermütterchen war auf einmal ein junges, niedliches Mädchen geworden, aber das Kleid war noch von demselben grünen, weißgeblümten Stoff, wie es Fliedermütterchen getragen hatte. Am Busen hatte sie eine wirkliche Fliederblüte und ihr helles, gelocktes Haar einen Kranz von Fliederblumen. Ihre Augen waren so groß, so blau; oh, sie war herrlich anzuschauen! Sie und der Knabe küßten sich, und dann waren sie im gleichen Alter und fühlten gleiche Freuden.
Sie gingen Hand in Hand aus der Laube und standen nun in der Heimat schönem Blumengarten. Bei dem frischen Grasplatz war des Vaters Stock an einem Pflock angebunden. Für die Kleinen war Leben in dem Stock; sobald sie sich quer über ihn setzten, verwandelte sich der blanke Knopf in einen prächtig wiehernden Kopf, die lange schwarze Mähne flatterte, und vier schlanke starke Beine schossen hervor. Das Tier war stark und mutig, und im Galopp fuhren sie um den Grasplatz herum: hussa! -. „Nun reiten wir viele Meilen weit fort!“ sagte der Knabe; „wir reiten zu dem Rittergut, wo wir im vorigen Jahr waren!“ Und sie ritten um den Rasenplatz herum, und immer rief das kleine Mädchen, das, wie wir wissen, keine andere als die Fliedermutter war: „Nun sind wir auf dem Land! Siehst du das Bauernhaus mit dem großen Backofen, der wie ein riesengroßes Ei aus der Mauer nach dem Wege heraussteht? Der Fliederbaum breitete seine Zweige über sie hin, und der Hahn geht und kratzt für die Hühner: sieh wie er sich brüstet! -Nun sind wir bei der Kirche; die liegt hoch auf dem Hügel unter den großen Eichenbäumen, wovon der eine bald abgestorben ist! Nun sind wir bei der Schmiede, wo das Feuer brennt und die halbnackten Männer mit den Hämmern schlagen, daß die Funken weit umher sprühen. Fort, fort zu dem prächtigen Rittergut!“ Und alles, was das kleine Mädchen, das hinten auf dem Stock saß, sagte, das flog auch vorbei. Der Knabe sah es, doch kamen sie nur um den Grasplatz herum.
Dann spielten sie im Seitengang und ritzten in die Erde einen kleinen Garten; und sie nahm Fliederblüten aus ihrem Haar und pflanzte sie. Und die wuchsen, gerade wie bei den Alten damals, als diese noch klein waren, wie früher erzählt worden ist. Sie gingen Hand in Hand gerade wie die alten Leute es als Kinder gemacht hatten, aber nicht auf den runden Turm hinaus oder nach dem Garten von Frederiksborg -nein, das kleine Mädchen faßte den Knaben um den Leib, und dann flogen wie weit umher im ganzen Land. Und es war Frühjahr, und es wurde Sommer, und es war Herbst, und es wurde Winter. Tausende von Bildern spiegelten sich in des Knaben Augen und Herz, und immer sang das kleine Mädchen im vor: „Das wirst du nie vergessen!“ Und auf dem ganzen Fluge duftete der Fliederbaum so süß und herrlich. Er bemerkte wohl die Rosen und die frischen Buchen, aber der Fliederbaum duftete noch stärker, denn seine Blüten hingen an des kleinen Mädchens Herzen, und daran lehnte er oft im Fluge den Kopf.
„Hier ist es schön im Frühling!“ sage das junge Mädchen; und sie stand in dem frisch ausgeschlagenen Buchenwald, wo der Waldmeister zu ihren Füßen duftete. In dem Grünen sahen die blaßroten Anemonen so lieblich aus. „O wäre es immer Frühling in dem duftenden dänischen Buchenwald!“
„Hier ist es herrlich im Sommer!“ sage sie; und sie fuhren an alten Schlössern aus der Ritterzeit vorbei, die sich mit ihren hohen Mauern und Giebeln in den Kanälen spiegelten, in denen die Schwäne schwammen und in die alten kühlen Alleen hineinsahen. Auf dem Felde wogte das Korn, gleich einem See; in den Gräben standen rote und gelbe Blumen und auf den Gehwegen wilder Hopfen und blühende Winden. Abends stieg der Mond rund und groß empor, und die Heuhaufen auf den Wiesen dufteten so süß. „Das vergißt sich nie!“
„Hier ist es schön im Winter!“ sagte das kleine Mädchen, und alle Bäume waren mit Reif bedeckt, so daß sie wie weiße Korallen aussahen. Der Schnee knirschte unter den Füßen, als hätte man neue Stiefel an; und vom Himmel fiel eine Sternschnuppe nach der anderen. Im Zimmer wurde der Weihnachtsbaum angezündet, da gab es Geschenke und Fröhlichkeit. Auf dem Lande ertönte in der Bauernstube die Violine; es wurde um Apfelschnitze gespielt. Selbst das ärmste Kind sagte: „Es ist doch schön im Winter.“
Ja, es war schön! Und das kleine Mädchen zeigte dem Knaben alles; und immer wehte die rote Flagge mit dem weißen Kreuz, die Flagge, unter welcher der alte Seemann gesegelt war. Der Knabe wurde zum Jüngling, und er sollte in die weite Welt hinaus, weit fort in die warmen Länder, wo der Kaffee wächst. Aber beim Abschied nahm das kleine Mädchen eine Fliederblüte von ihrer Brust und gab sie ihm zum Aufbewahren. Sie wurde in das Gesangbuch gelegt, und im fremden Land, wenn er das Buch öffnete, war es immer gerade an der Stelle, wo die Erinnerungsblume lag; und je mehr er dieselbe betrachtete, desto frischer wurde sie, so daß er gleichsam einen Duft von den heimischen Wäldern einatmete; und deutlich erblickte er das kleine Mädchen, wie es mit seinen klaren Augen zwischen den Blumenblättern hervorsah; und es flüsterte dann: „Hier ist es schön im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter!“ Und Hunderte von Bildern glitten durch seine Gedanken.
So verstrichen viele Jahre, und er war nun ein alter Mann und saß mit seiner alten Frau unter einem blühenden Fliederbaum; sie hielten sich einander bei den Händen, ebenso wie der Urgroßvater und die Urgroßmutter es draußen getan hatten, und sie sprachen ebenso wie diese, von den alten Zeiten und der goldenen Hochzeit. Das kleine Mädchen mit den blauen Augen und mit den Fliederblüten im Haar saß oben im Baum, nickte beiden zu und sagte: „Heute ist der goldene Hochzeitstag!“ Und dann nahm sie zwei Blüten aus ihrem Kranz und küßte sie; und sie glänzten zuerst wie Silber, dann wie Gold, und als sie sie auf die Häupter der beiden Alten legt, wurde jede Blüte zu einer Goldkrone. Da saßen sie beide, einem König und einer Königin gleich, unter dem duftenden Baum, der ganz und gar wie ein Fliederbaum aussah. Und er erzählte seiner alten Frau die Geschichte von dem Fliedermütterchen, wie sie ihm erzählt worden war, als er nach ein kleiner Knabe war; und sie fanden beide so vieles darin, was ihrer eigenen ähnlich war, und das gefiel ihnen am besten. „Ja, so ist es!“ sagte das kleine Mädchen im Baum. „Einige nennen mich Fliedermütterchen, andere Dryade, aber eigentlich heiße ich Erinnerung. Ich bin es, die im Baum sitzt, der wächst und wächst; ich kann mich zurückerinnern, ich kann erzählen! Laß sehen, ob du deine Blüte noch hast.“
Und der alte Mann öffnete sein Gesangbuch. Da lag die Fliederblüte so frisch, als sei sie erst kürzlich hineingelegt worden. Und die Erinnerung nickte, und die beiden Alten mit den Goldkronen auf dem Kopf saßen in der roten Abendsonne; sie schlossen die Augen und -und -? Ja, da war das Märchen aus!
Der kleine Knabe lag in seinem Bett. Er wußte nicht, ob er geträumt oder ob er es hatte erzählen hören. Die Teekanne stand auf dem Tisch, aber es wuchs kein Fliederbaum hervor, und der alte Mann, der erzählt hatte, wollte gerade zur Tür hinausgehen, und das tat er auch.
„Wie schön war das!“ sagte der kleine Knabe. „Mutter, ich bin in den warmen Ländern gewesen!“
„Ja, das glaube ich wohl!“ sagte die Mutter; wenn man zwei Tassen warmen Fliedertee getrunken hat, dann kommt man wohl zu den warmen Ländern!“ Und sie deckte ihn gut zu, damit er sich nicht erkälte. „Du hast gut geschlafen, während ich mich mit ihm darüber stritt, ob es eine Geschichte oder ein Märchen sei!“
„Und wo ist die Fliedermutter?“ fragte der Knabe.
„Die ist in der Teekanne“, sagte die Mutter, „und da mag sie bleiben.“

Hans Christian Andersen – Frag die Grünwarenfrau!

Hans Christian Andersen

Frag die Grünwarenfrau!

Da war eine alte Mohrrübe drin,
so knollig, so dick und so schwer,
die hatte gar einen gefährlichen Sinn,
sie wünschte, daß sie verheiratet wär
mit ’ner jungen Mohrrübe lieblich und gut
aus der Rüben alleradligstem Blut.
Und die Hochzeit kam.
Die Bewirtung war unbezahlbar gut;
sie kostete gar kein Geld,
sie leckten Mondschein und tranken Tau,
nahmen Blumenduft aus Wiese und Au
und Blütenstaub von Wald und Feld.
Die alte Mohrrübe grüßte mit einem Ruck
und sprach so viel und so lang;
die Worte, die glucksten kluck um kluck,
klein Mohrrübchen machte auch keinen Muck,
saß da so ernst und bang,
jung und schmuck.
Willst du’s wissen genau,
frag die Grünwarenfrau. Ein Rotkohl hat sie als Pfarrer getraut,
Braujungfern sind weiße Rüben;
Spargel und Gurke kam nach Belieben,
Kartoffeln standen und sangen laut.
Und es wurde getanzt von groß und von klein ­frag die Grünwarenfrau, sie sagt’s dir allein.
Die alte Mohrrübe sprang ohne Strümpfe und Schuh,
hohei, da zersprang sie im Rücken,
und dann war sie tot, wuchs niemals mehr zu.
Die junge Mohrrübe lachte in Ruh,
so wunderlich kann es sich schicken.
Nun war sie Witwe, nun war sie froh,
nun konnte sie leben, huchheia hei ho!
In den Suppetopf sprang sie als Jungfrau hinein,
jung, froh, frisch und fein.

Willst du’s wissen genau, frag die Grünwarenfrau.

Hans Christian Andersen – Fünf aus einer Hülse

Hans Christian Andersen

Fünf aus einer Hülse

Es waren einmal fünf Erbsen in einer Hülse; sie waren grün und die Hülse war auch grün, und deshalb glaubten sie, die ganze Welt sei grün, und das war ganz richtig. Die Hülse wuchs und die Erbsen wuchsen; sie streckten sich eben nach ihrer Decke. -Alle standen schön in einer Reihe. -Die Sonne schien draußen und wärmte die Hülse, und der Regen wusch sie sauber. Es war warm und gut da drinnen, hell am Tage und dunkel in der Nacht, eben wie es sein sollte, und die Erbsen wurden größer und immer nachdenklicher, wie sie so saßen, denn etwas mußten sie ja auch zu tun haben.
„Soll ich hier immer so sitzen bleiben?“ fragten sie. „Wenn ich nur nicht hart von dem langen Sitzen werde! Ist es nicht gleichsam, als ob es auch draußen etwas gäbe; ich habe so eine Ahnung.“
Und Wochen vergingen; die Erbsen wurden gelb und die Hülse wurde gelb. „Die ganze Welt wird gelb. sagten sie, und das durften sie wohl sagen.
Plötzlich verspürten sie einen Ruck an der Hülse; sie wurde abgerissen, kam in Menschenhände und dann mit mehreren anderen Erbsenhülsen in eine Rocktasche hinein. -„Nun wird uns bald aufgeschlossen werden!“ sagten sie und warteten voller Spannung darauf.
„Nun möchte ich nur wissen, wer von uns es am weitesten bringt!“ sagte die kleinste Erbse. „Ja, das wird sich nun bald zeigen!“
„Geschehe, was da wolle!“ sagte die größte.
„Krach“ da platzte die Hülse und alle fünf Erbsen rollten in den hellen Sonnenschein hinaus; sie lagen in einer Kinderhand, ein kleiner Knabe hielt sie fest und sagte, sie seien schöne Erbsen für seine Knallbüchse. Und gleich wurde eine Erbse in die Büchse gesteckt und weggeschlossen.
„Nun fliege ich in die weite Welt hinaus. Halt mich, wenn Du kannst!“ und dann war sie fort.
„Ich,“ sagte die zweite, „fliege gleich mitten in die Sonne, das ist gerade die passende Hülse für mich.“
Weg war sie.
„Wir schlafen, wohin wir auch kommen!“ sagten die beiden nächsten; „aber wir werden schon vorwärtskommen.“ Und dann rollten sie zuerst auf den Fußboden, ehe sie in die Knallbüchse kamen, aber hinein kamen sie. „Wir bringen es am weitesten.“
„Geschehe, was da wolle“ sagte die letzte und wurde in die Luft geschossen. Und sie flog auf das alte Brett unter dem Dachkammerfenster, gerade in einen Spalt hinein, der mit Moos und hineingewehter Erde gefüllt war; und das Moos schloß sich über ihr. Dort lag sie verborgen, aber nicht von Gott vergessen.
„Geschehe, was da wolle!“ sagte sie.
In der kleinen Dachkammer wohnte eine arme Frau, die am Tage Öfen putzen, ja sogar Holz spalten ging und schwere Arbeit verrichten mußte, denn Kräfte hatte sie und fleißig war sie auch, aber sie blieb arm. Und zuhause in der kleinen Kammer lag ihre halberwachsene einzige Tochter, sie war ganz fein und zart; ein ganzes Jahr hatte sie nun im Bette gelegen und schien weder leben noch sterben zu können.
„Sie geht zu ihrer kleinen Schwester“ sagte die Frau. „Ich hatte nur die zwei Kinder, und es war schwer genug für mich, für beide zu sorgen. Aber da teilte der liebe Gott mit mir und nahm die eine zu sich. Nun möchte ich freilich die andere gern behalten, die mir geblieben ist, aber er will vielleicht nicht, daß sie getrennt sind, und sie wird zu ihrer kleinen Schwester hinaufgehen.“
Aber das kranke Mädchen blieb; und geduldig und still lag sie den ganzen Tag, während die Mutter fort war, um Geld zu verdienen.
Es war um die Frühjahrszeit und noch frühe am Morgen, gerade als die Mutter zur Arbeit gehen wollte, Die Sonne schien so schön in das kleine Fenster hinein, und das kranke Mädchen blickte durch die unterste Glasscheibe hinaus. Was mag nur das Grüne sein, was dort durch die Scheibe hereinguckt? Es bewegt sich im Winde.“
Und die Mutter ging ans Fenster und öffnete es ein wenig. „Ach!“ sagte sie, „das ist ja eine kleine Erbse, die da mit ihren grünen Blättchen heraussprießt.
Wie kommt sie nur in die Spalte? Da hast Du ja einen kleinen Garten zum Anschauen.“
Das Bett der Kranken wurde näher ans Fenster gerückt, damit sie die sprossende Erbse sehen konnte, und die Mutter ging zur Arbeit.
„Mutter, ich glaube, ich werde gesund!“ sagte am Abend das kleine Mädchen. „Die Sonne hat heute so warm zu mir hereingeschienen. Die kleine Erbse wächst so hübsch. Und ich werde sicherlich auch wachsen und wieder aufstehen und in den Sonnenschein hinauskönnen!“ „Wollte Gott, es wäre so“ sagte die Mutter, aber sie glaubte nicht daran. Doch der kleinen Pflanze, das ihrem Kinde frohe Lebensgedanken eingeflößt hatte, gab sie ein Hölzchen an die Seite, damit sie nicht vom Winde geknickt werden könne. Sie band einen Bindfaden am Brett fest und zog ihn hinauf bis an den Fensterrahmen, damit die Erbsenranke etwas habe, woran sie sich festhalten und emporranken könne, wenn sie wüchse. Und das tat sie auch. Jeden Tag konnte man sehen, wie sie wuchs.
„Nein, sie bekommt ja sogar Blüten“ sagte die Frau eines Morgens, und nun bekam auch sie Hoffnung und Glauben, daß ihr kleines krankes Mädchen wieder gesund würde. Es kam ihr in den Sinn, daß das Kind in letzter Zeit lebhafter gesprochen hatte, am vergangenen Morgen hatte es sich sogar selbst im Bette aufgerichtet und dagesessen und mit strahlenden Augen ihren kleinen Erbsengarten mit der einen einzigen Erbse darin angesehen. In einer Woche darauf war die Kranke zum ersten Male über eine Stunde auf. Glückselig saß sie im warmen Sonnenschein; das Fenster war geöffnet und draußen stand eine weißrote Erbsenblüte völlig aufgebrochen. Das kleine Mädchen neigte ihren Kopf nieder und küßte ganz leise die feinen Blättchen. Dieser Tag war für sie gleichsam ein Festtag.
„Der liebe Gott hat sie selbst gepflanzt und sie treiben lassen, um uns Hoffnung und Freude für Dich zu geben, mein liebes Kind, und für mich mit“ sagte die frohe Mutter und lächelte der Blume zu, wie einem Engel, den Gott zu ihr geschickt hatte.
Aber nun zu den anderen Erbsen, -ja, die, die in die weite Welt hinausgeflogen war: „Halte mich, wenn Du kannst!“ fiel in die Dachrinne und kam in einen Taubenkropf; dort lag sie wie Jonas im Walfisch. Die zwei Faulen brachten es ebensoweit, sie wurden auch von den Tauben verspeist, und dadurch brachten sie einen soliden Nutzen; aber die vierte, die in die Sonne hinauf wollte, die fiel in den Rinnstein und lag dort Wochen und Tage im schmutzigen Wasser, wo sie richtig aufquoll.
„Ich werde so furchtbar dick“ sagte die Erbse. „Ich werde noch platzen, und weiter, glaube ich, kann es keine Erbse bringen und hat es wohl auch nie eine gebracht!“
Und der Rinnstein hielt es mit ihrer Ansicht.
Aber das junge Mädchen stand am Dachfenster mit leuchtenden Augen und dem Glanze der Gesundheit auf den Wangen, und sie faltete ihre feinen Hände über der Erbsenblüte und dankte Gott dafür.
„Ich halte es mit meiner Erbse,“ sagte der Rinnstein.

Hans Christian Andersen – Großmütterchen

Hans Christian Andersen

Großmütterchen
Großmutter ist so alt, sie hat gar viele Runzeln und ganz schneeweißes Haar, aber ihre Augen leuchten wie zwei Sterne; ja sie sind eigentlich viel schöner, sie sind so milde, daß es von Herzen wohltut, in sie hineinzuschauen. Sie weiß die herrlichsten Geschichten und hat ein Kleid mit großen, großen Blumen an; das ist aus so dickem Seidenzeug, daß es bei jeder Bewegung rauscht. Großmutter weiß so viel, denn sie hat viel länger als Vater und Mutter gelebt, das ist ganz gewiß. Großmutter hat ein Gesangbuch mit dicken Silberbeschlägen, und darin liest sie oft. Mitten in dem Buche liegt eine Rose, die ganz flach und trocken ist; sie ist nicht so schön wie die Rosen, die sie im Glase stehen hat, und doch lächelt sie dieser am allerfreundlichsten zu, ja, es kommen ihr dabei Tränen in die Augen. Weshalb mag
Großmutter so auf die welke Rose in dem alten Buche niederschauen? Weißt Du es? Jedesmal, wenn Großmutters Tränen auf die Blume fallen, wird ihre Farbe frischer, die Rose schwillt empor, und die ganze Stube erfüllt sich mit ihrem Duft, die Wände versinken, als seien sie Nebelschleier, und ringsum ist der grüne, herrliche Wald, wo die Sonne zwischen den Blättern spielt und Großmutter -ja sie ist ganz jung, ist ein liebreizendes Mädchen mit blonden Locken, mit rosigen, runden Wangen, schmuck und lieblich, keine Rose kann frischer sein. Doch die Augen, die milden sanften Augen, ja das sind immer noch Großmutters Augen. An ihrer Seite sitzt ein Mann, so jung und kräftig und schön; er reicht ihr die Rose, und sie lächelt, -so lächelt Großmutter doch nicht.-Ja, das Lächeln ist da. Er ist fort; nun gehen viele Gedanken und Gestalten vorüber. Der schöne Mann ist fort, die Rose liegt im Gesangbuche, und Großmutter -ja, da sitzt sie wieder, eine alte Frau, und betrachtet die verwelkte Rose, die im Buche liegt.
Nun ist Großmutter tot. -Sie saß im Lehnstuhl und erzählte eine lange, lange herrliche Geschichte: „Und nun ist sie aus,“ sagte sie, „und ich bin so müde, laßt mich nun ein wenig schlafen!“ Und dann lehnte sie sich zurück und atmete sanft; sie schlief. Aber es wurde stiller und stiller und ihr Antlitz war so voller Frieden und Glück, es war gleichsam, als ob der Sonnenschein darüber hinglitte, und da sagten sie, sie sei tot. Sie wurde in den schwarzen Sarg gelegt. Dort lag sie, in weißes Linnen gehüllt; sie war so schön, aber die Augen waren geschlossen; alle Runzeln waren nun fort,
und sie lag mit einem Lächeln um den Mund. Ihr Haar war so silberweiß, so ehrwürdig, ihr Anblick flößte gar keine Furcht ein, es war ja die liebe, herzenesgute Großmutter. Und das Gesangbuch wurde unter ihren Kopf gebettet, das hatte sie selbst verlangt, und die Rose lag in dem alten Buche; so wurde Großmutter begraben.
Auf dem Grabe, dicht unter der Kirchenmauer pflanzten sie einen Rosenbaum. Er stand voller Blüten, und die Nachtigall sang über ihm, und aus der Kirche hörte man die Orgel die schönsten Psalmen spielen, die in dem Buche unter dem Haupte der Toten standen. Der Mond schien gerade auf das Grab herab; aber die Tote ließ sich nicht blicken. Jedes Kind konnte des Nachts ruhig hingehen und sich dort an der Kirchhofmauer eine Rose pflücken. Ein Toter weiß mehr, als wir Lebenden wissen; der Tote kennt die Angst, die uns sein Wiedererscheinen einflößen würde. Die Toten sind besser als wir alle, und deshalb kommen sie nicht Es liegt Erde über dem Sarge und Erde darin. Das Gesangbuch mit seinen Blättern ist zu Staub zerfallen. Aber darüber blühen neue Rosen, darüber singt die Nachtigall und die Orgel spielt. Man denkt an die alte Großmutter mit den milden, ewig jungen Augen. Augen können niemals sterben. Die unsrigen werden sie einmal erblicken, so jung und schön wie damals, als sie zum ersten Male die frische, rote Rose küßte, die Staub im Grabe ist.

Hans Christian Andersen – Hofhahn und Wetterhahn

Hans Christian Andersen

Hofhahn und Wetterhahn

Zwei Hähne waren da, einer auf dem Misthaufen, einer auf dem Dach, hoffärtig waren sie beide, wer von den beiden richtete aber am meisten aus? Sage uns deine Meinung, wir behalten dessen ungeachtet doch unsere eigene bei.
Der Hühnerhof war durch einen Holzzaun von einem anderen Hof getrennt, in welchem ein Misthaufen lag, und auf dem Misthaufen lag und wuchs eine große Gurke, die das Bewußtsein hatte, ein Mistbeetgewächs zu sein.
„Dazu wird man geboren“, sprach es im Innern der Gurke, „nicht alle können als Gurken geboren werden, es muß auch andere Arten geben! Die Hühner, die Enten und der ganze Viehbestand des Nachbarhofes sind auch Geschöpfe. Zu dem Hofhahn auf dem Holzzaun sehe ich nun empor, er ist freilich von ganz anderer Bedeutung als der Wetterhahn, der so hochgestellt ist und nicht einmal kämpfen, geschweige dann krähen kann; er hat weder Hühner noch Küchlein; er denkt nur an sich und schwitzt Grünspan! Nein, der Hofhahn, das ist ein Hahn! Sein Auftreten ist Tanz! Sein Krähen ist Musik; wo er hinkommt, wird es einem gleich klar, was ein Trompeter ist! Wenn er nur hier herein käme! Und wenn er mich auch mit Stumpf und Stiel auffräße, wenn ich auch in seinem Körper aufgehen müßte, es wäre ein seliger Tod!“ sprach die Gurke.
Nachts kam ein entsetzliches Wetter; Hühner, Küchlein und selbst der Hahn suchten Schutz; den Holzzaun zwischen den beiden Höfen riß der Wind nieder, daß es krachte; die Dachziegel fielen herunter, aber der Wetterhahn saß fest; er drehte sich nicht einmal, er konnte sich nicht drehen, und doch war er jung, frisch gegossen, aber besonnen und gesetzt; er war alt geboren, ähnelte durchaus nicht den fliegenden Vögeln im Himmelsraum, den Sperlingen, den Schwalben, nein, die verachtete er, sie seien Piepvögel von geringer Größe, ordinäre Piepvögel! Die Tauben, meinte er, die seien groß und blank und schimmernd wie Perlmutt, sähen aus wie eine Art Wetterhahn, allein sie seien dick und dumm, ihr ganzes Sinnen und Trachten gehe darauf aus, den Wams zu füllen, auch seien sie langweilige Dinger im Umgang, sagte der Wetterhahn.
Auch die Zugvögel hatten dem Wetterhahn ihre Visite gemacht, ihm von fremden Ländern, von Luftkarawanen und haarsträubenden Räubergeschichten mit den Raubvögeln erzählt, das war neu und interessant, das heißt, das erste Mal, aber später, das wußte der Wetterhahn, wiederholten sie sich, erzählten stets dieselben Geschichten, und das ist langweilig. Sie waren langweilig, und alles war langweilig, mit niemandem konnte man Umgang pflegen, jeder und alle waren fade und borniert.
„Die Welt taugt nichts!“ sprach er. „Das Ganze ist dummes Zeug!“ Der Wetterhahn war, was man blasiert nennt, und diese Eigenschaft hätte ihn gewiß für die Gurke interessant gemacht, wen sie es gewußt hätte, allein sie hatte nur Augen für den Hofhahn, und der war jetzt auf dem Hof bei ihr. Den Holzzaun hatte der Wind umgeblasen, aber das Ungewitter war vorüber.
„Was sagt ihr zu dem Hahnenschrei?“ sprach der Hofhahn zu den Hühnern und Küchlein. „Das war ein wenig roh, die Eleganz fehlte.“ Und Hühner und Küchlein traten auf den Misthaufen, und der Hahn betrat ihn mit Reiterschritten.
„Gartengewächs!“ sprach er zu der Gurke, und durch dieses eine Wort wurde ihr seine ganze tiefe Bildung klar, und sie vergaß, daß er in sie hackte und sie auffraß. „Ein seliger Tod!“
Und die Hühner kamen, und die Küchlein kamen, und wenn das eine läuft, so läuft das andere auch, und sie glucksten und piepten, und sie schauten den Hahn an und waren stolz darauf, daß er von ihrer Art war.
„Kikeriki“, krähte er, „die Küchlein werden sofort zu großen Hühnern, wenn ich es ausschreie in den Hühnerhof der Welt!“ und Hühner und Küchlein glucksten und piepten, und der Hahn verkündete eine große Neuigkeit:
„Ein Hahn kann ein Ei legen! Und wißt ihr, was in dem Ei liegt? In dem Ei liegt ein Basilisk. Den Anblick seines solchen vermag niemand auszuhalten; das wissen die Menschen, und jetzt wißt ihr es auch, wißt, was in mir wohnt, was ich für ein Allerhühnerhofskert bin!“
Und darauf schlug der Hofhahn mit den Flügeln, ließ den Hahnenkamm schwellen und krähte wieder; und es schauderte ihnen allen, den Hühnern und den kleinen Küchlein, aber sie waren gar stolz, daß einer von ihren Leuten so ein Allerhühnerhofskerl war; sie glucksten und piepten, daß der Wetterhahn es hören mußte, und er hörte es, aber er rührte sich nicht dabei.
„Das Ganze ist dummes Zeug!“ sprach es im Innern des Wetterhahns. „Der Hofhahn legt keine Eier, und ich bin zu faul dazu; wenn ich wollte, ich könnte schon ein Windei legen, aber die Welt ist kein Windei wert. Das Ganze ist dummes Zeug! Jetzt mag ich nicht einmal länger hier sitzen.“

Und damit bracht der Wetterhahn ab, aber er schlug nicht den Hofhahn tot, obgleich er es darauf abgesehen hatte, wie die Hühner sagten; und was sagt die Moral? „Immerhin noch besser zu krähen als blasiert zu sein und abzubrechen!“

Hans Christian Andersen – Hühner-Gretes Familie

Hans Christian Andersen

Hühner-Gretes Familie

Hühner-Grete war der einzige ansässige Mensch in dem neuen stattlichen Haus, das für die Hühner und Enten auf dem Rittergut gebaut war; es stand da, wo das alte Ritterschloß gestanden hatte, mit Turm, gezacktem Giebel, Wallgraben und Zugbrücke. Dicht daneben war eine Wildnis von Bäumen und Büschen; hier war einst der Garten gewesen, er hatte sich bis hinab an den großen See erstreckt, der jetzt nur noch ein Moor war. Krähen, Dohlen und Elstern flogen mit Schreien und Krächzen über die alten Bäume hin, eine wimmelnde Menge von Vögeln; es wurden ihrer nicht weniger, wenn man in den Schwarm hineinschoß, sie vermehrten sich eher noch. Man konnte sie bis ins Hühnerhaus hinein hören, wo Hühner-Grete saß und die kleinen Entlein ihr über die Holzschuhe liefen. Sie kannte jedes Huhn, jede Ente, von dem Augenblick an, wo sie aus dem Ei krochen. Wie stolz war sie auf ihre Hühner und ihre Enten, stolz auf das stattliche Haus, das jetzt für sie gebaut war. Reinlich und nett war ihre kleine Stube, das verlangte die Frau des Gutsbesitzers, der das Hühnerhaus gehörte; sie kam oft mit ihren feinen vornehmen Gästen hierher und zeigte die Hühner-und Entenkaserne, wie sie das Hühnerhaus nannte.
Da waren ein Kleiderschrank und ein Lehnstuhl, ja, da war auch eine Kommode, und darauf stand eine blankgeputzte Messingplatte aufgestellt, in die das Wort „Grubbe“ eingraviert war, und das war gerade der Name des alten hochadligen Geschlechts, das hier in der Ritterburg gewohnt hatte. Die Platte war gefunden worden, als man hier grub, und der Küster sagte, sie habe keinen weiteren Wert als den einer alten Erinnerung. Der Küster wußte gut Bescheid über das Gut und die alten Zeiten, er hatte seine Gelehrsamkeit aus Büchern; es lag so viel Geschriebenes in seiner Tischschublade. Er wußte viel von den alten Zeiten, aber die älteste Krähe wußte vielleicht doch noch mehr und schrie es auf ihre Sprache in die Welt hinaus, die verstand jedoch der Küster nicht, wie klug er auch war.
Nach einem warmen Sommertag konnte das Moor so dunsten, daß es vor den alten Bäumen, in denen die Krähen, Dohlen und Elstern hausten, dalag wie ein ganzer See; so hatte es hier ausgesehen, als Ritter Grubbe noch lebte und das alte Schloß mit roten, dicken Mauern dastand. Damals reichte die Hundekette ganz bis vor das Tor; durch den Turm gelangte man in den steingepflasterten Gang, der zu den Gemächern führte. Die Fenster waren schmal, die Fensterscheiben klein, selbst in dem großen Saal, wo der Tanz abgehalten wurde, aber zur Zeit des letzten Grubbe war seit Mannesgedenken nicht getanzt worden, und doch lag da eine alte Kesseltrommel, die bei der Musik benutzt worden war. Hier stand ein kunstvoll geschnitzter Schrank, darin wurden seltene Blumenzwiebeln aufbewahrt, denn Frau Grubbe liebte es, zu pflanzen und Bäume und Kräuter zu ziehen; ihr Gemahl ritt lieber aus, um Wölfe und Wildschweine zu schießen und stets begleitete ihn seine kleine Tochter Marie. In einem Alter von fünf Jahren saß sie stolz zu Roß und sah mit großen schwarzen Augen kühn um sich. Es war ihre Lust, mit der Peitsche zwischen die Jagdhunde zu schlagen; der Vater sah es freilich lieber, daß sie zwischen die Bauernjungen schlug, die kamen, um die Herrschaft vorbeireiten zu sehen.
Der Bauer in der Erdhütte dicht am Schloß hatte einen Sohn Sören im selben Alter mit der kleinen hochadeligen Jungfer, er verstand sich auf das Klettern und mußte immer in die Bäume hinauf, um Vogelnester für sie auszunehmen. Die Vögel schrieen, so laut sie nur schreien konnten, und einer der größten hackte ihn gerade über das Auge, so daß das Blut herausströmte, man glaubte, das Auge sei mit draufgegangen, aber es hatte doch keinen Schaden gelitten. Marie Grubbe nannte ihn ihren Sören, das war eine große Gunst, und die kam dem Vater, dem dummen Jörn, zugute; er hatte sich eines Tages versehen, sollte gestraft werden und auf dem hölzernen Pferd reiten: das stand auf dem Hofe mit vier Pfählen statt der Beide und einem schmalen Brett als Rücken; darüber solle Jörn rittlings reiten, und ein paar schwere Mauersteine sollten ihm an die Beine gebunden werden, damit er nicht allzuleicht saß; er schnitt schreckliche Grimassen, Sören weinte und flehte die kleine Marie an; sofort befahl sie, daß Sörens Vater heruntersteigen solle, und als man ihr nicht gehorchte, stampfte sie mit den Füßen auf das Steinpflaster und zerrte an des Vaters Rockärmel, so daß er zerriß. Sie wollte, was sie wollte, und sie bekam ihren Willen, Sörens Vater wurde befreit. Frau Grubbe, die herzukam strich ihrer kleinen Tochter über das Haar und sah sie mit sanften Augen an, Marie verstand nicht, weshalb.
Zu den Jagdhunden wollte sie hinein und nicht mit der Mutter gehen, die dem Garten zuschritt, hinab an den See, wo die Wasserrosen in Blüte standen, wo sich Rohrkolben und Wasserviolen zwischen dem Röhricht wiegten; sie betrachtete all die Üppigkeit und Frische.
„Wie angenehm!“ sagte sie. In dem Garten stand ein zu jener Zeit seltener Baum, den sie selbst gepflanzt hatte, „Blutbuche“ wurde er genannt, eine Art Mohr zwischen den andern Bäumen, so schwarzbraun waren die Blätter; er mußte starken Sonnenschein haben, sonst würde er im Schatten grün werden wie die andern Bäume und also seine Eigentümlichkeit verlieren. In den hohen Kastanien waren viele Vogelnester, ebenso in den Büschen und zwischen den grünen Kräutern. Es war, als wüßten die Vögel, daß sie hier geschützt waren, hier durfte niemand mit der Flinte knallen.
Die kleine Marie kam mit Sören hierher; daß er klettern konnte, wissen wir, und es wurden Eier und flaumige Junge aus den Nestern geholt. Die Vögel flogen in Angst und Schrecken davon, kleine und große flogen“ Der Kiebitz draußen vom Felde, Dohlen, Krähen und Elstern flogen in die hohen Bäume und schrieen und schrieen, es war ein Geschrei, wie es das Vogelvolk noch heutigentags anstimmen kann.
„Was macht ihr denn da, Kinder? rief die sanfte Frau. „Das ist ja ein gottloses Unterfangen!“
Sören stand ganz verlegen da, die kleine hochadelige Jungfer sah auch ein wenig zur Seite, dann aber sagte sie kurz und energisch. „Mein Vater erlaubt es mir!“
„Raus! Raus!“ schrieen die großen schwarzen Vögel und flogen davon; am nächsten Tage aber kamen sie wieder, denn hier waren sie zu Hause.
Die stille, sanfte Frau hingegen behielt ihr Heim dort nicht lange, der liebe Gott nahm sie zu sich, bei ihm hatte sie auch ihre wirkliche Heimat, weit mehr als hier im Schloß; und die Kirchenglocken läuteten prächtig, als ihre Leiche zur Kirche gefahren wurde, die Augen der armen Leute wurden feucht, denn sie war ihnen eine gute Herrin gewesen.
Als sie heimgegangen war, nahm sich niemand ihrer Anpflanzungen an, und der Garten verfiel.
Herr Grubbe sei ein harter Mann, so sagte man, aber die Tochter, so jung sie auch war, konnte ihn zügeln; er mußte lachen, und sie bekam ihren Willen. Jetzt war sie zwölf Jahre alt und starkgliedrig von Wuchs; sie sah mit ihren schwarzen Augen gerade in die Menschen hinein, ritt ihr Pferd wie ein Bursche und schoß ihre Büchse ab wie ein geübter Jäger.
Es kam hoher Besuch in die Gegend der allervornehmste, der junge König und sein Halbbruder und Kamerad, Herr Ulrik Frederik Gyldenlöve; sie wollten dort wilde Schweine schießen und in Herrn Grubbes Schloß übernachten.
Gyldenlöve saß bei Tische neben Marie Grubbe, er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und gab ihr einen Kuß, als wenn sie miteinander verwandt gewesen wären, sie aber gab ihm einen Schlag auf den Mund und sagte, sie könne ihn nicht ausstehen, und darüber ward weidlich gelacht, als wenn es etwas Ergötzliches sei. Das ist es vielleicht auch gewesen; denn fünf Jahre später, als Marie ihr siebzehntes Jahr vollendet hatte, kam ein Bote mit einem Brief; Herr Gyldenlöve bat um die Hand der hochadeligen Jungfer; das war etwas!
„Es ist der vornehmste und galanteste Herr im Reich!“ sagte Herr Grubbe. „Das ist nicht zu verachten!“
„Viel mache ich mir nicht aus ihm!“ sagte Marie Grubbe, aber sie wies den vornehmsten Mann des Landes nicht ab, der an des Königs Seite saß.
Silbergerät, Leinenzeug und gewebte Wollstoffe gingen per Schiff nach Kopenhagen; sie machte die Reise zu Land in zehn Tagen. Die Aussteuer hatte widrigen Wind oder gar keinen Wind; es vergingen vier Monate, bis sie ankam, und als sie kam, war Frau Gyldenlöve weg.
„Eher will ich auf hedenem LaKen liegen als in seinem seidenen Bett!“ sagte sie. „Lieber gehe ich auf bloßen Beinen, als das ich mit ihm in der Kutsche fahre!“
An einem späten Abend im November kamen zwei Frauen in die Stadt Aarhus geritten, es waren Gyldenlöves Gemahlin, Marie Grubbe, und ihre Magd; sie kamen aus Vejle, dahin waren sie per Schiff von Kopenhagen gekommen. Sie ritten nach Herrn Grubbes festgemauertem Schloß. Er war nicht sehr erfreut über den Besuch. Er empfing sie mit zornigen Worten, gab ihr aber doch eine Kammer, in der sie ausruhen konnte. Speise und Trank erhielt sie, aber keine freundliche Behandlung; all das Böse, das im Vater wohnte, kam gegen sie zum Vorschein, und daran war sie nicht gewöhnt; auch sie war nicht sanften Sinnes, und wie man in den Wald hineinruft, so ruft es wieder heraus; sie gab bissige Antworten und sprach mit Haß und Bitterkeit von ihrem Eheherrn, mit dem sie nicht leben wollte, weil sie zu ehrbar und anständig war.
So verging ein Jahr, und es verging nicht gerade ergötzlich. Es fielen böse Worte zwischen Vater und Tochter, und das sollte niemals sein. Böse Worte tragen böse Frucht. Was für ein Ende sollte das nehmen?
„Wir beide können nicht unter einem Dache bleiben“, sagte eines Tages der Vater. „Ziehe du fort von hier auf unser altes Gut, aber beiße dir eher die Zunge ab, als daß du Lügen in Umlauf bringst!“
Und dann schieden die beiden voneinander; sie zog mit ihrer Magd nach dem alten Gut, wo sie geboren und aufgewachsen war, wo die stille, fromme Frau, ihre Mutter, in der Grabkammer der Kirche lag; ein alter Viehhirt wohnte auf dem Gut, das war die ganze Dienerschaft. In den Zimmern hing Spinnengewebe, schwarz und schwer von Staub, der Garten wuchs so, wie er wollte, Hopfenranken und Winden schlangen ein Netz zwischen Bäume und Büsche, Schierling und Nessel breiteten sich immer dichter und kräftiger aus. Die Blutbuche war überwuchert und stand im Schatten, ihre Blätter waren jetzt grün wie die der anderen gewöhnlichen Bäume, mit ihrer Herrlichkeit war es vorbei. Dohlen, Krähen und Elstern flogen, ein wimmelnder Schwarm, über den hohen Kastanienbäumen hin, da war ein Lärmen und Schreien, als hätten sie einander wichtige Neuigkeiten zu erzählen.
Jetzt war sie wieder hier, die Kleine, die ihre Eier und Jungen hatte stehlen lassen; der Dieb selber, der sie holte, kletterte jetzt draußen auf blätterlosen Bäumen, saß in dem hohen Mast und bekam seine tüchtigen Prügel mit dem Tauende, wenn er sich nicht schickte.
Das alles erzählte in unserer Zeit der Küster; er hatte es gesammelt und aus Büchern und Aufzeichnungen zusammengestellt; es lag mit viel anderem Geschriebenen in der Tischschublade.
„Auf und nieder, das ist der Welt Lauf!“ sagte er. „Es ist wunderlich zu hören!“ -und wir wollen gern hören, wie es Marie Grubbe erging, deswegen vergessen wir doch die Hühner-Grete nicht, sie sitzt zu unserer Zeit in ihrem stattlichen Hühnerhaus. Marie Grubbe saß zu ihrer Zeit auf dem alten Gut, aber nicht mit dem zufriedenen Sinn wie die alte Hühner-Grete.
Der Winter verging, der Frühling und der Sommer vergingen, dann kam wieder die rauhe, stürmische Herbstzeit mit den nassen, kalten Meernebeln. Es war ein einsames Leben, ein eintöniges Leben dort auf dem Gut.
Da nahm Marie Grubbe ihre Flinte und ging in die Heide hinaus, schoß Hasen und Füchse, schoß, was sie nur treffen konnte. Da draußen begegnete sie mehr als einmal dem adligen Herrn Paale Dyre aus Nörrebak, auch er ging mit seiner Flinte und mit seinen Hunden. Er war groß und stark, des rühmte er sich, wenn sie miteinander redeten. Er hätte sich mit dem seligen Herrn Brokkenhuus auf Egeskov auf Fünen messen können, von dessen Stärke soviel Wesens gemacht wurde. -Palle Dyre hatte nach seinem Beispiel in seinem Tor eine eiserne Kette mit einem Jägerhorn aufhängen lassen, und wenn er nach Hause ritt, ergriff er die Kette, hob sich mit dem Pferd von der Erde und blies auf dem Horn.
„Kommt selbst und seht es Euch an, Frau Marie!“ sagte er. „Auf Nörrebak weht ein frischer Wind!“
Wann sie auf sein Schloß kam steht nicht aufgezeichnet, aber auf den Leuchtern in der Nörrebaker Kirche war zu lesen, daß sie von Palle Dyre und Marie Grubbe auf Nörrebak geschenkt seien. Körper und Kräfte hatte Palle Dyre, er trank wie ein Schwamm, er war wie eine Tonne, die nicht zu füllen ist, er schnarchte wie ein ganzer Schweinestall; rot und aufgedunsen sah er aus.
„Verschlagen und boshaft ist er!“ sagte Frau Palle Dyre, Grubbes Tochter. Bald hatte sie das Leben satt, aber dadurch wurde es doch nicht besser.
Eines Tages stand der Tisch gedeckt, und das Essen wurde kalt; Palle Dyre war auf der Fuchsjagd, und die Hausfrau war nicht zu finden. -Palle Dyre kam um Mitternacht wieder, Frau Dyre kam weder um Mitternocht noch am Morgen, sie hatte Nörrebak den Rücken gewendet, war ohne Gruß und Abschied davongeritten.
Es war graues, nasses Weter; der Wind wehte kalt, es flog ein Schwarm schwarzer schreiender Vögel über sie hin, sie waren nicht so obdachlos wie sie. Zuerst zog sie gen Süden, ganz hinunter bis an das Deutsche Reich, ein paar goldene Ringe mit kostbaren Steinen wurden in Geld umgesetzt, dann ging sie gen Osten, dann kehrte sie um und ritt wieder gen Westen, sie hatte kein Ziel vor Augen, sie war zornig auf alle, selbst auf den lieben Gott, so elend war ihr Sinn; bald war auch ihr Körper elend, sie konnte kaum mehr den Fuß rühren. Der Kiebitz flog von seinem Erdhaufen aus, als sie darüberstrauchelte; der Vogel schrie: „Du Dieb“ Du Dieb!“, wie er immer zu schreien pflegt. Nie hatte sie ihres Nächsten Gut gestolen, aber Vogeleier und junge Vögel hatte sie sich als kleines Mädchen aus Erdhaufen und Bäumen holen lassen; daran dachte sie jetzt.
Da, wo sie lag, konnte sie die Dünen am Strande sehen. Dort wohnten Fischer, aber so weit konnte sie nicht kommen, sie war zu krank dazu. Die großen weißen Strandmöwen kamen über sie hingeflogen und schrieen, wie daheim die Dohlen, die Krähen und die Elstern über den Bäumen des Gartens geschrieen hatten. Die Vögel flogen ganz nahe an sie heran, schließlich schien es ihr, als würden sie kohlschwarz, aber dann ward es auch Nacht vor ihren Augen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie gehoben und getragen; ein großer, starker Bursche hatte sie auf seine Arme genommen. Sie sah ihm gerade in sein bärtiges Gesicht, er hatte eine Narbe über dem Auge, so daß die Augenbraue gleichsam in zwei Teile geteilt war; er trug sie, so elend sie war, nach dem Schiff, wo er von dem Schiffer mit bösen Worten empfangen wurde. Am Tage darauf segelte das Schiff. Marie Grubbe kam nicht an Land; sie fuhr also mit. Aber sie kam doch wohl zurück? Ja, wann und wo?
Auch davon wußte der Küster zu erzählen, und es war dies keine Geschichte, die er selber zusammensetzte, er hatte den ganzen eigentümlichen Verlauf aus einem glaubwürdigen alten Buch, das wir selber nehmen und lesen können. Der dänische Geschichtsschreiber Ludwig Holberg, der so viele lesewürdige Bücher und die ergötzlichen Komödien geschrieben hatte, aus denen wir so recht seine Zeit und ihre Menschen kennenlernen können, erzählt in seinen Briefen von Marie Grubbe, wie und wo er ihr in der Welt begegnet ist. Es verlohnt sich schon, das zu hören, darum vergessen wir die Hühner-Grete keineswegs, sie sitzt zufrieden und wohlgeborgen in dem stattlichen Hühnerhaus.
Das Schiff segelte von dannen mit Marie Grubbe; da waren wir ja stehengeblieben.
Jahre auf Jahre vergingen.
In Kopenhagen wütete die Pest, es war im Jahre 1711. Die Königin von Dänemark begab sich in ihre deutsche Heimat, der König verließ die Hauptstadt des Reiches, wer konnte, wandte der Stadt den Rücken. Einer von den Studenten, die noch in Borchs Kollegium, der Freiwohnung für Musensöhne, geblieben waren, zog nun auch von dannen. Es war in der Frühe des Morgens um zwei Uhr; er kam mit seinem Ranzen, der mehr mit Büchern und beschriebenen Papieren gefüllt war als gerade mit Kleidungsstücken. Ein kalter, feuchter Nebel lag über der Stadt, auch nicht ein Mensch war in der ganzen Straße zu sehen, die er durchschritt, ringsumher an Haustüren und Torwegen waren Kreuze gemalt, da drinnen herrschte die Seuche, oder die Bewohner waren ausgestorben. Auch in der breiteren, gewundenen Kjödmangergade, wie die Straße hieß, die vom runden Turm auf das Schloß des Königs zuführte, war niemand zu erblicken. Jetzt rasselte ein großer Leichenwagen vorüber; der Kutscher schwenkte die Peitsche, die Pferde jagten im Galopp dahin, der Wagen war mit Toten angefüllt. Der junge Student hielt die Hand vor das Gesicht und roch an einem starken Spiritus, den er auf einem Schwamm in einer Messingbüchse bei sich trug. Aus einer Kneipe in einer der Seitengassen erschollen kreischender Gesang und unheimliches Gelächter von Leuten, die die Nacht vertranken, um zu vergessen, daß die Seuche vor der Tür stand und auch sie auf den Leichenwagen laden wollte zu den andern Toten. Der Student lenkte seine Schritte der Schloßbrücke zu, wo ein paar kleine Schiffe lagen; eins davon lichtete gerade die Anker, um aus der pestverseuchten Stadt fortzukommen.
„Wenn uns Gott am Leben läßt und wir günstigen Wind haben, gehen wir in den Grönsund bei Falster“, sagte der Schiffer und fragte den Studenten, der mitwollte, nach seinem Namen.
„Ludwig Holberg!“ sagte der Student, und der Name klang wie jeder andere Name, jetzt klingt uns darauf einer des stolzesten Namen Dänemarks entgegen; damals war er nur ein junger, unbekannter Student.
Das Schiff glitt an dem Schloß vorüber. Es war noch nicht heller Morgen, als sie in das offene Fahrwasser hinausgelangten. Es kam eine leichte Brise auf, die Segel blähten sich, der junge Student setzt sich so, daß ihm der frische Seewind ins Gesicht blies, und bald war er eingeschlafen. Das war nun auch das Vernünftigste, was er tun konnte.
Schon am dritten Morgen lag das Schiff vor Falster.
„Kennt Ihr hier jemand am Ort, bei dem ich gegen Entgelt Unterkunft finden kann?“ frage Holberg den Kapitän.
„Ich glaube, Ihr werden gut daran tun, zu der Fährfrau im Borrehaus zu gehen!“, sagte der. „Wenn Ihr sehr galant sein wollt, so redet sie Mutter Sören Sörensen Möller an! Doch es kann sein, daß es ihr nicht ansteht, wenn Ihr zu fein mit ihr verkehrt; der Mann sitzt wegen einer Missetat; sie selber führt das Fährboot, ein Paar Fäuste hat sie!“
Der Student nahm seinen Tornister und ging nach dem Fährhaus. Die Tür war nicht abgeschlossen, der Türgriff gab nach, und er betrat eine gepflasterte Stube, in der die Bettbank mit einer großen Felldecke das hauptsächlichste Stück Möbel war. Eine weiße Henne mit Küchlein war an die Bettbank gebunden und hatte den Wassernapf umgestoßen, so daß das Wasser über den Fußboden floß. Weder hier noch in der Kammer nebenan war ein Mensch zu sehen, da war nur eine Wiege mit einem Kind darin. Das Fährboot kam zurück, es saß nur eine Person darin, ob Mann oder Frau, war nicht leicht zu sagen. Ein großer Mantel verhüllte die Gestalt, und der Kopf verschwand in einer Kapuze. Das Boot legte an.
Es war eine Frau, sie kam und trat in die Stube. Sie sah recht ansehnlich aus, als die ihren Rücken geradereckte; zwei stolze Augen sahen unter den schwarzen Brauen hervor. Es war Mutter Sören, die Fährfrau; Dohlen, Krähen und Elstern würden einen andern Namen schreien, den wir besser kennen.
Unwirsch sah sie aus, viele Reden liebte sie offenbar nicht, aber so viel wurde doch geredet und abgemacht, daß der Student sich auf unbestimmte Zeit bei ihr einmietete, solange es in Kopenhagen so übel stand.
Und nach dem Fahrhaus kamen aus dem nahe gelegenen Städtchen häufig ein paar ehrenwerte Bürger. Da kamen Franz Messerschmidt und Sivert Sackgucker; sie tranken einen Krug Bier im Fährhaus und diskutierten mit dem Studenten; er war ein tüchtiger junger Mann, der seine Praktika, wie sie es nannten, konnte, er las Griechisch und Lateinisch und wußte Bescheid über gelehrte Sachen.
„Je weniger man weiß, desto weniger bedrückt es einen“, sagte Mutter Sören. „Ihr habt es schwer!“ sagte Holberg eines Tages, als sie ihre Wäsche in der scharfen Lauge weichte und selber die Baumknorren für die Feuerung zuhauen mußte.
„Das ist meine Sache!“ sagte sie.
„Habt Ihr von klein an so arbeiten und schleppen müssen?“
„Das könnt Ihr doch von meinen Händen ablesen!“ sagte sie und zeigte zwei freilich kleine, aber harte, starke Hände mit abgebissenen Nägeln. „Ihr seid ja gelehrt genug, um lesen zu können!“
Um die Weihnachtszeit begann ein heftiges Schneetreiben; die Kälte biß gar arg, der Wind blies scharf, als führe er Scheidewasser mit sich, um den Leuten das Gesicht damit zu waschen. Mutter Sören ließ sich nicht anfechten, wie warf den Mantel um und zog die Kapuze über den Kopf. Dunkel war es im Hause schon am frühen Nachmittag; Holzscheite und Torf legte sie auf den Herd und setzte sich dann hin und flickte ihre Schuhe, da war niemand sonst, der es hätte tun können. Gegen Abend sprach sie mehr mit dem Studenten, als das sonst ihre Gewohnheit war; sie sprach von ihrem Mann.
„Er hat aus Fahrlässigkeit einen Mord an einem Schiffer aus Dragör begangen und muß deswegen drei Jahre auf der königlichen Schiffswerft in Ketten arbeiten Er ist nur ein gemeiner Matrose, darum muß das Gesetz seinen Lauf haben.“
„Das Gesetz gilt auch für den höheren Stand!“ sagte Holberg.
„Meint Ihr!“ sagte Mutter Sören und sah in das Feuer hinein, dann begann sie aber wieder. „Habt Ihr von Kai Lykke gehört, der eine seiner Kirchen niederreißen ließ, und als der Pfarrer Mads darüber von der Kanzel herabdonnerte, ließ er Herrn Mads in Eisen und Ketten legen, berief ein Gericht und verurteilte ihn selber, daß er seinen Kopf verwirkt habe, der wurde auch abgehauen; das war keine fahrlässige Tötung, und doch ging Kai Lykke damals frei aus!“
„Er war in seinem Recht -nach der damaligen Zeit“, sagte Holberg. „Jetzt sind wir darüber hinaus!“
„Das könnt Ihr Dummen vormachen!“ sagte Mutter Sören, stand auf und ging in die Kammer, wo „das Gör“, das kleine Kind, lag, sie nahm es auf und bettete es frisch, machte dann dem Studenten sein Lager auf der Bettbank zurecht; er hatte die Felldecke bekommen, er war frostiger als sie, und doch war er in Norwegen geboren.
Der Neujahrsmorgen brach mit klarem, hellem Sonnenschein an, der Frost war scharf gewesen und war noch so scharf, daß der gefallene Schnee hartgefroren dalag, so daß man darauf gehen konnte. Die Glocken in der Stadt riefen zur Kirche; Student Holberg nahm seinen wollenen Mantel um und wollte zur Stadt.
Über das Fährhaus flogen mit Gekrächz und Geschrei Dohlen, Krähen, Elstern, man konnte vor dem Lärmen kaum die Kirchenglocken hören. Mutter Sören stand draußen und füllte einen Messingkessel mit Schnee, um ihn über das Feuer zu setzen und Trinkwasser zu schmelzen, sie sah zu dem Vogelgewimmel empor und hatte ihre eigenen Gedanken dabei.
Studiosus Holberg ging in die Kirche; auf dem Wege dahin und auf dem Heimwege kam er an Sivert Sackguckers Haus am Tor vorüber, dort ward er auf ein Schälchen Warmbier mit Sirup und Ingwer eingeladen; die Rede kam auf Mutter Sören, aber der Sackgucker wußte eigentlich nichts über sie zu erzählen, es wisse wohl kaum jemand etwas. Von Falster sei sie nicht, sagte er, etwas Geld habe sie wohl einmal gehabt, ihr Mann sei ein gemeiner Matrose von heftigem Sinn, einen Schiffer aus Dragör habe er totgeschlagen, „Die Frau prügelt er, und doch verteidigt sie ihn“.
„Ich ließe mir solche Behandlung nicht gefallen!“ sagte die Frau des Sackguckers. „Ich bin freilich auch von besserer Herkunft! Mein Vater war königlicher Strumpfweber!“
„Daher habt ihr auch einem königlichen Beamten zum Ehebund die Hand gereicht!“ sagte Holberg und machte eine Reverenz vor ihr und dem Sackgucker.
Es war Heiligendreikönigsabend. Mutter Sören zündete ein Heiliegendreikönigslicht für Holberg an, das heißt drei Talglichte, die sie selber gezogen hatte.
„Ein Licht für jeden Mann!“ sagte Holberg.
„Für jeden Mann?“ sagte die Frau und sah ihn starr an.
„Ja, für einen jeden der Weisen aus dem Morgenland!“ sagte Holberg.
„Ach, so war es gemeint!“ sagte sie und schwieg lange. Aber an jedem Heiliegendreikönigsabend bekam er mehr zu wissen, als er bisher gewußt hatte.

„Ihr habt einen liebevollen Sinn für den Mann, mit dem Ihr in der Ehe lebt!“ sagte Holberg. „Und doch sagen die Leute, daß er übel mit Euch verfährt!“
„Das geht niemand etwas an außer mir!“ entgegnete sie. „Die Schläge wären mir dienlich gewesen, als ich noch klein war; jetzt kriege ich sie wohl um meiner Sünden willen! Was er mir Gutes getan hat, das weiß ich!“ Und sie richtete sich ganz auf. „Als ich krank auf der Heide lag und niemand etwas von mir wissen wollte außer den Krähen und Dohlen, die nach mir hackten, da hat er mich auf seine Arme genommen und bekam harte Worte für den Fang, den er auf sein Schiff brachte. Ich bin nicht dazu gemacht, krank zu liegen, und so erholte ich mich denn. Ein jeder hat es auf seine Weise, und so auch Sören; man soll den Gaul nicht nach dem Zaumwerk beurteilen! Mit ihm hab ich trotz allem zufriedener gelebt als mit dem, den sie den galantesten und vornehmsten von allen Untertanen des Königs nannten. Ich habe in Ehegemeinschaft mit dem Statthalter Gyldenlöve, des Königs Halbbruder, gelegt; später nahm ich Palle Dyre. Jacke wie Hose! Ein jeder auf seine Weise und ich auf meine. Das war eine lange Erzählung, aber nun wißt Ihr es!“ Und damit ging sie zur Stube hinaus.
Das war Marie Grubbe! Ein so wunderlicher Spielball des Glücks war sie gewesen! Viele Heiligendreikönigsabende sollte sie nicht mehr erleben, Holberg hat niedergeschrieben, daß sie im Jahre 1716 starb, aber er hat nicht niedergeschrieben, denn er wußte es nicht, daß, als Mutter Sören, wie sie genannt wurde, im Borrehaus auf der Leichenbahre lag, eine Menge großer schwarzer Vogel über das Haus hinflogen, ohne zu schreien, als wüßten sie, daß zu einem Begräbnis Stille gehört. Sobald sie in der Erde lag, waren die Vögel nicht mehr zu sehen, aber am selben Abend wurde in Jütland über dem alten Gut eine Unmenge Dohlen, Krähen und Elstern gesehen, sie schrieen laut durcheinander, als hätten sie etwas zu verkündigen, vielleicht von ihm, der als kleiner Knabe ihre Eier und ihre flaumigen Jungen aus dem Neste nahm, von dem Sohn des Bauern, der auf der königlichen Schiffswert ein Strumpfband aus Eisen bekam,, und von der hochadeligen Jungfer, die als Fährfrau am Grönsund endete.
„Brav! Brav“! schrieen sie.
Und die Familie schrie: „Brav! Brav!“, als das alte Schloß niedergerissen wurde. Sie schreien es noch, und da ist nichts mehr, worüber sie schreien könnten!“ sagte der Küster, wenn er erzählte. Die Familie ist ausgestorben, das Schloß ist niedergerissen, und wo es einst stand, da steht jetzt das stattliche Hühnerhaus mit der vergoldeten Wetterfahne und mit der alten Hühner-Grete. Sie ist so glücklich über ihre hübsche

Wohnung; wenn sie nicht hierhergekommen wäre, hätte sie im Armenhaus enden müssen.
Die Tauben gurrten über ihr, die Kalekuten plauderten ringsumher, und die Enten schnatterten.
„Niemand kannte sie!“ sagten sie. „Angehörige hatte sie nicht. Es ist ein Werk der Barmherzigkeit, daß sie hier ist. Sie hat weder einen Entenvater noch eine Hühnermutter und keine Nachkommenschaft!“
Aber sie hatte eine Familie; sie kannte sie nur nicht, und der Küster kannte sie auch nicht, wieviel beschriebene Papiere er auch in seiner Tischshublade hatte, aber eine von den alten Krähen wußte davon, erzählte davon Sie hatte von ihrer Mutter und ihrer Großmutter von Hühner-Gretes Mutter und deren Großmutter gehört, die auch wir kennen seit der Zeit, da sie als Kind über die Zugbrücke ritt und stolz um sich sah, als gehörten die ganze Welt und alle Vogelnester ihr, wir sehen sie auf der Heide in den Dünen und zuletzt im Borrehaus. Die Enkelin, die Letzte des Geschlechts, war wieder in die Heimat zurückgekehrt, wo das alte Schloß gestanden hatte, wo die schwarzen, wilden Vögel schrieen. Aber sie saß zwischen den zahmen Vögeln, von ihnen gekannt und mit ihnen bekannt. Hühner-Grete hatte nichts mehr zu wünschen, sie war bereit zu sterben, alt genug, um zu sterben.
„Grab! Grab!“ schrieen die Krähen.
Und Hühner-Grete bekam ein schönes Grab, das niemand kennt außer der alten Krähe, wenn die nicht auch schon tot ist.
Und nun kennen wir die Geschichte von dem alten Schloß, dem alten Geschlecht und von Hühner-Gretes ganzer Familie!